Moderner Konstitutionalismus: Entstehung und Ausprägungen. England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika [1 ed.] 9783428581290, 9783428181292

Die Publikation setzt sich für einen neuen Zugang zur Verfassungsgeschichte ein. Beeinflusst durch die englische Verfass

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Moderner Konstitutionalismus: Entstehung und Ausprägungen. England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika [1 ed.]
 9783428581290, 9783428181292

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Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 88

Moderner Konstitutionalismus Entstehung und Ausprägungen England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika

Von

Horst Dippel

Duncker & Humblot · Berlin

HORST DIPPEL

Moderner Konstitutionalismus

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 88

Moderner Konstitutionalismus Entstehung und Ausprägungen England – Nordamerika – Frankreich – Deutschland – Europa/Europäische Union – Lateinamerika

Von

Horst Dippel

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 978-3-428-18129-2 (Print) ISBN 978-3-428-58129-0 (E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

In memoriam

António Manuel Hespanha (1945 – 2019)

Vorrede Im herkömmlichen Sinn handelt es sich bei dieser Veröffentlichung um eine Anthologie von 43 Aufsätzen und Beiträgen, die erstmals zwischen 1989 und 2020 erschienen sind. Da sie alle um ein Thema, nämlich den modernen Konstitutionalismus, kreisen, war dadurch in einem formalen Sinn die Auswahl vorbestimmt, und die Gesamtzahl dessen, was nunmehr hier als Kapitel angeordnet ist, ergab sich aus meinen einschlägigen Veröffentlichungen der zurückliegenden gut dreißig Jahre. Dennoch ist dieser Band kein reiner Nachdruck voraufgegangener Veröffentlichungen, so angebracht dieser dem einen oder anderen auch erscheinen mag. Diese 43 Veröffentlichungen waren bislang derart verstreut, dass bereits jeder Bibliograph Schwierigkeiten gehabt haben dürfte, sie vollständig zu erfassen. Von ihrem Ursprung her waren sie über vier Kontinente verteilt und in vier verschiedenen Sprachen publiziert, wobei eine deutsche Erstveröffentlichung lediglich bei 21 der 43 Arbeiten vorliegt. Über ein Drittel erschien ursprünglich auf Englisch, fünf weitere Arbeiten auf Französisch und zwei auf Spanisch, wobei elf dieser Arbeiten nach ihrer Erstveröffentlichung ins Spanische sowie sechs ins Portugiesische übersetzt worden sind.1 Doch auch fachlich lagen die Erstveröffentlichungen auseinander: vierzehn Arbeiten erschienen zuerst in juristischen Zeitschriften, lediglich drei in historischen. Bei den übrigen Arbeiten, veröffentlicht in Tagungsbänden, Festschriften u. a. überwogen leicht die nicht-juristischen Publikationen. Keiner dieser 43 Aufsätze und Beiträge ist in diesem Band so abgedruckt, wie er ursprünglich erschienen ist. Alle 22 nichtdeutschen Arbeiten wurden für diese Veröffentlichung ins Deutsche übersetzt. Ferner wurden grundsätzlich die Zitate in allen Arbeiten ins Deutsche übersetzt. Alle Übersetzungen sind, falls nichts Gegenteiliges ausdrücklich erwähnt ist, meine eigenen. Darüber hinaus kam es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu inhaltlichen Überarbeitungen, um Wiederholungen zu vermeiden oder die Argumentation zu schärfen oder anzupassen. Einige Artikel wurden gegenüber der Erstveröffentlichung ausgeweitet, was in Einzelfällen bis zu einer völligen Neufassung reichte. Ziel ist es, auf diese Weise ein in sich möglichst geschlossenes Werk zu schaffen, wobei die stets eingefügten Verweise auf andere Kapitel dieses Bandes den inneren Zusammenhang unterstreichen sollen. Bei allen Überarbeitungen wurde, wo immer möglich, die Quellenbasis vereinheitlicht, so dass hier alle Zitate aus Verfassungen vom ausgehenden 18. bis zur Mitte 1 Horst Dippel, Constitucionalismo moderno, übers. v. Clara Álvarez Alonso und Maria Salvador Martínez, Madrid: Marcel Pons, 2009; Horst Dippel, História do Constitucionalismo moderno. Novas Perspectivas, übers. v. António Manuel Hespanha und Cristina Nogueira da Silva, Lissabon: Fundação Gulbenkian, 2007.

VIII

Vorrede

des 19. Jahrhunderts nach der von mir herausgegebenen Verfassungssammlung zitiert werden.2 Aber auch bei Zitaten von Blackstone oder dem Federalist wurde jeweils allein auf die heute maßgebende Ausgabe zurückgegriffen. Was hingegen bedauerlicherweise nicht geleistet werden konnte, war die wissenschaftliche Literatur zu aktualisieren und auf den heutigen Stand zu bringen, so dass je weiter das Ersterscheinungsdatum zurückliegt, sich leider umso größere Lücken ergeben. Was jedoch durch alle Kapitel hindurch geschah, war ungeachtet der ursprünglich so disparaten Druckorte die grundsätzliche Vereinheitlichung der Fußnoten, um den ständigen Wechsel der Zitierweisen und damit verbundene Irritationen zu vermeiden. Auf die Erstveröffentlichung wird eingangs eines jeden Kapitels verwiesen. Den jeweiligen Verlagen danke ich für die Erteilung der Rechte, den betreffenden Aufsatz oder Beitrag hier aufnehmen zu dürfen. Herrn Dr. Simon gilt mein aufrichtiger Dank für die Bereitschaft, diese Publikation in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Gudrun hat die Entstehung von der ersten Veröffentlichung an begleitet. Mein Dank an sie lässt sich nicht in Worte fassen. Jork, im Januar 2021

Horst Dippel

2 Constitutions of the World from the late 18th Century to the Middle of the 19th Century. Sources on the Rise of Modern Constitutionalism / Verfassungen der Welt vom späten 18. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Quellen zur Herausbildung des modernen Konstitutionalismus, hrg. v. Horst Dippel, 33 Bde., Berlin-Boston: de Gruyter, 2005 – 2014. Die Serie begann 2005 im K. G. Saur Verlag in München und kam durch Verlagsübernahme zu de Gruyter, der aus wissenschaftlich nicht zu vertretenden Gründen die von Anbeginn parallel damit verbundene Online-Version, die Hunderte weiterer Verfassungen enthielt, die nie in Bänden dieser Serie veröffentlicht werden konnten, 2019 eigenmächtig abgeschaltet hat, womit alle Originalausgaben verloren gegangen sind.

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

1. Moderner Konstitutionalismus: Eine unbekannte Geschichte . . . . . . . . . . . . . .

7

II.

England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus und seine Auswirkungen auf Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Theorie und Praxis der britischen Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

43

3. Die britische Verfassung als antirevolutionäres Modell im Spiegel der britischen Parlamentsdebatten (1814 – 1851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 4. Die Auflösung des britischen Empire als Verfassungsproblem . . . . . . . . . . . . . 86 III.

Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Die Herausbildung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, 1763 – 1776 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. William Blackstone und die Ursprünge des modernen Konstitutionalismus . . . 173 3. Die Ausbreitung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in den amerikanischen Staatsverfassungen, 1776 – 1860 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4. Zum modernen Konstitutionalismus durch die Hintertür. Rhode Island 1841: Rechtskodifikation als Verfassungsersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5. Moderner Konstitutionalismus und die Herausforderungen der Demokratie. Der Kampf um das allgemeine Männerwahlrecht, 1776 – 1860 . . . . . . . . . . . . . 231 6. Wisconsin 1848: Moderner Konstitutionalismus und die tugendhafte Republik 248 7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 8. Der moderne Konstitutionalismus und seine Feinde im Innern . . . . . . . . . . . . . 296

X IV.

Inhaltsverzeichnis Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen vor 1789 310 2. Verfassung und Revolution – Die Diskussion um einen Nationalkonvent im August 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

V.

England – Nordamerika – Frankreich: Entwicklungslinien und Divergenzen 344 1. Der Begriff der Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert in Großbritannien, Nordamerika und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität: England, Vereinigte Staaten, Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 3. Demokratie und die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Amerika und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 4. Die Konstitutionalisierung des bürgerlichen Radikalismus – Von der pennsylvanischen Verfassung von 1776 zur jakobinischen Verfassung von 1793 . . . . . 391 5. Unikameralismus vs. Bikameralismus in der amerikanischen und Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 6. Großbritannien und die Vereinigten Staaten: Zwei Wege zur westlichen liberalen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 7. Die Erklärung der Menschenrechte in Nordamerika und Westeuropa und die Rechte der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

VI.

Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Nordamerika und Frankreich in der deutschen Wahrnehmung des ausgehenden 18. Jahrhunderts . . . . . 478 2. Das erste Aufgreifen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Deutschland in den 1790er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 3. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland I: Das Beispiel der Verfassung von Cadiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 4. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland II: Das Beispiel Karl von Rotteck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 5. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland III: Die Rolle des amerikanischen Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564

Inhaltsverzeichnis

XI

6. Napoleonische Verfassungen gegen modernen Konstitutionalismus – Die Verfassung von Westphalen als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 7. Der moderne Konstitutionalismus und die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland, 1814 – 1824 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 8. Der moderne Konstitutionalismus auf seinem Höhepunkt im vormärzlichen Deutschland: Die kurhessische Verfassung von 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 9. Das Paulskirchenparlament 1848/49 auf der Suche nach einem Mandat: Verfassungsgebung ohne pouvoir constituant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 10. Die Konstitutionalisierung des Bundesstaats in Deutschland 1849 – 1949: Zwischen Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 11. Die Verfassungsentwicklung seit 1871 als die Geschichte der Durchsetzung des modernen Konstitutionalismus in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 12. Die Unvollendete: Weimar und der moderne Konstitutionalismus . . . . . . . . . . 710 VII. Europa/Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722 1. Die universellen Werte der Europäischen Union und ihre historische Genese

723

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“: Lehren für die Zukunft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754 4. Europäische Union und moderner Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768 5. Menschenrechte in Europa – Eine immerwährende Herausforderung . . . . . . . . 777 6. Vom Völkerrecht zum Verfassungsrecht: Minderheitenrechte und Minderheitenschutz in den Verfassungen des Neuen Europa nach dem Ersten Weltkrieg 791 VIII. Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 1. Die frühen lateinamerikanischen Verfassungen zwischen modernem Konstitutionalismus und den Anfängen des Präsidentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808 2. Zwischen Theorie und Praxis: Die Entwicklung des modernen Konstitutionalismus in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819

XII

Inhaltsverzeichnis

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834 Verfassungsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842

Vorwort Wenn Dominique Rousseau zum Stichwort „Verfassung“ feststellt, dass sich dazu spontan viele Vorstellungen aufdrängen, um dann selbst Verfassung als Akt zu definieren, „mit dem die Bürger die Bedingungen der Ausübung der politischen Macht definieren“,1 wirft dies ein bezeichnendes Schlaglicht auf ein heute verbreitetes Verfassungsverständnis, ohne jedoch den Blick über die aktuelle Situation hinaus zu lenken und bereit zu sein, die entscheidende Frage zu beantworten, warum und auf welchen Wegen wir dahin gekommen sind, wo wir uns heute befinden. Dafür reichen die Verweise auf 1789 und die Verfassung von 1791 nicht aus. Vielmehr müssen wir uns der Frage stellen, warum, nachdem das aufgeklärte Europa spätestens seit Montesquieu von der Verfassung Englands geschwärmt hat, wir dennoch seit 1776 plötzlich „Verfassungen“ als geschriebene Dokumente in den Händen halten und wie es zu verstehen ist, dass sich deren Inhalte in ihren Grundlinien ungeachtet zahlloser Modifikationen im Detail in den zurückliegenden bald 250 Jahren in auffallender Weise ähneln. Da ist immer wieder von Rechten und von dem Volk die Rede, von der Organisation des Staates, von Legislative, Exekutive und Judikative, von Gesetzgebung und Gerichten, von Ämtern, Funktionen und Verantwortung, von der Veränderbarkeit der Verfassung und anderem mehr, was von der Antike bis weit in das 18. Jahrhundert hinein bei jedem mutmaßlichen Leser Verwunderung, wenn nicht Kopfschütteln hervorgerufen hätte, da keiner von ihnen diese Themen mit „Verfassung“ verbunden hätte. Doch seit 1776 erscheinen sie uns als so selbstverständlicher Inhalt von Verfassungen, dass sich kaum jemand ernsthaft Gedanken darüber zu machen scheint, warum das so ist und wie es dazu gekommen ist. Es geht mithin um die Genealogie unserer heutigen Verfassungen. Was 1776 und in der Folge passierte, lässt sich nicht als eine Verschriftlichung der englischen Verfassung begreifen. Vielmehr war es im ureigensten Sinn ein revolutionäres Ereignis, getragen von ganz offensichtlich über die englische Verfassung hinausgehenden Überlegungen und Auffassungen, die bis in unsere Gegenwart hinein nichts von ihrer Relevanz verloren haben – nicht allein, weil heute noch einige Verfassungen in Kraft sind, die im ausgehenden 18. Jahrhundert konzipiert und wirksam geworden sind. Zwar sind wir vergleichsweise gut darüber unterrichtet, wie es zu ihnen kam. Selbst über die nationale Verfassungsentwicklung von der Zeit um 1800 bis zur Gegenwart ist in den meisten Ländern ausgiebig geforscht worden. Doch alle diese nationalen Verfassungsgeschichten erinnern stets an jenen sprichwörtlichen Spaziergänger, der vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Dabei ist die Existenz all 1 Dominique Rousseau, „Constitution“, in: Dictionnaire constitutionnelle, hrg. v. Olivier Duhamel und Yves Mény, Paris: Presses Universitaires de France, 1992, 208.

2

Vorwort

dieser Bäume kein Zufall, vielmehr beziehen sie sich in der einen oder anderen Weise alle aufeinander und bilden zusammen mit den abgestorbenen und toten Bäumen ebenso wie mit den nachwachsenden etwas Gemeinsames, von dem sie alle wiederum lediglich ein Teil sind. Gewiss mögen darunter auch Bäume sein, die eher befremden und nicht hierher zu gehören scheinen. Doch selbst in ihrer Andersartigkeit weisen sie Bezüge zu ihrer Umgebung auf und sind Teil eines sich selbst definierenden Ganzen. Mehr denn je ist die Forschung heute davon überzeugt, dass diese Bäume miteinander „kommunizieren“. Der Schritt von diesem Bild zu Verfassungen ist weniger weit, als er zunächst erscheinen mag. Im Herbst 1776 hatte ein Autor, der sich bezeichnenderweise den Namen Casca, jenes unbeugsamen Verteidigers der Republik, zulegte, Verfassung mit einem Baum verglichen: der Stamm verkörpere die Prinzipien der Verfassung, die Äste stellten ihre konkrete verfassungsrechtliche Ausgestaltung dar, und die Früchte seien schließlich die gemäß dieser Verfassung erlassenen Gesetze.2 Wenn 170 Jahre später Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat forderte: „Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren“,3 ging er ganz offensichtlich von einer sehr ähnlichen Vorstellung aus. Schlüsseln wir seinen Gedanken verfassungsrechtlich auf, ergeben sich sogleich Menschenrechte, universelle Prinzipien, begrenzte Regierung, Verantwortlichkeit, Gewaltentrennung, Unabhängigkeit der Justiz, der Vorrang der Verfassung, aber in einem nächsten Schritt auch Volkssouveränität und die Abänderung der Verfassung unter Mitwirkung des Volkes und repräsentative Regierung als tragende Prinzipien einer derartigen Verfassungskonstruktion. Diese grundlegenden Prinzipien sind der feste Stamm des Grundgesetzes, das die verfassungsrechtlichen Ausformulierungen in seinen Verästelungen vornimmt, in deren Folge die Gesetze der Bundesrepublik in den zurückliegenden siebzig Jahren als die Früchte dieser Verfassungsordnung erlassen wurden. Es sind jene zehn Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus, die 1776 deshalb ins Leben traten, weil sich in den Diskussionen der voraufgegangenen Jahre die Überzeugung herausgebildet hatte, dass zum wirksamen Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger keine „Verfassung“ als reine Gesetzessammlung, ergänzt um Privilegien, Konventionen und anerkannte Rechtsauslegungen, wie sie die englische Verfassung bis heute charakterisieren, ausreiche. Vielmehr müsse eine Verfassung auf festen und unverrückbaren Prinzipien begründet sein, um diesen Schutz glaubwürdig und dauerhaft gewährleisten zu können. Diese Auffassung setzte sich nicht nur in den Vereinigten Staaten im ausgehenden 18. Jahrhundert durch. Sie wurde in der Folge sehr rasch in Europa und Lateinamerika aufgegriffen, obgleich es durchaus auch andere Verfassungsmodelle gab. Die englische Verfassung beanspruchte nach wie vor ihren Rang, und in Nordamerika selbst hatte gleich zu Beginn eine Ge2

„Casca“, „To the Freemen of Pennsylvania“, in: Pennsylvania Evening Post, 31. Oktober 1776, 546. 3 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. IX: Plenum, hrg. v. Wolfram Weber, München: Boldt, 1996, 37.

Vorwort

3

genbewegung in Form einer radikaldemokratischen Verfassung eingesetzt, die über Amerika hinaus ihre begeisterten Anhänger fand. Im 19. Jahrhundert kamen mit den napoleonischen Verfassungen, den Verfassungen der Restauration und der direkten Demokratie in Schweiz weitere Modelle hinzu. Als es 1848/49 in Deutschland zu einer nahezu alle Bevölkerungsschichten erfassenden Verfassungsdiskussion kam, wurde eine Reihe unterschiedlicher Verfassungsmodelle vorgeschlagen, von der kaum veränderten konstitutionellen Monarchie über die parlamentarische Monarchie bis zu radikaldemokratischen Verfassungen und Verfassungen der direkten Demokratie, aber eben auch, als eine Variante, die Verfassung des modernen Konstitutionalismus mit ihrem festen Prinzipienstamm.4 Das 20. Jahrhundert sollte mit sozialistischen, faschistischen, theokratischen u. a. Verfassungen die Modellpalette nochmals erweitern. Doch die Mehrzahl all dieser verschiedenen Verfassungsmodelle bestand entweder den Test der Zeit nicht oder wurde, wie im Fall der britischen und der schweizerischen, obwohl in ihren jeweiligen Ländern bewährt und verehrt, nicht zu Exportschlagern, während sich das Modell der Verfassungen des modernen Konstitutionalismus im Laufe der letzten zweihundert Jahre nicht allein in den Vereinigten Staaten, sondern schließlich ebenfalls in nahezu allen Staaten Europas und Lateinamerikas und zunehmend weltweit durchgesetzt hat. Selbst wenn dabei Theorie und Praxis mitunter bedenklich auseinanderklaffen mögen, bleibt doch die Frage nach den Gründen für die singuläre Anziehungskraft der Verfassungen des modernen Konstitutionalismus, die uns in eben jenen Wald mehr oder weniger vergleichbarer Verfassungen führen, die miteinander in Verbindung und im Gedankenaustausch stehen, auch wenn jede einzelne von ihnen ihren individuellen Zuschnitt und Ausdruck hat. Wie ist dieses komplexe System, aber auch die Entstehung jeder einzelnen dieser Verfassungen zu deuten? Es sind diese Fragen, die dieses Buch und seine einzelnen Kapitel beschäftigen, auf die die Forschung bislang eine Antwort schuldig geblieben ist, da sie in ihrer weitgehenden Fixierung auf den Nationalstaat vielfach nicht einmal die Fragestellung selbst erkannt hat. Längst ist uns bewusst, dass wir in einer Welt leben, in der die Politik der einzelnen Länder eng miteinander verflochten ist, und mit der Europäischen Union haben diese Vorstellungen einen zusätzlichen institutionellen Rahmen gefunden. Doch wenn es um Verfassung geht, glauben wir immer noch, das Heil in der eigenen Nabelschau finden zu müssen, eben weil wir, um bei der Metapher zu bleiben, den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Dieses Buch ist das Plädoyer, unseren Blick endlich für den modernen Konstitutionalismus zu öffnen, um dort unsere Position in einer Welt zu finden, der anzugehören wir uns nicht länger verschließen können. Dieser moderne Konstitutionalismus mit seinen aufeinander abgestimmten und in sich ausbalancierten Prinzi4 Vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017.

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Vorwort

pien hat es nicht nur verstanden, die Rechte und Freiheiten seiner Bürger zu sichern, sondern gerade auch weil er – wie alle menschlichen Schöpfungen zu keiner Zeit vollkommen, doch stets offen, sich veränderten Situationen und Zeitumständen anzupassen und weiterzuentwickeln – ein Instrumentarium geliefert hat, das in der Regel diese notwendigen Anpassungen und Neujustierungen ohne größere Verwerfungen und Umbrüche in der Lage war durchzuführen. Hat dies in der Vergangenheit zu seiner Durchsetzungsstärke beigetragen, bleibt immer noch die Frage, wie diese Durchsetzung und Ausbreitung über die Welt tatsächlich geschehen ist. Die nachfolgenden Kapitel können diese Frage nicht erschöpfend beantworten. Doch was sie zu zeigen bemüht sind, ist, die Entstehung des modernen Konstitutionalismus offenzulegen und in einer breiten Palette von Beispielen Situationen und Formen seiner Ausprägungen von seinen Anfängen bis zur Gegenwart auszubreiten. Dabei liegen zwar die Schwerpunkte auf den Vereinigten Staaten – dem Ursprungsland – und Deutschland – einem Adoptivland –, während England – einerseits als unverzichtbarer Ideengeber bei der Entstehung des modernen Konstitutionalismus, andererseits in der Folge als Kontrastmodell zu ihm – und Frankreich – als Begründer der europäischen Variante des modernen Konstitutionalismus aufgrund der andersartigen Bewertung des Verhältnisses von Verfassung und Volkssouveränität sowie als zentraler Vermittler in Europa und Lateinamerika – in jeder Geschichte des modernen Konstitutionalismus herausreagende Rollen spielen und daher hier prominent vertreten sind. Doch anstelle von Deutschland hätte genauso gut nahezu jedes andere westeuropäische Land – aufgrund seiner längeren Tradition im Vergleich zu den Ländern Mittelosteuropas – stehen können, wie ebenso die Staaten Lateinamerikas, während sich die Einbeziehung der Europäischen Union angesichts ihrer Bedeutung und Aktualität von selbst anbietet. Dennoch ist die eingehende Behandlung Deutschlands vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart in in diesem Zusammenhang kein Zufall. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung ist das Resultat der deutschen Geschichte und der wiederholten Brüche der zurückliegenden 150 Jahre, die in bemerkenswerter Weise mit einer verbreitet vertretenen Kohärenz und Kontinuität ihrer großen Interpretationslinien kontrastieren. So findet sich noch 2005 Hubers monumentale Deutsche Verfassungsgeschichte mit ihrem strikt etatistischen Interpretationsansatz, der die deutsche Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts als Vorgeschichte der Verfassung des Kaiserreichs von 1871 begreift und damit in einer Sackgasse endet, ohne überzeugende Antworten für die daran anschließenden einhundert Jahre liefern zu können, aufgrund seiner „systematische[n] Ordnung und stringente[n] Deutung“ als „beeindruck[end]“ gewürdigt.5 Diese Auffassung mag nicht zuletzt das Ergebnis einer Entwicklung sein, dank der im 20. Jahrhundert in der historischen Verfassungsgeschichtsschreibung zunehmend begriffs-, sozial-, struktur- und kulturgeschichtliche Ansätze zum Tragen gekommen sind, die alle ihre große Berechtigung 5 Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970, München: Oldenbourg, 2005, 414.

Vorwort

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haben, während in der juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung die neueren Erkenntnisse der historischen Forschung mitunter nur schleppend Beachtung gefunden haben. Es ist daher längst an der Zeit für ein anderes, zeitgemäßeres Narrativ der deutschen Verfassungsentwicklung, das den vielfältigen Strömungen der zurückliegenden 250 Jahre gerechter wird und das Verbindende wie das Trennende offenlegt, um jene angesprochene Genealogie des Grundgesetzes deutlich werden zu lassen. Die Grundlage, auf der sich Juristen wie Historiker wieder begegnen müssen, kann allein der Text sein. Man mag die Braunschweiger Revolution von 1830 sozialund kulturgeschichtlich zu deuten versuchen. Aber solange man nicht die Verfassung von 1820 in die Betrachtung einbezieht, die die Stände gegenüber dem Herrscher in eine besondere Machtposition versetzten, wird das Ergebnis unvollständig bleiben. Im Gegenzug wird eine rein formaljuristische Untersuchung der Verfassung des Kaiserreichs von 1871, die die Strukturen, die sie geschaffen, und die Entwicklungen, die sie in Gang gesetzt hat, unberücksichtigt lässt, unbefriedigend bleiben und ihren anachronistischen Charakter nicht zu erkennen vermögen. Eine Geschichte des modernen Konstitutionalismus sollte dagegen beide Seiten im Blick haben. Ausgangspunkt muss stets der Text sein. Doch die Analyse sollte sich nicht auf eine minutiöse Untersuchung ihrer einzelnen Artikel beschränken, sondern die zugrundeliegenden Prinzipien herausarbeiten und das Verhältnis, in dem sie zueinanderstehen, sich gegenseitig bedingen, vielleicht auch behindern, offenlegen. Welche Wirkung kann eine Verfassung damit einfalten und wie auf Krisen und Konflikte reagieren? Verfassungen sind der Lebensnerv einer Gesellschaft, die vieles ermöglichen, aber auch verhindern, Antworten auf Zeitbedürfnisse bereithalten oder verweigern können. Es ist dieser über die Analyse einzelner Artikel hinausgehende Blick, der aufdeckt, wie sich eine Verfassung in jenen Verfassungswald des modernen Konstitutionalismus einfügt und wie ihr Stamm beschaffen ist, um sich dort bewähren zu können. Neben der Binnenperspektive mit der Fragestellung, was in einer Verfassung steht, gewinnt damit die Außenperspektive, die danach fragt, was nicht in ihr steht, die gleiche Berechtigung. Allein beide gemeinsam schaffen erst im Einklang mit der jeweiligen Zeit und ihrem kulturellen Horizont die Voraussetzungen für eine sachgerechte Ortsbestimmung. Was dieser Band unternimmt, ist keine Geschichte des modernen Konstitutionalismus. Doch er möchte dazu auffordern, sich mit ihr offen auseinanderzusetzen, um Zusammenhänge, aber auch Divergenzen zu erfassen, die für die Genealogie einer jeden Verfassung unerlässlich sind. Dabei mag die eine oder andere hier aufgezeigte Perspektive zunächst ungewohnt oder provozierend erscheinen. Doch nur wenn wir bereit sind, über das vermeintlich doch so Vertraute neu nachzudenken, werden wir zu neuen Erkenntnissen vordringen können. Unsere Verfassungen des modernen Konstitutionalismus sollten uns zu wichtig sein, als dass wir die Erbinformationen ihrer „DNA“ weiter ignorieren.

I. Einführung Mit dem einzigen Kapitel dieses Teils wird die Grundlage für die weiteren Teile und Kapitel gelegt. Der moderne Konstitutionalismus wird als historisches Phänomen und inhaltlich mit seinen zehn Prinzipien bestimmt. Da es sich bei diesem Werk nicht um eine Verfassungstheorie, sondern um eine Verfassungsgeschichte handelt, wird auf die ausführliche verfassungstheoretische Begründung jedes dieser zehn Prinzipien verzichtet. Sie werden vielmehr als für sich stehend vorausgesetzt, zumal sie alle der Verfassungstheorie hinreichend bekannt sind. Daher ist es auch ohne weitere theoretische Begründungen an dieser Stelle nachvollziehbar, dass sie miteinander in Zusammenhang stehen und weder beliebig noch austauschbar sind. Das erste Kapitel will daher lediglich aufzeigen, wie dieser moderne Konstitutionalismus 1776 in Virginia entstanden ist und sich in der Folge nicht allein über die Vereinigten Staaten und Europa ausbreitete. Dabei wird diese Entwicklung in groben Zügen bis Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgt und abschließend knapp auf seine weitere globale Ausdehnung verwiesen, wobei das Beispiel Liberia erwähnt und für bedeutsame Entwicklungen in Lateinamerika pauschal auf den Teil VIII. verwiesen wird. Durchgängig wird bei dieser knappen Skizzierung seiner Entwicklungsgeschichte auf die weiteren Kapitel dieses Werks hingewiesen, in denen die entsprechenden Probleme und Bezüge in ihrem jeweiligen Kontext näher untersucht werden. Insgesamt hat damit dieses erste Kapitel eine doppelte Funktion. Zum einen stellt es nach innen die Klammer des gesamten Werkes dar und begründete den inneren Zusammenhang der einzelnen Teile und Kapitel, selbst wo diese ganz selbstverständlich nach Raum und Zeit über den engeren Rahmen dieses einführenden Kapitels hinausgehen und, wo angebracht, vom 17. bis ins 21. Jahrhundert reichen und mit England/Großbritannien/Vereinigtem Königreich bewusst einen Staat mit in den Blick nehmen, der nicht vom modernen Konstitutionalismus geprägt ist. Zum anderen richtet es den Blick nach außen und liefert die Begründung, warum es über das hier Vorgelegte hinausgehend geboten ist, an die Erforschung der Geschichte des modernen Konstitutionalismus in seinen nationalen, regionalen und globalen Dimensionen entschlossen heranzugehen.

1. Moderner Konstitutionalismus: Eine unbekannte Geschichte

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1. Moderner Konstitutionalismus: Eine unbekannte Geschichte1 Vor achtzig Jahren begann Charles Howard McIlwain seine klassische Studie Constitutionalism Ancient and Modern mit der Feststellung: „Die Zeit scheint reif für eine Untersuchung der allgemeinen Prinzipien des Konstitutionalismus […] und eine Untersuchung, die eine Berücksichtigung der sukzessiven Stadien seiner Entwicklung einschließen sollte.“2 Heute nach bald 250 Jahren moderner Konstitutionalismus müssen wir eingestehen, dass wir über seine Geschichte kaum etwas wissen. Dabei ist es unbestritten, dass der moderne Konstitutionalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert ins Leben trat. Die amerikanische und die Französische Revolution begründeten laut Maurizio Fioravanti „einen entscheidenden Moment in der Geschichte des Konstitutionalismus“, begann mit ihnen doch „ein neues Konzept und eine neue Praxis“.3 Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass jeder Staat, mit der Ausnahme des Vereinigten Königreichs, Neuseelands und Israels, über eine geschriebene Verfassung verfügt, wobei in aller Regel behauptet wird, dass sie auf dem modernen Konstitutionalismus basiert. Doch während wir die weltweite Akzeptanz eines politischen Prinzips, so singulär es auch sein mag, als gegeben hinnehmen und einige Wissenschaftler bereits seit geraumer Zeit von einem „Weltkonstitutionalismus“ sprechen,4 müssen wir uns eingestehen, dass eines McIlwain, Fioravanti und zahlreicher anderer Gelehrter zum Trotz wir immer noch nicht wissen, wie es zu alle dem gekommen ist. Ungezählte vergleichende Studien sind sowohl zum Verfassungsrecht5 als auch zur Verfassungsgeschichte6 veröffentlicht worden. Obwohl sie in aller Regel unseren 1 Überarbeitete Version meines Artikels, der zuerst erschienen als „Modern Constitutionalism. An Introduction to a History in the Need of Writing“, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, 73 (2005), 153 – 169. Eine spanische Übersetzung erschien als „Constitucionalismo moderno. Introducción a una historia que necesita ser escrita“, in: Historia Constitucional, 6 (2005), 181 – 199, und eine portugiesiche findet sich als „O constitucionalismo moderno. Introdução a uma história que está por escrever“ in meinem Buch História do Constitucionalismo Moderno. Novas Perspectivas, übers. v. António Manuel Hespanha u. Cristina Nogueira da Silva, Lissabon: Fundação Calouste Gulbenkian, 2007, 1 – 35. 2 Charles Howard McIlwain, Constitutionalism Ancient and Modern, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1940, 3. 3 Maurizio Fioravanti, Costituzione, Bologna: Il Mulino, 1999, 102. 4 Vgl. Bruce Ackerman, „The Rise of World Constitutionalism“, in: Virginia Law Review, 83 (1997), 771 – 797; vgl. auch Heinz Klug, „Constitutional Transformations: Universal Values and the Politics of Constitutional Understanding“, in: Beyond the Republic. Meeting the Global Challenges to Constitutionalism, hrg. v. Charles Sampford u. Tom Round, Leichhardt, NSW: The Federation Press, 2001, 191 – 204. 5 Vgl. die Pionierarbeiten von Jacques Vincent de La Croix, Constitutions des principaux États de l’Europe et des États-Unis de l’Amérique, 6 Bde., Paris: Buisson, 1791 – 1801; Gabriel Demombynes, Les Constitutions européennes. Parlements, conseils provinciaux et communaux et organisation judiciaire dans les divers États de l’Europe, 2 Bde., Paris: L. Larose et Forcel, 1881, 21883; und die von der Kommission für Verfassungsgeschichte des Internationalen

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I. Einführung

Wissensstand verbessert haben, haben sie uns wenig über den modernen Konstitutionalismus und seine Geschichte gesagt. Ihr Ausgangspunkt war in der Regel der Nationalstaat, der einer übergeordneten Perspektive im Wege stand und gewöhnlich dazu führte, Kenntnisse Staat für Staat zu liefern. Dabei hatten schon im Nachgang zu den Revolutionen von 1848 die wütendsten Gegner des modernen Konstitutionalismus deutlich gemacht, dass sie sich seiner Prinzipien wohl bewusst waren. Sie verurteilten rundheraus das „Wesen und Unwesen des modernen Konstitutionalismus“, wie es im Titel eines dieser Bücher hieß, und damit zugleich seine Geschichte und Grundsätze.7 Obwohl ihre Argumente heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen können, verdient das Phänomen, das sie beschreiben, heute noch weitaus mehr Aufmerksamkeit als von 170 Jahren. Am 12. Juni 1776 nahm der Generalkonvent der Delegierten und Repräsentanten der verschiedenen Kreise (counties) und Korporationen von Virginia jenes Dokument an, das als die Rechteerklärung von Virginia (Virginia Declaration of Rights) in die Geschichte eingegangen ist.8 Es war ein revolutionäres Dokument, das mitunter, wenn auch historisch nicht korrekt, als die Virginia Bill of Rights bezeichnet wird, womit bewusst oder unbewusst auf die englische Bill of Rights von 1689 angespielt wird. Der Hinweis auf das englische „Gesetz zur Erklärung der Rechte und Freiheiten der Untertanen und zur Regelung der Thronfolge“, wie sein eigentlicher Titel lautet, ist irreführend, wurde es doch beschlossen „von den besagten geistlichen und Komitees für Geschichtswissenschaft realisierte Ausgabe unter der Leitung von Gioacchino Volpe, La Costituzione degli Stati nell’Età Moderna. Saggi storico-giuridici, 2 Bde., Mailand: Fratelli Treves, 1933 – 1938. Aber auch Agnes Headlam-Morley, The New Democratic Constitutions of Europe. A Comparative Study of Post-War European Constitutions with Special Reference to Germany, Czechoslovakia, Poland, Finland, The Kingdom of the Serbs, Croats & Slovenes and the Baltic States, London: Oxford University Press, 1928. Jüngeren Datums ist Robert L. Maddex, Constitutions of the World, Washington, D.C.: Congressional Quarterly, 1995, Ndr. London: Routledge, 1996. 6 Immer noch hilfreich sind Charles Frederick Strong, Modern Political Constitutions. An Introduction to the Comparative Study of Their History and Existing Form, London: Sidgwick & Jackson, 1930, 31973, und John A. Hawgood, Modern Constitutions since 1787, London: Macmillan and Co., 1939. Vgl. auch Maurizio Fioravanti, Stato e costituzione. Materiali per una storia delle doctrine costituzionali, Turin: G. Giappichelli, 1993; R. C. van Caenegem, An Historical Introduction to Western Constitutional Law, Cambridge: Cambridge University Press, 1995. Vgl. auch den Band von Manuel J. Peláez, European Constitutional Law/Derecho constitucional Europeo (Estudios interdisciplinares en homenaje a Ferran Valls i Taberner con ocasión del centenario de su nascimiento, Bd. 7), Barcelona: Promociones y Publicaciones Universitarias, 1988. 7 Vgl. die preisgekrönte Publikation von [Johann Friedrich Christian Budy,] Wesen und Unwesen des modernen Constitutionalismus, seine Untauglichkeit für Preussen, nebst Vorschlägen zur Abänderung der Verfassung. Ein Buch für Fürsten und Volk, Stettin: In Commission bei F. Schneider & Co. in Berlin, 31852. 8 Die ausführlichste Darstellung der Rechteerklärung von Virginia und ihrer Geschichte verdanken wir A. E. Dick Howard, Commentaries on the Constitution of Virginia, 2 Bde., Charlottesville: University Press of Virginia, 1974, I, 27 – 313. Eine historische Perspektive der Arbeit des Konvents liefert John E. Selby, The Revolution in Virginia, 1775 – 1783, Williamsburg, Va.: The Colonial Williamsburg Foundation, 1988, 100 – 110.

1. Moderner Konstitutionalismus: Eine unbekannte Geschichte

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weltlichen Lords und dem Unterhaus […] zur Rechtfertigung und Beteuerung ihrer alten Rechte und Freiheiten“.9 Streng genommen war damit die Glorreiche Revolution abgeschlossen, und die Bill of Rights wurde damit Teil der Revolutionsübereinkunft.10 In ihr ging es nicht um universelle Prinzipien oder abstrakte Ideen. Angesichts der Bemühungen des landflüchtigen Königs, „die protestantische Religion und die Gesetze und Freiheiten dieses Königreichs zu untergraben und zu beseitigen“, beschlossen die beiden Häuser des Parlaments vielmehr Zuflucht zu dem zu nehmen, was sie als „ihre unbezweifelbaren Rechte und Freiheiten“ verstanden.11 Die Rechteerklärung von Virginia hätte eine ähnliche Sprache benutzen können, wie das viele Amerikaner in dem zurückliegenden Jahrzehnt getan hatten. Doch sie griffen ganz bewusst zu einer neuartigen Sprache: „Eine Erklärung der Rechte, gemacht von den Repräsentanten des guten Volkes von Virginia, in einem vollen und freien Konvent versammelt; welche Rechte ihnen und ihren Nachkommen zustehen, als Basis und Begründung von Regierung.“12 Es war ein völlig neues Dokument mit einer neuartigen Sprache, nämlich eine „Erklärung der Rechte“, nicht irgendein Dokument, das irgendwelche Rechte erklärte, und es war aufgesetzt „von den Repräsentanten des […] Volkes“, „in einem vollen und freien Konvent versammelt“, nicht von einer eher zufälligen Versammlung zweifelhafter Legitimität.13 Des Weiteren ging es um Rechte, die dem Volk und seinen Nachkommen zustanden, nicht der eigenen Versammlung oder Konvent in Abgrenzung von anderen Einrichtungen. 9

1 & 2 Gul. & Mar. sess. 2 c. 2 (zit. n. The Statutes of the Realm, VI, [o. O. u. N.,] 1819, 143; Leichter zugänglich dürfte der Text sein in: E. Neville Williams, The Eighteenth-Century Constitution, 1688 – 1815. Documents and Commentary, Cambridge: Cambridge University Press, 1960, 26 – 33, 28). 10 Vgl. Tim Harris, Politics under the Later Stuarts. Party Conflict in a Divided Society, 1660 – 1715, London und New York: Longman, 1993, 132 – 140; Stuart E. Prall, The Bloodless Revolution: England, 1688, Madison, Wis.: University of Wisconsin Press, 1985, 245 – 293; J. P. Kenyon, Revolution Principles. The Politics of Party, 1689 – 1720, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, Ndr. 1990. 11 1 & 2 Gul. & Mar. sess. 2 c. 2 (zit. n. The Statutes of the Realm, VI, 142; auch: Williams, Eighteenth-Century Constitution, 26, 29). 12 Titel der Rechteerklärung von Virginia, 1776, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass dieser Titel nicht im ursprünglichen Manuskript enthalten, sondern offensichtlich von dem offiziellen Drucker eingefügt worden ist. Allerdings konnte dieser dabei auf die entsprechende Formulierung eines voraufgegangenen Entwurfs zurückgreifen, vgl. ebd., 155. Generell auch Robert P. Sutton, Revolution to Secession. Constitution Making in the Old Dominion, Charlottesville: University Press of Virginia, 1989, 33 – 34; Hugh Blair Grigsby, The Virginia Convention of 1776, Richmond: J. W. Randolph, 1855, Ndr. New York: Da Capo Press, 1969, 161 – 165. 13 Vgl. dazu auch Blackstones Verteidigung der Legitimität von „convention parliaments“ in: William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 101 – 102, sowie zur Bedeutung Blackstones in der amerikanischen Revolution unten Kap. III. 2. sowie zum Konventgedanken Kap. IV. 2. und VII. 2.

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I. Einführung

Diese Rechte dienten ferner, in der revolutionärsten Bestimmung von allen, „als Basis und Begründung von Regierung“, eine völlig unerhörte und in fundamentalem Widerspruch zu jedem Verständnis der englischen Verfassung stehende Behauptung. Diese kühne revolutionäre Sprache wurde in den ersten beiden Absätzen des Dokuments untermauert, die die Quelle all dieser Rechte aufdeckte: die Natur. Das Naturrecht übertrug den Menschen nicht nur „gewisse angeborene Rechte, von denen sie, wenn sie in den Zustand der Gesellschaft eintreten, ihre Nachkommen nicht durch irgendeinen Vertrag berauben oder entledigen können“. Es belegte ebenso, „dass alle Gewalt dem Volk verliehen ist und folglich von ihm ausgeht“.14 Mit keinerlei Hinweis auf die englische Verfassung oder unterdrückte alte Rechte, die es wiederherzustellen gelte, trompete die Rechteerklärung von Virginia die Volkssouveränität, universell gültige Grundsätze und angeborene Menschenrechte in die Welt, proklamiert in einer schriftlichen Verfassung, die als „Basis und Begründung von Regierung“ diente. Es war die Geburtsstunde dessen, was wir heute als modernen Konstitutionalismus verstehen.15 Es muss an dieser Stelle betont werden, dass die Rechteerklärung von Virginia nicht das erste Verfassungsdokument der amerikanischen Revolution war. Nicht nur waren ihr die Verfassungen von New Hampshire vom 5. Januar 1776 und von South Carolina vom 26. März 1776 und die Regeln und Vorschriften der Kolonie Georgia vom 15. April 1776 vorausgegangen.16 Sie wäre ohne die amerikanische Verfassungsdiskussion der Konfliktjahre 1763 – 1776 nicht möglich gewesen, deren epochale Bedeutung für die Herausbildung des modernen Konstitutionalismus bislang völlig verkannt wurde.17 Dennoch ähnelte die Sprache dieser drei ersten Dokumente des Jahres 1776 mehr der englischen Bill of Rights, der Sprache von alten unterdrückten Rechten und Freiheiten, die es nun wiederherzustellen galt. Selbst wenn es einen flüchtigen Hinweis auf das Naturrecht in der Verfassung von New Hampshire gab und das Dokument von South Carolina sich erstmals selbst als „Verfassung“ bezeichnete, beschwor keines der drei Dokumente die Volkssouveränität, universelle Prinzipien oder Menschenrechte noch erklärten sie eine Verfassung zur „Basis und

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Virginia Declaration of Rights, Abs. 1 u. 2, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153. 15 Vgl. Brent Tarter, „The Virginia Declaration of Rights“, in: To Secure the Blessings of Liberty: Rights in American History, hrg. v. Josephine F. Pacheco, Fairfax, VA: George Mason University Press, 1993, 37 – 54; Bernard Schwartz, The Great Rights of Mankind. A History of the American Bill of Rights, New York: Oxford University Press, 1977, 67 – 72; ebenso das klassische Werk von Robert Allen Rutland, The Birth of the Bill of Rights, 1776 – 1791, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1955, bes. 38 – 39. Diese Interpretation widerspricht offensichtlich Dick Howard, The Birth of American Political Thought, 1763 – 87, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1989, 104 – 105, dem die Bedeutung dieses Dokuments für den modernen Konstitutionalismus entgangen ist. 16 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 313 – 315, VI, 15 – 22, II, 9 – 12. 17 Vgl. dazu unten ausführlich Kap. III. 1.

1. Moderner Konstitutionalismus: Eine unbekannte Geschichte

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Begründung von Regierung“. Als erste geschriebene Verfassungen war ihre Form neu, doch ihr Inhalt konnte sich noch nicht aus seinen traditionellen Bezügen lösen. Alles dieses hatte sich mit der Rechteerklärung von Virginia vom Juni 1776 radikal geändert. Sie hatte nicht nur einige Rechte konkret benannt, sondern darüber hinaus weitere Prinzipien proklamiert, die seither als konstitutiv für den modernen Konstitutionalismus gelten.18 Dass diese Prinzipien 1776 in Amerika, genau wie dann 1789 in Frankreich, in einer Rechteerklärung erfolgten, hängt mit dem spezifischen Verständnis von Verfassung zu Beginn der amerikanischen wie der Französischen Revolution zusammen.19 Ihre ureigenste Aufgabe war, die Freiheit ihrer Bürger sicherzustellen. Daher mussten in den der eigentlichen Verfassung vorangehenden Menschenrechtserklärungen jene Prinzipien verankert sein, die grundlegend und unverzichtbar waren, um diese Freiheit zu sichern.20 Dazu zählten, kommen wir wieder auf Virginia zurück, die Verantwortlichkeit der Regierenden, das Recht, die Verfassung „zu reformieren, abzuändern oder abzuschaffen“, die Trennung der Gewalten, der „unparteiische Geschworenenprozess“ als Basis einer unabhängigen Justiz, die Vorstellung, dass eine verfassungsmäßige Regierung ihrem ureigensten Wesen nach eine begrenzte Regierung ist.21 Es war eine Mischung aus fundamentalen Prinzipien und strukturellen Elementen, die der nachfolgenden Verfassung zugrunde liegen sollten und die als unverzichtbare Voraussetzungen galten, um die Freiheit der Bürger zu sichern und eine rationale Regierung gemäß den Gesetzen zu garantieren, anstelle einer Regierung aus persönlicher Laune, basierend auf Privilegien oder Korruption. Keiner dieser Grundsätze war neu. Sie waren alle in den Kolonien in dem voraufgegangenen Jahrzehnt ausführlich diskutiert worden.22 Doch nie waren sie bisher in so kohärenter Form in einem öffentlichen Dokument erschienen und zur Grundlage einer neuen politischen Ordnung erklärt worden. Über die, wenn auch unvollständige Aufzählung bestimmter Menschenrechte hinausgehend, liegt die singuläre Bedeutung der Rechteerklärung von Virginia von 1776 in der Begründung des vollständigen Katalogs der Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus, deren Gültigkeit auch heute noch unbestritten ist: Volkssouveränität (Abs. 2), universelle Prinzipien (Abs. 1, 15), Menschenrechte (Abs. 1), repräsentative Regierung (Abs. 6), die Verfassung als höherrangiges Gesetz (Titel), Gewaltentrennung (Abs. 5), begrenzte Regierung (Abs. 3, 5), Verantwortlichkeit der Regierungen (Abs. 2), Unabhängigkeit der Justiz (Abs. 5, 8) und das Recht des Volkes, seine Verfassung zu ändern oder durch eine neue zu ersetzen (Abs. 3). Noch heute stellt sich keine Verfassung, die den Anspruch erhebt, auf den 18 Über diese Prinzipien, ihren Hintergrund und den Einfluss von John Adams Thoughts on Government, vgl. John E. Selby, „Richard Henry Lee, John Adams, and the Virginia Constitution of 1776“, in: The Virginia Magazine of History and Biography, 84 (1976), 387 – 400. 19 Vgl. dazu unten Kap. V. 1. 20 Vgl. dazu unten die Kapitel zu den Menschenrechten (Kap. III. 7., V. 7., V. 8. und VII. 5). 21 Vgl. Virginia Declaration of Rights, Abs. 2, 3, 5 – 8, 13 u. 15, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153 – 154. 22 Vgl. dazu unten Kap. III. 1.

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Grundlagen des modernen Konstitutionalismus zu fußen, offen gegen eines dieser Prinzipien, wenngleich man allerdings mitunter das eine oder andere von ihnen vergeblich in ihnen suchen mag. In der Tat ist die Geschichte des modernen Konstitutionalismus voller Versuche, in gegebenen politischen Konstellationen besonders missliebig erscheinende Prinzipien zu umgehen oder zurückzuweisen. Die Verfassungsgeschichte der letzten 200 Jahre kennt genügend Beispiele, den ganzen Katalog des modernen Konstitutionalismus zu verwerfen. Nicht nur die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist voller derartiger Beispiele. Zwar war in den USA eine Fundamentalopposition nie eine wirkliche politische Option. Doch die Umsetzung in die einzelnen Verfassungen war ein mitunter langwieriger Prozess,23 und das Unbehagen mit dem einen oder anderen Prinzip ist bis heute mancherorts geblieben.24 Die Verfassung von Maryland von 1776 übernahm alle zehn Prinzipien der Rechteerklärung von Virginia, doch die nächste amerikanische Verfassung, die sich dem anschloss, war erst die Verfassung von Massachusetts von 1780. Keine der acht übrigen Verfassungen, die zwischen Juni 1776 und 1780 geschrieben wurden, war dazu bereit. Die Verfassungen von New Jersey von 1776 und von South Carolina von 1778 wichen am stärksten ab und waren lediglich bereit, das Prinzip der repräsentativen Regierung zu übernehmen. Der stärkste Widerstand richtete sich gegen die strikte Gewaltentrennung und eine unabhängige Justiz, während das verbreitete Fehlen eindeutiger Bestimmungen zum Amendierungsrecht des Volkes nicht stets grundlegende Opposition zum Ausdruck bringen mochte, sondern auch an Unerfahrenheit oder Unwissenheit der Verfassungsschreiber gelegen haben mag. Selektive Zustimmung zu dem Katalog des modernen Konstitutionalismus konnte aber auch Ausdruck des Versuchs sein, eine grundlegende Ablehnung seines Kerns zu verdecken. Das namhafteste Beispiel aus dieser frühen Zeit ist die Verfassung von Pennsylvania von 1776, die an die Stelle der ausgewogenen, Interessen ausgleichenden Verfassung des modernen Konstitutionalismus eine radikaldemokratische Verfassung konzipierte, die die Parteigänger des modernen Konstitutionalismus in Amerika empörte und aktiv für ihre Abschaffung arbeiten ließ, während sie in Frankreich auf große Begeisterung stieß.25 Anderswo mochten einige Prinzipien zunächst eher den Status von papiernen Deklarationen haben, denen es noch an inhaltlicher Substanz fehlte, während dem Prinzip der Volkssouveränität im Rahmen des modernen Konstitutionalismus eine ganz eigene Bedeutung zugrunde lag – man denke an die klassische Eingangsfloskel der Bundesverfassung von 1787 „Wir das Volk“ – als etwa in der Verfassung von Pennsylvania von 1776 oder auch später in Frankreich.26 Die letzte amerikanische 23

Vgl. dazu unten Kap. III. 3. Vgl. dazu unten Kap. III. 8. 25 Vgl. dazu unten Kap. V. 4. 26 Vgl. dazu Daniel Lessard Levin, Representing Popular Sovereignty. The Constitution in American Political Culture, Albany, N.Y.: State University of New York Press, 1999, 18 – 20; 24

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Verfassung, die sich weigerte, selbst nur diese legitimatorische Funktion der Volkssouveränität in sich aufzunehmen, war die Verfassung von Louisiana von 1812. Über weite Strecken hatte sie sich der Verfassung von Kentucky von 1799 angeschlossen, die ihrerseits eine revidierte Version der Verfassung Kentuckys von 1792 war, der chronologisch nächsten Verfassung nach den Verfassungen von Massachusetts von 1780 und der sich eng daran anlehnenden von New Hampshire von 1784, die alle zehn Prinzipien von Virginia übernommen hatten. Louisiana hingegen weigerte sich nicht nur, dem demokratischen Charakter der Verfassung Kentuckys zu folgen, sondern lehnte auch dessen Rechterklärung wie den Rekurs auf universelle Prinzipien ab. Statt Nachlässigkeit war es das bewusste Bestreben, eigenen Traditionen zu folgen, statt die Auflagen des Befähigungsgesetzes des Kongresses zu umgehen, das für die Aufnahme von Louisiana in die Union die Erklärung der Religionsfreiheit in der Verfassung verlangt hatte.27 Mit dem Gang der politischen Entwicklung und der damit verbundenen Stimmungslagen wechselten auch in Bezug auf manche Prinzipien des modernen Konstitutionalismus verbreitete Akzeptanz oder Ablehnung. In den 1770er und 1780er Jahren wurde die strikte Gewaltentrennung in den USA häufiger abgelehnt als angenommen,28 während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich im allgemeinen Bewusstsein die Demokratie in den USA durchsetzte,29 etwa die Hälfte der Staatsverfassungen Probleme mit dem Prinzip der Verfassung als höherrangiges Gesetz hatte. Dennoch wird man allgemein festhalten können, dass sich der moderne Edmund S. Morgan, Inventing the People, New York: Norton, 1988, 263 – 287, und unten Kap. V. 2. 27 Abs. 3 des Befähigungsgesetzes von 1811 bestimmte, „Die zu bildende Verfassung […] soll die grundlegenden Prinzipien der bürgerlichen und Religionsfreiheit enthalten [und] soll den Bürgern den Geschworenenprozess in allen Strafprozessen und die Wohltaten der Habeas Corpus-Bestimmungen im Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung der Vereinigten Staaten sichern“ (The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States, hrg. v. Francis Newton Thorpe, 7 Bde., Washington: Government Printing Office, 1909, III, 1377). Dass die geforderte Religionsfreiheit nicht in der Verfassung enthalten war, entging dem Kongress. Henry Clay erklärte im Repräsentantenhaus am 19. März 1812: „Der Konvent in New Orleans hat eine Verfassung für den Staat in Übereinstimmung mit dem Gesetz des Kongresses gebildet, das bestimmte Bedingungen zur Auflage machte“ (The Debates and Proceedings in the Congress of the United States [Annals of the Congress of the United States], Twelfth Congress, First Session, Washington: Gales and Seaton, 1853, 1225). Vgl. dazu Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 98 – 99. 28 Vgl. z. B. Vermont, wo bis 1836 der Gouverneur, sein Stellvertreter und der Finanzminister, wenn sie in der Volkswahl die absolute Mehrheit verfehlten, durch eine gemeinsame Wahl des Vollzugsrates und der Legislative gewählt werden konnten, selbst im Falle einer Wiederwahl, vgl. Constitutions of Vermont von 1777, Kap. II., Abschn. 17, von 1793, Kap. II, Abschn. 10, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VII, 15 – 16, 42 – 43. Gregory Sanford von den Vermont State Archives danke ich nachdrücklich, mich auf das andauernde und immer noch ungelöste Problem der gemeinsamen Wahlen aufmerksam gemacht zu haben. 29 Vgl. dazu unten Kap. III. 5. und V. 3.

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Konstitutionalismus in dieser Zeit im Wesentlichen in den USA etablierte. Die vorläufige Verfassung von Texas von 1835, die noch ganz unter dem Eindruck der mexikanischen Vergangenheit stand, enthielt kaum einen Grundsatz des modernen Konstitutionalismus. Die neue Verfassung von 1836, das Ergebnis dessen, was man die texanische Revolution nennt,30 enthielt fast alle. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts enthielten ungefähr die Hälfte aller amerikanischen Einzelstaatsverfassungen alle zehn Prinzipien der Rechteerklärung von Virginia.31 Dieser Verfassungsdekalog, wie er zuerst in Virginia 1776 eingeführt worden war und zunächst nichts weiter als eine amerikanische Besonderheit war, erwies sich auch außerhalb Amerikas rasch als immanent verflochten mit den neuartigen geschriebenen Verfassungen. So ging es 1789 nach verbreitetem Verständnis ebenso in Frankreich um das Problem, wie die Freiheit der Bürger gesichert werden konnte, und hier wie 1776 in Virginia lief dieses Problem auf die Forderung nach einer Rechtserklärung hinaus. Am 26. August 1789 wurde die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als europäisches Gegenstück zu den amerikanischen Rechteerklärungen proklamiert, und hier wie dreizehn Jahre zuvor begegnen wir Prinzipien des modernen Konstitutionalismus. Dennoch waren die Unterschiede unübersehbar. Der französische Text beginnt mit Verweisen auf die Repräsentanten des Volkes, Menschenrechte, universelle Prinzipien und das, was als die Volkssouveränität interpretiert werden kann, um dann in den berühmten Art. 16 zu münden: „Jede Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Betrachten wir diese Erklärung gemeinsam mit der Verfassung von 1791 – beide verkörpern die Verfassungspositionen der ersten Phase der Französischen Revolution –, müssen wir feststellen, dass beide Dokumente nichts über die Unabhängigkeit der Justiz, Verantwortlichkeit der Regierenden, begrenzte Regierungsgewalt noch die Verfassung als höherrangiges Gesetz sagen. Doch zum ersten Mal wurde die Theorie aufgestellt, wie in dem zitierten Art. 16 geschehen, dass wir allein dann von einer Verfassung im Rahmen des modernen Konstitutionalismus sprechen dürfen, wenn der Text bestimmte prinzipielle Anforderungen erfüllt. Was immer man in früheren Zeiten „Verfassung“ genannt haben mochte, beruhte der moderne Konstitutionalismus jetzt auf einer gewissen Zahl festgelegter Prinzipien. Was 1776 in Amerika begonnen hatte als neue politische Sprache, geboren in einer revolutionären Umbruchsituation, und schließlich durch die praktische Politik und politische Erfahrung sanktioniert worden war, hatte Art. 16 der französischen Menschenrechtserklärung in den Rang eines Axioms der Verfassungstheorie erhoben und damit das theoretische Fundament für den modernen Konstitutionalismus geliefert, das bislang noch fehlte. Gleichzeitig und im Einklang mit universellen Prinzipien transformierte sie damit den modernen Konstitutionalismus von einer bislang rein amerikanischen Idee in ein transnationales Phänomen, dessen Auswirkungen globaler Natur sein sollten. 30 Vgl. Paul D. Lack, The Texas Revolutionary Experience. A Political and Social History, 1835 – 1836, College Station: Texas A & M University Press, 1992, bes. 87 – 95. 31 Vgl. dazu unten Kap. III. 3.

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Die zehn Prinzipien von Virginia, auch wenn sie nicht vollständig von der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 und der Verfassung von 1791 übernommen wurden, erhielten ihre Glaubwürdigkeit als Grundlagen eines modernen Konstitutionalismus von globaler Bedeutung erst, weil sie 1789 in Frankreich aufgegriffen wurden und weil besagter Art. 16 verkündete, dass allein das Vorhandensein bestimmter Prinzipien es erlaube, von Verfassung in einem modernen Verständnis sprechen zu dürfen. Was immer die Bedeutung von Art. 16 im innerfranzösischen Kontext sein mag,32 erhebt er die französische Menschenrechtserklärung zum ersten Verfassungsdokument, das darauf besteht, dass der moderne Konstitutionalismus auf bestimmten Prinzipien gründet, bei deren Abwesenheit wir nicht befugt sind, von einer modernen Verfassung zu sprechen. Die Unabhängigkeit der Justiz, die Verantwortlichkeit der Regierenden, begrenzte Regierung und die Verfassung als höherrangiges Gesetz fehlten in den ersten beiden französischen Dokumenten nicht zufällig. Aus unterschiedlichen Gründen brauchte es eine lange Zeit, bis sie zu anerkannten Prinzipien in französischen Verfassungen wurden. Überwiegend wurden sie erst in den letzten Jahrzehnten mit der sich weiter entwickelnden Verfassung der V. Republik aufgenommen.33 Die Geschichte des modernen Konstitutionalismus in Frankreich wurde nicht nur von französischen Diskursen und Denktraditionen geprägt,34 sondern auch von Revolutionen und Brüchen, die wesentlich dazu beigetragen haben, dass die französischen wie insgesamt europäischen Varianten des modernen Konstitutionalismus ihre eigene Prägung haben. Während die Verfassungen von 1791, 1793 und des Jahres III (1795) fest auf der Mehrheit der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus gegründet waren, kam der abrupte Umschwung mit der Verfassung des Jahres VIII (1799). Keines der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus war in ihr enthalten. Vielmehr war alle Macht in den Händen des Ersten Konsuls (Napoleon) konzentriert. Damit konnte diese Verfassung zu einem Modell für autoritäre Regierungen werden,

32 Vgl. Michel Troper, „L’Interprétation de la déclaration des droits: L’exemple de l’article 16“, in: Droits. Revue française de théorie juridique, 8 (1988), 111 – 122; Pierre Albertini, „Article 16“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaires, hrg. v. Gérard Conac, Marc Debene u. Gérard Teboul, Paris: Économica, 1993, 331 – 342. 33 Vgl. allgemein Louis Favoreu and Loïc Philip, Les grandes décisions du Conseil constitutionnel, Paris: Dalloz, 162011 (seither weitergeführt von Patrick Gaïa). Ergänzend Olivier Beaud, „Les Mutations de la Ve République ou comment se modifie une constitution écrite“, in: Pouvoirs, 99 (2002), bes. 23 – 26; Adolf Kimmel, „Nation, Republik, Verfassung in der französischen politischen Kultur“, in: Verfassung und politische Kultur, hrg. v. Jürgen Gebhardt, Baden-Baden: Nomos, 1999, bes. 134 – 138; Jürgen Schwarze, „Die europäische Dimension des Verfassungsrechts“, in: ders. (Hrg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, Baden-Baden: Nomos, 1998, 150 – 153. Bislang wurde die Verfassung 24 Mal geändert, darunter von besonderer Bedeutung die Änderung von 2008, mit der der conseil constitutionnel das Recht der rückwirkenden Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen erhielt. 34 Vgl. dazu unten Tl. IV und die ersten fünf Kapitel von Tl. V.

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zeigte sie doch, wie sich die Konsolidierung der Macht in der Hand eines Diktators leicht hinter einer konstitutionellen Fassade verbergen ließ.35 Die drei Verfassungstexte, die den Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft begleiten, verdienen besonderes Interesse. Es sind dies die Verfassungsprojekte des Senats vom 6. April 1814 und der Kammer der Repräsentanten vom 29. Juni 1815 und die Erklärung der Rechte der Franzosen vom 5. Juli 1815.36 So unterschiedliche diese drei Dokumente auch sind, sind sie alle bemüht, den modernen Konstitutionalismus und seine wesentlichen Prinzipien in Frankreich wieder zur Geltung zu bringen. Volkssouveränität, universelle Prinzipien, Menschenrechte, repräsentative Regierung, Gewaltentrennung und selbst eine unabhängige Justiz waren enthalten. Aber nichts davon wurde umgesetzt. Stattdessen erfolgte die Restauration der Bourbonen mit ihrer Legitimierung durch die Charte von 1814. Aus zwei Gründen wurde die Charte rasch das Vorbild für das Europa der Restauration. 1) Sie akzeptierte die revolutionäre Idee der Verfassung, wenn auch ohne den eigentlichen Namen zu gebrauchen, und wurde vom Monarchen oktroyiert. 2) Sie wies bewusst den modernen Konstitutionalismus zurück.37 Volkssouveränität, universelle Prinzipien und Menschenrechte wurden nicht proklamiert. Die öffentlichen Rechte der Franzosen sind für letzteres kein wirklicher Ersatz.38 Eine repräsentative Regierung bestand nicht, und die Verfassung wurde nicht zum höherrangigen Gesetz erklärt. Anstelle einer Gewaltentrennung war letztlich der Monarch die Quelle aller Macht. Bestimmungen für eine begrenzte Regierung fehlten, auch wenn zeitweise danach gehandelt werden mochte, ebenso wie jene über die Verantwortlichkeit. Eine Revision der Verfassung war nicht vorgesehen.39 Die einzige Konzession mag man mit Bezug auf die Richter sehen. Sie wurden vom Monarchen ernannt, übten ihr Amt aber auf Lebenszeit aus.40 Diese Verfassung wurde bei35 Vgl. dazu Luca Scuccimarra, La sciabola di Sieyès. Le giornate di brumaio e la genesi del regime bonapartista, Bologna: Il Mulino, 2002, bes. 167 – 174. 36 Die Texte sind abgedruckt in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 173 – 175, 197 – 206. 37 Zumal in französischen Interpretationen wird dieser Aspekt zumeist vernachlässigt, vgl. Pierre Rosanvallon, La Monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, Paris: Fayard, 1994, der in Abgrenzung vom „jakobinischen Moment“ jetzt vom „englischen Moment“ sprach (S. 8), oder Alain Laquièze, Les Origines du Régime parlementaire en France (1814 – 1848), Paris: Presses Universitaires de France, 2002, der von einer „echten begrenzten Monarchie“ sprach (S. 67), doch zugleich betonte, dass das System „nachdrücklich von juristischen Konzepten vor 1789 geprägt“ sei (S. 74). 38 Vgl. die Art. 1 – 12 der Charte, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 178. 39 Gerade die liberale Opposition begründet mit der fehlenden Revisionsklausel ihre Auffassung von der Unvollständigkeit der Verfassung, vgl. Albert Fritot, Esprit du droit et ses applications à la politique et à l’organisation de la monarchie constitutionnelle, Paris: E. Pochard, 21825, 558 – 559. 40 Art. 58 (Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 181).

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spielgebend für die meisten deutschen Verfassungen der nachfolgenden Jahre.41 Gemäßigte Liberale und gemäßigte Konservative begrüßten die Verfassung, während sie für Ultraroyalisten viel zu „liberal“ war. Die Charte von 1830 schränkte die Macht des Monarchen nur geringfügig ein und erweiterte die Rechte der Legislative,42 doch was die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus betrifft, kam es zu keinen grundlegenden Änderungen. Diese kamen erst mit der Verfassung von 1848, die erneut die Volkssouveränität proklamierte, doch bei universellen Prinzipien und Menschenrechten ähnlich zurückhaltend blieb wie ihre Vorgängerinnen. Sie akzeptierte die repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Verfassungsrevision. Doch weiterhin war die Verfassung kein höherrangiges Recht, noch wurden begrenzte Regierungsgewalt oder Verantwortlichkeit als Norm eingeführt. Obgleich 1848 für den modernen Konstitutionalismus in weiten Teilen Europas ein entscheidender Durchbruch war, kann man für Frankreich bestenfalls von einem zeitlich wie inhaltlich begrenzten Sieg sprechen.43 Während die Charte von 1814 für die Abwehr des modernen Konstitutionalismus im Europa der Restauration stand, symbolisierte die Verfassung von Cadiz von 1812, laut Gervinus „das Ideal der Freisinnigen, der Abscheu der Absolutisten in ganz Europa“,44 die liberale Alternative. Für ihre Anhänger wie Gegner war ihr bedeutendstes Markenzeichen die Proklamierung der Volkssouveränität. Hingegen schwieg sie zu universellen Prinzipien und Menschenrechten. Doch repräsentative Regierung, Gewaltentrennung und Unabhängigkeit der Justiz waren in ihr ebenso verankert wie die Verfassung als höherrangiges Gesetz und eine Revisionsklausel. Begrenzte Regierung und Verantwortlichkeit der Regierenden fanden jedoch keine Erwähnung. Ungeachtet der Fundamentalopposition von Metternich und der Heiligen Allianz wurde die Verfassung in Spanien zweimal wieder eingeführt und zusätzlich im Königreich Beider 41

Vgl. Jacky Hummel, Le Constitutionnalisme allemand (1815 – 1918): Le modèle allemand de la monarchie limitée, Paris: Presses Universitaires de France, 2002, 40 – 59; Hartwig Brandt, „Von den Verfassungskämpfen der Stände zum modernen Konstitutionalismus: Das Beispiel Württemberg“, in: Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrg. v. Martin Kirsch u. Pierangelo Schiera, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, 99 – 108. Ausführlich unten Kap. VI. 7. 42 Zum umstrittenen Charakter der Charte von 1830, vgl. Luigi Lacchè, La Libertà che guida il Popolo. Le Tre Gloriose Giornate del luglio 1830 e le „Chartes“ nel costituzionalismo francese, Bologna: Il Mulino, 2002, 87 – 93. 43 Vgl. Frédéric Lambert, „La Genèse de la Constitution du 4 novembre 1848. De la confiscation de la Révolution à la défaite de la République“, in: Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848 – 49, hrg. v. Horst Dippel, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, 205 – 229. 44 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, II, Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1856, 135. Vgl. auch Paul Pfizer, „Liberal, Liberalismus“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Carl von Rotteck u. Carl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, VIII, 523 – 535, bes. 527, 533.

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Sizilien und in Piemont adaptiert und mit Modifikationen in Portugal. Was die jakobinische Verfassung von 1793 für die demokratische Linke in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeuten sollte, symbolisierte die Verfassung von Cadiz für den demokratischen Liberalismus in der ersten Hälfte.45 Die herausragende Bedeutung der Verfassung von Cadiz liegt darin, dass sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den bislang bedeutendsten Versuch in Europa darstellte, die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus mit der bestehenden monarchischen Ordnung zu verknüpfen.46 Genau aus diesem Grund wurde sie nicht allein von den Konservativen in Europa vehement bekämpft,47 sondern ebenfalls von gemäßigten Liberalen, die größere Beschränkungen der monarchischen Gewalt als in der britischen Verfassung vor 1832 ablehnten.48 Selbst wenn der Höhepunkt der europäischen Begeisterung für die britische Verfassung überschritten war, stieß sie in jenen liberalen Kreisen im Europa des 19. Jahrhunderts, wenn auch mit abnehmender Tendenz, auf Zustimmung, die zwar für eine Verfassung eintraten, doch den modernen Konstitutionalismus ablehnten, der ihnen zunehmend als zu demokratisch und republikanisch galt. Allerdings fand die wachsende Parlamentarisierung und Demokratisierung der britischen Verfassung während des 19. Jahrhunderts49 bei ihnen häufig eher Ablehnung, denn Begeisterung. Ein ganz anderer, doch hier gleichfalls zu Buche schlagender Aspekt ist die Tatsache, dass die britische Regierung mit dem fehlgeschlagenen Projekt von Neu-Irland erstmals 1780 versucht hatte, zur Abwehr der Ideen des modernen Konstitutionalismus eine Verfassung nach britischen Vorstellungen einzuführen.50 Großbritannien hat diese Politik der Verfassungsgebung als antirevolutionäres In45 Vgl. Boris Mirkine-Guetzévitch, „La Constitution espagnole de 1812 et les débuts du libéralisme européen (Esquisse d’histoire constitutionnelle comparée)“, in: Introduction à l’étude du droit comparé. Recueil d’Études en honneur d’Édouard Lambert, 5 Bde., Paris: Recueil Sirey, 1938, II, 211, 216 – 219; Juan Ferrando Badía, „Die spanische Verfassung von 1812 und Europa“, in: Der Staat, 2 (1963), 155 – 158. Auch Antonino de Francesco, „La Constitución de Cádiz en Nápoles“, in: José María Iñurritegui u. José María Portillo (Hrg.). Constitución en España: Orígenes y destinos, Madrid: Centro de Estudios politicos y constitucionales, 1998, 273 – 286. 46 Vgl. Joaquín Varela Suanzes-Carpegna, La Teoría del estado en los orígenes del constitucionalismo hispanico (Las Cortes de Cádiz), Madrid: Centro de Estudios Constitucionales, 1983, bes. 374 – 377. 47 Vgl. Karl Ludwig von Haller, Ueber die Constitution der Spanischen Cortes, o. O. u. N. 1820. Zu Haller als unbeugsamen Kämpfer gegen moderne Verfassungen und zu seiner Flugschrift, vgl. Burchard von Westerholdt, Patrimonialismus und Konstitutionalismus in der Rechts- und Staatstheorie Karl Ludwig von Hallers. Begründung, Legitimation und Kritik des modernen Staates, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, bes. 61 – 66. 48 Vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, geschichtlich-politisch dargestellt, 3 Bde., Leipzig: J. C. Hinrichssche Buchhandlung, 1826, III, 253. Ferner unten Kap. VI. 3. und VI. 4. 49 Vgl. dazu unten Kap. V. 6. 50 Vgl. dazu die – jeweils fehlgeschlagene – britische wie amerikanische Verfassung von New Ireland von 1780, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 9 – 24.

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strument ab den 1790er Jahren zur Bekämpfung der Ideen der Französischen Revolution aktiv fortgesetzt.51 Dabei ging es Großbritannien nicht um die Verbreitung liberaler Grundsätze, sondern um die Aufrechterhaltung einer traditionellen Sozialordnung, die, so die herrschende britische Überzeugung, individuelle Rechte und Freiheit besser zu schützen in der Lage sei als die gleichmacherischen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Verfassung der Ionischen Inseln von 1817, die sogenannte Maitland Verfassung, die den Inseln statt der erwarteten Freiheiten eine erheblichen Unmut hervorrufende Herrschaft der lokalen Aristokratie unter strikter britischer Oberherrschaft einbrachte.52 Nachdem die Cadiz-Verfassung aufgrund der Bestrebungen der Heiligen Allianz 1823 durch militärische Invasion in Spanien abgeschafft worden war, stieg einige Jahre später die belgische Verfassung von 1831 als neuer Hoffnungsträger des liberalen Europa auf, die die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus umzusetzen bemüht war. Die Zeit war günstig, da Russland alle Hände voll zu tun hatte, den polnischen Aufstand niederzuschlagen, wodurch die britische Außenpolitik freie Hand hatte, in einem Kompromiss mit den anderen Mächten ein unabhängiges Belgien vor seiner Haustür zu errichten. Die belgische Verfassung war ein Meisterwerk einer konstitutionellen Verschleierung. Ihre schärfsten Gegner mochten ihr vorwerfen, dass sie alle Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in sich aufgenommen hatte. Doch ihre Anhänger mochten darauf hinweisen, dass sie dies aber doch nirgendwo ausdrücklich gesagt hätten. So hätten sie nicht die Volkssouveränität eingefügt, hieß es doch in der offiziellen französischen Fassung von Art. 25: „Alle Gewalt geht von der Nation aus.“ Tatsächlich steht aber in der ebenso offiziellen flämischen Fassung: „Alle Gewalt geht vom Volk aus.“53 Es gab keine universellen Prinzipien und keine Menschenrechtserklärung, sondern nur den Titel II „Von den Belgiern und ihren Rechten“, doch waren diese zumeist so weit gefasst, dass sie keineswegs ausschließlich auf Staatsbürger zutrafen. Die Verantwortung der Regierenden wurde nicht erklärt, doch Art. 24 bestimmte, dass öffentliche Amtsträger zur Verantwortung gezogen werden konnten.54 Art. 130 erklärte kurz und bündig, dass die Verfassung weder in Teilen noch als Ganzes abgeschafft werden könne, doch der nachfolgende Art. 131 bestimmte, wie die Verfassung revidiert werden konnte. Die politischen Privilegien der Aristokratie wurden abgeschafft (Art. 6), doch um in den 51 Vgl. Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschlandund Italienpolitik 1815 – 1848, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995, auch wenn dieses Buch sich mehr mit deutschen und italienischen Verfassungsprojekten als mit konkreter britischer Politik beschäftigt. Auch Carlo Ricotti, „Il costituzionalismo britannico nel Mediterraneo (1794 – 1818)“, in: Clio, 27 (1991), 365 – 451. 52 Vgl. dazu unten Kap. II. 3. 53 Beide Textfassungen in: Documents constitutionnels de la Belgique, du Luxembourg et des Pays-Bas 1789 – 1848, hrg. v. Fred Stevens, Philippe Poirier u. Peter A. J. van den Berg, München: Saur, 2008, hier 75. 54 Vgl. Gustave Beltjens, Encyclopédie du droit civil belge II: La Constitution belge revisée, annotée au point de vue théorique et pratique de 1830 à 1894, Lüttich: Jacques Godenne, 1894, 333.

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Senat gewählt werden zu können, war eine hohe Eigentumsqualifikation erforderlich (Art. 56). Die repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, begrenzte Regierungsgewalt und die Unabhängigkeit der Justiz waren Bestandteil der Verfassung.55 Der moderne Konstitutionalismus hatte seinen bislang bedeutendsten Erfolg in Europa erzielt und übertraf sogar die Schweiz, wo die revolutionäre Begeisterung 1793 in Genf zu einer Menschenrechtserklärung geführt hatte. Doch neben französischen Einflüssen war sie geprägt durch ungebrochene lokale Traditionen, die nur schwer mit dem modernen Konstitutionalismus in Einklang zu bringen waren. Zumal die Schweizer Tradition der souveränen Gemeinde, die sich in Formen der direkten Demokratie äußerte, ließ kaum die uneingeschränkte Annahme von Prinzipien wie repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, begrenzte Regierungsgewalt, Unabhängigkeit der Justiz oder die Verfassung als höherrangiges Recht zu.56 Doch ob in kleinen Republiken oder ausgedehnten Staaten konnte die Wanderung der Verfassungsideen mitunter eher schleichend erfolgen, als sich augenfällig manifestieren: Die Souveränität der Nation konnte eine verschleiernde Floskel sein. Sie konnte aber auch die bewusste Zurückweisung der Souveränität des Volkes sein, wie etwa beim Beginn der Paulskirchenverhandlungen.57 Selbst heute proklamiert von den Monarchien in der Europäischen Union allein die spanische Verfassung von 1978 offen die Volkssouveränität.58 Die europäischen Revolutionen von 1848 stellten die bedeutendste Etappe für den modernen Konstitutionalismus und seine weitere Entwicklung in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dar. Kein anderes Ereignis der voraufgegangenen Jahrzehnte hatte seinen Grundprinzipien einen vergleichbaren Aufschwung gegeben. Dennoch waren ihre unmittelbaren Ergebnisse mehrdeutig. Generell lassen sich die Verfassungen von 1848/49 in zwei Gruppen einteilen. Der einen Gruppe gehören jene Verfassungen an, die erlassen und oktroyiert wurden, um die Revolution abzuwehren. Zur zweiten Gruppe zählen jene Verfassungen, die das eigentliche Ergebnis dieser Revolutionen waren. Wenig überraschend, wurden der moderne 55

Vgl. John Gilissen, „La Constitution belge de 1831: ses sources, son influence“, in: Res publica. Revue de l’Institut Belge de Science Politique, Bruxelles, 10 (1968), 107 – 141; André Mast, „Une Constitution du temps de Louis-Philippe“, in: Revue du droit public et de la science politique en France et à l’Étranger, 73 (1957), 987 – 1030; ebenso die immer noch klassische Auffassung von Émile de Laveleye, Quelques Considérations sur la constitution belge, zusammengebunden mit: Théodore Juste, Le Congrès national de Belgique 1830 – 1831. Précédé de Quelques Considérations sur la constitution belge par Émile de Laveleye, I, Brüssel u. Leipzig: Librairie Européenne C. Muquardt, 1880. 56 Vgl. Constitution genevoise, sanctionnée par le souverain le 5 Fév. 1794, l’an troisième de l’Égalité; précédée de la Déclaration des droits et des devoirs de l’homme social, consacrée par la nation genevoise le 9 Juin 1793. Imprimé & distribué par ordre du Gouvernement, Genf: Imprimerie de Bonnant, [1794]. 57 Vgl. dazu unten Kap. VI. 9. 58 Art. 1,2: „Die nationale Souveränität ruht im spanischen Volk; alle Gewalt des Staates geht von ihm aus“ (Douze Constitutions pour une Europe…, hrg. v. E. Cerexhe u. L. le Hardy de Beaulieu, Diegem, Belgien: Kluwer, 1994, E-9).

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Konstitutionalismus und seine Prinzipien von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der ersten Gruppe zurückgewiesen, während sie für die zweite Gruppe das entscheidende Kriterium darstellten. Die deutschen Einzelstaatsverfassungen von 1848/49 eignen sich in besonderem Maße, diese Breite der Möglichkeiten zu dokumentieren. Um diese Antworten jedoch angemessen einordnen zu können, ist zunächst der Blick auf die voraufgegangenen Jahrzehnte zu richten. 1836 und erneut zehn Jahre später hatte Carl von Rotteck im Staats-Lexikon die theoretischen Grundlagen des modernen Konstitutionalismus mit bemerkenswerter Klarheit beschrieben: „Das constitutionelle System also, so wie es sich seit dem Anbeginn der nordamerikanischen und – für Europa unmittelbar wirksam – der französischen Revolution ausgebildet hat, ist – in der Theorie vollständig, in der Praxis wenigstens annähernd – übereinstimmend mit dem System eines rein vernünftigen Staatsrechtes, angewandt auf die überall factisch vorliegenden oder historisch gegebenen Verhältnisse.“59

Die wesentlichen Prinzipien waren laut Rotteck Menschenrechte, Gewaltentrennung, repräsentative Regierung, begrenzte Regierungsmacht, Verantwortlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz.60 Rotteck hatte damit zugleich die Rezeptionsgeschichte in Deutschland angedeutet, die unten in mehreren Kapiteln des Teils VI. untersucht werden wird. Dabei wird deutlich werden, dass der moderne Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allen Anfeindungen und Repressionen zum Trotz durchaus Eingang gefunden hatte, eine Grundlage, auf der die Verfassungsbestrebungen von 1848/49 gezielt aufbauen konnten, auch wenn die Ergebnisse von Staat zu Staat höchst unterschiedlich ausfielen. So war die herrschende Elite der Hansestadt Lübeck im Grunde genauso ablehnend ihm gegenüber wie die Hamburgs, wo erst gar keine Verfassung in diesen Jahren zustande kam. Die Lübecker Verfassung vom April 1848 sanktionierte praktisch die bestehende Ständeordnung, während die Verfassung vom Dezember 1848 als einzige Konzession an die Revolution die repräsentative Regierung einführte.61 Noch vor der Grundrechteerklärung der Paulskirche Ende Dezember 1848 hatten jene Staaten, die bis dahin eine Verfassung verabschiedet hatten, in der Regel eine Erklärung der Rechte eingefügt, doch ähnlich wie in der Paulskirche ohne sie durch die Anrufung universell gültiger Prinzipien zu rechtfertigen. In aller Regel verankerten diese Verfassungen die repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, Verantwortlichkeit der Regierenden und die Unabhängigkeit der Justiz. Einige enthielten zusätzlich Bestimmungen zur Revision der Verfassung. Zwei Verfassungen, nämlich die von Lauenburg und Waldeck-Pyrmont erklärten darüber hinaus die 59 Carl von Rotteck, „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Prinzip und System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Das Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck u. Welcker, III, 519 – 543, hier 522. Die zitierte Stelle erschien bereits in der 1. Aufl., III (1836), 766. 60 Vgl. ebd., 522 – 524. Zu Rotteck weiter unten Kap. VI. 4. 61 Vgl. die beiden Verfassungen in: Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, IV, 161 – 211.

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Verfassung zum höchsten Gesetz, wobei letztere in § 141 festlegte: „Gesetzliche Bestimmungen, welche mit dieser Verfassungsurkunde in Widerspruch stehen, sind aufgehoben.“62 Allein die Verfassung von Anhalt-Köthen von 1848 verkündete: „Alle Gewalten gehen vom Volke aus.“63 Auch wenn universelle Prinzipien und begrenzte Regierungsgewalt nirgendwo ausdrücklich erklärt wurden, hatte der moderne Konstitutionalismus in Deutschland 1848/49 seinen Höhepunkt erreicht, der erst 70 Jahre später wieder erlangt und übertroffen werden sollte.64 Die deutsche Situation war keineswegs einzigartig in Europa. Die dänische Verfassung von 1849, liberal in ihrem Tenor und mit ihrem Bekenntnis zu begrenzter Regierungsgewalt und der Gewaltentrennung,65 verankerte repräsentative Regierung, Unabhängigkeit der Justiz, Menschenrechte und die Revisionsgewalt, sperrte sich aber gegen Volkssouveränität und universelle Prinzipien und blieb eher vage in Bezug auf die Verantwortlichkeit der Regierenden und die Verfassung als höherrangiges Gesetz. Insgesamt ähnelte sie damit mehr oder weniger der Verfassung die Niederlande von 1848,66 wohingegen die luxemburgische Verfassung von 1848 weitgehend eine Adaption der belgischen Verfassung von 1831 war, jedoch bezeichnenderweise deren Art. 25 mit der Souveränität der Nation bzw. des Volkes ausließ.67 Was in der luxemburgischen Verfassung von 1848 fehlte und in der belgischen von 1831 teilweise verschleiert war, wurde in der Verfassung der Römischen Republik von 1849 offen ausgesprochen, war sie doch die demokratischste aller europäischen Verfassungen von 1848/49 und eine der beiden, in der sich alle zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus wiederfinden.68 Sie setzte ein mit der Proklamation: „Die Souveränität liegt kraft ewigen Rechts im Volk.“ Folglich: „Alle Macht geht vom Volk aus.“69 Alle übrigen Prinzipien wurden ausdrücklich erklärt, lediglich die begrenzte Regierungsgewalt lässt sich allein indirekt ableiten. Die übrigen italie62

Ebd., VI, 231. Ebd., I, 175 (§ 5). Ebenso in der weitgehend identischen Verfassung von Anhalt-Dessau von 1848. 64 Vgl. dazu unten Kap. VI. 11. und VI. 12. 65 §§ 1 u. 2, in: Forfatningsdokumenter fra Danmark, Norge og Sverige / Konstitusjonelle dokumenter i Danmark, Norge og Sverige / Konstitutionella dokument från Danmark, Norge och Sverige 1809 – 1849, hrg. v. Thomas Riis u. Sönke Loebert, Dag Michalsen u. Magnus Isberg, München: Saur, 2008, 57. 66 Vgl. Documents constitutionnels de la Belgique, du Luxembourg et des Pays-Bas, hrg. v. Stevens, Poirier u. van den Berg, 619 – 642. 67 Vgl. ebd., 153 – 180. Die Verfassung wurde von demselben Wilhelm unterzeichnet, der drei Monate später die Verfassung der Niederlande unterschrieb, die ebenfalls nicht die Souveränität der Nation verkündete. Die luxemburgische Verfassung war zweisprachig mit offiziell der deutschen Sprache an erster Stelle. Jedoch verraten die vielfach wörtlichen Übereinstimmungen, dass sie tatsächlich in Französisch konzipiert wurde. 68 Vgl. Giuseppe Galasso, „La Costituzione romana del 1849“, in: Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848 – 49, hrg. v. Dippel, 231 – 269. 69 Principii fondamentali, Art. 1 u. Tit. II, Art. 15, in: Documenti costituzionali di Italia e Malta 1787 – 1850, hrg. v. Jörg Luther, 2 Bde., Berlin – New York: de Gruyter, 2010, II, 219, 220. 63

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nischen Verfassungen der Revolutionsjahre glichen im Grunde dem breiten deutschen Spektrum zwischen Ablehnung und Annahme des modernen Konstitutionalismus. Die einzige Ausnahme stellt das Statuto Albertino dar, die langlebigste aller europäischen Verfassungen dieser beiden Revolutionsjahre. Obwohl vom Monarchen oktroyiert, übernahm es zumindest vier der Verfassungsprinzipien: Menschenrechte, repräsentative Regierung, Gewaltentrennung und die Unabhängigkeit der Justiz – mehr als die meisten Verfassungen gleicher Provenienz, innerhalb wie außerhalb Italiens.70 Der moderne Konstitutionalismus hatte in Europa mit den Revolutionen von 1848/49 einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht, und das herausragendste Beispiel in Mitteleuropa dafür sind der Kremsierer Grundrechtsentwurf vom Dezember 1848 und der Kremsierer Verfassungsentwurf vom März 1849.71 Wie in der Verfassung der Römischen Republik finden sich auch hier alle zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, wiederum mit der Einschränkung, dass die begrenzte Regierungsgewalt nicht ausdrücklich erklärt wurde, sich jedoch aufgrund der übrigen Bestimmungen als ansatzweise enthalten begreifen lässt.72 Selbst wenn die politische Situation weitere Fortschritte in anderen Teilen Europas zu diesem Zeitpunkt nicht zuließ, hatte der moderne Konstitutionalismus trotz seiner vielen Feinde und einschneidender Rückschläge aufgrund der Reaktion der 1850er Jahre in Europa Fuß gefasst. Doch insgesamt ließ sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen.73 Selbst die Herausforderungen der zweiten Hälfte des 19 sowie des 20. Jahrhunderts haben dieses Ergebnis auf Dauer nicht zunichtemachen können. Ein leichter Sieg wurde in diesen Jahren auch in einer völlig anderen Weltgegend errungen, die ebenso wenig von zukünftigen Widersprüchen und Widerständen frei blieb: Liberia. Seine Verfassung vom 29. Juli 1847, ihrem geistigen und soziopolitischen Ursprung nach amerikanisch, verpflanzte alle zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus von Virginia an die Westküste von Afrika.74 Gleiches gilt im Wesentlichen auch für die Verfassung von Hawai’i von 1852, die einen starken 70 Vgl. Hartmut Ullrich, „The Statuto Albertino“, in: Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848 – 49, hrg. v. Dippel, bes. 129 – 144. 71 Obgleich Gerald Stourzh, „Frankfurt – Wien – Kremsier 1848/49: Der Schutz der nationalen und sprachlichen Minderheit als Grundrecht“, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien u. Köln: Böhlau, 1989, 197, die Analogien zwischen den Rechteerklärungen der Paulskirche und von Kremsier betonte, lag der entscheidende Unterschied zwischen beiden darin, dass in Kremsier ausdrücklich die Souveränität des Volkes erklärt wurde. 72 Vgl. beide Texte in: Verfassungsdokumente Österreichs, Ungarns und Liechtensteins 1791 – 1849, hrg. v. Ilse Reiter, András Cieger u. Paul Vogt, München: Saur, 2005, 41 – 67. 73 Vgl. dazu unten Kap. VI. 11. 74 Der Text findet sich in: Constitutional Documents of the United States of America 1776 – 1860, Supplement: Hawai’i and Liberia, hrg. v. Robert Stauffer u. D. Elwood Dunn m. Unterst. v. Miriam Leitner, München: Saur, 2008, 117 – 125.

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I. Einführung

amerikanischen Einfluss erkennen lässt.75 Liberia und Hawai’i sind damit die beiden einzigen Staaten außerhalb Europas und den beiden Amerikas, die Mitte des 19. Jahrhunderts über eine Verfassung auf der Basis des modernen Konstitutionalismus verfügten. Eine völlig andere Situation ergibt sich in Lateinamerika, das aus nordamerikanischer ebenso wie aus nordeuropäischer Perspektive in diesem Zusammenhang in der Regel eher etwas mitleidig betrachtet wird. Damit wird der Blick verstellt für die außergewöhnlichen Errungenschaften, die der moderne Konstitutionalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ungeachtet aller realen politischen Probleme dort zu verzeichnen hat, so dass dieser Weltteil ein integraler Bestandteil einer Geschichte des modernen Konstitutionalismus ist und eine intensive Analyse verdient, für die angesichts seiner vielfach durchaus eigenständigen Lösungen, die zudem zumal im 19. Jahrhundert häufig deutlich über das im Europa der Zeit Erreichte hinausweisen, ein kleiner Anhang an dieser Stelle nicht angebracht erscheint. Stattdessen sei hier abschließend auf dem ihm eigens gewidmeten Teil VIII. verwiesen. Zusammenfassend lässt sich mithin nur nochmals die Bedeutung dieser immer noch fehlenden Geschichte des modernen Konstitutionalismus betonen. Sie ist eine immense Herausforderung, die wohl allein in einer Fülle von Einzelstudien angegangen werden kann, zu der hier lediglich punktuelle Hinweise gegeben werden konnten. Sie lassen erkennen, wie zentral es ist zu begreifen, warum sich bestimmte Verfassungsprinzipien durchsetzten und warum andere nicht oder doch nur gegen erheblich größeren Widerstand breitere Akzeptanz fanden und finden. Aber sie zeigen auch Entwicklungslinien auf, Wandlungen und Weiterentwicklungen. Sie werfen Fragen auf nach der Abgrenzung des modernen Konstitutionalismus von anderen Verfassungsmodellen, darunter die hier angeklungenen radikaldemokratischen und direktdemokratischen Spielarten. Wie Unabhängigkeit der Justiz und Verfassungssuprematie mit Demokratie in Einklang zu bringen sind, bedarf ständig neuen Austarierens. Wie die Balance einer Verfassung zu erreichen ist und welche Wege der Vermeidung und Lösung von Konflikten gefunden und überfällige Anpassungen und Modifikationen erfolgen müssen, bleiben Aufgaben, denen sich ein weiter zu entwickelnder moderner Konstitutionalismus stellen muss. Doch solange wir lediglich so unvollkommen wissen, wie wir dahin gekommen sind, wo wir heute stehen, bleibt es eine Herausforderung, die richtigen Stellschrauben für den weiteren Weg zu identifizieren.

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Der Text findet sich ebd., 43 – 65.

II. England Das Verhältnis Englands zum modernen Konstitutionalismus ist doppeldeutig. Einerseits haben weder England noch Großbritannien noch das Vereinigte Königreich je eine Verfassung angenommen, die auf den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus beruht. Andererseits gibt es kein zweites Land, dessen Bedeutung für die Herausbildung des modernen Konstitutionalismus der Englands vergleichbar wäre. Dieser zweite Teil reflektiert daher mit seinen vier Beispielen auf vier Jahrhunderten beide Seiten dieses Verhältnisses. Zunächst richtet sich der Blick auf das englische 17. Jahrhundert mit seinen Verfassungskonflikten, seinen beiden Revolutionen und dem, was man dann das Revolution Settlement des ausgehenden 17. Jahrhunderts nannte, sowie mit seiner eindrucksvollen Galerie von Verfechtern englischer Freiheiten von Edward Coke über John Lilburne bis John Locke, um nur einige wenige klangvolle Namen herauszugreifen. Dies englische 17. Jahrhundert füllte das Arsenal konstitutioneller Ideen, das bereit stand, als man in den nordamerikanischen Kolonien ab 1763, also nach dem Siebenjährigen Krieg, der dort als French and Indian War in die Geschichtsbücher eingegangen ist, angesichts der neuen Kolonialpolitik des Mutterlandes verstärkt über die britische Verfassung diskutierte (s. Kap. III. 1.) und schließlich ab 1776 erstmals moderne schriftlich fixierte Verfassungen konzipierte. Das Kap. II. 1. wird sich mit der Wanderung dieser Ideen nach Nordamerika und ihrer dortigen Aufnahme sowie den Folgen dieser Diskussion beschäftigen. Mehrere Kapitel in den Teilen III. und V. werden weitere Aspekte dieses Themas aufgreifen. Das zweite Kapitel führt uns in das 18. Jahrhundert und zeigt am Beispiel der 1790er Jahre das latente Spannungsverhältnis zwischen britischer Verfassung und dem sich nach Nordamerika nun auch in Frankreich herausbildenden modernem Konstitutionalismus. Es untersucht dabei, wie angesichts dieser Herausforderung die britische Regierung in einer Weise reagiert, die den latenten, von James Burgh bereits zwanzig Jahre zuvor thematisierten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der englischen Verfassung1 erneut aufbrechen lässt. Am Beispiel der von der britischen Opposition lautstark bekämpften „Terrorherrschaft“ des Premierministers William Pitt in einem Jahrzehnt, in dem in den Vereinigten Staaten und in Frankreich der moderne Konstitutionalismus seinerseits mit Terror und Terrorabwehr umzugehen 1 Vgl. [James Burgh,] Political Disquisitions: or, An Enquiry into public Errors, Defects, and Abuses. Illustrated by, and established upon Facts and Remarks extracted from a Variety of Authors, ancient and modern. Calculated To draw the timely Attention of Government and People to a due Consideration of the Necessity, and the Means, of Reforming those Errors, Defects, and Abuses; of Restoring the Constitution, and Saving the State, 3 Bde., London: Dilly, 1774 – 75, I, 107, vgl. I, 26.

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II. England

hatte, beleuchtet es den britischen Umgang mit „Terror“ und seine Rückwirkungen auf die britische Verfassung. Kap. II. 3. führt uns in das 19. Jahrhundert, in dem das Land dem Höhepunkt seiner globalen Machtentfaltung zustrebt, wobei erkennbar wird, wie tief dieser Prozess in der allgemeinen Wahrnehmung mit dem eigenen Freiheitsideal und den Vorstellungen vom Modellcharakter der britischen Verfassung in Abwehr der Gedanken des modernen Konstitutionalismus verknüpft ist. Unterschwellig ist damit das Thema des Verfassungstransfers verbunden. Erstmals hatte Großbritannien bereits 1780 versucht, seine Verfassungsüberzeugungen einer hierarchisch gegliederten Sozialordnung dem entstehenden modernen Konstitutionalismus mit seinem Gleichheitsanspruch entgegenzustellen.2 Weitere Versuche folgten während der Französischen Revolution und in der napoleonischen Ära. Bis zur Jahrhundertmitte wird dieser Gedanke mit wechselnden Methoden und Formen der Intervention die britische Außenpolitik bestimmen. Nach den Stadien des Ideengebers (17. Jahrhundert), des Verteidigers (18. Jahrhundert) und des selbstbewussten Verfechters des Gegenmodells zum modernen Konstitutionalismus (19. Jahrhundert) begeben wir uns mit Kap. II. 4. in das 20. Jahrhundert, in dem das Land nicht nur den weltweiten Siegeszug des modernen Konstitutionalismus verkraften muss, sondern in dem auch sein unverrücktes Festhalten an Erbe und Tradition und den eigenen jahrhundertalten Verfassungsvorstellungen – es hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Innern nicht an lautstark vorgetragen Forderungen gefehlt, das Land solle sich endlich eine Verfassung nach den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus geben3 – letztlich dem mutigen und entschlossenen Schritt in die Zukunft mit ihren neuen Herausforderungen und Möglichkeiten hindernd im Wege steht. Die Art und Weise wie sich das Land, mehr reagierend statt aktiv gestaltend durch den Dekolonisierungsprozess manövriert – es ließen sich auch aktuellere Beispiele denken –, lässt erkennen, bis zu welchem Grad diese britische Verfassung ungeachtet ihres so gern gerühmten Charakters einer „flexiblen“ Verfassung4 zu einem Hemmschuh auf dem Weg in die Zukunft geworden ist. Diese Divergenzen zwischen britischer Verfassung und modernem Konstitutionalismus werden uns auch im weiteren Verlauf dieses Bandes immer wieder beschäftigen, wobei auf die anhaltende amerikanische Diskussion um die britische 2

Abgedruckt in Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 9 – 11. 3 Vgl. etwa Royal Commission on the Constitution 1969 – 1973, Cmnd. 5460, 5460-I, 2 Bde., London: Her Majesty’s Stationary Office, 1973; Quintin Hogg, New Charter. Some Proposals for Constitutional Reform, London: Conservative Political Centre, 1969; O. Hood Phillips, Reform of the Constitution, London: Chatto & Windus, 1970; P. Elias, „The British Constitution: Time for Reform?“, in: The Cambridge-Tilburg Law Lectures, Fourth Series 1981, hrg. v. B. S. Markesinis u. J. H. M. Willems, Deventer: Kluwer, 1983. 4 Vgl. James Bryce, „Flexible and Rigid Constitutions“, in: ders., Constitutions, New York – London: Oxford University Press, 1905 (Ndr. Aalen: Scientia, 1980), 3 – 94.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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Verfassung in den Jahren 1763 – 1776 (Kap. III. 1.) ebenso verwiesen werden soll wie auf die vergleichenden Betrachtungen in den Kap. V. 1., V. 2. und V. 6. Zusätzlich unterstreicht das Kap. III. 2. über „William Blackstone und die Ursprünge des modernen Konstitutionalismus“ ein weiteres Mal die herausgehobene Rolle, die England für die Herausbildungen des modernen Konstitutionalismus zukommt.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus und seine Auswirkungen auf Europa5 Bekanntlich war John Adams, der ein halbes Jahrhundert lang für die amerikanische Republik eingetreten war, noch 1807 der Überzeugung, dass „Republikanismus“ das unverständlichste Wort der englischen Sprache sei.6 In der Tat scheint es heute, zumal nach zwei Jahrzehnten lebhaftester amerikanischer Diskussion zu Ende des 20. Jahrhunderts über einen amerikanischen Republikanismus,7 wenn schon nicht einfacher, so doch selbstverständlicher von dem französischen statt eines amerikanischen Republikanismus – von dem englischen ganz zu schweigen – zu sprechen.8 In seinem vielbeachteten Werk über die atlantische republikanische Tradition stellte J. G. A. Pocock Mitte der siebziger Jahre auf dem Höhepunkt einer revisionistischen Interpretationslinie die These auf, dass in England um die Mitte des 17. Jahrhunderts und dann letztmalig in Amerika im ausgehenden 18. Jahrhundert der Republikbegriff der florentinischen Renaissance, und dabei speziell jener Machiavellis, aufgegriffen wurde und es aus dem immanenten Gegensatz von „Tugend“ und „Handel“ schließlich zu einer Amerikanisierung des republikanischen Begriffs der dem Gemeinwesen verpflichteten Bürgertugend kam, die immer aufs Neue re-

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Überarbeitete Version des zuerst erschienenen Beitrags in: Republikbegriff und Republiken seit dem 18. Jahrhundert im europäischen Vergleich. Internationales Symposium zum österreichischen Millenium, hrg. v. Helmut Reinalter (Schriften der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770 – 1850“, Bd. 28), Frankfurt/ Main usw.: Lang, 1999, 27 – 44. 6 Vgl. David Wootton, „The Republican Tradition: From Commonwealth to Common Sense“, in: Republicanism, Liberty, and Commercial Society, 1649 – 1776, hrg. v. dems., Stanfort, Calif.: Stanfort University Press, 1994, 1. 7 Im einzelnen dazu den brillanten Aufsatz von Daniel T. Rodgers, „Republicanism: the Career of a Concept“, in: Journal of American History, 79 (1992/93), 11 – 38. 8 Bezeichnenderweise taucht daher in älteren Werken zum politischen System und zur Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten der Begriff „Republikanismus“ überhaupt nicht auf. Vgl. Charles E. Martin, An Introduction to the Study of the American Constitution. A Study of the Formation and Development of the American Constitutional System and of the Ideals Upon Which It is Based With Illustrative Materials, New York: Oxford University Press, 21926 u. a.

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II. England

klamiert wird, um der amerikanischen Republik Sinn und Dauer zu geben und sie gegen Korrumpierung und Verfall zu wappnen.9 Blickt man über diesen anglo-amerikanischen Raum hinaus, wird man Pocock entgegenhalten müssen, dass sich die von ihm unterstellte Dialektik von „Tugend“ und „Handel“ zwar in dem von ihm nicht behandelten französischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts in vielfacher Weise belegen lässt – man denke nur an die das 18. Jahrhundert bis in die Revolution hinein durchziehende Diskussion um die Standeswidrigkeit (dérogeance)10 –, sie im englischen Diskurs des 17. wie dem amerikanischen des späten 18. Jahrhunderts hingegen lediglich eine von mehreren Diskursebenen darstellt. Auch hält die von ihm unterstellte Gleichsetzung von „Interesse“ und „Faktion“ bei Madison11 einer sorgfältigen Lektüre des Federalist Nr. 10 nicht stand. Denn neben „Männer [mit] eine[m] parteiischen Charakter“, die die Interessen des Volkes verrieten, standen nach Madison jene Bürger, die dank ihrer Weisheit, ihres Patriotismus und ihrer Liebe zur Gerechtigkeit diese erkannten und bewahrten, statt sie vorübergehenden und voreingenommenen Erwägungen zu opfern.12 Doch selbst die inzwischen vielfach erfolgte Zurückweisung der These, es sei in der amerikanischen Revolution mehr um die Durchsetzung von Tugend – ob nun machiavellistischer Provenienz oder der der schottischen Moralphilosophen – als der Sicherung von Rechten und Freiheiten gegangen,13 geht uneingestandenerweise von dem mythologisierten, doch letztlich ahistorischen Konstrukt der amerikanischen Gründungsväter aus als der vermeintlichen Inkarnation einer real gewordenen politischen Ordnung, die sich im populären Bewusstsein in Amerika in dem regelmäßig 9

J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1975. Historiographisch markiert das Werk von Pocock den Höhepunkt einer Interpretationslinie der geistigen Wurzeln der amerikanischen Revolution, als deren entscheidende Vorläufer die Arbeiten von Caroline Robbins (The Eighteenth-Century Commonwealthman. Studies in the Transmission, Development and Circumstance of English Liberal Thought from the Restoration of Charles II until the War with the Thirteen Colonies, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1959), Bernard Bailyn (The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1967) und Gordon S. Wood (The Creation of the American Republic, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1969) gelten. 10 Noch in der Diskussion um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 spielte die „dérogeance“ eine Rolle, vgl. die Entwürfe von Mounier u. a., in: Les Déclarations des droits de l’homme de 1789, hrg. v. Christine Fauré, Paris: Payot, 1988, 113 u. ö. 11 Pocock, Machiavellian Moment, 522. 12 The Federalist, No. 10, in: Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, The Federalist, hrg. v. Jacob E. Cooke, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press, 1961, 62; Die Federalist-Artikel, hrg., übers., eingel. u. komm. v. Angela u. Willi Paul Adams, Paderborn usw.: Schöningh, 1994, 55. 13 Zentral dazu – auch bezüglich der relevanten Literatur – Rodgers, „Republicanism“, bes. 19 – 34, und Scott D. Gerber, „Whatever Happened to the Declaration of Independence? A Commentary on the Republican Revisionism in the Political Thought of the American Revolution“, in: Polity, 26 (1993/94), bes. 209 – 214.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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öffentlich eingeforderten Rekurs auf die traditionellen moralischen Werte des Landes niederschlägt, obgleich dieser im Laufe von über zweihundert Jahren mehr und mehr zu einer rückwärtsgewandten parteipolitischen Programmatik abgesunken ist.14 Im Grunde geht es nicht um die Frage, ob Machiavelli oder Locke größeren Einfluss auf die in der amerikanischen Revolution Handelnden ausübte, und es erscheint auch nicht von zentraler Bedeutung, ob, wie eingewandt worden ist, die einseitige Betonung der Bedeutung Machiavellis auf unzureichender Quellenkenntnis beruht.15 Selbst der Rekurs auf die „ersten Prinzipien“ des Landes, so hilfreich dieser für viele Fragestellungen sein mag, führt hier nicht weiter, da er verdeckt, dass über die „Form der Regierung“ derart tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten vorherrschten, die das, was man als Konsens über die „ersten Prinzipien“ ansehen könnte, selbst in Frage zu stellen in der Lage waren und die dazu führten, dass es in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten keinen allseits akzeptierten Republikbegriff gab, nach dessen Wurzeln lediglich zu fragen bliebe.16 Die Republikanismusdiskussion der zurückliegenden Jahrzehnte mit ihren vorwiegend soziologischen und soziokulturellen Fragestellungen hat daher kaum noch auf dieses Theorem zurückgegriffen.17 Grundlegender dürfte sein, dass es Beard zum Trotz18 bis heute keine wirkliche Auseinandersetzung über die politischen Inhalte des amerikanischen Republikanismus und über die Interessenlage gibt, die zum Zustandekommen der Bundesverfassung von 1787 führte, obwohl sich diese im Konflikt mit den allerdings sehr heterogenen Interessen vermutlich einer Mehrheit der Bevölkerung befanden.19 Mir scheint es daher erforderlich, den Blick auf den politisch-verfassungsrechtlichen 14

Vgl. etwa John Patrick Diggins, The Lost Soul of American Politics: Virtue, Self-Interest, and the Foundations of Liberalism, Chicago: University of Chicago Press, 1984. 15 So etwa Thomas L. Pangle, The Spirit of Modern Republicanism. The Moral Vision of the American Founders and the Philosophy of Locke, Chicago: University of Chicago Press, 1988, 28 – 39 u. passim. 16 Zu dem Rückgriff auf die „ersten Prinzipien“ generell Gerald Stourzh, Alexander Hamilton and the Idea of Republican Government, Stanford, Calif.: Stanford University Press, 1970, 9 – 37. 17 Vgl. etwa Isaac Kramnick, „Republican Revisionism Revisited“, in: American Historical Review, 87 (1982), 629 – 664; Robert E. Shalhope, „Republicanism, Liberalism, and Democracy: Political Culture in the Early Republic“, u. Peter S. Onuf u. Cathy Matson, „Republicanism and Federalism in the Constitutional Debate“, beide in: The Republican Synthesis Revisited. Essays in Honor of George Athan Billias, hrg. v. Milton M. Klein u. a., Worcester, Mass.: American Antiquarian Society, 1992, 37 – 90, 119 – 141. 18 Vgl. sein klassisches, doch bis heute in der amerikanischen Geschichtsschreibung umstrittenes Werk An Economic Interpretation of the Constitution of the United States, New York: Macmillan, 1913. 19 Vgl. dazu u. a. Herbert J. Storing, „What the Anti-Federalist Were For“, in: The Complete Anti-Federalist, hrg. v. dems., 7 Bde., Chicago: University of Chicago Press, 1981, I, 1 – 76; Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787 – 1791, Berlin: de Gruyter, 1988, 575 – 620.

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II. England

Diskurs zu lenken – was auch von den namhaftesten amerikanischen Kritikern Pococks nicht geleistet wird, die diesen Republikanismus heute als Facette des dominierenden amerikanischen Liberalismus interpretieren.20 Allein eine politischverfassungsrechtliche Betrachtung erscheint angesichts des Verlaufs der inneramerikanischen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen seit Ende der sechziger Jahre in der Lage, die Bruchstellen bzw. Konfliktlinien aufzudecken, statt sie mit Metaphern wie „Lokalismus“ gegen „Kosmopolitismus“ zu verwischen und in der Mythologisierung der Gründungsväter der mit dem Republikbegriff verwobenen Grundfrage nach der Legitimation von Herrschaft auszuweichen.21 Jeder, der sich mit dem amerikanischen ausgehenden 18. Jahrhundert beschäftigt, von der Rechteerklärung von Virginia über die Verfassung von Pennsylvania von 1776 und die fundamentalen politischen Kontroversen der späten siebziger und achtziger Jahre um sie, die gescheiterte Verfassung von Massachusetts von 1778 und die schließlich angenommene von 1780 bis hin zur Bundesverfassung von 1787 und die politischen Auseinandersetzungen um sie in den folgenden Monaten, erlebt den Widerstreit unterschiedlicher Konzeptionen von Republik, ohne dass dieser Diskurs mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung beendet war.22 Er fand seine Fortsetzung in dem Gegensatz zwischen Alexander Hamilton und Thomas Jefferson in der ersten Hälfte der neunziger Jahre um die Grundausrichtung der jungen Republik und wenige Jahre später in der Kontroverse um die Fremden- und Aufwiegelungsgesetze bzw. die Resolutionen von Kentucky und Virginia und versiegte auf nationaler Ebene praktisch erst, nachdem sich die politische Empörung der Anhänger Jeffersons über John Marshalls Verfassungsinterpretation im Fall Marbury v. Madison von 1803 gelegt hatte.23 Doch in etlichen Einzelstaaten schwelte der Konflikt weiter, und als 20 So etwa John Zvesper, „The American Founders and Classical Political Thought“, in: History of Political Thought, 10 (1989), 701 – 718; Isaac Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. Political Ideology in Late Eighteenth-Century England and America, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1990; Joyce Appleby, Liberalism and Republicanism in the Historical Imagination, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992. 21 Angesichts dieser Feststellung erscheint die Behauptung, „dass die Amerikaner, die sich dazu äußerten, zu Beginn der Revolution liberale Republikaner waren und liberale Republikaner blieben bis zu dem Zeitpunkt, den ich mich scheuen würde zu benennen, vielleicht weil dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen ist“ (Lance Banning, „The Republican Interpretation: Retrospect and Prospect“, in: The Republican Thesis Revisited, hrg. v. Klein, 100), als reine Geschichtsklitterung im Dienste der nationalen Mythologie. 22 So stellt Terence Ball fest, „die Auseinandersetzung über die Bedeutung von ,Republik‘ erreichte zentrales Gewicht während der Debatte über die Ratifizierung von Verfassung“ (Terence Ball, „,A Republic – If You Can Keep It‘“, in: Conceptual Change and the Constitution, hrg. v. dems. u. J. G. A. Pocock, Lawrence, Ks.: University of Kansas Press, 1988, 137). 23 Generell liegt diese Feststellung auch dem Ansatz der Princetoner Dissertation von Leslie Wharton, Polity and the Public Good. Conflicting Theories of Republican Government in the New Nation, Ann Arbor, Mich.: UMI Research Press, 1980, zugrunde. Allerdings beschränkt sie sich in der Darstellung ganz auf die Analyse der Republikvorstellungen von John Taylor, John Adams und Alexander Hamilton in ihren jeweiligen regionalen und ökonomischen Einbindungen. Auf das unterschiedliche Republikverständnis in den Jahren der Diskussion um die Bundesverfasssung hat hingewiesen Heideking, Verfassung vor dem Richterstuhl, 259 – 354.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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1824 der Oberste Gerichtshof von Vermont erstmals ein Gesetz dieses Staates für verfassungswidrig erklärte und aufhob, veranlasste dies seinen vormaligen langjährigen Vorsitzenden zu ausgedehnten Betrachtungen über die Souveränität des Volkes und die Rolle seiner gewählten Vertretung mit der Feststellung, dass zu seiner Zeit ein derartiges Gerichtsurteil als „antirepublikanisch“ gegolten hätte.24 Wenn es mithin in den jungen Staaten unterschiedliche politisch-verfassungsrechtliche Vorstellungen darüber gab, was unter „Republik“ zu verstehen sei, erscheint es nicht nur notwendig, diese verschiedenartigen Konzepte aufzuzeigen, sondern auch danach zu fragen, warum sich schließlich eines davon durchsetzte und damit geschichtsmächtig wurde. Dass die Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert in Amerika derart kontrovers verlief, lag nicht zuletzt an der Vielfalt und den Widersprüchlichkeiten des historischen Erbes, auf das man zurückgreifen konnte und das sich keineswegs auf den „klassischen Republikanismus“ beschränkte. Die hoch gebildeten Führer der amerikanischen Revolution kannten zwar Machiavelli und insbesondere James Harrington, der einige seiner Gedanken aufgegriffen hatte,25 aber auch die Schriften von Platon, Aristoteles und Polybios und die historischen Beispiele von Sparta, Rom und Venedig. Liberales Gedankengut verband sich mit einem vielschichtigen Tugendbegriff, in den Vorstellungen aus der Antike und der Renaissance ebenso einflossen wie die Idealisierungen des tugendhaften Landlebens, die in Amerika von Crèvecœur, Jefferson und insbesondere von John Taylor of Caroline vertreten wurden und für die in der Regel Bolingbroke und andere englische Autoren prägender als Rousseau waren.26 Von wesentlichem Einfluss war ferner, und darauf ist zurecht hingewiesen worden, das puritanische Erbe und generell der religiös begründete Tugendbegriff.27 Nimmt man alle diese so heterogenen Stränge zusammen, wird, 24

Daniel Chipman, Reports of Cases Argued and Determined in the Supreme Court of the State of Vermont, 2 Bde., Middlebury, Vt.: Chipman, 1824 – 35, I, 22 – 26. Vgl. dazu ausführlicher Horst Dippel, „Die Sicherung der Freiheit. Limited Government versus Volkssouveränität in den frühen USA“, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hrg. v. Günter Birtsch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, 156. 25 Gegen eine allzu enge Vereinnahmung Harringtons für den „klassischen Republikanismus“ Machiavellis durch Pocock u. a., vgl. die überzeugende Argumentation von Wilfried Nippel, „,Klassischer Republikanismus‘ in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells“, in: Xenia. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen, hrg. v. Wolfgang Schuller, H. 15: Antike in der Moderne, Konstanz: Universitätsverlag,1985, 211 – 224. 26 Grundlegend dazu die Untersuchung von Robert E. Shalhope, John Taylor of Caroline: Pastoral Republican, Columbia, S.C.: University of South Carolina Press, 1980. 27 Vgl. dazu insbesondere Charles S. Hyneman, The American Founding Experience. Political Community and Republican Government, hrg. v. Charles E. Gilbert, Urbana, Ill.: University of Illinois Press, 1994, 210 – 245. Sehr ähnlich und in deutlicher Abgrenzung zum Pocockschen Tugendbegriff der Renaissance: Jack P. Greene, „The Concept of Virtue in Late Colonial British America“, in: Virtue, Corruption, and Self-Interest. Political Values in the Eighteenth Century, hrg. v. Richard K. Matthews, Bethlehem, Pa.: Lehigh University Press, 1994, 27 – 54.

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II. England

nicht zuletzt angesichts der eigenen ethnischen wie kulturellen Wurzeln, die zentrale Bedeutung des englischen 17. Jahrhunderts für die amerikanischen Republikanismustheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts erkennbar.28 Mit seiner Abfolge von Revolution, Republik, Restauration und erneuter Revolution waren Verfassung, Legitimation von Herrschaft, das Problem der Souveränität, Rolle und Mitwirkung des Volkes, die Rechte und Freiheiten des Bürgers, die Korruption der Macht und das Verhältnis von Kirche und Staat zu zentralen Themen des politischen Diskurses geworden.29 Drei wesentliche politische Grundströmungen hatten sich dabei ungeachtet mancher fließender Übergänge und Überlappungen, aber auch teilweise erheblicher innerer Divergenzen im Laufe dieses historischen Prozesses in England herausgebildet: 1) das Prinzip der „gemischten Monarchie“ oder präziser das der gemischten Verfassung, 2) die Autorität des Parlaments und 3) der radikale Republikanismus. Auch wenn die ersten beiden Kategorien für den englischen Republikanismus nur von nachrangiger Bedeutung waren, verdienen sie, hier behandelt zu werden, da sie in mannigfacher Weise auf die amerikanischen Republikanismusvorstellungen eingewirkt haben. 1) Die Geschichte des in der Praxis bis auf Sparta und in der Theorie auf Platon und Aristoteles zurückreichenden politischen Theorems der Mischverfassung ist dank der vorzüglichen Untersuchung von Wilfried Nippel hinreichend bekannt.30 In den politischen Diskurs in England im 17. Jahrhundert wurde es als Ausdruck politischer Kompromissbereitschaft am 18. Juni 1642 von Karl I. in seiner Antwort auf die „Neunzehn Propositionen“ des Parlaments eingebracht: „Da es drei Arten von Regierungen unter den Menschen gibt, absolute Monarchie, Aristokratie und Demokratie, und alle von ihnen ihre besonderen Zweckmäßigkeiten und Unannehmlichkeiten haben, haben die Erfahrung und Weisheit eurer Vorfahren diese so aus einer Mischung von ihnen geformt, um diesem Königreich (soweit menschliche Klugheit dies zu erreichen vermag) die Zweckmäßigkeiten von allen drei zu geben, ohne die Unannehmlichkeiten von einer, solange die drei Stände sich im Gleichgewicht befinden.“31

Ohne auf das durchaus problematische Verhältnis dieser Feststellung zur Regierungspraxis Karls I. seit 1625 wie überhaupt zur englischen Geschichte näher einzugehen, ist sie aufgrund der in ihr enthaltenen zentralen Aussagen verfassungsrechtlich höchst bemerkenswert. Sie geht von dem Sechs-Stadien-Modell der antiken Verfassungslehre aus, nach der jede reine Verfassung die Gefahr der Degeneration in das ihr entsprechende Negativmodell beinhaltet. Gegen diese natürliche Tendenz der Korrumpierung der Macht biete eine Mischverfassung den relativ 28 Vgl. dazu auch Alan Craig Houston, Algernon Sidney and the Republican Heritage in England and America, Princeton: Princeton University Press, 1991. 29 Vgl. dazu u. a. Republicanism, Liberty, and Commercial Society, hrg. v. Wootton. 30 Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart: Klett-Cotta, 1980. 31 The Stuart Constitution, 1603 – 1688. Documents and Commentary, hrg. v. J. P. Kenyon, Cambridge: Cambridge University Press, 21986, 18.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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besten Schutz, vorausgesetzt, dass sich die drei Komponenten in einem Gleichgewicht befinden und dieses durch das soziale Gefüge des Landes wie durch die entsprechenden Verfassungsmechanismen erhalten bleibe. Diese Mischverfassung, die dem König den Thron, der Aristokratie die politische Mitwirkung und dem Bürger die Freiheit und die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung sichere, erfordere ein politisches Gleichgewicht zwischen Monarchie, Oberhaus und Unterhaus, um sich selbst zu erhalten und dem Land Frieden und Wohlstand zu bewahren. Diesem gemischten und ausbalancierten Charakter verdanke die englische Verfassung im 18. Jahrhundert und darüber hinaus – als die Verfassungsrealität in Großbritannien längst eine andere war – ihr hohes Ansehen und die ihr vielfach zugeschriebene Vorbildfunktion für ein freies und prosperierendes Staatswesen. Eine verfassungsrechtliche Präzisierung erfuhr die Theorie der „gemischten Monarchie“ in der Glorreichen Revolution durch den durchaus älteren Begriff der „begrenzten Monarchie“, der theoretisch bei dem Gedanken der ausbalancierten Verfassung blieb, in der Deutung der Ereignisse von 1688/89 allerdings den politischen Vorsatz der Begrenzung der königlichen Macht herausstrich, der letztlich zwangsläufig das Konzept der Balance korrumpieren musste, ein Aspekt, auf den die Amerikaner während ihrer Revolution nicht müde wurden hinzuweisen. Alle diese Vorstellungen der gemischten Verfassung, des Gleichgewichts und der begrenzten Regierung sollten für eine spezifische Form des amerikanischen Republikanismus im ausgehenden 18. Jahrhundert von zentraler Bedeutung werden. 2) Historisch war das Prinzip der Parlamentsherrschaft in der englischen Revolution eher als Gegenkonzept zur Königsherrschaft als zum Gedanken der gemischten Verfassung entstanden und auf einem revolutionär anderen Verständnis der Legitimation politischer Macht begründet. Nicht der König sei das Residuum rechtmäßiger staatlicher Gewalt, sondern das Volk, das wiederum diese Gewalt nicht direkt ausüben könne, wozu allein das Parlament als sein Repräsentant befugt sei. Insbesondere Charles Herle und Henry Parker haben diese Position in den 1640er Jahren theoretisch entwickelt,32 die dann in modifizierter Form in das Instrument of Government von 1653 eingeflossen ist, in der das handelnde Volk auf „das im Parlament versammelte Volk“ reduziert war.33 Aus diesen Gedanken von Repräsentation und Souveränität war, wozu Parker die entscheidenden Anstöße geliefert hatte, das Konzept der Parlamentssouveränität entstanden,34 das 1688/89 unterschwellig so virulent war und seit dem 18. Jahrhundert die britische Verfassungs32

Vgl. Nippel, Mischverfassungstheorie, 253 – 254; F. D. Dow, Radicalism in the English Revolution 1640 – 1660, Oxford: Blackwell, 1985, 17 – 18. 33 Stuart Constitution, hrg. v. Kenyon, 308. 34 Vgl. neben den Schriften Parkers, darunter insbesondere seine Observations Upon Some of His Majesties Late Answers and Expresses von 1642 und Ius Populi 1644, auch seine Answer to the Poysonous Seditious Paper of M. David Jenkins von 1647 und dessen Antwort The Cordiall of Judge Jenkins for the good People of London, o. O. u. N., 1647, bes. 2. Zu Parkers Theorie der Parlamentssouveränität zuletzt Michael Mendle, Henry Parker and the English Civil War. The Political Thought of the Public’s „Privado“, Cambridge: Cambridge University Press, 1995. Dort auch die einschlägige ältere Literatur.

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II. England

wirklichkeit zunehmend prägen und während der amerikanischen Revolution zum entscheidenden verfassungsrechtlichen Konfliktpunkt werden sollte.35 3) Der radikale Republikanismus war nicht bereit, diese ursprünglichen Rechte des Volkes an ein Parlament abzutreten. Neben anderen hatte John Milton dies 1649 unzweideutig zum Ausdruck gebracht: „[D]a der König oder Magistrat seine Autorität vom Volk erhält, sowohl ursprünglich als auch natürlich in erster Linie zu dessen Wohl und nicht zu seinem eigenen, mag das Volk, wann immer es ihm von Nutzen zu sein dünkt, ihn wählen oder zurückweisen, ihn beibehalten oder absetzen, selbst wenn er kein Tyrann ist, sondern allein aufgrund der Freiheit und dem Recht frei geborener Menschen so regiert zu werden, wie es ihnen am besten erscheint.“36

Das Volk verfüge mithin nicht nur über ein natürlich wie göttlich begründetes Widerstandsrecht, sondern sei als letztlicher Souverän frei, jederzeit über seine Regierung zu entscheiden. Für Milton gab es selbst im Angesicht der drohenden Restauration keinen Zweifel, dass allein eine Republik den Interessen und der Natur des Menschen entspreche: „[V]on allen Regierungen zielt eine Republik am meisten darauf ab, das Volk blühend, tugendhaft, edel und aufgeschlossen zu machen.“37 Doch wer das Volk sei, war auch unter den Republikanern umstritten, und viele waren nicht bereit, den Levellers in ihrer Forderung zu folgen, dass politische Mitwirkungsrechte nicht an Besitz gebunden sein sollten und auch dem ärmsten Engländer zuständen.38 Auch wenn die Position der Levellers in dieser Frage nicht einhellig war, wurde doch zumindest vereinzelt die Forderung nach dem allgemeinen Männerwahlrecht artikuliert.39 Ein anderer, sich aus der Eigentumsproblematik ableitender Gedanke ist vor allem mit dem Namen James Harrington verbunden, der dem Gleichheitsbegriff eine ökonomische Komponente gab, denn: „Da, wie man sieht, es hinreichend bewiesen ist, dass Herrschaft den Eigentumsverhältnissen folgt, dass die Art von Herrschaft oder Regierung (außer in kleinen Ländern) von der Verteilung von Land abhängt, und dass, wo diese Verteilung nicht festgelegt ist, die Regierungsverhältnisse schwankend sind: entspricht es der Vernunft, dass wir bei der Er35

Vgl. dazu unten Kap. III. 1. John Milton, The Tenure of Kings and Magistrates, in: Milton’s Prose Writings, hrg. v. K. M. Burton, London: Dent, 1958, 194. 37 Milton, The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth [1660], in: Milton’s Prose Writings, 242. Zur Einordnung der republikanischen Ideen in Miltons Auffassung von der „alten Verfassung“, vgl. Nicholas von Maltzahn, Milton’s History of Britain. Republican Historiography in the English Revolution, Oxford: Clarendon Press, 1991, bes. 198 – 223. Bzgl. Vorläufer derartiger Auffassungen in der englischen Literatur vgl. u. a. Markku Peltonen, „Classical Republicanism in Tudor England: The Case of Richard Beacon’s Solon His Follie“, in: History of Political Thought, 15 (1994), 469 – 503. 38 Vgl. dazu etwa die zentralen Ausführungen von Rainsborough in den Putney Debates von 1647, in: Divine Right and Democracy. An Anthology of Political Writing in Stuart England, hrg. v. David Wootton, Harmondsworth: Penguin Books, 1986, 286 u. ö. 39 Vgl. dazu u. a. Dow, Radicalism, 43 – 44. 36

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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richtung einer Republik mit der Festlegung einer gleichmäßigen Verteilung von Eigentum beginnen.“40

Anders als seine bis auf Platon zurückzuverfolgende Überzeugung, dass eine Republik „ein Reich der Gesetze und nicht der Menschen“ sein müsse,41 ist sein Eintreten für ein den Gracchen nachempfundenes Agrargesetz in der amerikanischen Revolution kaum beachtet worden, wohingegen die Jakobiner mit dem Dekret vom 18. März 1793 seine Propagierung mit der Todesstrafe bedrohten.42 Der radikale Republikanismus hatte die Volkssouveränität und die breite Mitwirkung des Volkes zum Ziel, wobei der Umfang der Gleichheit ebenso wie die Frage des allgemeinen Wahlrechts umstritten blieben. Tugend und Bürgerverantwortung sollten das Gemeinwesen prägen, wohingegen die spätere Montesquieusche Feststellung, dass eine Republik allein für kleine Staaten tauglich sei, offensichtlich noch keine Rolle spielte, so dass das Prinzip der Repräsentation zumal auf nationaler Ebene als akzeptiert angesehen werden konnte, während die Erblichkeit staatlicher Funktionen insbesondere nach der Auflösung des Oberhauses entschieden abgelehnt wurde. Diese Republik sollte durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnet sein, das dem Bürger Freiheit, Schutz und Wohlstand sicherte, auch wenn sich dieses noch zu keinem konkreten Menschenrechtskatalog verdichtete und selbst die englische Bill of Rights von 1689 in ihrem Kern mehr eine Beschneidung königlicher Rechtsansprüche und eine Bestätigung von Rechten des Parlaments war, während lediglich drei ihrer dreizehn Artikel direkte Rechtsgarantien für den Bürger beinhalteten.43 Wie sind nun angesichts dieses Erbes der englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, verbunden mit der Wirkung von Schriftstellern und Philosophen von Machiavelli über Locke bis zu Montesquieu und Hume sowie des modernen Naturrechts die in Amerika im ausgehenden 18. Jahrhundert zirkulierenden Republiktheorien einzuordnen, wo Paines Common Sense Anfang 1776 die erste donnernde Fanfare für die Republik hatte erschallen lassen?44 Ungeachtet vereinzelter Interferenzen lässt sich feststellen, dass sich die drei politischen Grundströmungen, 40 James Harrington, The Art of Lawgiving, Bk. III, London 1659, in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 664. 41 Harrington, The Commonwealth of Oceana, London 1656, in: Political Works, hrg. v. Pocock, 171. 42 Vgl. R. B. Rose, „The ,Red Scare‘ of the 1790s: The French Revolution and the ,Agrarian Law‘“, in: Past and Present, 103 (1984), bes. 127 – 129. 43 Hingegen lautete der offizielle Titel der Bill of Rights „Gesetz zur Erklärung der Rechte und Freiheiten der Untertanen und zur Regelung der Thronfolge“, zit. n. Documents in British History, hrg. v. Brian L. Blakeley u. Jacquelin Collins, 2 Bde., New York: McGraw-Hill, 21993, II, 2 – 4. 44 Vgl. aus der wachsenden Zahl von Paine-Biographien u. a. Gregory Claeys, Thomas Paine: Social and Political Thought, Boston: Unwin Hyman, 1989, bes. 45 – 51; Jack Fruchtman, Jr., Thomas Paine: Apostle of Freedom, New York: Four Walls Eight Windows, 1994, 59 – 79.

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die sich in der englischen Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts herausgebildet hatten, erneut, wenn auch in völlig andersartiger Gewichtung und teilweiser Uminterpretation wiederfinden, von denen zwei konstitutionellen Rang erlangten, wobei das Gedankengut der englischen Republikaner des 18. Jahrhunderts oder der „Real Whigs“, wie Caroline Robbins sie genannt hat, eine wesentliche Rolle spielte.45 1) Jene Strömung, die diesen Verfassungsrang nicht erreichte, war der Parlamentarismus, der aus Sicht der amerikanischen Revolutionäre der beispielhafte Ausdruck für die Degeneration des englischen politischen Systems war. Die Allmacht des britischen Parlaments, einst von Parker theoretisch konzipiert und zu Beginn der amerikanischen Revolution von William Blackstone juristisch untermauert, nahm jenseits des Atlantik den paradigmatischen Charakter jener tyrannischen Mehrheit an, den jede Verfassung zur Verhinderung ihrer eigenen Degeneration tunlichst zu vermeiden hatte. Jeder Gedanke an eine Republik auf der Basis einer Parlamentssouveränität schied daher von Anbeginn aus, da diese, losgelöst vom Volk, nicht in der Lage sei, seine Rechte und Freiheiten auf Dauer zu schützen. 2) Ganz anders stand es um den radikalen Republikanismus, wobei es für die amerikanische im Unterschied zur nachfolgenden Französischen Revolution ebenso wie für die schließlich geschichtsmächtig gewordene Form des amerikanischen Republikanismus bezeichnend ist, dass dieser nur eine räumlich wie zeitlich begrenzte Bedeutung in Amerika erlangen konnte. Die revolutionäre Elite schreckte vor diesem Gedankengut zurück, doch unter den Mittel- und unteren Mittelschichten fand es seine Anhänger, unter ihnen jene im Hudsontal, die für eine deutliche Ausweitung der politischen Partizipation und Repräsentation eintraten und daher gerne als Levellers bezeichnet wurden.46 Hier wie in der Stadt New York konnten sie in den siebziger und achtziger Jahren jedoch lediglich ephemere politische Erfolge erzielen. Umso herausragender war der Sieg der radikalen Republikaner in Pennsylvania, wo es ihnen 1776 gelang, die revolutionäre Elite zu entmachten und eine radikaldemokratische Verfassung durchzusetzen,47 die fest auf der Basis der Volkssouveränität verankert war und dem Volk weitestgehende, direkte politische Mitwirkungsrechte zusicherte bei einem Wahlrecht, das auf alle männlichen Steuerzahler und ihre erwachsenen Söhne ausgedehnt war und damit weiter als in allen anderen amerikanischen Staaten ging. In dem der Verfassung von Pennsylvania von 1776 zugrundeliegenden Republikbegriff finden sich nahezu alle Inhalte des radikalen Republikanismus vereinigt – allerdings ohne jenen der Gleichheit des Besitzes – einschließlich eines Menschenrechtskatalogs und der Vorstellung, dass bei einem 45 Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthman, Ndr. New York: Atheneum, 1968, bes. 378 – 386. 46 Vgl. Edward Countryman, A People in Revolution. The American Revolution and Political Society in New York, 1760 – 1790, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1981, 36 – 71, 252 – 279. 47 Vgl. Gary B. Nash, „Artisans and Politics in Eighteenth-Century Philadelphia“, in: The Origins of Anglo-American Radicalism, hrg. v. Margaret u. James Jacob, London: Allen & Unwin, 1984, 162 – 182.

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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Konflikt zwischen Verfassung und Souverän, das souveräne Volk das letzte Wort habe. Jene von Chipman 1824 getroffene Feststellung, dass die Annullierung eines von den Vertretern des souveränen Volkes beschlossenen Gesetzes – zumal angesichts dessen direkter Mitwirkung am Gesetzgebungsprozess – durch das Oberste Gericht allein aufgrund seiner Verfassungsinterpretation ein dem Geist der Republik zutiefst widersprechender Vorgang sei, kennzeichnete in gleichem Maße die Verfassung von Pennsylvania von 1776. Dieser Republikbegriff eines bürgerlichen Radikalismus, der die Problematik von Eigentum und Gleichheit ausklammerte, mochte zwar in dem einen oder anderen amerikanischen Einzelstaat vorübergehend virulent sein, auf nationaler Ebene blieb er angesichts der fortdauernden Dominanz der revolutionären Elite im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ohne politische Realisierungschance. 3) Unter dem Einfluss dieser revolutionären Elite setzte sich schließlich, wenn auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen, jene spezifisch amerikanische Republikanismustheorie durch, die auf dem Grundsatz der gemischten Verfassung beruhte. Benjamin Rush war einer von ihnen, der seit ihrem Inkrafttreten nicht müde wurde, der „schändlichen Verfassung“ seines Heimatstaates Pennsylvania, die eine „Pöbelregierung“ eingeführt habe, jenes Fehlen der Balance einer Mischverfassung immer wieder als entscheidenden Fehler vorzuhalten. Diese Verfassung sei „viel zu sehr auf der demokratischen Seite, denn Freiheit neigt ebenso dazu, zur Zuchtlosigkeit zu degenerieren wie Macht, willkürlich zu werden. Beschränkungen sind daher im ersteren Fall ebenso erforderlich wie im letzteren. Hätten Gouverneur und Rat in der neuen Verfassung von Pennsylvania ein Veto gegenüber den Beschlüssen der Legislative gehabt, hätte die Regierung daraus Sicherheit, Weisheit und Würde gewinnen können.“48

Rush wusste sich in Übereinstimmung mit John Adams, dass „[d]ie Vervollkommnung der Regierung darin besteht, Schranken gegen tyrannische Herrscher auf der einen Seite und die Zuchtlosigkeit des Volkes auf der anderen einzurichten“.49 Rush verstand sich in diesem Konflikt, wie in der Folge seines Lebens, bezeichnenderweise als „Republikaner“, doch seine knappe Charakterisierung von Republik als „[r]epräsentative und gewählte Regierung“, eine Formel, die stark an Madisons Beschreibung im Federalist erinnert, reicht als Definition des amerikanischen Republikanismus nicht aus.50 Denn dieser ist nicht zu verstehen ohne seine kategorische Ablehnung einer reinen Demokratie und damit der stets ungehinderten Durchsetzung

48 An Anthony Wayne, 24. 9. 1776, 19.5., 18. 6. 1777, in: The Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Lyman H. Butterfield, 2 Bde., Princeton: Princeton University Press, 1951, I, 115, 148, 150. 49 An John Adams, 12. 10. 1777, ebd., 240. 50 An Thomas Jefferson, 6. 10. 1800, ebd., II, 827; vgl. The Federalist, Nr. 10, 39 (Ausg. v. Cooke, 62, 250 – 251). Ausführlich zu dem Gegensatz zwischen „Verfassungsanhängern“ und „Republikaner“ in Pennsylvania in der zweiten Hälfte der siebziger und in den achtziger Jahren, Douglas M. Arnold, A Republican Revolution. Ideology and Politics in Pennsylvania, 1776 – 1790, New York: Garland, 1989, 58 – 99.

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des Willens des souveränen Volkes durch Mehrheitsvoten der Legislative, wie sie der radikale Republikanismus vorsah.51 Der Rekurs auf die Mischverfassung erschien der amerikanischen revolutionären Elite getreu eines Aristoteles und Polybios als einziger Garant gegen die Korrumpierung der Macht,52 da in ihr „die verschiedenen Theile […] einander das Gegengewicht halten und […] ihre Wirkung und Gegenwirkung die Freyheit der Verfassung hervorbringt, die nichts anderes ist, als ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gewalten, welche die Regierung des Staats bilden“. So lauteten die wohlbekannten Worte, mit denen de Lolme die Vorzüge der englischen Verfassung gerühmt hatte.53 Der bedeutendste Interpret der amerikanisierten Version des Prinzips der gemischten Verfassung, John Adams, nahm diesen Gedanken auf, führte ihn aber, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Montesquieuschen Gewaltentrennungslehre in einer Weise weiter, die über die antiken Theoretiker ebenso wie über de Lolmes Englandpanegyrik hinauswies. „[E]s kann keine Herrschaft der Gesetze geben ohne Gleichgewicht, und […] es kann kein Gleichgewicht ohne drei Institutionen (orders) geben; und […] selbst diese drei Institutionen können nie im Gleichgewicht sein, solange nicht jede von ihnen in ihrem Bereich unabhängig und absolut ist.“54

Doch wie konnte diese gemischte Verfassung mit ihren drei Elementen auf die amerikanische Situation übertragen werden, in der es weder Monarchie noch Aristokratie gab und die Demokratie als Staatsform von der Elite verworfen wurde? Die in Amerika entwickelte und von Adams theoretisierte Lösung hob getreu dem Gleichheitsanspruch der Revolution die soziale Fundierung von Verfassung auf und ersetzte diese allein durch Institutionen, deren Vorläufer einst die soziale Hierarchie zum Ausdruck gebracht hatten. „In Amerika bestehen unterschiedliche Institutionen als Ämter, nicht als Menschen; außerhalb der Ämter sind alle Menschen von derselben Art, von einem Blut.“55 51 Zu dieser Kontroverse auch Russell L. Hanson, „,Commons‘ and ,Commonwealth‘ at the American Founding: Democratic Republicanism as the New American Hybrid“, in: Conceptual Change and the Constitution, hrg. v. Ball u. Pocock, 165 – 193. 52 Vgl. Mortimer N. S. Sellers, American Republicanism. Roman Ideology in the United States Constitution, New York: New York University Press, 1994, 46 – 49 u. ö. Vgl. dazu auch unten Kap. V. 3. 53 Jean Louis de Lolme, Die Verfassung von England, dargestellt und mit der republicanischen Form und mit andern europäischen Monarchien verglichen, N. d. Ausg. letzter Hand ins Dt. übers., m. e. Vorr. v. Friedrich Christoph Dahlmann, Altona: Hammerich, 1819, 188 – 189. Das Werk war 1771 erstmals in französischer Sprache in Amsterdam erschienen. Die Ausgabe letzter Hand datiert von 1784. 54 John Adams, A Defense of the Constitutions of Government of the United States of America against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated 22nd March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: Budd and Bartram, 31797 (Ndr. Aalen: Scientia, 1979), I, 224 (die 1. Aufl. war 1787 – 88 in London erschienen). 55 Adams, Defense of the Constitutions, I, 93 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch Wood, Creation of the American Republic, bes. 197 – 206; Lance Banning, „Republican

1. Die englischen Wurzeln des amerikanischen Republikanismus

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Mit dieser Begründung ließ sich nicht nur der traditionelle Gedanke der Mischverfassung als Reflex einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur auf das Amerika der Revolution übertragen, ohne dessen Gleichheitspostulat zu verletzen, sondern es ließ sich auch eine Republik errichten, ohne dabei das von der revolutionären Elite so verabscheute Gedankengut des radikalen Republikanismus übernehmen zu müssen.56 Diese Entscheidung für die amerikanische Version der „gemischten Regierung“ brachte eine Fülle von Konsequenzen mit sich, die für den amerikanischen Republikanismus konstitutiv wurden. Die Zweiteilung und die Begrenzung der Macht der Legislative als des „volkstümlichen Zweigs der Regierung“ erlaubte es, die Volkssouveränität als das der Verfassung zugrundeliegende Prinzip anzuerkennen, aber dennoch zugleich zu verhindern, dass diese Volkssouveränität zum operativen Staatsprinzip wurde, das sich in einer ungehinderten Mehrheitsherrschaft hätte äußern können.57 An seine Stelle trat vielmehr die Sakrosanz der Verfassung, die sich in den Beratungen des Bundeskonvents bereits herauskristallisiert hatte und zu der Bestimmung des Artikel VI der Verfassung geführt hatte, dass „[d]iese Verfassung […] das oberste Gesetz des Landes sein soll“, an das alle Richter gebunden seien. Entgegen der Mehrheit des Bundeskonvents hatte Hamilton aus diesem Geist der „begrenzten Verfassung“, die dem Souverän Schranken auferlege, im Federalist gefolgert, dass es dann auch die Pflicht der Gerichtshöfe sein müsse, „alle Gesetze, die gegen den manifesten Sinn der Verfassung verstoßen, für nichtig zu erklären“.58 In der Schärfe der juristischen Logik John Marshalls war Hamiltons eigenmächtige Verfassungsauslegung zwingend: „Die Verfassung ist entweder ein überlegenes höchstes Gesetz, unveränderbar durch gewöhnliche Mittel, oder sie befindet sich auf dem Rang gewöhnlicher gesetzgeberischer Akte und ist wie andere Gesetze veränderbar, wenn es dem Gesetzgeber beliebt, sie zu ändern. Wenn die erstere Alternative wahr ist, dann ist ein legislatives Gesetz gegen die Verfassung nicht Recht; wenn letzteres wahr ist, dann sind geschriebene Verfassungen absurde Versuche von Seiten des Volkes, eine Macht zu begrenzen, die ihre eigenen Natur nach nicht begrenzbar ist.“59

Die Republikanismustheorie, die sich im Amerika der Revolution herausgebildet und schließlich durchgesetzt hatte, war nicht die des radikalen Republikanismus, Ideology and the Triumph of the Constitution, 1789 to 1793“, in: William and Mary Quarterly, 3rd ser., 31 (1974), 173 – 174. 56 Dieser Haltung entspricht die nun erfolgte kategorische Ablehnung von James Burgh, Political Disquisitions, des klassischen Werkes der radikalen Opposition in Großbritannien aus den 1770er Jahren durch John Adams, vgl. Isaac Kramnick, „Republicanism Revisited: The Case of James Burgh“, in: The Republican Synthesis Revisited, hrg. v. Klein, 19 – 22, wie insgesamt 19 – 36. 57 Vgl. dazu Horst Dippel, „The Changing Idea of Popular Sovereignty in Early American Constitutionalism: Breaking away from European Patterns“, in: Journal of the Early Republic, 16 (1996), 21 – 45, und unten Kap. III. 5. 58 The Federalist, no. 78 (Ausg. v. Cooke, 524); Die Federalist-Artikel, hrg. v. Adams, 471 – 472. 59 Marbury v. Madison, 1803 (1 Cranch 137, 177).

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sondern jene, die angesichts der steten Gefahr der Korruption der Macht den Wert der Bürgertugend betonte und zu ihrer Sicherung – was auch die Sicherung der Herrschaft der tugendhaften Elite bedeutete – allein eine gemischte und begrenzte Verfassung für angebracht erachtete,60 die auf der Volkssouveränität basierte, aber diese sogleich wieder als aktives Prinzip aus dem politischen Leben verbannte; dem Volk eher ambivalent gegenüberstand, indem Wahlrechtsfragen den Einzelstaaten überlassen blieben – in denen sich das allgemeine Wahlrecht im Laufe des 19. Jahrhunderts nur zögerlich, bei manchen Ausschlusskriterien, durchsetzte61 – und dabei dem Volk nur eher indirekte Einwirkungsmöglichkeiten zubilligte. Selbst ein Menschenrechtskatalog erschien nicht als zwingender Teil dieses Republikanismusbegriffes – schließlich wurden die Bill of Rights erst nachträglich der Bundesverfassung hinzugefügt (1791) –, so dass die Verfassungen mehrerer Einzelstaaten in dieser Zeit keinen eigenständigen Menschenrechtskatalog kannten. Dennoch können Freiheit, individuelle Selbstentfaltung und der Schutz des Eigentums als zentrale Bestandteile dieses Republikanismusbegriffs gewertet werden. Hingegen konnte sich der Gedanke einer „republikanischen Religion“ nicht durchsetzen,62 weshalb dem amerikanischen Republikanismus im Gegensatz zu dem französischen jede antiklerikale Spitze fremd blieb. Es erübrigt sich, im Einzelnen auf die Weiterentwicklung dieser Vorstellungen im Laufe des 19. Jahrhunderts einzugehen, als deren wichtigstes Merkmal wohl das Zurückweichen der Vorstellung der gemischten Verfassung angesehen werden muss, an dessen Stelle spätestens seit den 1830er Jahren der Gedanke der demokratischen Republik trat, ohne damit das Prinzip der Balance grundsätzlich aufzugeben. Wenn man hingegen danach fragt, wo die Einflussmöglichkeiten dieses amerikanischen Republikanismusbegriffs auf Europa in dieser Zeit lagen, so werden die Grenzen rasch deutlich. Zwar konnte der Gedanke der Republik relativ leicht auf das Frankreich der Revolution überspringen, wo er nach der Flucht nach Varennes Anfang Juli 1791 öffentlich auftauchte. Doch selbst wenn dies mit dem Namen Thomas Paines verbunden ist,63 war damit nicht mehr ausgedrückt, als dass dank Amerika die Republik für weite Kreise ihren vormals negativen, selbstzerstörerischen Klang verloren hatte,64 ohne dass sich damit der Republikanismusbegriff der amerikanischen Bundesverfassung breit gemacht hätte. Sehr viel stärker erleben wir den wachsenden Einfluss des radikalen Republikanismus, wobei das pennsylvanische Beispiel, auch wenn es dort selbst inzwischen durch eine neue Verfassung 1790 60 So im wesentlichen auch Robert E. Shalhope, The Roots of Democracy. American Thought and Culture, 1760 – 1800, Boston: Twayne, 1990, 44 – 52. 61 Vgl. dazu unten Kap. III. 5. 62 Vgl. dazu immer noch die ältere Darstellung von G. Adolf Koch, Republican Religion. The American Revolution and the Cult of Reason, New York: Holt, 1933. 63 Vgl. dazu Fruchtman, Jr., Paine, 234 – 237. 64 Vgl. dazu Horst Dippel, Germany and the American Revolution. A Sociohistorical Investigation of Late Eighteenth-Century Political Thinking, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1977 (und Wiesbaden: Steiner, 1978), bes. 170 – 171.

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politisch beendet worden war, einen spürbaren Einfluss hatte, der durch die weitreichenden Parallelen zwischen der pennsylvanischen Verfassung von 1776 und der jakobinischen Verfassung von 1793 hinreichend belegt ist.65 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch der radikale Republikanismus der englischen Revolution durchaus im Frankreich der Revolution bis hin zu Ludwig XVI. rezipiert wurde.66 Der französische Republikanismus hat letztlich von dieser Phase der Revolution seine fortan prägenden Inhalte erfahren, die die Einflussmöglichkeiten des amerikanischen Republikanismus eher marginalisierten und die noch am ehesten an die Verfassung der 2. Republik denken lassen, mit der eine striktere Gewaltentrennung – wenn auch ohne die ganze Rigorosität und die Konsequenzen der amerikanischen – und der Präsident Einzug in das französische Verfassungsleben hielten. Doch dank des radikalen Republikanismus französischer Provenienz, unmittelbar verknüpft mit den Prinzipien der Volkssouveränität, der Menschenrechte, mit Freiheit, Gleichheit, Rechts- und Eigentumsschutz, blieb der revolutionäre Ursprung der Republik als Staatsform das ganze 19. Jahrhundert über stets stärker im Bewusstsein präsent, als dies beim amerikanischen Republikanismus der Fall war. Das französische Beispiel verdeutlicht in doppelter Hinsicht die Grenzen der Einflussmöglichkeiten des amerikanischen Republikanismus im Europa des 19. Jahrhunderts. Man mochte die amerikanische Verfassung in hellsten Tönen loben, doch für konkrete Anleihen schien sie sich nur sehr begrenzt und partiell zu eignen, so mit Blick auf den Präsidenten, den Bikameralismus67 und die Gewaltentrennung in Frankreich, als Anregung für die Einrichtung eines Obersten Gerichtshofs in der Paulskirche oder mit Bezug auf den Föderalismus in der Schweiz.68 Angesichts seiner Grundprinzipien sah das monarchische, liberal-konservative Europa des 19. Jahrhunderts selbst in der gemäßigten Form des amerikanischen Republikanismus naturgemäß keine Anknüpfungspunkte,69 während den europäischen radikalen Republikanern die amerikanische Mischverfassung mit der Beschränkung der Legislativen und der Bändigung der Volkssouveränität in der Regel als zu verhalten erschien. Sie orientierten sich daher eher an dem soziokulturell näherliegenden theoretischen Konzept des französischen Republikanismus. Anders mochte die Situation in den wenigen europäischen Republiken der Zeit sein, und hier insbesondere in der Schweiz, in der ein gewisser amerikanischer Einfluss im 19. Jahrhundert spürbar wird.

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Vgl. dazu unten Kap. V. 4. Vgl. dazu etwa die Aufzeichnungen von Cléry in: Die letzten Monate des Königs. Louis XVI als Gefangener der Französischen Revolution, hrg. v. Chris E. Paschold und Albert Gier, Frankfurt: Insel Verlag, 1989, 129. 67 Vgl. dazu unten Kap. V. 5. 68 Bzgl. seines Modellcharakters für Deutschland, vgl. unten Kap. VI. 10. 69 Vgl. etwa die Diskussion um das amerikanische Beispiel in der 1848er Revolution in Deutschland: Horst Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach 1994, 32 – 46, und unten Kap. VI. 5. 66

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II. England

Obwohl es in oppositionellen Kreisen in Großbritannien durchaus Sympathien für die amerikanische Revolution gegeben hatte, hinterließ der amerikanische Republikanismus hier kaum nachhaltige Spuren. Einerseits war zumal nach der Französischen Revolution für die Mehrzahl der Oppositionellen und Radikalen die Republik kein politisches Modell mehr für das eigene Land.70 Andererseits hatte eine Gruppe radikaler Schriftsteller seit der zweiten Hälfte der 1790er Jahren, nicht zuletzt unter dem Einfluss Paines, Godwins, Halls u. a., eine Weiterentwicklung des Republikanismusbegriffes in Richtung einer frühsozialistischen Gesellschaftstheorie betrieben, für die die sich entwickelnde amerikanische Marktgesellschaft und ihre sozialen Ungleichheiten bei aller politischen Modernität kein Vorbild mehr waren.71 So hatte Charles Hall keinen Zweifel, dass sich die europäische Sozialordnung mit den Reichen, die die Macht hätten, und den Armen, die nichts besäßen, bald auch in Amerika durchsetzen werde, wo die republikanischen Institutionen durch sie bereits korrumpiert seien. „Gegenwärtig erfreuen sich die Amerikaner vieler Vorzüge einer gleichen Verteilung von Eigentum […] Diese glückliche Situation des Volkes […] wird nicht von langer Dauer sein. Die Reichen haben nicht nur den Anteil der Macht, den Reichtum gewährt; sondern mit dieser Macht haben sie auch jenen zusätzlichen gewonnen, die Sitze im Repräsentantenhaus, Senat, der Präsidentschaft und aller anderen lukrativen und einflussreichen Institutionen zu füllen.“72

Doch der Rückgriff auf den Republikanismus zumal Painescher Prägung tauchte auch in der Folge mitunter bei radikalen Arbeiterführern auf, wie etwa bei Joseph Brayshaw zu Beginn der 1820er Jahre73 oder im Zusammenhang mit der Chartistenbewegung um 1848.74 Dieser erweiterte britische Republikanismusbegriff verlor jedoch nicht nur im Lande selbst in den folgenden Jahren rasch an Bedeutung,75 sondern er erreichte den Kontinent im allgemeinen auch allein im Kontext der frühsozialistischen Schriften und wurde hier in der Regel von der Rezeption der ganz im Vordergrund stehenden sozioökonomischen Inhalte an den Rand gedrängt. Wenn sich mithin für die amerikanischen wie englischen Republikanismustheorien im 19. Jahrhundert auf dem Kontinent insgesamt nur relativ marginale 70 Vgl. etwa John Morrow, „Republicanism and Public Virtue: William Godwin’s History of the Commonwealth of England“, in: Historical Journal, 34 (1991), 645 – 664. 71 Dazu Gregory Claeys, „The Origins of the Rights of Labor: Republicanism, Commerce, and the Construction of Modern Social Theory in Britain, 1796 – 1805“, in: Journal of Modern History, 66 (1994), 249 – 290. 72 Charles Hall, The Effects of Civilization on the People in the European States, London: Printed for the author, 1805 (Ndr. New York: Kelley, 1965), 252, 255 – 256. 73 Vgl. dazu John Belchem, „Republicanism, Popular Constitutionalism and the Radical Platform in Early Nineteenth-century England“, in: Social History, 6 (1981), 1 – 32. 74 Vgl. dazu den auch als Separatdruck erschienenen Aufsatz von Karl Blind, Zur Geschichte der Republikanischen Partei in England, Berlin: Stilke, 1873. 75 Vgl. Norbert J. Gossman, „Republicanism in Nineteenth Century England“, in: International Review of Social History, 7 (1962), 47 – 60.

2. Die britischen Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

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Einwirkungsmöglichkeiten ergaben, so darf dieser Eindruck dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der amerikanische Republikanismus letztlich mehr noch als der französische langfristig als die endgültige Widerlegung von Montesquieu galt, dass eine Republik nur für kleine Staaten tauge und anderenfalls zwangsläufig degeneriere.76 Es war das eindrucksvolle amerikanische Beispiel, das im 20. Jahrhundert mit dem Aufstieg der USA zur Weltmacht so geschichtsmächtig werden sollte, das dem Republikanismus schließlich zu seinem Siegeszug verhalf, ohne dass dabei jedoch die Inhalte des amerikanischen Republikanismus stets im gleichen Umfang übernommen worden sind.

2. Theorie und Praxis der britischen Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert77 Beispielhafte Verfassungen und ihr unterstellter Modellcharakter eröffnen verlockende Perspektiven. Sie scheinen sich anzubieten als erprobte und verlässliche Wege zu politischem und wirtschaftlichem Fortschritt und sozialer Stabilität. Jede Diskussion über ein Kopieren dieser Modellverfassungen muss jedoch eine Antwort auf die Frage beinhalten, welche Verfassung kopiert werden soll, die theoretische Verfassung mit ihren erhabenen Grundsätzen oder die praktische Verfassung in ihrer Bewältigung des politischen Alltags. Nur allzu oft bleiben die Unterschiede zwischen den beiden Gesichtern einer Verfassung bei der Betrachtung von außen unentdeckt oder werden geflissentlich ausgeblendet, so dass die Entscheidung letztlich ausschließlich an der theoretischen Verfassung festgemacht wird. Die Praxis völlig zu ignorieren, zumal wenn allgemein Einmütigkeit über den exemplarischen Charakter einer zu kopierenden Verfassung zu herrschen scheint, bedeutet jedoch, das Problem auszublenden, wie einer derartigen Verfassung in ihrem neuen politischen Umfeld Leben eingehaucht werden soll. Die versteckteren Seiten einer Verfassung und ihre Handlungsspielräume in Zeiten ernsthafter politischer oder sozialer Krisen, die erst die wirkliche Bewährungsprobe einer jeden Verfassung sind, bleiben dabei in aller Regel unberücksichtigt. Damit lastet eine erhebliche Hypothek auf einem derartigen Verfassungstransfer.

76 Gegner und Skeptiker der neuen Bundesverfassung hatten bei ihrer Ratifizierung noch deutlich auf diesen Widerspruch hingewiesen, vgl. etwa den ersten der bekannten Essays von „Brutus“ – die allgemein Robert Yates zugeschrieben werden – vom 18. Oktober 1787, in: The Complete Anti-Federalist, hrg. v. Storing, II, 368 – 372. Dazu auch Ball, „,A Republic – If You Can Keep It‘“, 140 – 145. 77 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „The Theory and Practice of the British Constitution in the Late Eighteenth Century“, in: Il Modello costituzionale inglese e la sua recezione nell’area mediterranea tra la fine del 700 e la prima metà dell’800. Atti del seminario internazionale di studi in memoria di Francisco Tomás y Valiente (Messina, 14 – 16 novembre 1996), hrg. v. Andrea Romano, Mailand: Giuffrè, 1998, 194 – 208.

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Hans-Christoph Kraus hat darauf hingewiesen, dass Montesquieu, Blackstone und de Lolme in ihren Analysen der englischen Verfassung diese idealisiert hätten, jedoch ihr konkretes Wirken zu jeweils ihrer Zeit kaum erfasst hätten. Als konkrete Belege für seine These verweist Kraus auf die sich herausbildende parlamentarische Kabinettregierung, die Erosion der königlichen Prärogative, das obsolet gewordene Veto-Recht des Königs und die sich herausbildende Parteipolitik.78 Meine These in aller Kürze ist hingegen, dass es sich dabei weniger um Nachlässigkeit handelt, sondern dass sich stattdessen darin das Versäumnis ausdrückt, generell die Diskrepanz zwischen dem allgemein akzeptierten Bild und tradierten Verständnis der britischen Verfassung einerseits und der sich wandelnden Verfassungspraxis andererseits zu erfassen. Das überwiegend wahrgenommene Bild der britischen Verfassung im Lande selbst wie auf dem europäischen Kontinent in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war derart fest verwurzelt, dass weder lang andauernde Wandlungsprozesse noch bewusste politische Einwirkungen darauf einen wirklich Einfluss ausgeübt zu haben scheinen. E. P. Thompson hat in seiner Analyse der Auseinandersetzungen über die britische Verfassung im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die verbreitete radikale Forderung nach einer grundsätzlichen Verfassungsreform nachgewiesen. Dabei unterstricht er, dass der liberale Charakter der britischen Verfassung unverändert intakt war und sie „keine Billigung willkürlicher Herrschaft, die die persönlichen und Eigentumsrechte beeinträchtigte und sich der Kontrolle durch Recht und Gesetz entziehe,“ hinnehmen würde.79 War die britische Verfassung mithin klassenbefangen oder nur korrupt? Oder waren die ihr innewohnenden Feinheiten mit ihren gesetzlichen Regeln und Konventionen, Präzedenzfällen und Entscheidungen oberster Gerichte und den anerkannten Rechts- und Verfassungsauslegungen verantwortlich für den Widerspruch zwischen allgemein anerkannter Verfassungstheorie und ihrer aktuellen Praxis? In dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, werde ich mich auf die 1790er Jahre konzentrieren, die von den verschiedenartigen Formen der britischen Reaktion auf die Französische Revolution geprägt waren. Dabei werde ich jedoch nicht auf die politische Debatte über die Französische Revolution eingehen, die hinreichend untersucht ist,80 noch auf die militärische Antwort, sondern mich auf Verfassungs78 Hans-Christoph Kraus, „Montesquieu, Blackstone, De Lolme und die englische Verfassung des 18. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des historischen Kollegs, 1 (1995), 151. Vgl. auch Jean-Pierre Machelon, „Aux sources du constitutionnalisme sicilien: La Constitution de l’Angleterre de Jean Louis de Lolme (1771)“, in: Il Modello costituzionale inglese e la sua recezione nell’area mediterranea, hrg. v. Romano, 739 – 755. 79 E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, 1963, Ndr. Harmondsworth: Penguin, 1968, 87. 80 Vgl. z. B. Philip Anthony Brown, The French Revolution in English History, 1918, Ndr. London: Frank Cass, 1965; Gwyn A. Williams, Artisans and Sans-Culottes. Popular Movements in France and Britain during the French Revolution, 1968, London: Libris, 21989; Albert Goodwin, The Friends of Liberty. The English Democratic Movement in the Age of the French Revolution, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1979; Günther Lottes, Politische

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fragen konzentrieren. Die französischen Verfassungsexperimente hatten das Interesse an der britischen Verfassung neu angefacht. Die Regierung Pitt bestand jedoch darauf, dass die Verfassung ohne weitreichende oder permanente Änderungen erhalten bleiben müsse,81 obgleich kritische Beobachter begannen, Unzulänglichkeiten auszumachen, die in früheren Zeiten unbemerkt geblieben waren. Georg Forster, der Teilnehmer an Cooks zweiter Weltumseglung und nachmalige Revolutionär, war wie andere zu dem Ergebnis gekommen, dass „in England die bürgerliche Freyheit so ziemlich sicher stände, eine politische doch schlechterdings nicht vorhanden sey“.82 Forster hatte den Finger auf das gerichtet, was nach zeitgenössischer Auffassung das Markenzeichen der britischen Verfassung war, die Idee der Freiheit. Wie andere Bewunderer der Verfassung neigte er daher dazu, die vermeintlichen Kennzeichen der Verfassung mit vorgegebenen, ihr zugrunde liegenden Prinzipien zu vermengen. Daher ging seine Kritik an dem eigentlichen Punkt vorbei. Jede ernsthafte Diskussion der britischen Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert muss sich in Erinnerung rufen, dass laut Blackstone die jura summi imperii im britischen Parlament lag, das jedes Gesetz erlassen konnte, das ihm in den Sinn kam.83 Da, wiederum nach Blackstone, die Verfassung keine Autorität kannte, die befugt war, das Parlament zu kontrollieren,84 konnte seine Macht selbst im Rahmen der britischen Verfassung und in Einklang mit Recht und Gesetz durchaus repressiv werden. Genau das war es gewesen, was die Amerikaner wenige Jahrzehnte zuvor den Briten immer wieder vorgeworfen hatten.85 Dem widersprachen andere und waren zuversichtlich, selbst wenn sie die Omnipotenz des Parlaments einräumten, Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des englischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München: Oldenbourg, 1979; Britain and Revolutionary France: Conflict, Subversion and Propaganda, hrg. v. Colin Jones, Exeter: University of Exeter, 1983; H. T. Dickinson, British Radicalism and the French Revolution 1789 – 1815, Oxford: Basil Blackwell, 1985; ders. (Hrg.), Britain and the French Revolution, 1789 – 1815, Basingstoke: Macmillan, 1989; Stephen Prickett, England and the French Revolution, Basingstoke: Macmillan, 1989; The French Revolution and British Culture, hrg. v. Ceri Crossley, Oxford: University Press, 1989; Gregory Claeys, „The French Revolution Debate and British Political Thought“, in: History of Political Thought, 11 (1990), 59 – 80; The French Revolution and British Popular Politics, hrg. v. Mark Philp, Cambridge: University Press, 1991. Zu einem besonderen Aspekt, vgl. H. T. Dickinson, „The Rise and Fall of the Theory of Natural Rights in Late Eighteenth and Early Nineteenth Century Britain“, in: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, hrg. v. Otto Dann u. Diethelm Klippel, Hamburg: Felix Meiner, 1995, 23 – 47. 81 Vgl. Frank O’Gorman, „Pitt and the ,Tory‘ Reaction to the French Revolution 1789 – 1815“, in: Dickinson (Hrg.), Britain and the French Revolution, 33. 82 Georg Forster, „Geschichte der Englischen Litteratur vom Jahr 1790“, in: Georg Forsters Werke, hrg. v. d. Akad. Wiss. d. DDR, VII, Berlin: Akademie-Verlag, 1963, 183. Zuvor und teilweise ähnlich bereits bei Gebhard Friedrich August Wendeborn, Der Zustand des Staates, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Grosbritannien gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 4 Bde., Berlin: Spener, 1785 – 1788, I, 67 – 73. 83 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 39 – 41. 84 Ebd., I, 66. 85 Vgl. dazu unten Kap. III. 1.

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dass die Herrschaft des Rechts gewährleistet sei, sei die britische Verfassung doch auf „den wahren und wirklichen Prinzipien der Rechte der Menschen“ begründet.86 Angesichts dieser widersprüchlichen Deutungen der britischen Verfassung in den Jahren einer ihrer größten Herausforderungen dank der Französischen Revolution ist kaum eine zweite Dekade besser geeignet, die Ambivalenzen der Verfassung zum Ausdruck zu bringen, als die 1790er Jahre. Zwischen Anfang 1790 und dem 31. Dezember 1800 verabschiedete das Parlament 2962 Gesetze, etwa zwei Drittel davon allgemeine Gesetze (public acts).87 Von diesen allgemeinen Gesetzen hatten ungefähr zwei Prozent Verfassungsbedeutung. Einige dieser Gesetze waren jedoch regelmäßige Wiederholungen, da ihre begrenzte Gültigkeitsdauer zu ständiger Verlängerung führte. Wenn wir diese Verlängerungs-, Erneuerungs- oder Substitutionsgesetze beiseitelassen, bleiben dreizehn Gesetze von verfassungsmäßiger Relevanz.88 Im Rahmen des Verfassungsrechts war damit das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bis einschließlich 31. Dezember 1800 eine außergewöhnlich fruchtbare Periode. Eines dieser Gesetze war bekanntermaßen das Gesetz über die Union von Großbritannien und Irland vom 2. Juli 1800.89 Es war ebenso eine Folge der Französischen Revolution, die zum erfolglosen Aufstand der „Vereinigten Iren“ von 1798 geführt hatte, wie der jahrhundertealten angespannten anglo-irischen Beziehungen. Als Konsequenz dieses Gesetzes wurde das Parlament in Dublin aufgelöst, und achtzehn Jahre irischer Selbstverwaltung waren damit beendet. Die Folgen waren für Irland offensichtlicher als für Großbritannien, wo nun irische Abgeordnete ins Unterhaus einzogen. Die Rückwirkungen dieses Gesetzes reichten weit über das 19. Jahrhundert hinaus. Die verbleibenden zwölf Gesetze haben in unterschiedlichem Maße mit dem zu tun, was man allgemein die verfassungsmäßig garantierte Freiheit des Engländers nennt. Zwei dieser Gesetze können eindeutig als Verbesserung der individuellen Freiheit verstanden werden. Beide wurden Ende 1792 bzw. Anfang 1793 erlassen. Das bekanntere von ihnen ist das Verleumdungsgesetz von Fox (Fox Libel Act),90 jenem liberalen Charles James Fox, der weitgehend dafür verantwortlich war, dieses Gesetz sowohl durch das Unterhaus ungeachtet des Widerstandes der Regierung Pitt und trotz sich hinziehender Debatten durch das Oberhaus gebracht zu haben. In mehreren Fällen hatte der Oberste Richter (Lord Chief Justice) Mansfield seit 1769 entschieden, dass es in entsprechenden Verfahren Aufgabe des Richters und nicht der 86 Francis Plowden, Jura Anglorum. The Rights of Englishmen, Dublin: George Bonham, 1792, 3, 145 – 209. 87 Vgl. The Statutes at Large, Bde. 16 – 18, London: Eyre and Strahan, 1794 – 1800. 88 Vgl. die abweichende Zählung (neun Gesetze) bei Clive Emsley, „Repression, ,Terror‘ and the Rule of Law in England during the Decade of the French Revolution“, in: English Historical Review, 100 (1985), 801 – 825, bes. 825. 89 39 & 40 Geo. III. c. 67. 90 32 Geo. III. c. 60.

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Geschworenen sei zu entscheiden, ob eine inkriminierte Schrift verleumderisch war, während die Geschworenen lediglich über die Tatsache der Veröffentlichung zu befinden hatten. Mit dem neuen Gesetz hatten die Whigs endlich erreicht, allein den Geschworenen im Fall des „Schreibens oder Veröffentlichens von Verleumdungen“ das Recht einzuräumen, „ein allgemeines Urteil von schuldig oder nicht schuldig abzugeben […] wie in anderen Strafsachen“.91 Obwohl die Gegner des Gesetzes behaupteten, es sei eine „überstürzte und unbedachte Neuerung“, die „die grundlegendsten und wichtigsten Prinzipien des englischen Rechtswesens untergrabe,“92 hatte die Pressefreiheit einen ihrer wichtigsten Siege just zu einem Zeitpunkt errungen, zu dem die Regierung jene rigorosen Maßnahmen einführte, die ihre unbeugsamsten Kritiker bald „Pitts Terrorherrschaft“ nennen sollten.93 Das zweite in diesem Zusammenhang zu erwähnende Gesetz ist weniger bekannt, obgleich es ebenfalls einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Sicherung wesentlicher Freiheitsrechte vollzog, nämlich mit dem Verbot rückwirkender Gesetze. Der offizielle Titel des Gesetzes lautete „Ein Gesetz zur Verhinderung, dass Parlamentsgesetze in Kraft treten, bevor sie verabschiedet worden sind“.94 Mit diesem Gesetz sollte die „große und offensichtliche Ungerechtigkeit“ beseitigt werden, dass, wie bislang üblich, alle Parlamentsgesetze mit dem Tag des Sitzungsbeginns des Parlaments in Kraft treten, in dem sie nachfolgend erst beschlossen wurden. In Zukunft sollte jedes Gesetz das genaue Datum der königlichen Unterzeichnung tragen, mit dem sie in Gültigkeit traten, es sei denn, im Gesetz selbst war dafür ein anderes Datum vorgesehen. Auch wenn damit noch nicht die Veröffentlichung des Gesetzes als für seinen Gültigkeitsbeginn entscheidend verstanden und rückwirkende Gesetze nicht ausdrücklich für illegal erklärt wurden, war damit ein großer Schritt zur Rechtssicherheit getan zumal in einer Zeit politischer und verfassungsmäßiger Krisen.

91 Vgl. Selected Statutes, Cases and Documents to Illustrate English Constitutional History, 1660 – 1832, With Additional Matter to 1923, hrg. v. C. Grant Robertson, London: Methuen, 5 1928, 272, 489 – 492; William Belsham, Memoirs of the Reign of George III, 6 Bde., London: Robinson, 21795 – 1801, IV, 325 – 326, 370 – 371; David Powell, Charles James Fox, Man of the People, London: Hutchinson, 1989, 204; Leslie George Mitchell, Charles James Fox, Oxford: Oxford University Press, 1992, 118. 92 John Bowles, A Letter to the Right Hon. Charles James Fox, Occasioned by His Motion in The House of Commons Respecting Libels, London: Whieldon and Butterworth, 21792, 34; Debates in Both Houses of Parliament on the Bill Introduced by the Rt. Hon. Charles James Fox, For Removing Doubts Respecting the Functions of Juries in Cases of Libels, London: Johnson, 1792, 157. 93 Zur traditionellen Auffassung, dass die Geschworenen das Bollwerk der Freiheit sind, vgl. James Epstein, „,Our real constitution‘: trial defence and radical memory in the Age of Revolution“, in: Re-reading the constitution. New narratives in the political history of England’s long nineteenth century, hrg. v. James Vernon, Cambridge: University Press, 1996, 33 – 34. 94 33 Geo. III. c. 13.

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Die verbleibenden zehn Verfassungsgesetze – in den Augen John Cartwrights ein „unverschämter Machtmissbrauch“95 – dienten nicht dazu, die individuelle Freiheit zu befördern, sondern verkörperten „unmittelbar den Geist von Burkes radikalem Anathema, dass jede Idee, jeder Wunsch, jeder Versuch, die Repräsentation des Volkes im Parlament zu verändern oder sich der allgemeinen Rechte des Volkes anzunehmen, von denen sich letztlich die britische Verfassung gebildet hat, hingestellt wurde als Absicht, Plan und Bemühung, sie zu untergraben oder zu vernichten“.96

Unter einem chronologischen Gesichtspunkt, doch auch als Ausdruck praktischer Politik markieren die Hochverratsprozesse Ende 1794 die Wasserscheide. Bis zu diesem Datum wurden vier der zehn Gesetze verabschiedet, die in ihrer Reichweite begrenzt blieben, da sie sich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bezogen und nicht auf das Volk insgesamt. In der zeitlichen Reihenfolge ist das erste Gesetz das Middlesex Richtergesetz (Middlesex Justices Act) von 1792,97 ein politischer Kompromiss zur Ruhigstellung konservativer Bestrebungen seit 1785, die auf die Modernisierung des Londoner Polizeiwesens nach dem Vorbild der rigorosen, doch politisch effektiven vorrevolutionären Pariser Polizei drangen, deren oberstes Ziel war, alles zu vermeiden, was die politische Stabilität und die bestehende Ordnung gefährden könnte. Mit dem 1792er Gesetz wurden sieben zusätzliche Polizeiämter geschaffen, doch die traditionelle Polizeistruktur blieb praktisch unverändert. Doch zum ersten Mal kontrollierte die Regierung die Metropolitanpolizei direkt durch nicht ehrenamtliche Friedensrichter, die vom Staat bezahlt wurden. Die tatsächlich entscheidende Reform der Londoner Polizei, um politischen Radikalismus effektiv in den Griff zu bekommen, musste bis 1829 warten.98 Das nächste Gesetz bezog sich vorgeblich auf eine noch leichter zu bestimmende Gruppe, Ausländer. Das Fremdengesetz von 1793 führte eine rigide Politik zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Ausländern innerhalb des Königreiches ein, ausgenommen waren lediglich ausländische Kaufleute, unter der Androhung willkürlicher Verhaftung und Deportation.99 Als Konsequenz dieses Gesetzes wurde ein Fremdenamt eingerichtet, das gemeinsam mit dem Fremdengesetz die Dekade überlebte.100 Dieses Fremdenamt hatte nicht nur eine seiner Wurzeln in dem Re95 John Cartwright, The English Constitution Produced and Illustrated, London: Taylor, 1823, 233, vgl. auch den ganzen Abschnitt, 233 – 234. 96 Francis Plowden, A Short History of the British Empire, from May 1792 to the Close of the Year 1793, Philadelphia: Mathew Carey, 1794, 40. Ein bekanntes Plädoyer für eine Parlamentsreform und das allgemeine Wahlrecht erschien wenig später von John Cartwright, The Commonwealth in Danger, London: Johnson, 1795. 97 32 Geo. III. c. 53. 98 Vgl. dazu auch meinen Aufsatz „Sicherheit des Staates oder Sicherheit des Bürgers? Die Entstehung der modernen Polizei in Paris und London in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte, 8 (1996), 255 – 284. 99 33 Geo. III. c. 4. Vgl. John R. Dinwiddy, Radicalism and Reform in Britain, 1780 – 1850, London: Hambledon Press, 1992, 149 – 161. 100 Vgl. 37 Geo. III. c. 92; 38 Geo. III. cc. 50, 77; 41 Geo. III. c. 24.

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formgesetz der Londoner Polizei, sondern sollte auch eine bedeutende Rolle in der Bekämpfung der Französischen Revolution durch die Regierung spielen als „Verwaltungsamt für den ersten umfassenden britischen Geheimdienst im modernen Sinne“.101 Das Gesetz gegen verräterische Korrespondenz vom 7. Mai 1793102 bescherte dem Fremdenamt weitere Arbeit, wurde es nun doch für jeden Bewohner Großbritanniens illegal, mit der französischen Regierung und ihren Streitkräften in Kontakt zu stehen und jedwede Waren nach Frankreich zu exportieren, die kriegsrelevant waren.103 Jeder, der gegen diese Auflagen verstieß, konnte verhaftet und lediglich mit Zustimmung der Regierung gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden. Den Kontrabandhandel in Kriegszeiten zu verbieten, war normale Politik, wie sie in früheren Kriegen zur Anwendung gekommen war. Dieses Gesetz jedoch, wie ein Zeitgenosse bemerkte, beinhaltete „viele andere neuartige und willkürliche Maßnahmen“,104 darunter Verdächtige ohne Gerichtsverfahren inhaftieren zu können. Briten, die ohne Erlaubnis nach Frankreich reisten, riskierten für bis zu sechs Monate ins Gefängnis zu kommen. 1798 wurde das Gesetz nochmals verschärft. Jetzt galt es als Verbrechen, nach Frankreich zu reisen oder mit britischen Untertanen zu korrespondieren, die freiwillig in Frankreich geblieben waren, oder mit französischen Regierungsbeamten „oder mit irgendeiner Person oder Personen in irgendeiner Weise von ihnen angestellt oder mit irgendjemandem, der Kenntnis davon hat, dass diese Person oder Personen so angestellt sind“.105 Das Bestreben, mittels drakonischer Gesetze das Eindringen jeder radikalen Propaganda von Frankreich nach Großbritannien zu verhindern, charakterisiert die britische Politik in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre. Die Regierung Pitt hatte ihren antirevolutionären Kurs durch drastische Unterdrückungsmaßnahmen eindeutig verstärkt. Ein Bündel von Gesetzen wurden in diesen Jahren eingeführt, um dieser Politik zur Wirkung zu verhelfen. Ein probates Mittel, Unruhen in Zeiten politischer Krise in den Griff zu bekommen, das im 18. und 19. Jahrhundert in vergleichbaren Fällen stets zur Anwendung kam, war die Aussetzung des Habeas Corpus-Gesetzes. In den 1790er Jahren wurde ein entsprechendes Aussetzungsgesetz erstmals am 23. Mai 1794 erlassen, just nachdem einige führende britische Radikale verhaftet worden waren.106 Nach Maßgabe des Gesetzes konnten Personen, die wegen 101

Elizabeth Sparrow, „The Alien Office, 1792 – 1806“, in: The Historical Journal, 33 (1990), 362, vgl. auch den ganzen Artikel, 361 – 384. 102 33 Geo. III. c. 27. 103 Als Folge dieses Gesetzes wie der französischen Politik schmolzen die britischen Exporte nach Frankreich 1793 auf weniger als 9 % des Volumens von 1792 zusammen und kamen 1795 vollends zum Erliegen, vgl. Clive Emsley, British Society and the French Wars 1793 – 1815, London: Macmillan, 1979, 29. 104 Belsham, Memoirs, V, 29. 105 38 Geo. III. c. 79. 106 Zu diesen Verhaftungen und nachfolgenden Gerichtsverfahren, vgl. Alan Wharam, The Treason Trials, 1794, Leicester: University Press, 1992. Zu diesen Hochverratsprozessen als

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Hochverrats verhaftet waren, bis zum 1. Februar 1795 im Gefängnis gehalten werden, und kein Richter oder Friedensrichter hatte das Recht, „irgendeine derartige Person oder Personen auf Kaution frei zu lassen oder ihr den Prozess zu machen ohne Anweisung des Geheimen Rates (Privy Council) seiner Majestät“.107 Nach einer Gesetzesverlängerung bis zum 1. Juli 1795108 ließ man es zunächst auslaufen, nur um es am 21. April 1798 wieder einzuführen und regelmäßig für den Rest des Jahrzehnts zu verlängern.109 Erst nachdem das Gesetz ausgelaufen war, „sollen die so inhaftierten Personen die Wohltaten und Vorzüge aller Rechte und Gesetze in Bezug auf und zur Sicherung der Freiheit der Untertanen dieses Reiches genießen“.110 Damit konnte zumindest in der Theorie eine Haft, ohne in den Genuss des Habeas CorpusGesetzes zu gelangen, Jahre dauern. Die eindrucksvolle Zahl von Protestveranstaltungen und Publikationen legt nahe, dass die öffentliche Meinung noch stärker durch zwei weitere Gesetze aufgebracht war, das Gesetz gegen verräterische und aufrührerische Praktiken (Treasonable and Seditious Practices Act) und das Gesetz gegen aufrührerische Zusammentreffen und Versammlungen (Seditious Meetings and Assemblies Act), die beide am 18. Dezember 1795 in Kraft traten.111 Das erstere Gesetz erklärte jeden zum Verräter, dem die Todesstrafe drohte, der „durch Veröffentlichung eines Drucks oder einer Schrift oder irgendeine offene Tat oder Handlung“ den König oder das Parlament in der Absicht angriff, ihn darum zu bringen oder „ihn oder es zu zwingen, seine Maßnahmen oder Beschlüsse zu ändern […] oder beide Häuser des Parlaments oder eines von ihnen einzuschüchtern oder zu nötigen“.112 Mit dieser Ausweitung voraufgegangener Hochverratsgesetze, nach denen jede Unruhe oder radikale Schrift als Hochverrat gewertet werden konnte, sollte die radikale Opposition entmutigt und unterdrückt werden. Das zweite Gesetz ging einen Schritt weiter und, wie man gesagt hat, „suspendierte praktisch das Recht öffentlicher Zusammenkünfte und machte alle Diskussionen öffentlicher und politischer Fragen, außer wenn die Redner und Meinungen die Zustimmung der Exekutive fanden, gefährlich, wenn nicht unmöglich“.113 Bereits während der Beratungen im Parlament war eine heftige Opposition Konflikt zwischen modernem Gesetzesrecht im Sinne Benthams und „imaginierten“ Gewohnheitsrecht, vgl. John Barrell, The Birth of Pandora and the Division of Knowledge, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1992, 119 – 143. Zu einem besonderen Aspekt, vgl. Epstein, „,Our real constitution‘“, 22 – 51. 107 34 Geo. III. c. 54. 108 35 Geo. III. c. 3. 109 38 Geo. III. c. 36; 39 Geo. III. cc. 15, 44; 39 & 40 Geo. III. c. 20; 41 Geo. III. c. 32. 110 38 Geo. III. c. 36. Der Passus erschien erneut in den nachfolgenden Gesetzen, von denen 39 Geo. III. c. 44 und die nachfolgenden Gesetze insofern abwichen, als die Betroffenen in verschiedenen Gefängnissen unterzubringen waren, um die Kommunikation unter ihnen zu unterbinden, während irische Rebellen in britischen Gefängnissen einzusitzen hatten. 111 36 Geo. III. cc. 7, 8. 112 Vgl. E. P. Thompson, „Hunting the Jacobin Fox“, in: Past and Present, 142 (1994), 95, der darauf hinweist, dass das Verbot politischer Vorträge speziell auf John Thelwall gemünzt war. 113 Selected Statutes, hrg. v. Robertson, 273.

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gegen die zwei Gesetze entbrannt. Diese schloss unter anderem oppositionelle Whigs, Kaufleute, Bankiers und Unternehmer der Londoner City ein sowie verbreitete Gesellschaften wie die Londoner Korrespondenzgesellschaft. Diese Protestbewegung schien hinreichend unter Beweis zu stellen, „dass es Herrn Pitt mit seinen verabscheuungswürdigen Bemühungen noch nicht vermocht hat, die Flamme der Freiheit in England auszulöschen“.114 Bei einer der zahlreichen Oppositionsveranstaltungen erklärte Charles James Fox, dass „[d]iese Gesetzentwürfe in der Tat darauf gerichtet sind, die Abschaffung der Freiheiten des englischen Volks zu besiegeln, den Charakter der Engländer herabzuwürdigen und sie auf einen Fuß zu stellen mit jenen, die nicht wissen, was die Rechte der Menschen sind und unter denen Freiheit völlig unbekannt ist“.115 William Godwin, wenn auch anonym, unterstützte ihn vehement: „Es ist die geweihte Maschine der Tyrannei; es ist die offene und erklärt Einführung einer willkürlichen Herrschaft.“116 Offensichtlich hatten die Repressionsmaßnahmen der Regierung, die durch die öffentlichen Unruhen und die Forderung nach Reformen ebenso angefacht waren wie durch den Fehlschlag der Hochverratsprozesse, einen neues Niveau erreicht und das Parlament dazu veranlasst, in einer Weise in die britischen Freiheiten einzugreifen, die vor den Hochverratsprozessen als verfassungsmäßig gesichert angesehen wurden. Die Politik der verfassungsmäßigen Beschneidungen erreichte 1798 ihren Höhepunkt, als die zwei Gesetze unverändert in Kraft waren, die Suspendierung des Habeas Corpus-Gesetzes erneut eingeführt und das Gesetz gegen verräterische Korrespondenz verschärft wurde, begleitet von einigen weiteren Gesetzen. Eines dieser neuen Gesetze war das Gesetz zur Regulierung von Drucken und Veröffentlichungen, das am 28. Juni 1798 in Kraft trat,117 jenem Tag, an dem das Reisen nach Frankreich und die Korrespondenz mit Briten in Frankreich zum Verbrechen erklärt wurde. Das neue Gesetz sollte „den Schwindel, der durch das Drucken und Veröffentlichen von Zeitungen und ähnlichen Drucksachen durch unbekannte Personen entsteht,“ verhindern, wie es im offiziellen Titel des Gesetzes hieß. Gemäß dem neuen Gesetz konnte niemand eine Zeitung oder Ähnliches drucken oder veröffentlichen ohne unterschriebene eidesstaatliche Erklärung, ohne angegebene Namen und ohne die Stempelsteuer bezahlt zu haben. Damit war eine rigorose Kontrolle der Presse eingeführt, um radikale Publikationen zu unterdrücken. Zugleich wurde die Regierung zum Wächter der Wahrheit, da die Stempelsteuer-

114

Belsham, Memoirs, V, 376. The History of Two Acts, Entitled An Act […] Against Treasonable and Seditious Practices and Attempts, and An Act […]; Including the Proceedings of the British Parliament, and of the Various Popular Meetings, Societies, and Clubs, Throughout the Kingdom, London: Robinson, 1796, 232; vgl. auch den ganzen über 800 Seiten umfassenden Band. 116 [William Godwin,] Considerations on Lord Grenville’s and Mr. Pitt’s Bills, Concerning Treasonable and Seditious Practices, and Unlawful Assemblies. By a Lover of Order, London: Johnson, [1795], 30. 117 38 Geo. III. c. 78. 115

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einnehmer angewiesen waren, die eidesstaatlichen Erklärungen nur von denen anzunehmen, die dies durch Eid vor ihnen bekräftigten. Zehn Tage zuvor war das Gerichtsverfahrensgesetz (Regulation of Trials Act) in Kraft getreten.118 Es beendete das Recht von Angeklagten, durch Geschworene verurteilt zu werden, die aus dem Kreis (county) stammten, in dem das Verbrechen begangen wurde. Zur „Verbesserung der Rechtsprechung“, wie es hieß, wurden die Fälle nunmehr in den Nachbarkreis verlegt, der in der Regel ein eher ländlicher Kreis war. Da London von dem Gesetz ausgenommen war, war die Unterdrückung des Radikalismus, wie er sich insbesondere in Kreisen mit erheblicher Konzentration von Industriearbeitern breit machte, das eigentliche Ziel dieses Bruchs mit einer liberalen Tradition. Arbeiterunruhen waren in der Tat ein erhebliches Problem in den Industriegebieten. Das Parlament fand noch ein effektiveres Mittel damit umzugehen in den Gesetzen gegen Zusammenschlüsse von Arbeitern (Combination Acts) von 1799 und 1800.119 Damit wurden Tarifverhandlungen wie überhaupt Gewerkschaften für illegal erklärt, wie es bereits 1791 in der Französischen Revolution mit der loi Le Chapelier geschehen war, und Personen, die unter diesem Gesetz angeklagt wurden, verloren ebenso ihr Recht der Aussageverweigerung, ein uraltes gewohnheitsrechtliches Privileg, das im ausgehenden 18. Jahrhundert als ein fundamentales Menschenrecht angesehen wurde.120 Ein letztes hier zu behandelndes Gesetz, das ebenso wenig im Einklang mit den traditionellen Freiheiten eines Engländers stand und dennoch keine Erfindung der Regierung Pitt war, war das Rekrutierungsgesetz für die Marine vom 28. April 1795, das die Friedensrichter der Kreise befähigte, „alle tauglichen, müßigen, unordentlichen Personen für den Dienst seiner Majestät in der Marine Großbritanniens auszuheben oder ausheben zu lassen, die bei entsprechender Befragung nicht nachweisen können, dass sie eine gesetzmäßige Tätigkeit oder Beschäftigung ausüben und mit Fleiß betreiben oder dass sie über hinreichende Mittel für ihren Unterhalt auf Dauer verfügen“.121

Auch dieses Gesetz wurde 1798 verschärft, indem der früher gewährte Schutz vor Zwangsmaßnahmen jetzt für fünf Monate ausgesetzt wurde.122 Zusammenfassend lässt sich als Ergebnis dieses gedrängten Überblicks über die verfassungsrelevanten britischen Gesetze der 1790er Jahre festhalten, dass der Kontrast zwischen der Theorie der britischen Verfassung als Bollwerk der Freiheit und der politischen Praxis in Zeiten gravierender innen- wie außenpolitischer Krisen offensichtlich ist. Solange sich die parlamentarische Elite als Herrin der Lage an118

38 Geo. III. c. 52. 39 Geo. III. c. 81; 39 & 40 Geo. III. c. 106. 120 Vgl. dazu die klassische Untersuchung von Leonard W. Levy, Origins of the Fifth Amendment. The Right Against Self-Incrimination, New York: Oxford University Press, 1968. 121 35 Geo. III. c. 34. 122 38 Geo. III. c. 46. 119

2. Die britischen Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

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sehen konnte und kein Gefühl einer größeren Krise bestand, war eine vergleichsweise liberale Gesetzgebung zum Schutz individueller Freiheiten, soweit diese mit den wirtschaftlichen Interessen des Landes konform gingen, systemerhaltend. Als jedoch der politische Druck zu Hause und von außen anstieg und einschneidende Reformforderungen an der Tagesordnung waren, wurden die Bastionen selbst bislang hochgehaltener Bereiche individueller Freiheit geschliffen, um, wie die Regierung Pitt betonte, die Verfassung und – nicht zuletzt – die überkommene Sozialordnung zu bewahren, ganz wie es Edmund Burke in seinem publikumswirksamen Angriff auf die Französische Revolution bereits 1790 gefordert hatte und wie es auf Jahrzehnte hin zu einem Leitfaden britischer Außenpolitik werden sollte.123 Dass sich die Praxis der britischen Verfassung so deutlich von ihre Theorie entfernen konnte, lag nicht, wie Georg Forster geschrieben hatte, an dem Gegensatz zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit, sondern letztlich an der Omnipotenz des britischen Parlaments, jederzeit die Gesetze machen zu können, die es für notwendig hielt, ohne sich dabei viel um Tradition oder Präzedenzfälle scheren zu müssen. Da mochten im Zweifelsfall auch individuelle Rechte, solange es die der anderen waren, kein unüberwindlicher Hemmschuh sein, um in den Worten eines führenden Radikalen „die Verfassung umzustürzen, eine perfekte Oligarchie zu errichten und sich selbst zugleich zu Herren der Prärogative der Krone und des Eigentums, Lebens und der Freiheiten seiner Mitbürger aufzuschwingen“.124 Als Folge dieser Politik wurden einige individuelle Rechte aufgekündigt, die Zeitgenossen auf beiden Seiten des Atlantiks im ausgehenden 18. Jahrhundert als unverzichtbaren Teil der grundlegenden Menschenrechte angesehen hatten. Verantwortlich für die Politik war eine Elite, die entschlossen war, ihre Macht zur Bewahrung der bestehenden Gesellschaftsordnung in einem geistigen Klima zu nutzen, das Harry Dickinson als „konterrevolutionär“ charakterisiert hat.125 Der Höhepunkt dieser reaktionären Politik war 1798 erreicht, als die Furcht vor einer französischen Invasion ihren Kulminationspunkt erreichte. In Zeiten ernsthafter Krisen konnte eine Verfassungspraxis bis an die Grenzen des Erlaubten gehen, ja diese selbst mitunter überschreiten. Hastig verabschiedete Gesetze mochten dann dazu führen, dass die Verfassung ihre Bürger zunehmend ohne die „Wohltaten und Vorzüge aller Rechte und Gesetze in Bezug auf und zur Sicherung der Freiheit der Untertanen“ ließ, wie eines dieser Gesetze unumwunden einräumte.126 Blickt man auf diese Repression oder „Terror“ aus der Perspektive des Verfassungsrechtlers, sind die Zahlen – ob es mehrere Hundert oder über zwei 123

Vgl. dazu das nachfolgende Kap. II. 3. John Thelwall, „The Natural and Constitutional Rights of Britons to Annual Parliaments, Universal Suffrage, and the Freedom of Popular Association“ (1795), in: The Politics of English Jacobinism. Writings of John Thelwall, hrg. v. Gregory Claeys, University Park, Pa.: Pennsylvania State University Press, 1995, 59. 125 H. T. Dickinson, „Counter-revolution in Britain in the 1790 s“, in: Tijdschrift voor Geschiedenis, 102 (1989), 354 – 367. 126 38 Geo. III. c. 36. 124

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Tausend waren, die unter diesen Gesetzen inhaftiert wurden – letztlich nicht entscheidend. Im Kern geht es vielmehr um die Natur der Verfassung selbst und wie sie Rechte und Freiheiten sicherstellt.127 Wenngleich man gerne betont, dass doch die Herrschaft des Rechts gewahrt blieb und damit das Gegengewicht zu Pitts „Terrorherrschaft“ bot,128 so dass die Verfassung nie in den „mittelalterlichen“ Ultraloyalismus eines John Reeves abzugleiten drohte,129 erscheint eine weitergehende Antwort erforderlich, die erklärt, wie die britische Verfassung die gravierenden Angriffe auf einige ihrer Kernbereiche in diesen turbulenten 1790er Jahren ohne langfristigen Schaden überstehen konnte. Pitts Vorgehen machte deutlich, dass die Verfassung über keine Bestimmungen verfügte, die als letzter Garant für die englischen Freiheiten wirken konnte, zumal auch seine schärfsten Gegner ihm nicht vorwarfen, sein Handeln sei „verfassungswidrig“. Tatsächlich war die britische Verfassung, anders als es der moderne Konstitutionalismus vorsah, kein Regelwerk aus Bestimmungen, die die Verfassung einhegten und individuelle Rechte garantierten. Daher verlief der inneramerikanische Konflikt 1798 und in den folgenden Jahren um die Fremden- und Aufwiegelungsgesetze völlig anders.130 Die britische Verfassung hingegen konnte angesichts eines omnipotenten Parlaments keine Rechte garantieren, sondern ließ geschehen, was das Parlament beschloss. Wenn es Sicherheiten für die britische Freiheit geben sollte, mussten diese im britischen Charakter liegen und in der tief verwurzelten politischen Tradition und Kultur des Landes oder in dem, was man die nicht gesetzlich fixierten Teile der Verfassung und die Verfassungskonventionen nennt. Sie mochten letztlich dafür verantwortlich sein, dass die unsichtbare Linie zwischen Verfassung und willkürlicher Herrschaft nicht auf Dauer aufgehoben wurde.131 Blackstone hatte dies, eine Generation zuvor, in die Feststellung zusammengefasst: „[D]ie wahre Freiheit des Untertanen besteht nicht so sehr in dem gnädigen Verhalten, sondern in der begrenzten Macht des Souveräns“.132 Dass diese Macht der Regierung, wie man inzwischen sagen musste, begrenzt war, lag nicht zuletzt an der überkommenen englischen Vorstellung von Recht, dessen Aufgabe es seit alters her 127 Vgl. M. Francis u. J. Morrow, „After the Ancient Constitution: Political Theory and English Constitutional Writings, 1760 – 1832“, in: Empire and Revolutions, hrg. v. Gordon Joel Schochet, Washington, D.C.: The Folger Institute, 1993, bes. 354 – 363. 128 Vgl. Emsley, „Repression, ,Terror‘ and the Rule of Law“, 801 – 824. 129 Vgl. Michael Weinzierl, „John Reeves and the Controversy over the Constitutional Role of Parliament in England during the French Revolution“, in: Parliaments, Estates and Representation, 5 (1985), 71 – 77; David Eastwood, „Patriotism and the English state in the 1790 s“, in: French Revolution and British Popular Politics, hrg. v. Philp, 146 – 168; ders., „John Reeves and the Contested Idea of the Constitution“, in: British Journal of Eighteenth-Century Studies, 16 (1993), 197 – 212; A. V. Beedell, „John Reeves’s Prosecution for a Seditious Libel, 1795 – 6: A Study in Political Cynicism“, in: The Historical Journal, 36 (1993), bes. 820 – 824. 130 Vgl. dazu unten Kap. III. 8. 131 Vgl. Francis u. Morrow, „After the Ancient Constitution“, 363 – 368. 132 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, IV, 279. Zu Blackstone und seinen Commentaries, vgl. auch unten Kap. III. 2.

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war, die Freiheit zu sichern. Wenn stattdessen wie in Deutschland Recht etwas mit Ordnung zu tun hat – der deutsche Begriff der Rechtsordnung ist letztlich unübersetzbar –, verweist dies auf andersartige Traditionslinien, die in Richtung römisches Recht und seine Rezeption zielen. Diese subtilen Traditionslinien, die den Charakter der britischen Verfassung prägen, wurden jedoch von allen jenen begeisterten Anglophilen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts durchweg übersehen, die nicht müde wurden, die britische Verfassung und ihren Schutz individueller Rechte zu preisen. Daher bemühten sie sich auch gar nicht, in die Niederungen praktischer englischer Politik einzusteigen, deren Verständnis sich flüchtigen Betrachtungen Außenstehender ohnehin entzog. Doch selbst jenseits der britischen Verfassung bleibt das grundlegende Problem, dass zu einem erfolgreichen Verfassungstransfer weit mehr gehört, als einen bestehenden Text zu kopieren und zu adaptieren. Das ihm zugrundeliegende Wirkungsgeflecht ist umso komplexer und im Zweifelsfalle undurchschaubarer, desto weniger der eigentliche Text greifbar ist. Auch Verfassungen des modernen Konstitutionalismus lassen sich nicht einfach kopieren.133

3. Die britische Verfassung als antirevolutionäres Modell im Spiegel der britischen Parlamentsdebatten (1814 – 1851)134 Der moderne Konstitutionalismus ist das Ergebnis von Revolutionen.135 Das Wort von Pougeard Dulimbert vom August 1791 mag daher für nahezu jede moderne Revolution stehen: „[E]s ist Zeit, vom Zustand der Revolution in jenen der Verfassung überzugehen.“136 Selbst für Briten war es nicht einfach, dem offen zu widersprechen, war es doch die Glorreiche Revolution gewesen, die ihre Verfassung neu auf den Prinzipien der Revolution begründet hatte,137 selbst wenn diese Revolution und damit auch die Verfassung im kopernikanischen Sinne als Rückkehr zu

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Vgl. dazu unten Kap. VI. 12. Überarbeitete Version meines Beitrags „A Nineteenth-Century ,Truman Doctrine‘ avant la lettre? Constitutional Liberty Abroad and the Parliamentary Debate About British Foreign Policy from Castlereagh to Palmerston“, in: Constitutionalism, Legitimacy, and Power. Nineteenth-Century Experiences, hrg. v. Kelly L. Grotke u. Markus J. Prutsch, Oxford: Oxford University Press, 2014, 23 – 48. Mein besonderer Dank gilt Harry T. Dickinson, António Manuel Hespanha (†) und Stephen M. Lee für wertvolle Hinweise aufgrund der Lektüre einer früheren Fassung. 135 Vgl. oben Kap. I. 1. 136 Archives parlementaires, 1ère sér., 29 (1888), 724. Vgl. auch François Furet u. Ran Halévi, La Monarchie républicaine: La Constitution de 1791, Paris: Fayard, 1996, bes. 234 – 237. 137 Vgl. John Philipps Kenyon, Revolution Principles. The Politics of Party, 1689 –1720, Cambridge: Cambridge University Press, 1977. 134

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dem Ausgangspunkt und damit zur „alten Verfassung“ verstanden wurde.138 Verfassung und Revolution voneinander abzukoppeln, wie es die offizielle Politik der europäischen Restauration tat, war mit Blick auf die eigenen Geschichte keineswegs eine selbstverständliche Politik für eine britische Regierung dieser Jahrzehnte. Aber die Betonung lag auf „Revolution“. Eine „vernünftige“ Revolution, die wie die Glorreiche Revolution nicht in die hierarchisierte Sozialordnung eingriff, mochte akzeptabel sein. Gewalttätige Revolutionen wie in Frankreich, die Monarchie und Aristokratie beseitigten, waren dagegen rundheraus abzulehnen. Wenn also hier von der britischen Verfassung als antirevolutionärem Modell getreu dem Schlagwort Konstitution gegen Revolution139 gesprochen wird, dann ist mit dem Gebrauch des Begriffs „Verfassung“ offensichtlich nicht eine Verfassung des modernen Konstitutionalismus gemeint, sondern eine Verfassung nach Art der britischen, die die tradierte hierarchisch aufgebaute Gesellschaftsordnung unangetastet ließ und frei war von Schlagworten wie Gleichheit und Volkssouveränität, wie sie die modernen Revolutionen jüngster Zeit geprägt hatten. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weniger homogene Zeitspanne darstellt, als das Thema unterstellen könnte, wohingegen eine Betrachtung im Spiegel der Parlamentsdebatten weniger auf die reale Politik abstellt als vielmehr ihre politische Wahrnehmung und Kommentierung, die dem dieser Politik innewohnenden Konfliktpotential seine zeitgenössische Relevanz verleiht. Wenn man den online Hansard140 von 1814 bis zum Sturz Palmerstons als Außenminister im Dezember 1851141 nach dem Wort „constitution“ (Verfassung) durchsucht, erhält man Zehntausende Hinweise, was dieses Wort zu einem der meistverwandten Termini diese Periode macht. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das Wort „Verfassung“ in weniger als der Hälfte der Fälle einen außenpolitischen Bezug gehabt haben dürfte, dürften immer noch einige Tausend Hinweise 138

Vgl. George Canning: „Unsere Revolution bedeutete nicht die Aufstellung einer neuen Form und Theorie der Regierung, sondern die Rechtfertigung und Erneuerung unserer alten Rechte; die Behauptung unserer alten Freiheiten, die Bestätigung alter und unbezweifelter Privilegien und Freiheiten“ (HC Deb., 1st ser., XXI, 546 [3. Februar 1812]). Vgl. auch Fn. 7. 139 Vgl. Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschlandund Italienpolitik, 1815 – 1848, Göttingen u. Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995. 140 http://hansard.millbanksystems.com/. Leider war die Datenbank zur Zeit ihrer Benutzung (2013/14) nicht vollständig. Einige Bände fehlten in der 1st series (1803 – 1820), während in der 2nd series (1820 – 1830) die Bde. XX und XXI (1829) und der letzte Band XXV (1830) fehlten. In der 3rd series (1830 – 1891) wurden bis zum Ende 1851 vier Bände vermisst, Bde. XLIII, LXXIV, CVI, und CXII, die Lücken von einigen Wochen in den Jahren 1838, 1844, 1849 und 1850 hinterließen. Einige der fehlenden Bände konnten durch andere Quellen ersetzt werden. Die Parlamentsdebatten werden durchgehend als Hansard zitiert nach ihrem ersten Herausgeber Thomas C. Hansard, obgleich die erste Serie ursprünglich begann als William Cobbett’s Parliamentary History. Die Debatten des Oberhauses werden als HL Deb., die des Unterhauses als HC Deb. zitiert, jeweils unter Angabe von Serie, Band und Spalte, wobei das Datum der Debatte in Klammern hinzugefügt wird. 141 Vgl. David Brown, „The Power of Public Opinion: Palmerston and the Crisis of December 1851“, in: Parliamentary History, 20 (2001), 333 – 358.

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bleiben, die deutlich machen, dass „Verfassung“ im Rahmen der britischen Außenpolitik in diesen Jahrzehnten eine wesentliche Rolle spielte. Bevor wir an die Analyse dieses Kontextes gehen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die zugrunde liegenden „Prinzipien der Außenpolitik“ nur selten im Parlament diskutiert wurden,142 da laut der sarkastischen Bemerkung des radikalen William Molesworth „[d]ie Repräsentanten des britischen Volkes sich zu viel um Inneres kümmern müssen, um in der Lage zu sein, viel Aufmerksamkeit für auswärtige Angelegenheiten aufzubringen. Daher erlauben wir der jeweiligen Regierung im allgemeinen in auswärtigen Dingen das zu tun, was sie mag; wir üben wenig oder gar keine Kontrolle über unsere Außenpolitik aus, und der Außenminister ist nahezu unverantwortlich“.143 Über die Ausgabenkontrolle hinausgehend hatte das Parlament in der Tat kaum Einfluss auf die allgemeinen Richtlinien der Außenpolitik.144 Die britische Außenpolitik wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Außenminister geleitet. In unserem Fall sind das Viscount Castlereagh (1812 – 1822), George Canning (1822 – 1827) und Viscount Palmerston (1830 – 1834, 1835 – 1841 und 1846 – 1851). Der Premierminister mochte aktiv involviert sein, während andere Ministerien nur selten direkt eingriffen.145 Die Parlamentsdebatten behandelten die Außenpolitik nie vollständig, da viele Einzelheiten, selbst bedeutsame, dem Parlament unbekannt blieben. Verträge und Erklärungen von Krieg und Frieden hatten ohnehin nicht dem Parlament vorgelegt zu werden, da sie zur Prärogative der Krone gehörten und mithin von der Regierung allein entschieden wurden. 142 Die Beziehung zwischen Außenpolitik und Parlament in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat in der Forschung wenig Beachtung gefunden und oszilliert zwischen zwei Extremen, die auf der einen Seite markiert werden von Jeremy Black, Parliament and Foreign Policy in the Eighteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press, 2004, vgl. auch ders., „Parliament, the Press, and Foreign Policy“, in: Parliamentary History, 25 (2006), 9 – 16, der dem Parlament eine wesentliche Rolle in der Führung der Außenpolitik seit der Glorreichen Revolution zuspricht, und auf der anderen Seite von John Gordon Swift MacNeill, Parliament and Foreign Policy, Westminster: Council for Study of International Relations, 1917, 34, der vehement beklagt, dass die Außenpolitik „vom britischen Kabinett allein bestimmt“ wird und ihre Kontrolle „dem Parlament und Volk verweigert“ wird. Ähnlich, wenn auch nur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgehend, Eugene Parker Chase, „Parliamentary Control of Foreign Policy in Great Britain“, in: American Political Science Review, 25 (1931), 861 – 880. Bagehot hätte an letzteren Behauptungen nichts auszusetzen gefunden, war er doch der Meinung, „das englische Parlament ist in der Außenpolitik ineffizient“. Nach seiner Auffassung war Kontrolle nicht die Aufgabe des Parlaments, sondern „das Prinzip des Parlaments ist Gehorsam gegenüber seinen Führern“ (Walter Bagehot, The English Constitution [1867], m. e. Einl. v. The First Earl of Balfour, London: Oxford University Press, 1963, 117 – 120, 125, 186). Das Problem wird völlig übergangen von Stanley R. Sternbridge, Parliament, the Press, and the Colonies, 1846 – 1880, New York u. London: Garland, 1982. 143 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 505 (27. Juni 1850). 144 Vgl. Charles Ronald Middleton, The Administration of British Foreign Policy 1782 – 1846, Durham, N.C.: Duke University Press, 1977, 7 – 8. 145 Ebd., 7, 44 – 65. Die sich wandelnde Rolle des Hofes muss hier unberücksichtigt bleiben.

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Die Art und Weise, wie das Parlament zwischen 1814 und 1851 mit Außenpolitik umging, ist durch das sich verändernde politische System gekennzeichnet wie durch das Verständnis des Parlaments von seiner Rolle in dieser Übergangszeit von dem unreformierten Parlament der ersten Jahrzehnte und der Situation nach dem großen Reformgesetz von 1832. Seine Veränderungen hatten weitreichende Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments und die allmähliche Herausbildung der modernen politischen Parteien von Konservativen und Liberalen, die an die Stelle der vormaligen eher lose geknüpften politischen Personalverbände von Tories und Whigs traten, die weitgehend zusammengehalten wurden durch die von der Aristokratie dominierten persönlichen und Klientelverbindungen.146 Damit veränderte sich auch die Rolle und das Selbstverständnis von Regierung und Opposition,147 der Charakter der Parlamentsdebatten wurde investigativer und kontroverser und verlor viel von seiner früheren Zurückhaltung gegenüber dem Monarchen als dem formalen Kopf der Regierung. Es war die Zeit, als das politische Leben im Vereinigten Königreich innenpolitisch geprägt war von der Agitation um die Emanzipation der Katholiken, das Gesetz zur Parlamentsreform und die Freihandelsbewegung, während unter globaler Perspektive das Land den Zenit seiner Weltmachtstellung erreichte, weithin symbolisiert durch die Ausstellung im Kristallpalast von 1851. Das Parlament war der Resonanzboden dieser Politik und das Medium, das diese Politik in öffentliche Wahrnehmung transformierte.148 Zumal im Bereich der Außenpolitik waren die Parlamentsdebatten nicht der Augenblick ihrer Schaffung, sondern der, sie öffentlich zu machen, sie anzugreifen oder sie zu verteidigen, und sie im Parlament öffentlich zu machen, hieß für die Regierung intra, doch mitunter noch eher, extra muros.149 Während die Regierung ihre Politik im Laufe der Debatte 146 Vgl. Terence Andrew Jenkins, Parliament, Party and Politics in Victorian Britain, Manchester u. New York: Manchester University Press, 1996; E. A. Smith, The House of Lords in British Politics and Society, 1815 – 1911, London u. New York: Longman, 1992. 147 Vgl. Archibald S. Foord, His Majesty’s Opposition 1714 – 1830, Oxford: Clarendon Press, 1964, bes. 443 – 466. 148 Einige Politiker, unter ihnen Canning, bestanden darauf, ihre Reden nachzulesen und notfalls zu korrigieren, bevor sie im Hansard und anderswo veröffentlicht wurden. Diesen Aspekt übersah John Eric Sidney Green, „Castlereagh’s Instructions for the Conferences at Vienna, 1822“, in: Transactions of the Royal Historical Society, 3rd ser., 7 (1913), 103 – 104, als er behauptet: „Wir können unsere Geschichte nicht dem Hansard entnehmen. Parlamentsreden, so brillant sie auch sein mögen, sind lediglich einseitige Erklärungen und nichts weiter.“ 149 Vgl. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780 – 1867, Stuttgart: Klett-Cotta, 1993, 30, der behauptet, dass das Parlament sich nur in Ausnahmefällen an die Öffentlichkeit wandte. Zumindest soweit es um die Außenpolitik ging, kann dies nicht die generelle Regel gewesen sein. Das Recht der Öffentlichkeit – „Fremde“ in der Terminologie des Parlaments –, an den Sitzungen beider Häuser teilzunehmen, bestand zwar nicht de jure, wurde aber in der Praxis allgemein anerkannt, vgl. Thomas Erskine May, A Treatise Upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament, London: Charles Knight & Co, 1844, 163, 164. Der Tag, an dem die Regierung auf eine bestimmte eingereichte Frage antworten werde, wurde ein bis zwei Wochen im Voraus öffentlich bekannt gemacht, vgl. ebd., 166 – 170. Vgl. auch Smith, The House of Lords in British Politics and Society, 40 – 41. Über den zunehmenden Gebrauch der Presse zugunsten politischer

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präzisieren mochte, bestand sie darauf, wie diese Politik vom Parlament, der Öffentlichkeit und den auswärtigen Regierungen verstanden werden sollte, wohingegen die Opposition diese Debatten zunehmend nutzte, diese Politik herauszufordern, um sie zu verändern oder zu beenden und den verantwortlichen Minister in Verlegenheit zu bringen und, falls möglich, zu stürzen. Das Recht des Parlaments, dass die einschlägigen „Unterlagen auf den Tisch gelegt“ werden,150 konnte sich als reichlich scharfe Waffe erweisen, selbst wenn es sich dabei um bereits länger zurückliegende Vorkommnisse einer immer noch amtierenden Regierung handelte. Parlamentsdebatten über Außenpolitik waren daher stets eine besondere Mischung aus Außenpolitik, sich entwickelnder Parteipolitik und öffentlicher Meinung, die die britische Politik nachdrücklich von der anderer europäischer Mächte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschied. Die politische Statur von Außenministern wie Canning und Palmerston angesichts unverhohlener königlicher Ablehnung war in nicht geringem Maße das Ergebnis ihrer Fähigkeit, „die Galerie zu bedienen“.151 Angesichts dieser allgemeinen Situation soll es im Folgenden darum gehen darzulegen, wie sich die britische Außenpolitik zwischen 1814 und 1851 entwickelte, welche Rolle „Verfassung“ in diesem Zusammenhang spielte und wie das Parlament auf diese Politik reagierte. Meine These wird dabei sein, dass das britische Verfassungsdenken von Castlereagh über Canning bis Palmerston – wobei letzterer den Begriff Interventionismus substantiell neu definierte – eine ständig bedeutendere Richtschnur dieser Politik im Einklang mit der zunehmenden Weltmachtstellung des Landes wurde, um revolutionäre Veränderungen zu verhindern und dass es für das Parlament, selbst unter Einschluss seiner Mitglieder auf den Regierungsbänken, immer schwieriger wurde, mit dieser Politik und ihren Folgen mitzuhalten. In der Bekämpfung moderner Revolutionen hatte Großbritannien behutsam die Politik der Verfassungsgebung zur Abwehr des revolutionären modernen Konstitutionalismus eingeschlagen und 1780 einen ersten Versuch mit dem Projekt einer

Bestrebungen und Eigenwerbung der Politiker und der damit neben dem Parlament geschaffenen zweiten Bühne für politische Debatten, vgl. David Brown, Palmerston and the Politics of Foreign Policy, 1846 – 55, Manchester u. New York: Manchester University Press, 2002, 25 – 33; Ellis Archer Wasson, „The Whigs and the Press, 1800 – 50“, in: Parliamentary History, 25 (2006), 68 – 87. Allgemeiner über die Whigs und die öffentliche Meinung in den Jahrzehnten vor 1832, Andreas Wirsching, „Popularität als Raison d’être. Identitätskrise und Parteiideologie der Whigs in England im frühen 19. Jahrhundert“, in: Francia, 17/3 (1990), 1 – 13, und ders., Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts, Göttingen u. Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, 83 und passim, der „die enge Verklammerung zwischen Unterhaus und Öffentlichkeit“ betonte. 150 „Das Parlament, in der Ausübung seiner verschiedenen Funktionen, ist ausgestattet mit der Befugnis, die Offenlegung aller Dokumente, die zu seiner Information erforderlich sind, anzuordnen“ (May, A Treatise Upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament, 309). Gut zwei Jahrzehnte zuvor wurde es noch hingenommen, dass die Regierung diese Information verweigern konnte, vgl. Hansard, HC Deb., 2nd ser., IV, 935 (23. Februar 1821). 151 Brown, „The Power of Public Opinion“, 333.

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Verfassung für Neu-Irland gestartet,152 ein fehlgeschlagener Versuch, amerikanische Loyalisten in einer eigenen Kolonie auf dem Gebiet des heutigen amerikanischen Bundesstaates Maine anzusiedeln. Die nächsten Versuche wurden durch die Französische Revolution bzw. die napoleonischen Kriege veranlasst, nämlich 1794 auf Korsika und 1812 auf Sizilien.153 Es war eine Politik ohne dauerhafte Folgen. Ihr moderater Erfolg war weitgehend begrenzter Natur und hat daher wesentlich zum Strategiewechsel nach 1814 beigetragen. Mit dem Ende der napoleonischen Kriege wurde diese Politik der unmittelbaren Auferlegung einer Verfassung in einem fremden Staat oder der direkten Intervention zur Sicherstellung einer entsprechenden Verfassung durch die Politik der NichtIntervention ersetzt. Nach Auffassung einer Reihe von oppositionellen Whigs war dies das Ergebnis einer Komplizenschaft mit den autokratischen Mächten Mittelund Osteuropas. Im zurückliegenden Vierteljahrhundert hatte Großbritannien, so Lord Holland, „sich mit der revolutionären Regierung Frankreichs angelegt. Wir mischten uns ein aus Gründen der nationalen Unabhängigkeit und der öffentlichen Freiheit; und wir proklamierten laut gegen die Usurpationen Bonapartes das klare und legitime Prinzip, auf dem jede Regierung begründet sein sollte“.154 Oppositionelle Whigs fanden es nur natürlich, eine derartige Politik fortzusetzen.155 Die Tories widersprachen heftig. Lord Liverpool, der Premierminister, wies die Auffassung zurück, „dass auswärtige Mächte berechtigt sind, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen“.156 Castlereagh157 lehnte noch kategorischer die Vorstellung einer Politik der Intervention ab, die auf der Anmaßung fußte, die Wohltaten der britischen Verfassung über den Globus auszubreiten: „Er missbilligte jedoch die Doktrin, dass die Untertanen von Regierungen, die sich nicht auf ein repräsentatives System gründeten, berechtigt waren, ihre Treue aufzukündigen und zu den Waffen zu greifen, um ein solches zu erreichen. Ein derartiger Versuch, die Freiheiten der Menschheit zu erzwingen, sei das letzte, zu dessen Annahme wir raten sollten.“158 152

Abgedruckt in Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 9 – 11. 153 Die jeweiligen Verfassungstexte sind abgedruckt in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 255 – 246, und Documenti costituzionali di Italia e Malta 1787 – 1850, hrg. v. Jörg Luther, 2 Bde., Berlin – New York: de Gruyter, 2010, II, 289 – 343. 154 Hansard, HL Deb., 2nd ser., IV, 779 (19. Februar 1821). 155 Vgl. Hansard, HC Deb., 2nd ser., VI, 43 (5. Februar 1822). 156 Hansard, HL Deb., 2nd ser., IV, 765 (19. Februar 1821). 157 Zu Castlereaghs Außenpolitik, vgl. generell Muriel E. Chamberlain, ,Pax Britannica‘? British Foreign Policy, 1789 – 1914, London u. New York: Longman, 1988, bes. 41 – 59. 158 Hansard, HC Deb., 2nd ser., IV, 873 – 874 (21. Februar 1821). Die Doktrin der NichtIntervention hatte Castlereagh in seiner berühmten Denkschrift vom 5. Mai 1820 niedergelegt: „Das Prinzip, dass sich ein Staat gewaltsam in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einmischt, um Gehorsam unter die Autorität einer Regierung zu erzwingen, ist stets eine Frage der größtmöglichen Moral als auch politischer Delikatesse, und es kann hier nicht darum

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Metternich dürfte mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis genommen haben, dass der britische Außenminister sein Land öffentlich auf eine Politik der Nichteinmischung in Neapel festgelegt hatte. Canning, Castlereaghs anhaltender Rivale,159 kam zwar im Wesentlichen zu denselben Schlussfolgerungen, formulierter aber noch schärfer: „Wollte Gott, die britische Verfassung ließe sich auf andere Länder übertragen und könnte dort Wurzeln schlagen! Doch der Gedanke, sie in anderen Ländern mit der Gewalt des Schwertes aufzurichten, ist zu hirnrissig, um ihm nachzugehen. […] Lasst jene, die sich nicht des Glücks erfreuen, das wir dank unserer stabilen Verfassung genießen, und die mit Beschwernissen zu kämpfen haben, jenes Glück und jene Beseitigung mit unserem guten Willen suchen; aber lasst uns nicht in einer törichten romantischen Anwandlung glauben, wir allein könnten Europa regenerieren. […] [I]n derartigen Kämpfen ist es nicht unsere Pflicht, Partei zu ergreifen.“160

Während die Whigs mit deutlicher Sympathie den sich ausbreitenden modernen Konstitutionalismus in Spanien, Neapel und anderen Teilen Europa betrachteten und wünschten, Großbritannien wäre bereit, zumindest moralische Unterstützung, wenn nicht mehr zu leisten, bestand die Tory Regierung auf Großbritanniens vertraglichen Verpflichtungen für Frieden und Stabilität in Europa und verfolgte eine Politik der strikten Nicht-Einmischung. Diese Politik stieß auf wachsenden Widerstand im Parlament, konnte sie doch nur zu leicht ausgelegt werden als Kumpanei mit den Verfechtern der Restauration gegen all jene, die für verfassungsmäßige Freiheit eintraten. Es waren exakt diese Argumentationslinien, die die Parlamentsdebatten über Sir Thomas Maitland und die Verfassung der Ionischen Inseln bestimmten. 1809 hatte Großbritannien begonnen, die ionischen Inseln zu besetzen, die der zweite Pariser Vertrag vom November 1815 zu „einem einzigen, freien und unabhängigen Staat […] unter dem unmittelbaren und ausschließlichen Schutz seiner Majestät des Königs des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland“ gehen, diese zu untersuchen.– Es ist allein wichtig unter den gegebenen Umständen festzuhalten, dass die Verallgemeinerung eines derartigen Prinzips in dem Glauben, es zu einem System oder zu einer Verpflichtung erklären zu können, ein völlig unpraktischer und anstößiger Plan ist. Es besteht nicht nur die physische Unmöglichkeit einen solchen Plan auszuführen, sondern es ist auch die moralische Untauglichkeit, die sich aus der Unfähigkeit bestimmter Staaten ergibt, entsprechendes zu erkennen und danach zu handeln. – Kein Land mit einem repräsentativen Regierungssystem könnte danach handeln, – und je eher entschieden abgeschworen wird, dass eine derartige Doktrin in irgendeiner Weise die Grundlage unserer Allianz ist, umso besser“ (Harold Temperley u. Lillian M. Penson, [Hrgg.], Foundations of British Foreign Policy From Pitt (1792) to Salisbury (1902), or Documents, Old and New, Cambridge: Cambridge University Press, 1938, 61, vgl. 48 – 63 für das ganze Dokument). Nach Robert William Seton-Watson, Britain in Europe, 1789 – 1914. A Survey of Foreign Policy [1937], Cambridge: Cambridge University Press, 1955, 71 – 72, hatte Canning „großen Einfluss auf die Abfassung der Denkschrift“ sowie generell auf Castlereaghs letzte vier Jahre im Außenministerium. 159 Vgl. Giles Hunt, The Duel: Castlereagh, Canning and Deadly Cabinet Rivalry, London u. New York: Tauris, 2008. 160 Hansard, HC Deb., 2nd ser. IV, 1374 – 1375 (20. März 1821).

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stellte.161 Im Dezember 1815 hatte die britische Regierung Sir Thomas Maitland zum Hochkommissar (Lord High Commissioner) der Ionischen Inseln und zum Oberkommandierenden im Mittelmeer, mit Ausnahme von Gibraltar, in Ergänzung zu seiner Aufgabe (seit 1813) als Gouverneur von Malta ernannt.162 Maitland, der zweite Sohn des siebten Earl of Lauderdale, hatte sich als Armeeoffizier und Kolonialbeamter in Ost- und Westindien ausgezeichnet, unterbrochen von Perioden als Parlamentsmitglied. Er war gut vernetzt, doch angesichts seines unbeherrschten Charakters nicht immer sonderlich gelitten. Obwohl nach seiner Familie ein Whig war er ein eingefleischter Imperialist („König Tom“) mit wenig Respekt gegenüber jenen unter ihm.163 Der Vertrag, der die Vereinigten Staaten der Ionischen Inseln unter britischem Protektorat stellte, war mehrdeutig. Während Art. III festlegte, „[d]ie Vereinigten Staaten der Ionischen Inseln regeln ihre inneren Angelegenheiten mit Zustimmung der Schutzmacht“, hieß es in Art. IV: „Um die Bestimmungen der voraufgehenden Artikel ohne Verzug zur Ausführung zu bringen und die politische Reorganisation, wie sie gegenwärtig in Kraft ist, zu begründen, regelt der Hochkommissar der Schutzmacht die Art und Weise der Einberufung der gesetzgebenden Versammlung, deren Verhandlungen er vorsitzt, um eine neue konstitutionelle Charta der Staaten zu entwerfen, die seine Majestät der König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland verpflichtet ist zu ratifizieren.“164

Dies hätte die Gelegenheit sein können, der ionischen gesetzgebenden Versammlung zu helfen, eine Verfassung im Einklang mit den liberalen Grundlinien der britischen Verfassung und unter Berücksichtigung der Befugnisse und Verpflichtungen des Hochkommissars zu entwerfen, die der Vertrag offen gelassen hatte. Was diese Befugnisse tatsächlich waren und welchen Status die Schutzmacht besaß, war völlig offen. 161 Hansard, HC Deb., 1st ser., XXXII, 296 (2. Februar 1816; Art. I und II des Vertrags zwischen Großbritannien und Russland usw. bezüglich der Ionischen Inseln, unterzeichnet in Paris am 5. November 1815 als Anhang. XIV des zweiten Pariser Vertrags). 162 Zu Maitlands Rolle in Malta, vgl. die kritischen Bemerkungen George Cornwall Lewis von 1836, zitiert von Cyril Willis Dixon, The Colonial Administration of Sir Thomas Maitland [1939], New York: Augustus M. Kelley, 1969, 138, und Dixons eigenen Kommentar: „Er war ein aufgeklärter Depot.“ (ebd., 139). Ähnlich Harrison Smith, Britain in Malta, I: Constitutional Development of Malta in the Nineteenth Century, Malta: Progress Press, 1953, 9 – 16, der, wenn auch zustimmend, von Maitlands „Ein-Mann-Herrschaft“ sprach. 163 Vgl. Neville Thompson, „The British Protectorate of the Ionian Islands and The Greek War of Independence, 1815 – 1827“. in: Proceedings of the Consortium on Revolutionary Europe 1750 to 1850, 23 (1993), 304. Vgl. auch David Hannell, „The Ionian Islands under the British Protectorate: Social and Economic Problems“, in: Journal of Modern Greek Studies, 7 (1989), 105 – 132. Aus griechischer Perspektive auch Gerassimos D. Pagratis, „The Ionian Islands under British Protection (1815 – 1864)“, in: Anglo-Saxons in the Mediterranean. Commerce, Politics and Ideas (XVII-XX Centuries), hrg. v. Carmel Vassallo u. Michela D’Angelo, Malta: Malta University Press, 2007, 131 – 150. 164 Hansard, HC Deb., 1st ser., XXXII, 296 (2. Februar 1816).

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„Er wisse kaum, wie über die Ionischen Inseln zu sprechen sei, gehören sie uns oder nicht – alles, was er wisse, ist, dass sie unter unseren Schutz gestellt sind und dass Sir Thomas Maitland Gouverneur von Malta ist und dass er die Oberaufsicht über diese Inseln ausübe. Er verstünde das so, dass die Natur unserer Verbindung mit den Ionischen Inseln keine koloniale, sondern eine politische sei; – und dass es das Außenministerium sein müsse, mit dem Sir Thomas Maitland nahezu seine gesamte Korrespondenz zu führen habe.“165

George Tierney war nicht der einzige, dem unklar war, was ein Schutzstaat bedeutete.166 Auch vielen anderen Whigs war unwohl angesichts einer Regierung, die von Anbeginn an die Ionischen Inseln wie eine Kolonie behandelte. Wie auch immer der Vertrag interpretiert werden mochte, schrieb Maitland mit aufreizender Verzögerung die Verfassung und brachte die unterwürfige gesetzgebende Versammlung dazu, sie anzunehmen und die Krone, sie im Dezember 1817 zu ratifizieren.167 Statt ein liberales politisches System auf der Grundlage einer verantwortlichen repräsentativen Regierung einzuführen, war damit die autoritäre despotische Herrschaft des Hochkommissars hinter der Fassade einer Scheinverfassung errichtet.168 Maitland stand im Zentrum der legislativen, exekutiven und richterlichen Gewalt; er kontrollierte neben der britischen Garnison die lokale Polizei und das Schatzamt. Nicht einmal Napoleon hatte derart unverfroren jeden konstitutionellen Anstand beiseite gewischt. Maitland regierte entsprechend,169 und Beschwerden über seinen Despotismus rissen nicht ab und führten nach wenigen Jahren selbst zur Intervention des russi165

Hansard, HC Deb., 1st ser., XXXVI, 58 (29. April 1817). Tatsächlich korrespondiert Maitland mit Bathurst, dem Minister für Krieg und die Kolonien. Diese nicht mit dem Vertrag und dem Völkerrecht übereinstimmende britische Politik hat erstaunlich wenig Kritik seitens der Zeitgenossen und der modernen Forschung hervorgerufen. Immerhin sprach Bruce Know von „der fragwürdigen rechtliche Möglichkeit, einen Schutzstaat als Kolonie zu annektieren“ (Bruce Know, „British Policy and the Ionian Islands, 1847 – 1864: Nationalism and Imperial Administration“, in: The English Historical Review, 99 [1984], 503). 166 Über den völkerrechtlichen Unterschied zwischen einem Schutzstaat und einem Protektorat, vgl. Christos Papadopoulos, Die Ionischen Inseln von der Venezianerherrschaft bis zum Wiener Kongress. Eine völkerrechtliche Analyse unter dem Aspekt der Staatensukzession, Münster: LIT, 2003, 28 – 29, 36 – 42. 167 Vgl. Maria Paschalidi, Constructing Ionian Identities: The Ionian Islands in British Official Discourses, 1815 – 1864, PhD diss., University College London, 2009, 95 – 104. 168 https://www.worldstatesmen.org/Ionian_Islands-charter1817.pdf (Zugang 28. 6. 2020). Nach zwei kleineren Revisionen 1836 und 1842 wurde die Pressefreiheit 1848 in der Verfassung verankert und die Rolle der Legislative 1849 gestärkt. Zu dieser „Pseudo-Verfassung“, vgl. Robert Montgomery Martin, History of the British Colonies, 5 Bde., London: James Cochrane, 1834 – 1835, V, 308; Dixon, The Colonial Administration of Sir Thomas Maitland, 187 – 195; Thompson, „The British Protectorate of the Ionian Islands“, 305. Maitland hatte eine repräsentative Regierung bereits 1815 ausgeschlossen, vgl. das Zitat in Walter Frewen Lord, Sir Thomas Maitland: The Mastery of the Mediterranean [1897], o. O.: General Books, 2009, 83, auch 91; Dixon, The Colonial Administration of Sir Thomas Maitland, 184 – 185; Martin Young, Corfu and the other Ionian Islands, London: Jonathan Cape, 31981, 68. 169 Dixon, The Colonial Administration of Sir Thomas Maitland, 210: „Sir Thomas Maitland war ein Despot.“

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schen Außenministers und Korfioten Ioannis Capodistria,170 doch die meisten gelangten nie zur Kenntnis des Parlaments. Eine erste knappe Debatte über die Ionischen Inseln kam im Oberhaus auf, endete jedoch mit einem „Persilschein“ für Maitland. Sein Bruder, der Earl of Lauderdale, attestierte ihm „Respekt für die Verfassung und die Privilegien der Einwohner“, während sein de facto Chef, der Minister für Krieg und die Kolonien, Earl Bathurst ihn enthusiastisch pries und feststellte, „dass die gesamte Verwaltung von Sir T. Maitland die höchste Anerkennung verdiente: eine äußerst bedeutende und delikate Verantwortung wurde ihm übergeben – eine Verantwortung besonderer Natur, für deren Erledigung er ohne Rückgriff auf vergangene Erfahrungen auskommen musste. Diese jedoch hat er ausgeführt mit äußerster Gelassenheit, Fähigkeit und Mäßigung. Es gibt keinen Gouverneur in den verschiedenen Kolonien und abhängigen Gebieten Großbritanniens, der in aufrichtigerer, ehrenhafterer, gewissenhafterer und klügerer Weise gehandelt hat.“171

Unbeeindruckt von Maitlands Freunden in höchsten Kreisen attackierte der Radikale Joseph Hume den autokratischen Herrscher unablässig: „Dem Hochkommissar wird vorgeworfen, dass, während vor seiner Ankunft öffentliche Staatsämter als Ehrenämter angesehen wurden und wie die unserer Friedensrichter ohne Bezahlung besetzt wurden, er es angemessen gefunden hat, sie nun alle zu vergüten und die Zuwendungen an andere erheblich erhöht hat: die Folge war, dass die ionischen Steuereinnahmen völlig aufgebraucht waren. Doch mit dieser Maßnahme wurden alle Ämter abhängig vom Hochkommissar, und selbst die Richter konnten nach seinem Gutdünken entfernt werden. Die Eingeborenen fanden in unserem Schutz keine jener Wohltaten, die man sie lehrte zu erwarten.“172

Als vier Monate später die nächste Debatte über die Ionischen Inseln im Unterhaus auf der Tagesordnung stand, feuerte Hume eine noch schärfere Breitseite auf Maitland und konzentrierte sich auf die Verfassung, „eine völlige Zumutung und Farce angesichts seiner Regierung. Sein oberstes Anliegen sei zu zeigen, dass sie nichts als eine Verspottung der Freiheit sei, da die gesamte Gewalt in den Händen von Sir T. Maitland liege.“ Er habe das ionische Volk erbost, das „sich weigerte zu wählen; es war empört über eine derartige Farce der Repräsentation, und das unabhängige Parlament dieses freien Volkes war in der Tat ernannt von Sir T. Maitland“. Seine Zusammenfassung, gleichsam von Schotte zu Schotte, lautete: „Nichts

170 Vgl. ebd., 200 – 203; Paschalidi, Constructing Ionian Identities, 119 – 137. Ebenfalls, wenn auch sehr voreingenommen, Lord, Sir Thomas Maitland, 105 – 113. 171 Hansard, HL Deb., 2nd ser., II, 488 (17. Juli 1820). Es bietet sich an, diesen Lobeshymnen die höchst negative Kommentare von General Napier gegenüber zu stellen, zit. in Young, Corfu and the other Ionian Islands, 127. 172 Hansard, HC Deb., 2nd ser., IV, 934 (23. Februar 1821). Bezüglich der „groben Entstellungen von Joseph Hume“, vgl. Lord, Sir Thomas Maitland, 122 – 126.

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könnte schlimmer sein als das System einer schottischen Gemeinde; und die Kopie kommt dem Original ziemlich nahe.“173 Hume wurde tatkräftig unterstützt von Henry Grey Bennet. Er nannte die Verfassung „ein bloßes Gespött, ein Trick, ein Schwindel. Hochtönend und pompös in der Tat; etwas für das Ohr, ein wenig für die Augen; aber tatsächlich in der Substanz – nichts. Es war etwas wie jene Verfassungen, die die französische Regierung in den letzten zwanzig Jahren immer wieder promulgiert hat; aber was immer ihre besonderen Prahlereien waren, in dem einen Fall die Macht des Kaisers, in dem anderen die exorbitante Macht des Hochkommissars haben sie in Wirklichkeit abgeschafft. Was den Hochkommissar angeht, hat er die Verfassung, die er diesem Volk gegeben hat, so gestaltet, dass, während es so aussah, als hätte er einige seiner Maßnahmen unter den Vorbehalt des Parlaments gestellt, er in der Tat hinter den Kulissen der Kopf war, der Meister Punchinello, der die Puppen bediente, wie es ihm gefiel und alle ihre Bewegungen steuerte.“174

Harte Worte, doch die Abstimmung machte deutlich, dass die überwiegende Mehrheit fest auf Seiten der Regierung stand.175 Ein Jahr später unternahm Hume einen dritten Versuch, die Mehrheit des Unterhauses zu gewinnen: „Die Griechen schauten auf zu [den Briten] als ihre Wohltäter, sie hielten sie für die Verwirklicher ihrer Freiheit; und von den Händen, die ein derart unschätzbares Geschenk übergeben konnten, waren sie geneigt, alles zu erhoffen. Gegenwärtig jedoch wird selbst der Name England von allen Griechen verabscheut; und sie erwarten mit ungeduldiger Anspannung den Augenblick, in dem sie in der Lage sein werden, sich aus dieser abscheulichen Knechtschaft zu befreien, in die sie uns beschuldigen, sie gebracht zu haben und dieses unausstehliche Joch zu brechen, das ihrem Land auferlegt zu haben, sie uns vorwerfen.{Hört!} Sie haben in Wahrheit von uns den leeren Schein einer repräsentativen Verfassung erhalten […], doch es war ein perfekter Despotismus unter Sir T. Maitland, der alles beherrschte.“176

Obwohl Hume zahlreiche Beispiele finanziellen Missmanagements und von Maitlands Despotismus brachte, wurde sein Antrag, ein Untersuchungsausschuss zur Situation auf den Ionischen Inseln einzusetzen, vom Unterhaus mit 67 gegen 152 Stimmen abgelehnt.177 Es gab weitere Gelegenheiten, die Situation der Ionischen Inseln zur Sprache zu bringen, doch keine weitere Debatte wurde speziell diesem Thema in den 1820er

173

Hansard, HC Deb., 2nd ser., V, 1132 – 1133 (7. Juni 1821). Ein ähnlicher ionischer Kommentar findet sich bei Dixon, The Colonial Administration of Sir Thomas Maitland, 213, 214. 174 Hansard, HC Deb., 2nd ser., V, 1145 (7. Juni 1821). 175 Hansard, HC Deb., 2nd ser., V, 1149 (Ja-Stimmen 27, Nein-Stimmen 97; 7. Juni 1821). 176 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VII, 570 (14. Mai 1822). 177 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VII, 596 (14. Mai 1822).

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Jahren gewidmet.178 Maitland kehrte 1823 nach Malta zurück, wo er Anfang 1824 verstarb. Das Parlament, konservativ in seiner Mehrheit, und die Regierung waren nach Jahrzehnten des Kriegs gegen das revolutionäre Frankreich und Napoleon nicht geneigt, sich weiterhin in Europa einzumischen. Selbst wenn für Liberale auf dem Kontinent Großbritannien immer noch Beispiel und Inspiration war und zahlreiche Whigs im Parlament eine Verpflichtung verspürten, ihnen zumindest moralische Unterstützung zu leisten, weigerte sich Castlereagh beständig, eine Politik des Eintretens zugunsten freiheitlicher Verfassungen zu verfolgen. Nach seiner Überzeugung waren die Verfassungen am besten, die in Europa Frieden und Stabilität sicherten, was immer ihr liberaler Wert sein mochte. Auch wenn er persönlich Sympathien für ein „vernünftiges“ Maß an verfassungsmäßiger Freiheit haben mochte, blieben diese Sympathien stets den bestimmenden Prinzipien von Frieden und Wahrung der bestehenden Gesellschaftsordnung untergeordnet. Selbst wo Großbritannien die Macht des Handelns hatte, wie auf den Ionischen Inseln, und eine Verfassung einführte, weigerte es sich, Maßnahmen zur Verbreitung seiner eigenen konstitutionellen Überzeugungen zu ergreifen, um die autokratischen Mächte Europas nicht zu irritieren, und die abweichende Minderheit im Parlament war zu schwach, mehr tun zu können, als nach Gelegenheiten Ausschau zu halten, die Dinge öffentlich zu machen und der Regierung die Verantwortung dafür zuzuschieben. Castlereaghs Selbstmord im August 1822179 brachte George Canning zurück ins Außenministerium.180 Es ist behauptet worden, die dadurch erforderliche Kabinettsumbildung, die Cannings Position stärkte,181 habe „eine Periode eines liberalen Toryismus in der Regierung Liverpool“ bewirkt.182 Gemäß dieser Interpretation teilten diese „Liberalen“ nicht die interventionistische Haltung vieler Whigs, waren vielmehr gemäßigter und neutral in ihren Vorstellungen, doch offener gegenüber einem freihändlerischen Individualismus als die sogenannten ultra oder High Tories. Die Bedeutung evangelikaler eschatologischer Auffassungen dürfte im Fall Canning

178 Noch 1840 kam Hume auf die Lage unter Maitland zurück und hoffte auf Reformen, vgl. Hansard, HC Deb., 3rd ser., LV, 67 (23. Juni 1840). 179 Vgl. Harford Montgomery Hyde, The Strange Death of Lord Castlereagh, London usw.: Heinemann, 1959. Was immer die Verdienste von Hydes Erpressungstheorie sein mögen, hat die Forschung doch stärker zu der Auffassung geneigt, dass Castlereagh unter einer schweren psychotischen Depression litt, vgl. Wendy Hinde, Castlereagh, London: Collins, 1981, 280 – 281; Patrick M. Geoghegan, Lord Castlereagh, Dublin: Historical Association of Ireland, 2002, 60 – 61. Erst 2008 hat Hunt, The Duel, 177 – 185, überzeugend argumentiert, dass Castlereagh an Syphilis litt, die er sich wahrscheinlich als Student in Cambridge zugezogen hatte. 180 Vgl. Harold Temperley, The Foreign Policy of Canning, 1822 – 1827. England, the NeoHoly Alliance, and the New World, London: Bell, 1925, 27 – 34. 181 Vgl. Paul Jacques Victor Rolo, George Canning. Three Biographical Studies, London: Macmillan, 1965, 132 – 133. Über das Misstrauen und die Intrigen seiner Gegner, einschließlich des Königs, in den Jahren 1822 – 1824, ebd., 115 – 127. 182 Stephen M. Lee, George Canning and Liberal Toryism, 1801 – 1827, Woodbridge: Royal Historical Society/Boydell Press 2008, 137.

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irreführend sein,183 doch seine abgewandelte Interpretation einer Politik der NichtEinmischung schlug sich im Parlament in der sich entwickelnden spanischen Krise nieder. In Verona hatten die europäischen Mächte gegen den Widerspruch Großbritanniens beschlossen, in Spanien militärisch zu intervenieren, falls die liberale CadizVerfassung nicht abgeschafft würde.184 Der Innenminister Sir Robert Peel, der Frankreich jedes Recht einer Intervention in Spanien absprach, schlug dagegen vor, „dass Spanien einige Änderungen an dem, was die spanische Verfassung genannt wird, zulassen sollte; denn er glaubte, dass solche Veränderungen geeignet wären, Spaniens Interessen am besten zu befördern und seinen Rechten am besten zu dienen“.185 Analog zu dieser verbal modifizierten Nicht-Einmischungspolitik erklärte Canning zwei Monate später, dass, „da Großbritannien seine eigenen politischen Institutionen nicht als das Modell hinstelle, nach dem jene anderer Staaten gebildet werden sollten oder als das einzige System, aus dem nationale Freiheit und Glück flössen, so könne es auch nicht Frankreich erlauben, sein Beispiel zur Regel für andere Nationen zu machen“.186 Es blieb dem Schatzkanzler Frederick John Robinson, dem späteren Viscount Goderich und Cannings Nachfolger als Premierminister im August 1827, vorbehalten, die prononcierteste Stellungnahme dieser veränderten Politik im Parlament abzugeben: „Er wüsste nicht, wie er sich anschicken könnte, vor das Unterhaus zu treten, würde er für einen Augenblick abstreiten, dass der Besitz einer freien Verfassung für Spanien ein Segen ist, wie es das für jedes andere Land sein muss. Würde irgendjemand wagen zu sagen, die Minister seiner Majestät hätten in der Politik, die sie verfolgen, irgendeine Gleichgültigkeit gegenüber der Sache der Freiheit zum Ausdruck gebracht oder hätten eine Abneigung gezeigt, anderen Ländern jene Freiheit zu gewähren, die die Bevölkerung dieses Lande so glücklich genießt? […] Das Haus muss erkennen, dass sie nicht ständig in einem Krieg mit Gewalt gegen die Freiheit eintreten können, doch zur gleichen Zeit sollten sie besonders darauf achten, sich nicht auf die Seite einer Revolution gegen bestehende Institutionen zu stellen.“187

183

Ebd., 137 – 151. Zu Canning als „philosophischem Tory“ und seine außenpolitischen Vorstellungen, vgl. Temperley, The Foreign Policy of Canning, 35 – 49. 184 Zur Rezeption der Verfassung von Cadiz in Deutschland, s. unten Kap. VI. 3. und VI. 4. 185 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VIII, 66 (4. Februar 1823). Canning sandte in der Tat, wenn auch vergeblich, Lord Fitzroy Somerset 1823 nach Spanien, um diese Veränderungen zu erreichen, vgl. Augustus Granville Stapleton, Intervention and Non-Intervention, or The Foreign Policy of Great Britain From 1790 To 1865, London: John Murray, 1866, 9. 186 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VIII, 885 – 886 (14. April 1823). Zu Cannings diplomatischen Bemühungen im Februar 1823, den heraufziehenden Krieg abzuwenden, vgl. Edward J. Stapleton (Hrg.), Some Official Correspondence of George Canning [1887], 2 Bde., New York: Kraus, 1970, I, 69 – 88. 187 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VIII, 1387 – 1388 (29. April 1823).

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Wo Castlereagh eine strikte Politik der Nicht-Einmischung verfolgt hatte, selbst auf die Gefahr hin, dass dies als Parteinahme für die bestehende Ordnung gegen liberale Verfassungsbemühungen ausgelegt werden konnte, zögerten Canning und die „liberalen“ Tories nicht, offen Sympathien für letztere an den Tag zu legen.188 Lord Ellenborough, obgleich weniger ein Canning Anhänger als andere, hatte keine Skrupel zu erklären, die spanische Verfassung sei „begründet auf dem Prinzip von Runnymede“.189 Auch wenn die Regierung nicht in Spanien intervenierte und die legitime Ordnung hochhielt, machte sie deutlich, dass eine britische Politik der Nicht-Einmischung nicht länger für selbstverständlich gehalten werden konnte.190 188 Vgl. Temperley u. Penson (Hrgg.), Foundations of British Foreign Policy, 84 – 87, die betonten, „dass Canning weit davon entfernt war, ein unkritischer Unterstützer von Verfassungen“ zu sein (86), doch gehen sie zu weit, ihm ihre völlige Missachtung in seiner Außenpolitik zu unterstellen. 189 Hansard, HL Deb., 2nd ser., VIII, 1252 (24. April 1823). 190 Zumal in der älteren Literatur wurden die Unterschiede in der Politik Castlereaghs und Cannings – bedeutender im Stil als in der Sache – erheblich übertrieben und Castlereagh vorgeworfen, er hätte gemeinsame Sache mit dem autoritären Europa gemacht, während Canning aktiv für die Freiheit anderer Länder eingetreten sei, vgl. A Brief Exposition of the Foreign Policy of Mr. Canning, As Contrasted With That of the Existing Administration, London: J. Hatchard and Son, 1830, 12 – 15; Augustus Granville Stapleton, The Political Life of the Right Honourable George Canning From His Acceptance of the Seals of the Foreign Department, in September, 1822, To the Period of His Death, in August, 1827, 3 Bde., London: Longman, 21831, I, 136 – 141; Montagu Burrows, The History of the Foreign Policy of Great Britain, New York: G. P. Putnam’s Sons, 1895, 318 – 321. Auch Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 637 (28. Juni 1850). Im 20. Jahrhundert wurde die Identität der Politik Castlereaghs und Cannings übertrieben, vgl. Harold William Vazeille Temperley, „The Foreign Policy of Canning, 1820 – 1927“, in: The Cambridge History of British Foreign Policy 1783 – 1919, hrg. v. Adolphus William Ward u. George Peabody Gooch, II, Cambridge: Cambridge University Press, 1923, 51 – 53; Temperley, The Foreign Policy of Canning, 447 – 448; Charles Kingsley Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, 1815 – 1822: Britain and the European Alliance, London: Bell, 1925, 13 – 19; ders., The Foreign Policy of Castlereagh, 1812 – 1815: Britain and the Reconstruction of Europe [1931], London: Bell, 1950, 485 – 499; Algernon Cecil, British Foreign Secretaries 1807 – 1916. Studies in Personality and Policy [1927], Port Washington, N.Y. u. London: Kennikat Press, 1971, bes. 55 – 58; John Arthur Ransome Marriott, Castlereagh: The Political Life of Robert, Second Marquess of Londonderry, London: Methuen, 1936, 1 – 13, 341 – 343; John W. Derry, Castlereagh. London: Allen Lane, 1976, 11 – 12, 217 – 218. Die revisionistische Position von Christopher John Bartlett, Castlereagh, London usw.: Macmillan, 1966, bes. 199 – 234, die, bezogen auf Castlereaghs „Neue Diplomatie“ mehr Methode als Inhalt betont und resümiert: „In der Außenpolitik markiert sein Selbstmord das Ende einer Ära, besonders in der britischen Politik“ (234), und Henry Kissinger, A World Restored: Metternich, Castlereagh, and the Problems of Peace, 1812 – 1822, Boston: Houghton Mifflin. 1957, 312, der behauptet: „Mit Castlereagh verschwand die letzte Verbindung Großbritanniens mit der [Heiligen] Allianz […] Ab jetzt existiert kein Motiv mehr, die Lücke zwischen Außenpolitik und der Möglichkeit ihrer innenpolitischen Legitimierung beizubehalten und die britische Politik wurde genauso insular wie die Mentalität ihrer Bevölkerung“, treffen nicht den zentralen Punkt. In einem jüngeren Aufsatz stellte Christopher John Bartlett, „Castlereagh, 1812 – 22“, in: The Makers of British Foreign Policy from Pitt to Thatcher, hrg. v. Thomas G. Otte, Basingstoke u. New York: Palgrave, 2002, 52 – 74, Castlereagh in einer konservativen Tradition in eine Linie mit Wellington, Aberdeen und Malmesbury, abgesetzt von der Canning-Palmerston Linie. Vorwärtsweisender sind dagegen die Gedanken von Stephen R.

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Ungeachtet dieser Modifikationen blieb die Whig Opposition bei ihrer entschiedenen Sprache wie etwa James Mackintosh, der mit beißender Ironie für eine andere Ausrichtung der britischen Außenpolitik plädierte: „Mit dem monarchischen Prinzip wurde Spanien der Krieg erklärt, und es wurde behauptet, dass drei oder vier Staaten Europas sich verbinden könnten, um alle revidierten Institutionen zu beseitigen, die nicht dem bloßen Willen des Souveräns entstammen, und Krieg gegen ein freies Volk zu führen, das sich in nicht zu übertreffender Arroganz in der Lage wähnte, seine eigene Verfassung zu entwerfen, ohne zuvor die vereinigte Weisheit der gekrönten Häupter des Nordens zu konsultieren. Lasst uns auch in Erinnerung rufen, dass dieser Krieg erklärt wurde ohne den Vorwand einer Gefahr für die Herrschaftsgebiete auch nur von einem dieser großen Diktatoren der Menschheit.“191

Diese Politik der offenen Sympathie für liberale Verfassungen („ein Freund der Ausdehnung der Freiheit und liberaler Institutionen überall in der Welt“192) und zugleich dem Legitimismus anzuhängen, ungeachtet ihrer sich selbst widersprechenden Voraussetzungen,193 bestimmte eine der spektakulärsten diplomatischen Graubard, „Castlereagh and the Peace of Europe“, in: The Journal of British Studies 3 (1963/ 64), 79 – 87, der Castlereaghs Rückgriff auf das Konzept des 18. Jahrhunderts des Gleichgewichts der Kräfte betont, das im 19. Jahrhundert unter dem Angriff der Whig Historiographie und dem britischen Aufstieg zur Weltmacht in Verbindung mit der Politik der „splendid isolation“ gegenüber Europa verloren ging. 191 Hansard, HC Deb., 2nd ser., VIII, 72 (4. Februar 1823). 192 Hansard, HC Deb., 2nd ser., II, 392 (11. Juli 1820). Canning bestand zur gleichen Zeit darauf, dass „er nie geneigt war, neue Institutionen vorzuziehen, weil sie neu waren, und bestehende Institutionen zu verabscheuen, weil sie bestanden“ 193 Das bekannteste Beispiel der Politik Cannings ist die Anerkennung der unabhängigen Republiken Kolumbien, Mexiko und Buenos Aires 1824 (vgl. Chamberlain, ,Pax Britannica‘?, 64 – 65), die er 1826 mit der berühmten Feststellung kommentierte: „Es wäre in der Tat unaufrichtig, nicht zugeben zu wollen, dass der Einmarsch der französischen Armee in Spanien eine Herabsetzung – eine Beleidigung des Stolzes – ein Schlag gegen die Gefühle Englands war: und es kann kaum angenommen werden, dass die Regierung bei dieser Gelegenheit nicht mit den Gefühlen des Volkes sympathisierte. Aber ich bestreite, dass, fragwürdig oder tadelnswert, wie dieses Handeln sein mag, es notwendigerweise unsere unmittelbare und feindliche Gegenmaßnahme erforderte. Konnte nicht etwas anderes getan werden? Gab es keine andere Möglichkeit des Widerstandes als der unmittelbare Angriff auf Frankreich – oder durch einen Krieg, ausgetragen auf dem Boden Spaniens? Was, wenn der Besitz Spaniens harmlos gemacht werden könnte in konkurrierenden Händen – harmlos mit Blick auf uns – und wertlos für die Besitzer? Könnte nicht eine Kompensation für die Herabsetzung erreicht und die Politik unserer Vorfahren rehabilitiert werden durch ein Mittel, das unserer Zeit angepasster wäre? Wenn Frankreich Spanien besetzte, war es notwendig, um den Konsequenzen dieser Besatzung zu entgehen – dass wir Cadiz blockieren sollten? Nein. Ich blickte in eine andere Richtung – ich suchte Material für die Kompensation in einer anderen Hemisphäre. Spanien betrachtend, wie unsere Vorfahren es gekannt hatten, beschloss ich, dass, wenn Frankreich Spanien hat, sollte es nicht Spanien ,mit den Indien‘ sein. Ich rief die Existenz der Neuen Welt aus, um das Gleichgewicht der Alten wiederherzustellen“ (Hansard, HC Deb., 2nd ser., XVI, 397 [12. Dezember 1826]). Über Cannings politischen Kampf für die diplomatische Anerkennung, die in den dramatischen Wochen von Anfang Dezember 1824 bis Anfang Februar 1825 kulminierte, als der Widerstand Wellingtons und andere Kabinettmitglieder und die Sturheit des Königs zu einer ernsten politischen, wenn nicht Verfassungskrise zu geraten drohte, vgl. Wendy

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Ereignisse während Cannings Amtszeit im Außenministerium. Am 12. Dezember 1826 gab Earl Bathurst eine erste kurze Zusammenfassung der diplomatischen Mission von Sir Charles Stuart nach Portugal und Brasilien in den Jahren 1825/26.194 Doch das Parlament schenkte ihr keine große Aufmerksamkeit, so dass erst 1830 in beiden Häusern eine umfassende Debatte darüber stattfand,195 die die Mission noch 1847 zu einem Referenzpunkt machte. Sir Charles Stuart, ein höherer britischer Diplomat, war für eine Sondermission nach Lissabon und Rio de Janeiro ausgewählt worden.196 Zweck der Mission war, die Trennung zwischen Portugal und Brasilien herbeizuführen und einen englischbrasilianischen Handelsvertrag als Nachfolger des auslaufenden Vertrags von 1810 auszuhandeln. Ungeachtet dieser offiziellen Gründe, wie sie auch den europäischen Mächten kommuniziert wurden, machen Cannings Instruktionen deutlich, dass Großbritannien bereit war, massiven Druck auf den portugiesischen König auszuüben, um Brasilien die Unabhängigkeit zu gewähren und akzeptable portugiesische Bedingungen für Brasilien zu erreichen.197 Hinde, George Canning, London: Collins, 1973, 345 – 374. Zusätzlich Augustus Granville Stapleton, George Canning and His Time, London: John W. Parker, 1859, 385 – 453. 194 Hansard, HL Deb., 2nd ser., XVI, 336 – 338 (12. Dezember 1826). Über die Mission und ihre Folgen, vgl. Temperley, „The Foreign Policy of Canning“, 79 – 83; Seton-Watson, Britain in Europe, 89 – 95. 195 Zu den innenpolitischen Auseinandersetzungen und politischen Intrigen, die zu dieser Debatte führten, vgl. Stapleton (Hrg.), Some Official Correspondence of George Canning, II, 68 – 71. 196 Zu Stuart, vgl. Robert Franklin, Lord Stuart de Rothesay, Brighton: Book Guild, 22008. 197 „Eure Exzellenz haben der Regierung Seiner treuesten Majestät zu erkennen zu geben: 1. Dass es seiner Majestät Meinung und Rat ist, dass, welche Zugeständnisse auch immer Seine treueste Majestät bereit ist, Brasilien zu machen, er sie in einem Königlichen Edikt machen sollte und nicht durch Verhandlungen. 2. Dass jedes Zugeständnis unterhalb eigentlicher Unabhängigkeit völlig vergeblich sein wird. 3. Dass jeder Versuch, die aktive Ausübung irgendeines Rechts der Souveränität über ein für unabhängig erklärtes Brasilien beizubehalten, es ebenso sein würde. Eure Exzellenz wird anbieten, der Überbringer der so verfassten Carta Regia nach Brasilien zu sein; dort ist sie entweder sogleich zu veröffentlichen oder sobald Sie die Einwilligung der brasilianischen Regierung zu den verschiedenen Anordnungen festgestellt haben, die als erforderlich aufgeführt waren, die Veröffentlichung zu begleiten oder ihr voranzugehen. Es sollte Eurer Exzellenz äußerstes Bemühen sein, dass, ob zur Auflage gemacht oder nicht, die Eröffnung von Handelsgesprächen zwischen Portugal und Brasilien auf der Basis der Meistbegünstigung der unmittelbare Effekt von Eurer Exzellenz Ankunft mit der Carta Regia in Rio de Janeiro sein sollte, Eure Exzellenz ist befugt, eine Note an die brasilianische Regierung zu übergeben, um jedes Recht, das wir gemäß dem Vertrag von 1810 haben sollten und das der Gewährung der Meistbegünstigungsklausel durch Portugal entgegensteht, beiseite zu wischen. Dennoch, falls Seine treueste Majestät Verhandlungen und Vertrag mit Brasilien vorziehen sollte, wird Eure Exzellenz erklären, autorisiert zu sein, falls von Seiner treuesten Majestät gewünscht, diese Aufgabe als der Bevollmächtigte von Seiner treuesten Majestät zu übernehmen, vorausgesetzt, dass die Bedingungen, zu denen Seine treueste Majestät bereit ist zuzustimmen, sich im Rahmen dieser Instruktionen bewegen.

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Während Stuart in Lissabon die portugiesische Haltung mit dem König aushandelte, ernannte in dieser tatsächlich zum portugiesischen Bevollmächtigten, und der britische Gesandte segelte mit dieser zusätzlichen Funktion nach Brasilien, um die Grundlagen von Unabhängigkeit und Trennung auszuhandeln sowie die Bedingungen für den englisch-brasilianischen Handelsvertrag, den Canning jedoch schließlich zurückwies, so dass dieser Vertrag in London neu verhandelt werden musste. Auch wenn Canning nicht übermäßig glücklich über das Ergebnis war, musste er doch erkennen, dass eine diplomatische Mission über eine derartige Distanz kaum praktikabel war, brauchten doch Antworten unter den Bedingungen der Zeit nahezu ein halbes Jahr. Was jedoch aus seiner Sicht die ganze Mission schließlich zum Entgleisen brachte, war der Tod des portugiesischen Königs, der in Anderenfalls werden Sie diese Aufgabe ablehnen, jedoch zugleich zum Ausdruck bringen, dass Sie bereit sind, Hilfe und Unterstützung jedem portugiesischen Verhandlungsführer zu geben, den Seine treueste Majestät beauftragen werde. Eure Exzellenz werden es in jedem Fall ablehnen, von einem portugiesischen Bevollmächtigten begleitet zu werden oder einen solchen nach Rio de Janeiro zu übermitteln. Wenn diese Punkte in Lissabon geklärt sind, werden sich Eure Exzellenz nach Brasilien begeben, 1. als Überbringer des Königlichen Edikts von Seiner treuesten Majestät; 2. oder als der Bevollmächtigte von Seiner treuesten Majestät; 3. oder falls die Art des Vertrags noch von der portugiesischen Regierung zu bestimmen ist, doch die Verhandlungen in portugiesische Hände gelegt sind, um jede Ihnen mögliche Hilfe für den Fortschritt der Verhandlungen zu geben. Sollten die Verhandlungen jedoch ein unbefriedigendes Ergebnis haben oder sich über den Zeitpunkt hinaus hinschleppen, wenn uns die Umstände dazu zwingen mögen, in eine Revision des Vertrags von 1810 einzutreten, werden Sie in diesem Fall, worüber Portugal bereits vollends in Kenntnis gesetzt ist, getrennt mit Brasilien über den Gegenstand dieser Revision verhandeln. Separate und spezifische Instruktionen werden Eurer Exzellenz zu diesem Zweck, entweder bevor Sie Portugal verlassen oder so, dass Sie sie in Rio de Janeiro antreffen, zugeschickt. Gebührende Aufmerksamkeit sollte Seiner treuesten Majestät entgegengebracht werden, um das Aufsetzen derartiger Instruktionen so lange zu verschieben als Hoffnung besteht, dass, indem er selbst der Unabhängigkeit Brasiliens zustimmt, er jener Regierung das Recht geben wird, Verträge im eigenen Namen zu machen. Eure Exzellenz hat sowohl Portugal als auch Brasilien die Natur der Verpflichtungen zu erklären, die unsere Verträge mit Portugal uns auferlegen. Brasilien, einmal unabhängig, wird eine auswärtige Macht im Verhältnis zu Portugal, und wir sind verpflichtet, Portugal gegen alle Aggressionen von auswärtigen Mächten zu verteidigen. Da es kein stärkeres Motiv für Portugal geben kann, seine Zustimmung zur Gewährung jener Unabhängigkeit zu geben; so kann es kein stärkeres für Brasilien geben, als zu wünschen, diese Gunst von dem Mutterland zu erhalten; begleitet mit einem Vergessen der Differenzen mit der Erneuerung eines freundschaftlichen Verkehrs und mit der Errichtung freundschaftlicher Beziehungen.“ (Instruktionen an Sir Charles Stuart, 14. März 1825, National Archives, Kew [zukünftig NA], FO 13/1, fol. 101 – 108, Zusammenfassung. Der volle Wortlaut der Instruktionen befindet sich auf fol. 5 – 108). Canning hatte beträchtliche Zeit darauf verwandt, diese Instruktionen zu konzipieren, wie sein Brief an Granville vom 4. März 1825 offenbart: „Ich arbeite hart an Stuarts Instruktionen für Brasilien“, da sie anschließend den europäischen Mächten mitgeteilt wurden (Stapleton, George Canning and His Time, 428, 514 – 515). Vgl. Canning an Viscount Granville, 2. Juli 1826 (Stapleton [Hrg.], Some Official Correspondence of George Canning, II, 116 – 119), für den Spielraum, den er Stuart eingeräumt hatte.

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II. England

Rio de Janeiro am 24. April 1826 bekannt wurde. Sechs Tage später informierte Stuart Canning, dass der brasilianische Kaiser als portugiesischer Thronerbe ihm in Reaktion auf die veränderten Umstände seine Absicht mitgeteilt hätte, „die Gefühle der Portugiesen zu besänftigen, indem er ihnen eine Verfassungscharta geben werde“.198 Nach Cannings Überzeugung stand damit für die europäischen Höfe automatisch die Frage im Fokus, welche Rolle Großbritannien bei dieser Verfassung gespielt habe. In einer zweiten Depesche vom 30. April 1826 zerstreute Stuart die Befürchtungen, die Canning haben mochte: „[Der Kaiser] entfaltet dann sein bereits fertiggestelltes Verfassungsprojekt, dessen Abfassung er den größten Teil der Woche gewidmet hatte; und die Freude, mit der er über seinen Inhalt sprach, zeigt, dass die Verkündung dieses Akts der größte Anreiz ist, den ihm seine Berater boten, um auf die Krone Portugals zu verzichten. – Da es mir zu dieser Zeit unmöglich war, den langen Text durchzuschauen, teilte er mir allgemein mit, dass er zwei Kammern eingerichtet habe und dass er, da er die Prärogative des Souveräns und die Macht des Adels erhalten habe, die Befürchtungen, die ich hinsichtlich der möglichen Auswirkungen auf andere Länder zu haben schien, nicht teilen könne.“199

Gleichzeitig beauftragte der Kaiser Stuart als portugiesischen Bevollmächtigten, die Verfassung mit dem beigefügten Dekret nach Lissabon zu überbringen. Stuart konnte nicht auf Cannings Zustimmung zu dieser irritierenden Wendung warten und musste nach eigenem Gutdünken handeln, was die wilden Spekulationen in Europa nur noch weiter anheizen konnte. Noch 1830 teilte Lord Melbourne den Lords mit, der brasilianische Kaiser habe „Sir C. Stuart, unseren Botschafter in Brasilien, hinsichtlich der Bildung der Verfassung konsultiert“.200 Einige sprachen 198 NA, FO 13/18, fol. 248. Der Verfassungstext findet sich in: Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España/Constitutional Documents of Portugal and Spain, 1808 – 1845., hrg. v. António Pedro Barbas Homem, Jorge Silva Santos u. Clara Álvarez Alonso, Berlin u. New York: De Gruyter, 2010, 109 – 124. 199 NA, FO 13/18, fol. 262 – 263. Der jüngst ernannte britische Botschafter in Buenos Aires, Lord Ponsonby, schrieb am 17. Oktober 1826 an Sir Charles Bagot, dass die vom Kaiser und seinem Privatsekretär entworfene Verfassung von Benjamin Constant inspiriert und „nun das Palladium von Lusitania“ sei (Josceline Bagot [Hrg.], George Canning and His Friends. Containing Hitherto Unpublished Letters, Jeux d’esprit, etc. [1909], 2 Bde., New York: Kraus, 1969, II, 310). Zu den Reaktionen der europäischen Regierungen auf die Verfassung, einschließlich jener von Canning, vgl. Temperley, The Foreign Policy of Canning, 366 – 370; Hinde, George Canning, 413 – 414. António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direitos, Estado e lei no liberalismo monárquico português. Coimbra: Almedina, 2004, 198, behauptet, dass der brasilianische Justizminister José Joaquim Carneiro de Campos, nachfolgend Marquês de Caravelas, einer der Autoren der kaiserlichen Verfassung vom 25. März 1824, der Autor der portugiesischen Verfassung war. Über den Einfluss von Benjamin Constant, vgl. ebd., 161 – 175. 200 Hansard, HL Deb., 2nd ser., XXII, 592 (18. Februar 1830). In Antwort auf Melbournes anonyme Observations on the Papers Laid Before Parliament insistierte Cannings vormaliger Privatsekretär Augustus Granville Stapleton in einer ebenfalls anonymen Flugschrift: „Die Gewähr der Charta kann daher, ob nun gut oder schlecht, weder den Ratschlägen der britischen

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sogar von „der britisch-portugiesischen Verfassung“.201 Doch obwohl die Regierung vehement alle diesbezüglichen Unterstellungen zurückwies und betonte, „Sir Charles Stuart war lediglich der Überbringer der Verfassung nach Europa, und das war alles, was er damit zu tun hatte“,202 gingen die Spekulationen über die britische Verwicklung in dieser Angelegenheit weiter. Um das europäische Misstrauen zu zerstreuen, instruierte Canning Stuart am 12. Juli 1826, nachdem er die Nachricht über die Verfassung erhalten hatte, die Stuart nach Lissabon überbringen sollte: „Damit wir mit größerer Wirkung auf die anderen Regierung unsere Pflicht einimpfen können, uns jeder Einmischung in die freien Entscheidungen Portugals zu enthalten, ist es besonders angebracht, alle Gründe für Eifersucht zu entfernen, was die Ausübung von britischem Einfluss in einer so bedeutsamen Angelegenheit betrifft.“

Daher hatte Stuart, nachdem er die Unterlagen der portugiesischen Regentschaft übergeben und seinen Bericht über die Verhandlungen in Brasilien erstattet habe, nach London zurückzukehren.203 Zehn Tage darauf, die Nachricht von Stuarts Ankunft in Lissabon hatte Canning noch nicht erreicht, wiederholte er seine Instruktionen mit entschiedenem Nachdruck204 und schloss: Regierung noch denen, soweit der Regierung bekannt, von Sir Charles Stuart zugeschrieben werden“ ([Augustus Granville Stapleton,] An Authentic Account of Mr. Canning’s Policy With Respect to the Constitutional Charter of Portugal, In Reply to „Observations On the Papers Laid Before Parliament“, London: J. Hatchard, 1830, 7). 201 Vgl. Hansard, HL Deb., 2nd ser., XXII, 626 (18. Februar 1830). Die ältere brasilianische wie portugiesische Historiographie ging von einem gewissen britischen Einfluss aus, vgl. Franz Paul de Almeida Langhans, Portugal na Política de Palmerston, [Lissabon:] Companhia Nacional Editora, 1954, 18. 202 Hansard, HL Deb., 2nd ser., XXII, 609 (18. Februar 1830), vgl. ähnlich, 616, 626, 631, 634 – 636. 203 NA, FO 13/17, fol. 109v – 111v. Canning missbilligte entschieden „Stuarts Handeln in dieser Affäre“, vgl. [Stapleton,] An Authentic Account of Mr. Canning’s Policy, 8 – 9. Einige Monate später erklärte jedoch Canning in „einer der großen Reden seiner Karriere“ (Peter Dixon, Canning: Politician and Statesman, London: Weidenfeld and Nicolson, 1976, 249), im Parlament: „Lasst uns zur Hilfe Portugals eilen, von wem auch immer es angegriffen wird, weil es unsere Pflicht ist, das zu tun, und lasst uns mit unserer Einmischung aufhören, wo jene Pflicht endet. Wir gehen nach Portugal, nicht um zu herrschen, nicht um zu diktieren, nicht um Verfassungen vorzuschreiben, sondern um die Unabhängigkeit eines Verbündeten zu verteidigen und zu bewahren. Wir gehen, um die Standarte Englands auf den wohlbekannten Höhen Lissabons aufzupflanzen. Wo jene Standarte aufgepflanzt ist, soll keine auswärtige Herrschaft kommen“ (Hansard, HC Deb., 2nd ser., XVI, 369 [12. Dezember 1826]). 204 NA, FO 13/17, fol. 118 – 119. Canning war nachhaltig bemüht, eine Einmischung europäischer Mächte in Portugal zu verhindern und konnte nicht das Risiko eingehen, von ihnen eine britische Intervention vorgehalten zu bekommen. Doch Stuarts Verhalten verkomplizierte die Situation zusätzlich. „Sir Charles, so schien es aufgrund seiner eigenen Darstellung, mischte sich wirklich in die Annahme der Verfassung ein, und Sir William A’Court [der britische Botschafter in Lissabon] beschreibt diese Einmischung ,als sehr aktiv und direkt‘. Es ist wahr, dass sie ohne Instruktionen geschah und dass sie weit über das hinausging, was Canning gewünscht hätte, aber er verleugnete Sir Charles nicht“ aus Furcht, dies könnte Portugal hin-

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II. England „Es ist der Wunsch und die Entschlossenheit der Regierung seiner Majestät, so weit möglich den Anschein einer direkten Einmischung einer britischen Vermittlung in der Einrichtung einer neuen Staatsordnung in Portugal zu vermeiden. Es ist daher seiner Majestät ausdrücklicher Befehl, dass Eure Exzellenz Euren Aufenthalt in Lissabon auf keinen Fall hinauszögern sollten, noch irgendwelche Vorschläge oder Flehen von irgendeiner Seite zulassen sollten, Euch zu veranlassen, Eure Rückkehr nach Hause hinauszuzögern.“205

Unter Missachtung dieser strikten Anweisungen blieb Stuart ungefähr fünf Wochen in Lissabon und trat die Heimreise erst an, nachdem er Canning am 2. August informieren konnte, „dass der Eid auf die Verfassungscharta gestern von den drei Ständen des Staates abgelegt wurde“.206 In den voraufgegangenen Tagen und Wochen war er aktiv damit beschäftigt gewesen, dafür zu sorgen, dass die Verfassung, die er von Rio de Janeiro mitgebracht hatte, angenommen wurde. Damit endete eine der kostspieligsten Sondermissionen in der jüngeren britischen Geschichte,207 doch sie hatte Sir Charles Stuart fast um die versprochene Peerswürde gebracht. Seine Missachtung der Instruktionen Cannings hatte sie bis über den Tod des Premierministers hinaus verzögert.208 Doch selbst dann waren die portugiesischen Verwirrungen längst nicht vorbei, sondern dauerten fort, da Dom Miguel, der ausgebootete jüngere Sohn des vormaligen Königs mit spanischer Unterstützung die Verfassung zu Fall brachte, was wiederum eine militärische Intervention Großbritanniens zur Folge hatte, um die Unabhängigkeit Portugals zu garantieren und damit de facto die Wiedereinsetzung der Verfassung zu bewirken. Es blieb Palmerston vorbehalten, selbst wenn er häufig als Anhänger Cannings gilt,209 die Heuchelei dieser Politik der vorgegebenen Nicht-Einmischung in einem Angriff auf die nachfolgende Regierung offenzulegen: sichtlich der tatsächlichen britischen Position irritiert haben ([Stapleton,] An Authentic Account of Mr. Canning’s Policy, 17). 205 NA, FO 13/17, fol. 121v – 122. 206 NA, FO 13/19, fol. 215. Stuart verließ Lissabon Mitte August und traf in London erst nach dem Umweg über die Azoren Anfang Oktober 1826 ein, vgl. Franklin, Lord Stuart de Rothesay, 190. 207 Lord John Russel: „Dies war eine höchst bedeutsame Mission, denn Sir C. Stuart war der Überbringer von Vorschlägen, an deren Konsequenzen sie sich alle erinnern, da durch sie eine Verfassung in Portugal eingeführt wurde. Die Kosten dieser Mission scheinen jedoch 24.674 £ gewesen zu sein“ (Hansard, HC Deb., 3rd ser., XLII, 400 – 401 [3. April 1838]). 208 Vgl. Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 537 – 538 (14. Juni 1847). 209 Vgl. Donald Southgate, ,The Most English Minister…‘. The Policies and Politics of Palmerston, London u. New York: Macmillan/St. Martin’s Press, 1966, xx: „Palmerston folgte Canning bewusst weit seltener, als er vorgab, und folgte ihm mitunter nicht, wenn er glaubte, es zu tun.“ Muriel Chamberlain, Lord Palmerston, Cardiff: GPC Books, 1987, 40: „Palmerston mag sich selbst als Cannings Vermächtnisnehmer gesehen haben, doch tatsächlich veränderte er den Zugang beträchtlich.“ Stephen M. Lee, „Palmerston and Canning“, in: Palmerston Studies I, hrg. v. David Brown u. Miles Taylor. Southampton: Hartley Institute, University of Southampton, 2007, obwohl „nicht willens, den Nutzen der Bezeichnung ,Canning Anhänger‘ für Palmerston vollends zurückzuweisen“ (14), insistierte er auf den Unterschieden zwischen beiden in ihrer Methode und ihrem Zugang zur Außenpolitik. Vgl. auch die ältere Auffassung

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„Ich behaupte im Gegenteil, dass ihr vorgegebenes Prinzip von Neutralität und NichtEinmischung nur ein Deckmantel gewesen ist, unter dessen Schutz sie in Wirklichkeit jener Partei ihre Unterstützung boten, die sie insgeheim favorisierten; ich behaupte, dass zu allen Zeiten, aber insbesondere in jüngsten Zeiten England in die Angelegenheiten Portugals derart verwickelt war, dass zu sagen, es sei unsere Praxis und Prinzip gewesen, uns nicht in dessen Angelegenheiten einzumischen, den Aufzeichnungen der Geschichte widerspricht; dass nicht nur alle früheren Regierungen sich eingemischt haben, sondern dass selbst diese Regierung nie aufgehört hat, sich einzumischen, vom ersten Tag ihrer Amtszeit fast bis zur gegenwärtigen Stunde.“

Darauf fuhr er mit besonderem Bezug auf die Mission Stuarts fort: „Es ist eine umstrittene Frage gewesen, ob die Regierung Englands zuvor Ratgeber der portugiesischen Verfassung war; wie dem auch sei, es kann keinem Zweifel unterliegen, dass gemäß der Umstände, über die jene Regierung keine Kontrolle hatte, der Name Englands so sehr mit der Einführung und Annahme jener Verfassung in einer derartigen Weise verknüpft war, dass kein offizielles Dementi diesen Eindruck wirklich zerstören konnte. Was jedoch diese Frage selbst angeht, ist es meine feste Überzeugung, dass die englische Regierung überhaupt nichts mit der Gewähr der portugiesischen Verfassung zu tun hatte. […] Die Verfassung wurde, wie die Unterlagen zeigen, von einem Engländer herübergebracht; zufällig und unvorhersehbar zwar, aber so war es. Ihre Annahme in Portugal wurde durch die direkte und aktive Einmischung eines Engländers bewirkt; der handelte zwar in seiner Eigenschaft als portugiesischer Bevollmächtigter, wie ich gestehe, aber dennoch war es die Einmischung, direkt und aktiv, eines Engländers. England wurde gefragt, was Portugal tun solle; und der Rat des englischen Kabinetts war, in dem, was nie vergessen werden sollte, die führenden Mitglieder der gegenwärtigen Regierung ihren Sitz hatten, der Rat des englischen Kabinetts war sofortige Annahme der Charta. Dieser wurde in der Tat nicht als zuvorkommender Rat gegeben, sondern als Grundlage der Entscheidung vorgelegt, und das war der öffentliche und offizielle Rat des englischen Kabinetts.“210

Palmerstons Rede vom 10. März 1830, rund acht Monate, bevor er das Amt des Außenministers antrat, verdeutlicht das gewandelte Verständnis der Politik der Nicht-Einmischung als Mittel jeder Form von diplomatischer Einmischung, jedoch bei Ausschluss einer militärischen Intervention,211 wie er bereits in seiner berühmten Rede vom 1. Juni 1829 in groben Zügen dargelegt hatte: „Wenn mit Einmischung Einmischung mit Waffengewalt gemeint ist, ist die Regierung berechtigt zu sagen, allgemeine Prinzipien und unsere eigene Praxis verbieten uns eine derartige Einmischung. Aber wenn mit Einmischung gemeint ist, sich einmischen, und sich einmischen in jeder Weise und in jedem Maß, außer tatsächlicher militärischer Gewalt; dann

von Burrows, The History of the Foreign Policy of Great Britain, 332: „Palmerston war der Freund Cannings und sein Mitarbeiter. Seine Außenpolitik war im Wesentlichen die gleiche, aber er ging erheblich weiter und setzte sich bewusst zugunsten der liberalen Sache auf der [iberischen] Halbinsel ein.“ 210 Hansard, HC Deb., 2nd ser., XXIII, 80 – 81, 84 (10. März 1830). 211 Southgate, ,The Most English Minister‘, 7 – 17.

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II. England muss ich beteuern, dass es nichts bei einer derartigen Einmischung gibt, was das Völkerecht nicht in bestimmten Fällen erlaubt.“212

Es klang wie eine Andeutung der neuen Richtung, die die britische Außenpolitik unter Palmerston einschlagen sollte. Für die nächsten zwei Jahrzehnte sollte die Interventionspolitik das zentrale Thema in den Parlamentsdebatten über Palmerstons Außenpolitik sein. Bereits zwei Wochen vor seiner Amtsübernahme debattierte das Parlament über „Einmischung in die Angelegenheiten Belgiens“.213 Palmerston ließ keinen Zweifel daran, „dass die anderen Mächte Europas, und England mit ihnen, das Recht hatten, auf jene Umstände zu achten, die ihre eigenen Interessen betrafen, wie auch jene von Belgien selbst“.214 Das einzige Ergebnis dieser Politik war, so die Auffassung der Tory Opposition, sich die Niederlande zu entfremden und Großbritannien um seinen „Einfluss auf die holländische Regierung“ zu bringen.215 In einer seiner klassischen Erklärungen zu dieser neu definierten Interventionspolitik erklärte Palmerston wenige Jahre später: „Ich halte es für die zweckmäßige Politik Englands – abgesehen von Fragen, die seine eigenen besonderen Interessen, politische wie kommerzielle, betreffen –, der Verfechter von Gerechtigkeit und Recht zu sein; indem es diese Linie mit Mäßigung und Klugheit verfolgt, nicht um der Don Quijote der Welt zu werden, sondern indem es das Gewicht seiner moralischen Sanktion und Unterstützung gibt, wo immer es denkt, dass Gerechtigkeit ist, und wo immer es denkt, dass Unrecht geschah.“216

Was Palmerston hier am Vorabend der europäischen Revolutionen von 1848 erklärte, klang jenen, die ihn seit Jahrzehnten kannten, vertraut. Kurz nach Cannings berühmter Rede vom Dezember 1826 hatte er geschrieben: „Die Prinzipien verfassungsmäßiger Freiheit sind nicht nur die Grundlage der Stärke des Landes, welche sie in die Praxis umsetzt, sondern der beste Garant für Frieden mit den Nachbarstaaten & es ist daher ganz in unserem Interesse, ihre Ausdehnung auf dem Kontinent zu begünstigen.“217 Zwölf Jahre später bekannte er, Großbritannien solle „sein 212

Hansard, HC Deb., 2nd ser., XXI, 1646 (1. Juni 1829). Vgl. auch Jasper Ridley, Lord Palmerston, London: Constable, 1970, 100. 213 Hansard, HC Deb., 3rd ser., I, 297 – 299 (8. November 1830). Bezüglich Palmerstons Position zu Intervention und Nicht-Intervention in Belgien, vgl. die Dokumente in Temperley u. Penson (Hrgg.), Foundations of British Foreign Policy, 88 – 100. Vgl. auch Charles Kingsley Webster, The Foreign Policy of Palmerston, 1830 – 1841. Britain, the Liberal Movement and the Eastern Question, 2 Bde., London: Bell, 1951, I, 104 – 176; Kenneth Bourne, Palmerston: The Early Years, 1784 – 1841, New York: Macmillan, 1982, 332 – 349. 214 Hansard, HC Deb., 3rd ser., II, 702 (18. Februar 1831). 215 Hansard, HC Deb., 3rd ser., V, 1004, ähnlich 1024 (9. August 1831). Bezüglich Palmerstons europäischer Politik zwischen 1830 und 1841, vgl. Charles Kingsley Webster, Palmerston, Metternich, and the European System 1830 – 1841. Raleigh Lecture on History (Proceedings of the British Academy, XX), London: Oxford University Press, 1934. 216 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCVII, 122 (1. März 1848). 217 An seinen Bruder William Temple, 25. Dezember 1826, zit. in: Bourne, Palmerston, 249.

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moralisches Gewicht in die Schale jenes Volkes werfen, das spontan nach Freiheit strebt“.218 Es war eine Politik, die die Whigs begeistert unterstützten, die bereit waren, sich für „die Sache der verfassungsmäßigen Freiheit überall in der Welt“ zu engagieren,219 während Lord Brougham der Zeit entgegensah, „wenn dieses Land an der Spitze der liberalen und konstitutionellen Partei in Europa“ steht.220 Zwei Jahre später rief Henry Gally Knight aus: „Wir sind stolz auf unsere Freiheit. Wir kennen den Wert einer Verfassung. Lasst uns nicht erscheinen, gleichgültig gegenüber dem Verlust dieses Segens bei anderen zu sein, und lasst uns vor allem bedenken, dass der gute Ruf Englands auf dem Spiel steht.“221 Richard Mockton Milnes, ein Bewunderer Palmerstons, der ihm später zur Peerswürde verhalf, sekundierte: „Er glaubte, dass wir es der menschlichen Rasse schulden, jene Prinzipien der Selbstregierung, die wir genießen, so weit auszudehnen, wie wir können. Er glaubte nicht, dass das englische Volk an irgendeiner Intervention seitens Englands in die Angelegenheiten auswärtiger Staaten etwas auszusetzen hätte, solange der Gegenstand jener Intervention die Schaffung verfassungsmäßiger Prinzipien in jenen Ländern wäre“.222

Palmerston konnte nur überschwänglich zustimmen, indem er äußerte, dass „er glaubte, wenn irgendeine Nation als nicht geeignet für eine verfassungsmäßige Regierung befunden werden sollte, der beste Weg, sie dafür geeignet zu machen, sei, ihr diese zu geben“.223 Radikale wie der „redliche“ Tom Duncombe stimmten ein: „Nach seiner Überzeugung hatte die britische Regierung die Sache der verfassungsmäßigen Freiheit vertreten; und die Auswirkung dieser Politik war die Sache voranzubringen,“224 was sich bei dem Liberalen Alexander Baillie-Cochrane ähnlich anhörte, „dass die Prinzipien der englischen Regierung die der verfassungsmäßigen Freiheit wären und dass es ihr Ziel wäre, soweit sie könne, ohne unkluge Einmischung die Prinzipien verfassungsmäßiger Freiheit in jedem Land zu entwickeln“.225 Je mehr diese interventionistische Politik für konstitutionelle Freiheit in der Welt von Whigs und Radikalen propagiert wurde, desto heftigere Opposition gegen sie wurde von den Tories vorgebracht. Erneut war das Beispiel Portugal, das Wellington 218

An seinen – baldigen – Schwager Frederick Lamb, 21. März 1838, zit. in: John Charmley, „Palmerston: ,Artful Old Dodger‘ or ,Babe of Grace‘?“, in: The Makers of British Foreign Policy, hrg. v. Otte, 84. 219 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XLI, 844 (13. März 1838). 220 Hansard, HL Deb., 3rd ser., XLIV, 1192 (14. August 1838). 221 Hansard, HC Deb., 3rd ser., LV, 683 (13. Juli 1840). 222 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 413 (11. Juni 1847). 223 Hansard, HC Deb., 3rd ser., LXXIII, 1000 (14. März 1844). Vgl. Temperley u. Penson (Hrgg.), Foundations of British Foreign Policy, 100 – 116. 224 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 512 (14. Juni 1847). Zur Unterstützung Palmerstons durch die Radikalen, vgl. Antony Taylor, „Palmerston and Radicalism, 1847 – 1865“, in: The Journal of British Studies 33 (1994), 157 – 179. 225 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCVI, 668 (15. Februar 1848).

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überzeugte: „Es war nicht die Aufgabe englischer Minister, einen Bürgerkrieg in Portugal zu unterstützen oder bestrebt zu sein, mit Waffengewalt eine Verfassung wieder einzuführen.“226 Der Earl of Aberdeen bestätigte, dass „[e]s völlig absurd war, den Portugiesen einen Fürsten mit Gewalt aufzuzwingen, den sie verabscheuten, und eine Verfassung, die sie noch nicht einmal verstanden“.227 Peel, der 1847 einräumte, dass die Unterstützung der portugiesischen Monarchie „Garantien für die verfassungsmäßigen Freiheiten des Volkes“ einschloss,228 hatte 1836 eine Intervention in Spanien, um dort eine freie Verfassung einzuführen, als „nicht gerechtfertigt“ abgelehnt.229 Die Opposition gegen Palmerstons Politik wurde in seiner dritten Amtszeit im Außenministerium heftiger. Am 11. Juni 1847 hatte Joseph Hume einen Tadelsantrag eingebracht, weil „[w]enn wir es auf uns nehmen, uns in die inneren Angelegenheiten anderer Nationen einzumischen, was schützt uns vor ähnlichen Aggressionen seitens anderer? […] Glaubt mir, das Prinzip, das wir eingeführt haben, ist voller Gefahren. Ich kenne keine Grenzen, die ihren desaströsen Folgen zugeschrieben werden können.“230 Der liberale Ralph Bernal Osborne schloss sich ihm an und warf Palmerston vor, mit seiner Politik der Sicherung der Throne von Portugal und Spanien „die Prinzipien der Heiligen Allianz ausgeführt“ zu haben.231 Obwohl einige weitere Abgeordnete Hume unterstützten, vermieden beide Parteien eine Kraftprobe und erreichten nach drei Debattennächten, dass sich das Haus vertagte. Die feurigsten Angriffe sollten erst noch kommen. Den Anfang machte David Urquhart232 : „Was, Sir, kann monströser – was sollte unverständlicher – sein, als dass ein Minister, der auf den gegenüberliegenden Bänken sitzt, in der Lage ist, in Spanien oder in Griechenland, Portugal oder Sizilien oder der Türkei eine Macht auszuüben, auf die er hier in England keinen Anspruch erheben könnte, wo er Minister ist – dass er in jenen Ländern darüber entscheiden sollte, wer – und wer nicht Minister ist – nein, wer und wer nicht Souverän ist? Sind Sie sich darüber bewusst, wenn Sie jemanden zum Minister in England gemacht haben, Sie Spanien und einigen anderen Ländern einen Diktator gegeben haben? Sind Sie sich bewusst, dass einer unserer Minister hier, unter verfassungsmäßiger Kontrolle, im Ausland von allen jenen Kontrollen befreit ist und mit auswärtigen Staaten machen kann, was er will? – dass er geschützt wird durch die völlige Unkenntnis nicht nur dieses Landes, sondern seiner eigenen Kollegen; und dass dieser Despotismus in auswärtigen Ländern nach keinen

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Hansard, HL Deb., 3rd ser., VI, 1120 (5. September 1831). Hansard, HL Deb., 3rd ser., XX, 109 (30. Juli 1833). 228 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 601 (15. Juni 1847). 229 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XXXI, 1012 (26. Februar 1836). 230 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 407 (11. Juni 1847). 231 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIII, 436 (11. Juni 1847). 232 Zu den Animositäten zwischen Urquhart und Palmerston, vgl. Seton-Watson, Britain in Europe, 255 – 257; Brown, Palmerston and the Politics of Foreign Policy, 80 – 83. 227

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Regeln ausgeübt wird, sondern nach seinem eigenen Willen, und nach keiner Maßgabe außer seiner eigenen Launenhaftigkeit?“233

Voller Sarkasmus nannte Benjamin Disraeli Palmerston „den großen Propheten des Liberalismus in auswärtigen Angelegenheiten“, der nur bei „äußerst seltenen Gelegenheiten […] geruht, das Orakel des Auswärtigen Amtes in diesem Haus zu öffnen“ und fuhr fort, ihm vorzuhalten: „Sie blickten auf die englische Verfassung als eine Modellfarm. Sie drängten diese Verfassung jedem Land auf. Sie stellten es als ein großes Prinzip auf, dass Sie nicht die Interessen Englands im Blick hatten oder die Interessen der Länder, mit denen Sie in Verbindung standen, sondern dass Sie das große System des Liberalismus im Blick haben, das nichts mit den Interessen Englands zu tun hat und dass im allgemeinem im Widerspruch mit den Interessen der Länder steht, mit denen Sie in Verbindung sind.“234

Wo der konservative Disraeli einen Konflikt mit britischen Interessen sah, beklagte William Molesworth den Missbrauch der britischen Flotte für ausschließlich politische Ziele: „Folglich wurden riesige Flotten unterhalten und über die Ozeane verteilt, was für den Außenminister Anlass zur unwiderstehlichen Versuchung war, sich in jede Streitigkeit einzumischen, die zu Land und zu Wasser stattfand – um konstitutionelle Grundsätze in Portugal zu unterrichten – das ,göttliche Recht‘ der Könige in Sizilien umzuwandeln – einen Kreuzzug gegen den Sklavenhandel in Afrika zu führen – und zu unternehmen, er wisse nicht was, am Rio de la Plata. Folglich nie endende Auseinandersetzungen, die wiederum den Vorwand liefern für mehr Schiffe, mehr Seeleute und mehr Ausgaben.“235

Obgleich die europäischen Revolutionen von 1848 zumindest vorübergehend seine Politik zu bestätigen schienen,236 stieß Palmerston auf wachsenden Widerstand im Parlament, nicht allein wegen seiner extravaganten Art, sondern auch wegen seiner Politik, ihrer Methoden, ihrer Ideologie belasteten Inhalt und ihrer weitreichenden Konsequenzen. Den Kulminationspunkt dieses zunehmend bitterer werdenden Kampfes um die britische Außenpolitik bildete die Parlamentsdebatte über die sogenannte Don Pacifico Affäre im Juni 1850. Auch wenn sie nicht über die Interventionspolitik für verfassungsmäßige Regierungen entstand, führte sie dazu, 233

Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCVIII, 1111 – 1112 (16. Mai 1848). Das moralische Urteil, das in diesen Argumenten mitschwang, wurde von den Tories bereitwillig aufgegriffen, wenn sie das rückläufige Ansehen Großbritanniens in der Welt in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Folge der Politik Palmerstons beklagten: „Als die Whigs unter Grey 1830 an die Macht kamen, war England das am meisten respektierte Land auf dem europäischen Kontinent; seine Armee und Flotte hatten nun unvergänglichen Lorbeer; es war der Verteidiger der Verträge, und es respektierte die Einrichtungen anderer Länder. – Ende 1851 hat England das Ansehen seiner mächtigsten Verbündeten verloren und sein Name wird jetzt in Verbindung gebracht mit Revolutionären und Propagandismus“ (Thomas Wilson, England’s Foreign Policy, or, Grey-Whigs and Cotton-Whigs, With Lord Palmerston’s Pet Belgian Constitution of Catholics and Liberals, London: Effingham Wilson, [1852], iii). 234 Hansard, HC Deb., 3rd ser., XCIX, 397 – 398 (5. Juni 1848). 235 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CIII, 928 – 929 (16. März 1849). 236 Paul R. Ziegler, Palmerston, Basingstoke u. New York: Palgrave, 2003, 64.

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II. England

Palmerstons gesamte Politik der Interventionismus und ihr Eintreten für verfassungsmäßige Regierung auf den Prüfstand zu stellen. Seit Jahren, so sah es Palmerston, befand sich Großbritannien nicht im Gleichklang mit Griechenland, das ihm angesichts seiner profranzösischen Neigungen verdächtig war. Zusätzlich zu britischen finanziellen Forderungen, wurde die griechische Regierung beschuldigt, gerechtfertigten Forderungen britischer Untertanen nach Entschädigung oder Wiedergutmachung nicht zu entsprechen, darunter einem Marineoffizier, mehreren ionischen Bürgern, die mithin unter britischem Schutz standen, und neben anderen belanglosen Fällen einem portugiesischen Juden, gebürtig aus Gibraltar und damit britischer Untertan namens David Pacifico, besser bekannt als Don Pacifico. Was immer die Bedeutung dieser unterschiedlichen Ansprüche war, die weitgehend als grotesk und weit übertrieben angesehen wurden, waren sie laut Auswärtigem Amt grundsätzlich gerechtfertigt, doch ungeachtet der entschiedenen Vorstellungen des britischen Botschafters in Athen weigerte sich Griechenland, finanzielle Entschädigung oder Rechtsmittel anzubieten. Um Griechenland zum Einlenken zu bewegen, befahl Palmerston Anfang 1850 einem britischen Flottenverband, der auf dem Rückweg von den Dardanellen nach Malta war, den Hafen von Piräus zu blockieren, bis die griechische Regierung schließlich nachgeben und die Forderungen begleichen würde, was erst Ende April 1850 geschah.237 Eine Großmacht hatte ein armes kleines Land aus nichtigen Gründen unter Druck gesetzt. Andere sprachen von Kanonenbootdiplomatie.238 Am 17. Juni 1850 brachte der Führer der Konservativen im Oberhaus Lord Stanley, der bald darauf der 14. Earl of Derby werden sollte, seinen Tadelsantrag ein: „Es ist nicht meine Absicht, Ihre Aufmerksamkeit der Frage zuzuwenden, ob der Friede in Europa möglicherweise gestört wird, ob möglicherweise eine gütliche Regelung bewirkt werden kann; wie dem auch sei, es wird hinsichtlich meiner Resolution keinen Unterschied bewirken, weil meine Beteuerung die ist, dass die Vorgehensweise, die die Regierung durch ihre Gewalttätigkeit eingeschlagen hat – durch ihre unnötige Einmischung – durch ihren Verzicht auf Kommunikation mit anderen Mächten – durch ihre immanente Ungerechtigkeit – darauf abzielte, die Fortdauer unserer freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Mächte zu gefährden und gefährdet hat.“239

237 Bezüglich der ganzen Affäre, vgl. Seton-Watson, Britain in Europe, 272 – 275; Ridley, Lord Palmerston, 366 – 385; Denis Judd, Palmerston, London: Weidenfeld and Nicolson, 1975, 91; Ziegler, Palmerston, 74; Derek Taylor, Don Pacifico. The Acceptable Face of Gunboat Diplomacy, London u. Portland, OR: Vallentine Mitchell, 2008. „Obwohl die berüchtigte Don Pacifico Affäre ihm die Gelegenheit der dramatischsten Vorstellung seines Lebens bot, ist es unmöglich, nicht zu wünschen, dass ein derartiger Triumph mit einer verdienstvolleren Sache erlangt worden wäre“ (William Baring Pemberton, Lord Palmerston, London: Batchworth Press, 1954, 165). 238 Vgl. Ridley, Lord Palmerston, 124 – 125, 359; Chamberlain, ,Pax Britannica‘?, 98; Brown, „The Power of Public Opinion“, 339. 239 Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1294 – 1295 (17. Juni 1850).

3. Die britische Verfassung als antirevolutionäres Modell

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Nach fast drei Stunden fasste Stanley seine Argumente zusammen und bat das Haus „vor die Welt zu treten und sich von dem Stigma und der Schmach zu rehabilitieren, die, wie ich denke, dieser großen und gewaltigen Macht anheftet, die ihre unbezweifelte Übermacht prostituierte, indem sie ungerechte und exorbitante Forderungen einem schwachen und wehrlosen Verbündeten aufzwang“.240 Der Earl of Aberdeen, wie zu erwarten, stellte sich an die Seite Stanleys und beschuldigte Palmerston „der rücksichtlosen Art, mit der unsere auswärtigen Angelegenheiten geführt werden[…], charakteristisch für jene Betrügereien, die, wie ich leider sagen muss, unsere Außenpolitik und die Führung unseres Landes seit langem prägen“.241 Während er generell den Gang der britischen Außenpolitik unter Palmerston kritisierte, beklagte er sich insbesondere über den anhaltenden Missbrauch der Royal Navy für ausschließlich außenpolitische Zwecke,242 ein Argument, das andere ebenfalls aufgriffen.243 Auf der Regierungsseite gab Lord Beaumont seiner Verteidigung von Großbritanniens Rolle als erstrangiger Macht eine besondere Wendung, die Palmerston auf seine Weise bald aufgreifen sollte: „England gibt genauso viel, wie es nimmt; und bis es auf das Niveau einer zweitrangigen Macht absinkt, so lange, wie es in der Tat eine Nation ist, wird es darauf achten, dass seine Flagge respektiert und die Rechte seiner Kaufleute, die über den ganzen Erdboden verstreut sind, gewahrt werden. Wenn dies erreicht wird durch den Respekt auswärtiger Mächte gegenüber den Rechten der Fremden, die sich in ihrem Land aufhalten, umso besser; wenn nicht, muss England seinen starken Arm benutzen.“244

Es war längst nach 3 Uhr am frühen Morgen des 18. Juni, als das Haus zur Abstimmung schritt und Stanleys Antrag mit 169 gegen 132 Stimmen angenommen wurde. Die Regierung hatte mit 37 Stimmen verloren und ihre Zukunft war offen.245 Gemäß den parlamentarischen Regeln erfolgte die Reaktion schnell. Am 24. Juni setzte das Unterhaus eine einwöchige Debatte an – „eines der sensationellsten Ereignisse seiner Art in der Parlamentsgeschichte“246 – angesichts der Tatsache, dass das Oberhaus „eine klare und schlichte Verurteilung der Außenpolitik der Regierung“ beschlossen hatte.247 Der Unabhängige John Roebuck brachte den Antrag ein, der klären sollte, ob jenseits der griechischen Angelegenheiten die Außenpolitik Palmerstons generell die Unterstützung des Unterhauses hatte. Roebuck gab die Richtung vor. 240 241 242 243 244 245

233. 246 247

Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1332 (17. Juni 1850). Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1351 (17. Juni 1850). Vgl. Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1358 (17. Juni 1850). Vgl. Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1365, 1366 (17. Juni 1850). Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1378 (17. Juni 1850). Vgl. Hansard, HL Deb., 3rd ser., CXI, 1403 (17. Juni 1850); Taylor, Don Pacifico, 232 – Seton-Watson, Britain in Europe, 276. Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 230 (24. Juni 1850).

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II. England „Ich glaube, dass die Prinzipien der Außenpolitik einer jeden Regierung zwei Bereiche betreffen, jene hinsichtlich individueller Rechte und Unrecht und jene hinsichtlich des allgemeinen Interesses, der Würde und der Ehre eines Landes […] Ich glaube, dass hinsichtlich individuellen Unrechts und Rechts mit Bezug auf auswärtige Nationen die Absicht des ehrenwerten Lords gewesen ist, den Schutz und das Schild Englands über ihre wandernden Söhne auszudehnen, die es aufgrund von Handel, Vergnügen oder Notwendigkeit in die verschiedenen Regionen der Welt treibt […] Hinsichtlich der Interessen dieses Landes insgesamt, glaube ich, ist es in erster Linie die Aufgabe seiner Politik gewesen, den Frieden in der Welt zu erhalten – ihn zu erhalten, nicht indem man klein beigibt gegenüber dem Despotismus, sondern indem man alle auswärtigen Gemeinschaften, mit denen wir irgendwelche Beziehungen haben, wissen lässt, dass England, so weit erlaubt, gemäß den Regeln, die die interne Kommunikation bestimmen, so zu handeln, die große moralische Kraft seines Namens einbringen wird, eine verfassungsmäßige Regierung zu bewahren.“248

Die konservative Opposition blieb ebenso ablehnend wie im Oberhaus und attackierte Palmerstons Politik, die unter dem Deckmantel der Sicherung konstitutioneller Freiheit im Ausland Revolutionen unterstütze.249 Der Außenminister antwortete am Ende des zweiten Tages mit einer viereinhalbstündigen Rede,250 die nach Auffassung von Sir John Walsh „einen parlamentarischen und mentalen Kraftakt“ darstellte.251 Palmerston ging die Argumente Fall für Fall sachlich durch, moderat, aber mit Standfestigkeit. Er bestand darauf, seine portugiesische Politik sei ein „Akt gewaltsamer Einmischung [gewesen], um den Portugiesen eine repräsentative Regierung zu geben“.252 Gegner seiner italienischen Politik könnten nur „jene [sein], die die Fürsprecher von willkürlichen Regierungen sind“.253 „Ich behaupte, dass wir Rat gaben, der darauf abzielte, Revolutionen zu verhindern, indem er gegensätzliche Parteien und widersprüchliche Gesichtspunkte miteinander aussöhnen sollte. Wir verfolgten eine Politik der Verbesserung und des Friedens, und dafür verdient die Regierung keine Verurteilung, sondern Lob.“254

Indem er seine anderthalb Jahrzehnte im Auswärtigen Amt zusammenfasste, kam er zu dem Schluss: „Wir haben gezeigt, dass Freiheit mit Ordnung kompatibel ist, dass individuelle Freiheit mit dem Gehorsam gegenüber dem Gesetz vereinbar ist. […] Ich behaupte, dass die Prinzipien, die durch alle unsere außenpolitischen Handlungen zurückverfolgt werden können als Richtlinie und als leitender Geist unserer Unternehmungen, solche sind, die Zustimmung verdienen. Ich fordere daher ohne Furcht das Urteil des Hauses heraus, […] ob die Prin248

Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 231 – 232 (24. Juni 1850). Vgl. Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 284 (24. Juni 1850). 250 Sie wurde als die Rede von Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang bezeichnet, da sie abends um Viertel vor zehn begann und am nächsten Morgen um 2.20 Uhr endete, vgl. Ridley, Lord Palmerston, 386. 251 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 478 (27. Juni 1850). 252 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 414 (25. Juni 1850). 253 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 432 (25. Juni 1850). 254 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 438 (25. Juni 1850). 249

3. Die britische Verfassung als antirevolutionäres Modell

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zipien, aufgrund der die Außenpolitik der Regierung seiner Majestät geführt wurde und das Pflichtgefühl, das uns bewog zu denken, dass wir gehalten sind, unseren Landsleuten im Ausland Schutz zu gewähren, richtige und angemessene Leitbilder sind für die, die mit der Regierung Englands beauftragt sind; und ob, wie der Römer sich in alten Zeiten frei von Demütigungen hielt, wenn er sagen konnte, Civis Romanus sum; so auch ein britischer Untertan, in welchem Land er auch immer sein mag, zuversichtlich sein soll, dass das wachsame Auge und der starke Arm Englands ihn gegen Ungerechtigkeit und Unrecht schützen werde.“255

Palmerston hatte seine brillanteste Parlamentsrede gehalten,256 und er krönte sie mit einem Ausdruck (Civis Romanus sum), mit dem er für nachfolgende Generationen im Gedächtnis blieb. Seine Anhänger jubelten und wurden in den verbleibenden zwei Tagen nicht müde, seine Argumente stets erneut zu wiederholen, ohne in der Substanz viel hinzuzufügen. Seine Gegner waren weniger überzeugt und schenkten Osbornes Theorie wenig Aufmerksamkeit, der sich nun auf die Seite Palmerstons geschlagen hatte, dass „eine weitverbreitete Verschwörung organisiert worden sei, um den edlen Lord zu ruinieren […], weil er in den Augen Europas der Repräsentant der liberalen Überzeugungen ist“.257 Für sie blieb eine Politik des Interventionismus zugunsten verfassungsmäßiger Regierungen kontraproduktiv, moralisch falsch, völkerrechtswidrig und untergrub den Frieden. Kaum neue Argumente charakterisierten den Rest der Debatte über die Interventionspolitik, obwohl die führenden Mitglieder beider Seiten daran beteiligt waren. Die Liberalen ließen nicht nach in ihrer Verteidigung der Regierung und übten jeden nur erdenklichen Druck aus, um ihre Reihen zu schließen und um das zu vermeiden, was man heute die Revolte der Hinterbänkler nennt.258 Als das Haus nach vierzigstündiger Debatte zur Abstimmung schritt, wurden 310 Ja- gegen 264 NeinStimmen gezählt; die Regierung hatte eine Mehrheit von 46 Stimmen.259 Palmerston hatte einen überwältigenden Sieg errungen, und in seiner dramatisch gestiegenen landesweiten Popularität war er der Held der patriotisch gesinnten Mittelschichten, was ihn bald und lange vor seinem Tod 1865 zum politischen Symbol des Zeitalters machte.260 Doch die Fragen, die seine Politik der Förderung verfassungsmäßiger Regierungen in Europa und die Parlamentsdebatten darüber aufwarfen, blieben. 255

Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 443 – 444 (25. Juni 1850). Vgl. Pemberton, Lord Palmerston, 177 – 182. 257 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 340 (25. Juni 1850). 258 Cobden wies offen auf diesen Druck hin, vgl. Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 673 – 674 (28. Juni 1850). 259 Hansard, HC Deb., 3rd ser., CXII, 739 (28. Juni 1850). Das Ergebnis war umso bemerkenswerter, als die Regierung seit 1847 nur über eine zahlenmäßig kleine Mehrheit im Unterhaus verfügte, die politisch nicht sehr stabil war, vgl. Southgate, ,The Most English Minister‘, 277 – 278. Dennoch war es eine Mehrheit, die Palmerston erwartet hatte laut James Chambers, Palmerston. ,The People’s Darling‘, London: John Murray, 2004, 323. 260 Vgl. Charmley, „Palmerston“, 87 – 88; Brown, Palmerston and the Politics of Foreign Policy, 112 – 119; David Brown, Palmerston. A Biography, New Haven u. London: Yale 256

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II. England

Parlamentsdebatten über britische Außenpolitik waren und sind Debatten über die Rolle des Landes in der Welt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Dimensionen global, da sie nicht nur das Land selbst betrafen, sondern auch die Kolonien und auswärtige Mächte in allen Teilen der Welt, und es war eine ebenso weitreichende wie offene Debatte, für die es in keinem anderen europäischen Land ein Äquivalent gab. Dies förderte die Selbstwahrnehmung des Landes, anders als der Rest Europas zu sein, was wiederum nicht ohne Rückwirkungen auf die Parlamentsdebatten über die Außenpolitik bleiben konnte. Die wachsende Weltmachtstellung des Landes führte dazu, dass um 1850 die Antworten auf die Frage, welche Rolle die Verfassung dabei spielen sollte, fundamental verschieden waren von denen, die in den Jahren nach Waterloo gegeben worden waren, als das Land nach einem Vierteljahrhundert Krieg erschöpft und von einer wirtschaftlichen Depression und sozialen Konflikten gebeutelt war. Die herrschende Klasse von 1814 hatte ihre Sozialisation durch den Verlust der amerikanischen Kolonien und die Französische Revolution erfahren, während die einer Generation später auf den Siegen von Nelson und Wellington aufbaute. Statt zu fragen, warum das alte Regime zusammengebrochen war, frugen sie, wie das neue entstanden war und welche Rolle Verfassung dabei spielte, eine Verfassung, die sich nicht zuletzt durch den modernen Konstitutionalismus herausgefordert sah. In diesen Debatten waren daher, mitunter bewusst, mitunter auch unbewusst, die britische Verfassung und ihr Modell-, aber auch ihr Abwehrcharakter stets präsent. So wurde etwa in den Debatten über die Kolonien nicht zuletzt diskutiert, ob und falls ja, bis zu welchem Ausmaß, die britische Verfassung dort eingeführt werden sollte. Alle diese Debatten mündeten bei der breiten Mehrheit im Parlament in dieselbe Grundüberzeugung: radikale Veränderungen der britischen Verfassung waren strikt abzulehnen. Das Reformgesetz von 1832 war das Ergebnis eines langen und bitteren Kampfes gewesen, der zu einer politischen Zerreißprobe geführt hatte, die allein dadurch abgewehrt wurde, dass viele bereit waren, eine unausweichliche Notwendigkeit zu akzeptieren, selbst wenn die innere politische Einsicht für die Ziele der Reform fehlte. Damit war jedoch zugleich die nächste Verfassungsreform für mehr als eine Generation auf Eis gelegt. Die Debatte über die britische Verfassung bedeutete nie, sie mit anderen Verfassung vergleichen, schon gar nicht mit den Verfassungen des modernen Konstitutionalismus, stand doch die Überlegenheit der eigenen Verfassung völlig außer Frage. Allein das revolutionäre Prinzip der Volkssouveränität261 konnte schlimmste Erinnerungen an die englische Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts heraufbeschwören und erschien ebenso wie die Idee der Gleichheit absolut inakzeptabel. Die britische Verfassung bedeutete vor allem eine hierarchische Gesellschaftsordnung mit einem Monarchen an der Spitze, einer politisch aktiven Aristokratie und University Press, 2010, 320 – 333. Bezüglich Palmerstons eigenen Kommentaren und öffentlicher Reaktion, vgl. Brown, „The Power of Public Opinion“, 340 – 345. 261 Vgl. dazu unten Kap. V. 2.

3. Die britische Verfassung als antirevolutionäres Modell

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dem Volk, vertreten im Unterhaus. Eine derartige Ordnung galt als übereinstimmend mit der Natur und unerlässlich für Frieden und Stabilität nach innen wie nach außen.262 Die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus waren dagegen Produkte von Aufruhr und Revolution, die angesichts ihres widernatürlichen Charakters nur in Chaos und Anarchie enden konnten. Um dies zu verhindern, waren allein Verfassungen geeignet, die hierarchisch analog zur britischen Verfassung aufgebaut waren. Dabei schien die Form wichtiger als der Inhalt, so dass sowohl die von ihren Gegnern als despotisch gebrandmarkte Maitland Verfassung der Ionischen Inseln akzeptabel war als auch die oktroyierte portugiesische Verfassung von 1826, deren Inhalt man vermutlich nicht einmal genau kannte.263 „Verfassung“ meinte daher immer so etwas, was in den groben Grundzügen der britischen Verfassung vergleichbar war und sich daher gegen moderne Revolutionen ins Feld führen ließ. Palmerston setzte genau hier an, bereits 1830 in Belgien, nur wenige Monate nach der französischen Juli-Revolution von 1830, aber dann auch im Kontext der europäischen Revolutionen von 1848. Die britische Spanienpolitik der 1830er und 1840er Jahre mag ihren Beitrag dazu geliefert haben, dass die europäische Revolutionswelle 1848 nicht auf die iberische Halbinsel übersprang. Im Gegenzug hatte Canning zwar, sicherlich nicht ohne große Bauchschmerzen Ende 1824 gegen die Legitimisten die diplomatische Anerkennung der ersten lateinamerikanischen Staaten und vormaligen spanischen Kolonien durchgesetzt. Doch von deren am modernen Konstitutionalismus orientierten Verfassungen264 war nie die Rede, so als existierten diese gar nicht. Der sich dort breit machende Republikanismus sollte auf keinen Fall in Europa Fuß fassen. Der liberale „Wohltäter“ Palmerston kämpfte daher, wie bereits seine Vorgänger Castlereagh und Canning nicht nur für etwas, für die Ordnung, mehr und mehr gepaart mit Freiheit, sondern vor allem auch gegen etwas, nämlich gegen die Ausbreitung des modernen revolutionären Samens in der Gestalt von modernem Konstitutionalismus, Volkssouveränität und Republik, die gemeinsam zu einer un-

262

Vgl. dazu auch unten Kap. V. 1. Die einzige zeitgenössische englische Übersetzung nach meiner Kenntnis enthielt nur einige Verfassungsbestimmungen und erschien im American Annual Register for the year 1826 – 1827, New York: W. Jackson, 1828, II, 215 – 219. Selbst das englische Außenministerium scheint keine englische Übersetzung gehabt zu haben, da es erst mehr als zwanzig Jahre später eine französische Übersetzung publizierte, vgl. British Foreign and State Papers, 1825 – 1826, London: James Ridgway and Sons, 1848, XIII, 959 – 978. James Mackintoshs anonym veröffentlichter Artikel in The Edinburgh Review, 45/89 (Dezember 1826), 199 – 247, basierte auf der Pariser Ausgabe der Charte constitutionnelle de Portugal. Eine gekürzte Version dieses Artikels wurde wieder abgedruckt als „Statement of the Case of Donna Maria da Gloria as a Claimant to the Crown of Portugal“, in: The Miscellaneous Works of the Right Honourable Sir James Mackintosh, 3 Bde., London: Longman, Brown, Green, and Longmans, 1846, II, 411 – 439. 264 Vgl. dazu unten Teil VIII. 263

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II. England

mittelbaren Bedrohung Großbritanniens geführt hätten, wie die 1790er Jahre ebenso wie die Mitte des 17. Jahrhunderts gelehrt hatten.265 Sie zeigen damit aber auch die Grenzen auf: Grenzen der Politik, die in der Idealisierung der eignen Verfassung, nur behutsam, wenn überhaupt in der Lage war, diese der sich wandelnden modernen Welt anzupassen.266 Je mehr Palmerston die Segnungen der britischen Verfassung als Modell pries, desto mehr erstarrte diese, was im Innern nicht nur die Chartisten wiederholt auf den Plan rief mit ihren Forderungen nach grundlegenden Verfassungsänderungen. Grenzen aber auch des Parlaments, das mangels hinreichender Kenntnisse der englischen Außenpolitik hoffnungslos hinterlief, ohne eigene Akzente auf diesem Gebiet setzen zu können. Umso herausragender gelang ihm dies jedoch auf einem anderen Gebiet, dem der politischen Artikulation, Debatte und Kontroverse. Auf diesem Gebiet mochte es leicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das unerreichte Vorbild für Europa sein. Aber es war eben auch nur der Resonanzboden der Politik und nur in Ausnahmefällen die Politik selbst.

4. Die Auflösung des britischen Empire als Verfassungsproblem267 Nicht erst auf dem Höhepunkt seiner geographischen Ausdehnung in der Zwischenkriegszeit, als das britische Empire rund ein Viertel der Erdoberfläche umspannte, galt es als der Prototyp moderner Kolonialreiche, die sich über den gesamten Globus erstreckten und ein buntes Gemisch unterschiedlichster Völker und Kulturen unter ihre Herrschaft zwangen. Dennoch war dieses britische Empire ein Weltreich eigener Art, das sich in vielfacher Weise von den übrigen europäischen Kolonialreichen des 19. und 20. Jahrhunderts wie auch von den Reichen früherer Zeiten unterschied. Wenn dieses Empire im 19. Jahrhundert als Ausdruck britischer Weltherrschaft galt, dann nicht primär aufgrund seiner ungeheuren Größe, sondern weil es als Rohstofflieferant und Absatzmarkt für Industrieprodukte mit dem Mutterland ökonomisch eng verflochten war; vor allem aber, weil diese Verflechtung und die dazu erforderlichen Schifffahrtsrouten als die Arterien dieses Reiches strategisch und logistisch abgesichert waren. Indien als das imperiale Juwel konnte diese Rolle auf Dauer nur einnehmen, weil die Seewege nach Indien über den Atlantik (Gambia, Sierra Leone, Ascension, St. Helena, Kapstadt, Mauritius) wie durch das Mittelmeer 265

Vgl. dazu die beiden voraufgegangenen Kapitel. Vgl. dazu unten Kap. V. 6. 267 Überarbeitete und aktualisierte Version meines Beitrags „Die Auflösung des Britischen Empire oder die Suche nach einem Rechtsersatz für formale Herrschaft“, in: Das Verdämmern der Macht. Vom Untergang großer Reiche, hrg. v. Richard Lorenz, Frankfurt/M.: Fischer, 2000, 236 – 255. Um den Vortragscharakter zu wahren, wurde auf eingehende Literaturnachweise verzichtet. 266

4. Die Auflösung des britischen Empire als Verfassungsproblem

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(Gibraltar, Malta, Zypern, Suezkanal, Aden am Südausgang des Roten Meeres) militärisch von Großbritannien kontrolliert wurden. In der Fortsetzung nach Osten, Richtung Pazifik, spielten Singapur, Brunei und Hongkong dank einer Flotte, die stets doppelt so groß sein sollte wie die nächstgrößte, eine vergleichbare Rolle. Dieser militärischen Beherrschung der Weltmeere entsprach die ökonomische: Wenn es schon nicht stets britische Handelsschiffe waren, auf denen die Güter transportiert wurden, so waren diese doch im Zweifelsfall vor Antritt ihrer Reise in London versichert worden. Die Seeherrschaft war der konstitutive Faktor des britischen Weltreichs im Gegensatz zum französischen Kolonialreich. Seine ökonomische Bedeutung für Großbritannien war ein weiterer Gesichtspunkt. In den 1950er Jahren, als sich das Land beharrlich weigerte, an dem europäischen Einigungsprozess aktiv teilzunehmen, wickelte es zwischen 40 und 50 % seines Außenhandels mit seinen Kolonien und den daraus entstehenden Nachfolgestaaten ab. Dem hatte das sich im Wiederaufbau befindende Europa ökonomisch noch nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Eine dritte Besonderheit war schließlich neben eroberten oder anderweitig erworbenen Kolonialgebieten die Existenz von Siedlungskolonien durch Auswanderung zumal von den britischen Inseln, aus denen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die sogenannten weißen Dominions entwickelt hatten. Indem Großbritannien aus dem Verlust des ersten Empire gelernt hatte, als sich seine nordamerikanischen Kolonien mit Unterstützung aus Europa militärisch ihre Unabhängigkeit vom Mutterland erkämpft hatten, schienen aus seiner Sicht diese weißen Dominions zwischen 1945 und 1960 auch für die übrigen britischen Besitzungen einen Weg vorzuzeichnen, der einvernehmlich und ohne gewaltsame Auseinandersetzungen aus der kolonialen Abhängigkeit in eine unvermeidbar gewordene politische Unabhängigkeit führen und dennoch Großbritannien weiterhin einen spezifischen, in jedem Fall aber ökonomischen Einfluss und Vorteil sichern sollte. Diese dank der britischen Verfassung offenstehenden rechtspolitischen Möglichkeiten des britischen Dekolonisierungsprozesses, anstelle der in der Regel betrachteten ökonomischen oder militärischen Gesichtspunkte, sollen im Folgenden im Zentrum der Untersuchung stehen, können diese doch am ehesten deutlich machen, dass dieser Prozess, so unvermittelt er nach Ende des Zweiten Weltkrieges abzulaufen schien, in der Verselbständigung der weißen Dominions nicht nur wichtige Vorläufer kannte. Vielmehr schienen gerade diese zu lehren, dass formale Unabhängigkeit fortdauernder informeller Herrschaft mit ihren engen und zumal ökonomisch privilegierten Beziehungen dank der flexiblen britischen Verfassung nicht im Wege stehen müsste. Auch wenn sich der Dekolonisierungsprozess innerhalb des von Paul Kennedy dargelegten Rahmens von ökonomischer Stärke und militärischer Macht und ihres schließlichen Verfalls abspielte, stellte die Auflösung des britischen Weltreichs wie bereits zuvor dieses Empire selbst völkerrechtlich einen Sonderfall dar, der sich nicht ausschließlich mit Kennedys griffiger Formel umschreiben lässt und der sich aufgrund anderer konstitutioneller Rahmenbedingungen wesentlich von der Auflösung

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II. England

des französischen Kolonialreichs unterschied. Dieser Vorgang lässt sich vielmehr nur verstehen, wenn man über Kennedys Koordinaten, die als solche schon zu modifizieren wären, hinausblickt und eben jene in der Regel viel zu wenig beachtete Ebene der rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Verknüpfungen betrachtet, die vor allem dort von Bedeutung waren, wo die politische Unabhängigkeit vormaliger Kolonien nicht das Ergebnis eines militärischen oder politischen fait accompli war. Die Endphase der Auflösung des britischen Empire nach 1945 erscheint unter dieser Perspektive nicht als der Sieg der Antiimperialisten, als das Ergebnis von moralischen Skrupeln oder als schiere Interessenlosigkeit im Mutterland und lässt sich auch nicht als das ausschließliche Resultat amerikanischer Pressionen begreifen. Sie war vielmehr der Schlussakkord einer Entwicklung, dessen beschleunigter Ablauf sich als das unausgesprochene Ergebnis der Grenzen der eigenen Macht darstellte, die bereits in der ersten Jahrhunderthälfte erkennbar geworden waren und nach 1945 immer offener zu Tage traten, das politisch das Unvermeidliche akzeptierte, doch zugleich mit Hilfe rechtlicher Konstruktionen ein Höchstmaß an künftigen Einflussmöglichkeiten nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Interessen sicherzustellen suchte. Anfang 1947 hatten diese reduzierten eigenen Möglichkeiten zum militärischen Rückzug aus Griechenland und der Türkei geführt und nach der Iran-Krise von 1951 mit dem Suez-Debakel vom Herbst 1956 eine neue Dimension erreicht. Hieraus Konsequenzen für eine Neuorientierung der britischen Politik zu ziehen, war der Eden-Nachfolger Harold Macmillan nach der erfolgreichen Wahl von 1959 mit dem neuen Minister für die Kolonien Ian Macleod bereit, ohne Großbritanniens weltpolitische Rolle vollends aufzugeben. Damit sollte an die Stelle von direkter Herrschaft und Einfluss das auf London zentrierte Commonwealth mit seinem Präferenzsystem und seinen vielfältigen politischen und zumal ökonomischen Möglichkeiten treten. Richtet man den Blick auf die angedeuteten rechtlichen und verfassungsrechtlichen Komponenten und ihre politische Bedeutung, wird der britische Dekolonisierungsprozess unversehens zu einem ungewöhnlich vielschichtigen und komplexen Vorgang, der den zweifellos vorhandenen politischen Niedergang und militärischen Machtverfall wenn nicht zu unterlaufen, so doch zumindest zu überspielen suchte und ihn damit zumal aus der britischen Perspektive weniger abrupt und endgültig erscheinen ließ, erlaubte er doch dank des Fehlens starrer und schwer änderbarer Verfassungsstrukturen vergleichsweise leicht den Aufbau jenes eigentümlichen Commonwealth of Nations, jener typisch britischen Erfindung, die in der Politik des Landes nicht allein in den fünfziger und sechziger Jahre eine erhebliche Rolle spielte, während die in Analogie dazu 1946 gegründete Union française (ab 1958 Communauté française) letztlich scheiterte. Der britische Dekolonisierungsprozess spielte sich somit keineswegs innerhalb weniger Jahre ausschließlich an der Peripherie zum Zeitpunkt der jeweiligen politischen Unabhängigkeit ab, sondern konnte sich pro Nachfolgestaat in der Diskus-

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sion um dessen künftigen Status über jeweils einen langen Zeitraum erstrecken, ohne überall bereits abgeschlossen zu sein, wie etwa das Problem anhaltender rechtlicher Abhängigkeiten ebenso belegt wie das 1999 in Australien gescheiterte Referendum über die Republik – eine politische Forderung, die spätestens seit 2016 erneut virulent ist. Auseinandersetzungen dieser Art existierten in der Regel in Kolonialreichen mit Verfassungen auf der Basis des modernen Konstitutionalismus erst gar nicht, so dass eine wesentliche rechtliche Voraussetzung für ihre Existenz der spezifische Charakter der britischen Verfassung ist. Spötter in Großbritannien sagen gerne, die einzige geschriebene Verfassung, die das Land besitze, sei Albert V. Diceys erstmals 1885 erschienene Introduction to the Study of the Law of the Constitution. Übertragen auf die rechtlichen und verfassungsrechtlichen Beziehungen zwischen Mutterland und abhängigen Gebieten, ergibt sich aus dem Charakter der britischen Verfassung, dass diese nicht in einem spezifischen Rechtsakt oder in einem überschaubaren Korpus von Gesetzen definiert ist, sondern dass man zu ihrem Verständnis ein ganzes Bündel von Gesetzen und Beschlüssen heranziehen muss, ohne dabei – getreu dem britischen Pragmatismus – je auf allgemeinverbindliche Definitionen zu treffen, was ein Dominion, was das Commonwealth oder was Unabhängigkeit genau meint. Hinzu kommt, dass das britische Parlament dank seiner Souveränität jederzeit durch einfache Gesetze die Verfassung ändern kann, ohne dass eine Person oder Institution es daran hindern könnte. So wie sich die verfassungsrechtliche Struktur des Vereinigten Königreichs grundlegend von Staaten mit einer Verfassung auf der Grundlage des modernen Konstitutionalismus unterscheidet, ist das Commonwealth of Nations etwas völlig anderes als etwa die Europäische Union oder die NATO und im Gegensatz zu ihnen nicht durch Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten gegründet worden, sondern hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt. Gemäß der Definition von Singapur von 1971 ist es kein Völkerrechtssubjekt und kann keine Verträge schließen, sondern ist eine freiwillige Vereinigung. Die Mitgliedschaft ist an die Unabhängigkeit und an die Zustimmung der vorhandenen Mitglieder gebunden, an die Anerkennung der Königin als Head of the Commonwealth und an die Bereitschaft zur Mitarbeit. So wie versucht würde, aus dem Commonwealth eine eindeutige, mit völkerrechtlich verbindlichen Regeln fest zementierte politische Organisation zu schmieden, würde er vermutlich in sich zusammenbrechen. Doch als lockere multiethnische Vereinigung mit nahezu einem Drittel der Weltbevölkerung mit aktuell 54 Mitgliedsstaaten – darunter mit Mosambik erstmals mit einem Staat, der nie weder als Ganzes noch in Teilen je dem britischen Empire angehört hat –, die sich mit ihren Prinzipien von Harare (1991) nachdrücklich der Demokratie, den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlen und deren Nichtbeachtung zur befristeten Suspension – nicht zum Ausschluss – der Mitgliedschaft führen kann, vermag das Commonwealth heute nicht nur wichtige Brückenfunktionen zwischen den Kontinenten wahrzunehmen. Seine bemerkenswerte Heterogenität liefert viel-

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mehr auch die Voraussetzungen für eine Vielzahl von Aktivitäten in den Bereichen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport sowie Erziehung und Bildung. Spricht man hingegen vom Commonwealth als einer großen Familie, so ist das Bild leicht irreführend, denn familiäre Querverbindungen etwa zwischen Zypern und Jamaica, Malaysia und Tansania oder gar zwischen Indien und Pakistan sind kaum entwickelt. Insofern ist das Commonwealth schlechterdings ohne das Vereinigte Königreich nicht denkbar. Hier hat es sein geistiges und politisches Zentrum, und hier spielt es seine Rolle, auch wenn es im Sinne des formalen Rechts wie des Verfassungsrechts kaum existiert, zwar ein Sekretariat in London hat, aber ansonsten über keine eigenverantwortlichen Institutionen oder Regierungsorgane verfügt. Es erscheint daher wenig sinnvoll, von einer „Verfassung“ des Commonwealth zu sprechen, wie dies gelegentlich geschieht. Dennoch bezweifeln auch seine schärfsten Kritiker nicht, dass das Commonwealth of Nations weit mehr als nur Geschichte oder Nostalgie ist. Mit dem Ende der formalen politischen Herrschaft endeten alle jene britischen Gesetze, die die Verwaltung der einzelnen Kolonien und abhängigen Territorien betrafen, und alle jene einstigen Besitzungen sind heute unabhängige Staaten, die nach ihren eigenen Verfassungen und Rechtssystemen regiert und verwaltet werden. Nachdem am 1. Juli 1997 die Souveränität über Hongkong wieder an China übergegangen ist, existieren gegenwärtig lediglich noch Anguilla, Bermuda, die Cayman Inseln, die Falkland Inseln, Gibraltar, Montserrat und einige kleinere Inseln als die 14 abhängigen überseeischen Territorien des Vereinigten Königreichs, einschließlich des britischen Antarktis Territoriums. Für die ständig bewohnten Territorien gilt heute im Wesentlichen jenes grundlegende Gesetz betreffs die Gültigkeit kolonialer Gesetze (Colonial Laws Validity Act) von 1865, das unter anderem festlegt, dass ein Gesetz des imperialen Parlaments nur dann auf eine Kolonie Anwendung findet, wenn dieses im Gesetz ausdrücklich festgestellt ist, dass ferner ein koloniales Gesetz, das in irgendeiner Weise einem Gesetz des imperialen Parlaments, das die Kolonie betrifft, widerspricht, in diesen und nur in diesen Punkten null und nichtig ist; dass kein koloniales Gesetz allein deswegen nichtig ist, weil es dem englischen Common law entgegensteht und dass jede Kolonie das Recht hat, im Rahmen der allgemeinen Gesetze und Bestimmungen des Reiches sich selbst Gesetze zu geben und ein eigenes Gerichtswesen zu errichten. Selbst im Falle der weißen Dominions – die doch landläufigerweise als die ersten unabhängigen Nachfolgestaaten einstiger britischer Besitzungen gelten, sieht man einmal von den Vereinigten Staaten ab – war dieses formale Ende britischer Gesetze wie überhaupt der rechtlichen Bindungen an das Vereinigte Königreich alles andere als eindeutig. Der Dominionstatus hatte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert herausgebildet, als einige Kolonien, insbesondere Kanada, Neuseeland und Australien die Rechtsstellung der sich selbst regierenden Kolonie erhielten. Ab 1887 gab es periodische Konferenzen dieser kolonialen Regierungen unter dem Vorsitz des britischen Premierministers. Auf der Reichskonferenz (Imperial conference) von 1907 wurde dann der Begriff dominion als der sich selbst regierenden Kolonie im

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Unterschied zu den übrigen Kolonien eingeführt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten diese Dominions praktisch völlige Handlungsfreiheit in ihren inneren Angelegenheiten, und sie erhielten das Recht, eigene diplomatische Vertretungen im Ausland zu unterhalten. Ab 1923 wurde ihnen zugebilligt, eigene Verträge mit ausländischen Mächten im Namen der Krone abzuschließen. Damit hatte der britische Dekolonisierungsprozess – ohne dass dieser Begriff im öffentlichen Diskurs wie im politischen Bewusstsein der Zeitgenossen bereits eine Rolle gespielt hätte – das entscheidende Stadium erreicht, wie sich vor allem rückblickend herausstellen sollte. Als vergleichsweise unverdächtiger Zeuge mag dafür Sir John Marriott dienen, der in der 1938 erschienenen 4. Auflage seiner English Political Institutions in den einleitenden Kapiteln zum Verfassungswandel seit 1910 schrieb, dass seit 1925 nur wenige Dinge vorgefallen seien, die die britische Verfassung derart betroffen hätten wie der Wandel in den Beziehungen zwischen den überseeischen Dominions auf der einen und der Reichskrone und dem Reichsparlament auf der anderen Seite. Marriott hatte dabei zunächst an die Reichskonferenz von 1926 gedacht, die als Reaktion auf die Unabhängigkeitsbewegungen in Südafrika und Irland, aber auch auf die kanadischen Forderungen nach diplomatischer Eigenständigkeit einberufen wurde. In dem weitgehend von Balfour verfassten Abschlussbericht – daher mitunter auch Balfour-Bericht genannt – stellte die Konferenz fest, Großbritannien und die Dominions seien „autonome Gemeinschaften innerhalb des britischen Reiches, gleich an Status, in keiner Weise einer dem anderen untergeordnet in irgendeinem Bereich ihrer inneren oder auswärtigen Angelegenheiten, jedoch vereint in ihrer gemeinsamen Ergebenheit gegenüber der Krone und freiwillig verbunden als Mitglieder des britischen Commonwealth of Nations“.268 Das Parlament in Westminster sollte zukünftig nur noch mit der Zustimmung des jeweiligen Dominion Gesetze erlassen, die dieses betrafen. Damit hatte der konservative Lord Balfour das gleiche zum Ausdruck gebracht, was Alfred Milner, einst einer der führenden Vertreter des britischen Imperialismus, sieben Jahre zuvor mit seiner Forderung einer „absoluten, vollkommen gleichen Partnerschaft zwischen dem Vereinigten Königreich und den Dominions“269 als einzige Möglichkeit des Fortbestehens des britischen Empire ausgedrückt hatte. Bedeutete die Balfour-Erklärung jedoch tatsächlich die politische Gleichstellung der Dominions mit dem Mutterland, gar deren völkerrechtliche Unabhängigkeit? Oder war das mit ihr postulierte Prinzip der Gleichheit der Dominions mit dem Vereinigten Königreich lediglich eine großzügige politische Absichtserklärung oder – um die Fragestellung in einem spezifisch juristischen Sinn zu formulieren – die 268 Zit. n. d. grundlegenden Werk von Robert MacGregor Dawson (Hrg.), The Development of Dominion Status 1900 – 1936 [1937], Ndr. London: Cass, 1965, 331. 269 Zit. n. Robert Livingston Schuyler, Parliament and the British Empire. Some Constitutional Controversies Concerning Imperial Legislative Jurisdiction, New York: Columbia University Press, 1929, 221.

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Erklärung eines vorkonstitutionellen Rechts? War die britische Regierung 1926 auf dem Höhepunkt der Ausdehnung des britischen Weltreichs und im Jahr der massiven sozialen Auseinandersetzungen im Innern und des Generalstreiks wirklich bereit, sich völkerrechtlich von den Dominions zu trennen? Bevor man sich verführen lässt, aus dem Balfour-Bericht voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen, erscheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass die Reichskonferenz weder exekutive noch legislative Funktionen besaß und dass ihr Beschluss in eklatantem Widerspruch zur britischen Verfassung und zum Souveränitätsanspruch des britischen Parlaments ebenso stand wie zu dem ehernen britischen Verfassungsprinzip, dass ein für einen bestimmten Zweck geschaffenes Parlament kein über seine Vollmachten hinausgehendes Gesetz beschließen kann. Auch wenn sich die Verfassungskonvention mittlerweile weiterentwickelt hatte, dürfte es unzweifelhaft sein, dass 1926 kein Dominion das Recht erhielt, von sich aus aus dem Reichsverband auszuscheiden. Ob zukünftig das Colonial Laws Validity Act von 1865 für die Dominions weiter gelten würde, wurde bewusst offengelassen und einer zukünftigen Regelung vorbehalten. Hatte also Westminster wirklich jene von Dicey 1914 aufgezählten drei zentralen Rechtsvorbehalte aufgegeben, nämlich dass kein Dominion das Recht habe, ein das Dominion betreffende Gesetz des imperialen Parlaments aufzuheben, ohne Rücksprache mit London einen Vertrag mit einer dritten Macht abzuschließen und im Falle eines Krieges zwischen Großbritannien und einem auswärtigen Staat neutral zu bleiben? War es also eine Gleichheit ohne wirkliche Unabhängigkeit? Wo lagen tatsächlich die Grenzen der verkündeten Gleichheit und der Handlungsfreiheit nach Innen und Außen, verglichen mit der von Dicey 1914 festgestellten Unabhängigkeit der Dominions als „völlige Unabhängigkeit im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten“?270 Ungeachtet dieser ungeklärten Fragen und ungelösten verfassungsrechtlichen Probleme muss die Reichskonferenz von 1926 als erster entscheidender Schritt zur Auflösung des britischen Kolonialreichs angesehen werden. Denn – und an dieser Stelle muss der ansonsten verdienstvollen, nahezu zeitgenössischen Abhandlung von Robert Maemecke entschieden widersprochen werden – trotz seiner unbezweifelbaren politischen Autorität ging der Balfour-Bericht deutlich darüber hinaus, lediglich eine „allgemeine Entscheidung und Ausgestaltung der durch die Gewohnheit manifestierten Ordnungswirklichkeit“ zu sein, der allein „den geltenden Zustand der Reichsordnung deklaratorisch zur vollen Klarheit“ brachte.271 Sehr viel zutreffender hatte der britische Verfassungshistoriker A. B. Keith bereits 1929 festgestellt, dass der Balfour-Bericht einen Zustand beschrieb, der „das Ideal sein könnte, den sie

270

Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, London 1915, Ndr. Indianapolis: Liberty Fund, 1982, l (Einleitung zur 8. Aufl.). 271 Robert Maemecke, Die rechtliche Stellung der britischen Dominien beim Abschluß internationaler Verträge. Ein Beitrag zur Untersuchung der Rechtsprobleme der Britischen Staatengesellschaft (Abhandlungen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen, H. 25), Leipzig: Deichert, 1938, 66. 8

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anstreben sollte, aber der nicht die gegenwärtige Verfassung darstellt“.272 Tatsächlich hatte die Konferenz rechtliches Neuland betreten, und wenn ihre Beschlüsse irgendeine politische Bedeutung haben sollten, lag es an Regierung und Parlament, sie umzusetzen. Balfour selbst hat das Ergebnis, wie es sich in dem Westminster-Statut (Statute of Westminster) 1931 niedergeschlagen hat, nicht mehr erlebt. Mit ihm wurde festgelegt, dass aus der gemeinsamen Verbindung der fünf Dominions (Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika und Irland) mit der Krone folgte, dass diese allen Veränderungen des Thronfolgerechts wie des königlichen Titels zustimmen müssen. Das Colonial Laws Validity Act sollte für kein zukünftiges Gesetz der Dominions mehr gelten, und die Dominions sollten das Recht erhalten, jedes Gesetz, das das Recht der Dominions betreffe, zu ändern oder aufzuheben. Schließlich sollte das Parlament in Westminster zukünftig nur noch dann die Dominions betreffende Gesetze erlassen dürfen, wenn das fragliche Dominion ausdrücklich darum nachgesucht hatte. Ob damit jedoch tatsächlich durch das imperiale Parlament die souveräne Macht eben dieses Parlaments beschnitten worden ist, ist umstritten – vermutlich jedoch mehr in der verfassungsrechtlichen Theorie als in der politischen Praxis. Kein englisches Gericht könnte gegen ein Parlamentsgesetz, das die Bestimmungen der Statute of Westminster missachtet, etwas unternehmen. Ob sich jedoch die Gerichte der Dominions an einen derartig erneuerten Souveränitätsanspruch des britischen Parlaments gebunden fühlen würden, mag bezweifelt werden, würde aber wirkungslos bleiben, solange der Gerichtsausschuss des Geheimen Rats (Judicial Committee of the Privy Council) in London als letzte Berufungsinstanz galt. Viel schwieriger und weitreichender ist hingegen die Frage, ob die Statute of Westminster Auswirkungen auf die Verfassungen der Dominions hatte, soweit diese durch Gesetze des Parlaments des Vereinigten Königreichs zuvor bestimmt worden waren, wie etwa durch das Gesetz betreffend Britisch Nordamerika (British North America Act) von 1867, das Gesetz betreffend Australien (Commonwealth of Australia Act) von 1900 und das Gesetz betreffend Südafrika (South Africa Act) von 1909. Konnten die Parlamente der Dominions diese Gesetze einfach verändern oder abschaffen und damit etwa gegebenenfalls auch die rechtlichen Berufungen an das Judicial Committee des Privy Council als höchster imperialer Rechtsinstanz verhindern? Die Formulierungen ihres 10. Absatzes könnten hier gewisse Spielräume zulassen, hätten nicht bereits der 7. und 8. Absatz eindeutig bestimmt, dass die Statute of Westminster Kanada, Australien und Neuseeland nicht das Recht gab, die British North America Acts seit 1867 bzw. die Verfassungen von Australien und Neuseeland aufzuheben oder zu verändern. Diese Rechtsbeschränkungen der Dominions wurden gegenüber Kanada noch verschärft durch die Feststellung, dass die Gesetzeshoheit des kanadischen Parlaments wie die der Parlamente der kanadischen Provinzen strikt auf solche Angelegenheiten begrenzt seien, die „innerhalb des 272 Arthur Berriedale Keith, The Sovereignty of the British Dominions, London: Macmillan, 1929, 184.

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Kompetenzbereichs des Parlaments von Kanada beziehungsweise der gesetzgebenden Körperschaften der Provinzen“ lägen.273 Das bedeutete, dass das Vereinigte Königreich weiterhin Gesetzgebungsbefugnisse hatte, wenn diese Gesetze oder Bestimmungen der kanadischen Verfassung zu ändern oder zu ergänzen waren, und in der Tat hat das britische Parlament nach 1931 eine Reihe von British North America Acts erlassen, darunter jenes von 1949, das das Recht, die kanadische Verfassung zu ändern, von spezifischen Ausnahmen abgesehen, dem kanadischen Parlament übertrug, falls sich im konkreten Fall nicht mindestens ein Drittel der Mitglieder des britischen Unterhauses dagegen aussprächen. Ob der Absatz 2 (2) der Statute of Westminster, demzufolge kein Gesetz eines Dominion-Parlaments deswegen nichtig sei, weil es einem Gesetz des Parlaments des Vereinigten Königreichs widerspreche, darauf Kanada das Recht gab, dieses britische Gesetz von 1949 zu ändern oder aufzuheben, um dann endlich die volle Verfassungssouveränität in Kanada zu haben, blieb unter kanadischen Verfassungsrechtlern in den folgenden Jahrzehnten heftig umstritten. Das Problem wurde de jure erst 1982 gelöst, als nach jahrelanger Verfassungsdiskussion in Kanada das britische Parlament auf Verlangen des kanadischen Parlaments und gegen die Wünsche von Quebec das Canada Act verabschiedete, mit dem die Kompetenz, die kanadische Verfassung zu ändern, endgültig Kanada übertragen wurde. Erst seit diesem Zeitpunkt, 115 Jahre nach dem British North America Act von 1867, ist Kanada verfassungsrechtlich tatsächlich unabhängig. Im Prinzip ähnlich lag der Fall in Australien und Neuseeland. Beide Staaten hatten zunächst kein Interesse, die Statute of Westminster anzuwenden. Australien übernahm sie erst 1942, Neuseeland nicht vor 1947. Seither hat das neuseeländische Parlament die volle Macht, die Verfassung zu verändern, während das australische Bundesparlament diese erst seit dem Australia Act von 1986 besitzt, das vom Parlament des Vereinigten Königreichs wie vom australischen Bundesparlament verabschiedet wurde, mit dem die residuellen verfassungsrechtlichen Verbindungen Australiens mit dem Parlament des Vereinigten Königreichs, der britischen Regierung und dem britischen Rechtssystem beendet wurden, ohne dabei die Position der Königin als Königin von Australien zu verändern. Zugleich endeten damit alle Berufungsrechte australischer Gerichte an den Privy Council, womit automatisch das höchste australische Gericht, der High Court of Australia zur letzten Berufungsinstanz in Australien wurde. Auch in diesen Fällen datiert also die tatsächliche verfassungsrechtliche Unabhängigkeit von Neuseeland und Australien erst seit jüngerer Zeit, nämlich ab 1947 bzw. 1986, wobei Neuseeland in seinem Verfassungsgesetz (Constitution Act) von 1986 noch einmal ausdrücklich betonte, dass das Parlament des Vereinigten Königreichs keine Gesetzgebungskompetenz in Neuseeland besitze und die Statute of Westminster keinerlei Gültigkeit mehr habe.

273

413.

Westminster-Statut, Abs. 7 (3), in: Dawson (Hrg.), Development of Dominion Status,

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Bezeichnenderweise hatte die Statute of Westminster Irland und Südafrika, die beiden Länder, in denen sich das Unabhängigkeitsstreben am stärksten manifestierte, von vergleichbaren Rechtsbeschränkungen ausgenommen. Dennoch wurde 1952 in Südafrika in einem Gerichtsurteil festgestellt, dass die Statute of Westminster das südafrikanische Parlament nicht befähige, durch einfache Gesetzgebung die Verfassung des Landes zu ändern. Doch indem das Land 1961 mit dem Übergang zur Republik aufgrund seiner Apartheidpolitik angesichts des Widerstands der übrigen Mitgliedsstaaten aus dem Commonwealth ausschied (bis zu seinem Wiedereintritt 1994), war dieses Problem de facto entschieden. Bezüglich Irlands bestätigte hingegen der Privy Council 1935, dass gemäß der Statute of Westminster das irische Parlament das Recht habe, den Irland-Vertrag und damit auch das Gesetz betreffend den irischen Freistaat (Irish Free State Act) von 1922 zu verändern. Damit war rechtlich der Weg frei für die irische Verfassung von 1937, die im Widerspruch zur Westminster-Statut und dem Gesetz betreffend die Regierung von Irland (Government of Ireland Act) von 1920 den Anspruch auf das gesamte Territorium der Insel erhebt. Wenn mithin die Statute of Westminster einen wesentlichen rechtlichen Schritt auf dem Weg zur Auflösung des Kolonialreichs darstellte, die die verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus den Reichskonferenzen von 1926, 1929 und 1930 gezogen hatte, dokumentierten dennoch die Beispiele der weißen Dominions hinreichend, mit wie vielen Rechtsvorbehalten dieser Weg versehen war und wie stark die rechtlichen und verfassungsrechtlichen Bindungen auch weiterhin geblieben waren, so dass 1931 noch auf Jahrzehnte hin nicht die absolute und uneingeschränkte Souveränität der Dominions bedeutete. Im Gegenzug hatten aber die Dominions verbriefte Rechte erhalten, wenn es um bislang vermeintlich rein britische Fragen ging und auch in Zukunft geht, nämlich in den die Monarchie betreffenden rechtlichen Angelegenheiten. Diese kamen bereits 1936 im Zusammenhang mit der schließlichen Abdankung von Eduard VIII. zum Tragen, als der britische Premierminister Baldwin gemäß der Statute of Westminster die Stellungnahme der Regierungen der Dominions zur vorgesehenen Heirat des Königs einholte und entsprechend der Mehrheit auf den Rücktritt des Königs bestand. Analog äußerten sich 1952 die Monarchien im Commonwealth bei der Thronbesteigung von Elisabeth II. zur zukünftigen Anrede und zum Titel der Monarchin. Der britische Dekolonisierungsprozess verlief nicht nur in Bezug auf die ehemaligen Dominions zögerlich und etappenweise, indem sich das Vereinigte Königreich wesentliche Rechtspositionen zu sichern wusste, die bewirken sollten, dass die Verbindungen mit den einstigen Kolonien nicht abrupt abrissen und auch weiterhin ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben war. Alle Regierungen des Vereinigten Königreichs haben daher in der Zeit nach 1945 versucht, bei der Unabhängigkeit der vormaligen Kolonien analog der Statute of Westminster zu verfahren. So hieß es im Gesetz betreffend die Unabhängigkeit Indiens (Indian Independence Act) von 1947 zwar, dass kein ab dem Unabhängigkeitstag von Indien und Pakistan vom britischen Parlament erlassenes Gesetz für beide Dominions

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Gültigkeit haben solle, „so lange es nicht von der gesetzgebenden Körperschaft des Dominions auf dieses ausgedehnt worden ist“, während im Gegenzug kein indisches oder pakistanisches Gesetz nichtig sein solle, das gegen „die Bestimmungen dieses oder eines anderen bestehenden oder zukünftigen Parlamentsgesetzes“ des Vereinigten Königreichs verstoße. Zugleich aber hatte die Gesetzespräambel klargestellt, dass mit diesem Gesetz „gewisse Bestimmungen des Gesetzes betreffend die Regierung von Indien (Government of India Act) von 1935“ geändert274 und damit alle übrigen unverändert bestehen bleiben würden, während der Absatz 7 (1) die Rechtsbegrenzungen der neuen Dominionparlamente feststellte, indem beide Staaten nun in allen sie betreffenden Bereichen die Rechtsnachfolge des Vereinigten Königreichs antraten. Noch folgenreicher war der Absatz 18 (1), mit dem alle vor dem Unabhängigkeitstag erlassenen britischen Gesetze, Rechtssetzungen des Geheimen Rates (Orders in Council), Verordnungen u. a., selbst wenn sie nicht ausdrücklich Teil eines das vormals britische Indien betreffenden Gesetzes waren, als weiterhin gültig bezeichnet wurden, sofern sie nicht im ausdrücklichen Widerspruch zum Indian Independence Act standen. Damit blieben verfassungsrechtliche Beschränkungen verankert, die zukünftig rechtlich allein in der Mitwirkung des Vereinigten Königreichs gemindert oder aufgehoben werden konnten. Erst mit der indischen Verfassung von 1950 wurden diese Beschränkungen abgeschafft, indem sie das Government of India Act von 1935 ebenso wie das Indian Independence Act von 1947 außer Kraft setzte. Formal war der Fall Ceylon – des heutigen Sri Lanka – anders gelagert, denn die Verfassung von Ceylon von 1946 war in London geschrieben worden und als Order in Council verkündet worden und in dieser Form in das Gesetz betreffend die Unabhängigkeit von Ceylon (Ceylon Independence Act) von 1947 eingegangen. Damit war nicht nur festgelegt, dass die Verfassung allein mit der Zustimmung des Königs, d. h. der britischen Regierung geändert werden konnte, sondern in der Verfassung selbst auch verankert, dass eine Parlamentsmehrheit von Zweidritteln für eine Verfassungsänderung erforderlich war. Jedoch war es verfassungsrechtlich zumindest umstritten, ob Ceylon ebenso wie Indien und Pakistan das Recht hatte, das Ceylon Independence Act zu ändern, denn in seinem ersten Anhang (First Schedule) fehlte der ausdrückliche Hinweis auf dieses Gesetz, und es hieß lediglich, dass keines seiner Gesetze nichtig sein solle, das gegen „die Bestimmungen eines bestehenden oder zukünftigen Gesetzes des Parlaments“ des Vereinigten Königreiches verstoße.275 Andererseits fand sich hier jedoch auch nicht die deutliche Formel der Rechtsbeschränkung, die das Indian Independence Act enthalten hatte. Doch die daraus resultierende Ungewissheit, ob mithin das indische und pakistanische Parlament souveräner waren als das ceylonesische oder umgekehrt, dürfte letztlich Ausdruck einer britischen Politik in dieser Phase der Dekolonisierung gewesen sein, die nach Formen suchte, ein Mindestmaß an rechtlichen Bindungen und damit an 274 Indian Independence Act 1947, Präambel, Abs. 6 (2), (4), abgedr. in: Sir Ivor Jennings, Constitutional Laws of the Commonwealth, I, Oxford: Clarendon Press, 1957, 461, 463. 275 Ceylon Independence Act, First Schedule, s. 1 (2), abgedr. in: ebd., 469.

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britischem Einfluss zu erhalten, ohne dass dafür feste Regeln und Formen oder generelle politische Richtlinien kraft Verfassung bereitstanden. Diese Position tritt umso deutlicher hervor, wenn man zum Vergleich das Gesetz betreffend die Unabhängigkeit von Burma (Burma Independence Act) von 1947 heranzieht, also eines Landes, das mit dem Erreichen der Unabhängigkeit alle Bande zum Vereinigten Königreich kappte und nicht Mitglied des Commonwealth wurde. Hier hieß es kurz und knapp, mit dem Unabhängigkeitstag „wird Burma ein unabhängiges Land, das weder einen Teil der Dominions seiner Majestät bildet noch Anspruch auf den Schutz seiner Majestät hat“, ohne jedes weitere Wort über irgendwelche vormaligen oder bestehenden Rechtsvorbehalte.276 Die Mehrzahl der zeitlich nachfolgenden Verfassungen einstiger Kolonien und zukünftiger Mitglieder des Commonwealth, darunter die von Ghana von 1957, sind als Order in Council nach dem Muster der Verfassung von Ceylon gewährt worden und in den anschließenden Jahren vielfach wegen der in ihnen enthaltenen Rechtsbeschränkungen kritisiert bzw. abgeschafft worden, so in Ghana 1960. Der eigentliche Durchbruch hin zur vollen und uneingeschränkten Unabhängigkeit und damit den völligen Verzicht des Vereinigten Königreichs auf irgendeine zukünftige gesetzliche Einwirkungsmöglichkeit vollzog sich erst mit dem Gesetz betreffend die Unabhängigkeit Nigerias (Nigeria Independence Act) von 1960, mit dem der Weg seit dem Ende des 19. Jahrhunderts über die Reichskonferenz von 1926 und das Statute of Westminster von 1931 abgeschlossen war. Mit dem Nigeria Independence Act verkündete die britische Regierung, dass sie keinerlei Verantwortung für die Regierung von Nigeria oder eines seiner Teile habe; dass das Colonial Laws Validity Act von 1865 kein zukünftiges Gesetz des nigerianischen Parlaments binde; dass das nigerianische Parlament volle Gesetzgebungsfreiheit habe und selbst Gesetze erlassen könne, die gegen die Gesetze des Vereinigten Königreichs, einschließlich des Unabhängigkeitsgesetzes, verstießen, und dass das britische Parlament zukünftig kein Gesetz verabschieden werde, das sich auf Nigeria oder eines seiner Teile als Bestandteil seines Rechtes erstrecken werde. Hatte es noch im Ghana Independence Act, in Abwandlung früherer Unabhängigkeitsgesetze, gehießen, dass kein Gesetz des Parlaments des Vereinigten Königreichs für Ghana Gültigkeit habe, „so lange nicht in einem derartigen Gesetz ausdrücklich erklärt wird, dass das Parlament von Ghana dieses Gesetz verlangt und ihm zugestimmt hat“,277 fehlte jeder vergleichbare Passus im Nigeria Independence Act. Stattdessen wurde jene Formulierung des Indian Independence Act erweitert, die dem Nachfolgestaat erlaubte, Gesetze zu erlassen, die gegen das eigene Unabhängigkeitsgesetz verstießen, und die ihm nunmehr, darüber hinausgehend, das Recht einräumte, selbst dieses Gesetz abzuschaffen, zu ergänzen oder zu verändern. Kein Unabhängigkeitsgesetz des 276

Abgedr. in: Documents and Speeches on British Commonwealth Affairs 1931 – 1952, hrg. v. Nicholas Mansergh, II, London: Oxford University Press, 1953, S. 779 – 792, bes. Abs. 1 (1), ebd., 779 – 780. 277 5 & 6 Eliz. 2, c. 6, s. 1 (a).

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Parlaments des Vereinigten Königreiches war in der Vergangenheit bei einem im Commonwealth verbliebenen Land so weit gegangen. Damit hatte das britische Parlament jede Gesetzgebungskompetenz für ein in die Unabhängigkeit entlassenes Territorium aufgegeben, entsprechend der Überzeugung von Dicey, dass ein souveränes Parlament sich seiner Macht entäußern könne, denn jede etwaige spätere – gewiss allein theoretische – Möglichkeit, dass das souveräne britische Parlament das Nigeria Indepedence Act widerrufen und sich damit erneut rechtlich in den Stand versetzen könne, per Gesetz in Nigeria einzugreifen, würde an Absatz 1 (2) scheitern, nach dem kein britisches Gesetz zukünftig für Nigeria gültig sein solle. Es kann getrost angenommen werden, dass, wenngleich kein britisches Gericht, so doch gewiss jedes nigerianische Gericht diesen Gesetzespassus aufrecht erhalten würde. Seit 1931 hatte sich vieles geändert. Obwohl die Königin weiterhin das Haupt des Commonwealth (Head of the Commonwealth) ist, war seit 1949 mit dem Fall Indien akzeptiert, dass eine frühere Kolonie auch als Republik Mitglied des Commonwealth sein könne. Ferner sprach man nun folgerichtig nicht länger von Dominions, sondern von Mitgliedern des Commonwealth. Schließlich wurde aber auch mit der sich wandelnden Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zumal seit Ende der 1950er Jahre offensichtlich, dass der restriktive Begriff der Unabhängigkeit der Statute of Westminster nicht länger angemessen war und dass dieser weiter gefasst werden musste, da es schlechterdings unzeitgemäß war, wenn sich das britische Parlament weiterhin gegenüber den Mitgliedsstaaten des Commonwealth Rechtsvorbehalte reservieren wollte. Doch es bedurfte der Erfahrungen des Dekolonisierungsprozesses über Indien, Pakistan, Ceylon, Burma, den Sudan, Malaya und Ghana hinaus, bis sich 1960 die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass das Gesetz, das einer vormaligen Kolonie die Unabhängigkeit gewährte, über die Statute of Westminster hinausgehen musste. Einhergehend mit diesem Bewusstseinswandel, zu dem die einst abhängigen Besitzungen und nachfolgenden Commonwealth-Staaten, mehr noch jedoch die Entwicklungen in Großbritannien beigetragen hatten, kam auch der Schritt zur eigenständigen und vollständigen Gerichtsautonomie, d. h. die rechtliche Abschaffung der Berufungsmöglichkeit an das Judicial Committee of the Privy Council als letztrichterlicher Instanz. Heute erkennen lediglich noch einige wenige kleine Inselstaaten und Commonwealth Mitglieder das Judicial Committee als letzte Berufungsinstanz an. Auch die von Großbritannien befürwortete Freizügigkeit von Rechtsanwälten, die im Bereich von Commonwealth- und Empirerecht spezialisiert waren, kam damit praktisch zu Ende. In einem Punkt aber hat sich an der Statute of Westminster nichts geändert, was heute zu der merkwürdigen Situation führt, dass zwar das britische Parlament ungeachtet seiner Souveränität tatsächlich über keine rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten mehr in den einstigen Besitzungen verfügt, nachdem Kanada 1982 und Australien 1986 gemeinsam mit dem Vereinigten Königreich entsprechende Gesetze verabschiedet haben, dass aber nach wie vor die Monarchien des Commonwealth ein Mitspracherecht besitzen, wenn es um die britische Thronfolge und den Titel des

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britischen Monarchen geht, ein Aspekt, der in kommenden Jahren durchaus von mehr als nur theoretischer Bedeutung sein könnte. Angesichts der Entwicklung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erscheint es angebracht zu betonen, dass es zu kurz gegriffen ist, die Auflösung des britischen Empire als Prozess darzustellen – wie es gemeinhin geschieht –, der sich plötzlich und im Wesentlichen innerhalb von fünfzehn Jahren zwischen 1945 und 1960 vollzog. Vielmehr entwickelte er sich über rund einhundert Jahre in der Form einer zunächst kaum wahrgenommenen, schleichenden Erosion, um dann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in eine Phase der Beschleunigung einzutreten aufgrund des tiefgreifenden Wandels in der Welt nach 1945 mit der Herausbildung von zwei Supermächten und dem zwischen ihnen stattfindenden Kalten Krieg. Daraus ergaben sich neue Formen politischer, militärischer, ökonomischer und finanzieller Abhängigkeiten, denen sich auch Großbritannien nicht entziehen konnte und die die Grenzen seiner Macht und seines Einflusses in der Welt aufzeigten. Diese Veränderungen und die damit verbundenen Probleme konnten an den Kolonien nicht unbemerkt vorbeigehen und trafen hier oft mit einem häufig bereits seit längerem bestehenden Unabhängigkeitsstreben zusammen, das sich, mitunter mit ethnischen Konflikten verknüpft, wie lange zuvor bereits in Indien in einer Reihe von Besitzungen zumal in den 1950er Jahren gewaltsam entladen hatte, so an der Goldküste (Ghana), in Kenia, Malaya, auf Zypern, in Njassaland (Malawi) und anderswo. Auch wenn keiner dieser zum Teil höchst blutigen Konflikte in einen regelrechten Unabhängigkeitskrieg mündete, blieb er nicht folgenlos für die in der Regel wenige Jahre später erfolgende formelle Entlassung in die Unabhängigkeit, bei denen die häufig in Großbritannien ausgebildeten kolonialen Eliten vielfach einen zumindest für eine Übergangszeit politisch-sozial stabilisierenden Einfluss ausüben konnten, während die britische Politik bleibender rechtlicher Bindungen oftmals bereits nach wenige Monaten oder Jahren Schiffbruch erlitt. Genau an diesem Punkt ist der Ort, an dem der britische Dekolonisierungsprozess seine spezifische Bedeutung gewinnt, indem nämlich die voraufgegangene Verselbständigung der Dominions und das von ihnen in andere Kolonien ausstrahlende Beispiel nun seinerseits in der britischen Politik mit dem Versuch einer Revitalisierung des Empire unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgefangen werden sollte. Doch als das Scheitern dieser Revitalisierungsversuche bereits nach relativ kurzer Zeit offenbar war, versuchte die britische Regierung bis Ende der fünfziger Jahre die Erfahrungen aus dem politischen Abnabelungsprozess der Dominions in abgewandelter Form auf die jetzt nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien zu übertragen, womit die Eigentümlichkeiten dieses Prozesses vollends zu Tage traten. Unter dem Eindruck, auf manifeste äußere Zwänge in einer Weise reagieren zu müssen, die sinnloses Blutvergießen vermied, suchte man nun nach Wegen des graduellen Übergangs von formaler zu informeller Herrschaft, bei dem sich das Vereinigte Königreich unter Betonung von Autonomie und Gleichheit über lange Zeit wesentliche Rechtsvorbehalte zu sichern suchte, die noch Jahrzehnte nach Beginn dieser Entwicklung dem britischen Parlament einen rechtlich abgesicherten

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politischen Einfluss auf die ehemaligen Besitzungen zubilligen sollten. Auf diese Weise sollten abrupte Brüche beim Ende der formalen Kolonialherrschaft – außer in so unvermeidlichen Fällen wie Burma, dem Sudan und einigen wenigen anderen vormaligen Kolonien – in der Regel vermieden werden und jenes so eigentümliche Nachfolgegebilde des Commonwealth of Nations als Kern eines Sterling-Gebietes mit der Londoner City als Finanzzentrum von globaler Bedeutung überhaupt erst Gestalt annehmen. Vor allem aber konnte dadurch anhaltend jenes Gefühl in Großbritannien bestärkt werden, dass trotz des weltweiten Dekolonisierungsprozesses und des Niedergangs des eigenen Empire eine Art von Bindung mit dem einstigen Reich weiterbestand und sich doch eigentlich nur im Sinne der formalen Herrschaft etwas an der britischen Stellung in der Welt bis 1960 geändert hatte, ohne die britische Weltgeltung entscheidend zu berühren. Erst nach dem Suez-Debakel und als seit dem Ende der fünfziger Jahre das Empire zugunsten der Industrieländer deutlich an ökonomischer Bedeutung verlor und der Zusammenhang zwischen Empire und dem britischen Pfund als Weltreservewährung sich rasch aufzulösen begann, ergriff der „Wind des Wandels“ (wind of change), den Macmillan 1960 in Kapstadt beschworen hatte, die britische Politik, und der Zeitpunkt für eine Neuorientierung war gekommen, mit der die britische Regierung eine konsequente Dekolonisierungspolitik ohne Vorbehalte betrieb und sich politisch verstärkt Westeuropa zuwandte. Wie so häufig in der britischen Geschichte war es eine Hinwendung aus Einsicht in die Realität, nicht aus innerer Überzeugung, wobei sich die britische Verfassung und jene Rechtskonstruktionen, die Brücken bauen sollten, letztlich als Hemmschuh erwiesen, anstelle durch einen klaren Schnitt, wie er durch den modernen Konstitutionalismus bedingt gewesen wäre, die Tür in die Zukunft mit ihren neuen Bedingungen, Herausforderungen und Möglichkeiten aufzustoßen. Die gern gepriesene Flexibilität der britischen Verfassung, die alle diese Irrungen und Wirrungen ermöglichte, erlaubte damit lediglich eine Politik des schrittweisen Reagierens, während andere verfassungsrechtliche Grundbedingungen zu aktivem Handeln und Gestalten gezwungen hätten. Statt sich offen und engagiert neuen Aufgaben zuwenden zu können, wirkten Erbe und Tradition, unterstützt durch überkommene jahrhundertealte Verfassungsgrundsätze bremsend, wo gewandelte Zeitumstände einen mutigen Neuansatz erfordert hätten.

III. Nordamerika Die acht Kapitel dieses Teils, gemeinsam mit dem Kap. II. 1. und den acht Kapiteln des Teils V. erheben nicht den Anspruch, eine amerikanische Verfassungsgeschichte darzustellen. Dies kann nicht die Absicht dieser, auf die Entstehung und die Ausprägungen des modernen Konstitutionalismus gerichteten Analysen sein. Doch haben sie angesichts ihrer neuartigen Herangehensweise an die Verfassungsgeschichte zum Ziel, neue Perspektiven, Zusammenhänge und Verbindungen aufzuzeigen, die vielfach dem bisherigen Blick entgangen sind. Daher steht hier nicht die amerikanische Bundesverfassung im Zentrum, sondern wird nur eher gestreift, während der Fokus eindeutig auf den bislang stets so vernachlässigten Einzelstaatsverfassungen gelegt wird, jenes große konstitutionelle Laboratorium, dessen Dasein im Schatten der Bundesverfassung und dem von ihr vorgegebenen Rahmen auch nach 1787/89 weit mehr als eine Fußnote in der amerikanischen Verfassungsgeschichte verkörpert. Sie waren nicht nur konstitutiv für die Entstehung des modernen Konstitutionalismus in Nordamerika, die hier durch eine eingehende Untersuchung der bislang weitgehend unbeachteten Diskussion um die britische Verfassung in den Jahren 1763 – 1776 nachgezeichnet wird, in denen sich die Mehrzahl der Grundprinzipien herausbildeten, die dann am 12. Juni 1776 zur Geburt des modernen Konstitutionalismus führten. Die Kapitel II. 2. und 3. untersuchen dann den sehr spezifischen Einfluss von William Blackstone auf die Herausbildung des modernen Konstitutionalismus und wie sich dieser in den folgenden Jahrzehnten in den amerikanischen Staatsverfassungen bis zum Bürgerkrieg schließlich auch unter der Herausforderung der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in der Ära von Andrew Jackson und den nachfolgenden Jahrzehnten durchsetzte, was von entscheidender Bedeutung für die frühe Erfolgsgeschichte des modernen Konstitutionalismus sein sollte. Diese Ergebnisse sollen durch Detailuntersuchungen zu Rhode Island und Wisconsin, aber auch zum allgemeinen Männerwahlrecht und zur Rechteentwicklung in den Einzelstaaten in vier weiteren Kapiteln ergänzt und vertieft werden. Ein abschließendes Kapitel dieses Teils spannt dann den Bogen von ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart mit der Fragestellung, wie dieser moderne Konstitutionalismus, der sich in den Vereinigten Staaten in dieser Zeit so eindrucksvoll entfalten konnte, in Zeiten der inneren Krisen wiederholt in Gefahr geriet durch Aufwallungen eines ungezügelten und politisch ausgeschlachteten Patriotismus, der keine Hemmungen kannte, sich über etablierte Rechte hinwegsetzen konnte bis hin zu einer Situation, in der die amerikanische Demokratie während der Präsidentschaft von Donald Trump aufgrund von dessen autoritären Neigungen und der damit einhergehenden Missachtung von Recht und Gesetz und dem austarierten Institutionengefüge des Landes bis hin zur Weigerung, demokra-

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tisch legitimierte Wahlergebnisse anzuerkennen, ernsthaft in Gefahr zu geraten drohte. Diese Analyse zur Entstehung und Ausbreitung des modernen Konstitutionalismus in den Vereinigten Staaten wird ergänzt durch eine Analyse der Entstehung des amerikanischen Republikanismus (Kap. II. 1.) und weitere acht Artikel, die aufgrund ihrer komparatistischen Perspektive unter Einbeziehung von England oder Frankreich oder beiden im Teil V nachfolgen und die insgesamt einen wesentlichen Beitrag zur Abrundung des hier behandelten Themas darstellen. Schließlich werden in den Kap. VI. 1., VI. 5. und VI. 10. Aspekte der Rückwirkungen des amerikanischen Verfassungsbeispiels auf Deutschland behandelt werden.

1. Die Herausbildung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, 1763 – 17761 Nach allgemeiner Überzeugung lässt sich die Entstehungsgeschichte der ersten amerikanischen Verfassungen in wenigen Worten so wiedergeben, dass die Kolonisten in dem zunehmenden Konflikt mit dem Mutterland sich auf die britische Verfassung zur Verteidigung ihrer Rechte beriefen. Als sie schließlich um das Jahr 1774 die unüberwindliche Macht des Parlaments einsehen mussten, von der Blackstone so wortreich gesprochen hatte, wandten sie sich Naturrechtstheorien und dem Gedanken der Volkssouveränität zu, auf deren Basis sie dann 1776 begannen, ihre eigenen Verfassungen zu schreiben.2 1 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „El concepto de Constitución en los orígines del constitucionalismo norteamericano (1774 – 1776)“, in: Fundamentos, 6 (2010), 25 – 83. 2 Die klassische Untersuchung ist Pauline Maier, From Resistance to Revolution. Colonial Radicals and the Development of American Opposition to Britain, 1765 – 1776, New York: Alfred A. Knopf, 1972. Das gleiche könnte von dem allerdings unbefriedigenden Kapitel „Constitutions and Rights“ in Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press, 1967, 175 – 198, gesagt werden, das einige Flugschriften dieser Jahre analysiert, aber eine fundierte Kenntnis der Verfassungsdebatte der Jahre 1763 – 1776 vermissen lässt. Wenig überraschend, dass Gordon Wood, der wie Pauline Maier aus der Bailyn-Schule kommt, keine substantiellen Verfassungsideen in den Kolonien vor 1776 ausfindig machen konnte, so dass sein meisterhaftes Werk The Creation of the American Republic, 1776 – 1787, [1969], New York: Norton, 1972, 268, erst 1776 einsetzt. Aus völlig anderen Gründen teilte Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge u. London: Louisiana State University Press, 1980, xiii – xvi, diese Überzeugung, zumal sein Interesse dem Wandel der Verfassungsideen zwischen 1776 und 1787 galt und nicht jenen vor 1776. Ein zweites Buch von ihm hätte diese Lücke füllen können, ders., The Origins of American Constitutionalism, Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1988. Doch zu den Jahren des Konflikts mit dem Mutterland fasste er zusammen: „Die historischen Details dieses Kampfes brauchen uns hier nicht zu interessieren. Wir sind vielmehr an der breiten Übermittlung von Ideen, Praktiken und Institutionen interessiert, die dem amerikanischen Konstitutionalismus zugrunde liegen. In dieser Hinsicht beginnt die kritische Periode 1776“ (ebd., 69).

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Diese Whig Interpretation der Geschichte, wie sie ein englischer Historiker bezeichnet haben könnte,3 ist, wie es ein anderer nannte, der zwar über die gleiche Zeit, doch einen etwas anderen Kontext sprach, „[v]erdrehter Unsinn“.4 Ohne Zweifel gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen allgemeiner politischer Rhetorik auf der einen Seite und eingehender Verfassungsdiskussion auf der anderen. Doch obwohl wir eine unübersehbare Literatur über die Entstehung der amerikanischen Revolution haben, scheint niemand sich jemals ernsthaft Gedanken darüber gemacht zu haben, was die Amerikaner eigentlich zwischen 1763 und 1776 unter „Verfassung“ verstanden, ein Wort, das sie nahezu ebenso häufig verwandten wie „Rechte“ und „Freiheit“. Warum insistierten sie so sehr auf „Verfassung“, und was verstanden sie unter diesem Begriff? Was meinten sie mit „britischer Verfassung“? Die „Verfassung“ von Großbritannien oder von Amerika oder beides? Was waren die Inhalte von „britischer Verfassung“ für sie, und änderte sich dieses Verständnis über diesen Zeitraum? Als sich schließlich herausstellte, dass die britische Verfassung nicht die Lösung für die Zukunft Amerikas war und durch amerikanische Verfassungen ersetzt werden musste, warum sollten diese anders als das britische Beispiel aus einem einzigen geschriebenen Dokument bestehen? Was sollte in diesem Fall der grundlegende Inhalt dieser Dokumente sein? Was sollten unverkennbare Charakteristika dieser amerikanischen „Verfassungen“ im Unterschied zu dem sein, was in anderen Teilen der Welt als „Verfassung“ bezeichnet wurde? Als Anfang 1776 John Adams in seiner Antwort auf Thomas Paine seine prinzipiellen Gedanken über „Verfassung“ niederschrieb, nannte er die kleine, doch höchst einflussreiche Schrift „Gedanken über Regierung“ (Thoughts on Government) und nicht „Verfassung“. Von den ersten vier amerikanischen Verfassung 1776 nannte sich allein die von South Carolina eine „Verfassung“, während die Repräsentanten von Virginia der Auffassung waren, dass, bevor sie eine Verfassung schrieben, sie zunächst eine Rechteerklärung aufsetzen müssten. Dennoch bleibt die Frage, was die Amerikaner meinten, als sie 1776 begannen, Verfassungen zu schreiben, angesichts der Lawine, die sie damit lostraten und die die Welt überrollte? Jack P. Greene, Peripheries and Center. Constitutional Development in the Extended Polities of the British Empire and the United States, 1607 – 1788, Athens u. London: University of Georgia Press, 1986, ist vorrangig an den Verfassungsbeziehungen zwischen Mutterland und Kolonien interessiert und an der Rolle des britischen Parlaments und weniger an der Entwicklung von Verfassungsvorstellungen in den Kolonien. Im Gegenzug nimmt Marc W. Kruman, Between Authority & Liberty. State Constitution Making in Revolutionary America, Chapel Hill u. London: University of North Carolina Press, 1997, 7, 14, die Existenz „einer amerikanischen Theorie des Konstitutionalismus“ vor 1776 an, stellt aber lediglich einige vage Überlegungen über die ideologische Transformation von „,dem alten Kanal‘ englischer und kolonialer Regierung“ zu den „,neugeschaffenen‘ republikanischen Verfassungen“ an. 3 Vgl. Herbert Butterfield, The Whig Interpretation of History [1931], London: G. Bell and Sons, 1963. 4 John Harold Plumb, England in the Eighteenth Century (The Pelican History of England, VII) [1950], Harmondsworth: Penguin, 1972, 116.

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1776 warf Charles Inglis ähnliche Fragen auf, ein anglikanischer Priester in New York, der als Loyalist die Stadt mit den letzten britischen Truppen 1783 verließ, nur um wenige Jahre später den Atlantik erneut zu überqueren, diesmal als der erste anglikanische Bischof von Nova Scotia: „Denn was ist die Verfassung, dieses Wort, so oft verwandt, so wenig verstanden und so häufig pervertiert?“ Die Antwort gab er umgehend selbst: „[Es ist] jene Ansammlung von Gesetzen, Gewohnheiten und Institutionen, die jenes allgemeine System bilden, nach dem die verschiedenen Gewalten im Staat verteilt sind und ihre diesbezüglichen Rechte den verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft zugesichert werden.“5 Inglis war nicht besonders versiert im Zitieren, denn offensichtlich war es seine Absicht, die weithin bekannte Definition von Bolingbroke wiederzugeben: „Mit Verfassung meinen wir, wann immer wir mit Korrektheit und Exaktheit sprechen, jene Ansammlung von Gesetzen, Institutionen und Gewohnheiten, die von gewissen festgelegten Vernunftprinzipien abstammen und auf gewisse festgelegte Gegenstände des öffentlichen Wohls gerichtet sind, die das allgemeine System bilden, nach der die Gemeinschaft übereingekommen ist, regiert zu werden.“6

Die fehlerhafte Zitierweise von Inglis ist aus zwei Gründen aufschlussreich, die unmittelbar zu unserem Thema führen: 1) In den Jahren von 1763 bis 1776 war der Terminus „Verfassung“ ein in den britischen Kolonien üblicher Begriff, der zumeist, wenn auch nicht ausschließlich, in Verbindung mit der britischen Verfassung verwandt wurde, wobei Bolingbrokes Definition weithin bekannt war. 2) Obgleich Inglis gegen Paine geschrieben hatte und als überzeugter Loyalist die Absicht verfolgte, das britische Modell herauszustellen und die amerikanischen „Perversionen“ zurückzuweisen, hatte er in seiner Definition Teile von Bolingbroke entliehen und diese mit Gedanken verbunden, die zwar in England nicht unbekannt waren, doch von Bolingbroke bewusst unerwähnt gelassen wurden, während sie in Amerika virulent waren, nämlich dass es Aufgabe einer Verfassung sei, Rechte zu sichern.7 Beide Aspekte werden uns weiterhin beschäftigen müssen. Die traditionelle amerikanische Historiographie für den Zeitraum von 1763 bis 1776 ist gekennzeichnet durch zwei Höhepunkte des politischen Konflikts. Der erste ereignete sich 1765 mit der Krise um das Stempelgesetz (Stamp Act crisis); der zweite fiel in die Jahre 1773 – 1776 und begann mit der Vernichtung von Teeeinfuhren im Bostoner Hafen (Boston Tea Party) und reichte über die in der Folge erlassenen britischen Zwangsgesetze, die sogenannten Unerträglichen Gesetze (In5 [Charles Inglis,] The Deceiver Unmasked; Or, Loyalty and Interest United; In Answer to a Pamphlet Entitled Common Sense, by a Loyal American, New York: Samuel Loudon, 1776, 21. Vgl. zu Inglis Ross N. Hebb, Samuel Seabury and Charles Inglis: Two Bishops, Two Churches, Madison, N.J.: Fairleigh Dickinson University Press, 2010. 6 Henry St. John, Viscount Bolingbroke, Political Writings, hrg. v. David Armitage, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, 88. Das Zitat stammt aus dem 10. Brief seiner Dissertation upon Parties, die 1734 erstmals veröffentlicht wurde. 7 Eine andere Interpretation der Definition von Inglis findet sich bei Bailyn, Ideological Origins, 175.

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tolerable Acts), die Zusammenkünfte des Ersten und Zweiten Kontinentalkongresses und den Ausbruch des Krieges bis hin zur Unabhängigkeitserklärung von Anfang Juli 1776.8 Bevor wir uns den Auswirkungen dieser Ereignisse auf die Bedeutung und das Verständnis von „Verfassung“ zuwenden, liefert bereits die rein formale Analyse des Gebrauchs des Terminus in amerikanischen Zeitungen interessante Aufschlüsse.9 Sucht man in der zugrunde liegenden Datenbank America’s Historical Newspapers10 nach den Begriffen „verfassungsmäßig“ (constitutional), „verfassungswidrig“ (unconstitutional) und „Verfassung“ (constitution), wobei lediglich die ausgeworfenen Artikel gezählt wurden, ohne qualitativ zwischen ihnen zu unterscheiden oder zu berücksichtigen, wie oft der betreffende Terminus in ihnen verwandt wurde, so ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Wiederum haben wir zwei Höhepunkte, einen für alle drei Begriffe 1769 und einen zweiten von 1774 – 1776 mit differenzierteren Resultaten. Für den Begriff „Verfassung“ ließen sich 1774 507 und 1775 535 Artikel finden, während es 1776 rund 200 weniger waren. „Verfassungswidrig“ tauchte 1774, in Reaktion auf die Unerträglichen Gesetze, in nicht wieder erreichten 150 Artikeln auf. Danach ist die Erwähnung stark rückläufig, so dass der Terminus 1776 kaum noch erscheint. Völlig anders verläuft die Kurve für den Ausdruck „verfassungsmäßig“: nach 250 Artikeln 1774, schnellt die Zahl 1775 auf 803 in die Höhe und erreicht ihren Zenit 1776 mit 1308 Artikeln. 8 Aus Platzgründen muss in der Folge auf die allgemeine Geschichte dieser Jahre verzichtet werden. Es sei daher pauschal verwiesen auf meine Die Amerikanische Revolution, 1763 – 1787 (Neue Historische Bibliothek, hrg. v. Hans-Ulrich Wehler, es 1263), Frankfurt: Suhrkamp, 1985. 9 Mit Hinweis auf die amerikanischen Zeitungen hat bereits Arthur M. Schlesinger, Prelude to Independence. The Newspaper War on Britain, 1764 – 1776, New York: Alfred A. Knopf, 1958, 46, festgestellt, dass „die Zeitungen eine größere Menge an politischen und konstitutionellen Argumenten verbreiteten als alle anderen Medien zusammen“. 10 Technisch einwandfrei und leicht zu handhaben, hat sie wissenschaftlich leider erhebliche Mängel. Was hier als America’s Historical Newspapers bezeichnet wird, ist für die 1760er und 1770er Jahre im Wesentlichen eine Sammlung von Zeitung aus Neuengland, ergänzt um einige Zeitungen aus New York, Philadelphia und selten aus Georgia, wobei der geographische Schwerpunkt als Folge des Krieges und der Anwesenheit von britischen Truppen sich 1775 – 76 nach Philadelphia verlagert, was die Repräsentativität für alle dreizehn Kolonien noch weiter einschränkt. Die überwiegende Zahl der Zeitungen erschien wöchentlich, wobei einige beständig in der falschen chronologischen Anordnung aufgeführt sind, z. B. Essex Gazette für den 5. – 12. Januar 1773 unter dem 5. statt richtig unter dem 12. Januar, als sie tatsächlich erschien. Für jede chronologisch aufgebaute Suchanfrage ist dies höchst irreführend. Ohnehin sind Suchanfragen problembelastet. Schlagzeilen sind mitunter falsch angezeigt und in vielen Fällen überhaupt nicht, obwohl sie tatsächlich in den Zeitungen vorkommen. Trotz der eindrucksvollen Zahl von Hinweisen auf „Verfassung“ (constitution), wird der Begriff meistens nicht gefunden. Ohne angeben zu können, wie viele Zeitungsausgaben mir entgangen sind, lässt sich dennoch sagen, dass der gesuchte Begriff in ihnen in den meisten Fällen wesentlich häufiger auftauchte, als die Suchergebnisse anzeigten. Dadurch sind die hier präsentierten Ergebnisse nur begrenzt aussagekräftig, selbst wenn, um dieses zu minimieren, häufig der ganze Artikel durchgegangen und weitere Artikel und Ausgaben herangezogen werden mussten. Einige Begriffe, die für diese Untersuchung bedeutsam sind, ließen sich überhaupt nicht suchen, obwohl sie tatsächlich und eindeutig in den Zeitungen auftauchen.

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Diese Zahlen legen mehrere Schlussfolgerungen nahe. Ungeachtet der nachhaltigen Auswirkungen von Blackstones Commentaries on the Laws of England in den Kolonien,11 geißelten die Amerikaner die britische Politik immer wieder als „verfassungswidrig“. Mit dem heraufziehenden Krieg und der Unabhängigkeit verlor dieser Aspekt seine vormalige Bedeutung. Im Gegenzug wurde das amerikanische Streben nach „verfassungsmäßigen“ Lösungen immer bedeutender, während in den voraufgegangenen Jahren die Amerikaner beständig auf ihren „verfassungsmäßigen“ Rechten und Freiheiten bestanden und eine Neuausrichtung ihrer Beziehungen zu Großbritannien auf „verfassungsmäßigen Grundlagen“ gefordert hatten. Im Gegensatz dazu konnte der Gebrauch des Wortes „Verfassung“ zwar viele Bedeutungen haben, doch war die rechtliche weit überwiegend. Innerhalb dieses politischen wie rechtlichen Rahmens war „die britische Verfassung“ der gängige Ausdruck. Doch erst eine eingehendere Untersuchung wird die Facetten dieser Begrifflichkeit und ihren Wandel offenlegen können. Die „englische“ oder „britische Verfassung“ war im 18. Jahrhundert in den Kolonien nicht nur allseits präsent. Sie war auch fester Bestandteil des allgemeinen Wortschatzes. Roger Acherley hatte ihren Ruhm gepriesen.12 Noch größere Popularität gewann Montesquieus berühmtes Kapitel „Über die Verfassung Englands“ in seinem Geist der Gesetze, dessen Lektüre in den Kolonien sehr verbreitet war, in der Regel in der 1766 erschienenen Übersetzung von Thomas Nugent.13 Ab der zweiten Hälfte der 1760er stieg dramatisch der Einfluss Blackstones, wenige Jahre später ergänzt durch de Lolme, selbst wenn dessen erste amerikanische Ausgabe erst 1792 publiziert wurde,14 um nur die herausragendsten Beispiele anzuführen. Damit sind die Eckpunkte dieses Kapitels benannt, in dem es um nicht weniger als die eigentliche verfassungsrechtliche Bedeutung der Jahre von 1763 bis 1776 geht, die bislang so wenig im Fokus gestanden hat. Die sich durch die britische Politik in ihren Rechten und Freiheiten bedroht fühlenden Amerikaner gingen geradezu natürlicherweise von der britischen Verfassung aus, in deren Schutz sie sich sahen. Zu ihrer Verteidigung führten sie diese beständig an und interpretierten sie dabei zur Bekräftigung ihrer Position. Damit wurde „Verfassung“ selbst immer zentraler als 11

Zu Blackstone und seinem Werk, vgl. das nachfolgende Kap. III. 2. Roger Acherley, The Britannic constitution: or, the fundamental form of government in Britain. Demonstrating, the original contract entered into by King and people, according to the Primary Institutions thereof, in this nation: Wherein is proved, that the placing on the throne King William III. was the natural fruit and effect of the original constitution, London: A Bettesworth, 1727. Eine 2. Aufl. erschien 1741, eine weitere Ausg. 1759. 13 Charles Secondat baron de la Brède et de Montesquieu, Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard/Pleiade, 1949 – 51, II, 396 – 407 (Buch XI, Kap. 6). Montesquieu, The Spirit of the Laws, übers. v. Thomas Nugent, 2 Bde., London: J. Nourse and P. Vaillant, 41766. Eine 5. Aufl. erschien 1773. Vgl. Paul Merrill Spurlin, Montesquieu in America 1760 – 1801, [1940], Ndr. New York: Octagon Books, 1969. 14 Jean Louis de Lolme, The Constitution of England; Or, An Account of the English Government, New York: Hodge & Campbell, 1792. Das französische Original war zuerst 1771 erschienen, eine erste englische Ausg. erschien 1775 in London. 12

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politisch-rechtliche Grundlage, und über die Jahre gewann der Begriff, wie zu zeigen sein wird, zunehmend an konkretem Inhalt. Am Ende dieses Zeitraums stehen nicht nur die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, sondern auch die ersten geschriebenen Verfassungen und damit schließlich, wie in Kap. I. 1. dargelegt, die Geburt des modernen Konstitutionalismus. Das zentrale Anliegen dieses Kapitels ist daher, in einer eingehenden Analyse des Diskussionsprozesses dieser dreizehn Jahre herauszuarbeiten, wie sich das amerikanische Verfassungsverständnis über diesen Zeitraum entwickelte und dabei inhaltlich so anreicherte, dass dieses Ergebnis schließlich möglich war. Es geht dabei nicht darum, die historische Bedeutung des 12. Juni 1776 mit seiner Rechteerklärung von Virginia herabzuwürdigen, sondern vielmehr seine Vorgeschichte offenzulegen, die erst das Ereignis selbst letztlich möglich machte. Ohne zu erfassen, wie die Amerikaner in den prägenden Jahren von 1763 bis 1776 Verfassung diskutiert haben, so ließe sich die These formulieren, werden wir nicht verstehen können, warum der 1776 ins Leben tretende moderne Konstitutionalismus die Form und Inhalte angenommen hatte, die seine Geburt offenlegte. Während Kap. I. 1. gleichsam die Geburt zertifizierte und in groben Strichen die weitere Entwicklung skizzierte, geht es in diesem Kapitel darum, ausführlich darzulegen, wieso es überhaupt zu dieser Geburt kommen konnte. Wenn wir uns in einem ersten Schritt den Anfängen dieser Diskussion in den Jahren 1763 – 64 zuwenden, erweist sich rasch, dass sich der Gebrauch des Wortes „Verfassung“ nicht auf Buchpublikationen reduzieren lässt, sondern tiefer in die englische Geschichte führt, die ein Teil des kulturellen Erbes und der Identität der großen Mehrheit der Siedler war. Englands Glorreiche Revolution war eine wesentliche Quelle der Inspiration, nicht nur was die Rechte und Befugnisse der kolonialen Parlamente (assemblies) anging.15 Die Umdeutung der englischen Verfassung in der Glorreichen Revolution wurde in Amerika aufmerksam verfolgt. Stephen Hopkins brachte dies 1764 zum Ausdruck, als er bekundete nicht an den Theorien von Filmer, Cromwell oder Venner interessiert zu sein: „[W]ir betrachten die britische Verfassung, wie sie sich gegenwärtig darstellt, auf den Prinzipien der Revolution.“16 Bolingbroke, der einstige Jakobit und nunmehrige Tory, hatte 1734 von „Prinzipien“ im Zusammenhang mit „Verfassung“ gesprochen, und er hätte ebenso wie einige Jahrzehnte später James Otis, der darin Hopkins zuzustimmen schien, diese „Prinzipien“ „seit der Revolution“ mit Großbritannien in Verbindung gebracht.17 In 15 Vgl. dazu die klassische Untersuchung von David S. Lovejoy, The Glorious Revolution in America, New York: Harper & Row, 1972. 16 [Stephen Hopkins,] The Rights of Colonies Examined. Published by Authority, Providence: William Goddard, 1765, 4. Tatsächlich war die Schrift 1764 erschienen, als Hopkins Gouverneur von Rhode Island war. Die Legislative hatte der Veröffentlichung der Flugschrift zugestimmt, vgl. American Political Writing during the Founding Era, 1760 – 1805, hrg. v. Charles S. Hyneman u. Donald S. Lutz, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Press, 1983, I, 45. 17 James Otis, The Rights of the British Colonies Asserted and proved, Boston: Edes and Gill, 1764, 41.

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diesem Zusammenhang verwies Otis auf „die Prinzipien der Billigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit“. Einige Seiten zuvor hatte er vier weitere „Grundlagen von Recht und Gerechtigkeit“ in der britischen Verfassung diagnostiziert. Zugleich und jenseits dieser Prinzipien sprach er von „vielen anderen grundlegenden Maximen der britischen Verfassung“.18 Was immer diese Prinzipien und „grundlegenden Maxime“ sein mochten, im Gegensatz zu den in vielen Teil Europas verbreiteten Vorstellungen von „Verfassung“ eines Pufendorf und anderer bedeutete diese in der anglo-amerikanischen Welt mehr als eine bloße Ansammlung von Gesetzen, Gewohnheiten und Konventionen oder den gegebenen Zustand eines Landes. So unbestimmt Otis 1764 bei seinem Verständnis von „Verfassung“ gewesen war, war sein Verweis auf die ihr zugrunde liegenden „Prinzipien“ und „grundlegenden Maxime“ keinesfalls eine amerikanische Erfindung, hatte doch die Glorreiche Revolution die englische Verfassung verändert und auf „Revolutionsprinzipien“ neu ausgerichtet.19 Montesquieu hatte dieses Verständnis erweitert und die Freiheit in unmittelbaren Zusammenhang mit „Verfassung“ gebracht.20 Diese Vorstellungen wurden begierig von den Bewohnern der Kolonien aufgenommen, die auf ihrer Freiheit bestanden und die britische Verfassung als Beleg für das nahmen, was sie als ihre „verfassungsmäßigen“ Rechte ansahen. Wie Otis war auch keiner der übrigen amerikanischen Autoren der Jahre 1763 und 1764, soweit mir bekannt, sehr präzise in dem, was er unter „Verfassung“ verstand, aber dass die britische Verfassung auf „Prinzipien“, ja auf „grundlegenden Prinzipien“21 fußte, war für sie alle unbestreitbar. Andere mochten dies „die wesentlichen Rechte und Privilegien der britischen Verfassung“ nennen,22 „die allgemeinen grundlegenden Privilegien der britischen Verfassung“,23 „die wesentlichen Privilegien der Verfassung“,24 „die Privilegien und Vorzüge der damals englischen, nunmehr britischen Verfassung“ oder „die Rechte und Vorzüge der britischen Verfassung“.25 Die Providence Gazette vom 2. April 1763 stellte keine Ausnahme dar, und dennoch kommen ihre Formulierungen amerikanischen Verfassungsbestimmungen 18

Ebd., 37. Vgl. John Philipps Kenyon, Revolution Principles. The Politics of Party, 1689 – 1720, Cambridge: Cambridge University Press, 1977. 20 Vgl. dazu unten Kap. V. 2. 21 [Richard Bland,] The Colonel Dismounted: Or the Rector Vindicated. In a Letter addressed to His Reverence: Containing A Dissertation upon the Constitution of the Colony. By Common Sense, Williamsburg: Joseph Royle, 1764, 28, vgl. auch 26. 22 [Thomas Fitch,] Reasons why The British Colonies, in America, Should not be charged with Internal Taxes, By Authority of Parliament; Humbly offered For consideration, In Behalf of the Colony of Connecticut, New Haven: B. Mecom, 1764, 5. 23 Ebd., 37. 24 So in einem Brief unterzeichnet „Britannus-Americanus“, in: New-Hampshire Gazette, 16. November 1764, 4. 25 [Hopkins,] The Rights of Colonies Examined, 8, 9. 19

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rund dreizehn Jahre später bereits verblüffend nahe: „Da die Pressefreiheit ein unschätzbares Privileg und Glück ist und eine der großen Bollwerke der britischen Verfassung, sollte sie geheiligt und unverletzt erhalten bleiben.“26 Das letzte Zitat legt allerdings die Vermutung nahe, dass der Autor als Verfassung bezeichnete, was eher dem englischen Gewohnheitsrecht (common law) zuzuordnen ist. Auch für andere bestand zwischen beidem eine enge Verbindung. Thomas Fitch sah die britische Verfassung „begründet auf den Prinzipien des common law“ und setzt „Verfassung“ und „common law“ gleich („die hauptsächlichen, führenden und grundlegenden Prinzipien des common law oder der Verfassung des Reichs“, „die allgemeinen Prinzipien des Rechts oder der Verfassung“, „die allgemeine, grundlegenden Prinzipien der britischen Verfassung oder Gesetze“).27 Otis hingegen hatte Blackstone sorgfältiger gelesen und ließ sich nicht dazu verleiten „Verfassung“ und common law gleichzusetzen.28 Aber selbst 1775 konnte Isaac Hunt noch schreiben: „Das common law Englands verkündet die ursprüngliche Zustimmung des Volkes und mag als die Verfassung ihres bürgerlichen Zustands bezeichnet werden. […] Und Gesetze, die von ihnen selbst in Folge ihrer Freibriefe erlassen und von England gebilligt und bestätigt wurden, scheinen dann die Verfassungen der amerikanischen Kolonien zu sein.“29

Auch wenn Otis von dem „Geist“ und der „Theorie“ der britischen Verfassung sprach,30 bleibt unklar, was er tatsächlich unter „Verfassung“ verstand.31 Mitunter legt seine Wortwahl nahe, dass er, ähnlich anderen, den Ausdruck „Regierung“ verwandte, wo wir heute eher von „Verfassung“ sprechen würden, wie das Adams noch 1776 tat – wenn hier generell „government“ mit „Regierung“ übersetzt ist, widerspricht das streng genommen dem heutigen amerikanischen Sprachgebrauch, der den Begriff „government“ dort verwendet, wo wir im Deutschen mitunter eher von dem allerdings ideologisch vorbelasteten „Staat“ reden würden, während wir im Deutschen „Regierung“ benutzen, wo es im Amerikanischen heute „administration“ heißen würde. „Das erste Prinzip und das große Ziel der Regierung ist, für das allgemeine Wohl des ganzen Volkes zu sorgen, und dies kann nur erreicht werden, wenn 26

Die einführenden Bemerkungen von William Goddard zu Benjamin Wilkinson, „To the Freemen, and other good People, of the Colony of Rhode-Island“, in: Providence Gazette, 2. April 1763, 4. 27 [Fitch,] Reasons, 5, 10, 15. 28 Vgl. Otis, The Rights of the British Colonies Asserted and proved, 37, 53. Otis zitiert in seiner Flugschrift A Vindication of the British Colonies, against the Aspersions of the Halifax Gentleman, in His Letter to a Rhode Island Friend [Boston 1765] wörtlich aus Blackstone’s Analysis of the Laws of England. Vgl. Gerald Stourzh, „William Blackstone: Teacher of Revolution,“ erneut in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien – Köln: Böhlau, 1989, 152 – 153. 29 Isaac Hunt, The political Family: Or a Discourse, Pointing out the reciprocal Advantages, Which flow from an uninterrupted Union between Great-Britain and her American Colonies. Numb. I, Philadelphia: James Humphreys, 1775, 7, 9. 30 Otis, The Rights of the British Colonies Asserted and proved, 61, 65. 31 Zu Otis schwankenden Verfassungsvorstellungen, vgl. Bailyn, Ideological Origins, 176 – 181.

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die höchste gesetzgeberische und ausführende Befugnis letztlich im Volk liegt oder in der Gemeinschaft als Ganze.“32 Darauf pries er in einer an Blackstone erinnernden Weise die Vorzüglichkeit der britischen Verfassung und rief aus: „Das ist Regierung!“, nur um sogleich hinzuzufügen: „Das ist eine Verfassung!“33 Eine vergleichbare Gleichsetzung finden wir bei Fitch; „Nach der Verfassung, Regierung und Gesetzen Großbritanniens sind die Engländer ein freies Volk.“34 Daraus schloss er, „dass die Regierung der Untertanen mit der Zustimmung ihrer entsprechenden Repräsentanten auf denselben allgemeinen und wesentlichen Prinzipien der Freiheit begründet ist“.35 Auch Richard Bland gebrauchte „Regierung“ anstelle von „Verfassung“: „Unter einer englischen Regierung sind alle Menschen frei geboren und sind nur den Gesetzen, die mit ihrer eigenen Zustimmung gemacht wurden, unterworfen und können nicht des Vorteils dieser Gesetze beraubt werden, ohne diese zu übertreten.“36 Noch 1775 schrieb der Autor „Vom Kreis Hampshire“: „Die Befugnisse von Gesetzgebern schließt nicht die Änderung der Grundlagen der Regierung ein, erst recht nicht ihre Untergrabung.“37 Die Gleichsetzung von „Regierung“ mit „Verfassung“ – obgleich Bolingbroke doch so nachdrücklich auf ihrer Unterscheidung bestanden hatte – weist auf anhaltende traditionelle Konzepte, die letztlich bis auf Aristoteles und Plato und ihre Vorstellungen der Politea zurückgehen. Im englischen 17. Jahrhundert waren beide Begriffe verschmolzen in dem Gebrauch der „Verfassung der Regierung“,38 einen Gebrauch, den Fitch 1764 wieder aufgriff,39 und der in den hier zu betrachtenden Jahren weiterlebte, wobei allerdings in Rechnung gestellt werden muss, dass der amerikanische Begriff government zumindest die Legislative mit umfasst, während im Deutschen sich „Regierung“ ausschließlich auf die Exekutive bezieht. Fitch 32

Otis, The Rights of the British Colonies Asserted and proved, 13, vgl. ähnlich 7 – 8, 10. Ebd., 47. 34 [Fitch,] Reasons, 3. 35 Ebd., 38. 36 [Bland,] The Colonel Dismounted, 21. Der Gebrauch des Wortes „Regierung“ anstelle von „Verfassung“ kommt während der gesamten hier behandelten Zeitspanne an und ab vor, vgl. die Antwort des Rates von Massachusetts an Gouverneur Thomas Hutchison, 25. Januar 1773: „Die Bewahrung dieser Rechte [d. h. „Leben, Freiheit, Eigentum und die Verfügung über jenes Eigentum“] ist der große Zweck der Regierung“ (Boston Evening Post, 1. Februar 1773, 3), oder: „Der Hauptzweck jeder freien Regierung ist der Schutz des Eigentums“ („The Alarm“, Nr. 1, in: New-York Journal, 14. Oktober 1773, 1). Der Autor wies in einer Anmerkung darauf hin, dass er „Eigentum“ im Sinne Lockes als „Leben, Freiheit und Gut“ verstehe. Eine Anmerkung, was er unter „Regierung“ begreife, findet sich nicht. 37 „To the Inhabitants of the Massachusetts-Bay, No. V“, in: Massachusetts Spy, 9. März 1775, 1. Bezüglich einer vergleichbaren Ersetzung von „Verfassung“ durch „Regierung“, vgl. Boston Gazette, 6. Februar 1775, 2 (Novanglus – John Adams); Pennsylvania Evening Post, 18. Februar 1775, 45 (James Burgh). 38 Vgl. Gerald Stourzh, „Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert“, erneut in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie, bes. 18 – 19. 39 [Fitch,] Reasons, 27. 33

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verwandte ebenfalls den Begriff „politische Verfassung“. Doch war dies in den dreizehn Kolonien in den 1760er und 1770er Jahren eher selten anzutreffen, während der Ausdruck in der spanisch sprechenden Welt zum Standard werden sollte. Fitch hingegen verwandte ihn in einer mehrdeutigen Weise, die jedoch weder erkennbare feudale Bezüge aufwies noch die Debatte der Jahre 1775 – 76 über Treue und Schutz vorwegnahm.40 Angesichts dieses breitgestreuten und noch nicht systematisierten Gebrauchs des Wortes „Verfassung“ in den Jahren vor der Stamp Act crisis verwundert es nicht, dass er auch für die amerikanischen Freibriefe (charters) verwandt wurde. Während Bland in logischer Ableitung zu dem Schluss kam, dass die Kolonien „notwendigerweise eine rechtskräftige Verfassung haben müssen“,41 hatten andere keinen Skrupel, die rechtliche Begründung der einzelnen Kolonien eine „Verfassung“ zu nennen.42 Fitch verurteilte die britische Politik als „eine Verletzung der Verfassungen der Kolonien“,43 während die Stadt New Brunswick den neuen Gouverneur von New Jersey an „die Verfassung dieser Provinz“ erinnerte.44 So diffus der Begriff „Verfassung“ in den Jahren 1763 – 64 geblieben war, brachte das Jahr 1765 mit der einschneidenden Stamp Act crisis in vieler Hinsicht Veränderungen, die zuvor gehegte Überzeugungen über Bord warfen. Während 1765 dank der Stempelsteuer die Gesamtzahl aller Publikationen um rund zehn Prozent abnahm, stieg zugleich die Zahl der politischen Flugschriften deutlich an. Dabei schnellte die Diskussion um die verhasste Stempelsteuer und damit auch die um „Verfassung“ in den Zeitungen regelrecht in die Höhe. Von der Stamp Act crisis an wurde der Konflikt mit dem Mutterland in Amerika nach der treffenden Bezeichnung von Schlesinger ein „Zeitungskrieg“.45 1765 war der vorherrschende Begriff in diesem „Krieg“ „verfassungswidrig“, der zwar in den politischen Flugschriften dieses Jahres kaum auftauchte,46 doch zwischen September und November in den 40

Ebd., 6: „Der König als politisches Haupt seiner Untertanen hat in dieser Eigenschaft die gleiche Beziehung zu allen und ist tatsächlich verpflichtet, den einen Untertan so gut wie den anderen zu schützen, und er hat ein Interesse an allen seinen Untertanen, weshalb sie ein Interesse an ihm haben, das gemäß der politischen Verfassung geregelt ist.“ So selten dieser Ausdruck auch benutzt wurde, war es meist in einer neutralen Form, vgl. Norwich Packet, 24. Februar 1774, 1; Massachusetts Spy, 15. April 1774, 2. 41 [Bland,] The Colonel Dismounted, 22. 42 Vgl. [Benjamin Franklin,] Cool Thoughts on the Present Situation of Our Public Affairs. In a Letter to a Friend in the Country, Philadelphia: W. Dunlap, 1764, 7, 16, 20. 43 [Fitch,] Reasons, 36. 44 New-York Gazette, 14. März 1763, 2. Vgl. auch Newport Mercury, 3. September 1764 („die Verfassung dieses Landes“). 45 So der Untertitel seines bereits zitierten Buches Prelude to Independence. 46 Der einzige Hinweis, den ich finden konnte, findet sich in den Protokollen des Stempelsteuer-Kongresses, Proceedings of the Congress at New-York, Annapolis: Jonas Green, 1766, 19 („Die unschätzbaren Rechte, uns selbst zu besteuern, und der Geschworenenprozess, um deren Schutz Eurer Majestät wir inständig bitten, sind nicht, wie wir untertänigst vor-

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Zeitungen allgegenwärtig war. Weder war dieser Ausdruck 1765 ein Neologismus, auch wenn er zuvor nur gelegentlich in Amerika aufgetaucht war, noch waren die adverbialen Formen unconstitutionally und constitutionally unbekannt, obgleich sich die ersten Hinweise auf sie im Oxford English Dictionary erst für 1791 bzw. 1767 finden.47 Die adverbiale Form „verfassungswidrigerweise“ mag in der Tat 1765 nicht gebraucht worden sein, doch die Georgia Gazette vom 13. September 1764 teilte ihren Lesern mit, dass die gesetzgebende Versammlung von South Carolina dem stellvertretenden Gouverneur den Ausschussbericht vom 25. August übergeben habe, der feststellte, dass „[a]us diesen Gründen es Euer Ausschuss der Versammlung nicht empfehlen könne, Ausgaben vorzunehmen, solange der öffentliche Kredit nicht auf eine solide Basis gestellt sei und die bereits eingegangene alte und erdrückende Schuld vollständig beglichen ist durch die Verabschiedung eines Steuergesetzes, auch damit die Gläubiger dieser Provinz erkennen mögen, dass, während ihre Repräsentanten verfassungswidrigerweise daran gehindert sind, ihren gerechten Forderungen nachzukommen, sie keine weitere Erhöhung der öffentlichen Schuld billigen werden, damit sie nicht den Anschein geben, brav zu erdulden, dass sie selbst als Mittel gebraucht werden, das Volk zu verführen und zu betrügen.“48

Die adverbiale Form „verfassungsmäßigerweise“ erschien 1765 mindestens neunmal in amerikanischen Zeitungen, mag aber durchaus in England entstanden sein, wo laut New-York Mercury vom 11. Juli 1763 John Wilkes sie am 6. Mai 1763 bei seiner Verteidigung vor Gericht im Court of Common Pleas gebraucht hatte.49 Ein amerikanischer Neologismus von 1764/65 mag jedoch der Ausdruck „antikonstitutionell“ gewesen sein, der dem Oxford English Dictionary nach wie vor unbekannt ist. In einem „Protest von Rat und Versammlung von Virginia“ an das britische Unterhaus wurde versichert, „dass britische Patrioten nie der Ausübung antikonstitutioneller Gewalt zustimmen werden“.50 bringen, verfassungswidrig, sondern bestätigt durch die Magna Charta der englischen Freiheit“). 47 Vgl. das Oxford English Dictionary online mit den letzten Ergänzungen von September 2009 unter: http://www.oed.com/ (Zugriff 5. 12. 2009). 48 Georgia Gazette, 13. September 1764, 2 (eigene Hervorhebung, H. D.). Unmittelbar vorausgegangen war in South Carolina eine politische Kontroverse, die „einflussreichen Repräsentanten von South Carolina die Gelegenheit geboten [hatte], weiter an politischer Führungskraft zu gewinnen und ein bedeutendes Maß an politischer Erfahrung zu erwerben – indem sie einen politischen Zermürbungskrieg in der Verteidigung dessen führten, was sie für ihre verfassungsmäßigen Rechte hielten“ (Jack P. Greene, „The Gadsden Election Controversy and the Revolutionary Movement in South Carolina“, in: ders., Negotiated Authorities. Essays in Colonial Political and Constitutional History, Charlottesville u. London: University Press of Virginia, 1994, 347). 49 New-York Mercury, 11. Juli 1763, 1. 50 Boston Post Boy, 25. März 1765, 1; erneut in der Providence Gazette, 6. April 1765, 4. Die Resolution war von der gesetzgebenden Versammlung (House of Burgesses) von Virginia am 18. Dezember 1764 angenommen worden, vgl. Revolutionary Virginia. The Road to Independence, 1763 – 1776. A Documentary Record, hrg. v. Robert L. Scribner, 7 Bde., Charlottesville: University Press of Virginia, 1973 – 83, I, 10 – 14.

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Mehr als ein linguistisches Problem kamen wesentliche inhaltliche Fragen zusammen und formten 1765 das Verständnis von „Verfassung“. Nur selten wurde der Begriff ausgeweitet, um die kolonialen Freibriefe einzuschließen, wenngleich es Hinweise gab auf „die Verfassung Großbritanniens und der amerikanischen Kolonien“51 oder „die englische Verfassung in Amerika“,52 die durch das Stempelgesetz Gefahr liefe, zerstört zu werden. Beide Stellen lassen offen, ob die britische Verfassung so verstanden wurde, dass sich ihre Gültigkeit auch auf Amerika erstrecke, oder ob sie zusammen mit den kolonialen Freibriefen eine imperiale Verfassungsstruktur darstelle. Aus politischen Gründen, doch auch wegen des ihr zugrunde liegenden Verfassungskonzepts ist daher eine zweite Resolution des House of Burgesses von Virginia, die diesmal an das britische Oberhaus gerichtet war, von besonderem Interesse. Nach ihrem Verständnis „stammte ihre Verfassung von Großbritannien“, das nun „umstürzlerische“ Maßnahmen ergriff. Um sie zu bewahren, war es daher „[d]ie Pflicht sich selbst und ihren Nachkommen gegenüber, die die Notwendigkeit Euren Bittstellern auferlegt, bestrebt zu sein, ihre Verfassung auf ihrer eigentlichen Grundlage zu begründen“.53 In einer oberflächlichen Weise ähnelt die Wortwahl jener der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776, denn eine „Verfassung auf ihrer eigentlichen Grundlage zu begründen“, setzt schließlich ein erhebliches Maß aktiver menschlicher Tätigkeit voraus, das jedoch 1765 in den meisten Konzepten von „Verfassung“ fehlte und damit zum Ausdruck bringt, welch langer Weg bis zum Verständnis von 1776 noch zurückzulegen war. 1765 finden wir hingegen eine hinreichende Zahl von Hinweisen auf „die Verfassung der britischen Regierung“ sowohl in der Flugschriftenliteratur als auch in den Zeitungen.54 Besonders beachtenswert ist die Formulierung, mit der die Grundbesitzer und weitere Einwohner von Stadt und Kreis New York „einstimmig und feierlich ihr Begehren erklären, dass alle üblichen verfassungsmäßigen Formen der Regierung aufrecht erhalten bleiben sollten“.55 Doch daneben findet sich auch das traditionelle Verständnis, das „Verfassung“ gleichsetzt mit Gewohnheit,56 der Magna

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Newport Mercury, 16. Dezember 1765, 3. New-York Mercury, 23. Dezember 1765, 1. 53 Providence Gazette, 30. März 1765, 2. Vgl. Revolutionary Virginia: The Road to Independence, hrg. v. Scribner, I, 10 – 12. 54 Vgl. [Daniel Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes in the British Colonies, For the Purpose of raising a Revenue, by Act of Parliament, New York: John Holt, 1765, 5, auch 28, 42; [Benjamin Church,] Liberty and Property vindicated, and the St—pm-n burnt. A Discourse Occasionally made, On burning the Effigy of the St—pm-n, in New-London, in the Colony of Connecticut. By a Friend to the Liberty of his Country, [Hartford: o. N.,] 1765, 7. Zahlreiche Hinweise in den Zeitungen vom Connecticut Courant, 24. Juni 1765, 6, bis zum Boston Post Boy, 30. Dezember 1765, 2. 55 New-York Mercury, 2. Dezember 1765, 2 (eigene Hervorhebung, H. D.). 56 Boston Gazette, 2. September 1765, 2. 52

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Charta57 oder ganz allgemein mit Freiheit.58 Eine vergleichbar traditionelle Orientierung mag unterstellt werden, wenn „Verfassung“ auf die „Verfassung“ des Parlaments reduziert wurde.59 Bedeutsamer für das zukünftige amerikanische Verständnis von „Verfassung“ war die allgemeine und unbestrittene Verbindung der britischen Verfassung mit Prinzipien. Die Vorstellung, dass die britische Verfassung auf Prinzipien basierte, war ein ständig wiederkehrender Topos in den Zeitungen dieses Jahres, und auch die Flugschriften von 1765 verwiesen konstant darauf.60 Diese enge Verbindung bedeutete nicht allein Ruhm für Großbritannien, sondern verbreitete damit zugleich den Gedanken, dass eine Verfassung eine moralische Ordnung begründete, in der staatliche Gewalt auf das Wohl der Untertanen gerichtet war. Es war immer noch eine protomoderne Vorstellung, die jedoch bereits über die traditionelle Maxime Salus populi suprema lex esto hinausging, da sie deutlich machte, dass das Individuum nicht vom Wohlwollen des Fürsten abhing, sondern dass es eine Verfassung war, die Sicherheit und Schutz gewährte.61 Diese Verfassung konnte jedoch zerstört werden,62 doch solange sie bestand, gewährte sie Rechte.63 Alle diese Auffassungen fanden die Amerikaner alsbald in Blackstones Commentaries bestätigt, was seine Veröffentlichung für sie besonders wertvoll machte, bot sie doch gleichsam ex cathedra die Rechtfertigung ihrer politischen Argumente über „Verfassung“. Auch wenn die Commentaries Passagen enthielten, die den Amerikanern ganz und gar nicht zusagten, müssen wir uns zunächst vor Augen halten, dass die in Amerika durch die Stamp Act crisis provozierte Diskussion um die Bedeutung von Verfassung 1765 noch weitgehend ohne Kenntnis dieses Werks durchgeführt wurde. Das bedeutet nicht, dass es keine anderen englischen Einflüsse 57

Vgl. Boston Post Boy, 2. September 1765, 2; Newport Mercury, 28. Oktober 1765, 4. Boston Post Boy, 2. Dezember 1765, 2. 59 Newport Mercury, 4. November 1765, 1: „Das Parlament hat das Recht, alle Gesetze zu machen innerhalb der Grenzen seiner eigenen Verfassung.“ Als Beispiel für die „Verfassung der Parlamente“, vgl. Boston Evening Post, 1. März 1773, 2. 60 Vgl. [Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes, 7, 16, 21, 29, 30, 31, 40; [Martin Howard,] A Letter From a Gentleman at Halifax, To His Friend in Rhode-Island, Containing Remarks upon a Pamphlet, Entitled, The Rights of Colonies Examined, Newport: S. Hall, 1765, 13; [ders.,] A Defence Of the Letter From A Gentleman at Halifax, To His Friend in Rhode-Island, Newport: Samuel Hall, 1765, 28; [Otis,] A Vindication Of the British Colonies, 31; Proceedings of the Congress at New-York, 15, 18, 22. 61 Vgl. [Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes, 25, 28; Maurice Moore, The Justice and Policy of Taxing The American Colonies, In Great Britain, Considered, Wilmington, N.C.: Andrew Steuart, 1765, 9, 13; [Otis,] AVindication Of the British Colonies, 8, 9, 10; Proceedings of the Congress at New-York, 21. 62 Vgl. [Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes, 40; The Constitutional Courant, Philadelphia, 21. September 1765, Spalte B. 63 Vgl. Boston Evening Post, 1. Juli 1765, 1; Georgia Gazette, 3. Oktober 1765, 1; Boston Evening Post, 4. November 1765, 2; New-York Mercury, 11. November 1765, Anhang, 1; Newport Mercury, 11. November 1765, 2; New-York Mercury, 18. November 1765, Anhang, 4. 58

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gab, die etwa erkennbar werden, wenn Daniel Dulany die britische Verfassung als Mischverfassung beschrieb: „Es ist in der Tat schwer vorstellbar, wie die Demokratie, die ebenso Teil der Verfassung ist wie Monarchie und Aristokratie, bestehen kann, wenn das Volk von der Ausführung wie von der Aufstellung der Gesetze ausgeschlossen ist.“64

Hier schwingt die englische Debatte des 17. und 18. Jahrhunderts über die Mischverfassung mit.65 Ein anderes Beispiel sind die Instruktionen Bostons an seine Repräsentanten auf dem Stempelsteuer-Kongress in New York: „Zu einer Zeit, in der sich die britisch-amerikanischen Untertanen überall lauthals über die willkürlichen und verfassungswidrigen Innovationen beklagen, kann die Stadt Boston nicht länger schweigen.“66 Jeder fühlte sich sogleich an die „gefährlichen Innovationen“ Jakobs II. erinnert, die die Glorreiche Revolution hervorgerufen hatten.67 Den breitesten Zugang zu „Verfassung“ mit einigen neuen Elementen erschien Ende 1765 in einen Brief von „einem Freund der Kolonie“ an den Herausgeber des Newport Mercury, Samuel Hall. Der Brief warf drei entscheidende Fragen auf. 1) Wer ist legitimiert, eine Verfassung zu geben? „Und es gibt sicherlich keinen anderen Unterschied zwischen Freiheit und Sklaverei, als dass der freie Mann sein Leben, seine Freiheit und sein Eigentum durch bekannte Gesetze gesichert findet, denen er seine Zustimmung gegeben hat und dass er nicht irgendeines Rechtes beraubt werden kann als durch ein Urteil eines ordentlichen Gerichtes aufgrund der Übertretung eines Gesetzes des Landes. Dagegen besitzt der Sklave alles gemäß dem Belieben seines Herrn, und es gibt für ihn kein Gesetz, sondern nur den Willen seines Tyrannen. Kam es eine sklavischere oder niederträchtigere Lage geben als unsere, die wir keine Verfassung in den Kolonien haben, sondern nur das, was dem König beliebt, uns zu geben?“68

Seine Antwort verwies auf das „Erbe unserer Väter“. Das war noch keine Einladung, eine neue Verfassung zu schreiben, doch auf einem allgemeinen theoreti64 [Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes, 25. Zu Dulany, vgl. auch Edmund S. Morgan und Helen M. Morgan, The Stamp Act Crisis. Prologue to Revolution, New York u. London: Collier, 1965, 99 – 119. 65 Vgl. Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart: Klett-Cotta, 1980, bes. 160 – 311. Dazu auch oben Kap. II. 1. 66 Georgia Gazette, 24. Oktober 1765, 2 (eigene Hervorhebung, H. D.). 67 Der Ausdruck „gefährliche Innovationen“ war in der Exclusion Crisis aufgetaucht, vgl. Mark Knights, Politics and Opinion in Crisis, 1678 – 81, Cambridge: Cambridge University Press, 2006, 291, bevor er in der Glorreichen Revolution erneut verwandt wurde, und John Dickinson mag ihn in die amerikanische Diskussion eingeführt haben: [John Dickinson,] Letters from a Farmer in Pennsylvania, To the Inhabitants of the British Colonies, Philadelphia: David Hall and William Sellers, 1768, 10 („Dies nenne ich eine Innovation, und zwar eine höchst gefährliche Innovation“). Ab den 1780er Jahren benutzte Jefferson den Ausdruck wiederholt wie ebenso Alexander Hamilton im The Federalist, Nr. 78, und andere. Über weiteren Gebrauch bis 1776, s. unten. 68 Newport Mercury, 30. Dezember 1765, 2. Die folgenden Zitate finden sich auf derselben Seite.

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schen Niveau ließ er keinen Zweifel, dass die Freiheit eines Volkes eine Verfassung erforderte, die von dem Volk aufgesetzt war und nicht gnädigst von einem König gegeben wurde. Die zweite Feststellung mochte dem Leser in gleicher Weise selbstverständlich erscheinen: „Wenn unser Leben, Freiheit und Eigentum nicht unser Erbe sind, gesichert durch dieselben Gesetze, bestimmt durch dieselbe Rechtsprechung und eingezäunt und verteidigt durch dieselbe Verfassung, welche die Weisheit unserer Vorfahren zur Wahrung dieser Segnungen in unserem Mutterland aufzurichten notwendig fanden, dann sind die Untertanen dieser Kolonien keine freien Männer, sondern Sklaven.“69

Das Problem, um das es hier geht, ist das, was Edward S. Corwin den Hintergrund des höherrangigen Gesetzes (higher-law background) nannte.70 Freiheit und Rechte müssen eingezäunt, oder wie es heute allgemein heißt, eingehegt werden, um Legislative und Exekutive daran zu hindern, in sie einzugreifen. Damit könnte jene oben erwähnte Sicherheit und Schutz gemeint sein, den die britische Verfassung gewährte. Doch tatsächlich kannte das britische Parlament kein höherrangiges Gesetz an, und die britische Verfassung kann bis heute Rechte und Freiheit nicht einhegen, weil dies mit der Doktrin der Souveränität des Parlaments unvereinbar wäre.71 Die Vorstellung der Einhegung erforderte ein neues Verständnis von „Verfassung“, für die Großbritannien keine Lösung anbot. Der dritte Punkt des Autors umfasste ein ganzes Bündel von Fragen: „Die Weisheit und die Erfahrung unserer Vorfahren in England lehrte sie, dass es für die Sicherheit von Leben, Freiheit und Eigentum notwendig war, dass es eine Macht geben müsse, irgendwo in der Verfassung, die Gerichtshöfe zu kontrollieren; und äußerst weise platzierten sie sie, wo allein die Macht der Kontrolle sicher platziert werden konnte, im Parlament, in jedem Haus des Parlaments und im Volk mittels seiner Repräsentanten.“72

Wir könnten dies als Bemerkungen über die Ziele der Verfassung einordnen. Der Verfasser sprach damit eindeutig das Problem der Verantwortlichkeit an, was, wie den Amerikanern zunehmend bewusstwurde, eine Verfassung zu lösen hatte. Des Weiteren ging es um das Verhältnis der drei Gewalten zueinander, erneut ein wesentliches Problemfeld für jede Verfassung. Konkret ging es um die Frage der Kontrolle der Gerichte, eines der schwierigsten Probleme des modernen Konstitutionalismus, das die Amerikaner 1776 zu lösen suchten, doch deren Lösungsversuche 69

Ebd. (eigene Hervorhebung, H. D.). Edward S. Corwin, The „Higher Law“ Background of the American Constitution, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1965. 71 Gemäß dem Human Rights Act von 1998 kann kein britisches Gericht ein britisches Gesetz für ungültig erklären, weil es gegen die Europäische Konvention der Menschenrechte verstößt, sondern lediglich die Unvereinbarkeit des fraglichen Gesetzes mit der Konvention feststellen in der Erwartung, dass darauf das britische Parlament das inkriminierte Gesetz möglichst rasch revidiert. 72 Newport Mercury, 30. Dezember 1765, 2 (eigene Hervorhebung, H. D.). 70

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das ganze 19. Jahrhundert und darüber hinaus bis zur Gegenwart umstritten blieben.73 Die Rolle, die das Volk gemäß der Verfassung spielen soll, etwa in Form der direkten Demokratie, war ebenso indirekt angesprochen. Zumindest sollte alles das irgendwo in der Verfassung geklärt werden. Was verstand mithin unser Autor unter „Verfassung“, Bolingbrokes „Ansammlung von Gesetzen, Institutionen und Gewohnheiten“ oder eine Art geschriebenes, wenn auch vermutlich sehr kompliziertes Dokument, das Lösungen für so viele Fragen bieten sollte? Unser Autor bot keine Lösungen an, doch dass er diese Fragen aufwarf, unterstreicht, wie tief die Stamp Act crisis die politische Diskussion und das Verständnis von „Verfassung“ beeinflusst hatte. Wenden wir uns nun den Jahren 1766 – 1769 zu, um den eingangs erwähnten Höhepunkt von 1769 zu bewerten. Immer wieder treffen wir dabei auf die Vorstellung, dass die britische Verfassung durch bestimmte grundlegende Prinzipien charakterisiert sei. Die Mehrzahl der Hinweise auf jene „grundlegenden Prinzipien“ war jedoch unspezifisch und mochte ein Lob auf voraufgegangene Jahrzehnte darstellen, in denen Großbritannien sich weit weniger in die Angelegenheiten der Kolonien einmischte, was dazu beigetragen hatte, dass die Siedler geneigt waren, eine Situation für selbstverständlich anzusehen, in der „zum Genuss dieser Rechte und Freiheiten in den genannten Kolonien frühzeitig verschiedene Regierungen gebildet wurden mit der vollständigen Befugnis zur Gesetzgebung im Einklang mit den Prinzipien der englischen Verfassung“.74 Andere hingegen verdammten die neuere britische Politik in Bausch und Bogen als „ersten Schritt zu Anarchie und Verwirrung und den Umsturz der grundlegenden Prinzipien unserer glücklichen Verfassung“.75 In einer wachsenden Zahl von Fällen trifft man auf Bemühungen, die „Prinzipien“ näher zu bestimmen. So berichtete ein „Gentleman“ aus Providence, R.I. in heftiger Opposition gegen die Stempelsteuer: „Letzten Montag hat das zuständige Gericht für diesen Kreis Providence (Inferior Court of Common Pleas) zu tagen begonnen. Die Richter waren einmütig der Meinung, dass sie gemäß den grundlegenden Prinzipien der Verfassung Fälle hören und entscheiden können und sollten und in der gewohnten Art zur Vollziehung bringen sollten ohne den Gebrauch von gestempeltem Papier in ihren Verhandlungen, dem Stempelsteuergesetz zum Trotz. Eine noble Entscheidung und würdig den Nachfolgern unseres großen Gesetzgebers Roger Williams, des Gründers dieser Kolonie!“76 Die Resolution gegen das Stempelsteuergesetz des Unterhauses von South Carolina griff gemäß ihrem Verständnis ein anderes „Prinzip“ der britischen Verfassung heraus:

73 Als bekanntes Beispiel aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts, vgl. Gilbert E. Roe, Our Judicial Oligarchy, m. e. Einl. v. Robert M. LaFollette, New York: B. W. Huebsch, 1912. 74 New-Hampshire Gazette, 18. April 1766, 1. 75 New-York Gazette, 25. Dezember 1769, 2. 76 Pennsylvania Gazette, 16. Januar 1766, 1.

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„Da alle Bewilligungen für die Krone freie Gaben des Volkes sind, ist es unzumutbar und unvereinbar mit den Prinzipien und dem Geist der britischen Verfassung, dass das Volk Großbritanniens seiner Majestät das Eigentum des Volks dieser Provinz übereignet.“77

Gleichmäßige Rechtsgewährung und die Unantastbarkeit des Eigentums waren zweifellos britische Grundwerte – doch erneut muss betont werden, dass es sich dabei um gewohnheitsrechtliche Prinzipien handelt und nicht um Verfassungsgrundsätze im eigentlichen Sinn, selbst wenn wiederholt betont wurde, sie wären „eingemeißelt in die britische Verfassung als grundlegendes Gesetz“.78 Die gleiche Verwechslung von Gewohnheitsrecht und „Verfassung“, die in Großbritannien wie in den Kolonien anzutreffen war, wird erkennbar, als ein Autor mutmaßte, dass die Geschworenen (grand juries) ihre „Befugnisse und Recht“ aus „den Grundlagen der Verfassung“ herleiteten.79 Die Verwechslung war keineswegs allgemein, und wenn die freie Wahl von Repräsentanten als eines der „grundlegenden Prinzipien der Verfassung“ gefordert wurde,80 hatten die Autoren gewiss Recht und mochten sich an die stürmischen Diskussionen in der Glorreichen Revolution über ein „widerrechtlich zusammengesetztes Parlament“ (packed parliament) erinnern. Sehr viel verbreiteter war das Argument, es sei einer „der anerkannten Prinzipien der Verfassung, dass freie Männer nicht rechtmäßig besteuert werden können, außer durch sich selbst oder durch ihre Repräsentanten“81 oder, wie die gesetzgebende Versammlung von New York am 14. April 1769 beschloss: „Dass es ein grundlegendes Prinzip der englischen Verfassung ist, verkündet durch die Magna Charta und bestätigt durch die Glorreiche Revolution, durch die Petition und Bill of Rights, dass keine Steuer auferlegt oder Eigentum dem Untertanen genommen werden kann ohne seine eigene Zustimmung oder die seiner Repräsentanten im Parlament.“82

Um zu beweisen, dass eine Verfassung nicht eine reine Ansammlung von Gesetzen war, sondern ein logisch zusammenhängender Corpus von Regeln und Vorschriften, ging Daniel Dulany einen entscheidenden Schritt über das bisher Gesagte hinaus, indem er eine neue Begründung lieferte: „Es ist ein wesentliches Prinzip der englischen Verfassung, dass der Untertan nicht ohne seine Zustimmung besteuert werden kann, was nicht durch irgendein besonderes Gesetz

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Connecticut Courant, 20. Januar 1766, 4. Boston Chronicle, 21. März 1768, 126. 79 Boston Chronicle, 26. Januar 1769, 31. 80 Boston News-Letter, 17. November 1769, Anhang, 2. Vgl. auch Georgia Gazette, 21. Juni 1769, 1. 81 New-York Gazette, 18. Juli 1768, 3. Vgl. auch Boston Evening Post, 8. August 1768, 4; Boston Gazette, 5. September 1768, 1; Essex Gazette, 28. Februar 1769, 127; New-York Journal, 25. Mai 1769, 1. 82 New-York Gazette, 24. April 1769, 1. 78

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eingeführt wurde, sondern notwendigerweise aus der Natur der gemischten Regierung folgt; denn ohne es könnte der Stand der Demokratie nicht existieren.“83

Geschichte und Politik bestätigten, was die philosophische Deduktion bewiesen hatte: „In Großbritannien wird die Zustimmung des Volkes durch das Unterhaus gegeben; und da dort Gelder erhoben wurden zum Gebrauch der Krone unter der Vorgabe der königlichen Prärogative ohne seine Zustimmung, wurde in der Revolution in Übereinstimmung mit der Verfassung und um die Rechte des Volkes wieder herzustellen, erklärt, dass die Erhebung von Geldern unter dem Vorwand der Prärogative und ohne Gewähr des Parlaments, d. h. ohne Zustimmung derer, die bezahlen sollen, illegal ist; diese Erklärung war nicht nur der Revolution höchst angemessen, sondern sie begründet auch genau das Prinzip, das von den Kolonien eingefordert wird.“84

Insbesondere das Erklärungsgesetz (Declaratory Act) machte den Amerikanern bewusst, dass es um mehr ging als Steuern und dass die zugrunde liegenden Probleme weit umfassender waren. Aus der Perspektive des Verständnisses von „Verfassung“ hieß das aus ihrer Sicht, auf „dem großen Prinzip der britischen Verfassung [zu bestehen], gemäß dem die freien Männer einer Nation nur jenen Gesetzen unterworfen sind, die von den von ihnen gewählten Repräsentanten im Parlament gemacht worden sind“.85 In den radikaleren Worten der Freiheitssöhne mochte diese so klingen: „Es ist der ureigene Geist der Verfassung, dass die Untertanen des Königs nicht durch Gesetze regiert werden, an deren Zustandekommen sie keinen Anteil hatten; und dieses Prinzip ist die große Barriere gegen Tyrannei und Unterdrückung. Wenn dieses Bollwerk eingerissen wird, bleibt für uns nichts als die furchtbare Erwartung einer sicheren Sklaverei.“86

In dieser Situation, angeheizt durch die Krise um die Wahl von John Wilkes im englischen Middlesex (Middlesex election crisis) nahm Repräsentation oder, wie die Amerikaner bald sagen würden, repräsentative Regierung unbestritten den Rang eines grundlegenden Prinzips der Verfassung an. Diese Fragen leiten rasch zu weiteren über, die die ganze Breite des Problems aufzeigen. Dazu gehörte aus gegebenem Anlass bald das Problem der Entlassung von Richtern durch koloniale Gouverneursräte gemäß königlicher Prärogative, was nach 83

[Daniel Dulany,] Considerations on the Propriety of Imposing Taxes in the British Colonies, For the Purpose of raising a Revenue, by Act of Parliament, Nordamerika [d. h. Boston: M’Alpine for Mein,] [1766], 7. 84 Ebd., 27. 85 Richard Bland, An Inquiry Into the Rights of the British Colonies, Intended as an Answer to The Regulations lately made concerning the Colonies, and the Taxes imposed on them considered. In a Letter addressed to the Author of that Pamphlet, Williamsburg: Alexander Purdie & Cie., 1766, 22. 86 [Silas Downer,] A Discourse, Delivered in Providence, in the Colony of Rhode-Island, upon the 25th. Day of July, 1768. At the Dedication of the Tree of Liberty, From the Summer House in the Tree. By a Son of Liberty, Providence: John Waterman, 1768, 7.

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verbreiteter Überzeugung „unvereinbar mit der Freiheit der Untertanen und ungerechtfertigt aufgrund der Prinzipien der englischen Verfassung“ war.87 Einerseits war damit das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit betroffen, die mittels des Klärungsgesetzes (Act of Settlement) von 1701 Bestandteil der englischen Verfassung geworden war.88 Andererseits war damit die generelle Frage der Rechte und Freiheiten der Kolonien aufgeworfen, ganz gleich, ob die Amerikaner ihre Freibriefe als „Verfassung“ verstanden oder nicht. „Die Verfassung dieser Kolonien, gegründet auf den Prinzipien der britischen Freiheit, wurde nie verletzt durch ein direktes Gesetz der Krone; doch die Befugnisse der Regierung, im Einklang mit dieser Verfassung, wurden beständig in den königlichen Weisungen an ihre Gouverneure erklärt, die, wann immer sie mit dem Großen Siegel versehen wurden, Erklärungen und Bestätigungen der Rechte der Kolonien waren.“89

Wenn wir danach fragen, was diese Gleichsetzung von Rechten und Freiheiten mit der britischen Verfassung für das Verständnis von „Verfassung“ bedeutete, müssen wir wiederum zwischen zwei verschiedenen Arten von Antworten unterscheiden. Da gab es jene, die sich damit begnügten, auf die durch die britische Verfassung garantierten Rechte hinzuweisen und „demütig hoffen, dass Eurer Majestät treue Untertanen dieser Kolonie einen gerechten Anspruch auf den vollen Genuss der grundlegenden Rechte der britischen Verfassung haben“.90 Dabei wurde in den meisten Fällen nicht die Frage gestellt, ob diese „grundlegenden Rechte der britischen Verfassung“ Rechte waren, die durch die Verfassung begründet waren, wie der Autor des Briefes „An das Volk von Boston und alle übrigen englischen Amerikaner“ unterstellte, wenn er von den „Prinzipien der Freiheit“ als grundlegend für die englische Verfassung sprach, von denen einige nach seiner Überzeugung in der Magna Charta verewigt waren.91 In anderen Fällen ist zweifelhaft, ob tatsächlich die Verfassung gemeint war oder nicht vielmehr das Gewohnheitsrecht, auf das die Petition von Massachusetts, Rhode Island, New Jersey, Pennsylvania, und Delaware an das britische Parlament weitgehend abhob: „Wir leiten alle unsere bürgerlichen und religiösen Rechte und Freiheiten von der englischen Verfassung her.“92 Für viele Zeitgenossen mangelte es nach wie vor an einer deutlichen Trennung zwischen Verfassung und Gewohnheitsrecht. Diejenigen, die im Einklang mit Blackstone die britische Verfassung in enge Beziehung zum Naturrecht stellten, waren daher gerne bereit, die ihnen von der 87 Considerations upon the Rights of the Colonists to the Privileges of British Subjects, Introduc’d by a brief Review of the Rise and Progress of English Liberty, and concluded with some Remarks upon our present Alarming Situation, New York: John Holt, 1766, 13. 88 12 & 13 Will. III, c. 2. 89 Bland, An Inquiry Into the Rights of the British Colonies, 22. 90 New-York Journal, 23. März 1769, 2. 91 New-York Journal, 24. September 1767, 2. 92 Newport Mercury, 14. April 1766, 1.

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britischen Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten mit dem Naturrecht in Verbindung zu bringen. In „Einem Aufruf an die Einwohner von New York“ erklärte der Autor frei heraus: „Die Gesetze und Verfassung der Regierung von England, unserem Heimatland, sind begründet auf den Gesetzen Gottes und der Natur und leiten daraus ihren ganzen Wert ab.“93 Knapp drei Jahre später beschlossen die Grundeigentümer von Boston, dass sie „als freie Untertanen das gleiche Recht haben, abgeleitet von der Natur und bestätigt durch die britische Verfassung wie auch durch den genannten königlichen Freibrief“.94 Andere waren deutlich direkter und beschuldigten „die Regierung der Beeinträchtigung unserer natürlichen Rechte, die uns kraft Verfassung gehören“.95 Gemäß diesen übereinstimmenden Behauptungen bestand eine enge Verbindung zwischen Menschenrechten und Verfassung. Uneinigkeit herrschte hingegen hinsichtlich der Begründung dieser Rechte, nämlich Gewohnheitsrecht, Verfassungskonvention bzw. Verfassungsdokumente oder Naturrecht. Konservative Autoren, zumal in Großbritannien, wiesen den Naturrechtsbezug mit seinen universellen Implikationen entschieden zurück, die die britische Verfassung überstrapazieren würde, wie es in einer sarkastischen Zurückweisung aus London hieß: „Die gesetzgebende Versammlung von Pennsylvania behauptet nicht, dass die ersten Siedler alle Rechte britischer Untertanen mit sich nahmen, sondern sie stützten ihren Anspruch auf die natürlichen Rechte der Menschheit. Nun, dass diese natürlichen Rechte jedem Volk ein Recht auf alle Privilegien der Engländer geben sollte, ist eine Doktrin, die allen Zivilrechtlern unbekannt ist mit Ausnahme der Versammlung von Pennsylvania. Die Doktrin ist jedoch äußerst wohlwollend, denn wenn sie Anerkennung findet, wird sie die Segnungen unserer ausgezeichneten Verfassung universell machen für die natürlichen Indianer Nordamerikas, die Neger, die Hottentotten, die Tartaren, Araber, Kaffern und Grönländer. Sie alle werden einen gleichen Anspruch auf die Rechte und Freiheiten der Engländer haben, zusammen mit dem guten Volk von Pennsylvania: denn alle ihre Regierungsverfassungen sind auf den natürlichen Rechten der Menschheit begründet.“96

Auch wenn Ende der 1760er Jahre viele Amerikaner nicht zwischen den „Rechten und Freiheiten der Engländer“ und Naturrechten unterschieden, begnügten sie sich doch vielfach getreu Blackstone mit der Verbindung von „Verfassung“ und Menschenrechten, ohne dass diese Rechte jedoch bereits im Einzelnen definiert und ihr konkreter Platz in der Verfassung schon festgelegt war. Generell ließ sich zusammenfassen, dass die Glorreiche Revolution die Macht des Monarchen begrenzt und die des Parlaments gestärkt hatte. Zeitgenossen nannten dies „begrenzte Monarchie“. Folglich ließ sich argumentieren, dass die britische Verfassung Macht zur Sicherung von Rechten begrenzt hatte. Auch wenn viele Siedler einer derartigen Interpretation von „Verfassung“ zugestimmt hätten – von 93 94 95 96

New-Hampshire Gazette, 10. Januar 1766, 1. Essex Gazette, 13. September 1768, 31. New-Hampshire Gazette, 18. November 1768, 1. Boston Chronicle, 10. April 1769, 115 (Hervorhebung im Original).

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III. Nordamerika

1776 an nannten die Amerikaner das „begrenzte Regierung“ –, galt eine derartige Theorie der britischen Verfassung in den 1760er Jahren immer noch als Neuerung und war alles andere als allgemein anerkannt. Dennoch sandte das Repräsentantenhaus von Massachusetts am 22. Januar 1768 ein Schreiben mit dem Versuch, die britische Verfassung genau in diesem Sinne zu interpretieren, an den Marquess of Rockingham, der, nicht mehr im Amt, inzwischen Führer der Whig Opposition im britischen Parlament war: „Es wird ergebenst angenommen, dass alle glücklichen Untertanen seiner Majestät in allen Teilen dieser weitgespannten dominions einen begründeten und gerechten Anspruch auf die Rechte jener Verfassung haben, auf welcher die Regierung selbst beruht und gemäß der Souveränität und Treue hergestellt und begrenzt sind.“97

Das Declaratory Act ließ die Amerikaner jedoch nur wünschen, die Macht des englischen Parlaments wäre begrenzt. In der Praxis hatten sie jedoch, woran Blackstone keinen Zweifel ließ, „dessen unbegrenztes Recht sowohl zur Gesetzgebung als auch zur Besteuerung anzuerkennen“, während die Amerikaner vormals die „Verfassung als ziemlich geregelt, als vollkommen begrenzt, als ausdrücklich erklärt und feierlich anerkannt“ betrachtet hatten.98 Amerikaner hatten begonnen, „Verfassung“ als Instrument zur Begrenzung von Macht zu begreifen, nur um festzustellen, dass die Gegebenheiten der britischen Verfassung dem praktisch entgegenstanden und dass es noch eines langen Weges bedurfte, dieses Ziel zu erreichen, stand doch noch nicht einmal fest, wie dieses verfassungsrechtlich umzusetzen war. Ende der 1760er Jahre war der Begriff der „Verfassung“, was sie war, was sie sein sollte, in Fluss. Der anhaltende Konflikt mit dem Mutterland um die Rechte der Kolonien, der sich unentwegt um die britische Verfassung und ihre Interpretation drehte, hatte die Amerikaner für das Verständnis von „Verfassung“ sensibilisiert und zur Entwicklung eines eigenen Verständnisses von „Verfassung“ geführt, wobei die Bedeutungsschärfung dank und mittels des Beispiels der britischen Verfassung geschah und nicht in der Abwendung von ihr. Es bedurfte immer noch einer Reihe von Jahren, bis den Amerikanern bewusst wurde, dass ihre Interpretationen der britischen Verfassung in Großbritannien zunehmend weniger geteilt wurden und dass sie – stets in der Auseinandersetzung mit der britischen Verfassung – ein Verständnis von „Verfassung“ entwickelten, das geradewegs zu jenen Dokumenten führte, die sie ab 1776 entwerfen sollten. Bis es soweit war, ist die Anhänglichkeit an die britische Verfassung durch unzählige Beteuerungen „unserer glücklichen Verfassung“ hinlänglich belegt, und entsprechende Lobpreisungen füllen die Zeitungen in all diesen Jahren. In einem Leserbrief zur Frage „Was unsere Verfassung sein könnte und was sie ist?“ hieß es:

97 98

Boston Evening Post, 28. März 1768, 4. Boston Evening Post, 14. September 1767, 1.

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„Erstens ist sie krank, zweitens wenig verstanden, drittens behindert durch undurchdringlichen ministeriellen Nebel; und viertens (ungeachtet dieser Unterscheidungen) trotz aller dieser Dinge ist sie die beste der Welt, mit deren Grundlagen jeder Engländer genauso vertraut sein sollte wie mit seinem Glaubensbekenntnis.“99

Ungeachtet des anhaltenden Konflikts mit Großbritannien wurde in den späten 1760er Jahren die Fiktion aufrecht erhalten, dass die Gründe für die Auseinandersetzung in der Politik der Londoner Regierung und nicht in der britischen Verfassung lagen. Selbst die königliche Prärogative, auch wenn sie mitunter angegriffen wurde, konnte verstanden werden als „jener Anteil an der Regierung, der der Krone zwecks Ausgleichs der Verfassung und für das allgemeine Wohlergehen der Gemeinschaft zusteht“.100 Während in diesem Fall John Lockes Gedanke der Treuhandschaft ihren Niederschlag finden mag, wird Blackstones Einfluss erkennbar, wenn es um die Idee des Gleichgewichts geht, und sei es ein „unsicheres Gleichgewicht“, das aber notwendig sei für eine „harmonische Verfassung“.101 Was genau mit „Gleichgewicht“ gemeint war, blieb allerdings unklar.102 Es konnte zu der Feststellung führen: „Die Wohlfahrt unserer Verfassung besteht in der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der gesetzgebenden Gewalt.“103 Doch was daraus für den Begriff „Verfassung“ folgte, blieb weiter im Dunkeln. Wie es scheint, mussten die Amerikaner auf John Adams warten, der in den 1780er Jahren ausführlich über die Bedeutung des Gleichgewichts in Verfassungen schreiben sollte.104 Doch zwanzig Jahre zuvor griffen sie mit „Gegengewicht“ ein anderes Thema Blackstones auf: „Es war das Parlament, die oberste Legislative und das verfassungsmäßige Gegengewicht gegen die oberste Exekutive, das rechtzeitig handelte und Wirkungen, die seiner würdig waren, entfaltete: Die Nation und die Kolonien sind seither glücklich und unsere Fürsten patriotische Könige.“105 Ohne 99

New-York Gazette, 20. September 1768, Anhang, 2. Georgia Gazette, 24. Februar 1768, 1. 101 Pennsylvania Gazette, 23. April 1767, 2. Vgl. auch New-Hampshire Gazette, 19. Juni 1767, 1 – 2. 102 Vgl. Maurice John Crawley Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, Indianapolis: Liberty Fund, 21998, bes. 58 – 82, der verschiedene britische Autoren aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur „ausgeglichenen Verfassung“ zitiert. Mir sind keine Hinweise bekannt, dass diese Autoren mit ihren Auffassungen in Amerika Ende der 1760er Jahre bekannt waren, zumal sie Montesquieu nicht aufgegriffen hatte. Es scheint mir daher wahrscheinlicher, dass es Blackstone war, der die Idee der „ausgeglichenen Verfassung“ und der „checks and balances“ in Amerika popularisierte, wie im folgenden Kapitel ausführlich dargelegt wird. 103 New-York Gazette, 27. März 1769, 1. 104 John Adams, A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America, Against the Attack of M. Turgot in his Letter to Dr. Price, Dated the Twenty-Second Day of March, 1778, 3 Bde. [1786 – 87], Philadelphia: Budd and Bartram, 31797. Der Titel der französischen Übersetzung macht das noch klarer: John Adams, Défense des constitutions américaines, ou De la nécessité d’une balance dans les pouvoirs d’un gouvernement libre, 2 Bde., Paris: Buisson, 1791. Allerdings blieb sein Einfluss in Frankreich ungleich geringer, vgl. dazu Kap. V. 4. 105 Boston Chronicle, 11. April 1768, 146. 100

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III. Nordamerika

Bolingbrokes patriotischen König und im Gegensatz zur britischen Situation hatten die Kolonien „kein verfassungsmäßiges Gegengewicht“ zum Parlament, das ihnen helfen konnte, ihre Freiheit zu bewahren,106 obgleich diese Gegengewichte als unerlässlich angesehen wurden: „Die Verfassung, die Macht ohne Gegengewicht zulässt, lässt Tyrannei zu.“107 „Checks and balances“, die berühmten Zwillinge des zukünftigen amerikanischen Verfassungsverständnisses waren erstmals in der Diskussion erschienen. Doch wie sie genau in Verfassungen zu verankern waren, musste erst noch gefunden werden. Unmittelbar verbunden damit war die Frage nach dem Rang der Verfassung. Damit ist nicht jene bereits erwähnte Einhegung gemeint, sondern die Stellung der Verfassung innerhalb des politischen wie Rechtsgefüges. Es ist bezeichnend, dass in dieser Situation die Boston Gazette den eingangs bereits zitierten 10. Brief von Bolingbrokes Dissertation upon Parties aus dem Craftsman erneut abdruckte.108 Obwohl auf diese Weise die eigentliche Frage nicht beantwortet war, mag so nicht allein in Boston die sich entwickelnde Diskussion angeregt worden sein. Dabei ist die Auffassung von „Benevolus“, der auf einen Brief von „Amicus“ in der Boston Evening Post antwortete, von besonderem Interesse: „Denn die Staatsverfassung sollte festgesetzt sein; und seit das erstmals durch die Nation eingerichtet wurde, die darauf die gesetzgebende Macht bestimmten Personen anvertraute, sind die grundlegenden Gesetze von deren Weisung ausgenommen. Daraus folgt, dass die Gesellschaft beschlossen hatte, Vorkehrungen zu treffen, dass der Staat immer versorgt ist mit Gesetzen für besondere Bedürfnisse und der Legislative zu diesem Zweck die Vollmacht erteilte, alte bürgerliche und politische Gesetze, die nicht grundlegend waren, abzuschaffen und durch neue zu ersetzen: Aber nichts verleitet uns zu der Annahme, dass sie bereit war, die Verfassung selbst ihrem Belieben zu unterwerfen.“109

Die Ausführungen unseres benevolenten Autors verdienen unsere Aufmerksamkeit aus mehreren Gründen. Der ganze Artikel offenbart, dass er überzeugt war, sich in den Bahnen der britischen Verfassung zu bewegen. Er trennte eindeutig „Verfassung“ als „grundlegende Gesetze“ von gewöhnlicher Gesetzgebung, die in der Folge der Verfassung erlassen wurde. „Verfassung“ ging „Regierung“ voraus, eine Feststellung, für die Thomas Paine nahezu 25 Jahre später berühmt werden sollte. Das Parlament sollte über kein Recht verfügen, in die Verfassung einzugreifen. 106

Boston Evening Post, 27. Juni 1768, 2. Boston Gazette, 12. Dezember 1768, 1. 108 Boston Gazette, 12. Oktober 1767, 2. Der Brief, hier zu Dreivierteln wieder abgedruckt, war ursprünglich im Craftsman, Nr. 395 vom 26. Januar 1734 erschienen, vgl. Bolingbroke, Political Writings, 88 – 95. Was die Boston Gazette, 19. Oktober 1767, 1, als „Rest aus dem Stück vom Craftsman“ publizierte, war in Wirklichkeit eine Sammlung von Zitaten aus dem 11. und 17. Brief, vgl. Bolingbroke, Political Writings, 104, 164 – 166, 167. Zu Bolingbroke und seinen Verfassungsideen, vgl. Joaquín Varela Suanzes, „El Debate constitucional británico en la primera mitad del siglo XVIII (Bolingbroke versus Walpole)“, in: Revista de estudios políticos, 107 (2000), 9 – 32. 109 Boston Gazette, 9. November 1767, 1 (Hervorhebung im Original). 107

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Alle diese Gedanken stehen im Gegensatz zu der zeitgenössischen Interpretation der britischen Verfassung, doch da sie in die amerikanische Politik und ihren Kampf gegen die britische „Unterdrückung“ passten, konnten sie in den Kolonien auf fruchtbaren Boden treffen. Eine augenscheinliche Konsequenz dieser Ansichten war ein Rundschreiben des Repräsentantenhauses von Massachusetts an die entsprechenden Kammern in den übrigen britisch-nordamerikanischen Kolonien vom 11. Februar 1768: „Dass das Parlament seiner Majestät die höchste gesetzgebende Gewalt im ganzen Reich ist: dass in allen freien Staaten die Verfassung festgesetzt ist, und da die oberste Legislative ihre Macht und Autorität von der Verfassung herleitet, kann sie ihre Grenzen nicht übersteigen, ohne ihr eigenes Fundament zu zerstören.“110

Die offensichtliche Botschaft war, dass „Verfassung“ über dem Parlament rangierte. Es war eine Konsequenz, die so eindeutig im Gegensatz zu Blackstone und der politischen Realität stand, dass kaum einer wagte, sie offen auszusprechen,111 obgleich selbst im Mutterland es jene gab, die in diesen politisch so bewegten Zeiten die Verfassung unter allen Umständen bewahrt sehen wollten.112 Es war erneut die Frage des Verhältnisses zwischen Gesetzen und „Verfassung“, doch diesmal nicht in dem Sinne, ob sie identisch waren, sondern was an oberster Stelle stand, die „Grundlagen“ des Gewohnheitsrechtes113 oder die „Verfassung“. Häufig konnte man von „den grundlegenden Gesetzen unserer Verfassung“ lesen.114 Ob damit etwas wesentlich Anderes gemeint war als mit „[d]en grundlegenden Regeln der Verfassung“115 oder mit „der Grundlegung der Verfassung“,116 muss offenbleiben. Sicherlich machte es jedoch einen Unterschied, wenn man von der „Verfassung als der Grundlage von Recht und Billigkeit“ sprach.117 Ungeachtet der 110 Boston Chronicle, 21. März 1768, 126. Das Rundschreiben findet sich ebenfalls abgedruckt in Colonies to Nation, 1763 – 1789. A Documentary History of the American Revolution, hrg. v. Jack P. Greene, New York: Norton, 1975, 134 – 136. Willi Paul Adams, The First American Constitutions. Republican Ideology and the Making of the State Constitutions in the Revolutionary Era, Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 22001, 17 – 19, baute seine Argumentation für das amerikanische Verständnis von Verfassung vor allem auf diesem Rundschreiben und auf Paines Common Sense auf. 111 Vgl. Essex Gazette, 14. Februar 1769, 121. 112 Providence Gazette, 11. Februar 1769, 1. 113 Vgl. John Wiedhofft Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, Oxford: Clarendon Press, 1955. 114 Vgl. Boston Gazette, 2. Juni 1766, 2; Georgia Gazette, 16. Dezember 1767, 2; Essex Gazette, 27. September 1768, 42; New-York Gazette, 24. Oktober 1768, 1; New-York Gazette, 26. Dezember 1768, 2. 115 Vgl. Boston Chronicle, 11. April 1768, 145; Georgia Gazette, 6. Juli 1768, 2. 116 Vgl. Georgia Gazette, 13. Juli 1768, 1. 117 Vgl. New-York Gazette, 22. September 1766, 3. Das Zitat ist der Anzeige eines Rechtsanwaltes entnommen, die erneut erschien im New-York Mercury, 29. September 1766, 3, diesmal jedoch als „Verfassung und Grundlagen von Recht und Billigkeit“. Bei ihrem dritten

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Analogien der Wortwahl bestand offensichtlich für einige die Verfassung aus grundlegenden und, so muss man folgern, weniger grundlegenden Elementen, während andere einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen „Verfassung“ und Recht sahen, wobei die Verfassung die „Grundlagen des Rechts“ bestimmte. In einem Schreiben an den Lordkanzler Camden vom 29. Januar 1768 präsentierte das Repräsentantenhaus von Massachusetts seine Interpretation der britischen Verfassung, die ebenso grundlegend wie radikal war und in der zumindest für den Lordkanzler schockierenden Feststellung gipfelte: „Der große Zweck der Verfassung ist universelle Freiheit.“ Mit diesem Ziel im Blick waren die Folgen offenkundig: „Wenn in allen freien Staaten die Verfassung festgelegt ist und die oberste gesetzgebende Gewalt von dort ihre Autorität ableitet: Kann jene Gewalt die Grenzen der Verfassung überspringen, ohne ihre eigene Grundlage zu untergraben!“118 Die Verfassung war das grundlegende Gesetz des Landes, und das Parlament hatte sich ihr unterzuordnen. Das Schreiben von Massachusetts vom Januar 1768 erhielt in nuce die spätere amerikanische Doktrin von der Verfassung als höchstrangigem Gesetz, dem Lordkanzler vorgelegt – welche Ironie! – als die logische Schlussfolgerung aus der britischen Verfassung. Menschliches Handeln konnte die Verfassung zerstören, wie in den Zeitungen in diesen Jahren immer wieder zu lesen war. Doch wie entstand eine Verfassung? Joseph Reed, einer der Autoren der Four Dissertations, stellte sich dieser Frage nur sehr zögerlich: „Es ist keine einfache oder unbedeutende Aufgabe, die Verfassung und den Plan einer neuen Regierung zu bilden oder selbst die alte neu zu formen und zu revidieren. Die des Mutterlandes ist das Werk von Jahrhunderten und, um das Wort eines namhaften Schriftstellers zu benutzen, scheint von der Weisheit selbst diktiert zu sein. Während die Kolonisten daher alle Segnungen einer englischen Verfassung ungeschmälert und ununterbrochen genießen können, wäre es größter Wahnsinn und Torheit, das Risiko eines Wandels einzugehen, der schlechterdings nicht zum Besseren sein kann und unendlich schlechter sein würde. Unverbunden untereinander und entzweit, wie sie gegenwärtig sind, nach Lage wie nach Interesse (aufgrund der Unterschiede in der Besiedlung, der Freibriefe, von Religion und Handel, die oft aufeinander prallen), wie schwierig, wenn nicht unmöglich, würde es sein, sie aus dem Zustand der Anarchie zu befreien und eine Verfassung zu bilden, für die es angesichts der Ausdehnung des Landes keinen Präzedenzfall gibt, wie ich behaupten möchte; eine Verfassung, die, indem sie die sich beißenden Interessen miteinander versöhnen muss, zugleich alle religiösen und bürgerlichen Freiheiten ungeschmälert erhalten muss?“119 Erscheinen, vgl. New-York Gazette, 10. November 1766, 3, fand sich erneut die ursprüngliche Version. 118 Boston Evening Post, 4. April 1768, 1. Vgl. eine ähnliche Feststellung in Boston Chronicle, 11. April 1768, 145. 119 Four Dissertations on the Reciprocal Advantages of a Perpetual Union between GreatBritain and her American Colonies. Written For Mr. Sargent’s Prize-Medal, Philadelphia: William and Thomas Bradford, 1766, 100. Das Zitat ist aus der dritten Dissertation von Joseph

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Wo der skeptische Amerikaner zurückschreckte, stand der einstige Jakobit Bolingbroke zur Abhilfe bereit: „Daraus folgt, dass die Nation, die das Recht hat, diese Verfassung zu erhalten, das Recht hat, einem Versuch zu widerstehen, der kein anderes Mittel, sie zu bewahren, bereit hält als das des Widerstands. Daraus folgt, dass falls die Verfassung tatsächlich aufgelöst würde, wie es bei einem derartigen Versuch durch die drei Stände geschehen würde, das Volk zu seinem ursprünglichen, seinem natürlichen Recht zurückkehren würde, die Verfassung wiederherzustellen oder eine neue zu schaffen.“120

Das Recht des Volkes, eine neue Verfassung zu schaffen, schien unbestritten. Auch wenn niemand daran dachte, dass die Möglichkeit eintreten würde, war die Tatsache, dass die Naturrechtslehre das Recht des Volkes, sich eine Verfassung zu geben, fest begründet hatte, die Voraussetzung für zukünftige Diskussionen, die sich ausschließlich dem Problem zuwenden konnten, wie dieses Recht am sinnvollsten umzusetzen war. Doch konnte eine Verfassung nicht nur aufgelöst oder umgestürzt werden, sie konnte auch verändert werden,121 und wiederum war die Frage, wer dazu befugt war. Angesichts der Entwicklung des Begriffs „Verfassung“ in diesen Jahren, wird die Ironie und die Absicht der nachfolgenden Bemerkung offenbar: „Von den älteren Zeiten bis zur Revolution sehen wir das Parlament, die Verfassung nach Belieben ändern und neu festsetzen; und dieser unbekümmerten Ausübung seiner Macht, sie neu festzusetzen, verdanken wir die besonderen Segnungen der aktuellen. Wurde nicht die Verfassung, die ein bloßes Wrack geworden war, auf der festesten Basis der Bill of Rights begründet? – Ein Verzicht auf die Autorität des Parlaments, die Verfassung zu ändern, wäre die ausdrückliche Anerkennung der Macht des Königs, uns nach anti-revolutionären (antirevolution) Grundlagen zu regieren.“122

Der Autor, der in einer Reihe von Briefen auf Dickinsons Farmer’s Letters antwortete, bewegte sich völlig korrekt im Rahmen der englischen Verfassung, die keine politischen oder Rechtsmittel bereithielt. Ohne eine direkte Antwort zu liefern, war doch die Botschaft eindeutig: eine Verfassung muss veränderbar sein, doch eine Legislative ist zu voreingenommen oder selbstsüchtig, um ihr diese Befugnis zu übertragen. Eine Exekutive wäre zu inkompetent, es zu unternehmen – im englischen Fall hätte sie die Ergebnisse der Glorreichen Revolution rückgängig gemacht. Generell gesprochen musste eine „Verfassung“ das beinhalten, was die Amerikaner dann die Amendierungsgewalt nannten. Aber noch musste jemand kommen zu erklären, dass auch diese dem Volk gehört.

Reed. Zu Joseph Reed, vgl. John F. Roche, Joseph Reed. A Moderate in the American Revolution, New York: Columbia University Press, 1957, bes. 22 – 58. 120 Boston Gazette, 19. Oktober 1767, 1. Vgl. Bolingbroke, Political Writings, 166. 121 Vgl. Boston Gazette, 22. Dezember 1766, 2. 122 Boston Evening Post, 6. März 1769, 4 (Hervorhebung im Original). Der Ausdruck „antirevolution“ ist dem Oxford English Dictionary unbekannt.

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Die Jahre 1770 – 1773 verkörpern eine andere Periode der amerikanischen Diskussion über „Verfassung“. Oberflächlich hatten die Spannungen mit dem Mutterland sich beruhigt, und die Anfang 1770 auslaufende amerikanische Politik des Einfuhrboykotts englischer Waren hatte auch die Kommunikation und den Nachrichtenaustausch mit Großbritannien reduziert. Doch die Inbrandsetzung der Gaspee, das „Massaker“ von Boston, die Diskussionen und Auseinandersetzungen über das Einquartierungsgesetz und die Rechtsordnung, der Skandal um die HutchinsonBriefe, der wachsende Konflikt über die Teezölle, die schließlich am 16. Dezember 1773 in der Boston Tea Party kulminierten und weitere Ereignisse boten genügend Stoff, um den Konflikt erneut voll zu entfachen. Doch der Tenor und die Intensität der Diskussion um „Verfassung“ hatte sich gewandelt. Unverändert geblieben war jedoch die Überzeugung, dass die britische Verfassung auf Prinzipien gegründet sei. „Die gegenwärtige Krise ist höchst alarmierend – Jeder ehrenhafte und gute Mann in Amerika muss sich ernsthafte Sorgen um sich und seine Nachkommen machen […] Allein dieser wohl überlegte und begründete Essay wird jedem intelligenten Leser einen besseren Überblick über die Rechte der Menschen und der Engländer und einen klareren Eindruck von den Prinzipien der britischen Verfassung geben, als alle Diskurse über Regierung.“123

Mit diesen Worten warb der Verleger für seine jüngste Veröffentlichung einer gekürzten Version von Lockes Two Treatises on Government.124 Wir müssen hier unberücksichtigt lassen, ob der Verleger in seiner Werbung für Locke mit der auffälligen Wortwahl eine bewusste Zurückweisung von Algernon Sidneys Discourses Concerning Government bezweckte, die erst 1805 erstmals in Amerika verlegt wurden. Doch dass er Locke als zuverlässige Interpretation der britischen Verfassung hinstellte, was dieser zu keiner Zeit war, musste 1773 als eindeutige politische Aussage gewertet werden, zumal viele Amerikaner von der Richtigkeit seiner Aussagen überzeugt waren. Wir können dies als weiteren Indiz dafür nehmen, wie weit sich inzwischen die amerikanische Interpretation der britischen Verfassung von jener entfernt hatte, die zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien mehrheitsfähig war, aber auch dafür, dass die Amerikaner nur jene Auffassungen Blackstones sich zu eigen gemacht hatten, die ihren politischen Zielen dienten. Ohne hier auf die ungezählten weiteren Betonungen einer Begründung der britischen Verfassung auf Prinzipien in diesen Jahren einzugehen, werden wir uns zunächst auf den Zusammenhang zwischen britischer Verfassung und Rechten konzentrieren. Der Bostoner Verleger hatte, 1773 durchaus unüblich, zwischen „Menschenrechten“ und „Rechten der Engländer“ unterschieden. 1770 war Alexander McDougall, ein früher Märtyrer amerikanischer Freiheit, der aus dem Ge123

Boston Gazette, 12. April 1773, 4. John Locke, An Essay Concerning the True Original Extent and End of Civil Government, Boston: Edes and Gill, 1773. Mit 129 Seiten war sie der einzige amerikanische Druck von Lockes Two Treatises vor 1800. 124

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fängnis schrieb, zu einer derartigen Unterscheidung noch nicht bereit und fragte stattdessen, „ob Redefreiheit und Pressefreiheit nicht die natürliche Auswirkung der Freiheit unserer ausgezeichneten Verfassung sind und ob, wenn man diese Freiheit unterdrückt, die Verfassung tatsächlich überleben kann“.125 Als Ende 1772 Samuel Adams die Städte in Massachusetts aufforderte, Korrespondenzausschüsse zu bilden, um sich besser gegen die Beeinträchtigungen ihrer Rechte zu vernetzen, antwortete die Stadt Roxbury, „[d]ass die Einwohner dieser Stadt weit davon entfernt sind, aufgrund der vielen Beeinträchtigungen und Innovationen hinsichtlich ihrer Rechte und Privilegien ungezwungen oder zufrieden zu sein, dass sie diese als unerträgliche und unausstehliche Last betrachten, die sie gegenwärtig nicht bereit sind, länger zu ertragen, als bis eine Beseitigung auf verfassungsmäßigem Weg erreicht werden kann“.126 Die Antwort aus Plymouth kam noch direkter auf den Punkt: „Dass das Volk dieser Provinz Anspruch hat auf alle Rechte, die das Volk von Großbritannien aufgrund der Natur und ihrer Verfassung für sich reklamieren kann.“127 In einer weiteren Antwort an den Korrespondenzausschuss von Boston hieß es: „Unser Ärger (um nicht zu sagen unsere Entrüstung) richtet sich gegen jene, in welcher Stellung sie auch sein mögen, die es wagen, in unsere natürlichen oder verfassungsmäßigen Rechte einzudringen. Sagt unseren Brüdern in Boston, dass wir mit ihnen in den uns mitgeteilten Gefühlen völlig übereinstimmen, sowohl mit Blick auf unsere Rechte als auch bezüglich der mit Bezug auf sie geschehenen Rechtsverletzungen: und stehen bereit, mit ihnen in allen durch die Verfassung oder das Völkerrecht gewährleisteten Maßnahmen für die Wiederherstellung jener Privilegien zusammenzuarbeiten, die unzumutbarer- und verfassungswidrigerweise uns entrissen worden sind.“128

In diesen Äußerungen ging es stets um die Verfassung, und selbst als das Völkerrecht zusätzlich erwähnt wurde, war dies laut Blackstone kein Gegensatz, sondern eher eine weitere Bestätigung für die Verfassung. Britische Whigs mochten mit dieser Interpretation leben können, doch für die meisten Tories war das des Guten zu viel. Als Thomas Hutchinson gemäß seiner Auffassung die Botschaft des Repräsentantenhauses von Massachusetts zurückwies, musste dies für die Mehrheit der Abgeordneten lediglich als neuerliche Provokation des Gouverneurs erscheinen: „Ich habe das Gefühl, dass feine Unterscheidungen zwischen bürgerlichen Rechten und gesetzmäßigen Verfassungen weit jenseits des Verständnisses des Großteils der Menschheit sind. Es gibt jedoch einige wenige grundlegende Prinzipien der Regierung, die in sich eine derartige Beweiskraft haben, die unwiderstehlich ist und der man auf der Stelle zustimmen muss – nämlich diese – dass in jeder Regierung es irgendwo eine höchste, unkontrollierbare Gewalt geben muss, eine absolute Autorität, zu beschließen und zu entscheiden – dass zwei derartige Gewalten nicht nebeneinander bestehen können, sondern notwendigerweise zwei 125 126 127 128

New-York Journal, 15. Februar 1770, 3. Boston Evening Post, 21. Dezember 1772, 1. Boston News-Letter, 24. Dezember 1772, Anhang, 2. Boston Gazette, 19. April 1773, 1.

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unterschiedliche Staaten bedingen – dass im Zustand der Gesellschaft wir einen Teil unserer natürlichen Freiheit aufgeben, um jene gesetzliche Freiheit zu sichern, die zu behaupten und zu bewahren der letzte Zweck der Regierung ist – dass ein Recht von Individuen oder Teilen der Regierung, Entscheidungen der höchsten Autorität zu beurteilen und sich ihnen nach eigenem Gutdünken zu unterwerfen oder nicht zu unterwerfen, nicht mit dem Zustand der Regierung vereinbar ist und letztlich zu ihrer Auflösung führt.“129

Zwischen beiden Auffassungen von Verfassung war kein Kompromiss möglich, und der grundlegende Konflikt zwischen beiden hätte nicht offenkundiger sein können. Die ganze Ironie bestand darin, dass beide Seiten der festen Überzeugung waren, sich streng an der Auslegung der britischen Verfassung zu orientieren. Die Boston Gazette brachte dies ziemlich grob zum Ausdruck: „Die Whigs halten es mit den Prinzipien der Revolution, die sich auf die Verfassung stutzen! Die Tories sind Feinde der Freiheit der Verfassung und folglich der Revolution. Die Tories sind für absolute Monarchie. Die Whigs sind für eine begrenzte Monarchie; oder eher für eine gemischte Regierung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie, jedes als Ausgleich des anderen. Die Tories sind dafür, dass die Regierungsgewalt ausschließlich im König ruht: Die Whigs sind für gemeinsame Teilhabe von König, Lords und dem Volk durch seine Repräsentanten. […] Gegenwärtig sind die Männer der Bill of Rights Whigs: Die Männer des Königs, wie sie sich selbst nennen, sind Tories. […] Die Tories setzen sich in unserer Zeit […] sowohl in England als auch in Amerika für solche Maßnahmen ein, die dazu geeignet sind, die Regierung des Königs für alle seine guten Untertanen widerwärtig zu machen: Whigs, ihrem Souverän und sich selbst und der Nachwelt zuliebe, widersetzen sich diesen Maßnahmen. In dieser Auseinandersetzung beschimpfen und wettern die Tories gegen die Whigs: die Whigs argumentieren kühl und befördern das Urteilsvermögen.“130

Es war ein Konflikt über Verfassung, die britische Verfassung und ihre Bedeutung, mit der zugrunde liegenden Frage, was grundsätzlich jede Verfassung regeln und garantieren sollte. Die Geschichte hatte gezeigt, dass „es keinen zuverlässigen und sicheren Weg gab, die Verfassung umzustürzen oder willkürliche Gewalt zu erreichen, es sei denn durch die Beherrschung des Parlaments, insbesondere des Unterhauses“.131 Für Whigs wie für amerikanische Patrioten schien sich diese historische Erfahrung gegenwärtig zu wiederholen, litten sie doch unter „der Verletzung unserer Rechte und die wiederholten auf unsere Verfassung gerichteten Angriffe“.132 „Zahllos waren die Angriffe auf unsere freie Verfassung, zahllos die Beschwerden, über was uns ärgerte: Aber das entsetzliche Unheil ist die Verletzung meines Rechts als britisch-

129 130 131 132

66.

Boston News-Letter, 11. März 1773, 3. Boston Gazette, 18. Mai 1772, 3 (Hervorhebung im Original). Newport Mercury, 12. März 1770, 1. Petition an die Beauftragten der Stadt Plymouth, in: Essex Gazette, 17. November 1772,

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amerikanischer Grundeigentümer, der ich bei der Abfassung jener Gesetze nicht gefragt werde, denen zu gehorchen ich verpflichtet bin.“133

Während die aufständischen Amerikaner die britische Regierung beschuldigten, die Verfassung zu untergraben, wenn nicht umzustürzen dank einer Politik, die, so ihre Überzeugung, ihre Rechte bedrohe, warfen die Unterstützer der britischen Regierung ihnen vor, einem übertriebenen Begriff von Freiheit anzuhängen. Thomas Hutchinson gehörte selbstredend zu jenen, die die Aufständischen für ihre ruinösen politischen Forderungen geißelten: „Da Zufriedenheit und Ordnung die glücklichen Auswirkungen einer Verfassung waren, die aufgrund universeller Zustimmung und Billigung gestärkt wurde, so sind nun Unzufriedenheit und Unordnung die beklagenswerten Auswirkungen einer Verfassung, die durch Streit und Widerstand geschwächt ist.“134

Die Einwohner einer Stadt in Massachusetts, die sich selbst passend „Treue“ (Loyalty) nannten, beschlossen, „[d]ass viele Städte in dieser Provinz, die zum Zwecke der Beschlussfassung sich versammelt haben, zu hastig politische Prinzipien angenommen haben, die nicht nur die englische Verfassung zerstören, sondern jedwede Regierung umstürzen“.135 Die umstrittene Kernfrage dieser Jahre war, ohne dass Konsens oder Kompromiss in Sicht waren, in welchem Ausmaß eine Verfassung politische Rechte beinhalten sollte. In dem sich herausbildenden amerikanischen Verständnis gingen diese politischen Rechte deutlich über das hinaus, was die Petition of Right von 1628, die Bill of Rights von 1689 und weitere englische Dokumente eingeschlossen hatte. Sie beinhalteten repräsentative Regierung, Begrenzung und Kontrolle der Regierungsmacht in Form von Verantwortlichkeit und begrenzter Regierung und, auch wenn die amerikanische politische Elite immer noch sehr zurückhaltend war, sich öffentlich zu ihr zu bekennen, den Gedanken der Volkssouveränität, die als unverzichtbarer Verfassungsteil bereits eine stets größer werden Rolle einnahm. Wenn Amerikaner „sich für die Verteidigung der Verfassung betätigten“,136 dann meinten sie damit eine britische Verfassung, die mit ihren eigenen Rechten eng verknüpft war. Doch damit diese Verfassung Wirkung entfalten konnte, musste sie von den Regierenden und den Regierten beachtet werden. Denn eine Verfassung „ist ein eitles Phantom und die besten Gesetze sind vergebens, wenn sie nicht gewissenhaft beachtet werden sowohl von jenen, die regieren, als auch von dem Volk, das bestimmt ist zu gehorchen“.137 133

Benjamin Church, An Oration; Delivered March 5th, 1773, At the Request of the Inhabitants Of the Town of Boston; To Commemorate the Bloody Tragedy of the Fifth of March, 1770, Salem: Samuel and Ebenezer Hall, 41773, 11 (Hervorhebung im Original). 134 Massachusetts Spy, 7. Januar 1773, Anhang, 187. 135 Boston News-Letter, 22. April 1773, 2. 136 New-York Journal, 15. Mai 1770, 41. 137 Connecticut Courant, 29. Dezember 1772, 1.

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III. Nordamerika

Da Einseitigkeit zum Scheitern verurteilt war, konnte Widerstand durchaus eine Option sein. Es ist bezeichnend, dass in dieser Situation die Pennsylvania Chronicle, wenn auch versteckt, auf Bolingbroke zurückgriff, um ihre Botschaft zu verbreiten: „Ein Parlament kann die Verfassung nicht annullieren; und während sie erhalten bleibt, obgleich unser Zustand schlecht sein mag, muss das nicht irreparabel sein. […] Sollten wir daher einen so abwegigen Fall annehmen, dass beide Häuser des Parlaments darin übereinstimmen, ihre eigenen Rechte und Privilegien und die der ganze Nation an die Krone formell abzutreten, und fragen, wer hat das Recht und die Mittel, sich der höchsten legislativen Gewalt zu widersetzen? Ich antworte, die ganze Nation hat das Recht, und ein Volk, das verdient, Freiheit zu genießen, wird die Mittel finden. […] Und daraus folgt, dass falls die Verfassung tatsächlich aufgelöst wird […], würde das Volk zu seinem ursprünglichen, zu seinem natürlichen Recht zurückkehren, das Recht, dieselbe Verfassung wiederherzustellen oder eine neue zu schaffen.“138

Es war eine gefährliche Botschaft, dass eine Verfassung, die keine verfassungsmäßigen Abhilfen bereithält, um eine Verfassungskrise zu lösen, gewaltsamen Widerstand zulässt. Daraus ließ sich ein probates politisches Argument schmieden, und John Hancock und seine Verbündeten im Repräsentantenhaus in Massachusetts gingen damit bis an den Rand des Hochverrats: „Es kann nicht erwartet werden, dass ein an die Freiheit der englischen Verfassung gewöhntes Volk geduldig bleiben wird, während es sich unter der Knute von Tyrannei und willkürlicher Macht befindet: Es wird seinen Groll in einer Weise entdecken, der seinen Unterdrückern naturgemäß missfallen wird.“139

Andere mochten es eher in einer an Harrington erinnernden Weise ausdrücken: „Die Verfassung dieses Landes ist eine Regierung der Gesetze und nicht von Personen, Treue und Schutz sind daher untrennbar; und falls das eine versagt, muss das andere selbstverständlich fallen.“140 Der Massachusetts Spy war subtil genug, Thomas Hutchinson zu empfehlen, in Francis Hutchesons System of Moral Philosophy den folgenden Satz zu lesen: „Das Recht, einem begrenzten Monarchen oder Senat zu widerstehen, die ihre von der Verfassung nicht übertragene Macht usurpieren oder in die einem anderen politischen Rat oder Versammlung übertragenen Recht eindringen, die selbst Anteil an Teilen der höchsten Gewalt haben, ist sehr offenkundig.“141

138 Pennsylvania Chronicle, 12. Februar 1770, 12 (Hervorhebung im Original). Die Zeitung präsentierte diese Ausführungen als „Ein kurzer Auszug aus dem ausgezeichneten Essay über die Englische Verfassung, geschrieben von dem verstorbenen Earl of Bath, aus seiner Zeit als großer Abgeordneter, Mr. Pulteney, der der Beachtung aller Engländer in dieser politischen Krise wert ist“. Tatsächlich handelt es sich um einen Auszug aus dem 17. Brief von Bolingbrokes Dissertation upon Parties. Vgl. Bolingbroke, Political Writings, 165 – 166. 139 Boston Evening Post, 30. April 1770, 4. 140 Boston Evening Post, 3. September 1770, 4 (Hervorhebung im Original). 141 Massachusetts Spy, 13. Februar 1772, 197. Das Zitat stammt von Francis Hutcheson, A System of Moral Philosophy in Three Books, hrg. v. seinem Sohn Francis Hutcheson, 2 Bde.,

1. Die Herausbildung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus

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Man mag sich fragen, warum Amerikaner nicht hinreichend Gebrauch machten von derartigen Argumenten, für die sie leicht auf anerkannte zeitgenössische Autoren hätten zurückgreifen können wie ebenso auf andere Autoritäten früherer Jahrhunderte bis zurück zur klassischen Antike, womit sie das Risiko vermieden hätten, wegen Hochverrats angeklagt zu werden. Eine Antwort auf diese Frage mögen die späteren amerikanischen Verfassungen liefern: 1) Um eine Verfassung dauerhaft zu machen, muss sie veränderbar sein, doch sollte das Verfahren für die Verfassungsänderungen weder zu leicht noch zu unpraktikabel sein. 2) Eine Verfassung muss in ihrem Rahmen Abhilfe und Lösungen für Verfassungskrisen bieten. Von ihren Ergebnissen her betrachtet, ergibt sich, dass viele Amerikaner mit ihrem sich entwickelnden Konzept von „Verfassung“, sehr zum Unterschied der „radikaleren“ Franzosen rund zwanzig Jahre später, davor zurückschreckten, offen ein Widerstandsrecht zu propagieren, mochte dieses doch tendentiell dazu beitragen, dass verfassungsmäßige Abhilfe obsolet wurde. Erneut war damit die Frage aufgeworfen, was eine Verfassung ist und wie sie definiert werden sollte, eine Frage, auf die die voraufgegangenen Jahre wenig Antworten geliefert hatten und die die Amerikaner der früheren 1770er Jahre mehr beschäftigte als die der späten 1760er Jahre. In einem sehr breit gefassten Sinn mochte der Zweck einer Verfassung definiert werden als „dem allgemeinen Wohl dienlich zu sein und den gemeinsamen Frieden und die weltliche Glückseligkeit der Gemeinschaft insgesamt wie auch der Einzelnen im Besonderen zu fördern“. Eine derart generalisierende Bestimmung hätte im 18. Jahrhundert jeder aufgeklärte Herrscher in Europa unterschreiben können, doch wie diese Ziele umzusetzen waren, blieb ziemlich vage, wenngleich die Diskussionen der sechziger Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten: „Indem man in der besten Art und Weise jedem das zusichert, was sein Eigen ist oder indem man ihnen ihre natürlichen Rechte, Freiheiten, Privilegien und Eigentum fest verankert gegen ungeheuerliche Forderungen, Ein- und Übergriffe, Kränkungen, Plünderungen und Gewalttätigkeiten betrügerischer, tyrannischer und uneinsichtiger Männer, denen sie anderenfalls ausgesetzt sein mögen.“142

Diese Gedanken waren bereits jenseits traditioneller Vorstellungen einer wohl geordneten Gesellschaft, wie sie von „Chronus“ propagiert wurde: „[J]ene Regierungsform wird generell als die vollkommenste in ihrer Verfassung angesehen, in der die Einzelnen, die die Gemeinschaft bilden, alle die Freiheit genießen, die vereinbar ist mit guter Ordnung, Friede und Schutz für die Gesamtheit.“143

Dies war lediglich ein Vorwand für konservative Bestrebungen, den Umfang der Verfassung allein auf ihr ordentliches Funktionieren zu reduzieren, ohne weitere London: Millar, 1755, II, 270 (Buch III, Kap. 7). Im 18. Jahrhundert gab es keine amerikanische Veröffentlichung der beiden Bände. 142 Massachusetts Spy, 22. September 1770, 1 (Hervorhebung im Original). 143 „Chronus“, „To the Public“, in: Boston Post Boy, 2. Dezember 1771, 1.

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III. Nordamerika

Ziele festzulegen, die es zu erreichen galt. Ganz in diesem Sinn verfolgte Hutchinson das Ziel, die Verfassung von jeder ausdrücklichen Verpflichtung für Rechte und Freiheit zu trennen: „Alles, was ich der Öffentlichkeit mitteilen möchte, ist, was ich als die Bedeutung des Wortes Verfassung verstehe. Wenn es auf den natürlichen Körper angewandt wird – wenn der Kopf, Magen, Eingeweide und Glieder das tun, wofür sie da sind, dann ist es eine gute Verfassung; und wenn es auf den politischen Körper angewandt wird, – wenn der König als das Haupt, die geistlichen und weltlichen Lords und die Mitglieder des Unterhauses als der Körper, alle sich vereinen, um Gesetze zu geben, dann ist es eine gute Verfassung: Und kein so zustande gekommenes Gesetz kann gerechterweise verfassungswidrig genannt werden. Alle müssen König, Ober- und Unterhaus erlauben, die höchste Gewalt der Nation zu sein; und selbst wenn sie ein Gesetz machen, dass Tausende von Privatleuten für hart erklären und Zehntausende für ungerecht, dann macht es das immer noch nicht verfassungswidrig; denn diese Privatleute haben kein Recht, die Billigkeit von Gesetzen zu beurteilen, denn hätten sie es, gäbe es ein Höchstes über dem Höchsten, was unnatürlich und so himmelschreiend ist, das dem niemand zustimmen kann: denn die gesetzgebende Macht ist die höchste Macht, der alle anderen Teile der Gewalt unterworfen sind.“144

Diese an Hobbes erinnernde Interpretation, die die Verfassung jedes politischen Inhalts beraubte und sie auf einen Rahmen zur Organisierung der Macht reduzierte, wurde von dem sich herausbildenden amerikanischen Verfassungskonsens radikal verworfen. Dass es dem Repräsentantenhaus von Massachusetts gemäß seiner „Verpflichtungen“, wie sie sie verstanden, nicht möglich sei, einem Verständnis von „Verfassung“ als „Verhaltensregel“ zuzustimmen,145 mochte weder Thomas Hutchinson überzeugen, noch war es ein tragfähiges Lösungsangebot angesichts dieser auseinanderklaffenden Interpretationen der britischen Verfassung. Wie diese Lösung aussehen konnte, war unverändert offen. Die Freibriefe der Kolonien waren kein Ersatz, obgleich in den frühen 1770er Jahren immer mehr Amerikaner dazu neigten, sie als Verfassung zu bezeichnen. Doch ihre Bedeutung war nicht immer hinreichend klar, wenn z. B. der Freibrief von Massachusetts „das große Gesetz der Verfassung“ genannt wurde. Bedeutender für das Verständnis von „Verfassung“ war der unmittelbare Anschluss an diesen Passus, „und ist die Begründung aller Gesetz dieser Provinz“.146 Die Verfassung als oberstes Gesetz sollte eines der Grundprinzipien der zukünftigen amerikanischen Verfassungen werden im deutlichen Gegensatz zur britischen Verfassung. „Mutius Scaevola“ war überzeugt, dass der Name Freibrief eine völlig unzutreffende Bezeichnung war, und diese korrekterweise Verfassungen genannt werden sollten. „Denn durch sie ist in der Tat nichts gewährt, lediglich sind unsere ursprünglichen, dem Volk gehörenden Rechte durch den Souverän anerkannt und 144

Boston News-Letter, 25. Februar 1773, 2 (Hervorhebung im Original; der Artikel war unterzeichnet „Beobachter“ [Observator]). 145 Boston Evening Post, 7. Juni 1773, 2. 146 Adresse des Repräsentantenhauses von Massachusetts an den stellvertretenden Gouverneur, in: Boston Gazette, 18. Juni 1770, 3.

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garantiert.“147 Andere waren weniger rigide und benutzen beide Begriffe abwechselnd.148 Die Autoren der beiden letzten Zitate hatten die Verfassung als eine „Vereinbarung“ (compact) betrachtet, sei es zwischen König und den ersten Siedlern der Kolonie oder zwischen dem König und den Untertanen. Indem sie damit die Vereinbarungstheorie von Locke und anderen Autoren aufgriffen, öffneten sie zumindest indirekt den Begriff „Verfassung“ für eine ganze Reihe weiterer Vorstellungen. Für den radikalen „Mutius Scaevola“ war eine Folge, dass „ein König daher kein Recht zu regieren hat, außer durch Gesetze, die ihren Ursprung im Volk haben, noch Gesetze auszusetzen, noch zumal die bestehende Regierungsform zu ändern“.149 Eine Verfassung, die „als ihre Grundlage die Gesetze Gottes und der Natur“ hat,150 war auf universellen Prinzipien begründet, nicht auf jenen, die allein in Großbritannien oder Amerika galten. Die Stadt Wrentham beschloss daher, „[d]ass die britische Verfassung auf den ewigen Gesetzen der Natur gegründet ist, eine Verfassung, deren Grundlage und Mittelpunkt Freiheit ist, die Freiheit jedem Untertanen sendet, der in irgendeinem Teil ihres weitläufigen Umfangs ist oder sich zufällig befindet“.151 Gemäß Blackstone war die britische Verfassung auf dem Naturrecht begründet, und folglich waren Rechte und Freiheit universelle Wahrheiten, die von der Verfassung garantiert wurden, nicht gnädigst gewährte oder wahllos verweigerte Privilegien, eine Auffassung, die auch von britischen Whigs geteilt wurde.152 Diese Naturrechtsphilosophie führte auch zu einem weiteren, eher unerwarteten Argument, um die Bedeutung von „Verfassung“ auszuweiten. „Die Menschheit ist in politische Gesellschaften eingetreten, um die Gleichheit wiederherzustellen; ihr Fehlen im Naturzustand machte ihre Existenz unsicher und sogar gefährlich. Ich will Prinzipien nicht gleichmachen: Aber ich neige dazu anzunehmen, dass die Verfassung einer bürgerlichen Regierung, die Gleichheit im weitesten Sinne im Einklang mit der wahren Absicht der Regierung zulässt, die beste ist.“153

Nicht allein Naturrecht und universelle Prinzipien halfen, eine Verfassung zu schützen und sie dauerhaft zu machen. Die Geschichte ist voller Beispiele, dass Verfassungen dazu neigen, über unterschiedlich lange Zeiträume zu degenerieren. „Ursprünglich war unsere Verfassung zugegebenermaßen auf den Prinzipien von Tugend, Freiheit und Großzügigkeit gegründet; der gegenwärtige Bau […] trägt in sich Samen von Despotismus und Sklaverei.“ Das konnte nur geschehen, weil die 147

Boston Gazette, 4. März 1771, 1 (Hervorhebung im Original). Vgl. Essex Gazette, 16. November 1773, 67. 149 Boston Gazette, 4. März 1771, 1 (Hervorhebung im Original). 150 New-York Gazette, 29. Oktober 1770, 2. 151 Boston Evening Post, 24. Mai 1773, Anhang, 1. 152 Vgl. Massachusetts Spy, 19. Mai 1774, 3 (Nachdruck einer Rede von Lord Camden aus dem Gentleman’s Magazine vom März 1774). 153 Boston Gazette, 21. Januar 1771, 3 (Hervorhebung im Original). 148

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III. Nordamerika

„ursprünglichen Prinzipien […] unter dem Müll der Zeit begraben erscheinen“. Die einzige Abhilfe, ihr weiteres Degenerieren zu verhindern, war, „immer wieder zu ihren Grundlagen zurückzukehren“.154 Es las sich wie eine wörtlich Übernahme von Algernon Sidney: „Alle menschlichen Verfassung sind der Korrumpierung unterworfen und müssen untergehen, es sei denn, sie werden rechtzeitig erneuert und auf Ihre Grundlagen zurückgeführt.“155 Kaum eine amerikanische Verfassung von 1776 und den nachfolgenden Jahre würde den Appell, „immer wieder auf die Grundlagen zurückzukehren“, auslassen. Sidney, Locke, Vattel und andere Autoritäten standen bereit, wenn es um das Verständnis von „Verfassung“ ging. Doch 1771 bezeichnet ebenfalls das Jahr, in dem die erste amerikanische Ausgabe von Blackstones Commentaries on the Laws of England erschien, dessen Auswirkungen auf die amerikanische Verfassungsdiskussion der 1770er und 1780er Jahre im nächsten Kapitel eingehend untersucht werden wird. So viel muss jedoch an dieser Stelle festgehalten werden, dass es Anfang der 1770er Jahre keine ausgedehnte Diskussion über die Gewaltentrennung gab – selbst der Begriff scheint sich noch nicht eingebürgert zu haben. In sehr unspezifischer Weise wurde darauf hingewiesen, dass „die exekutive und legislative Autorität, die unsere Verfassung so sorgfältig getrennt hat, in den Händen derselben Männer verknäult werden können“.156 Diese durch Korrumpiertheit verursachte politische Konstellation wurde in einem weiteren Artikel in größerer Breite, beflügelt durch Blackstone, ausgebreitet: „Aber die Frage ändert sich materiell, falls sich erweisen sollte, dass, statt die gebührende Balance der Verfassung zu bewahren, das ganze Gewicht in die Waagschale der Krone geworfen wurde und dass ihre Privilegien, statt eine Barriere gegen die Übergriffe der anderen Zweige der Legislative zu bilden, sich den Auffassungen des Souveräns unterordnen und unter Anweisung des Ministers benutzt werden, Einzelne zu verfolgen und das Volk zu unterdrücken.“

Statt einer klaren Trennung von „König, Oberhaus und Unterhaus“ sind sie alle „eingeschmolzen in einer gemeinsamen Masse von Macht“.157 Es war noch nicht die Zeit für eine gründliche Untersuchung der Gewaltentrennungstheorie von Montesquieu, der immer noch zu allererst geachtet wurde, weil er Freiheit mit der britischen Verfassung in Verbindung gebracht hatte. Da sich daran auch in den folgenden Jahren nichts Wesentliches ändern sollte, mag dies erklären helfen, warum die ersten amerikanischen Verfassungen sich damit begnügten, das allgemeine Prinzip der

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„The Centinel, Nr. XXXIV“, in: Massachusetts Spy, 13. Februar 1772, 197 (Hervorhebung im Original). 155 Algernon Sidney, Discourses Concerning Government, hrg. v. Thomas G. West, Indianapolis: Liberty Classics, 1990, 150. 156 New-York Journal, 4. April 1771, 309. 157 Massachusetts Spy, 1. August 1771, 88.

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Gewaltentrennung zu erklären, während ihre Auswirkungen erst mit der Verfassung von Massachusetts von 1780 durchdekliniert wurden. Sehr viel ansprechender erschien den Amerikanern in dieser Situation der frühen siebziger Jahre Blackstones Idee der gegenseitigen Kontrolle und des Machtgleichgewichts (checks and balances). „Ich habe die gegenseitige Kontrolle jedes Teils der Gesetzgebung erwähnt, die die einzige Bewahrung des politischen Gleichgewichts ist. Die Kontrolle des Gouverneurs besteht in seinem Ablehnen. Die Kontrolle des Unterhauses besteht in seinem Recht, Gelder zu bewilligen, ein Recht, das mit ihm untrennbar verbunden ist. Wenn diese Kontrolle auf einer der beiden Seiten zerstört ist, wird die andere entsprechend an Macht zunehmen. Die gegenwärtige Innovation zerstört mit einem Mal diese Kontrolle des Hauses und verschiebt so wirksam das Machtgleichgewicht der Verfassung. Wenn dieses Machtgleichgewicht einmal in dieser Weise verschoben ist, verändert sich die Regierung von einem freien Staat zu einer unbedeutenden Monarchie.“158

Das gewählte Beispiel war historisch, wie ebenso in einem weiteren Beispiel der „Wache“ (Centinel), doch die Botschaft war klar. Zur Sicherung der Freiheit ist es unerlässlich, „ein Gleichgewicht in den drei Zweigen der Regierung zu haben und eine wechselseitig Kontrolle eines jeden anderen zu bewahren“.159 Zwei Monate später insistierte der Autor erneut, dass große Sorgfalt erforderlich sei, „ein Machtgleichgewicht in den drei Zweigen der Gesetzgebung zu bewahren, die unbedingt notwendig ist, um die Verfassung zu bilden, erhalten und schützen“.160 Ein weiterer Autor bediente sich praktisch der gleichen Argumente, als er die konservativen Ansichten von „Chronus“ zurückwies und ihn gezielt auf Blackstone hinwies, dessen Argumentation er folgt: „Wenn es je geschehen sollte, dass die Unabhängigkeit irgendeiner der drei [Zweige der Gesetzgebung] den Auffassungen einer der beiden anderen überlassen bleibt oder unterworfen werde, wäre unsere Verfassung bald zu Ende. Die Gesetzgebung würde verändert von dem, was ursprünglich mit allgemeiner Zustimmung und dem grundlegenden Akt der Gesellschaft eingerichtet wurde.“161

Auch für einen weiteren Autor war Blackstone die Autorität, hier zu zitieren: „Und hierin, sagt [Blackstone], S. 154, besteht in der Tat die eigentliche Auszeichnung der englischen Regierung, dass alle Teile eine wechselseitige Kontrolle über jede der anderen ausübt. In der Gesetzgebung ist das Volk eine Kontrolle des Adels und der Adel jene des Volkes, dank ihrer beider Privileg zurückzuweisen, was der andere beschlossen hat. In dieser Kontrolle des Volkes ist daher die verfassungsmäßige Freiheit und das politische Glück 158

„The Centinel, Nr. III“, in: Massachusetts Spy, 16. Mai 1771, 41. „The Centinel, Nr. XIII“, in: Massachusetts Spy, 19. September 1771, 113. 160 „The Centinel, Nr. XXII“, in: Massachusetts Spy, 22. November 1771, 149 (Hervorhebung im Original). 161 Boston Gazette, 9. Dezember 1771, 1 (Hervorhebung im Original). Der Leserbrief war unterzeichnet mit „Detector“. 159

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III. Nordamerika

begründet, und somit ist die Angemessenheit der so häufig angeführten politischen Maxime leicht verständlich, dass Macht ohne KONTROLLE Tyrannei ist.“162

Nach 1771 erschienen noch einige wenige Hinweise auf checks and balances, z. B. dass in der römischen Republik „alle Teile der Verfassung so ausgeglichen waren, dass das Ganze natürlicherweise Freiheit ergab“.163 Es findet sich auch die Vorstellung „einer Kontrolle der Verfassung“ im Osmanischen Reich,164 und der Gouverneur von South Carolina warnte die gesetzgebende Versammlung, „das Gleichgewicht der Macht zwischen einem Zweig der Gesetzgebung und den übrigen zu zerstören“.165 Doch generell nahmen die Hinweise nach 1771 ab, um erst in den 1780er Jahren nachdrücklich wieder aufgegriffen zu werden. Die im nächsten Kapitel eingehender untersuchte Rezeption Blackstones in Amerika ist dafür letztlich verantwortlich. Hier ist lediglich festzuhalten, dass 1771 in einer ersten Reaktion auf Blackstone das, was wir später als checks and balances bezeichnen, diskutiert wurde. Jedoch ist die Terminologie noch keineswegs etabliert, weder kommt das Begriffspaar so vor, noch wird balance durchgehend verwandt, sondern oft durch equilibrium ersetzt. Das alles hat dazu beigetragen, dass in den amerikanischen Verfassungen der 1770er Jahre checks and balances noch weit davon entfernt sind, jenen Rang einzunehmen, der sich dann im nachfolgenden Jahrzehnt herausbilden sollte. Ein ähnlich begrenztes Verständnis, wenn auch aus ganz anderen Gründen, scheint für die Jahre von 1770 bis 1773 den Grundsatz zu charakterisieren, dass ein der Verfassung widersprechendes Gesetz nichtig ist. Die britische Verfassung kennt diesen Grundsatz bis heute nicht und kann ihn aufgrund der Parlamentssouveränität auch nicht akzeptieren. Doch 1771 weist die „Wache“ (Centinel) darauf hin: „Lord Coke sagt uns, dass sogar ein Parlamentsgesetz gegen die Verfassung nichtig ist.“166 Dass diese Maxime gegenwärtig nicht respektiert würde, obwohl dringend notwendig, war laut der „Wache“ Ausdruck jener Innovationen, die die Verfassung verändert hätten. Tatsächlich war Cokes Entscheidung in dem weithin bekannten Fall von Dr. Bonham nie als Verfassungsprinzip in England akzeptiert worden. Dennoch 162

„The Monitor, Nr. IV“, in: Massachusetts Spy, 19. Dezember 1771, 165 (Hervorhebung im Original). Das Zitat ist teilweise wörtlich, allerdings gekürzt. Der korrekte Verweis wäre, William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, I, Philadelphia: Robert Bell, 1771, 154 – 155. 163 „The Centinel, Nr. XXXV“, in: Massachusetts Spy, 20. Februar 1772, 201 (Hervorhebung im Original). 164 Massachusetts Spy, 27. August 1772, 106. 165 Pennsylvania Gazette, 4. November 1772, 2. 166 „The Centinel, Nr. XIII“, in: Massachusetts Spy, 19. September 1771, 113. Vgl. auch „The Centinel, Nr. XXIII“, in: Massachusetts Spy, 28. November 1771, 153. Das Zitat ist insofern nicht korrekt, als Edward Coke offensichtlich nicht „Verfassung“ sagte, sondern im berühmten Bonham Fall argumentiert hatte, „dass in vielen Fällen das Gewohnheitsrecht Gesetze des Parlaments kontrollieren wird“ (Edward Coke, The Eighth Part of the Reports of Sir Edward Coke, Chief Justice of the Common Pleas, London: Nutt and Gosling, 1738, 118 [8 Co. Rep. 114, 118]).

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wiederholte der Massachusetts Spy diesen Grundsatz und berief sich dabei ausführlich auf James Otis und seine legendäre Verteidigungsrede von 1761 gegen „tyrannische“ allgemeine Durchsuchungsbefehle, die ihn über Nacht in allen Kolonien zu einer Berühmtheit gemacht hatte.167 Zutreffender als der missdeutete Fall von Dr. Bonham, doch nicht weniger eindeutig war der Beschluss der Stadt Woburn in Massachusetts, der beklagte, „[d]ass das britische Parlament sich eine Macht zugelegt habe, die der Verfassung widerspricht“.168 Dass amerikanische Gesetze vom britischen Handelsministerium kassiert werden konnten, war, zumindest für die Amerikaner, eine ärgerliche britische Praxis. Doch wie das Problem „verfassungswidriger“ Gesetze zu lösen war, erwies sich als eine jener Fragen, die am schwierigsten in das sich entwickelnde amerikanische Verständnis von „Verfassung“ zu integrieren waren und für die das 18. Jahrhundert noch keine allgemein akzeptierte Antwort bereit hielt. Damit treten wir in die letzte Periode von 1774 – 1776 ein, in der die politische Diskussion und Agitation bislang unerreichte Höhen erlebte. Dazu trugen die äußeren Ereignisse von den britischen Zwangs- oder Unerträglichen Gesetzen über das Quebec- und das Einquartierungsgesetz, den Ersten Kontinentalkongress und schließlich den Kriegsausbruch im April 1775 bis hin zur Unabhängigkeitserklärung und den seit Anfang 1776 konzipierten ersten amerikanischen Verfassungen bei. Ungeachtet dieser wachsenden Spannungen begegnen wir weiterhin allen bekannten Mustern der britischen Verfassung in den amerikanischen politischen Diskussionen dieser Jahre. Unbestritten ruhte die britische Verfassung auf Grundsätzen, wie es in einem Beschluss der Stadt Hull in Massachusetts am 28. März 1774 erneut zum Ausdruck kam: „Für die Natur einer freien Regierung ist es entscheidend und als Basis oder Grundlage der britischen Verfassung angenommen, dass niemand durch irgendwelche menschlichen Gesetze gebunden werden kann, als jenen, denen er oder seine Vorfahren in Person oder durch seine Repräsentanten zugestimmt hat.“169

Ein anderer Autor erinnerte die Leser daran, dass die Glorreiche Revolution „die Verfassung auf ihre Grundlagen zurückgeführt“ hatte.170 Selbst im Mai 1776 fragte ein Befürworter der amerikanischen Unabhängigkeit: „Sind die amerikanischen Kolonien aufgrund der Natur und der britischen Verfassung zur Freiheit berechtigt?“171 Die „Erklärung der Deputierten von Pennsylvania versammelt auf der Provinzialkonferenz in Philadelphia, 24. Juni 1776“, um ein letztes Beispiel zu 167 Massachusetts Spy, 29. April 1773, 3. In der Zeitung stand wohl als Druckfehler 1771 statt 1761. Vgl. zu Otis und dem Fall, Bailyn, Ideological Origins, 176 – 177; John Clark Ridpath, James Otis, The Pre-Revolutionist. A Brief Interpretation of the Life and Work of a Patriot, Chicago: The University Association, 1898, 37 – 58. 168 Massachusetts Spy, 17. Juni 1773, 2. 169 Boston Gazette, 4. April 1774, 1 (Hervorhebung im Original). 170 New-York Journal, 30. Juni 1774, Anhang, 2. 171 Pennsylvania Evening Post, 14. Mai 1776, 241.

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bringen, bekundete, dass Georg III. „in Verletzung der Prinzipien der britischen Verfassung ebenso wie der Gesetze von Gerechtigkeit und Menschlichkeit durch Anhäufung von historisch beispiellosen Unterdrückungen die Einwohner dieser wie der übrigen amerikanischen Kolonien seines Schutzes beraubt hat“.172 Was immer eine Verfassung im Einzelnen regeln mochte, sie hatte auf Grundsätzen zu beruhen. Dies war die unbestrittene Botschaft einer so beispielhaften Verfassung wie der britischen. Die Vorzüge der britischen Verfassung waren eine Binsenweisheit, unbeschadet der lebenslangen Angriffe von Thomas Paine auf sie. Die Charakterisierung der britischen Verfassung als „unsere glückliche Verfassung“ waren ein Gemeinplatz. Noch am 25. März 1775 ersuchte die gesetzgebende Versammlung von New York den König: „Wir beabsichtigen nicht, vom britischen Parlament unabhängig zu werden; im Gegenteil erkennen wir mit Vergnügen unsere Unterordnung unter es als der großen Gesetzgebung des Reiches an; wir möchten lediglich die Rechte der Engländer genießen und jenen Anteil von Freiheit und jener Privilegien haben, die uns gesichert sind, zu denen wir dank der Prinzipien unserer freien und glücklichen Verfassung berechtigt sind.“173

Rund drei Monate später drückte die gesetzgebende Versammlung von New Hampshire ihre Hoffnung auf eine Versöhnung mit Großbritannien aus, „damit die Segnungen der britischen Verfassung durch alle Teile dieses weitläufigen Reiches verbreitet und genossen werden können“.174 Andere waren skeptischer und zogen es vor, von „ihrer einst ausgezeichneten Verfassung“ zu sprechen.175 Darin drückte sich nicht eine Abwendung, ja Zurückweisung der britischen Verfassung aus, sondern der Glaube oder die Furcht, die Maßnahmen des Parlaments gegen die Kolonien könnten „die Freiheiten Amerikas untergraben, die offenkundige Tendenz haben, jene des Mutterlandes zu verletzen und [die Verfassung] schließlich völlig umstürzen“.176 Um genau dieses zu verhindern, hatte John Hancock bereits 1774 vorgeschlagen, ein amerikanischer Kongress solle ein gemeinsames Sicherheitssystem schaffen, „mittels dessen strikter Einhaltung wir in der Lage sein werden, jeden Versuch, unsere Verfassung umzustürzen, zunichtemachen werden“.177 Was die britische Verfassung auszeichnete und warum sie verteidigt und erhalten werden sollte, waren ihre Prinzipien, die sie eng mit Freiheit und Rechten verband. In den Augen von James Wilson stärkten regelmäßige Parlamentswahlen diese Verbindung: „Die Verfassung wird dadurch immer wieder erneuert und, wie es ist, auf 172

Pennsylvania Ledger, 29. Juni 1776, 3. Pennsylvania Packet, 24. April 1775, 2. 174 New-Hampshire Gazette, 27. Juni 1775, 1. 175 New-York Journal, 21. Juli 1774, 3. 176 Ebd. 177 John Hancock, An Oration Delivered March 5, 1774, at the Request of the Inhabitants of the Town of Boston; To commemorate The Bloody Tragedy of the Fifth of March, 1770, Newport, R.I.: S. Southwick, 1774, 17. 173

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ihre Grundlagen zurückgeführt: was die wirkungsvollste Methode ist, die Freiheiten eines Staates zu bewahren.“178 Während Wilson Freiheit und Grundlagen mit „Verfassung“ verband, sahen andere Autoren Freiheit und Eigentum eher durch die Organisation der Gesetzgebung gesichert: „Die englische Verfassung, deren Gegenstand die Freiheit ist, hat zur Bewahrung dieser Freiheit und zur Sicherung des Eigentums bestimmte Befugnisse den verschiedenen Zweigen der Gesetzgebung verliehen, die zum Wohl und für die Sicherheit der Untertanen ausgeübt werden.“179

Prinzipien, Rechte und Freiheit hatten sich durchgesetzt als Kernelemente einer „Verfassung“. Doch da die Amerikaner selbst in diesen Jahren des eskalierenden Konflikts, der schließlich zu Krieg und Unabhängigkeit führte, nicht aufhörten, über die britische Verfassung zu diskutieren, stellt sich verschärft die Frage, was sie unter ihr eigentlich verstanden. In seiner Antwort auf „Mercator“ bestand der Autor auf den Verdiensten der britischen Verfassung: „Der Wert dieser Verfassung ergibt sich aus ihrer Übereinstimmung mit der allgemeinen Ordnung der Natur. […] In der englischen Verfassung hat jede Person ihr angemessenes Gewicht und Einfluss beim Zustandekommen oder Aufheben jedes Gesetzes, das sie in irgendeiner Weise betrifft. Wenn ein Gesetz für notwendig erachtet wird, bietet die Verfassung die Mittel, es zu bewirken. Wenn ein Gesetz für unangemessen, verletzend oder fehlerhaft angesehen wird, wird die Verfassung es aufheben oder verbessern. […] Auf diese Verfassung hat jeder britische Amerikaner ein Recht sowohl durch feierliche Freibriefe, die so unwiderruflich sind, wie menschliche Verpflichtungen sein können, als auch durch die noch heiligeren Gesetze, die Gott selbst in unserer Natur begründet hat.“180

Es war das idealisierte Bild eines verfassungsmäßigen Arkadien, das die amerikanischen Erwartungen entflammen mochte, verdeutlicht aber zugleich, wie weit sich die amerikanische Deutung der britischen Verfassung gegenüber der britischen Realität verselbständigt hatte. Das traf nicht allein auf private Flugblattschreiber zu, sondern ebenso auf gesetzgebende Versammlungen, darunter die von Georgia, die am 10. August 1774 verschiedene Beschlüsse fasste: „Dass die Untertanen seiner Majestät in Amerika dieselbe Treue schulden und zu denselben Rechten, Privilegien und Immunitäten berechtigt sind wie ihre Mituntertanen in Großbritannien. […] Dass, da Schutz und Treue wechselseitig und gemäß der britischen Verfassung sich entsprechende Begriffe sind, die Lehnsuntertanen seiner Majestät in Amerika ein klares und unbezweifelbares Recht haben […] den Thron anzurufen […] Dass ein jüngst verabschiedetes Gesetz zur Blockade des Hafens von Boston unserer Auffassung der britischen Verfassung widerspricht […] Dass das Gesetz zur Abschaffung des Freibriefs von Massachusetts geeignet ist, die amerikanischen Rechte zu untergraben […] Dass wir verstehen, dass das Parlament von Großbritannien keinerlei Recht hat, noch je gehabt hat, die amerikanischen Untertanen seiner Majestät zu besteuern; denn es ist ohne Widerspruch of178 [James Wilson,] Observations on the Nature and the Extent of the Legislative Authority of the British Parliament, Philadelphia: William and Thomas Bradford, 1774, 8. 179 Norwich Packet, 21. Juli 1774, 1. 180 New-York Journal, 1. September 1774, 3.

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III. Nordamerika

fenkundig, dass die Verfassung keine Besteuerung ohne Repräsentation zulässt, dass sie zusammengehören und untrennbar sind; und jede Forderung für die Unterstützung der Regierung sollte durch Anforderung an die verschiedenen Häuser der Repräsentanten geschehen.“181

Es ist bezeichnend, dass in dieser Situation Henry Cares English Liberties, or, The free-born Subjects Inheritance erneut veröffentlicht wurde.182 Das Buch passte in eine Situation, die eine amerikanische Interpretation der britischen Verfassung beflügelte, die entstanden war aus den Fehlern, Versäumnissen und schließlichen Korrekturen des englischen 17. Jahrhunderts, was für die Amerikaner hinreichend Parallelen zur jetzigen Lage ergab. Dieses Verständnis einer Geschichte, die sich scheinbar in den 1760er und 1770er Jahren zu wiederholen schien, befeuerte das amerikanische Verständnis von „Verfassung“ und ließ sie auf Prinzipien und Abhilfen bestehen, die zum Teil um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden waren, während andere eher mit der Glorreichen Revolution verbunden waren, die der britischen Verfassung ihren gegenwärtigen Glanz verliehen hatte. Nun war diese Verfassung erneut bedroht, diesmal durch die britische Regierung. In dieser Situation bestanden die Amerikaner auf „der Freiheit und dem Eigentum des Untertans, an die der König nicht, ohne die Verfassung zu brechen, rühren kann“ und dass die „Prärogative der Krone und die Rechte und Privilegien des Volkes […] die Grundlage aller Gesetze sind, die von Zeit zu Zeit durch die einmütige Zustimmung von König und Volk gemacht worden sind“. „Doch wenn Könige aufstanden, wie es einige gab, die nach absoluter Macht strebten, indem sie die alten Gesetze änderten und nach Belieben neue machten, indem sie illegale und willkürliche Steuern dem Volk auferlegten, war diese ausgezeichnete Regierung in gewisser Hinsicht aufgrund dieser zerstörerischen Maxime aufgelöst und Verwirrung und Bürgerkrieg die Folge.“183 181

Pennsylvania Packet, 5. September 1774, 2 (eigene Hervorhebung – H. D.). Henry Care, English Liberties, or, The free-born Subjects Inheritance. Containing Magna Charta, Charta de Foresta, the Statute De Tallagio non concedendo, the Habeas Corpus Act, and several other Statutes; with Comments on each on them […]. Compiled first by Henry Care, and continued, with large Additions, by William Nelson, of the Middle-Temple, Esq., Providence, R.I.: John Carter, 61774. William Nelson war für die 5. Aufl. von 1721 verantwortlich gewesen. Die erste Auflage war in London um 1680 erschienen. Wie es scheint, ist die jüngste Ausgabe 1978 bei Garland in New York erschienen, die ein Nachdruck der Londoner Ausgabe von 1766 ist. Vgl. die Ausführungen des Herausgebers der Ausgabe von 1774 auf S. viii: „Die sechste Auflage ist speziell für Amerika gemacht und einige Besonderheiten aus den früheren Auflagen sind weggelassen […] Doch als Ausgleich für diese Auslassungen und um das Werk noch wertvoller und nützlicher in Amerika zu machen, sind eine Reihe ausgezeichneter Vordrucke für Friedensrichter usw. hinzugefügt sowie einige Auszüge einiger verstorbener gefeierter Autoren über die britische Verfassung, die helfen, die von diesen glänzenden Autoren vorgebrachten bedeutenden Doktrinen zu illustrieren und ihnen Nachdruck zu verschaffen.“ Vgl. die Anzeige zu dem Buch in: Providence Gazette, 10. September 1774, 4. Vgl. auch Lois G. Schwoerer, The Ingenious Mr. Henry Care. Restoration Publicist, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2001, bes. 232 – 237. 183 Amator Libertatis, „A Brief Sketch of the Origin and Nature of the British Constitution“, in: New-York Journal, 15. September 1774, 2 – 3. 182

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Politisch las sich dies wie eine klare Warnung an die britische Regierung, der diese Parallelen naturgemäß völlig abwegig erschienen. Mit Blick auf „Verfassung“ erschien das Volk zum Handeln berufen. Dieser „große Bau der [britischen] Verfassung“ wurde im Februar 1776 in seinen Einzelheiten im Essex Journal ausgebreitet.184 Es war eine kompetente, jedoch neutrale Analyse, die sich unschwer als Antwort auf Thomas Paines Angriffe auf die britische Verfassung lesen ließ. Eine der bekanntesten Behauptungen Paines, die eine indirekte Zurückweisung Blackstones bedeutete, war seine Verspottung der Idee einer ausgeglichenen Verfassung zum Schutz der Freiheit: „Zu sagen, die Verfassung von England sei eine Vereinigung der drei Gewalten, um sich wechselseitig zu kontrollieren, ist grotesk, denn entweder haben die Worte keine Bedeutung oder sie sind ein reiner Widerspruch.“185

Mehr als nur eine Randfrage war vielmehr der ganze Charakter der Verfassung miserabel: „Warum ist die Verfassung von England kränkelnd? Doch nur weil die Monarchie die Republik vergiftet hat; die Krone hat das Unterhaus gefangen genommen.“186 Paines Argumente zeigten Wirkung. „Cassandra“ wies „Cato“ zurück und schloss sich Paines Überzeugung an, dass jeder Gedanke an eine Versöhnung ausschied, da „die britische Verfassung derart erfolgreich durch den Einfluss der Krone unterhöhlt worden sei, dass das Volk Großbritanniens keine Sicherheit mehr habe für den Genuss seiner eigenen Freiheiten und Amerika daher niemals sicher sein kann, wenn es von einem solchen Staat abhängt“. Das machte ihn nur noch entschiedener: „Eine Verfassung, die keine Kontrolle gegenüber ihren eigenen Dienern aufweist, kann uns keine Sicherheit gewähren.“187 Es mag darüber diskutiert werden, ob diese Argumente Überbleibsel einer feudalen Rechtstradition darstellen,188 zumal wenn von „Treue“ und „Schutz“ die Rede

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„A short system of the Britannic Constitution“, in: Essex Journal, 2., 9., 16. und 23. Februar 1776, jeweils 1, bzw. 3 (nur am 23. Februar). Das Zitat stammt vom Artikel des 16. Februar. 185 [Thomas Paine,] Common Sense; Addressed to the Inhabitants of America […], Philadelphia: R. Bell, 1776, 8 [Evans 14954] (Hervorhebung im Original). Die Flugschrift wurde am 9. Januar 1776 veröffentlicht. 186 Ebd., 28. Vgl. Eric Foner, Tom Paine and Revolutionary America, New York: Oxford University Press, 1976, 76 – 78. 187 „Cassandra to Cato, Nr. III“, in: Pennsylvania Ledger, 27. April 1776, 2 (Hervorhebung im Original). „Cassandra“ ist als James Cannon identifiziert worden – einer der Autoren der Verfassung von Pennsylvania von 1776, vgl. dazu unten Kap. V. 4. –, während „Cato“ William Smith war, vgl. H. Trevor Colbourn, The Lamp of Experience. Whig History and the Intellectual Origins of the American Revolution [1965], New York: Norton, 1974, 187. 188 Vgl. Erich Angermann, „Ständische Rechtstraditionen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung“, in: Historische Zeitschrift, 200 (1965), 61 – 91.

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ist wie etwa in den oben zitierten Beschlüssen von Georgia vom 10. August 1774,189 oder wenn es bei Alexander Hamilton 1775 hieß: „Diese Kolonien wurden errichtet und besiedelt als Bewilligungen und unter dem Schutz der englischen Könige, die in Verpflichtungen (covenants) mit uns für sich selbst, ihre Erben und Nachfolger eintraten; und aus diesen Verpflichtungen entsteht die Pflicht des Schutzes auf ihrer Seite und die Pflicht der Treue auf unserer.“190

Was man als feudale Ausrichtung interpretieren könnte, bekommt durch den puritanisch aufgeladenen Begriff des covenant (Bund) eine deutlich biblisch-theologische Wendung, in der sich der Einfluss des puritanisch geprägten Massachusetts in diesem Konflikt widerspiegelt. Darüber hinaus sind „Freiheit“ und „Eigentum“, und für diese wurde im Grunde „Schutz“ verlangt, in dieser Konstellation moderne Begriffe, die nicht in ein feudales Umfeld passen. Entsprechend werden daher in modernen Law Dictionaries „Treue“ (allegiance) und „Schutz“ (protection) als moderne Rechtsbegriffe erklärt.191 Ein pennsylvanischer „Freier“ brachte dieses moderne Verständnis von „Treue“ klar zum Ausdruck: „[J]ede Treue muss genau abgestimmt sein auf die Regierungsform und auf den Zweck dieser Form.“ Willkürliche Macht kann keine Treue einfordern. „Sie muss natürlich begrenzt sein durch unsere Gesetze und nicht durch den Willen und das Belieben eines Königs.“ Die Folgerungen für das Verständnis von „Rebellion“ – am 12. Juni 1775 hatte General Gage die Amerikaner für „Rebellen“ erklärt – lagen unmittelbar auf der Hand: „Rebellion bedeutet, einer gerechten und rechtmäßigen Regierungsmacht Widerstand leisten; und wenn das so ist, kann Widerstand gegen eine ungerechte und widerrechtlich angeeignete Macht keine Rebellion sein.“192

Gemäß dem Verständnis der amerikanischen Patrioten drohte diese Verbindung zwischen Treue und Schutz aufgelöst zu werden, nicht weil die Amerikaner der Krone weitere Treue verweigerten, sondern weil das Parlament den Schutz aufkündigte. Es war die „britische Gesetzgebung“, die die Amerikaner in „einen tatsächlichen Zustand der Sklaverei durch eine Gesamtheit von Herren [warf], deren Tyrannei schlimmer sein mag als die eines einzigen Despoten […] Falls die britische Gesetzgebung die Verfassung ist oder über der Verfassung steht, sind Magna Charta, 189

Ebenfalls publiziert als Flugblatt, [Savannah 1774] [Evans 42695]. [Alexander Hamilton,] The Farmer Refuted: or, A more impartial and comprehensive View of the Dispute between Great-Britain and the Colonies, intended as a further Vindication of the Congress: In Answer to a Letter from A. W. Farmer [i. e. Samuel Seabury], intitled AView of the Controversy between Great-Britain and her Colonies: Including a Mode of determining the present Dispute finally and effectually, etc., New York: James Rivington, 1775, 9. 191 Vgl. Henry Campbell Black, Black’s Law Dictionary. Definitions of the Terms and Phrases of American and English Jurisprudence, Ancient and Modern, St. Paul, Minn.: West Publishing Co., 51983, 39; A Dictionary of Law, 5. Aufl. v. Elizabeth A. Martin, Oxford: Oxford University Press, 2003, 23. 192 Pennsylvania Evening Post, 27. Juni 1775, 268 (Hervorhebung im Original). Der Leserbrief war unterzeichnet von „A Freeman“. 190

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die Bill of Rights und die protestantische Thronfolge, dieser Stolz der Briten, Spielzeuge, um das gemeine Volk zufrieden zu stellen, und keine soliden Sicherheiten.“193 In einer radikaleren Sprache, als sie dem Pfarrer von Roxbury angemessen gewesen wäre, verabschiedete der Zweite Kontinentalkongress am 28. Juli 1775 einen Aufruf „An das Volk von Irland“, in dem er der britischen Regierung die Schuld gab, dass die Verfassung in Trümmern lag: „Das Ministerium, darauf aus, die Pfeiler der Verfassung einzureißen, unternahm es, die Standarte des Despotismus in Amerika aufzurichten; und falls das gelingt, mögen Großbritannien und Irland vor den Konsequenzen erschaudern!“194

„Amicus Constitutionis“ bezog einen grundsätzlicheren Standpunkt, um zu zeigen, dass Großbritannien die Verfassung verletzt hatte und nun für die Folgen aufkommen müsse: „Doch wenn die britische Gesetzgebung Gesetze erlässt, die die grundlegende Verfassung umstürzen, und Gesetze, die die Prärogative bis über ihren begrenzten Rahmen hinaus ausdehnen und die Freiheiten der Untertanen verletzten, wobei der Souverän, indem er seine Sanktion dazu erteilt, seinen Krönungseid verletzt, dann ist das Volk in einem derartigen Fall ipso facto von seinen Verpflichtungen zum Gehorsam gegenüber dem König gelöst.“195

Selbst britische Whigs waren bereit einzugestehen, dass, wenn die „Vorgehensweise gegen Amerika illegal, verfassungswidrig und tyrannisch ist, daraus folgt, die Amerikaner Rebellen zu nennen, ungerecht, lächerlich, absurd, kindisch ist“.196 Dennoch entstand in den Kolonien ein wachsendes Bewusstsein, dass ihre überspitzte Interpretation der britischen Verfassung zwar dem 1775 verstorbenen James Burgh und anderen britischen Radikalen gefallen hätte, aber weder von den britischen Whigs noch Tories geteilt wurde. Thomas Hutchinson, gewiss kein Whig, sprach mit Blick auf den Freibrief von Massachusetts das zentrale Problem vor dem Repräsentantenhaus in Boston klar an: „Sie haben bestimmte Teile und Bestimmungen des Freibriefs herausgegriffen und gelöst von anderen Teilen und Bestimmungen, die mit ihnen verbunden sind und die dazu dienen, sie weiter auszuführen und zu erklären, und auf diese Weise waren Sie in der Lage, die Verfassung ganz anders darzulegen, als sie bisher immer verstanden wurde.“197

Wenig überraschend, wenn „Massachusettensis“, alias der Loyalist Daniel Leonard, eine ähnliche Auffassung ausdrückte:

193 William Gordon, A Discourse Preached December 15th 1774. Being the Day Recommended by the Provincial Congress; And Afterwards at the Boston Lecture, Boston: Thomas Leverett, 1775, 7 (Hervorhebung im Original). 194 Pennsylvania Mercury, 4. August 1775, 3. 195 „Amicus Constitutionis“, „Allegiance to crowned Heads upon the British Throne“, in: New-York Journal, 19. Oktober 1775, 1. 196 Constitutional Gazette, 21. Oktober 1775, 1. 197 Boston Evening Post, 28. Februar 1774, 1.

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„Wenn wir aber Teil des britischen Reiches sind, müssen wir der höchsten Gewalt im Staat untertan sein, die in den Ständen des Parlaments ruht, ungeachtet der Tatsache, dass jede Kolonie ihre eigene legislative und exekutive Gewalt hat, die ihnen delegiert und gewährt wurde, um ihre eigenen internen Angelegenheiten zu regeln, die untergeordnet sind und notwendigerweise der Kontrolle, Aufsicht und Regelung durch die höchste Autorität im Staate unterworfen sind. – Diese Doktrin ist nicht neu, doch ihre Leugnung ist es.“198

Amerikanische Loyalisten wie ebenso britische Tories wurden daher nicht müde, darauf hinzuweisen, dass in diesen Jahren des Konfliktes in den endlosen Diskussionen um die britische Verfassung und ihre Bedeutung in den Kolonien die amerikanischen Patrioten Auffassungen entwickelt hatten, die sie nicht nur nicht teilten, sondern die auch sich stets weiter weg von dem traditionellen Verständnis der britischen Verfassung entfernten und letztlich allein in dem sich entwickelnden amerikanischen Verständnis von „Verfassung“ begründet waren. Dieser Konflikt wurde offenkundig, als die Amerikaner 1776 selbst daran gingen, Verfassungen zu entwerfen, obwohl es für viele von ihnen lediglich um die Weiterentwicklung englischer Konzepte ging, denen jeder aufgeschlossene Engländer zustimmen könnte. So wies der Rat von New Jersey, der durch die Verfassung vom 2. Juli 1776 ins Leben gerufen war, in seiner Glückwunschadresse an den neuen Gouverneur darauf hin, dass ihnen die Trennung von Großbritannien aufgezwungen worden sei: „Auch die britische Nation, solange sie nicht völlig in Käuflichkeit und Korruption versunken ist, muss einer Tat beipflichten, die in so unmittelbarer Weise mit dem wahren Geist ihrer eigenen Verfassung übereinstimmt. Eine Tat, die ihren Ursprung demselben Prinzip schuldet, das so eklatant zur Schau gestellt wurde in der denkwürdigen Revolution.“199

Diese Interpretation, dass die Amerikaner die Glorreiche Revolution vollendeten und damit die Prinzipien der britischen Verfassung zu ihrem logischen Abschluss bringen, dürfte in Großbritannien kaum geteilt worden sein. Das gleiche dürfte für die Auffassung gelten, dass es eine logische Folge der britischen Verfassung war, gegen die Briten zu den Waffen zu greifen, was sich wie eine Rechtfertigung des englischen Bürgerkriegs der 1640er Jahre und der Hinrichtung Karls I. las: „[W]enn der König oder die Regierung zum Tyrannen degeneriert, dem Volk seine verfassungsmäßigen Rechte raubt und Krieg gegen es oder einen Teil von ihm führt, erklärt er sich selbst zum Feind des Wohlergehens des Staates und ist schuldig, eine Rebellion heraufzubeschwören mit dem Ziel, nicht nur das Wohlergehen, sondern die tatsächliche Existenz des Staates zu zerstören, ebenso wie wenn ein Gangrän einen wichtigen Teil des menschlichen Körpers befällt […] Und im Falle einer derartigen Rebellion ist das Volk kraft der Verfassung verpflichtet, zu den Waffen zu greifen zur Verteidigung des Staates gegen die Rebellen und sie abzuschneiden und dabei auch das gekrönte Haupt nicht auszusparen,

198 „Massachusettensis“, „To the Inhabitants of the Province of Massachusetts-Bay“, in: Boston Post Boy, 2. Januar 1775, 1. Für eine ähnliche Äußerung, vgl. [Jonathan Boucher,] A Letter from a Virginian to the Members of Congress to be held at Philadelphia, on The first of September, 1774, Boston: Mills and Hicks, 1774, 14 – 15. 199 Pennsylvania Packet, 8. Oktober 1776, 2.

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wenn es befunden wird, eine Rebellion gegen die Verfassung anzuführen, denn er ist ein innerer Feind des Staates.“200

Was amerikanische Patrioten als unmittelbare Folgerungen aus der britischen Verfassung verstanden, wiesen andere als kaum verdeckte politische Bestrebungen zurück. Auf beiden Seiten spielte „Verfassung“ die zentrale Rolle, worin sich wiederum ihre wachsende Bedeutung niederschlug. Ohne Zweifel hatte der Generalkonvent von Virginia im Dezember 1775 eine andere Vorstellung von „Verfassung“ als der noch amtierende britische Gouverneur: „Während Lord Dunmore durch seine Proklamation […] sich in unmittelbarer Verletzung der Verfassung und der Gesetze dieses Landes herausgenommen hat, das Kriegsrecht in Kraft zu setzen, das überall in der Kolonie angewandt werden soll, wodurch unser Leben, unsere Freiheit und Besitz willkürlich seiner Gewalt und Anweisung unterworfen werden; und während besagter Lord Dunmore Macht beansprucht, die selbst der König nicht ausüben kann, um das gute Volk dieser Kolonie einzuschüchtern, seinen willkürlichen Anordnungen zu willfahren, und erklärt hat, dass alle jene, die dem nicht unmittelbar entsprechen und sich in allen Dingen einer Regierung, die durch die Verfassung nicht befugt ist, zu unterwerfen, sich in tatsächlicher Rebellion befinden […].“201

Es war wiederum „Cassandra“, alias James Cannon, der es auf den Punkt brachte und damit erneut deutlich machte, wie weit sich das amerikanische Verständnis der britischen Verfassung von jenem in Großbritannien entfernt hatte: „Der gegenwärtige Kampf ist ein Kampf der Verfassungen und der Krieg ein Krieg der Gesetzgebungen. […] [D]ieser Krieg ist ein Krieg zwischen dem britischen Parlament und den kolonialen gesetzgebenden Versammlungen und es ist in der Tat ein Krieg zwischen dem Volk von Großbritannien und dem Volk von Amerika geworden; und obwohl beide zuvor denselben König anerkannt haben und es seine Pflicht gewesen wäre, neutral zu bleiben: doch da er sich dem britischen Parlament gegen uns angeschlossen hat, ist er Partei in diesem Streit geworden.“202

Obgleich niemand in Großbritannien an die Bürgerkriege erinnert werden wollte, erschienen die Analogien näher zu liegen, als Cannon es ausdrückte, war es doch kein „Kampf der Verfassungen“, sondern ein Kampf um unterschiedliche Interpretationen der britischen Verfassung.203 1774 war es ein Gemeinplatz geworden, von „amerikanischen“ Verfassungen zu sprechen, wobei einige den Ausdruck „Freibrief-Verfassung“ (chartered constitu200

New England Chronicle, 11. Januar 1776, 2. New England Chronicle, 11. Januar 1776, 2 (eigene Hervorhebung – H. D.). Vgl. auch Revolutionary Virginia. The Road to Independence, hrg. v. Scribner, V, 125 – 126. 202 „Cassandra to Cato, Nr. II“, in: Pennsylvania Ledger, 13. April 1776, 2. 203 Harry Thomas Dickinson, „Introduction“, in: Britain and the American Revolution, hrg. v. dems., London u. New York: Longman, 1998, 12, verwischt etwas die Linien, wenn er feststellt: „Es gibt eine Fülle von Beweisen, dass es britische Unterstützung für jedes Verfassungsprinzip gab, das die amerikanischen Kolonisten in ihrem Streit mit der britischen Regierung aufwarfen.“ 201

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tion) verwandten,204 um damit anzuzeigen, dass sie die kolonialen Freibriefe als „Verfassung“ verstanden. Thomas Hutchinson, wie kaum anders zu erwarten, machte sich über diese Auslegung und die Bemühungen des Repräsentantenhauses von Massachusetts lustig, die „den Freibrief zu einem derartigen Grad misshandelt und gefoltert haben, um daraus eine Verfassung zu formen, völlig verschieden von dem, was sie je sein sollte“.205 Die Gründe für diesen Sprachwandel sind leicht zu erraten und waren eng mit dem sich wandelnden Verständnis von „Verfassung“ verbunden. Dazu gehörte insbesondere, und dies hatten die zu „Verfassungen“ aufgestiegenen Freibriefe derart selbstredend gemacht, dass darüber keine wirkliche Diskussion erforderlich war, nämlich dass eine Verfassung ein einheitliches, verschriftlichtes Dokument sein musste und nicht wie die britische Verfassung aus einer Vielzahl unterschiedlicher Texte plus nie schriftlich fixierten Teilen bestehen konnte. Ein Freibrief war vom König oder Eigentümer gewährt und konnte nach Gutdünkel geändert oder abgeschafft werden, ohne dass die betroffenen Siedler darauf einen unmittelbaren Einfluss hatten. Eine „Verfassung“ dagegen hatte einen höheren Status, war weniger abhängig von König oder Eigentümer und erlaubt zumindest in der Theorie den Betroffenen einen gewissen Einfluss. Dieser mochte die Rolle der gesetzgebenden Versammlungen stärken und jene des Gouverneurs schwächen. So instruierten die Repräsentanten Virginias ihre Delegierten für den Ersten Kontinentalkongress und zögerten nicht, die einstige politische Praxis des Mutterlandes gegenüber den Kolonien der „wohlwollenden Vernachlässigung“ längst vergangener Zeiten zu einem erworbenen Verfassungsrecht zu stilisieren: „In der ursprünglichen Verfassung der amerikanischen Kolonien besaßen ihre gesetzgebenden Versammlungen allein das Recht, ihre innere Politik zu gestalten, so dass es absolut zerstörerisch hinsichtlich des Zwecks ihrer Institution ist, dass ihre Gesetzgebungen suspendiert oder durch plötzliche Auflösung daran gehindert werden, ihre gesetzgeberischen Befugnisse auszuüben.“206

Thomas Jefferson führte dieses Argument einen entscheidenden Schritt weiter. „Durch die Verfassung Großbritanniens ebenso wie der verschiedenen amerikanischen Staaten besitzt seine Majestät die Macht, einem Gesetzentwurf, der bereits beide Zweige der Gesetzgebung passiert hat, die Unterschrift zum Gesetz zu verweigern.“207 Was verfassungsrechtlich aus britischer Sicht zumindest umstritten war 204

Vgl. Boston Evening Post, 4. Juli 1774, 1. Der Ausdruck findet sich noch in der ersten Hälfte 1776 in zahlreichen Zeitungsartikeln. 205 „Copy of a Letter from Governor Hutchinson to the Earl of Dartmouth, dated Boston, March 9th, 1774“, in: Boston Gazette, 21. November 1774, 2. 206 Essex Gazette, 23. August 1774, 2. Eine ähnliche Auffassung vertrat John Adams als „Novanglus“, in: Boston Gazette, 6. März 1775, 4. 207 [Thomas Jefferson,] „A Summary View of the Rights of British America“, in: New-York Journal, 27. Oktober 1774, Anhang, 1. Vgl. die gesamte Flugschrift, [Thomas Jefferson,] A Summary View of the Rights of British America. Set forth in some Resolutions intended for the Inspection of the present Delegates of the People of Virginia. Now in Convention. By a Native, and Member of the House of Burgesses, Williamsburg: Clementina Rind, [1774], 16. Vgl. auch

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– obwohl noch von Blackstone vertreten, galt ein königliches Vetorecht gegenüber Parlamentsbeschlüssen inzwischen als nicht mehr existent –, machte aus imperialer Sicht durchaus Sinn, so dass Jefferson akzeptierte, dass britische Könige sich „der Unangemessenheit bewusst [geworden waren], die Einzelmeinung [einer Kolonie] der vereinigten Weisheit beider Häuser des Parlaments gegenüberzustellen“.208 Mit Blick auf die jüngsten Kassierungen kolonialer Gesetze, die in Amerika so viel Unmut hervorgerufen hatten, riet er jedoch zu einer modifizierten Haltung. „Es ist daher jetzt die große Aufgabe seiner Majestät, die Ausübung seiner Negativgewalt wieder aufzunehmen und die Verabschiedung von Gesetzen durch irgendeine Gesetzgebung des Reiches zu verhindern, die sich auf die Rechte und Interessen der anderen schädlich auswirken könnte.“

Zugleich und zumal hinsichtlich der in den Kolonien entstehenden Gesetzgebung sollte dieses Recht nicht länger ausgeübt werden, um besondere Interessen in Amerika durchzusetzen – bekanntermaßen wählte Jefferson als einschlägiges Beispiel die britische Weigerung, die Sklaverei in Virginia abzuschaffen. „Da dies ein so schändlicher Missbrauch der seiner Majestät für andere Zwecke anvertrauten Macht ist, müsste sie gesetzlich Beschränkungen erfahren, sollte sie nicht reformiert werden.“209 Jefferson verlangte nichts weniger als eine Gleichstellung der amerikanischen Versammlungen mit dem britischen Parlament, und er leitete diese Forderung aus seiner Analyse der britischen Verfassung ab. Dabei ging sein Argument deutlich weiter, als die britischen Whigs bereit waren, ihm zu folgen. Damit erhob er zugleich die „Verfassungen“ der amerikanischen Kolonien in einen Rang, den in den voraufgegangenen Jahren kaum jemand gewagt hatte einzufordern. Kein amerikanischer Patriot schien jedoch bereit, sich jenen Loyalisten anzuschließen, die in dieser Situation nach einer „amerikanischen Verfassung“ riefen,210 was für sie nichts anderes bedeuten konnte, als die Vorherrschaft des britischen Parlaments zum Nachteil der amerikanischen Versammlungen verfassungsmäßig festzuschreiben. Jack P. Greene, The Quest for Power. The Lower Houses of Assembly in the Southern Royal Colonies, 1689 – 1776, [1963], New York: Norton, 1972, 444 – 448. 208 Diese Überlegungen lassen sich als Vorläufer des britischen Colonial Laws Validity Act von 1865 lesen, vgl. dazu oben Kap. II. 4. 209 [Jefferson,] A Summary View, 16 – 17. 210 Vgl. [Samuel Seabury,] The Congress Canvassed: Or, An Examination into The Conduct of the Delegates, at their Grand Convention, Held in Philadelphia, Sept. 1, 1774. Addressed, To the Merchants of New-York. By A. W. Farmer, Author of Free Thoughts, etc., [New York], 1774, 8; [ders.,] An Alarm to the Legislature of the Province of New-York, Occasioned by The present Political Disturbances, in North America: Addressed To the Honourable Representatives in General Assembly Convened, New York: James Rivington, 1775, 13; [Thomas Bradbury Chandler,] What think ye of the Congress Now? Or, An Enquiry, How far The Americans are bound To abide by, and Execute the Decisions of, the late Congress?, New York: James Rivington, 1775, 17; [Joseph Galloway,] A Candid Examination of the Mutual Claims of GreatBritain, And the Colonies: With a Plan of Accomodation, on Constitutional Principles, New York: James Rivington, 1775, 29.

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III. Nordamerika

Die Bedeutung von „Verfassung“ voranzutreiben war mit der Weiterentwicklung des Verständnisses der britischen Verfassung gleichbedeutend, die sich über Jahrhunderte hin entwickelt hatte. Doch wie offen war die britische Verfassung für die Zukunft? Beförderte sie aktiv Veränderungen? War nicht gerade die Glorreiche Revolution, die tatsächlich die Verfassung verändert hatte, unternommen worden, um „gefährliche Innovationen“ zu verhindern? Joseph Galloway war sich unsicher bei diesen Frage: „Aus den vorausgegangenen Bemerkungen geht teilweise hervor, auf welche Weise die amerikanischen Untertanen den Genuss dieses unschätzbaren Rechts, wenn auch nicht das Recht selbst verloren haben, nämlich durch ihre Auswanderung in einen Teil des Staatsterritoriums, für die die Verfassung keine Repräsentation vorgesehen hatte. Da Amerika nicht bekannt war oder nicht beachtet wurde, als die Verfassung gebildet wurde, wurde keine entsprechende Vorkehrung getroffen. Aber das Recht auf einen Anteil an der höchsten Autorität war auf das Territorium jener Zeit begrenzt, über das beabsichtigt war zu regieren. Und zu der Zeit, als unsere Vorfahren das Mutterland verließen, war, wie es scheint, keines eingerichtet.“211

Obgleich Galloway die Ungerechtigkeit empfand, durch Auswanderung das Recht auf Repräsentation verloren zu haben, vermied er eine Antwort hinsichtlich der Auswirkungen auf die Verfassung und ob die Verfassung angepasst werden müsste. John Holt war da in seiner Antwort auf „Mercator“ bereit, weiter zu gehen: „Wir können keinen Titel abtreten, ohne absolute Sklaven zu sein, noch kann Großbritannien einen Schritt weitergehen, uns seine Ansprüche aufzuzwingen, ohne eine vollkommen tyrannische Gewalt auszuüben in offenkundiger Verletzung seiner Verfassung – eine Verfassung, erkauft mit einem Meer von Blut, und dessen Verbesserung das Werk von Jahrhunderten gewesen ist, die der Neid und die Bewunderung des Universums sind, der Ruhm der englischen Nation und die Ursache all ihres Wohlstands und Größe; eine Verfassung, angefüllt mit Leben und Kraft, die in sich die Prinzipien von Erneuerung und fortlaufender Verbesserung enthält.“212

Radikale im Mutterland wie auch in den Kolonien teilten diese von der britischen Verfassung selbst am Leben erhaltenen Überzeugung von Veränderung und Anpassung.213 Major Cartwright, einer der radikalsten Unterstützer der Kolonien in Großbritannien, brachte diese Einstellung lebhaft zum Ausdruck: „Unsere Religion als göttliche Offenbarung ist zugegebenermaßen vollkommen, und das Naturrecht, nicht weniger göttlichen Ursprungs, als die unverrückbare Basis unseres politischen Baus, die eigentliche Seele unserer Verfassung, sie ist auch vollkommen. Ich sage 211

[Galloway,] A Candid Examination, 40. John Holt, „Remarks on a Piece signed Mercator in Mr. Rivington’s Paper of the 10th Instant, continued from the New York Journal of the 18th“, in: New-York Journal, 1. September 1774, 3. 213 Vgl. Benthams berühmten Angriff auf Blackstone: Jeremy Bentham, A Fragment on Government: Being an Examination of what is delivered, on the Subject of Government in general, in the Introduction to Sir William Blackstone’s Commentaries, with a Preface, in which is given a Critique on the Work at large, London: Payne, 1776. 212

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vollkommen, absolut vollkommen; denn, wann immer sie den Anschein gibt, es nicht zu sein, ist sie das allein aufgrund des Fehlens einer richtigen Auslegung oder einer engen Befolgung ihrer wahren Prinzipien. Es ist dieser unwandelbare, göttliche Standard, auf den wir uns bei allen unseren Abweichungen beziehen müssen, der unsere Verfassung durch alle Zeitalter bewahrt hat und sie verbessert hat, bis sie die Bewunderung und der Neid aller Nationen wurde. Das ist das Prinzip der Erneuerung und Erholung von aller Verderbtheit und Verfall; dies ist das Prinzip der Unsterblichkeit!“214

Von der Auffassung, die Verfassung in regelmäßigen Abständen zu erneuern, war es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, dass eine Verfassung nicht die nächste Generation binden könne und daher alle 25 Jahre erneuert werden sollte, wie es Jefferson, Paine und andere bald propagieren sollten. Die für die Entstehung des modernen Konstitutionalismus so grundlegende Verfassungsdiskussion erreichte in den amerikanischen Kolonien in diesen Jahren ihren Höhepunkt. „Es herrscht eine seltsame Verehrung für die Antike und eine Abneigung gegen Erneuerungen in allen bürgerlichen wie religiösen Einrichtungen. Wir legen jetzt die Grundlagen einer amerikanischen Verfassung“, schrieb ein anonymer Autor nach der Vertagung des Ersten Kontinentalkongresses.215 Besondere Sorgfalt war daher erforderlich, um Freiheit dauerhaft zu sichern und ihre erneute Korrumpierung zu verhindern. „Ein Angriff auf die Freiheit eines weit ausgedehnten Kontinents wurde unternommen – Die Krise kam, als unsere zukünftige Verfassung ihren Ausdruck von den Bedingungen der gegenwärtigen Zeit erhalten musste“, ergänzte ein Autor aus New York.216 Was diese Autoren als Ergebnis einer vorhersehbaren Zukunft vorschwebte, sah der Provinzialkongress von North Carolina im August 1775 bereits als eingetreten an, als er beschloss, „[d]ass seiner Majestät treue und loyale Untertanen in dieser Kolonie in eine gefährliche und kritische Lage gebracht sind durch die Versuche der britischen Regierung, durch Waffengewalt verschiedene verfassungswidrige und erdrückende Gesetze des britischen Parlaments zur Erhebung von Steuern zur Abänderung und Veränderung der Verfassung und der inneren Politik der Vereinigten Kolonien unter Verletzung der natürlichen Rechte der Kolonisten zur Ausführung zu bringen“.217

Die Amerikaner bestanden darauf, dass sie durch die Politik der britischen Regierung und ihre Missachtung der Verfassung gezwungen waren, tätig zu werden: 214 [John Cartwright,] American Independence the Interest and Glory of Great Britain; containing Arguments which prove, that not only in Taxation, but in Trade, Manufactures, and Government, the Colonies are entitled to an entire Independency on the British Legislature; and that it can only be by a formal Declaration of these Rights, and forming thereupon a friendly League with them, that the true and lasting Welfare of both Countries can be promoted. In a Series of Letters to the Legislature, Philadelphia: Robert Bell, 1776, 61, ähnlich 63. 215 „Political Observations, without order: Addressed to the people of America“, in: Pennsylvania Packet, 14. November 1774, 3. 216 New-York Journal, 15. Dezember 1774, 1. 217 „Extracts from the Journal of the Proceedings of the Provincial Congress of NorthCarolina, held at Hillsborough, on the 20th day of August, 1775“, in: Pennsylvania Packet, 4. Dezember 1775, 1 (eigene Hervorhebung – H. D.).

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„Die großen Bollwerke unserer Verfassung haben wir mit allen maßvollen, allen friedlichen Mitteln zu bewahren gewünscht; aber eure Minister, gleichermaßen Feinde der britischen wie der amerikanischen Freiheit, haben ihren früheren Unterdrückungen einen Versuch, uns mit Hilfe des Schwerts zu einer niederträchtigen und erbärmlichen Unterwerfung herabzuwürdigen, hinzugefügt.“218

Dass sie in einer derartigen Lage berechtigt waren, für ihre Verfassung zu kämpfen, hatte sie das Orakel dieser Jahre nicht nur der amerikanischen Radikalen, James Burgh, gelehrt: „Die Allgemeinheit, wenn sie ihren verfassungsmäßigen Schutz verliert, ist vergleichbar einer Sandschnur leicht entzwei zu bringen; und wenn daher die handelnden Teile der Verfassung ihr Vertrauen missbrauchen und gegen die Ziele handeln, für die sie eingerichtet waren, dann bleibt kein Weg, Wiedergutmachung zu erlangen als dadurch, sich zu vereinigen, um ein neues Band der Union und der Stärke zur Verteidigung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu bilden.“219

Selbst wenn dieses „neue Band der Union und der Stärke“ nicht erreicht wurde, war es keine „Rebellion“, sondern „die unabdingbare Pflicht der vereinigten Kolonien von Amerika, sich unverzüglich unter einer unabhängigen Verfassung oder einem Republikstaat zusammenzuschließen“.220 Da die britische Verfassung in Amerika „in Teile zerbrochen“ war,221 musste sie durch eine Verfassung amerikanischer Machart ersetzt werden. Doch wie die Erfahrung lehren sollte, war diese nicht so einfach. Benjamin Franklin hatte im Juli 1775 einen Entwurf vorgelegt,222 in weniger als einem Jahr folgte John Dickinson nach.223 Doch der schließlich endgültige Text, bezeichnenderweise „Artikel der Konföderation“ (Articles of Confederation), nicht Verfassung genannt, wurde vom Kongress erst am 15. November 1777 angenommen. 218 „The Twelve United Colonies, by their Delegates in Congress, to the Inhabitants of Great-Britain[, July 8, 1775]“, in: Pennsylvania Evening Post, 11. Juli 1775, Anhang, 297. 219 „Extracts from Burgh’s Political Disquisitions“, in: Pennsylvania Packet, 27. November 1775, 2. Das Zitat stammt von James Burgh, Political Disquisitions; or, An Enquiry into public Errors, Defects, and Abuses. Illustrated by, and established upon Facts and Remarks, extracted from a Variety of Authors, Ancient and Modern. Calculated To draw a timely Attention of Government and People, to a due Consideration of the Necessity, and the Means, of Reforming those Errors, Defects, and Abuses; of Restoring the Constitution, and Saving the State, 3 Bde., Philadelphia: Robert Bell und William Woodhouse, 1775, III, 429. Zu James Burgh, vgl. Isaac Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. Political Ideology in Late EighteenthCentury England and America, Ithaca u. London: Cornell University Press, 1990, 200 – 259. 220 New England Chronicle, 11. Januar 1776, 1 (Hervorhebung im Original). 221 „An Elector“, „To the Free and Independent Electors of the City of Philadelphia“, in: Pennsylvania Packet, 29. April 1776, 2. 222 Vgl. „Proposed Articles of Confederation“, in: Leonard W. Labaree u. a. (Hrgg.), The Papers of Benjamin Franklin, Bd. 1 ff., New Haven: Yale University Press, 1959 ff. (zuletzt Bd. 43, 2018), XXII, 120 – 125. 223 Vgl. Jane E. Calvert, Quaker Constitutionalism and the Political Thought of John Dickinson, New York: Cambridge University Press, 2009, 249 – 253.

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Für die Entwicklung des Begriffs „Verfassung“ war ungleich bedeutender, was auf der Ebene der einzelnen Kolonien geschah, die bald zu Staaten wurden. In jenen Kolonien, in deren Reichweite sich britische Soldaten befanden, brach die koloniale Verwaltung 1775/76 zusammen, indem die Gouverneure, gleich ob königlich oder vom Eigentümer eingesetzt, auf das nächsterreichbare britische Kriegsschiff flüchteten. Amerikaner fühlten sich in den Naturzustand zurückversetzt, so dass eine bürgerliche Regierung wiederhergestellt werden musste. Mehr denn je ging es nun darum, was mit Verfassung gemeint war und was sie enthalten sollte. Das konnte nicht bedeuten, nun endgültig und feierlich die britische Verfassung über Bord zu werfen, sondern das zu bewahren, was sich bewährt hatte, und sie an jenen Stellen zu verbessern, wo es notwendig war. Die ersten amerikanischen Staaten führten neue Verfassungen ein, darunter South Carolina,224 wo in einer gemeinsamen Adresse des Repräsentantenhauses und Gesetzgebenden Rates vom 3. April 1776 der neue Präsident von South Carolina ermahnt wurde: „Wir vertrauen fest darauf, dass Sie die Verfassung zur großen Richtschnur Ihres Handelns machen werden.“225 Ungeachtet dieser Worte offenbarten die Dokumente von Anfang 1776 von New Hampshire, South Carolina und Georgia, von denen sich lediglich jenes von South Carolina als „Verfassung“ bezeichnete, dass sie geistig noch eng mit der Welt der britischen Verfassung verbunden waren. Die Bestimmungen und Regulierungen, die sie enthielten, waren weitgehend jene, die sie unter der britischen Verfassung gewohnt waren, lediglich ohne König und britisches Parlament. Sie entfalteten kein tieferes Verständnis von „Verfassung“, das zumindest auf der theoretischen Ebene deutlich über den britischen Rahmen hinausgegangen wäre, selbst wenn das eine oder andere neue strukturelle oder organisatorische Element eingefügt wurde. Doch die Diskussionen der vergangenen Jahre zeigten ihre Wirkung, die sich eindrucksvoll an der Diskussion der Städte in Massachusetts im Laufe des Jahres 1776 über „Verfassung“ nachverfolgen lässt, wie zwei Beispiele belegen mögen. Das erste stammt aus Pittsfield vom 29. Mai 1776 und stellt die Reaktion auf den Zusammenbruch der Kolonialverwaltung dar: „[D]er erste Schritt, den das Volk in einer derartigen Situation zum Genuss oder der Wiederherstellung der bürgerlichen Regierung unter ihnen unternehmen muss, ist die Bildung einer grundlegenden Verfassung als eine Basis oder Fundament der Gesetzgebung.“226 Das zweite ist die Antwort von Concord vom 22. Oktober 1776 auf die Resolution des Repräsentantenhauses vom 17. September: „[W]ir denken, dass eine Verfassung in ihrem eigentlichen Sinn ein System von Prinzipien sein soll, um den Untertan im Besitz und

224

Die Verfassung wurde z. B. veröffentlicht in der New-York Gazette, 29. April 1776, 2. Pennsylvania Evening Post, 28. Mai 1776, 265. 226 „Pittsfield Petitions, May 29, 1776“, in: The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 1966, 90. 225

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Genuss seiner Rechte und Privilegien gegen jeden Eingriff der Regierungsseite zu schützen.“227 Dreizehn Jahre intensiver Diskussion hatten beiden Definitionen von „Verfassung“ in der besonderen Situation von 1776 ihre Bedeutung gegeben. Im Falle Pittsfields verband sich ein auf Locke zurückgehendes Verständnis mit der oft wiederholten Vorstellung, dass eine Verfassung festgelegt und jenseits des Zugriffes des Gesetzgebers sein sollte. Im Fall von Concord begegnet uns ein amerikanisierter Bolingbroke, der auf Rechten und Sicherheiten besteht, ähnlich wie es der eingangs zitierte Inglis angedeutet hatte. Beide Definitionen griffen damit die voraufgegangene Diskussion auf und öffneten sie zur Zukunft zur weiteren Ausformung, wie sie der moderne Konstitutionalismus mit sich bringen sollte. Die weitreichendste Definition, die unmittelbar zur Verfassungskonstruktion führte und aufgriff, was mit der Rechteerklärung von Virginia und nachfolgenden Verfassung erreicht war, selbst wenn hier noch Denktraditionen der zurückliegenden Jahre mitschwangen, stammte von „Casca“. „Eine Regierung mag in drei Teile geteilt werden, erstens eine Rechteerklärung (Bill of Rights) – zweitens eine Verfassung – drittens Gesetze. Der erste mag mit einem Baumstamm verglichen werden – der zweite mit den Ästen – und der dritte mit den Früchten des Baumes.“ Dass „Casca“ mit dieser Baummetapher genau die Struktur und Organisation der ersten amerikanischen Staatsverfassungen seit der Rechteerklärung von Virginia wiedergab, unterstreicht er mit seiner Beschreibung der drei Teile. „Erstens, die Bill of Rights sollte stets die natürlichen Rechte jedes freien Mannes beinhalten und die wesentlichen Prinzipien einer freien Regierung, nämlich Gewissensfreiheit – jährliche Wahlen – Pressefreiheit – Geschworenenprozess – Ämterrotation – gleichmäßige Repräsentation usw. Diese Bill of Rights sollte unveränderbar sein. Die kleinste Verletzung irgendeines Teils von ihr, ob durch die Gesetzgebung – die Gerichte – oder das Volk sollte stets als Hochverrat gegen den Staat geahndet werden.“

Es war genau dieser Charakter der frühen Bills oder Declarations of Rights, der sie von ihren moderneren Varianten abgrenzt und sie zu jenem Teil der Verfassung macht, der die grundlegenden Prinzipien enthält, eine Auffassung, die genauso 1789 in Frankreich wieder auflebte.228 Entsprechend den frühen Verfassungen trennte „Casca“ die Bill of Rights von jenem zweiten Teil, den er ebenso wie einige andere Verfassung nannte, für den sich jedoch die Bezeichnung Regierungsform einbürgerte, um den Begriff Verfassung der Summe beider Teile vorzubehalten. „Zweitens, die Verfassung sollte den ausführenden Teil der Bill of Rights enthalten, wie die Regulierung der Repräsentation – die Einrichtung der Gerichtshöfe – die Begrenzung der Amtszeit – die gewöhnliche Form der Gesetzgebung und -ausführung usw. Aufgrund ihrer 227

Ebd., 153. Vgl. Lutz, Popular Consent and Popular Control, 61 – 62, der jedoch diese Funktion der frühen Rechteerklärungen nicht sah. Vgl. ferner oben Kap. I. 1. 228

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Natur und Ziele muss es erlaubt sein zu schwanken, aber keine Veränderungen sollten je in ihr vorgenommen werden ohne die Zustimmung von drei Vierteln oder vier Fünfteln der Legislative, noch sollte je eine Veränderung die Bill of Rights betreffen.“229

Was „Casca“ in diesen Sätzen entwickelte, war nichts weniger als die frühe Theorie des modernen Konstitutionalismus, die sich in den folgenden Jahren weiter entwickelte, wobei vieles jedoch weiterhin Bestand hat. Damit machte er Ende 1776 gleichfalls deutlich, wie weit sich das Verfassungsverständnis inzwischen von der britischen Verfassung entfernt hatte. „Drittens, Gesetze sollten Leben und Eigentum betreffen. Sie sollten niemals der Bill of Rights oder der Verfassung entgegenstehen. Sie sind die jährliche Frucht beider. Sie sollten durch die Mehrheit der Legislative beschlossen werden.“230 Mit der Hinzunahme der Gesetze teilte „Casca“ den Rechtsbereich eindeutig in zwei Ebenen, einmal mit der Verfassung als höchstem Gesetz und zum anderen mit dem gewöhnlichen Gesetzgebungsrecht als untergeordnet, eine der britischen Verfassung unbekannte Einteilung, die jedoch für den modernen Konstitutionalismus grundlegend ist. Was Amerikaner über ein Jahrzehnt lang gefordert hatten, vereinigte „Casca“ in seiner Baummetapher: Die Verfassung war das Kriterium für die Gültigkeit eines jeden Gesetzes, so dass für verfassungswidrige Gesetze, die die Freiheit des Volkes untergruben, kein Raum blieb. „Casca“ hatte die profundeste Zusammenfassung der Theorie des entstehenden modernen Konstitutionalismus geliefert, die – sicherlich kein Zufall – in Pennsylvania einen Monat nach der Verabschiedung der pennsylvanischen Verfassung erschien, die von abweichenden Grundsätzen geprägt war. Doch sein Resümee bleibt bis heute bedeutsam, selbst wo die Sprache mitunter noch traditionelle Anklänge erkennen lässt und an diesen Stellen weniger modern als ihr Inhalt erscheint, der insgesamt in dieser Zeit unübertroffen blieb. Männer wie John Adams oder Thomas Paine, so unterschiedlich sie in ihren Anschauungen auch waren, mochten hinzufügen, welche wohltätigen Auswirkungen derartige Verfassungen hätten. Adams sprach dann in diesem Zusammenhang gerne von „Arkadien oder Elysium“,231 während der säkularer eingestellte Tom Paine sie sah als „Kraft, die Welt neu zu

229 Vgl. aich [Carter Braxton,] An Address to the Convention of the Colony and Ancient Dominion of Virginia; on the Subject of Government in general, and recommending a particular Form to their Consideration. By a Native of that Colony, Philadelphia: John Dunlap, 1776, 6: „Die Regierung wird generell in zwei Teile geteilt, ihre Art oder Form der Verfassung und die Prinzipien, die sie leiten“ (Hervorhebung im Original). Üblich war allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits die Umdrehung der Begrifflichkeit, der zufolge „Art oder Form der Regierung“ Teil der „Verfassung“ war. 230 „Casca“, „To the Freemen of Pennsylvania“, in: Pennsylvania Evening Post, 31. Oktober 1776, 546 (eigene Hervorhebung – H. D.). 231 [John Adams,] Thoughts on Government: Applicable to The Present State of the American Colonies. In a Letter from a Gentleman To his Friend, Philadelphia: John Dunlap, 1776, 26.

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beginnen“.232 Doch offensichtlich hatte 1776 etwas seinen Anfang genommen, das seiner großen Entfaltung harrte. Einige dieser Prinzipien hatten sich durch langanhaltenden Gebrauch entwickelt, bis sie Gegenstand rechtstheoretischer Überlegungen wurden. „Die Kolonien Connecticut und Rhode Island können verfassungsmäßig weiter agieren, weil ihre Gouverneure vom Volk ernannt werden. Die anderen Kolonien können dies nicht mangels dieses Privilegs. Nur die Regierungsform kann uns Sicherheit bieten, die alle öffentlichen Diener unter die Macht des Volkes stellt. Der Amtsträger, der durch das Volk entfernt werden kann, wird dem Volk treu dienen. Der es nicht ist, wird anders handeln.“233

Aus dieser historischen Praxis abgeleitet, ergab sich schließlich notwendigerweise die Frage, was einer neuen Verfassung Legitimität verschaffen konnte. Die britische Verfassung war das Ergebnis von Jahrhunderten gewesen; die kolonialen Freibriefe hatte der König gewährt. Das monarchische Europa mit seinem Gottesgnadentum und der damit theologisch unterlegten Autorität, die von oben herabstieg, d. h. von Gott auf den König, der an seiner Statt auf Erden regierte, schloss sich in Amerika von selbst aus, da es keinen König gab. Die Alternative konnte nur lauten, dass die Autorität von unten aufstieg, also vom Volk. Angesichts bestehender oder jüngst stattgefundener massiver Konflikte zwischen den Ostküsteneliten und den Siedlern im Westen in einigen Kolonien, darunter Pennsylvania und North Carolina – ein bis zum Bürgerkrieg andauerndes Problem in den Ostküstenstaaten;234 der Bundesverfassungskonvent von 1787 sollte unter dem Eindruck von Shays Rebellion stehen – wurde diese Alternative von den amerikanischen Loyalisten abgelehnt. Selbst wenn die Elite schließlich, auf einer theoretischen Ebene, bereit gewesen war, den Gedanken der Volkssouveränität zu akzeptieren, sah es im praktischen Leben angesichts der Furcht vor dem „Pöbel“ anders aus.235 Dennoch schien es zu diesem Prinzip keine Alternative zu geben: „Frage: Wer sollte eine neue Regierungsverfassung bilden? Antwort: Das Volk. Frage: Von wem sollten öffentliche Personen ihre Autorität nehmen zu regieren? Antwort: Von dem Volk, über das sie regieren. Frage: Was sollte der Gegenstand der Regierung sein? Antwort: Die Wohlfahrt der Regierten. 232

[Thomas Paine,] „Appendix to Common Sense“, in: Large Additions to Common Sense; Addressed to the Inhabitants of America, On the following interesting Subjects. I. The American Patriot’s Prayer […] To which is added, An Appendix to Common Sense […], Boston: Printing Office, 1776, 35 [Evans 43053]. 233 „Salus Populi“, „To the People of North-America“, in: Norwich Packet, 12. Februar 1776, 1. 234 Vgl. dazu unten Kap. III. 5. 235 „A Freeman“, „To the Representatives of the Province of Pennsylvania, now met in this city“, in: Boston Post Boy, 1. August 1774, 4.

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Frage: Wie kann eine derartige Regierung erreicht werden? Antwort: Indem man eine Verfassung bildet, die Männer mehr als Sache betrachtet, indem man sie so bildet, dass die Interessen der Regierenden und der Regierten stets dieselben sind, und indem man die Regierungsgewalten so delegiert, dass das Volk es immer wieder in seiner Macht hat, sie zu übernehmen, wenn sie missbraucht werden, ohne Tumult oder Unruhen, und an Personen übergibt, die seines Vertrauens würdiger sind.“236

Das allgemeine, aus diesen didaktischen Instruktionen abgeleitete Prinzip wurde bald Allgemeingut, doch die genaue Ausformulierung führte zu endlosen Diskussionen: „Da alle Gewalt ursprünglich vom Volk kommt und allein zu seinem Besten ausgeübt werden kann und ungezügelt natürlicherweise sich zur Tyrannei auswächst, ist es für die Sicherheit des Volkes absolut notwendig, dass, wenn er eine Autorität delegiert, es in seinen Händen eine wirkungsvolle Kontrolle über sie behält, um zu verhindern, dass diese entgegen dem Plan zu seiner Zerstörung eingesetzt wird; denn Macht ohne Kontrolle ist Tyrannei, und unbegrenzte Unterwerfung ohne das Mittel der Abhilfe ist Sklaverei.“237

Mit kaum einer Ausnahme waren die nachfolgenden amerikanischen Verfassungen bereit, dieses Prinzip der Volkssouveränität als eines der Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus zu übernehmen. Doch was dieses konkret bedeuten sollte, blieb in der Folge ebenso wie in der Gegenwart umstritten.238 Am 6. Dezember 1775 erklärte der Kongress kategorisch: „Durch die britische Verfassung, unser bestes Erbe, ererben wir Rechte wie auch Pflichten.“239 Dass die Sicherheit der Rechte ein grundlegendes Prinzip der britischen Verfassung war, bezweifelten die Amerikaner in all diesen Jahren genauso wenig wie, dass ihnen diese Rechte zustanden. Der schon einmal zitierte Beschluss von Georgia vom 10. August 1774 hatte erklärt, „[d]ass das Gesetz zur Abschaffung des Freibriefs von Massachusetts dazu beiträgt, die amerikanischen Rechte zu untergraben; denn neben den allgemeinen Freiheiten, die die ursprünglichen Siedler als ihr Geburtsrecht mit sich brachten, waren ihnen bestimmte Immunitäten durch den Freibrief als Anreiz und Mittel zur Besiedlung der Provinz gewährt“. Da die Amerikaner mit diesen Rechten geboren wurden, konnten sie ihnen nicht ohne ihre Zustimmung genommen werden. Zusätzlich verwarfen sie bei ihrem Treffen in Savannah eine britische Anordnung, deren verfassungsrechtliche Wendung als Prototyp für eine Bestimmung gelten kann, auf die in Zukunft kaum eine amerikanische Verfassung in entsprechender Anpassung verzichten würde: 236 „Serious questions proposed to all friends to the rights of mankind in Pennsylvania, with suitable answers“, in: Pennsylvania Evening Post, 16. Mai 1776, 245. 237 „Considerations on the Mode of electing Delegates to the General Congress“, in: Connecticut Courant, 10. Juni 1776, 2. 238 Vgl. Edmund S. Morgan, Inventing the people: The Rise of Popular Sovereignty in England and America, New York: Norton, 1988; Adams, First American Constitutions, 144 – 146; ferner unten Kap. V. 2. 239 Pennsylvania Evening Post, 7. Dezember 1776, 564.

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„Dass es der natürlichen Gerechtigkeit ebenso wie dem bestehenden Recht des Landes widerspricht, eine Person nach Großbritannien oder sonst wohin zu transportieren, um unter Anklage eines in irgendeiner der Kolonien verübten Verbrechens vor Gericht gestellt zu werden, da sie auf diese Weise um das Privileg gebracht würde, durch ihresgleichen aus der Nachbarschaft beurteilt zu werden oder gegebenenfalls rechtliche Wiedergutmachung zu erlangen und in jedem Fall in den Genuss ihrer eigenen Zeugen zu gelangen.“240

Dass Rechte grundlegend waren, war für Amerikaner selbstredend. Die Präambel der Verfassung von New Hampshire vom 5. Januar 1776 warf den Briten vor, „uns um unsere angeborenen & verfassungsmäßigen Rechte und Privilegien gebracht zu haben“.241 Sehr ähnlich drückten es die Bestimmungen und Regulierungen der Kolonie Georgia vom 15. April 1776 aus, indem sie erklärten, die britische Politik habe die Amerikaner gezwungen, „zu den Waffen als ihrem letzten Mittel für die Bewahrung ihrer Rechte & Freiheiten zu greifen, die ihnen Gott und die Verfassung gegeben hatten“.242 Doch dass es der ausdrückliche Zweck einer Verfassung sei, Rechte zu sichern, die in einer eigenen Rechteerklärung aufgelistet waren und dass diese Bill of Rights der geeignete Platz war, „die wesentlichen Prinzipien der freien Regierung“ zu erklären, trat erstmals mit der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 in Erscheinung als „Eine Erklärung der Rechte, gemacht von den Repräsentanten des guten Volks von Virginia, in einem vollen und freien Konvent versammelt; welche Rechte ihnen und ihren Nachkommen zustehen, als Basis und Begründung von Regierung.“243 Da „Casca“ von dem „Baumstamm“ der ganzen Verfassung sprach, scheint es naheliegend anzunehmen, dass er an die Erklärung von Virginia dachte, denn hier waren wie er es beschrieb, „die natürliche Rechte eines jeden freien Mannes und die wesentlichen Prinzipien“ der Verfassung vereinigten. Menschenrechte waren 1776 ebenso Teil von „Verfassung“ nach amerikanischem Verständnis wie universelle Prinzipien. „Verfassung“ wurde nicht verstanden als etwas Spezifisches für Amerika oder Virginia, sondern basierte auf Prinzipien von universeller Geltung wie jene „im Einklang mit den Gesetzen der Natur“.244 Von der Verfassung von South Carolina vom 26. März 1776 hieß es, sie „entstand entsprechend dem großen Natur- und Völkerrecht“.245 In der radikaleren Sprache von Thomas Paine war die Beziehung zwischen Verfassung und Naturrecht noch grundsätzlicher: „Eine eigene Regierung ist unser Naturrecht: und wenn ein Mensch ernsthaft über die Unsicherheit menschlicher Dinge nachdenkt, wird er überzeugt werden, dass es unendlich 240

Georgia Resolutions of 10 August 1774, in: Pennsylvania Packet, 5. September 1774, 2. Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin u. Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, IV, 313. 242 Ebd., II, 9. 243 Ebd., VIII, 153. 244 Boston Gazette, 24. Januar 1774, 1. 245 New England Chronicle, 25. Juli 1776, 1. 241

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weiser und sicherer ist, eine eigene Verfassung in kühler Überlegung zu bilden, solange wir es in unserer Macht haben, als solch ein bedeutsames Unterfangen Zeit und Zufall anzuvertrauen.“246

Eine Variante der Naturrechtstheorie war die Vertragstheorie, die ihrerseits ihre Ursprünge in der Naturrechtsphilosophie hat. Für beides war John Locke die anerkannte Autorität. Die Vorstellung, dass eine Verfassung ein „Sozialvertrag“247 oder ein „ursprünglicher Vertrag der Gesellschaft“ war,248 kursierte auf beiden Seiten des Atlantiks. Laut Moses Mather waren Verfassungen „die ursprünglichen Verträge, die die ersten großen Prinzipien [der Regierung] enthalten […], dauerhaft und immerwährend, ebenso unveränderbar wie die Magna Charta“.249 Die Sprache war jedoch nicht immer konsistent, selbst wenn für den einen oder anderen Vertrag (contract), Vereinbarung (compact) oder Bund (covenant) austauschbare Begriffe gewesen sein mögen. „Die [Treue-]Eide sind nichts anderes als Erneuerungen des ursprünglichen Bundes, auf dem alle Regierungen gebildet sind: Denn in der Verfassung aller Gesellschaften sind zwei Verpflichtungen (covenant) wesentlich; eine auf der Seite des Staates, dass er ständig das öffentliche Wohl und Sicherheit konsultieren und befördern wird; und die andere auf Seiten des Untertans, dass er Treue und wahre Bindung an den Souverän oder die höchste Autorität zeigen werde.“250

Dieses Zitat von Galloway erscheint aus drei Gründen wichtig: 1) Im Jahr 1775 machte es seine augenscheinliche Distanz von dem sich entwickelnden amerikanischen Verständnis von „Verfassung“ durch eine Sprache deutlich, die bewusst tradierten englischen Vorstellungen folgte. 2) Indem er das Wort „covenant“ benutzte – wenige Seiten später sprach er von Vereinbarung – unterstrich er, dass sein Gebrauch keine amerikanische Exklusivität war. 3) Auch wenn Galloway „covenant“ in einem säkularen Bezug verwandte, hatte der Begriff für einige einen deutlichen theologischen Unterton, der Parallelen zwischen dem alttestamentarischen Bund und einer Verfassung andeutete. Diese religiösen Unterlegungen des Verfassungsbegriffs verliehen dem Universalismus der Verfassung eine weitere Dimension im Gegensatz zu jenen, die diesen in der Naturrechtsdoktrin begründet sahen.

246

[Paine,] Common Sense, 58. Josiah Quincy, Jr., Observations on the Act of Parliament Commonly Called the Boston Port-Bill; With Thoughts on Civil Society and Standing Armies, Philadelphia: John Sparhawk, 1774, 23. 248 [Galloway,] A Candid Examination, 23. 249 [Moses Mather,] America’s Appeal to the Impartial World. Wherein the Rights of the Americans, as Men, British Subjects, and as Colonists; the Equity of the Demand, and of the Manner in which it is made upon them by Great-Britain, are stated and considered. And, The Opposition made by the Colonies to Acts of Parliament, their resorting to Arms in their necessary Defence, against the Military Armaments, employed to enforce them, vindicated, Hartford: Ebenezer Watson, 1775, 24, 25. 250 [Galloway,] A Candid Examination, 17 (Hervorhebung im Original). 247

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Das nach Rechten am meisten diskutierte Prinzip in Amerika in diesen Jahren des Konflikts war das der Repräsentation.251 Seit der Stempelgesetzkrise stand das Thema der Repräsentation aus zwei, wenn auch miteinander verknüpften Gründen auf der Tagesordnung. Einerseits war es die Frage, wer repräsentiert werden sollte, während es auf der anderen Seite die Frage der politischen Partizipation war. Es war eine auf Großbritannien gerichtete Diskussion, in der es um unterschiedliche Konzepte von Repräsentation ging, wobei die meisten Amerikaner mit der britischen Ansicht der virtuellen Repräsentation wenig anzufangen wussten. In dieser Situation erinnerte Samuel Langdon, der Präsident von Harvard College die Amerikaner daran, „dass mehr als neunundzwanzig Dreißigstel des Volks von Großbritannien hinsichtlich von Wahl und Repräsentation in der gleichen Lage sind, wie ihr seid“.252 Mit der Forderung nach „gleicher Repräsentation“ mochten sich die Amerikaner mit britischen Radikalen treffen, zumal mit James Burgh. Aber wenn es um amerikanische Verfassungen ging, bewies die Ostküstenelite oft ein taubes Ohr – das bei einigen sehr anhaltend war – für Siedler im Westen, die „gleiche Repräsentation“ forderten. Eine Ausnahme war „AWatchman“ in Massachusetts: „Das Grundprinzip, auf dem die Verfassung ruht, ist jenes große Bollwerk der Freiheit, eine gleiche Repräsentation.“ Er bestand darauf, dass die bestehenden Gesetze Massachusetts nicht erlaubten, „das Glück einer gleichen Repräsentation zu genießen“. Daher insistierte er, „zur ernsthaften Erwägung aller, ob der folgende Plan, falls angenommen, uns nicht in den Genuss der gleichen Repräsentation bringen und darin absichern würde“.253 Die Einzelheiten seines Plans bezüglich Briefwähler, gleichgroßer Wahlkreise, Entgelte durch den Staat anstelle der Stadt und Begrenzung der Sitzungsperiode waren alles Themen der amerikanischen Staatsverfassungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während die frühen amerikanischen Verfassungen ihnen kaum Aufmerksamkeit schenkten. Es mag verwundern, dass es bis 1776 kaum eine Diskussion über die Ausweitung des Wahlrechts gab. New Jersey und Pennsylvania waren daher 1776 die einzigen Staaten, in denen es dazu kam. Vielmehr konzentrierte sich die Diskussion über Partizipation und repräsentative Regierung als grundlegendes Prinzip auf die Frage nach der Bedeutung von repräsentativer Regierung und ob die Legislative aus zwei Kammern bestehen sollte. John Adams lieferte hier die entscheidenden Stichworte:

251 Vgl. dazu allgemein Jack Richon Pole, Political Representation in England and the Origins of the American Republic, Berkeley, Los Angeles u. London: University of California Press, 1966, bes. 169 – 344; Gordon S. Wood, Representation in the American Revolution, Charlottesville u. London: University of Virginia Press, 22008. 252 Samuel Langdon, Government corrupted by Vice, recovered by Righteousness. A Sermon Preached Before the Honorable Congress Of the Colony Of the Massachusetts-Bay In Newengland, Assembled at Watertown, On Wednesday the 31st Day of May, 1775 Being the Anniversary fixed by Charter For the Election of Counsellors, Watertown: Benjamin Edes, 1775, 8. 253 „A Watchman“, „To the People of the Massachusetts-Bay, Nr. II“, in: New England Chronicle, 20. Juni 1776, 1 (Hervorhebung im Original).

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„Da eine gute Regierung ein Reich der Gesetze ist, wie sollen Eure Gesetze gemacht werden? In einer großen Gesellschaft, die ein ausgedehntes Territorium bewohnt, ist es unmöglich, dass sich die Gemeinschaft versammelt, um Gesetze zu beschließen: Der erste notwendige Schritt ist daher, Macht von den vielen auf die wenigen der weisesten und besten zu delegieren. – Doch nach welchen Regeln sollt Ihr Eure Repräsentanten wählen? Einigt Euch über die Zahl und die Qualifikationen der Personen, die den Vorteil des Wählens haben oder knüpft dieses Privileg an Einwohner mit einem gewissen Grundbesitz. – Die größte Schwierigkeit liegt darin und die größte Sorgfalt sollte darauf verwandt werden, diese repräsentative Versammlung zu konstituieren. Sie sollte im Kleinen ein genaues Porträt der Bevölkerung insgesamt sein.“254

Adams wandte sich darauf ausführlich der Legislative zu und breitete eine Reihe von Ideen aus, von denen er in den kommenden Jahren zumeist wieder abrücken sollte. Er blieb jedoch bei seiner strikten Ablehnung eines Unikameralismus, der zu leicht zu Vorurteilen, Habgier und Ehrgeiz neigen würde. Immer noch ohne genaues Verständnis des Prinzips der Gewaltentrennung fasste er seine Opposition zusammen: „6. Weil eine Legislative aus einer Kammer alle Gewalt der Regierung besitzt und daher willkürliche Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil machen, alle Gesetze willkürlich nach ihren eigenen Interessen ausführen und alle Kontroversen zu ihren Gunsten entscheiden wird.“255

Diese Überzeugungen kündeten seinen entschiedenen Widerstand gegen die Verfassung von Pennsylvania vom 28. September 1776 mit ihrer Einkammer-Legislative an, und er würde leicht jenem anonymen Autor zugestimmt haben, der darüber ausrief: „In einem Wort, das neue Regierungssystem von Pennsylvania zerstört jede Idee der Repräsentation“,256 weil, wie er zuvor bereits betont hatte, es sich durch die Einbeziehung des Volkes in das Gesetzgebungsverfahren weigert, die allgemein akzeptierte Auffassung anzuerkennen: „Jede Regierung setzt Macht voraus, und Macht kann allein durch Delegation bestehen.“257 Jede direkte Kontrolle des Volkes über die Regierung wurde vehement zurückgewiesen. Stattdessen war die repräsentative Regierung zum zentralen Prinzip des amerikanischen Verständnisses von „Verfassung“ geworden, also eine Regierung mittels Repräsentation, da allein sie zur Machtausübung legitimiert sei. Doch die Einzelheiten dieser Repräsentation zogen endlose Kontroversen in den folgenden Jahrzehnten nach sich. Heute gilt die begrenzte Regierung als eng mit der repräsentativen Regierung verknüpft. Doch ihr historischer Ursprung ist ein völlig anderer. Das amerikanische Konzept leitet sich ab aus der britischen Vorstellung der begrenzten Monarchie.

254

[Adams,] Thoughts on Government, 8 – 9. Ebd. 13. Zum Bikameralismus, vgl. unten Kap. V. 5. 256 „K.“, „Remarks on the Constitution of Pennsylvania“, in: Pennsylvania Packet, 15. Oktober 1776, 4. 257 „K.“, „Remarks on the Constitution of Pennsylvania“, in: Pennsylvania Packet, 24. September 1776, 2. 255

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„Die Verfassung von Großbritannien wird völlig zu Recht eine begrenzte Monarchie genannt, da das Volk sich einen Anteil an der Gesetzgebung als eine Kontrolle der königlichen Autorität gesichert hat, um das Abgleiten in Despotismus und Tyrannei zu verhindern. Eigentlicher Zweck und Absicht des demokratischen Teils oder des Unterhauses ist, die Rechte des Volkes zu sichern. Dessen eigene Existenz hängt von diesen Rechten ab. Seine ganze Macht leitet sich aus ihnen ab und muss mit ihnen enden.“258

Hamiltons Interpretation ist Ausdruck eines amerikanischen Verständnisses, das in Großbritannien kaum geteilt worden sein dürfte. Doch auch sonst überzeugte die einfache Antwort, dass, um die Rechte des Volkes zu sichern, die Macht der Exekutive begrenzt werden müsse, nicht jeden. James Wilson war sicher, dass es so nicht sein konnte. „Die Verfassung Großbritanniens ist die einer begrenzten Monarchie, und in allen begrenzten Monarchien muss die Macht, diese Begrenzungen zu bewahren, irgendwo festgemacht werden.“259 Doch nach seiner Überzeugung gelang es Großbritannien nie, die Macht zur Begrenzung angemessen zu verankern. Zumindest in diesem Punkt mochte James Cannon mit Wilson übereinstimmen: „Eine Verfassung, die keine Kontrolle ihrer eigenen Amtsträger bietet, kann uns keine Sicherheit gewähren. – Derjenige, der die Ernennung aller Mitglieder der Regierung innehat, hat die völlige Macht über diese Regierung in seinen Händen und mag mit ihr nach Belieben verfahren. Dies ist hinreichend bewiesen durch den gegenwärtigen ruinösen Zustand der Regierung in jeder Kolonie, wo der König oder der Eigentümer das Ernennungsrecht besitzt. Freiheit kann unter einer derartigen Regierung nie erblühen.“260

Wie eine begrenzte Monarchie in eine begrenzte Regierung umgewandelt werden konnte, war ein nicht leicht zu lösendes Problem, und die amerikanischen Verfassungen von 1776 zeigen, dass keine offensichtliche Lösung bereitstand. Die Verfassung von South Carolina schloss sich eng dem Rat Hamiltons an: „30. Dass die exekutive Autorität einem Präsidenten und Oberkommandierenden übertragen ist, begrenzt und gezügelt wie oben erwähnt.“261 Einige Monate später fand sich in der Verfassung von Delaware eine ähnliche Bestimmung, die praktisch wörtlich in der Verfassung von North Carolina von 1776 wiederholt wurde: „Art. 7. Ein Präsident […] mag alle anderen exekutiven Befugnisse der Regierung ausüben, begrenzt und gezügelt wie in dieser Verfassung bestimmt ist.“262 Die Argumente gingen kaum über das hinaus, was in den voraufgegangenen Jahren entwickelt worden war, und es 258

[Hamilton,] The Farmer Refuted, 10. [Wilson,] Observations on the British Parliament, 11 – 12. Die Flugschrift wurde ebenfalls abgedruckt in Rivington’s New-York Gazetteer, 27. Oktober 1774, 1, wo sie vorgestellt wurde als „The celebrated Dr. Benjamin Franklin’s Considerations on the nature and the extent of the legislative authority of the British Parliament“. Vgl. auch Collected Works of James Wilson, hrg. v. Kermit L. Hall und Mark David Hall, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Fund, 2007, I, 3. 260 „Cassandra to Cato, Nr. III“, in: Pennsylvania Ledger, 27. April 1776, 2 (Hervorhebung im Original). 261 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VI, 21. Der Artikel verweist auf Art. 25 und 26 über die Regulierung der Macht des Präsidenten. 262 Ebd., I, 214, V, 163. 259

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brauchte noch eine Reihe von Jahren, bis sich durchsetzte, dass begrenzte Regierung weiter zu gehen hatte, als die Macht der Exekutive zu begrenzen. Dass das Problem wesentlich größer war, hat James Madison dann brillant im Federalist Nr. 51 zum Ausdruck gebracht,263 was dann Thomas Cooley in seiner großen Darstellung Constitutional Limitations weiter ausgeführt hat.264 Nicht allein zwischen begrenzter Regierung und repräsentativer Regierung besteht ein enger Zusammenhang, sondern auch mit dem Prinzip der Gewaltentrennung. Die Rechteerklärung von Virginia hatte in ihrem Art. 5 festgehalten: „Dass die legislative und exekutive Gewalt getrennt und unterschieden sein soll von der judikativen.“265 Die Rechteerklärung von Maryland vom 3. November 1776 fasste es noch präziser und brachte damit erstmals die Judikative auf einen gleichen Rang wie die beiden anderen Gewalten, eine Bestimmung, die praktisch von der Rechteerklärung von North Carolina sechs Wochen später übernommen wurde: „Dass die legislative, exekutive und judikative Gewalt für immer getrennt und unterschieden voneinander sein sollen.“266 Diese Zitate mögen hinreichend verdeutlichen, dass das Prinzip der Gewaltentrennung 1776 seinen Platz im amerikanischen Verständnis von „Verfassung“ gefunden hatte. Angesichts der Tatsache, dass dieses Prinzip seit beinahe hundert Jahren von Locke, Montesquieu und Blackstone, um nur die namhaftesten Autoren zu nennen, diskutiert wurde, mag das nicht sonderlich überraschen. Die eigentliche Frage ist vielmehr, warum es in den Jahren bis 1776 nicht wesentlich stärker diskutiert worden war. Wie die Jahre seit 1763 gezeigt hatten, waren die Amerikaner nicht sonderlich fasziniert von diesem Problem. Als es aufkam, wurde es häufig mit den Gedanken der gemischten Regierung in einen Topf geworfen, bei denen die Amerikaner bevorzugten, den „demokratischen“ Teil, also die Rolle des Volkes zu betonen. Trotz Montesquieu, der in diesen Jahren zur Gewaltentrennung kaum zitiert wurde, und Blackstone stand im Vordergrund die britische Verfassung, die statt einer Trennung eher eine Verschmelzung der Gewalten zu praktizieren schien. Bestenfalls konnte man von einem „Equilibrium“ oder „Gleichgewicht“ der Macht sprechen, wobei einige noch eine zusätzliche „Kontrolle“ zur Bewahrung der Freiheit sahen.267 Es war nur ein schwacher Abglanz der Diskussion um Blackstone 1771, zu der Paine später 263

Vgl. The Federalist, hrg. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 347 – 353. 264 Thomas M. Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations which Rest upon the Legislative Power of the States of the American Union, Boston: Little, Brown, and Company, 5 1883. 265 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153. 266 Ebd., III, 240, V. 157. 267 Vgl. „At a Meeting of 150 Gentlemen, being Committees from every Town and District in the County of Middlesex, and Province of Massachusetts-Bay, held at Concord, in said County, on the 30th and 31st Days of August 1774, to consult upon Measures proper to be taken at the present very important day“, in: Essex Gazette, 6. – 13. September 1774, 1; Pennsylvania Packet, 28. November 1774, 3; [Mather,] America’s Appeal to the Impartial World, 8.

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eine entschiedene Gegenposition bezog. Aus völlig anderen Gründen stand Galloway der amerikanischen Idee einer Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive kritisch gegenüber.268 Insbesondere mochte er dabei an den Beschluss des Ersten Kontinentalkongresses vom 14. Oktober 1774 gedacht haben: „Für eine gute Regierung ist es unbedingt erforderlich und durch die englische Verfassung essentiell gemacht, dass die konstituierenden Zweige der Gesetzgebung unabhängig voneinander sind; dass folglich die Ausübung legislativer Befugnisse in verschiedenen Kolonien durch von der Krone nach Belieben ernannte Räte verfassungswidrig, gefährlich und zerstörerisch für die Freiheit amerikanischer Gesetzgebung ist.“269

Losgelöst von der gegenwärtigen Lage und gerichtet auf die britische Einmischung in amerikanische Gesetzgebung mochte dieses Argument im Kontext der Gewaltentrennung genutzt werden. Doch die Erfordernisse dieser turbulenten Monate boten kaum Raum für eine Diskussion über Grundsatzfragen und führten bestenfalls zu kleineren Modifikationen, da andere Probleme dringender erschienen. Man wird daher generell lediglich feststellen können, dass die amerikanische Diskussion um die Gewaltentrennung 1776 noch nicht ausgereift war. Die Klausel der Bundesverfassung über die Suprematie der Verfassung erscheint geradezu selbstverständlich. Doch lediglich ein halbes Dutzend Einzelstaatsverfassungen kannten vor dem Bürgerkrieg eine ähnliche Bestimmung, wobei die Verfassung von Maine von 1819 die nächste war, die dem Beispiel der Bundesverfassung folgte. Doch nicht nur „Casca“ hatte gezeigt, dass die Vorstellung der über den normalen Gesetzen stehenden Verfassung durchaus geläufig war. 1774 hatte die Stadt Stafford in Connecticut beschlossen, dass es keine Macht über der Verfassung gab. „5. Doch obwohl wir verpflichtet sind, uns der Gewalt, die besteht, unterzuordnen und nicht der Gewalt, die nicht besteht, ist die Macht, die besteht, jene, die gemäß der Verfassung regiert. Falls die höhere Gewalt der Regierung nicht gemäß der Verfassung regiert, ist sie nicht die Gewalt, die besteht, sondern angemaßte Gewalt, und daher ist ihr keine Unterwerfung geschuldet.“270

Ähnlich hatte Nathan Fiske geschrieben: „Kein einzelner, nicht einmal der König, ist über dem Gesetz oder besitzt die Freiheit gegen die Verfassung des Königreichs oder neben ihr zu handeln.“271 Dem konnte auch Galloway zustimmen, als er von der 268

Vgl. [Joseph Galloway], A Reply to an Address To the Author of a Pamphlet, entitled, A Candid Examination of the Mutual Claims of Great Britain and her Colonies, &c. By the Author of the Candid Examination, New York: James Rivington, 1775, 14 – 15. 269 Boston Evening Post, 14. November 1774, 2. 270 [„Resolutions of the Town of Stafford, 7 September 1774“], in: Connecticut Courant, 31. Oktober 1774, 2 (Hervorhebung im Original). 271 Nathan Fiske, The Importance of Righteousness to the Happiness, and the Tendency of Oppression to the Misery of a People; illustrated in two Discourses Delivered at Brookfield, July 4. 1774, Being a Day observed by general Consent through the Province, (At the Recommendation of the late House of Representatives) as a Day of Fasting and Prayer, On Account of the Threatening Aspect of our Public Affairs, Boston: John Kneeland, 1774, 10.

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Autorität von König, Oberhaus und Unterhaus schrieb, „alle ihre Gewalt ist ursprünglich abgeleitet von und begrenzt durch [die britische] Verfassung und Gesetze“.272 Was so offenkundig erscheint, war wiederum eine amerikanische Interpretation der britischen Verfassung, die kaum in Großbritannien mehrheitsfähig gewesen sein dürfte. Das Volk von Stafford, Fiske und Galloway mochten zur Unterstützung ihrer Auffassungen Bracton zitieren. Aber Bracton hatte von Gesetzen gesprochen und dass der König unter dem Gesetz stehe.273 In der Tat war es erneut diese Verwischung von Gesetz und Verfassung, die der britischen Verfassung einen Rang einräumte, der ihr nicht zukam. Der Provinzialkongress von Georgia war mit seinen Beschlüssen vom 7. Juli 1775 zumindest teilweise der Realität näher, als er feststellte, „[d]ass im britischen Reich, dem wir angehören, die Verfassung über jedem Menschen oder welcher Gruppe von Menschen auch immer steht, und dass es ein Verbrechen übelster Sorte ist, sie zu beeinträchtigen oder weg zu nehmen oder den geringsten Untertan ihrer Wohltaten zu berauben“.274 Solange damit ein Beamter der Krone gemeint war, war dies korrekt. Doch wenn damit ein Parlamentsgesetz gemeint war, war es falsch. In früheren Jahren war diskutiert worden, ob das Parlament über der Verfassung stand. Doch Blackstone hatte unmissverständlich gemacht, dass das Parlament omnipotent war und dass das Parlament jedes Gesetz machen konnte, dass ihm in den Sinn kam und mithin auch die Verfassung nach Gutdünken ändern konnte. Dieses Verständnis von „Verfassung“ waren die Amerikaner 1776 nicht länger bereit zu akzeptieren. „Um dies zu verhindern, soll jeder Artikel der Verfassung oder Reihe von grundlegenden Regeln, durch die selbst die höchste Gewalt im Staat regiert wird, durch einen Konvent von Delegierten des Volkes gebildet werden, die zu diesem ausdrücklichen Zweck ernannt wurden: dieser Verfassung soll weder etwas hinzugefügt, abgezogen noch an ihr durch irgendeine Macht etwas verändert werden, außer jener Macht, die sie ursprünglich aufstellte. Durch dieses Mittel wird eine wirkungsvolle Schranke jenen einfallsreichen Geistern entgegengestellt, die uns mit viel Überzeugungskraft versichern, dass nachdem das Volk seine jährliche oder siebenjährige Opfergabe gemacht habe, es mit der Regierung genauso wenig zu schaffen hätte wie sein Vieh.“275

272

[Galloway,] A Candid Examination, 16. Henricus de Bracton, Of the Laws and Customs of England, hrg. v. George Edward Woodbine, übers. v. Samuel Edmund Thorne, 4 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press, 1968 – 1977, II, 33: „Ipse autem rex non debet esse sub homine sed sub deo et sub lege, quia lex facit regem/Der König muss nicht unter den Menschen sein, aber unter Gott und unter dem Gesetz,weil das Gesetz den König macht.“ 274 [„Resolves of the Provincial Congress of Georgia, 7 July 1775“], in: Pennsylvania Packet, 21. August 1775, 2. 275 „Demophilus“, The genuine Principles of the ancient Saxon, or English Constitution. Carefully collected from the best Authorities; With some Observations, on their peculiar fitness, for the United Colonies in general, and Pennsylvania in particular, Philadelphia: Robert Bell, 1776, 4 (Hervorhebungen im Original). 273

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Eine Verfassung konnte nur dann sicher und das oberste Gesetz des Lande sein, wenn es dem beliebigen Zugriff der Legislative entzogen war. Dieses Prinzip ging eindeutig über die britische Verfassung hinaus. Doch die verfassungsmäßigen Mechanismen, die erforderlich waren, um es umzusetzen und der politische Wille dazu, blieben der Zukunft vorbehalten. Was bedeutete das für Gesetze und das Handeln der Regierung? Als der Gouverneur von Massachusetts dessen Parlament die Anklage des obersten Richters versagte, sprach der Rat von „der Verweigerung der Verfassungsmäßigkeit (constitutionality) von Amtsanklagen“.276 Zwei Jahre später kam ein anonymer Autor zu dem Schluss: „Zu den ersten Früchten der schönen Saat der Opposition gegen die Tyrannei der britischen Regierung, von der wir zu Recht die glorreiche Ernte von Freiheit und Glück erwarten, ist das klare Verständnis der Verfassung der bürgerlichen Regierung unter allen Ständen und Rängen des Volkes.“ Es war daher erforderlich, „die Verfassungswidrigkeit (unconstitutionality) der […] Übertragung der legislativen und exekutiven Gewalt in dieselben Hände“ zu verstehen.277 Beide Zitate sind insofern bedeutsam, als es sich bei ihnen um den bislang jeweils ersten Nachweis des Gebrauchs der Worte constitutionality und unconstitutionality handelt, für die das Oxford English Dictionary die bislang frühesten Nachweise für 1801 bzw. 1795 verzeichnet.278 Erneut erweist sich damit die Bedeutung der amerikanischen Diskussionen um Verfassung zwischen 1763 und 1776 mit der Schaffung zweier weiterer Neologismen. Der Gedanke, dass Akte der Regierung und Gesetze der Gesetzgebung mit der Verfassung übereinstimmen mussten, statt diese willkürlich zu ändern, hatte in Amerika nach einem Jahrzehnt der Klage über „verfassungswidrige“ britische Gesetze eindeutig Fuß gefasst. „Jedes durch die Verfassung nicht gerechtfertigte Gesetz ist ungültig; jede nicht von ihr gedeckte Macht ist Usurpation; jede Gewalt gegen sie Verrat.“279 Der erste Teil des Satzes sollte amerikanische Verfassungsdoktrin werden, doch bis das auf Einzelstaats- und Bundesebene erreicht war, bedurfte es noch mehrere Jahrzehnte intensiver rechtlicher und politischer Diskussionen. Aktuell fand eher die Überlegung von John Dickinson größere Zustimmung: „Welche Schwierigkeit auch immer darin besteht, die Linie festzulegen, begnügen wir uns damit, dass es aufgrund der Gesetze Gottes und der Gesetze der Verfassung eine Linie geben muss, über die hinaus sich ihre Autorität nicht erstrecken kann.“280 Doch wo genau diese Linie zu 276

[„Message of the Council to the Governor, 7 March 1774“,] in: Boston Gazette, 14. März 1774, 2. 277 „O.P.Q.“, „To the Electors of Representatives for the Colony of Massachusetts-Bay, and to the Electors of Counsellors for the same, Nr. II“, in: Massachusetts Spy, 18. Mai 1776, 1. 278 Vgl. Oxford English Dictionary online mit den jüngsten Ergänzungen von Dezember 2009 unter: http://www.oed.com/ (Zugang 5. 2. 2010). 279 „From the County of Hampshire“, „To the Inhabitants of the Massachusetts-Bay, Nr. II“, in: Massachusetts Spy, 16. Februar 1775, 1. 280 [John Dickinson,] An Essay on the Constitutional Power of Great-Britain over the Colonies in America; with the Resolves of the Committee for the Province of Pennsylvania, and

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ziehen war und welche Gesetze tatsächlich „unvereinbar mit der Verfassung“ waren,281 war ebenso unklar wie „die verfassungsmäßige Ausdehnung der parlamentarischen Autorität festzustellen“.282 Auf einer theoretischen Ebene ließ sich leicht behaupten, dass die Verfassung vorherrschen müsse, doch kaum jemand war bereit, ernsthaft darüber sich Gedanken zu machen, wer mit der Autorität auszustatten sei, offiziell die „Unvereinbarkeit“ oder „Nichtigkeit“ zu verkünden. Lag es allein daran, dass niemand wagte, Blackstone öffentlich zu widersprechen? „Doch wenn das Parlament eindeutig eine Sache verfügt, die unzumutbar ist, kenne ich keine Macht, die es kontrollieren kann: und die Beispiele, die gewöhnlich diesen Sinn der Regel angeblich unterstützen, dass, wo der eigentliche Gegenstand des Gesetzes unzumutbar ist, die Richter die Freiheit besäßen, es zurückzuweisen, liefern ausnahmslos keinen Beweis; denn das hieße, die richterliche Gewalt über die legislative zu stellen, was umstürzlerisch für jede Regierung wäre.“283

Wahrscheinlicher ist wohl der unmittelbare Konflikt, den eine Lösung heraufbeschworen hätte. Wenn diese Befugnis den Gerichten übertragen worden wäre, wäre sie jenseits der Kontrolle durch das Volk gewesen. Sollte die Gesetzgebung darüber befinden, wäre das die Einladung zur Manipulation der Verfassung. Beide Alternativen standen im Widerspruch zu den allgemeinen Prinzipien. Wie immer die Lösung aussehen konnte, bestimmte die Verfassung von Georgia von 1777 lediglich, dass „[d]ie gesetzgebende Versammlung die Macht haben soll, solche Gesetze und Bestimmungen zu erlassen, die der guten Ordnung und dem Wohlergehen des Staates dienlich sind; vorausgesetzt, derartige Gesetze und Bestimmungen stehen nicht der wahren Absicht und Bedeutung irgend einer Regel oder Bestimmung in dieser Verfassung entgegen“.284 Es dauerte weitere fünfzehn Jahre, bis sich in einer Verfassung, nämlich der von Kentucky von 1792, die ihrerseits weitgehend eine Kopie der Verfassung von Pennsylvania von 1790 war, der entscheidende nächste Schritt fand: „Um Übertretungen dieser von uns delegierten hohen Befugnisse zu verhüten, ERKLÄREN WIR, dass alles in diesem Artikel den allgemeinen Befugnissen der Regierung entzogen ist und für immer unverletzt bleiben soll; und dass alle Gesetze, die dem entgegenstehen und die der Verfassung entgegenstehen, ungültig sind (shall be void).“285

In beiden Fällen war ein klarer Begriff von zwei Rechtsebenen vorhanden mit der Verfassung als höchster Ebene und Richtschnur für die Gesetzgebung. Auch andere Staaten kannten inzwischen Bestimmungen, dass verfassungswidrige Gesetze nicht their Instructions to their Representatives in Assembly, Philadelphia: William and Thomas Bradford, 1774, 34. 281 Ebd., 110. 282 [Galloway,] A Candid Examination, 3. 283 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, I, 91. 284 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 14 (Art. VII). 285 Ebd. III, 21 – 22 (Art. XII, Abs. 28). Vgl. die Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 26 (ebd., V, 369).

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existieren sollten. Doch in allen diesen Fällen war nichts darüber gesagt, wer die verfassungsmäßige Kompetenz haben sollte, dieses zu erklären, eine Verfassungslücke, die noch weiter darauf warten musste, geschlossen zu werden. Ein Grund, warum die schließliche Lösung so umstritten war und erst mit so großer Verzögerung kam, mag, zumindest für einige, an der Überzeugung gelegen haben, dass diese im Widerspruch zur zentralen Rolle des Volkes stehe. Die Frage, wer legitimiert war, eine Verfassung zu schaffen, war 1776 eindeutig beantwortet worden. Am 15. Mai 1776 hatte der Kongress beschlossen, dass sich die Kolonien neue Regierungen geben sollten „unter der Autorität des Volkes“.286 Zumal in Pennsylvania machte sich Protest breit, dass die Resolution nicht die bestehenden Versammlungen ermächtigt hatte. „In dem Protest gegen die Ermächtigung dieses Hauses, eine neue Regierung zu bilden, beabsichtigen wir nicht, uns gegen die Ausübung der eigentlichen Gewalt zu stellen, die es bisher gewohnt war, sie für die Sicherheit und Zweckmäßigkeit dieser Provinz auszuüben; bis zu dem Zeitpunkt, wenn eine neue Verfassung, ausgehend von und begründet auf ,der Autorität des Volkes‘ schließlich durch einen Provinzialkonvent erstellt wird, der zu diesem Zweck gewählt wird und bis deren eigentliche Funktionsträger und Repräsentanten des Volkes in Übereinstimmung damit gewählt und qualifiziert sind, die Nachfolge diese Hauses zu übernehmen […].“287

Aus Gründen, die tief mit der inneren Lage Pennsylvanias in diesen Monaten verwoben sind, bildete sich umgehend eine politische Bewegung gegen die lokale Elite, die verkündete, dass die verfassungsgebende Gewalt des Volkes allein durch einen Kongress oder Konvent ausgeübt werden könne, der ausschließlich zu diesem Zweck zu wählen sei. In einer Adresse an das pennsylvanische Volk hieß es kategorisch: „Konvente, meine Mitbürger, sind die einzigen geeigneten Körperschaften, Verfassungen zu bilden, und gesetzgebende Versammlungen sind die geeigneten Körperschaften, Gesetze gemäß jener Verfassung zu machen.“288 Der Sicherheitsausschuss des Kreises Worcester, Massachusetts konnte sich dem anschließen und beschloss, „[d]ass ein Staatskongress, gewählt für den alleinigen Zweck, eine Regierungsverfassung zu

286 Pennsylvania Evening Post, 16. Mai 1776, 247. Zur Geschichte dieser Resolution, vgl. Jerrilyn Greene Marston, King and Congress. The Transfer of Political Legitimacy, 1774 – 1776, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1987, 281 – 296; Joseph J. Ellis, American Creation. Triumphs and Tragedies at the Founding of the Republic, New York: Alfred A. Knopf, 2007, 44 – 51. 287 „The Protest of divers of the Inhabitants of this province, in behalf of themselves and others. To the Honorable the Representatives of the province of Pennsylvania“, in: Pennsylvania Evening Post, 21. Mai 1776, 255 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch „To the People“, in: Pennsylvania Packet, 24. Juni 1776, 2. 288 The Alarm: or, An Address to the People of Pennsylvania, On the late Resolve of Congress, for totally suppressing all Power and Authority derived from the Crown of GreatBritain, [Philadelphia 1776], 3.

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bilden, ist (nach Meinung dieses Konvents) dafür berechtigter als ein Repräsentantenhaus“.289 Die Gründe, warum ein Konvent besser qualifiziert sei als eine Legislative, eine Verfassung zu entwerfen, wurden am prägnantesten in dem erwähnten Beschluss von Concord dargelegt: „2. Beschlossen, dass die höchste Legislative sowohl in ihrer eigentlichen Funktion als auch als gemeinsamer Ausschuss auf keinen Fall der richtige Körper ist, eine Verfassung zu bilden und einzuführen oder eine Regierung zu bilden aus den folgenden Gründen. […] 2. Weil derselbe Körper, der eine Verfassung bildet, folglich auch die Macht hat, sie zu ändern. 3. Weil eine von der höchsten Legislative veränderbare Verfassung dem Untertan überhaupt keine Sicherheit gegen Eingriffe seitens der Regierung in irgendeines oder alle seine Rechte und Privilegien bietet. 3. Beschlossen, dass es dieser Stadt höchst notwendig und angebracht erscheint, dass ein Konvent oder Kongress sogleich von den Einwohnern der entsprechenden Städte dieses Staates, die frei und 21 Jahre und älter sind, in dem Verhältnis wie früher die Repräsentanten dieses Staates gewählt wurden, gewählt wird, eine Verfassung zu bilden und einzuführen; der Konvent oder Kongress soll nicht aus einer größeren Zahl als das Repräsentantenhaus dieses Staates bestehen, außer dass jede Stadt und Distrikt die Freiheit haben soll, einen Repräsentanten zu senden oder was den Einwohnern dieses Staates im allgemeinen geziemt. – 4. Beschlossen, dass, wenn der Konvent oder Kongress eine Verfassung gebildet hat, er sich für kurze Zeit vertagt und seine vorgeschlagene Verfassung für die Begutachtung und Anmerkungen der Einwohner dieses Staats veröffentlicht.“290

Diese Definition eines Verfassungskonvents – eine wesentliche Weiterentwicklung des englischen Parlamentskonvents (Convention Parliament) von 1660 – 61 bzw. 1689 – enthielt bereits nahezu alle entscheidenden Elemente, die John Alexander Jameson fast einhundert Jahre später dieser Institution zuschreiben sollte.291 In dieser Form wurde es zu einer genuinen amerikanischen Institution, und die erste Verfassung, die nach dem Concord Modell entworfen wurde, war die von Massachusetts von1780.292 Das Schreiben von Verfassungen war mit der amerikanischen Unabhängigkeit eine Notwendigkeit geworden. Im weiteren Sinne des Verfassungsrechts war dies Teil der Amendierungsgewalt, einem vitalen Problem einer jeden Verfassung. Verfassungen, die es versäumt hatten, hier eine adäquate oder überhaupt eine Lösung anzubieten, fanden normalerweise ein gewaltsames Ende, oft nach nur kurzer Lebensdauer, so dass James Bryce bekannterweise Verfassungen in flexible und rigide 289

„At a meeting of the Committees of Safety &c. From a majority of the Towns in the County of Worcester, held by adjournment, at the Court House in said Worcester. November 26, 1776“, in: Massachusetts Spy, 4. Dezember 1776, 2. 290 The Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 152 – 153. Die oben zitierte Verfassungsdefinition ist hier ausgelassen. 291 John Alexander Jameson, A Treatise on the Principles of American Constitutional Law and Legislation: The Constitutional Convention; Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Myers, 21869 (Ndr. Littleton, Co.: Fred B. Rothman, 1981). 292 Zur Konventsidee vgl. unten Kap. IV. 2., VI. 9. und VII. 2.

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Verfassungen einteilte, je nach dem Schwierigkeitsgrad ihrer Veränderbarkeit.293 Das britische Modell der flexiblen Verfassung sollte jedoch in Amerika nicht wiederholt werden, wo der „Gouverneur und eine große Mehrheit der Versammlung“ darüber entschieden, ob eine Verfassung geändert oder verbessert werden sollte. Dem entgegen standen laut Bryce jene Verfassungen, die „nicht geändert werden sollten, wann immer eine Versammlung zu solchen Maßnahmen durch Stolz oder Leidenschaft oder Käuflichkeit und Korruption gedrängt wurde“.294 Wenn daher die Verfassung nicht den Auffassungen des Volkes entsprach, „hatte dieses die Macht, wann es ihm gefiel, einen neuen Konvent einzuberufen, sie zu ändern und zu verbessern“.295 Die Revisionsgewalt des Volkes traf kaum auf Widerstand, und dass sie mittels Konvente ausgeübt werden sollte, scheint auf verbreitete Zustimmung gestoßen zu sein. Die Frage war jedoch, wann diese Konvente zusammentreten sollten und wer befugt war, sie einzuberufen. Die New Yorker Handwerker machten sich für eine Lösung stark, die nahe an eine permanente Revolution herankam: „Aber die freie Ratifikation durch das Volk wird nicht ausreichend sein, die Einführung rechtmäßig zu machen, sofern sie nicht in ihrer Gesamtheit eine unkontrollierte Macht haben, die Verfassung in derselben Art, wie sie sie empfangen haben, zu ändern. Diese Macht beinhaltet notwendigerweise die Macht jedes Distrikts, hin und wieder seine Deputierten zu Ausschüssen und Kongressen zu erneuern, wenn die Mehrheit dieses Distriktes es für angebracht hält und das ohne Intervention der Exekutive oder einer anderen, dem Körper der entsprechend Gewählten fremden Macht.“296

Eine weniger radikale Position nahm „Demophilus“ ein: „Denn da die Verfassung die Autorität der Legislative begrenzt; falls jedoch die Legislative die Verfassung ändern könnte, kann sie sich Grenzen setzen, wie es ihr beliebt. – Daher sollte es sein, ich darf es wiederholen, dass, nachdem der bevorstehende Konvent zusammengetreten ist und die großen Linien der Verfassung festgelegt hat, die Legislative mit den Angelegenheiten der Regierung fortfährt ohne merkliche Abweichung von der offenkundigen Bedeutung ihrer Arbeit; und welche Unannehmlichkeiten auch immer sich als unvorhergesehen herausstellen, mögen sie ehrlich der Öffentlichkeit angezeigt und von einem anderen Konvent verbessert werden […] Wahrscheinlich würde ein Delegiertentreffen alle zehn Jahre, um den Zustand der Verfassung und das Verhalten der Regierung zu überprüfen, keine unkluge Bestimmung sein, um die Verfassung in Gesundheit und Kraft zu erhalten, indem es die Gelegenheit bietet festzustellen, dass sie von ihren Grundlagen nicht abge-

293 James Bryce, „Flexible and Rigid Constitutions“, in: ders., Constitutions, New York u. London: Oxford University Press, 1905 (Ndr. Aalen: Scientia, 1980), 3 – 94. 294 „A Real Friend to the Christian Religion“, „To the Printer of the Pennsylvania Packet“, in: Pennsylvania Packet, 29. Oktober 1776, 2. 295 Pennsylvania Evening Post, 24. Oktober 1776, 531. 296 „The respectful Address of the Mechanics in Union, for the City and County of NewYork, represented by their General Committee“, in: New-York Gazette, 17. Juni 1776, 3.

1. Die Herausbildung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus

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wichen ist. Dies würde die oberste Gewalt wirksam in ihrem einzigen sicheren Verwahrungsort halten, den Händen des Volkes.“297

Auch wenn letzteres Zitat wie eine Vorlage für die Verfassung von Pennsylvania erscheinen mag, machen die unterschiedlichen Auffassungen doch deutlich, wie umstritten 1776 noch zahlreiche Details der Ausgestaltung von Verfassungen waren, so dass noch weitere Jahre der Diskussion und der praktischen Erfahrung notwendig waren, um den modernen Konstitutionalismus in Form zu bringen. Auch wenn das Konventsmodell ein zentrales Element des amerikanischen Verständnisses von „Verfassung“ wurde, blieb es in manchen Staaten bis heute heftig umstritten, und für Revisionen der amerikanischen Bundesverfassung ist es, obwohl die Möglichkeit besteht, in 230 Jahren nie angewandt worden. Wie in Kap. I. 1. dargelegt, trat der moderne Konstitutionalismus mit der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 mit seinen zehn Prinzipien ins Leben. Von diesen zehn Prinzipien wurden acht in der amerikanischen Auseinandersetzung mit der britischen Verfassung in den Jahren von 1763 bis 1776 intensiv diskutiert. Politische Verantwortlichkeit und richterliche Unabhängigkeit spielten in diesen Diskussionen zwar ebenfalls eine Rolle, wurden aber deutlich seltener mit „Verfassung“ in Verbindung gebracht, sondern eher mit dem Gouverneur und anderen Amtsträgern bzw. mit dem Geschworenenprozess, den Admiralitätsgerichten und anderen Tribunalen. Dass beide Begriffe keinen zentralen Platz in der Verfassungsdiskussion dieser Jahre fanden, sollte nicht ohne Folgen bleiben. Die Jahre von 1763 bis 1776 machen deutlich, wie grundlegend diese Periode mit ihren anhaltenden und sich ständig ausweitenden Diskussionen um „Verfassung“, ausgehend von der britischen Verfassung, für die Entstehung des modernen Konstitutionalismus und seine Inhalte ist, so dass ohne eine ausführliche Betrachtung dieser Diskussion letzteres gar nicht zu verstehen ist. Darin liegt verfassungsgeschichtlich die herausragende Bedeutung dieser Epoche. Es schießt daher über das Ziel hinaus, behaupten zu wollen, es hätte 1776 eine „amerikanische Theorie des Konstitutionalismus“ gegeben.298 Rückblickend lässt sich zwar feststellen, dass die Verfassungsdiskussion der Jahre 1763 – 1776 zur Herausbildung der Grundzüge des modernen Konstitutionalismus geführt hat. Doch präsentierten sich diese im Frühjahr 1776 noch keineswegs als in sich geschlossenes System. Es war eher einem Puzzle vergleichbar, das auf George Mason wartete für den ersten Versuch, es zu297 „Demophilus“, The genuine Principles of the ancient Saxon, or English Constitution, 35, 38. Die Identität von „Demophilus“ ist umstritten. H. Trevor Colbourn (The Lamp of Experience, 191) vermutet, es könnte George Bryan sein. Donald S. Lutz (American Political Writing, hrg. v. Hyneman und Lutz, I, 340; Lutz, Popular Consent and Popular Control, 133) und Marc W. Kruman (Between Authority & Liberty, 55) neigen dazu, Colbourn zu folgen. Joseph S. Foster (In Pursuit of Equal Liberty: George Bryan and the Revolution in Pennsylvania, University Park, Pa.: Pennsylvania State University Press, 1994, 80) und Thomas W. Clark (Virtuous Democrats, Liberal Aristocrats: Political Discourse and the Pennsylvania Constitution, 1776 – 1790, Diss phil. Frankfurt am Main 2001, 160, 281 – 285) haben starke Zweifel. 298 Kruman, Between Authority & Liberty, 7.

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III. Nordamerika

sammenzufügen. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt war es noch keineswegs ein fertiges und allseits akzeptiertes System. Unbestritten war 1776 gewiss, dass eine Verfassung, entsprechend dem eigenen Verständnis der britischen Verfassung, auf Prinzipien beruhen musste und dass eine Verfassung, anders als die britische, ein schriftlich fixiertes Dokument sein sollte, das allerdings aus zwei Teilen bestehen konnte, obgleich diese Zweiteilung ab 1777 bereits wieder aufgegeben wurde. Was genau diese Prinzipien zur Sicherung von Rechten und Freiheit waren, war jedoch noch längst nicht ausdiskutiert. Allerdings war ebenso unstrittig, dass das Volk, und nur das Volk, legitimiert war, eine Verfassung zu geben und diese auch notfalls zu revidieren. Das galt als Ausdruck der Volkssouveränität. Wo jedoch deren Grenzen lagen, war sowohl innerhalb der politisch-sozialen Elite als auch zwischen ihr und den übrigen Teilen der Bevölkerung durchaus umstritten. Dieser interne Konflikt hatte notwendigerweise Auswirkungen etwa auf die Stellung der repräsentativen Regierung, die Gewaltentrennung, die Unabhängigkeit der Justiz und berührte auch die Frage der Suprematie der Verfassung selbst. Hingegen waren Menschenrechte, zumindest pauschal in der Theorie, ebenso unstrittig wie universelle Prinzipien. Das mochte im Wesentlichen auch für die begrenzte Regierung wie die Verantwortlichkeit der Regierenden gelten, wenngleich in beiden Fällen die konkrete verfassungsrechtliche Umsetzung längst noch nicht ausbuchstabiert war.299 Es erscheint daher eine Verkennung der singulären Bedeutung dieser Verfassungsdiskussion der Jahre 1763 – 1776 zu sein, wenn Gary Nash schreibt: „So begann im Jahre 1776 das epochale Werk, Regierungen einzurichten, mit scharf getrennten Ansichten der führenden Staatsmänner der revolutionären Bewegung.“300 Die Gründe für diese Fehleinschätzungen liegen in der mangelnden sorgfältigen Untersuchung des Verfassungsdiskussion einer Zeit, die bislang vorranging unter dem Aspekt des politischen Konflikts mit dem Mutterland betrachtet wurde, ohne der Metaebene des Verfassungsdiskurses die ihr gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei erweist sich die britische Verfassung als Folie für die Zeitgenossen, wie die rückschauende Analyse aufdeckt, als grundlegende Voraussetzung für eine Diskussion, die nicht gegen die britische Verfassung geführt wurde, sondern diese zunehmend so auslegte, wie sie aus amerikanischer Sicht aufgrund ihrer eigenen Bedingungen ausgelegt werden musste. Dass dies letztlich zu Auffassungen führen musste, die auch der wohlmeinendste Brite nicht mehr mitzutragen in der Lage war – Charles Howard McIlwain hatte von „einer Kollision zweier wechselseitig unvereinbarer Interpretationen der britischen Verfassung“ gesprochen301 –, konnte nicht ausbleiben, zumal Blackstone mit der ganzen, ihm eigenen Autorität die Grenzen 299

Vgl. dazu unten allgemein Kap. III. 3. Vgl. Gary B. Nash, The Unknown American Revolution. The Unruly Birth of Democracy and the Struggle to Create America, New York: Viking, 2005, 265. 301 Charles Howard McIlwain, The American Revolution: A Constitutional Interpretation, New York: Macmillan, 1924 (Ndr. Clark, N.J.: Lawbook Exchange, 2005), 5. 300

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bereits deutlich markiert hatte. So war 1776 der Schritt zur eigenen Verfassungsgebung unvermeidlich, doch er zeigte zugleich, auf wie schwankendem Boden man sich noch befand. Und dennoch gelang es, am 12. Juni 1776 in einem mutigen Schritt, die Tür in die Zukunft aufzustoßen.

2. William Blackstone und die Ursprünge des modernen Konstitutionalismus302 Folgt man Stanley Katz wäre die Zuordnung relativ einfach: Die amerikanischen Gründerväter wiesen die Verfassungsideen von William Blackstone zurück, doch nachdem die Revolution vollendet war, griffen sie gerne auf seine Commentaries on the Law of England303 „für das Rechtssystem einer demokratischen Republik“ zurück.304 Eine eingehendere Betrachtung der amerikanischen Verfassungsdiskussion von den 1760er bis in die 1790er Jahre, wie sie hier in den Kap. III. 1. und III. 3. vorgelegt wird, offenbart hingegen, dass die Verfassungsideen Blackstones offensichtlich einen ungleich größeren Eindruck in Amerika hinterließen, als diese pauschale Behauptung von Katz nahelegt und dass viele Amerikaner in diesen Jahrzehnten gerne bereit waren, ihren Verfassungsargumenten mit dem Rückgriff auf Blackstone zusätzliches Gewicht zu verleihen. Dieser Rekurs auf Blackstones Commentaries erscheint in der Tat so grundsätzlich, dass es gerechtfertigt ist, ihm hier in einem eigenen Kapitel ausführlicher nachzugehen. In einem ersten Schritt werde ich mich daher mit der weiten Verbreitung der Commentaries in Amerika beschäftigen, woraufhin in einem zweiten anhand einiger Beispiele das Ausmaß der Themen ausgebreitet wird, in denen man auf Blackstone als Autorität zurückgriff, gefolgt von einigen spezifischen Verfassungsthemen, für die er von Bedeutung war. Ein zweiter Teil wird schließlich vier Prinzipien des modernen Konstitutionalismus gewidmet sein, die so offensichtlich mit ihm verbunden sind, dass es vielfach gar nicht erst erforderlich erschien, seinen Namen ausdrücklich zu erwähnen. 302

Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Blackstone’s Commentaries and the Origins of Modern Constitutionalism“, in: Re-Interpreting Blackstone’s Commentaries. A Seminal Text in National and International Contexts, hrg. v. Wilfrid Prest, Oxford – Portland, OR: Hart, 2014, 199 – 214. Eine frühere Fassung wurde als Vortrag an den Law Schools der Universität von Adelaide und der Monash Universität in Melbourne am 12. bzw. 30. März 2010 gehalten. Mein besonderer Dank gilt Wilf Prest für hilfreiche Kommentare und Anregungen. 303 Dieses grundlegende Werk, nach allgemeiner Überzeugung eines der vier oder fünf bedeutendsten historischen Rechtsbücher Englands, erschien erstmals in 4 Bänden in Oxford: Clarendon Press, 1765 – 1769. Die erste amerikanische Ausgabe, ebenfalls in 4 Bänden erschien in Philadelphia: Robert Bell, 1771 – 1772. Für die Zitate in diesem Kapitel wird, soweit nicht anders vermerkt, die historisch-kritische Ausgabe The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest, 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, zugrunde gelegt. 304 Stanley N. Katz, ,Introduction to Book I‘, in: William Blackstone, Commentaries on the Laws of England. A Facsimile of the First Edition von 1765 – 1769, 4 Bde., Chicago & London: The University of Chicago Press, 1979, I, xii.

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Zunächst mag es angebracht sein, auf die bekannte Bemerkung von Edmund Burke im britischen Parlament hinsichtlich der starken Verbreitung von Blackstones Commentaries in Amerika hinzuweisen.305 Nach der ersten amerikanischen Auflage von 1771 – 72 erschienen weitere Auflagen bis zum Jahrhundertende.306 1803, veröffentlichte St. George Tucker seine amerikanisierte Version als Blackstone’s Commentaries: With Notes of Reference, To the Constitution and Laws, of the Federal Government of the United States; and of the Commonwealth of Virginia in fünf Bänden,307 wobei bereits der Titel Blackstones offensichtliche Verbindung mit dem amerikanischen Verfassungsrecht zum Ausdruck bringt. Als Konsequenz der Popularität Blackstones waren die Commentaries von allen importierten Rechtsbüchern, ohne amerikanische Drucke zu berücksichtigen, im 18. Jahrhundert in privaten amerikanischen Bibliotheken am meisten verbreitet; in fast jeder zweiten fand sich ein Exemplar.308 Man mag getrost annehmen, dass die übrigen sich mit einer amerikanischen Ausgabe begnügten, was auf einer allgemeineren Ebene mit der Feststellung von Max Radin übereinstimmen dürfte: „Ohne Zweifel war Blackstone für viele frühe amerikanische Rechtsanwälte das Common Law, weil sie erst einmal oft gar kein anderes Buch besaßen.“309 Nichts scheint darauf hinzuweisen, dass die Tausende Amerikaner des Revolutionszeitalters und der frühen Republik, die Blackstone studiert hatten, sich tatsächlich auf die subtile Differenzierung von Katz einlassen wollten und säuberlich Verfassungsrecht von Gewohnheitsrecht trennen würden. Wie es scheint, nahmen sie Blackstone und seine Commentaries als Ganzes und verwiesen genauso auf ihn, wenn es um Verfassungsfragen ging. Ein bekanntes Beispiel ist James Otis, der in seiner Vindication of the British Colonies in Antwort auf Martin Howard jr. und dessen Halifax Letter zur Feststellung der Rechte der britischen Kolonien310 vier 305 „Wie ich höre, sind in Amerika nahezu genauso viele Exemplare von Blackstones Commentaries verkauft worden wie in England“: Edmund Burke, „Speech on Conciliation with America“, 22. März 1775, in: The Writings and Speeches of Edmund Burke, hrg. v. Paul Langford, III, Oxford: Clarendon Press, 1996, 123. 306 Charles Warren, A History of the American Bar [1911], New York: Howard Fertig, 1966, 177 – 180; David A. Lockmiller, Sir William Blackstone [1938], Gloucester, MA: Peter Smith, 1970, 170 – 171; Catherine Spicer Eller, The William Blackstone Collection in the Yale Law Library (Yale Law Library Publications, 6), New Haven, CT: Yale University Press, 1938, Ndr. New York: The Lawbook Exchange, 1993, bes. 37 – 58. 307 Philadelphia: William Young Birch and Abraham Small, 1803. 308 Herbert A. Johnson, Imported Eighteenth-Century Law Treatises in American Libraries, 1700 – 1799, Knoxville, TN: The University of Tennessee Press, 1978, 59, und passim. 309 Zit. n. Elizabeth Kelley Bauer, Commentaries on the Constitution, 1790 – 1860, New York: Columbia University Press, 1952 (Ndr. Union, N.J.: The Lawbook Exchange, 1999), 18. Vgl. auch Michael Hoeflich, „American Blackstones“, in: Blackstone and his Commentaries. Biography, Law, History, hrg. v. Wilfrid Prest, Oxford u. Portland, OR: Hart, 2009, 171 – 184. 310 James Otis, A Vindication of the British Colonies, against the Aspersions of the Halifax Gentleman, in His Letter to a Rhode Island Friend [Boston 1765], Ndr. in: Pamphlets of the American Revolution 1750 – 1776, hrg. v. Bernard Bailyn, I, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 1965, 545 – 579. Für den Howard Letter, vgl. ebd., 523 – 544.

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direkte Zitate von Blackstones Analysis of the Laws of England einfügte über die Rechte der Einzelnen,311 über Verfassungsregelungen, um sie „vor gesetzwidrigen Angriffen“ zu bewahren312 und schließlich über das Problem, wie die „höchste Gewalt“ im Staat einzurichten war.313 Das Argument von Otis verdient in unserem Zusammenhang aus drei Gründen besonderes Interesse: 1. Er warf Howard vor, Blackstone misszuverstehen, obwohl Howard Blackstone nicht einmal erwähnt hatte („Der Gentleman scheint diese und andere seiner Unterscheidungen von jener ausgezeichneten, doch sehr schlecht verstandenen Abhandlung entnommen zu haben“314). 2. Gegen Howard verteidigte Otis die Rechte und Freiheiten der Kolonien und ihrer Bewohner mit ausdrücklichem Hinweis auf Blackstone. 3. Die Auseinandersetzung fand statt, bevor sich die Kenntnis vom ersten Band der Commentaries in Amerika verbreitete und bezog sich auf Blackstones Analysis of the Laws of England und unterstreicht damit, dass Blackstones Ansehen in Amerika bereits vor dem ersten Band der Commentaries gefestigt war („Siehe Blackstones akkurate und elegante Analyse der Gesetze Englands“315). Mithin konnten die Commentaries nur Blackstones Autorität noch weiter steigern, und angesichts ihrer großen Verbreitung lässt sich getrost behaupten, dass zumal in den Jahren des entstehenden modernen Konstitutionalismus das Werk vielfach als 311 William Blackstone, An Analysis of the Laws von England. To which is prefixed an Introductory Discourse of the Study of the Laws, Oxford: Printed at the Clarendon Press, 41759, 7: „Die absoluten Rechte der Einzelnen, unter dem Blickwinkel des Landesrechts[, (das Pflichten absoluter Art nicht berücksichtigt)] bilden, was politische oder bürgerliche Rechte genannt wird.“ „Die absoluten [Rechte oder bürgerlichen] Freiheiten der Engländer, wie sie häufig vom Parlament erklärt wurden, sind vor allem drei, das Recht persönlicher Sicherheit, persönliche Freiheit und privates Eigentum.“ Vgl. Otis, Vindication of the British Colonies, 558 (eckige Klammern geben die Auslassungen von Otis an). 312 Blackstone, Analysis of the Laws von England, 8: „Neben diesen drei erstrangigen Rechten gibt es andere, die zweitrangig und untergeordnet sind[; nämlich] (um die ersteren vor ungesetzlichen Angriffen zu bewahren) 1. Die Verfassung und Befugnisse von Parlament[en], 2, Die Begrenzung der königlichen Prärogative – und (um sie wiederherzustellen, wenn tatsächlich verletzt) 3. Die normale [öffentliche] Rechtsprechung, 4. Das Petitionsrecht zur Beseitigung von Bedrückungen, 5. Das Recht zum Tragen und Gebrauch von Waffen zur Selbstverteidigung.“ Vgl. Otis, Vindication of the British Colonies, 558 – 559 (eckige Klammern geben die Auslassungen von Otis an). 313 Blackstone, Analysis of the Laws von England, 2: „In allen Staaten ist [(und muss sein)] eine absolute höchste Gewalt, der das Recht der Gesetzgebung gebührt und die in der einzigartigen Verfassung dieses Königreichs aus König, Ober- und Unterhaus besteht.“ Vgl. Otis, Vindication of the British Colonies, 558 – 559 (eckige Klammern geben die Auslassungen von Otis an). 314 Otis, Vindication of the British Colonies, 559. 315 Ebd. Bereits Gerald Stourzh, „William Blackstone: Teacher of Revolution,“ Ndr. in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien – Köln: Böhlau: 1989, 152 – 153, hatte Bailyns Ansicht korrigiert, dass Otis sich auf die Commentaries bezogen hätte, vgl. Pamphlets of the American Revolution, hrg. v. Bailyn, 546 – 547, 737 – 738.

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wesentliche Argumentationshilfe galt und das sowohl bei jenen, die seine Position teilten als auch bei den Gegnern. Es kann daher weder überraschen, noch erscheint es als Übertreibung, wenn James Madison in dem Virginia Konvent zur Ratifizierung der Bundesverfassung erklärte: „Ich möchte sie auf das Buch verweisen, das in jedermanns Hand ist – Blackstones Commentaries.“316 Wie die Diskussionen in den Ratifizierungskonventen 1787 – 88 unterstreichen, haben wir allen Grund, diese Bemerkung wörtlich zu nehmen. Nicht nur tauchte in ihnen Blackstones Name immer wieder auf, er wurde auch häufig wörtlich zitiert, so dass die Commentaries offensichtlich tatsächlich leicht verfügbar waren.317 Dass Blackstone seinen Platz verdiente, wenn es um Verfassungen ging, war für John Adams selbstverständlich. Als jüngst bestallter Vizepräsident der Vereinigten Staaten hatte er soeben ein Haus außerhalb von New York gemietet und bat seine Frau Abigail um folgende Zusendungen: „Die Bücher, die ich gerne hier hätte, sind Hume, Johnson, Priestley, Ainsworths Wörterbuch und solche weiteren Bücher, die höchst amüsant und nützlich sind. Die großen Werke und Sammlungen würde ich nicht schicken. Aber Blackstone und de Lolme über die englische Verfassung und die Sammlung amerikanischer Verfassungen würde ich schicken lassen.“318

Wenn wir uns in der Folge stärker verfassungsrechtlichen Aspekten zuwenden, muss einschränkend betont werden, dass, um Blackstones Einfluss auf den modernen Konstitutionalismus zu bewerten, hier weder seine Common law Theorien noch die Gesamtheit seiner Verfassungsvorstellungen analysiert werden können. Auch die immer wieder diskutierte Frage, ob sich Blackstone im Einklang mit der britischen Verfassungsrealität seiner Zeit befand, oder ob er nicht doch in dem einen oder anderen Punkt inzwischen überholten Positionen anhing, muss hier unbeantwortet bleiben. Stattdessen wird im Weiteren der Schwerpunkt auf jenen seiner Ideen liegen, 316 The Debates in the Several State Conventions, on the Adoption of the Federal Constitution, as Recommended by the General Convention at Philadelphia, in 1787, hrg. v. Jonathan Elliot [in der Folge zit. als Elliot’s Debates], 5 Bde., Philadelphia: J. B. Lippincott, 1836 – 1845 (Ndr. 1937), III, 501. 317 In den Diskussionen hatten sich offensichtlich beide Seiten mit den Commentaries versorgt. Vgl. dazu die Bemerkung von Wilson: „[D]enn Blackstone hat in eben dem Band, welchen das ehrenwerte Mitglied (Mr. Smilie) zur Hand hat und aus dem er uns mehrere Auszüge verlesen hat, […]“, nur um darauf seinerseits einen Auszug aus Blackstone zu verlesen, Elliot’s Debates, II, 518; erneut abgedruckt in: The Debate on the Constitution: Federalist and Antifederalist Speeches, Articles, and Letters During the Struggle over Ratification, 2 Bde., hrg. v. Bernard Bailyn, New York: The Library of America, 1993, I, 857. 318 Brief von John Adams an Abigail Adams, 24. Mai 1789, in: Adams Family Correspondence, hrg. v. Margaret A. Hogan u. a., VIII, Cambridge, MA u. London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2007, 358. Vermutlich besaß Adams ein Exemplar der ersten amerikanischen Ausgabe der Commentaries, da sich der erste Hinweis auf die Commentaries in seinen Tagebüchern unter dem 7. Juni 1771 findet, als er jemandem im nördlichen Connecticut empfahl, seine aus zwei Büchern bestehende Rechtsbibliothek um dieses Werk zu erweitern, Diary and Autobiography of John Adams, hrg. v. L. H. Butterfield, II, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 1961, 27.

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die als Beitrag zur Bedeutung und zum Wesen des modernen Konstitutionalismus verstanden werden können.319 Ganz gleich, ob es um eine Rechteerklärung ging, „um (wie Dr. Blackstone es nennt) jenes Residuum der Menschenrechte zu sichern, die eine Gesellschaft nicht aufgeben soll“, oder sehr viel spezifischer um den Geschworenenprozess, war es doch stets angemessen, den Auffassungen Blackstones Beachtung zu schenken.320 Zumal Blackstones Ausführungen zum Geschworenenprozess, „so oft zitiert“, galt es zu bedenken mit Blick auf „die überragenden Vorzüge dieses Verfahrens“ und „seine Unverzichtbarkeit für die Bewahrung der Freiheit“. „Die Auffassung dieses gelehrten Autors ist eindringlicher und zwingender,“ so Patrick Henry, „als alles, was ich sagen könnte“.321 In seiner heftigen Kritik an Wilson hatte Samuel Bryan im Oktober 1787 ähnlich argumentiert,322 während Elbridge Gerry unter Berufung auf Blackstone lautstark beklagte, dass in Zivilrechtsfällen „dieses unschätzbare Privileg in Amerika aufgegeben werden solle“.323 Eingehendere Betrachtungen der Commentaries konnten jedoch auch zu dem Ergebnis führen, dass Blackstones Position in dem einen oder anderen Fall ausge319 Dieser Ansatz unterscheidet sich ohne Frage von dem, um das es Gerald Stourzh 1970 ging, als er Blackstones Beitrag zum Denken der amerikanischen Revolution untersuchte, in ders, „William Blackstone: Teacher of Revolution,“ 137 – 153. Dennoch ist Stourzhs Arbeit ein willkommener Beleg für die konkrete Aufnahme von Blackstones Ideen, ohne ihn dabei stets ausdrücklich zu erwähnen. 320 Brief von Richard Henry Lee an Edmund Randolph, 16. Oktober 1787, in: Elliot’s Debates, I, 503 – 504; auch in: Letters of Delegates to Congress, 1774 – 1789, hrg. v. Paul H. Smith, Washington, D.C.: Library of Congress, 1976 – 2000, XXIV, 482 – 483. Der Brief erschien erneut mit leichten Modifikationen in der Virginia Gazette (Petersburg), 6. Dezember 1787, Ndr. in: The Debate on the Constitution, hrg. v. Bailyn, I, 467. 321 Elliot’s Debates, III, 544. 322 In: Freeman’s Journal (Philadelphia), 24. Oktober 1787 („Reply to Wilson’s Speech: ,Centinel‘ II“), Ndr. in: The Debate on the Constitution, hrg. v. Bailyn, I, 84, ähnlich „Theophrastus“, A Short History of the Trial by Jury, Ndr. in: American Political Writing during the Founding Era, 1760 – 1805, hrg. v. Charles S. Hyneman und Donald S. Lutz, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Press, 1983, I, bes. 698. 323 [Elbridge Gerry,] Observations on the new Constitution, and on the Federal and State Convention [1788], Ndr. in: Pamphlets on the Constitution of the United States, Published during Its Discussion by the People, 1787 – 1788, hrg. v. Paul Leicester Ford, Brooklyn, N.Y.: [o.N.], 1888 [Ndr. New York: Da Capo Press, 1968], 10. Vgl. ähnlich Samuel Bryan in Pennsylvania Packet, 18. Dezember 1787: „Wir verabscheuen die Idee, das überragende Privileg des Geschworenenprozesses zu verlieren, mit dessen Verlust, wie derselbe gelehrte Autor [Blackstone], bemerkte, in Schweden die Freiheiten des Unterhauses durch einen aristokratischen Senat ausgelöscht wurden: und dass Geschworenenprozess und Freiheit des Volkes zusammen verschwanden“ (Ndr. in: Federalists and Antifederalists: The Debate Over the Ratification of the Constitution, hrg. v. John P. Kaminski und Richard Leffler, Madison, WI: Madison House, 21998, 135). Der letztere Teil wurde erneut mit Hinweis auf Blackstone und „seine ausgezeichneten Kommentare über die Gesetze Englands“ zitiert von Mercy Otis Warren, History of the Rise, Progress and Termination of the American Revolution, interspersed with Biographical, Political and Moral Observations [1805], hrg. v. Lester H. Cohen, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Classics, 1988, II, 630.

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weitet werden sollte. Gesetze mit rückwirkender Geltung (ex post facto Gesetze), wie Blackstone es tat, allein für Strafgesetze auszuschließen, nicht jedoch im Zivilrecht, setzte letzteres nach Ansicht von John Dickinson unnötigem staatlichen Einfluss aus, so „dass einige weitere Bestimmungen zu diesem Zweck erforderlich sind“.324 Hingegen griff Hamilton im Federalist Nr. 84 Blackstones Einstellung zu willkürlichen Verhaftungen auf und führte das Habeas Corpus Gesetz an, das Blackstone als „das Bollwerk der britischen Verfassung“ bezeichnet habe.325 Menschenrechte waren ein Bereich, für den die Commentaries Argumente liefern konnten. Ein anderer war Macht allgemein und insbesondere die Befugnisse von Exekutive und Legislative. Aber selbst in Kernfragen wie politische Rechte, begrenzte Regierung und Souveränität, die so fundamental für die Struktur eines Bundesstaates waren, ließ sich Blackstone zustimmend anführen. Joseph Story hatte dies in seinen Commentaries on the Constitution getan, aus denen Elliot die folgende Passage in seinen Debates zitierte: „In demselben Sinne sagt Blackstone, ,das Gesetz misst dem König von England die Attribute von Souveränität und Vorrang bei‘, weil er in Hinsicht auf die ihm anvertrauten Befugnisse von niemandem abhängig und keinem verantwortlich und keiner übergeordneten Rechtsprechung unterworfen ist. Und dennoch kann der König von England kein Gesetz machen; und seine Taten, jenseits der Befugnisse, die ihm die Verfassung zugeschrieben hat, sind völlig nichtig.“326

Es klingt, als würden die Worte von John Marshall in McCulloch v. Maryland in Richter Storys Ohren nachhallen: „[D]ie Regierung der Union, obgleich begrenzt in ihren Befugnissen, ist unangefochten innerhalb ihres Handlungsbereiches.“327 In dem Ratifizierungskonvent von Virginia führte die Diskussion über die Macht von Exekutive und Legislative zur Frage der Befugnis, Verträge abzuschließen, bei der wiederum eine Reihe von Rednern sich auf Blackstone zur Unterstützung ihrer Argumente beriefen. Während die Verfassungsbefürworter Blackstone zur Verteidigung ihrer Ansichten bemühten, fühlten sich die Gegner der Verfassung, die AntiFederalists, kaum weniger durch Blackstone in ihren Ansichten bestärkt, wie Patrick Henry mit seiner Auffassung deutlich machte, die Joseph Story laut obigem Zitat einige Jahrzehnte später erneut aufgriff: „Ich frage, wie sind die Rechte der Staaten, die Rechte der Einzelnen, die Rechte der Nation gesichert? Nicht wie in England; denn die Autorität, zitiert von Blackstone, würde, falls sie richtig wiedergegeben ist, in tausend Fällen beweisen, dass, falls der König von England es 324 Elliot’s Debates, V, 488. Mercy Otis Warren („A Columbian Patriot“) vertrat eine ähnliche Auffassung in ihren „Observations on the Constitution“, Ndr. in: The Debate on the Constitution, hrg. v. Bailyn, II, 290 – 291. 325 The Federalist, hrg. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 577. Vgl. Blackstone, Commentaries, IV, 282, „jenes große Bollwerk unserer Verfassung, das Habeas Corpus Gesetz“. 326 Elliot’s Debates, I, 64. 327 4 Wheaton 316 (1819), 405.

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unternehmen sollte, die Rechte der Einzelnen zu kassieren, das Gesetz ihm entgegenstehen würde. Die Gesetze des Parlaments ständen ihm im Weg. Die Bill und Declaration of Rights wären gegen ihn. Das Common Law ist gestärkt durch die Bill of Rights. Die Rechte des Volkes können nicht zerstört werden.“

Er fasste zusammen, „dass es wirkliche Verantwortlichkeit in dem britischen Regierungssystem gibt und hinreichende Sicherheit durch das Common Law, Declaration of Rights usw., während es in diesem Regierungssystem keine Barriere gibt, seinen wahnsinnigen Lauf aufzuhalten. Er hoffe, jene Verfassungszusätze zu erreichen, die sein ehrenwerter Freund vorgeschlagen hat.“328 Was immer der Wert dieses Arguments war, das Madison vehement zurückwies, wurde ein Muster offenkundig: Jedes Mal, wenn die Diskussion zur britischen Verfassung führte, gleich ob zustimmend oder ablehnend, erschienen es sicher, sich zur Stützung der eigenen Argumente auf Blackstone zu berufen, da man davon ausgehen konnte, dass jeder mit den Commentaries vertraut war.329 Nicht jeder ließ sich in eine dieser Kategorien einordnen, und einige lehnten Blackstone aus Prinzip ab, darunter James Wilson, der ihn als „einen antirepublikanischen Juristen“ einordnete.330 Politische Verantwortlichkeit sei kein Kennzeichen des britischen Systems laut Wilson, sondern eher das Gegenteil: „Sir William Blackstone wird ihnen erzählen, dass in Großbritannien die Macht im Parlament konzentriert ist, doch das Parlament kann die Regierungsform verändern, und seine Macht ist absolut und ohne Kontrolle. Die Idee einer Verfassung, die die Handlungen der legislativen Macht begrenzt und überwacht, scheint in Großbritannien nicht richtig verstanden worden zu sein.“331

Archibald Maclaine aus North Carolina scheint diese Auffassungen geteilt zu haben332 und bis zu einem gewissen Grad ebenso Alexander Hamilton, wenngleich er nicht so radikal wie Wilson in seiner Zurückweisung Blackstones gewesen war. Vielmehr erschien ihm, dass einige der Argumente, die die Amerikaner gegen Blackstone vorbrachten, genauso gut von einigen der Staaten gegen die anderen

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Elliot’s Debates, III, 513, 514, vgl. insgesamt, 506 – 514. Vgl. „,A Freeman‘ to the Freeholders and Freemen of Rhode Island“, in: Newport Herald, 20. März 1788, Ndr. in: The Debate on the Constitution, hrg. V. Bailyn, II, 368 – 371, der Bestimmungen der vorgeschlagenen Bundesverfassung jenen der britischen Verfassung gegenüberstellte, die er „unvoreingenommen von dem gefeierten Richter Blackstone ausgewählt habe“ (ebd., 368). 330 James Wilson, „Lectures on Law“, in: The Works of James Wilson, hrg. V. Robert Green McCloskey, 2 Bde., Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 1967, I, 79. Bezüglich Wilsons kritischer Einstellung gegenüber Blackstone im Kap. V seines On Municipal Law aus der Mitte der 1790er Jahre, vgl. den Ndr. in: American Political Writing during the Founding Era, hrg. V. Hyneman und Lutz, I, 1264 – 1298. 331 Elliot’s Debates, II, 432. Vgl. auch die Bemerkungen von Wilson vom 24. November 1787, als Ndr. in: The Debate on the Constitution, hrg. v. Bailyn, I, 801. 332 Elliot’s Debates, IV, 63. 329

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genutzt werden konnten,333 wohingegen er ein Jahr später im Federalist Blackstone zustimmend für den verfassungsmäßigen Schutz der Rechte der Bürger zitierte.334 Blackstone war ebenso in den Jahren 1787 – 88 eine Autorität in Verfassungsfragen, mit der man übereinstimmen mochte oder nicht, wie er es in der Zeit des sich verschärfenden Konflikts mit Großbritannien rund 15 – 20 Jahre zuvor gewesen war. Als Großbritannien in der Reaktion auf die Boston Tea Party den Freibrief von Massachusetts aufhob und versuchte, die Kolonie mit einem königlichen Gouverneur und einem unterwürfigen Rat zu regieren, schien es angebracht, die amerikanische Opposition an Blackstone zu erinnern: „Ich möchte Sie vor allem an den gelehrten Autor der Kommentare über die Gesetze Englands in Bezug auf die Grundlagen erinnern, die ich Ihnen für Ihre Beratschlagungen nahelegen möchte, eine Autorität, die Sie kaum geneigt sein dürften, in Frage zu stellen.“335 Der Autor zitierte wiederholt Blackstone direkt, unter anderem mit seinem bekannten Ausspruch: „In einem freien Staat sollte jeder Mann, der als unabhängig gilt, in einer gewissen Weise sein eigener Herrscher sein; und daher sollte wenigstens ein Zweig der gesetzgebenden Macht im ganzen Körper des Volkes liegen.“336 Die daraus abzuleitenden Folgerungen waren offensichtlich: Amerikas Freiheit wäre vorbei, sollte das Volk von seiner Regierung ausgeschlossen sein,337 oder wie es John Adams einige Jahre später sagen würde, „es gibt keine verfassungsmäßige Freiheit, keinen freien Staat, keine rechte Verfassung eines Gemeinwesens, wo das Volk von der Regierung ausgeschlossen ist“.338 Aus praktisch den gleichen Gründen verwies John McKenzie Ende der 1760er Jahre auf Blackstone339 und lieferte damit ein erstes Beispiel dafür, dass es ausreichte, Blackstones Ideen wiederzugeben, ohne ihn direkt zitieren zu müssen, und man dennoch sicher sein konnte, dass das Argument und sein Gewicht verstanden wurden. Diese subtile Infiltration und Verankerung der Ideen Blackstones im allgemeinen Bewusstsein veranlasste David A. Lockmiller zu der Feststellung: „Als der Verfassungskonvent 1787 in Philadelphia zusammentrat, waren die meisten seiner Mitglieder vertraut mit und zweifellos weitgehend beeinflusst von Blackstones Analyse des 333 The Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Max Farrand, 3 Bde., New Haven: Yale University Press, 1911, I, 472 – 473. 334 Vgl. Federalist, hrg. v. Cooke, 577. 335 „Monitor“, To the New Appointed Councellors, of the Province of Massachusetts-Bay [Boston, 1774], Ndr. in: American Political Writing during the Founding Era, hrg. v. Hyneman und Lutz, I, 277 – 278. 336 Blackstone, Commentaries, 106. Vgl. „Monitor“, To the New Appointed Councellors, 278. 337 Vgl. „Monitor“, To the New Appointed Councellors, 277 – 280. 338 John Adams, A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America, Against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated the Twenty-second Day of March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: Printed by Budd and Bartram, 31797 [Ndr. Aalen: Scientia, 1979], III, 361; vgl. auch ebd., I, x. 339 Vgl. Stourzh, „William Blackstone: Teacher of Revolution“, 140 – 145.

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englischen Regierungssystems. Verfassungsbegriffe wie ,Verbrechen und Vergehen‘ (crimes and misdemeanors), rückwirkende Gesetze (ex post fact laws), rechtsprechende Gewalt (judicial power), ordentliches Gerichtsverfahren (due process), Krieg führen (levying war) wurden in dem Sinne benutzt, wie sie Blackstone verwandt hatte. In ähnlicher Weise waren die meisten der frühen Staatsverfassungen von den Commentaries beeinflusst, und diese wiederum wurden teilweise von den neueren Staaten der Union kopiert.“340

Ein einschlägiges Beispiel für diese Infiltration Blackstonescher Ideen ist Art. II, Abs. 2,1 der Bundesverfassung über das Gnadenrecht des Präsidenten, „außer in Fällen eines Amtsenthebungsverfahrens“,341 eine Bestimmung, die zuvor lediglich in den Verfassungen von Pennsylvania von 1776,342 Vermont 1777 und 1786343 und Massachusetts von 1780344 sowie in den fehlgeschlagenen Verfassungen von New Hampshire von 1781 und 1782 und der angenommenen von 1784345 erschienen war. Diese Bestimmung entsprach dem, was Blackstone bereits in der ersten Auflage seiner Commentaries geschrieben hatte: „[I]n parlamentarischen Amtsenthebungsverfahren hat der König keine Prärogative der Gnadengewährung.“346 Obgleich diese Bestimmung in der ersten amerikanischen Ausgabe fehlte,347 ist es vielleicht bedeutsamer, dass, als dieses Problem erstmals in dem Bundeskonvent diskutiert wurde, sich dazu in den Anmerkungen die Bemerkung fand, „[…] seine Begnadigung soll jedoch nicht erbeten werden bei einem Amtsenthebungsverfahren“,348 was nach einer wörtlichen Übernahme von Blackstone klingt: „[D]ass keine Begnadigung unter dem Großen Siegel erbeten werden soll bei einem Amtsenthebungsverfahren durch das Unterhaus“.349 Dieses stillschweigende Zurückgreifen auf Blackstone scheint auch bei Hamiltons Argument im Federalist Nr. 69 noch durch,350 auch wenn es der Tatsache geschuldet war, dass die Verfassung von New York von 1777 keine entsprechende Begrenzung kannte.351 Wir können es bei diesen wenigen Beispielen belassen und uns nunmehr dem zweiten Teil zuwenden. Blackstones Sprache hatte nicht nur die frühen amerikanischen Verfassungen, einschließlich der Bundesverfassung infiltriert. Sein Einfluss auf den sich herausbildenden modernen Konstitutionalismus ging weit über se340

Lockmiller, Blackstone, 174. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin u. Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, I, 57. 342 Ebd., V, 334. 343 Ebd., VII, 16, 29. 344 Ebd., IV, 30. 345 Ebd., 334, 351, 369. 346 Blackstone, Commentaries, I, 173. 347 Vgl. Blackstone, Commentaries, Philadelphia 1771 – 1772, I, 269. 348 Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, II, 146. 349 Blackstone, Commentaries, IV, 171. Blackstone hatte die Formulierung nahezu wörtlich aus dem Act of Settlement von 1701 übernommen, 12 and 13 Will. III c. 2. 350 Vgl. Federalist, hrg. v. Cooke, 466. 351 Vgl. Blackstone, Commentaries, IV, 257. 341

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mantische Auffälligkeiten hinaus und war damit wesentlich bedeutsamer als bislang angenommen. Tatsächlich ist er eindeutig nachweisbar bei Kernprinzipien des modernen Konstitutionalismus wie Menschenrechte, Gewaltentrennung, Unabhängigkeit der Justiz und universellen Prinzipien, deren heutige Inhalte in wesentlichen Teilen Blackstone zuzuschreiben sind. Als die Amerikaner 1776 ihre ersten Rechteerklärungen in Virginia, Delaware, Pennsylvania, Maryland und North Carolina annahmen, denen in den folgenden Jahren weitere Staaten folgten bis zum Bill of Rights, die 1791 der Bundesverfassung angefügt wurde, war darin mehr ausgedrückt als ein Wiederaufgreifen des Beispiels der Glorreichen Revolution und ihrer Bill of Rights.352 Von dieser Rechtssetzung, die die Macht des Monarchen begrenzte und wesentliche politische Entscheidungen dem Parlament übertrug, gingen die Amerikaner einen entscheidenden Schritt weiter zu einem eingehegten Grundsatzkatalog, der die zentralen Prinzipien der Verfassung festlegte und die von Naturrecht und Vernunft diktierten wesentlichen Rechte der Menschen. Einige dieser Ideen hatte Blackstone in seinen Commentaries entwickelt, in denen er in allgemeinen Worten, die die Amerikaner gerne aufgriffen, erklärte, dass „es das Hauptziel der Gesellschaft ist, den Einzelnen im Genuss jener absoluten Rechte zu schützen, die ihm dank der unveränderlichen Naturgesetze verliehen sind“.353 Es waren keine vom Staat gewährten Privilegien, sondern „jenes Residuum natürlicher Freiheit, von dem die Gesetze der Gesellschaft nicht verlangen können, es dem öffentlichen Nutzen zu opfern“.354 Diese Freiheit kann allein „durch die Torheit oder Schwäche […] der Gesetzgebung verloren gehen oder zerstört werden“.355 Daher schlossen einige amerikanische Verfassungen ihre Rechteerklärung mit der Bestimmung: „Um Übertretungen dieser von uns delegierten hohen Befugnisse zu verhüten, erklären wir, dass alles in diesem Artikel den allgemeinen Befugnissen der Regierung entzogen ist und für immer unverletzt bleiben soll.“356 Wenn Amerikaner im ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in erhabener Weise von diesen Rechten sprachen, zum Beispiel als „gewissen natürlichen inhärenten und unveräußerlichen Rechten“357 oder „gewissen natürlichen 352 Zur Bedeutung der Glorreichen Revolution für die Entwicklung des amerikanischen Verfassungsdenkens in den Jahren 1763 – 1776, vgl. Kap. III. 1. Zu den amerikanischen Menschenrechtserklärungen, vgl. Kap. III. 3. und III. 7. 353 Blackstone, Commentaries, I, 84. 354 Ebd., 87. 355 Ebd., 86. 356 Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 26, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 369. Die Bestimmung findet sich hier erstmals. In der Folge wurde sie von zahlreichen Einzelstaatsverfassungen übernommen bis zur Verfassung von Texas von 1845. Vor dem Bürgerkrieg erschien sie zum letzten Mal in der Lecompton Verfassung von Kansas von 1857. 357 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. I, Abs. 1 (ebd., V, 321), von Vermont von 1777, von 1786 und von 1793, jeweils Kap. I, Abs. 1 (ebd., VII, 11, 25, 39), fehlgeschlagene amerikanische Verfassung von New Ireland von 1780, Rechteerklärung, Abs. 1 (ebd., V, 13),

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wesentlichen und unveräußerlichen Rechten“358 oder „gewissen unveräußerlichen Rechten“359 oder „gewissen inhärenten und unantastbaren Rechten“,360 dann spiegelten sich darin Blackstones Überzeugungen wider. Denn schließlich hatte er mehr als andere auf der Feststellung der Menschenrechte bestanden und sie ebenso wie die Amerikaner ab 1776 nach ihm als natürliche statt gewährte Rechte eingestuft, als „die unauflöslichen Rechte der Menschheit“, die er verband mit „den Diktaten der Wahrheit und Gerechtigkeit, den Empfindungen der Humanität“.361 Selbst wenn Blackstone als Philosoph gegenüber Aristoteles, James Harrington, John Milton, Algernon Sidney, John Locke oder Montesquieu zurückgestanden haben mag, drang sein Vertrauen auf historische Erfahrung und das allgemeine Rechtsdenken in das amerikanische politische Glaubensbekenntnis ein und damit letztlich in den modernen Konstitutionalismus, gemeinsam mit seinem Insistieren auf den Rechten des Menschen als seinen natürlichen Besitz, die gegen die Eingriffe der Mächtigen festgestellt und geschützt werden müssen.362 Im Kontext des modernen Konstitutionalismus war Blackstone kaum weniger einflussreich bezogen auf jenes Prinzip, das allgemein als Gewaltentrennung bezeichnet und in seiner klassischen Form mehr oder weniger ausschließlich Montesquieu zugeschrieben wird. Doch im Gegensatz zu Montesquieu war es Blackstone, der dieses Prinzip um den Gedanken der checks and balances erweiterte.363 von Ohio von 1802, Art. VIII, Abs. 1 (ebd., V, 200), von Indiana von 1816, Art. I, Abs. 1 (ebd., II, 173) und von Maine von 1819, Art. I, Abs. 1 (ebd., III, 203). 358 Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. I, Art. I (ebd., IV, 19) und fehlgeschlagene Verfassung von Massachusetts von 1853, Rechteerklärung, Art. 1 (ebd., IV, 63). 359 Verfassung von New York von 1777, Präambel (ebd., V, 82), fehlgeschlagene Verfassung von Iowa von 1844, Art. II, Abs. 1 (ebd., II, 239), Verfassung von Iowa von 1846, Art. II, Abs. 1 (ebd., II, 255) und von Indiana von 1851, Art. I, Abs. 1 (ebd., II, 191). Die fehlgeschlagene Verfassung von New Hampshire von 1779, Rechteerklärung, Abs. 5 benutzte die Formulierung „natürliche, unveräußerliche Rechte“ (ebd., IV, 317), während in der Verfassung von New Jersey von 1844, Art. I, Abs. 1 von „gewissen natürlichen und unveräußerlichen Rechten“ die Rede war (ebd., V, 33). 360 Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 1 (ebd., V, 364 – 365). Dieselbe Wortwahl wurde gebraucht in den Verfassungen von Illinois von 1818, Art. VIII, Abs. 1 (ebd., II, 130), von 1848, Art. XIII, Abs. 1 (ebd., II, 163), von Pennsylvania von 1838, Art. IX, Abs. 1 (ebd., V, 399) und von Florida von 1839, Art. I, Abs. 1 (ebd., I, 307). Die meisten amerikanischen Verfassungen sprachen von „unveräußerlichen“ und/oder „unantastbaren“ Rechten allein, wenn es um das Recht ging, die Verfassung zu ändern oder abzuschaffen oder in dem größeren Zusammenhang der Religionsfreiheit. 361 Blackstone, Commentaries, IV, 2. 362 Zu Blackstone und seinem Begriff von Rechten, vgl. Paul O. Carrese, The Cloaking of Power. Montesquieu, Blackstone, and the Rise of Judicial Activism, Chicago u. London: The University of Chicago Press, 2003, 105 – 177. Vgl. auch George Anastaplo, Reflections on Freedom of Speech and the First Amendment, Lexington, KY: The University Press of Kentucky, 2007, 26 – 35. 363 Vgl. Maurice John Crawley Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers, Indianapolis: Liberty Fund, 21998, bes. 58 – 82, der einige britische Autoren aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit einer „ausgeglichenen Verfassung“ zitiert. Diese

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Blackstone war mit den Ideen Montesquieus vertraut und übernahm sie für seine Trennung zwischen exekutiver und legislativer Gewalt. Er stimmte ebenfalls mit Montesquieu überein, dass diese Trennung erforderlich sei, um beide Gewalten daran zu hindern, Unrecht zu tun: „Um daher alle derartigen Eingriffe zu verhindern, ist der König selbst Teil des Parlaments: und, da dies der Grund dafür ist, besteht daher der Anteil an der Gesetzgebung, den die Verfassung der Krone übertragen hat, in der Befugnis der Zurückweisung, statt in dem der Beschließung, womit hinreichend das angestrebte Ziel gewährleistet ist.“364

Obgleich die Bemerkungen Blackstones unmittelbar an die Rolle des amerikanischen Präsidenten im Gesetzgebungsprozess erinnern, führte Blackstone sein Argument weiter und baute dabei auf Montesquieu auf, um der Gewaltentrennung eine Richtung zu geben, die in Amerika aufgegriffen wurde, ohne im Allgemeinen Blackstone dafür den ihm gebührenden Verdienst einzuräumen.365 Da der König laut Blackstone eine Kontrollfunktion gegenüber dem Parlament hatte, präsentierte er die ganze britische Verfassung als durchdrungen von Kontrollen. Das parlamentarische Amtsenthebungsverfahren war eine Kontrolle, um Regierungsmitglieder daran zu hindern, Unrecht zu tun.366 Ähnlich konnte man von der Oberschicht sagen, die „ihr Land im Parlament vertrat“, dass es sich dabei im Sinne der Verfassung um eine Kontrolle handele: „Sie sind die Wächter der englischen Verfassung; sie sind die Macher, Aufheber und Interpreten der englischen Gesetze: delegiert um zu wachen, zu kontrollieren und jede gefährliche Innovation abzuwehren, vorzuschlagen, anzunehmen und sich hinzugeben jeder solchen und wohlabgewogenen Verbesserung; verpflichtet mit jeder Faser der Natur, der Ehre und der Religion, jene Verfassung und Gesetze ihrer Nachwelt zu übergeben, verbessert wenn möglich, doch zumindest ohne Verschlechterung.“367 John Adams könnte diese Passage gefallen haben, war er doch von der Notwendigkeit einer ausbalancierten Verfassung überzeugt, wie sie Blackstone vorschwebte: verstreuten Ideen scheinen jedoch keine Wurzeln geschlagen zu haben. Weder Montesquieu noch Blackstone erwähnen sie, und im Unterschied zu ihnen entwickelte Blackstone einen regelrechten theoretischen Zugang zu den Vorstellungen von „ausgeglichener Verfassung“ und „checks and balances“, die, wie im voraufgegangenen Kapitel dargelegt, in der Diskussion der Jahre 1763 – 1776 erst nach der Veröffentlichung der Commentaries in den Kolonien auftauchten. 364 Blackstone, Commentaries, I, 103 (Hervorhebung im Original). 365 Das klassische Beispiel für die Montesquieusche Gewaltentrennung ohne den Zusatz Blackstones ist die Verfassung der Zweiten Republik von 1848 in Frankreich, in der sich Exekutive und Legislative scharf getrennt gegenüberstehen, ohne wechselseitig auf sich einwirken zu können, vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco/ Constitutional Documents of France, Corsica and Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther und Olivier Vernier, Berlin u. Boston: De Gruyter, 2010, 213 – 223. 366 Blackstone, Commentaries, I, 166 – 167. 367 Ebd., 12 – 13.

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„Die Krone kann nicht von sich aus irgendeine Veränderung des gegenwärtig bestehenden Rechts beginnen; aber sie kann von beiden Häusern angeregte und beschlossene Veränderungen akzeptieren oder ablehnen. Die Legislative kann daher der Exekutive nicht irgendwelche Rechte, die sie jetzt kraft Gesetzes besitzt, ohne ihre eigene Zustimmung nehmen […]. Und hierin besteht in der Tat der wahre Vorzug der englischen Regierung, dass alle ihre Teile eine wechselseitige Kontrolle jeder anderen bilden. In der Gesetzgebung ist das Volk die Kontrolle des Adels und der Adel die Kontrolle des Volkes aufgrund ihrer beider Privileg, das zurückzuweisen, was der andere beschlossen hat, während der König die Kontrolle beider ist, was die exekutive Gewalt vor Eingriffen bewahrt. Und eben diese exekutive Gewalt wird wiederum kontrolliert und in gebührenden Grenzen gehalten durch beide Häuser durch das Privileg der Untersuchung, Anklage und Bestrafung des Verhaltens […] ihrer üblen und bösartigen Ratgeber.“368

Der Grund für diese Anordnung war, „die Balance der Verfassung zu bewahren“.369 Dieser Machtausgleich hatte eine doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite sollte er den Machtmissbrauch verhindern, der „die Verfassung auflösen und die Grundlagen der Regierung unterminieren“ würde. Wenn ein Zweig der Regierung die Macht haben sollte, sich über die anderen zu erheben, „würde das Gleichgewicht der Verfassung zum Einsturz gebracht werden“.370 Auf der anderen Seite jedoch „hat unsere freie Verfassung in jedem Zweig dieser großen und ausgedehnten Herrschaft derart passende Kontrollen und Beschränkungen eingeflochten, die sie daran hindern mögen, auf jenen Freiheiten herumzutrampeln, die zu schützen und zu festigen ihre Aufgabe ist. Das enorme Gewicht der Prärogative (falls sich selbst überlassen, wie dies in willkürlichen Regierungen der Fall ist) breitet Verwüstung und Zerstörung über alle untergeordneten Bewegungen aus; aber wenn im Gleichgewicht und im Zaum gehalten (wie bei uns) durch das rechtzeitig und umsichtig angewandte richtige Gegengewicht sind ihre Handlungen ausgeglichen und gleichmäßig, sie kräftigt die ganze Maschine und befähigt jeden Teil, den Zweck ihres Baus zu erfüllen.“371

Diese Zitate von Blackstone mögen hinreichend seine Überzeugung von der Bedeutung von checks and balances für den Erhalt der Verfassung und damit die Freiheit des Volkes belegen. Nugent hatte in seiner Übersetzung von Montesquieus Esprit des lois sowohl checks als auch balances als Ausdruck verwandt. Aber Montesquieu hatte die beiden Begriffe nicht weiter ausgeführt, noch sie in einer Blackstone vergleichbaren Weise theoretisch aufgeladen. In seinem Kapitel über die englische Verfassung taucht das französische Äquivalent für check lediglich zwei Mal auf,372 während balance als Begriff überhaupt nicht verwandt wird. Mithin 368

Ebd., 103. Ebd. 370 Ebd., 158. 371 Ebd., 156. 372 Charles de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu, The Spirit of Laws, translated from the French by Thomas Nugent, 2 Bde., London: J. Nourse and P. Vaillant, 41766, I, 228, 234. Dass dieser Begriff für Montesquieu eine weniger zentrale Rolle spielte, dürfte sich bereits daraus ergeben, dass er im Original keine Kohärenz erkennen lässt und einmal von „droit d’arrêter“ und das andere Mal von „enchaînera“ sprach (Montesquieu, De L’Esprit des lois, in: 369

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scheidet Montesquieu für jenen stehenden Begriff der checks and balances aus, und es bleibt angesichts seiner enormen Verbreitung in Amerika lediglich Blackstone als geistiger Urheber übrig. Es war daher auch genau in diesem Blackstoneschen Sinn, wenn das Essex Result von 1778 insistierte, „dass diese drei Gewalten in verschiedenen Händen und unabhängig voneinander und so ausbalanciert sein sollten und jede jene Kontrolle über den anderen haben sollte, dass ihre Unabhängigkeit bewahrt bleiben wird“.373 Bereits bevor die Bundesverfassung entworfen wurde, hatte John Adams in den Chor jener eingestimmt, die die „checks and balances einer freien Regierung“ als die Grundlage der Freiheit priesen,374 während wenige Jahre später Noah Webster begrüßte, dass die Umwandlung der Blackstoneschen Auffassungen in amerikanisches Verfassungsprinzip glücklich erreicht worden sei, da „wir alle Vorteile der checks and balances haben ohne die Gefahr, die sich aus einem übergeordneten und unabhängigen Rang von Männern ergeben mögen“.375 Während die Idee der checks and balances unmittelbar mit Blackstone als geistigem Urheber verbunden ist, jedoch so sehr zu einer amerikanischen Selbstverständlichkeit im Laufe der Jahre wurde, dass ein Verweis auf Blackstone zu ihrer Legitimierung nicht länger erforderlich schien, war der locus classicus für die Unabhängigkeit der Justiz das englische Act of Settlement von 1701.376 Damit wurde ein zentrales Anliegen der Glorreichen Revolution, das jedoch 1689 noch nicht erreichbar war, gesetzlich umgesetzt. Erneut war es jedoch Blackstone über ein halbes Jahrhundert später, der stärker als Montesquieu die Theorie lieferte, um ihren Platz im System der Gewaltentrennung zu definieren. Nach Blackstones Überzeugung war durch die Bestimmung, dass die Richter von der Krone ernannt wurden, aber nicht willkürlich entlassen werden konnten, „ein Hauptschutzmittel für die öffentliche Freiheit“ verankert worden.377 Nach seiner Auffassung war die Begründung offensichtlich: „Wäre [die richterliche Gewalt] vereinigt mit der legislativen, wären Leben, Freiheit und Eigentum der Untertanen in den Händen willkürlicher Richter, deren Entscheidungen allein von ihren eigenen Meinungen abhingen und nicht von grundlegenden Rechtsprinzipien, von denen zwar die Gesetzgeber abweichen könnten, doch die Richter wären verpflichtet, sich nach ihnen zu richten. Wäre sie mit der exekutiven vereinigt, hätte diese Vereinigung alsbald ein Übergewicht über die Legislative. […] Nichts muss daher in einer freien Verfassung ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 1951, II, 401, 405). 373 The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 1966, 337. 374 Adams, Defence of the Constitutions, I, iii. 375 A Citizen of America [Noah Webster], „An Examination into the Leading Principles of the Federal Constitution“ (Philadelphia, 17. Oktober 1787), in: Friends of the Constitution. Writings of the ,Other‘ Federalists 1787 – 1788, hrg. v. Colleen A. Sheehan und Gary L. McDowell, Indianapolis: Liberty Fund, 1998, 378. 376 12 and 13 Will. III c. 2. 377 Blackstone, Commentaries, I, 173.

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mehr vermieden werden als die Vereinigung der Bereiche eines Richters und eines Ministers.“378

Zur Unterstützung seines Arguments verwies Blackstone auf die Gründe, mit denen 1641 das Sternkammergericht abgeschafft wurde, das keine unabhängigen Urteile gefällt, sondern den Zwecken des Königs gedient hatte, was sich tief in das kulturelle Gedächtnis der amerikanischen politischen Elite eingegraben hatte. Allein eine unabhängige Rechtsprechung wäre in der Lage, die Gerichte in „die große Fundgrube der grundlegenden Rechte des Königreichs“ zu verwandeln, die damit „eine bekannte und festgelegte Rechtsprechung gewännen, die durch bestimmte und gesicherte Regeln geleitet würde, die selbst die Krone nicht ändern kann, es sei denn durch ein Gesetz des Parlaments“.379 Die Grenzen des Einflusses von Blackstone werden deutlich, sobald wir jenseits der Elite schauen. In der Bundesverfassung ebenso wie in einer Reihe von Einzelstaatsverfassungen wurde diese strikte Trennung der judikativen Gewalt von den beiden anderen Gewalten mit der verankerten richterlichen Unabhängigkeit im Einklang mit den von Blackstone gelieferten Argumenten durchgeführt. Doch angefangen mit der Verfassung von Pennsylvania von 1776 und erneuert zumal in den 1830er Jahren unter dem Ansturm der Jacksonian democracy fand dieser Grundsatz in den Vereinigten Staaten weniger Zustimmung als die anderen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus,380 auch wenn die Bundesverfassung allen Forderungen nach entsprechenden Veränderungen standhielt.381 Dennoch waren die Amerikaner bereit, Blackstone bei einer der unmittelbarsten Konsequenzen zu folgen: „Doch obwohl im allgemeinen die Verbindung zwischen legislativer und judikativer Gewalt sorgfältigst vermieden werden sollte, mag es vorkommen, dass ein mit der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten betrauter Untertan die Rechte des Volkes verletzten mag und daher jener Verbrechen schuldig sein mag, die die gewöhnlichen Richter nicht abzuurteilen wagen oder können. Über diese können die Repräsentanten des Volkes oder 378

Ebd. Ebd., 172. 380 Vgl. Kenneth L. Manning, „The Massachusetts Constitution: Liberty and Equality in the Commonwealth“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. George E. Connor und Christopher W. Hammons, Columbia u. London: University of Missouri Press, 2008, 44. Auch Tucker musste amerikanische Defizite einräumen, „deren Unannehmlichkeiten Gegenstand täglicher Beobachtungen sind“ (St. George Tucker, Blackstone’s Commentaries: With Notes of Reference, To the Constitution and Laws, of the Federal Government of the United States; and of the Commonwealth of Virginia, 5 Bde., Philadelphia: William Young Birch and Abraham Small, 1803 [Ndr. Union, NJ: The Lawbook Exchange, 1996], II, 269, Bemerkung des Herausgebers). Auf Bundesebene war Tucker jedoch eindeutig in dem, was er die „absolute Unabhängigkeit der Judikative“ nannte, vgl. ebd., I, Anhang 353 – 361. 381 Vgl. Herman V. Ames, The Proposed Amendments to the Constitution of the United States During the First Century of Its History (Annual Report of the American Historical Association for the Year 1896, II), Washington: Government Printing Office, 1897, bes. 144 – 164. 379

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das Unterhaus nicht richten, da ihre Wähler Teil der verletzten Partei sind; sie können daher nur anklagen.“

Auf die amerikanischen Institutionen übertragen und gemäß des Common law Prinzips, dass im Gegensatz zum antiken Griechenland das Volk nicht Ankläger und Richter zur gleichen Zeit sein kann, „[i]st es angemessen, dass der Adel richten soll, um dem Angeklagten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, genauso wie es angemessen ist, dass das Volk anklagen soll, um dem Gemeinwohl Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.382 Die zweite Konsequenz aus Blackstones Haltung zur Judikative hatte eher eine englische Dimension, deren Rückwirkungen über Großbritannien hinaus jedoch nicht zu unterschätzen sind. Ausgehend von der Parlamentssuprematie wies Blackstone mit allem Nachdruck jede Vorstellung zurück, dass Richter die Freiheit besäßen, Parlamentsgesetze zu missachten, „denn dies hieße, die judikative Gewalt über die der legislativen zu setzen, was jede Regierung untergraben würde“.383 Es war eine folgenreiche Feststellung. Als der amerikanische Bundeskonvent das Problem diskutierte, wie die legislative Gewalt kontrolliert werden könnte, kamen alle Argumente Blackstones wieder auf den Tisch, darunter die Trennung der Gewalten sowie die Frage, ob sich eventuell exekutive und judikative Gewalt verbünden sollten, um Angriffe der legislativen abzuwehren.384 Während einige bereit waren, die Praxis mancher Staaten zu erwägen, nach der Richter „Gesetze gegen die Verfassung für ungültig erklären“ konnten, warnten andere vehement vor „Richtern, die sich in Politik und Parteien einmischen“.385 Dennoch lag eine richterliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die für Blackstone so völlig unakzeptabel war, in der Logik einer Verfassung, die sich selbst zum höchsten Gesetz des Landes erklärte, und Alexander 382

Blackstone, Commentaries, IV, 170 – 171. Ebd., I, 66. 384 Vgl. Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, I, 97 – 98. 109 – 110, 139, 144, II, 73 – 83, 298 – 301. 385 Ebd., I, 97 (Elbridge Gerry), II, 300 (Roger Sherman). Vgl. auch Edward S. Corwin, The Doctrine of Judicial Review. Its Legal and Historical Basis and Other Essays, Princeton: Princeton University Press, 1914 [Ndr. Union, NJ: The Lawbook Exchange, 1999], 10 – 11, und allgemein 1 – 78. Die Praxis, auf die Gerry hinwies, ist zum Teil bei Corwin dokumentiert, entsprach aber nicht der Sprache der Verfassungen. Die Verfassung von Georgia von 1777 enthielt als erste die Bestimmung, dass „[d]ie gesetzgebende Versammlung die Macht haben soll, solche Gesetze und Bestimmungen zu erlassen, die der guten Ordnung und dem Wohlergehen des Staates dienlich sind; vorausgesetzt, derartige Gesetze und Bestimmungen stehen nicht der wahren Absicht und Bedeutung irgend einer Regel oder Bestimmung in dieser Verfassung entgegen“ (Art. VII, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 14). Doch ähnlich wie in nachfolgenden Verfassungen weist nichts darauf hin, dass damit ein richterliches Überprüfungsrecht den Gerichten übertragen wurde. Dass dieses definitiv nicht zu den Befugnissen der Judikative gehörte, machte die Verfassung von Pennsylvania von 1776 deutlich, die einen Zensorenrat (Council of Censores) einrichtete, dessen Aufgabe es unter andrem war, „der Legislative die Zurücknahme solcher Gesetze zu empfehlen, die ihnen gegen die Prinzipien der Verfassung in Kraft gesetzt erschienen“ (Tl. II, Abs. 47, ebd., V, 343). 383

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Hamilton hatte dies im Federalist Nr. 78 auch mit Nachdruck vertreten.386 Damit versuchte er, jenen Spagat Blackstones, zwar einerseits für die strikte Gewaltentrennung und die Unabhängigkeit der Judikative einzutreten, aber zugleich vor dem souveränen Parlament zurückzuschrecken, dadurch argumentativ zu umgehen, dass er abstritt, das richterliche Überprüfungsrecht „würde eine Überordnung der judikativen über die legislative Gewalt beinhalten“.387 Es war diese Ambivalenz Blackstones, die es so schwierig zu machen schien, zu einer klaren und allgemein akzeptierten Antwort zu finden. So versuchte der Supreme Court unter John Marshall 1803 die Frage im Hamiltonschen Sinne zu entscheiden, zumal inzwischen einige Einzelstaaten entsprechend vorangegangen waren. Doch der Widerstand blieb zu groß, und es dauerte weitere Jahrzehnte, bis sich schließlich gegen Blackstone das richterliche Überprüfungsrecht im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich in den Vereinigten Staaten durchsetzte, ohne dass der Widerstand bis heute restlos verstummt wäre. Wie hinreichend bekannt, baute Blackstone auf Montesquieus Interpretation der englischen Verfassung auf, wie das wenige Jahre später de Lolme ebenfalls tun sollte. Doch Blackstone gab ihr eine besondere Wendung. Indem er über Montesquieu hinausging und Naturrechtsideen integrierte, war er in der Lage, seine Darstellung der britischen Verfassung mit natürlichen Prinzipien zu unterlegen und damit einigen ihrer Kernelemente universelle Gültigkeit beizumessen. Dank dieses Vorgehens wurde Blackstone einer der bedeutendsten Vertreter für den Universalismus des modernen Konstitutionalismus. Wenn Rudolf von Gneist später behaupten sollte, die britische Verfassung verkünde keine „allgemein constitutionellen Wahrheiten“,388 würde Blackstone ihm gewiss widersprochen haben. Anders als Gneist war Blackstone überzeugt, dass Gerechtigkeit als menschliche Kategorie auf „natürlichen Grundlagen“ beruhte.389 Nach seiner Überzeugung basierten alle menschlichen Gesetze auf „zwei Grundlagen, dem Naturrecht und dem Gesetz der Offenbarung“.390 „[M]enschliche Gesetze sind nur ihre Erklärungen und handeln in Unterordnung unter sie.“391 Dieses Naturrecht kontrollierte menschliches Recht, so dass es Blackstone mit „Moral“ und, noch allgemeiner, mit „Vernunft“ gleichsetzte.392 Mit dieser breiten Perspektive, die von der universalen Kategorie der Vernunft geleitet war, war es Blackstone möglich, seine umfassende Definition des Common law als „nichts anders als Gewohnheit, die aus der universellen Übereinkunft der ganzen Gemeinschaft erwächst“, zu geben,393 für die er bald von Bentham so heftig 386 387 388 389 390 391 392 393

Vgl. Federalist, hrg. v. Cooke, 521 – 530. Ebd. 524. Rudolf Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin: Julius Springer, 1882, 688. Blackstone, Commentaries, I, 28. Ebd., 35. Ebd. Ebd., 34, 272, 273, II, 2, IV, 44. Ebd., I, 306.

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kritisiert werden sollte.394 Nach Blackstones Überzeugung war das Common law identisch mit dem „universellen Recht der Gesellschaft“ und dem „Völkerrecht“,395 wobei letzteres für ihn integraler Bestandteil des englischen Rechts war. „[D]a in England keine königliche Macht ein neues Gesetz einführen oder die Ausführung eines alten suspendieren kann, ist das Völkerrecht […] in seinem vollen Ausmaß durch das Common law übernommen worden und gilt als Teil des Rechts des Landes. Und jene Parlamentsgesetze, die von Zeit zu Zeit gemacht wurden, um dieses universelle Recht durchzusetzen oder die Ausführung seiner Entscheidungen zu erleichtern, sind nicht als Einführung irgendeiner neuen Regel zu verstehen, sondern allein als Erklärung der alten grundlegenden Verfassungen des Königreichs, ohne die es aufhören müsste, ein Teil der zivilisierten Welt zu sein.“396

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Blackstone überzeugt sein konnte, dass das englische Recht „auf Prinzipien gründete, die permanent, gleichbleibend und universell sind, und die stets den Diktaten von Wahrheit und Gerechtigkeit entsprechen, den Gefühlen der Humanität und den unauflöslichen Rechten der Menschheit“.397 Die generelle Zusammenfassung dieses Arguments konnte nur lauten, dass das Gesetz, so lange es weise und gerecht war, die Vergegenwärtigung dieses Zusammenhangs war und sich auf den universellen Prinzipien von Naturrecht, Vernunft und Gerechtigkeit gründete. Eine Verfassung war daher nicht der Ausdruck von einigen Besonderheiten, und sie fand ihre Legitimation nicht darin, dass sie den Geist lokaler Eigentümlichkeiten atmete. Wenn sie angenommen und respektiert werden wollte, mussten ihre Prinzipien von universaler Gültigkeit sein. In demselben Sinn hatten die Einwohner von Stoughton, Massachusetts im Mai 1780 auf „natürlichen Rechten […] als prinzipiellem Eckpfeiler, auf dem die Grundlegung der Regierungsform zu errichten war“, bestanden.398 Auch wenn letztlich das Volk die Verfassung sanktionierte, hatte Blackstone den Amerikanern gezeigt, dass ihr Inhalt auf universellen Prinzipien gegründet sein musste, um Legitimität zu gewinnen, ein Prinzip, das für die modernen Konstitutionalismus konstitutiv wurde.399

394 Vgl. Jeremy Bentham, A Comment on the Commentaries and A Fragment on Government, hrg. v. J. H. Burns und H. L. A. Hart (The Collected Works of Jeremy Bentham, hrg. v. J. H. Burns), London: University of London The Athlone Press, 1977; auch Jeremy Bentham, A Comment on the Commentaries. A Criticism of William Blackstone’s Commentaries on the Laws of England [1928], Ndr. Aalen: Scientia, 1976. 395 Blackstone, Commentaries, IV, 44. 396 Ebd. 397 Ebd., 2. 398 The Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 795. 399 Über Blackstone und seine „Zusammenfassung von Common law und Naturrecht“, um dem Common law eine „scheinbare Universalität“ zu verleihen, vgl. John H. Langbein, Renée Lettow Lerner, Bruce P. Smith, History of the Common Law. The Development of AngloAmerican Legal Institutions, Austin, TX usw.: Wolters Kluwer, 2009, 842. Blackstones Naturrechtsphilosophie war erkennbar auf Vattel begründet, der im revolutionären Amerika

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Zusammenfassend soll mit dem Gesagten nicht der Eindruck erweckt werden, Blackstone hätte eine Blaupause geliefert für die Einfügung von Menschenrechten, Gewaltentrennung, richterlicher Unabhängigkeit und universellen Prinzipien in die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus. Aber als die Amerikaner entschieden, dass sie diese Verfassungen benötigten und die Grundzüge aufstellten, die sie enthalten sollten, erwies sich Blackstone als eine herausragende Inspirationsquelle. Da seit Anfang der 1770er Jahre nahezu jeder, der in den amerikanischen Kolonien und nachmaligen Staaten Recht studierte oder praktizierte mit Blackstones Commentaries vertraut war, konnten seine Ideen einen überwältigenden Einfluss auf den Berufsstand und weit darüber hinaus ausüben, was Daniel Boorstin zu der Feststellung veranlasste: „In der Geschichte der amerikanischen Institutionen hat – außer der Bibel – kein anderes Buch eine so große Rolle gespielt wie Blackstones Commentaries on the Laws of England.“400 Überall in den Kolonien und Staaten wurde Blackstone in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts und zum Teil darüber hinaus herangezogen, wenn bestimmte verfassungsmäßige Lösungen einer Legitimation bedurften, oder aufgrund ihrer nachgewiesenen Unbrauchbarkeit zurückgewiesen wurden. Doch über ein passendes Nachschlagewerk zur Unterstützung der eigenen Argumentation hinaus hatten die Commentaries dazu beigetragen, einige konstitutionelle Grundwahrheiten so tief in das allgemeine Bewusstsein einsinken und sie als so selbstverständlich erscheinen zu lassen, dass es nicht länger notwendig erschien, zu ihrer Legitimation ausdrücklich auf Blackstone zu verweisen. Wenn viele Amerikaner Ende des 18. Jahrhunderts von Rechteerklärungen, checks and balances, der Unabhängigkeit der Judikativen oder universellen Prinzipien sprachen, mochten sie sich mitunter gar nicht mehr bewusst sein, dass sie Blackstones Sprache benutzten. Aber indem sie sie benutzten und in die ersten amerikanischen Verfassungen hineinschrieben, wurde sie zum Vehikel und Katalysator für diese Prinzipien und ihre grundlegende Bedeutung für den modernen Konstitutionalismus bis heute.

3. Die Ausbreitung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in den amerikanischen Staatsverfassungen, 1776 – 1860401 Wenn, wie mehrfach betont, die Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 die Geburtsstunde des modernen Konstitutionalismus ist, stellt sich unwillkürlich die vielfach rezipiert wurde. Es ließe sich aber auch behaupten, dass Blackstone, indem er Vattel aufgriff, diesem in der sich entwickelnden Verfassungsdiskussion zusätzliches Gewicht verlieh. 400 Daniel J. Boorstin, The Mysterious Science of the Law. An Essay on Blackstone’s Commentaries Showing how Blackstone, Employing Eighteenth-century Ideas of Science, Religion, History, Aethetics, and Philosophy, made of the Law at once a Conservative and a Mysterious Science [1941, 1958], Ndr. Gloucester, MA: Peter Smith, 1973, iii. 401 Neufassung. Eine frühere Version erschien als „The Rise of Modern Constitutionalism and the Relevance of American State Constitutions“, in: Atlantic Passages: Constitution –

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Frage, wie aus diesem Einzelereignis eine Bewegung wurde. Wie kam der Schneeball ins Rollen? Dieser Frage soll in diesem Kapitel nicht auf einer theoretischen Ebene nachgegangen werden. Vielmehr soll anhand der 68 amerikanischen Einzelstaatsverfassungen von 1776 bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges das Ausgreifen der Ideen des modernen Konstitutionalismus auf der verfassungspraktischen Seite nachgezeichnet werden, um Erfolge und Misserfolge, Spannungen und Abweichungen deutlich werden zu lassen. Dabei wird es sich anbieten, diese Prinzipien selbst in den Mittelpunkt zu rücken, um aufbauend auf den Ergebnissen der beiden voraufgegangenen Kapitel nachzuspüren, wie und bis zu welchem Grad sich jedes dieser zehn Prinzipien in den Jahrzehnten bis zum Bürgerkrieg in Amerika durchsetzen konnte. Werfen wir zunächst einen chronologischen Blick auf die Einzelstaatsverfassungen nach der Rechteerklärung von Virginia, so fällt auf, dass die Verfassung von New Jersey vom 2. Juli 1776 nicht zuletzt wohl angesichts der Kürze der Zeit, die seit der Rechteerklärung von Virginia verstrichen war, was die Rezeption der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus angeht, noch eher in die Gruppe der Verfassungen vor dem 12. Juni gehört.402 Doch bereits die Rechteerklärungen und Verfassungen von Delaware (11. bzw. 20. September 1776), Maryland (3. bzw. 8. November 1776) und North Carolina (17./18. Dezember 1776), also praktisch die der Nachbarstaaten von Virginia hatten die zehn Prinzipien übernommen bei einer Ausnahme in Delaware und drei in North Carolina. Wie sich herausstellen sollte, endete mit North Carolina als letzter Verfassung des Jahres 1776 ein struktureller Faktor, der die fünf 1776er Verfassungen seit Virginia und ohne New Jersey geprägt hatte: Sie alle bestanden aus zwei, getrennt voneinander beschlossenen Teilen, der Rechteerklärung, die dann in Pennsylvania schlicht als Kapitel I firmierte, und einem zweiten Teil, der als „Verfassung“ oder „Regierungsform“, in Pennsylvania Kapitel II, bezeichnet wurde. Wie in Virginia wurden die Prinzipien ganz oder überwiegend in der Rechteerklärungen oder Kap. I festgesetzt. Ab 1777 wurde die Rechteerklärung nicht länger formal unabhängig von der Verfassung beschlossen, allerdings behielten Virginia auch in seinen Verfassungen von 1830 und 1851 und Maryland mit seiner Verfassung von 1851403 die Zweiteilung in Rechteerklärung und Verfassung bei, während Vermont in seinen Verfassungen von 1777, 1786 und 1793 in der Nachfolge Pennsylvanias in Kapitel I und II und Massachusetts 1780 wie dann auch New Hampshire 1784 in Teil I und Teil II teilten. Generell jedoch setzte sich zumal nach der Bundesverfassung von 1787 mehr und mehr durch, das Gesamtdokument lediglich in Artikel mit untergeordneten Absätzen einzuteilen, wobei ab der Verfassung von Pennsylvania von 1790 die RechteerkläImmigration – Internationalization. In memoriam Willi Paul Adams, hrg. v. Andreas Etges und Ursula Lehmkuhl, Berlin: LIT Verlag, 2006, 57 – 72. 402 Vgl. John Bebout, The Making of the New Jersey Constitution, Trenton, N.J.: MacCrellish & Quigley, 1945, xvi – xix, xxxix – xli. 403 Vgl. James Warner Harry, The Maryland Constitution of 1851, PhD Diss. Johns Hopkins Universität, Baltimore: The Lord Baltimore Press, 1902, bes. 68 – 84.

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rung als letzter Artikel an das Ende der Verfassung rücken konnte, was aber nach der Verfassung von Indiana 1816 nur noch in Ausnahmefällen geschah, so dass bis zum Bürgerkrieg die Rechteerklärung als Artikel I im allgemeinen der Verfassung voranging. Allerdings fanden sich seitdem neben den Rechten zumeist lediglich Volkssouveränität, universelle Prinzipien und die Machtbegrenzung in diesen Artikeln, während die übrigen Prinzipien überwiegend auf andere Artikel der Verfassung verteilt worden waren. Kehren wir nochmals nach 1776 zurück, so könnte der Eindruck eines raschen Siegeszuges der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus entstanden sein. Doch die Verfassung von Pennsylvania vom 28. September 1776 durchkreuzte diese Pläne, mit der sich eine soziale, politische und verfassungsrechtliche Gegenbewegung etablierte.404 Rein formal fehlten in ihr wie dann in North Carolina lediglich drei Prinzipien, doch anders als in North Carolina waren es für den Charakter der Verfassung zentrale Prinzipien, nämlich die begrenzte Regierung, die Gewaltentrennung und die Unabhängigkeit der Judikative. Darüber hinaus wich die inhaltliche Behandlung der Prinzipien der Volkssouveränität, aber auch der repräsentativen Regierung und der Suprematie der Verfassung in Pennsylvania deutlich von dem von Virginia gesetzten Modell ab. Insgesamt muss die pennsylvanische Verfassung von 1776 als radikaldemokratische Verfassung eingestuft werden, und so wurde sie auch von ihren Anhängern wie Gegnern wahrgenommen.405 In abgestuften Formen des Radikalismus folgten 1777 die Verfassungen von Georgia,406 New York407 und Vermont,408 und auch die neue Verfassung von South Carolina von 1778409 war weit davon entfernt, dem Modell von Virginia zu folgen. 404 Vgl. J. Paul Selsam, The Pennsylvania Constitution of 1776. A Study in Revolutionary Democracy, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1936; Rosalind L. Branning, Pennsylvania Constitutional Development, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1960, bes. 9 – 16; Thomas W. Clark, Virtuous Democrats, Liberal Aristocrats: Political Discourse and the Pennsylvania Constitution, 1776 – 1790, Diss phil., Universität Frankfurt/M. 2001. 405 Vgl. dazu unten Kap. V. 4. 406 Vgl. Ethel K. Ware, A Constitutional History of Georgia, New York: Columbia University Press, 1947 [Ndr. 1967], 29 – 48, 62 – 70, 75 – 90; Albert Berry Saye, A Constitutional History of Georgia, 1732 – 1945, Athens, GA: The University of Georgia Press, 1948, 99 – 113, 142 – 145, 158 – 163. 407 Vgl. Daniel Hulsebosch, Constituting Empire. New York and the Transformation of Constitutionalism in the Atlantic World, 1664 – 1830, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2005, bes. 170 – 189, 259 – 273; Peter J. Galie, Ordered Liberty. A Constitutional History of New York, New York: Fordham University Press, 1996, 36 – 55; New York in the Age of the Constitution, 1775 – 1800, hrg. v. Paul A. Gilje und William Pencak, London und Toronto: Associated University Presses, 1992; William A. Polf, The Political Revolution and New York’s First Constitution, Albany, NY: New York State Bicentennial Commission, 1977. 408 Vgl. Gary J. Aichele, „Making the Vermont Constitution: 1777 – 1824“, in: Vermont History, 56/3 (1988), 166 – 190; John N. Shaeffer, „A Comparison of the First Constitutions of Vermont and Pennsylvania“, in: ebd., 43/1 (1975), 33 – 43. 409 Vgl. D. D. Wallace, Constitutional History of South Carolina from 1725 to 1775, Abbeville, S.C.: Hugh Wilson, 1899; Kevin Hill, „South Carolina: Defining Power, Defining

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Die entscheidende Wende erfolgte erst mit der weitgehend auf John Adams zurückgehenden Verfassung von Massachusetts von 1780.410 Hier finden sich erneut alle zehn Prinzipien von Virginia, auch wenn das ausdrückliche Bekenntnis zur Suprematie der Verfassung fehlt. Dafür gilt jedoch diese Verfassung bis heute und ist damit die älteste geschriebene Verfassung der Welt. Das Beispiel von Massachusetts wirkte. Es wurde 1784 in New Hampshire übernommen411 – Vermont blieb mit seiner zweiten Verfassung von 1786 weitgehend im Fahrwasser seiner ersten Verfassung von 1777 – und wurde danach praktisch mit der Bundesverfassung von 1787 für den damit geschaffenen Bundesstatt konstitutiv.412 Dem mit der Annahme der Bundesverfassung wachsenden Druck musste sich schließlich 1790 Pennsylvania mit einer zweiten Verfassung beugen,413 die nunmehr ganz auf der Linie des modernen Konstitutionalismus lag, wie dann in seiner Folge auch der neue Bundesstaat Kentucky mit seiner Verfassung von 1792414 und danach Tennessee 1796415 und Ohio 1802.416 Dennoch blieb die eine oder andere Lücke, die durch Ablehnung der einen oder anderen Bestimmung geprägt war, so in Georgia 1789 und 1798, South Carolina 1790 oder Vermont 1793. Diese Ablehnung konnte sich aber auch etwa darin äußern, dass Connecticut und Rhode Island unverändert keine Veranlassung sahen, von ihren 1776 angepassten Freibriefen (charters) abzuweichen und sich moderne VerfasPeople“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. George E. Connor und Christopher W. Hammons, Columbia u. London: University of Missouri Press, 2008, 342 – 352. 410 Vgl. Alexander H. Bullock, The Centennial of the Massachusetts Constitution, Worcester: Charles Hamilton, 1881; Louis Adams Frothingham, A Brief History of the Constitution and Government of Massachusetts. With a Chapter on Legislative Procedure, Cambridge: Harvard University, 1916; Ronald M. Peters, Jr., The Massachusetts Constitution of 1780. A Social Compact, Amherst: University of Massachusetts Press, 1978. 411 Vgl. Susan E. Marshall, The New Hampshire State Constitution. A Reference Guide (Reference Guides to the State Constitutions of the United States, hrg. v. Alan Tarr, 39), Westport, CT und London: Praeger, 2004, 222 – 223. 412 Vgl. dazu Willi Paul Adams, The First American State Constitutions. Republican Ideology and the Making of the State Constitutions in the Revolutionary Era, Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 22001, 290, der deutlich auf den Einfluss der Einzelstaatsverfassungen auf die Bundesverfassung hingewiesen hat. 413 Vgl. Robert L. Brunhouse, The Counter-Revolution in Pennsylvania, 1776 – 1790 [1942], Ndr. Harrisburg: The Pennsylvania Historical and Museum Commission, 1971. 414 Vgl. Joan Wells Coward, Kentucky in the New Republic. The Process of Constitution Making, Lexington, KY: University Press of Kentucky, 1979. 415 Vgl. Joshua W. Caldwell, Studies in the Constitutional History of Tennessee, Cincinnati: Robert Clarke, 21907; John D. Barnhart, „The Tennessee Constitution of 1796. A Product of the Old West“, in: The Journal of Southern History, 9 (1943), 532 – 548. 416 Vgl. C. B. Galbreath, Constitutional Conventions of Ohio, Columbus, OH: Stoneman, 1911; Randolph C. Downes, „Ohio’s First Constitution“, in: Northwest Ohio Quarterly, 25 (1952/53), 12 – 21; Barbara A. Terzian, „Ohio’s Constitutional Conventions and Constitutions“, in: The History of Ohio Law, hrg. v. Michael Les Benedict und John F. Winkler, 2 Bde., Athens: Ohio University Press, 2004, I, 40 – 87.

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sungen zu geben, was beide Staaten erst 1818417 bzw. 1842418 nachholten. Aber auch New Jersey419 und New York waren nicht gesonnen, neue Verfassungen in Anlehnung an die Vorgaben der Bundesverfassung zu beschließen, sondern blieben bei ihren Verfassungen von 1776 bzw. 1777, statt auf die Linie des modernen Konstitutionalismus einzuschwenken. Dazu sah New York auch 1821 mit seiner zweiten Verfassung keinen Anlass, während New Jerseys zweite Verfassung von 1844 schon deutlich kompromissbereiter war. Der größte Widerstand kam, worauf im Kap. I. 1. bereits hingewiesen wurde, 1812 aus Louisiana, wo die französischen Rechtstraditionen nachwirkten,420 die auch 1845 und 1852 mit der zweiten und dritten Verfassung noch deutliche Reserven gegenüber dem modernen Konstitutionalismus erkennen ließen. Dennoch, so wird man diesen chronologischen Durchgang zusammenfassen können, setzte sich auch in den neuen Staaten im Westen der moderne Konstitutionalismus letztlich durch, bis dann mit der Wahl von Andrew Jackson 1828 zum neuen Präsidenten und dem, was dann zur Charakterisierung seiner achtjährigen Präsidentschaft die Jacksonian democracy genannt wird, neue Prioritäten die Oberhand gewannen. Diese Demokratisierung des amerikanischen Lebens, dessen wohl bedeutendste literarischen Zeugnisse Alexis de Tocquevilles De la Démocratie en Amérique, aber auch George Bancrofts History of the United States of America sind, konnte nicht ohne Auswirkungen auf das Verfassungsverständnis bleiben.421 Die Folgen sind eindeutig und schwingen in vieler Gestalt bis heute nach: Nach den erneuerten Verfassungen von Virginia (1830) und Delaware (1831) findet sich bis zum Bürgerkrieg, beginnend mit der Verfassung von Mississippi von 1832, keine Verfassung mehr, in der die Unabhängigkeit der Justiz verankert ist; Ausnahmen sind allein Pennsylvania 1838, Maryland und mit Einschränkungen Virginia, beide 1851, sowie 1852 interessanterweise Louisiana, wo diese Bestimmung 1845 noch gefehlt hatte. Nicht mit der gleichen Radikalität, doch ebenfalls bemerkenswert und deutlich 417 Leonard Bacon, A Discourse on the Early Constitutional History of Connecticut, Hartford: Case, Tiffany & Burnham, 1843; J. Hammond Trumbull, Historical Notes of the Constitutions of Connecticut, 1639 – 1818, Particularly On the Origin and Progress of the Movement which resulted in the Convention of 1818 and the Adoption of the Present Constitution, Hartford: Printed by Order of the Comptroller, 1901. 418 Vgl. dazu Patrick T. Conley, Democracy in Decline. Rhode Island’s Constitutional Development 1776 – 1841, Providence: Rhode Island Historical Society, 1977, sowie das nachfolgende Kap. III. 4. 419 Vgl. Lucius Q. C. Elmer, The Constitution and Government of the Province and State of New Jersey, With Biographical Sketches of the Governors from 1776 to 1845, and Reminiscences of the Bench and Bar, During More Than Half a Century, Newark, NJ: Martin R. Dennis, 1872; Charles R. Erdman, Jr., The New Jersey Constitution of 1776, Princeton: Princeton University Press, 1929; Bebout, The Making of the New Jersey Constitution; Maxine N. Lurie, „New Jersey’s Three Constitutions: 1776, 1844, 1947“, in: The Journal of the Rutgers University Libraries, 59 (2000), 1 – 18. 420 Vgl. auch Cecil Morgan, The First Constitution of the State of Louisiana, Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1975. 421 Vgl. in Bezug auf das Wahlrecht dazu unten Kap. III. 5.

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über die vereinzelten Reserven vor 1830 hinausgehend, nimmt die Zahl der Verfassungen auffallend zu, in denen sich keine Bestimmung zur Suprematie der Verfassung findet. Beides zusammen ist sicherlich nicht der späte Sieg der radikalen Demokraten von Pennsylvania von 1776, doch eine deutliche Folge der Demokratisierung des Landes seit dem Zeitalter Jacksons. Sie sind damit aber auch in gleichem Maße Ausdruck jener Ambivalenzen, die bezüglich beider Prinzipien in den beiden vorausgegangenen Kapiteln thematisiert wurden. Wenn wir nun nach den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus und ihrer Übernahme und inhaltlichen Ausgestaltung fragen, so beginnen wir mit der Volkssouveränität, die sich in 60 der 68 Verfassungen verankert findet. Dabei ergibt sich, dass die Sprache bis in den Beginn der 1790er Jahre uneinheitlich war. In der Rechteerklärung von Virginia hatte es gehießen, „[d]ass alle Macht im Volk liegt und daher von ihm herrührt“.422 Diese Formel wurde Ende des Jahres von North Carolina wieder aufgegriffen und dann lediglich noch ein einziges weiteres Mal, nämlich 1820 in Missouri (Art. XIII, Abs. 1).423 Die Formulierung, dass alle Macht im Volk liegt und daher, so wird man schließen müssen, vom ihm auch jederzeit nach seinem Belieben ausgeübt werden kann, war den meisten Verfassungsgebern dann doch zu radikal und mit der Vorstellung einer ausgeglichenen Verfassung des modernen Konstitutionalismus nur schwer in Einklang zu bringen. Selbst die radikaldemokratische Verfassung von Pennsylvania begnügte sich mit der Feststellung, alle Macht sei „ursprünglich im Volk gelegen und rühre daher von dort her“.424 Selbst wenn diese Wortwahl in den Verfassungen Pennsylvanias von 1790 und 1838 nicht wieder auftauchte, konnten doch mit der Einschränkung, dass die Macht ursprünglich im Volk lag, nicht nur Vermont mit seinen Verfassungen, sondern auch South Carolina 1790 und selbst Massachusetts 1780 leben, während andere Verfassungen dieser Jahre vager, aber wohl letztlich in ähnlichem Sinn von „herrühren“ (originates from) sprachen. Die Formulierung, die sich schließlich durchsetzte, minimierte die möglichen praktischen Auswirkungen einer proklamierten Volkssouveränität noch weiter und verlagerte sie in das Reich der Theorie. Ihre klassische Begründung, die sich dann bis zum Bürgerkrieg durch nahezu alle amerikanischen Verfassungen bei unwesentlichen Modifikationen zog, stammt von der Verfassung von Pennsylvania von 1790: „Dass Gewalt im Volk liegt [is inherent] und alle freien Regierungen auf seiner Autorität gegründet [founded] und für seinen Frieden, Sicherheit und Glück errichtet 422 Rechteerklärung, Abs. 2, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153. 423 Vgl. dazu Floyd Calvin Shoemaker, Missouri’s Struggle for Statehood 1804 – 1821 [1916, 1943], Ndr. New York: Russell & Russell, 1969, 252 – 253, der zur Rechteerklärung feststellt, sie wäre „so gleichförmig ähnlich den entsprechenden Artikeln in vielen anderen Staatsverfassungen, dass sie keine besonderen Punkte der Abweichung weder in Neuigkeit noch Bedeutung aufweise“. Vgl. auch ders., „The First Constitution of Missouri“, in: Missouri Historical Review, 6 (1912), 51 – 63. 424 Kap. I, Abs. 4, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 322.

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[instituted] sind.“425 Damit waren inherent, founded und instituted die Schlüsselbegriffe, die für die nächsten siebzig Jahre von nahezu allen Verfassungen, die ein Bekenntnis zur Volkssouveränität abgaben, benutzt wurden. Die bedeutendsten Ausnahmen sind neben dem bereits erwähnten Missouri 1820 und den Verfassungen von Virginia von 1830 und 1851, die ihre Rechteerklärung von 1776 übernahmen, Rhode Island 1842, die „das Recht des Volkes, seine Verfassung zu machen und zu ändern“ zitierte,426 und New York 1846, die von dem Volk und „seinem Recht der Souveränität“ sprach, das sich bezeichnenderweise dann aber auf Besitzrechte und Landtitel bezog.427 Aber noch etwas charakterisieren diese rund siebzig Jahre, wiederum angefangen mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790. In allen Verfassungen, die ein Bekenntnis zur Volkssouveränität aufgenommen hatten, Ausnahmen bilden neben den genannten Verfassungen Virginias lediglich South Carolina 1790, die drei Verfassungen von Kentucky von 1792, 1799 und 1850, New Hampshire 1792, Vermont 1793, Georgia 1798, Indiana 1816, Mississippi 1817 und 1832, Illinois 1818428 und Tennessee 1834, folgten dem Beispiel der Bundesverfassung und begannen ihre jeweilige Präambel mit den Worten „Wir, das Volk […]“, wobei Connecticut 1818 und Michigan 1850 das „Wir“ wegließen. Dabei muss aber betont werden, dass diese Formel, wie in der Bundesverfassung, mitunter der einzige Hinweis war, aus dem sich ein Bekenntnis der Verfassung zur Volkssouveränität ablesen lässt. Sehen wir von dem Beispiel Pennsylvania ab, dessen radikaldemokratische Verfassung von 1776 der Volkssouveränität eine ausgeprägte operative Komponente durch die Mitwirkung des Volkes beim Gesetzgebungsprozess verliehen hatte,429 was wiederum Rückwirkungen auf die Prinzipien der Machtbegrenzung, der Gewaltentrennung und der richterlichen Unabhängigkeit hatte, bildete sich in den Vereinigten Staaten ab 1787/1790 ein wachsender Konsens über die rein legitimatorische Funktion der Volkssouveränität heraus, der der Bedeutung und Wirkung dieses Prinzips hier eine deutlich andere Ausprägung als etwa in Frankreich gab.430 Ein Bekenntnis zu universellen Prinzipien ist mitunter noch schwerer zu fassen als jenes zur Volkssouveränität. In 53 der 68 Verfassungen wird man es unterstellen können, doch verbergen sich dahinter durchweg keine größeren philosophischen Erklärungen. So fällt es schon auf, wenn die Verfassung von Georgia von 1777 Rückgriff auf „die allgemeinen Rechte der Menschheit“ und „die Gesetze der Natur und der Vernunft“ nimmt.431 Ein Sonderfall war auch hier die Verfassung von New 425

Art. IX, Abs. 2, ebd., 365. Art. I, Abs. 1, ebd., 483. 427 Art. I, Abs. 11, ebd., 126. 428 Vgl. Janet Cornelius, Constitution Making in Illinois 1818 – 1970, Urbana – Chicago – London: University of Illinois Press, 1972, 3 – 24. 429 Vgl. dazu unten Kap. V. 4. 430 Vgl. dazu unten Kap. V. 2. 431 Präambel, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 13. 426

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York von 1777, die als einzige amerikanische Verfassung in ihre ausgedehnte Präambel den Text der Unabhängigkeitserklärung aufnahm mit seiner Anrufung der „Gesetze der Natur und des Gottes der Natur“.432 Doch damit sind die weitesten Pendelausschläge bereits benannt. Angefangen mit der Rechteerklärung von Virginia lassen sich zumindest bis New Hampshire 1792 der eine oder andere Text als Ausdruck der Vorstellungen von Naturzustand und Gesellschaftszustand lesen, was sich stets auf Rechte bezieht, und ganz allgemein durchzieht die Verfassungen bis zum Bürgerkrieg die Vorstellung von natürlichen Rechten als Grundlage der individuellen Rechte, eine Vorstellung, in der der Verfassungsdiskurs der Jahre 1763 – 1776 weiterlebte.433 In Einzelfällen, zumal in dem einen oder anderen Staat des Südens mochte dies auf das Recht der Religionsfreiheit begrenzt bleiben. Überhaupt schienen die Südstaaten reservierter gegenüber der Proklamation von natürlichen Rechten, was angesichts überbordender, wenn auch in einigen Staaten gegen Mitte des 19. Jahrhunderts abnehmender Sklavenzahlen durchaus verständlich erscheint. Hier berief man sich stattdessen dann gerne auf die Vertragstheorie. Dabei hatte die Verfassung von Massachusetts von 1780 diese Vertragstheorie ihrer naturrechtlichen Begründung entkleidet: „Der politische Körper wird durch eine freiwillige Vereinigung von Individuen gebildet: Es ist ein Gesellschaftsvertrag, durch den das ganze Volk sich mit jedem Bürger feierlich verbindet und jeder Bürger mit dem ganzen Volk, auf dass alle durch bestimmte Gesetze zum allgemeinen Wohl regiert werden.“434

Das hatte bewusst durchaus religiöse Anklänge, wenngleich es im Süden ebenso bewusst als probates Mittel zur Sicherung der Sklavenhaltergesellschaft dienen konnte. Auffallend ist dann lediglich, dass jenseits der generell deklarierten Religionsfreiheit und sehr sporadischer Hinweise auf den „Schöpfer“ (Delaware 1792 und 1831, Indiana 1851435) sich ein direkter Gottesbezug in nur wenigen Verfassungen findet (Rhode Island 1842, New York 1846, Wisconsin 1848, Kalifornien 1849 und Minnesota 1857436), die zudem überwiegend aus den 1840er Jahren stammen und mitunter das einzige universelle Prinzip in der Verfassung sind. Blackstones Plädoyer für universelle Prinzipien war zwar vielfach gehört worden,437 doch für die praktische Staatenbildung im 19. Jahrhundert hatten sie an Vordringlichkeit verloren. Rechteerklärungen finden sich ebenfalls in 53 Verfassungen – hinzu kommen einige Verfassungen, in denen einige Rechtsbestimmungen in Artikeln aufgenom432

Ebd., V, 82. Vgl. dazu oben Kap. III. 1. 434 Präambel, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 19. 435 Vgl. Brent E. Dickson, Thomas A. John und Katherine A. Wyman, „Lawyers and Judges as Framers of Indiana’s 1851 Constitution“, in: Indiana Law Review, 30 (1997), 397 – 408. 436 Vgl. William Anderson und Albert J. Lobb, A History of the Constitution of Minnesota with the First Verified Text, Minneapolis: University of Minnesota, 1921. 437 Vgl. dazu das voraufgegangene Kap. III. 2. 433

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men sind, die auch andere Regelungen enthalten –, wobei die Bezeichnung Bill of Rights eher eine Ausnahme darstellt, mitunter der entsprechende Artikel aber auch gar keine Überschrift trägt. Auffallend sind hingegen die Bezeichnungen von Rhode Island 1842 und New Jersey 1844. Im ersteren Fall trägt der Art. I die Bezeichnung „Erklärung bestimmter verfassungsmäßiger Rechte und Prinzipien“. Im zweiten Fall lautet Art. I schlicht „Rechte und Privilegien“. Beginnend mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790 konnten die Rechteerklärungen als letzter Artikel ans Ende der Verfassungen rücken, was insgesamt bei zwölf Verfassungen der Fall war, bei über die Jahrzehnte eher rückläufiger Tendenz, so dass etwa Tennessee mit der Verfassung von 1834, Texas mit der Verfassung von 1845438 und Ohio mit der Verfassung von 1851 im Gegensatz zu ihrer jeweils voraufgegangenen Verfassung die Rechteerklärung als Art. I wieder an den Anfang der Verfassung stellten. Ungewöhnlich und einzigartig ist dagegen Michigan, dessen Verfassung von 1835 eine Rechteerklärung enthielt, während sich in der zweiten Verfassung von Michigan von 1850 diese nicht mehr fand.439 Den umgekehrten Weg ging New York, dessen Verfassung von 1846, anders als die beiden voraufgegangenen von 1777 und 1821 erstmals so etwas wie eine Rechterklärung in Art. I allerdings ohne Namen und auch inhaltlich eher eigenwillig enthielt. Doch auf inhaltliche Fragen der verschiedenen Rechteerklärungen kann an dieser Stelle verzichtet werden, da diesen ein eigenes Kapitel gewidmet ist.440 Die Machtbegrenzung oder begrenzte Regierung ist in dieser Zeit verfassungsmäßig mitunter schwer zu fassen, da jede Verfassung per definitionem eine Machtbegrenzung darstellt, indem sie staatlichem Handeln ein Regelwerk zugrunde legt, dessen Verletzung eine Verfassungsüberschreitung darstellt. Noch konkreter ist diese Einschränkung staatlichen Handelns durch eine Rechteerklärung gefasst, indem sie einerseits dem Menschen Rechte und Freiheiten garantieren – der in Deutschland verbreitete Gesetzesvorbehalt ist diesen amerikanischen Verfassungen fremd –, darüber hinaus aber auch dem Staat bestimmte Handlungs-, also durchweg Gesetzesbeschränkungen zur Sicherung dieser Rechte und Freiheiten auferlegt, wie etwa das gängige Verbot rückwirkender Gesetze. Um diese schützenswerten Rechte noch ein weiteres Mal zu sichern und staatlichen Eingriffen zu entziehen, hatte bereits Delaware in seiner Verfassung von 20. September 1776 einen letzten Artikel (Art. 30) eingefügt: „Kein Artikel der Rechteerklärung und fundamentalen Regeln dieses Staates […] sollte je unter welchem Vorwand auch immer verletzt werden.“ Daran schloss sich die Bestimmung 438 Vgl. James E. Anderson, „The Texas Constitution: Formal and Informal“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. Connor und Hammons, 368 – 383. 439 Vgl. dazu auch Floyd Benjamin Streeter, Political Parties in Michigan 1837 – 1860. An Historical Study of Political Issues and Parties in Michigan from the Admission of the State to the Civil War, Lansing: Michigan Historical Commission, 1918; ferner David Houghton, „Michigan: Four Constitutions, Four New Beginnings“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. Connor und Hammons, 432 – 446. 440 Vgl. dazu unten Kap. III. 7.

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an, mit welchen Mehrheiten die anderen Teile der Verfassung geändert werden konnten.441 Wenige Tage später findet sich nahezu wörtlich das gleiche Verbot in der Verfassung von Pennsylvania von 1776.442 Dieses fand sich dann erstmals in der Verfassung von Pennsylvania von 1790 als letzter Absatz der Rechteerklärung in der klassisch gewordenen Formulierung, die dann, nur selten geringfügig modifiziert, doch mitunter in anderen Artikeln der Verfassung eingerückt, in viele Verfassungen bis zum Bürgerkrieg Eingang finden sollte: „Damit der Ueberschreitung derjenigen grossen Rechte, welche wir abgegeben haben, vorgebeuget werde, so erklären wir, daß eine jede Sache, welche in diesem Artikel ausgedruckt ist, von den allgemeinen Rechten der Regierung ausgenommen, und für immer unverletzt verbleiben solle.“443

Diese Bestimmung war insofern verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, und das mag wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, dass sie die Mehrzahl der Verfassungen in diesen siebzig Jahren nicht übernahm, weil diese Rechteerklärungen sehr viel häufiger, und das seit der Rechteerklärung von Virginia von 1776, verkündeten, dass „die Mehrheit der Gemeinschaft das unzweifelhafte, unveräußerliche und unantastbare Recht habe, [ihre Regierung] zu reformieren, ändern oder abzuschaffen“, wann immer diese nicht in der Lage sei, das Glück und die Sicherheit des Volkes zu gewährleisten.444 Damit war die Lebensdauer eines derartigen „Ewigkeitsparagraphen“ letztlich bestenfalls so lange gesichert, wie die Verfassung bestand. Daran änderte auch nichts, dass Kentucky 1792 diese Pennsylvania-Bestimmung erstmals um die höchst bedeutsame Klausel erweiterte: „[…] und dass alle Gesetze, die dem widersprechen oder der Verfassung widersprechen, nichtig sind“.445 Interessanterweise hat Louisiana 1812, das sich eng an das Vorbild von Kentucky anlehnte, doch dessen Rechterklärung nicht übernommen hat, genau jenen Passus in seine Verfassung eingefügt: „Alle Gesetze, die gegen diese Verfassung verstoßen, sind null und nichtig.“446 Während es in diesen beiden Fällen damit zugleich um die Suprematie der Verfassung ging, worauf weiter unten zurückzukommen sein wird, 441 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 218. Vgl. Carol E. Hoffecker und Barbara E. Benson, „Festina Lente. The Development of Constitutionalism in Delaware“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. Connor und Hammons, 163 – 182. 442 Kap. II, Abs. 46, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 342. 443 Die Regierungsverfassung der Republik Pennsylvanien (Aus dem Englischen übersetzt), Germantown: Michael Billmeyer, 1790, abgedruckt in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 369. 444 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 3, in: ebd., VIII, 153. 445 Art. XII, Abs. 28, in: ebd., III, 22. Für den Passus könnte George Nicholas verantwortlich sein, vgl. Huntley Dupre, „The Political Ideas of George Nicholas“, in: Register of the Kentucky State Historical Society, 39 (1941), 201 – 223. Ich danke herzlich Brandon Haynes, mich auf George Nicholas und diesen Artikel aufmerksam gemacht zu haben. 446 Art. VI, Abs. 25, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 92.

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hatte bereits die Verfassung von Georgia von 1777 als erste die deutlich abgeschwächtere Bestimmung enthalten, dass „[d]ie gesetzgebende Versammlung die Macht haben soll, solche Gesetze und Bestimmungen zu erlassen, die der guten Ordnung und dem Wohlergehen des Staates dienlich sind; vorausgesetzt, derartige Gesetze und Bestimmungen stehen nicht der wahren Absicht und Bedeutung irgendeiner Regel oder Bestimmung in dieser Verfassung entgegen“.447 Diese generelle Gesetzgebungsbeschränkung aufgrund der Verpflichtung zur Beachtung der Verfassung wurde in den Verfassungen von Missouri von 1820 (Art. III, Abs 26), New Jersey von 1844 (Art. IV, Abs. 7), Indiana von 1851 (Art. IV, Abs. 22) und Oregon von 1857 (Art. IV, Abs. 23) noch durch Aufzählungen konkreter Bereiche ergänzt, in denen die Legislative keine Kompetenz hatte, Gesetze zu erlassen. Machtbegrenzung meinte mithin in allen diesen Fällen primär Begrenzung der Legislative. Weitere Begrenzungen mochten sich aus dem Machtgefüge der Verfassung im Zusammenhang mit weiteren Prinzipien des modernen Konstitutionalismus ergeben, darunter der Gewaltentrennung, der Verantwortlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz, auf die alle noch einzugehen sein wird. Eine besondere Form der Machtbegrenzung sei aber noch abschließend erwähnt. Bereits die Rechteerklärung von Virginia hatte das Prinzip der Ämterrotation eingefügt. Es sollte für die Legislative und die Exekutive gelten. Um tyrannischen Tendenzen vorzubeugen, sollten ihre Mitglieder „zu festgesetzten Zeitpunkten“ ausscheiden und in das Privatleben zurücktreten.448 Lediglich Maryland hat den Gedanken der Ämterrotation aufgegriffen,449 aber ihn auf die Exekutive beschränkt. Da eine lange Amtsdauer „gefährlich für die Freiheit“ sei, sei eine Ämterrotation „eine der besten Sicherheiten für dauerhafte Freiheit“.450 Entsprechend legte die Verfassung fest, dass der Gouverneur maximal drei Jahre im Amt bleiben durfte und dann frühestens nach vier weiteren Jahren erneut antreten durfte.451 In der Verfassung von 1851 war daraus eine Amtszeit von vier Jahren geworden.452 Wenn auch in den übrigen Rechteerklärungen Bestimmungen zur Ämterrotation fehlten, blieben die Amtszeiten der Gouverneure bis zum Bürgerkrieg kurz. In Massachusetts, New Hampshire und Rhode Island war eine jährliche Wahl festgelegt. In den übrigen Staaten schwankte die Amtszeit zwischen zwei und vier Jahren, wobei in der Mehrzahl der Fälle nach einer oder zwei Amtszeiten, selten drei Amtszeiten, mindestens eine Amtszeit vor einer etwaigen Wiederwahl ausgesetzt werden musste; nach der Verfassung von Kentucky 447

Art. VII, in: ebd., II, 14. Abs. 5, in: ebd., VIII, 153. 449 Vgl. Representative Government and the Revolution. The Maryland Constitutional Crisis of 1787, hrg. u. m. e. Einl. v. Melvin Yazawa, Baltimore und London: Johns Hopkins University Press, 1975, bes. 1 – 32; Michael Carlton Tolley, State Constitutionalism in Maryland, New York und London: Garland, 1992, bes. 21 – 22. 450 Rechteerklärungen von Maryland von 1776 und 1851, jeweils Abs. 31, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 241, 421. 451 Verfassung von Maryland von 1776, Abs. 31, in: ebd., 250. 452 Verfassung von 1851, Art. II, Abs. 1 und 5, in: ebd., 424, 425. 448

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von 1799 musste sogar nach einer vierjährigen Amtszeit sieben Jahre pausiert werden, eine eigenwillige Zeitspanne bei Wahlperioden von vier Jahren und eine Bestimmung, die dann in der Verfassung von 1850 korrigiert wurde, die die Amtszeit auf vier Jahre in jeder Periode von acht Jahren festsetzte.453 Eine verfassungsmäßige Begrenzung der Zahl der Amtszeiten hat es hingegen wie auf Bundesebene vor dem XXII. Zusatzartikel von 1951 nirgendwo gegeben. Die begrenzte Regierung war also durchaus ein Teil der amerikanischen Einzelstaatsverfassungen, zwar nur selten theoretisch begründet, doch in der praktischen Umsetzung durchaus ein vielfaches Kennzeichen der Verfassungen. Lediglich die Verfassung von North Carolina von 1776454 fasste dies in die passenden Worte bei ihrer Aufzählung der Befugnisse des Gouverneurs mit der abschließenden Bestimmung, „[…] und mag alle übrigen Regierungsgewalten ausüben, begrenzt und maßvoll (limited and restrained), wie durch diese Verfassung bestimmt, und gemäß den Gesetzen des Staates“.455 Im Rahmen des modernen Konstitutionalismus ergeben sich Berührungspunkte zwischen den Prinzipien der Machtbegrenzung und der Suprematie der Verfassung, wie nicht nur die zitierten Beispiele von Georgia, Kentucky und Louisiana, sondern ebenso die Einhegungen der Rechteerklärungen angedeutet haben. Damit hatte sich jene vom englischen Rechts- und Verfassungsverständnis so abweichende amerikanische Vorstellung von den zwei Rechtsebenen durchgesetzt mit der Ebene des höherrangigen Rechts der Verfassung und der des normalen Rechts der gewöhnlichen Gesetzgebung und des Gewohnheitsrechts. Die Rechtserklärung von Virginia von 1776 hatte dies mit bleibender Gültigkeit zum Ausdruck gebracht: „Eine Erklärung der Rechte, gemacht von den Repräsentanten des guten Volks von Virginia, in einem vollen und freien Konvent versammelt; welche Rechte ihnen und ihren Nachkommen zustehen, als Basis und Begründung von Regierung.“456 Daher hatten die Verfassungen von Pennsylvania von 1776 und von Vermont von 1777, 1786 und 1793 ein Veränderungsverbot für die Legislative ausgesprochen. Diese Höherrangigkeit der Verfassung wurde 1777 auch in New York gesehen, doch ihr Umgang damit war ein ganz anderer. Statt eines Veränderungsverbotes etablierte die Verfassung ein ausgefeiltes Prüfverfahren, um zu verhindern, dass Gesetze „hastig und unbesonnen“ beschlossen würden, die „mit dem Geist der Verfassung unvereinbar“ seien.457 Ähnliche Bestimmungen fehlten in den New Yorker Verfassungen von 1821 und 1846. 453

Verfassungen von Kentucky von 1799 und 1850, jeweils Art. III, Abs 3, in: ebd., 30, 50. Vgl. John V. Orth, The North Carolina State Constitution with History and Commentary, Chapel Hill und London: University of North Carolina Press, 1995, bes. 2 – 12. 455 Verfassung von North Carolina von 1776, Abs. 19, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 163. 456 Ebd., VIII, 153. Ebenso in der Wiederaufnahme der Rechteerklärung von 1776 in den Verfassungen von Virginia von 1830 und 1851, in: ebd., VII, 91, 119 (eigene Hervorhebung, H. D.). 457 Verfassung von New York von 1777, Abs. 3, in: ebd., V, 85. 454

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Wenn sich mithin auch behaupten lässt, dass der Vorrang der Verfassung weitestgehend akzeptiert war, ist die spezifische Wortwahl von Art. VI der Bundesverfassung bis zum Bürgerkrieg lediglich ein einziges Mal aufgegriffen und dabei zugleich logisch zu Ende geführt worden, nämlich in der Verfassung von Rhode Island von 1842: „Diese Verfassung ist das höchste Gesetz des Staates, und jedes nicht mit ihr übereinstimmende Gesetz ist nichtig.“458 Dabei verdient Erwähnung, dass sich diese Bestimmung nicht wie in der Bundesverfassung an ihrem Ende und eher versteckt unter sachlich völlig anderen Bestimmungen befindet, sondern als Eingangsbestimmung zum Artikel über die legislative Gewalt dieser als generelle Richtschnur vorangestellt ist. Wenn wir damit zum Prinzip der repräsentativen Regierung kommen, so war dies so selbstverständlich und allgemein, dass es kaum angebracht ist, eine Verfassung zu seiner Illustration herauszugreifen. Doch die klassische Formulierung und damit die Zusammenfassung der Diskussion der Jahre 1763 – 1776 lieferte erneut die Rechteerklärung von Virginia, die von den „Repräsentanten des Volkes“ sprach, die frei gewählt werden sollten und deren Gesetze, Steuern und Abgaben das Volk „nicht ohne seine eigene Zustimmung oder die seiner so gewählten Repräsentanten“ binde noch „irgendein Gesetz, zu dem es nicht in gleicher Weise zum allgemeinen Wohl zugestimmt hat“.459 Daher war es üblich, dass die „Repräsentanten des Volkes“ in Legislative und Exekutive nach durchaus unterschiedlichen Verfahren vom Volk direkt oder zumal in Bezug auf die Exekutive mitunter auch indirekt und zunehmend über den Gouverneur hinaus die ganze Regierung gewählt wurde. Dennoch ist die Rechteerklärung von Virginia irritierend. Sie sprach von der Zustimmung des Volkes oder der seiner Repräsentanten. Doch eine tatsächliche verfassungsrechtliche Alternative war nicht gegeben und bestand zu keiner Zeit. Dieser offensichtlich nicht weiter reflektierte Passus460 lässt sich wohl nur so erklären, dass sich hier die durchaus virulente Vertragstheorie mit der Vorstellung verband, nach der jede freie Regierung auf der Zustimmung aller beruht, was wiederum mit dem Prinzip der repräsentativen Regierung vermengt wurde, ohne sich der formalrechtlichen Konsequenzen einer derartigen Formulierung bewusst zu sein. Delaware fand drei Monate später eine weniger widersprüchliche Wortwahl, die eine unmittelbare und exklusive Verbindung zwischen der Beteiligung des Volkes und der Wahl von Repräsentanten herstellte: „Dass das Recht des Volkes, an der Gesetz458 Verfassung von Rhode Island von 1842, Art. IV, 1, in: ebd., 487. Vgl. Arthur May Mowry, The Dorr War. The Constitutional Struggle in Rhode Island, New York u. London: Chelsea House, 1970; Patrick Conley, Liberty and Justice: A History of Law and Lawyers in Rhode Island, 1636 – 1998, East Providence, RI: Rhode Island Publications Series, 1998, bes. 238 – 273; ders., Neither Separate nor Equal. Legislature and Executive in Rhode Island Constitutional History, East Providence, RI: Rhode Island Publications Society, 1999, bes. 83 – 88. 459 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 6, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153 – 154. 460 So auch nicht bei A. E. Dick Howard, Commentaries on the Constitution of Virginia, 2 Bde., Charlottesville: University Press of Virginia, 1974, I, 86 – 90.

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gebung beteiligt zu sein, die Grundlage von Freiheit und jeder freien Regierung ist, und aus diesem Grund alle Wahlen frei und häufig sein sollten, […].“461 Doch die widersprüchliche Formulierung Virginias konnte auch eine andere Auflösung zulassen, die von den radikalen Demokraten in Pennsylvania bevorzugt wurde, indem sie tatsächlich eine unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung einführten und damit das Prinzip der repräsentativen Regierung aushöhlten: „Damit Gesetze, ehe sie als solche bestätiget werden, desto reiflicher erwogen, und der Unbequemlichkeit schneller Entschliessungen so viel möglich vorgebeugt werden möge, so sollen alle Bills von einer öffentlichen Art zur Erwägung des Volks gedruckt werden, ehe sie in der General-Assembly das letztemal zum Durchreden und Verbessern gelesen werden.“462

Das Volk konnte mithin seine Repräsentanten instruieren, wie sie bei der dritten Lesung abzustimmen hatten. Wie oben erwähnt, sollte New York gut ein halbes Jahr später das gleiche Problem sehen, aber eine andere Lösung bevorzugen, die innerhalb des Prinzips der repräsentativen Regierung blieb. In Pennsylvania fand diese Abweichung vom Prinzip der repräsentativen Regierung zugunsten direktdemokratischer Elemente mit der Verfassung von 1790 ein Ende, in Vermont, das mit seiner Verfassung von 1777 genau die gleichen Bestimmungen übernommen und mit den Verfassungen von 1786 und 1793 bestätigt hatte, dauerte diese Abweichung bis zu den Verfassungsänderungen von 1835/36.463 Damit wiesen alle Einzelstaaten 1836 in der Legislative zwei Kammern auf, deren gängige Bezeichnung getreu dem Vorbild der Bundesverfassung Repräsentantenhaus und Senat lautet, woran sich bis zum Bürgerkrieg nichts ändern sollte. Lediglich in Pennsylvania, Georgia und Vermont hatte es mit den jeweils ersten Verfassungen – in Vermont mit allen drei und eben bis 1836 – ein Einkammerparlament gegeben wie ebenso in Texas mit seiner Interimsverfassung von 1835, was aber bereits mit der Verfassung von 1836 dem amerikanischen Standard wich. Wenn damit auch das Prinzip der repräsentativen Regierung eine vergleichsweise homogene Umsetzung gefunden hatte, bleiben doch die Fragen, warum sich eine Einteilung in zwei Kammern in Amerika durchsetzte464 und wer oder was eigentlich repräsentiert werden sollte? Zunächst liegt nahe von einer amerikanischen Fortsetzung des englischen Beispiels auszugehen, was in der Theorie bedeutete, dass eine Kammer die Bevölkerung und die andere Landeigentum repräsentieren sollte. Dass 461 Rechteerklärung von Delaware von 1776, Abs. 6, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 211. 462 Kurze Anzeigen von dem Verfahren des Convention des Staats von Pennsylvanien, Gehalten zu Philadelphia, den Fünfzehnten Tag July, 1776, Philadelphia: Henrich Miller, 1776, 58 – 66, Kap. II, Abs. 15, abgedruckt in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 330. 463 Ebd., VII, 66 – 70; vgl. auch Records of the Council of Censors of the State of Vermont, hrg. v. Paul S. Gillies und D. Gregory Sanford, Montpelier, VT: Secretary of State, 1991, 325 – 385, 759 – 763. 464 Vgl. dazu unten Kap. V. 5.

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1776/77 die drei radikaleren Verfassungen auf diese gesonderte Eigentumsrepräsentation verzichteten, passt ebenso ins Bild wie die durchweg unterschiedlichen Eigentumsqualifikationen für die Mitgliedschaft in beiden Kammern. Gerade letzteres kam im 19. Jahrhundert und zumal unter dem Eindruck der Jacksonian democracy mit der Demokratisierung des Wahlrechts zunehmend unter Druck,465 so dass die Verfassung von Kalifornien von 1849 schließlich bestimmte: „Die Repräsentation soll nach der Bevölkerung eingeteilt werden.“466 Dennoch blieb bis zum Bürgerkrieg in vielen Ostküstenstaaten diese gleichförmige Repräsentation eine der politisch umstrittensten Fragen, bei der die Bewohner der jeweils westlichen Landesteile der Ostküstenelite immer wieder vorwarfen, ihnen eine gleichmäßige Repräsentation zu verweigern, während die Ostküstenelite auf einer Repräsentation der Kreise gemäß Steuerleistung statt Köpfe beharrte. Das bis heute sichtbarste Zeichen der Verweigerung gleichförmiger Repräsentation ist der Staat West Virginia, der 1861 de facto entstand durch die Weigerung der westlichen Kreise von Virginia, sich dem Sezessionsbeschluss des Staates anzuschließen und die dann 1863 als eigener Staat West Virginia in die Union aufgenommen wurden. Auch wenn die Frage, wer repräsentiert werden solle, bis zum Bürgerkrieg zur – fast – generellen Durchsetzung des allgemeinen Männerwahlrechts geführt hatte, blieb den Frauen wachsenden Forderungen nach Einführung des Frauenwahlrechts zum Trotz,467 weiterhin eine eigenständige Repräsentation verwehrt. Erst 1869 sollte Wyoming als erstes Territorium der Vereinigten Staaten das Frauenwahlrecht einführen. Von allen zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus war bis zur Einführung der Bundesverfassung keines so selten in den Einzelstaatsverfassungen verankert worden wie das der Gewaltentrennung, während nach 1789 außer Vermont 1793, New York 1821 und 1846, Texas 1835 und Wisconsin 1848468 keine Verfassung die Erklärung des Prinzips ausließ oder, ohne das Prinzip in einem Artikel eigens zu erklären, wenigstens die drei Gewalten – wie in den anderen Verfassungen ebenso – in jeweils einem eigenen Artikel ausführlich behandelte. Vor 1790 wiesen lediglich sechs der dreizehn Staaten plus Vermont, das erst 1791 als vierzehnter Staat in die Union aufgenommen wurde, eine entsprechende Verfassungsbestimmung auf. Bei den fünf genannten Verfassungen (nach 1789) fehlte die Einsetzung der Judikative als eigenständige dritte Gewalt. Obgleich Virginia mit der Bestimmung des Prinzips wie stets 465

Vgl. dazu unten Kap. III. 5. Art. I, Abs. 14, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 151. Vgl. auch Rockwell Dennis Hunt, The Genesis of California’s First Constitution (1846 – 49), Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1895; Constitution of the State of California 1849, m. e. Einl. v. Robert Glass Cleland, San Marino, CA: Huntington Library, 1949; Peter Thomas Conmy, The Constitutional Beginnings of California, San Francisco: Dolores Press, 1959. 467 Vgl. dazu unten Kap. V. 7. 468 Vgl. John Zumbrunnen, „Wisconsin: Rejection, Ratification, and the Evolution of a People“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. Connor und Hammons, 460 – 476; ferner dazu unten Kap. III. 6. 466

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den Anfang gemacht hatte, fand Maryland zur klarsten Formulierung, die dann wörtlich von North Carolina übernommen wurde: „Dass die legislative, exekutive und judikative Gewalt für immer getrennt und selbständig voneinander sein sollen.“469 Massachusetts fügte diesem dann noch die Harringtonsche Begründung hinzu: „[…] zu dem Zweck, dass es eine Regierung der Gesetze und nicht der Menschen ist“.470 Nicht nur sollten die drei Gewalten institutionell voneinander getrennt sein, sondern selbstverständlich auch personell, was zumal die Verfassungen mit einem eigenen Artikel für die Etablierung der Gewaltentrennung durchweg noch eigens erwähnten. Damit war nicht nur die Montesquieusche Theorie der Gewaltentrennung verankert, sondern dank einer verbreiteten Anlehnung an die einschlägigen Bestimmungen der Bundesverfassung ebenfalls der Blackstonesche Zusatz der checks and balances. Das hatte vor 1789, genauer gesagt vor 1790, noch in Pennsylvania deutlich anders ausgesehen – und lebte wie erwähnt in Vermont noch länger fort –, indem es dort genau jene deutliche Trennung zwischen Legislative und Exekutive dank der Verfassung von 1776 nicht gab. Die Exekutive bzw. der Höchste Exekutivrat bestand aus zwölf Mitgliedern, wobei die Stadt Philadelphia und die elf Kreise des Staates je ein Ratsmitglied wählten, die drei Jahre amtierten. Die Legislative und die Räte wählten gemeinsam aus der Mitte der Räte den jährlichen Präsidenten und Vizepräsidenten. Dieser Exekutivrat samt Präsidenten war nichts anderes als der ausführende Ausschuss der Legislative, der zwar den Staat nach außen vertrat, aber zum Beispiel bei der Gesetzgebung nicht mitwirkte. Von einer eigenständigen Exekutive konnte daher in Pennsylvania erst mit der Verfassung von 1790 die Rede sein. Ebenso wenig gab es eine eigenständige dritte Gewalt. Der moderne Konstitutionalismus hatte mithin auch nach 1776 in Amerika noch gravierende Hürden zu überwinden, um sich durchzusetzen. Der oben zur Begründung der Volkssouveränität zitierte Passus aus der Rechteerklärung von Virginia, „[d]ass alle Macht im Volk liegt und daher von ihm herrührt“, wies noch den entscheidenden Zusatz auf, „dass Amtsträger seine Treuhänder und Diener sind und ihm zu allen Zeiten verantwortlich sind“.471 Volkssouveränität und politische Verantwortlichkeit waren mithin zwei Seiten der gleichen Medaille: Das souveräne Volk beauftrage Personen, in seinem Sinne Macht auszuüben, und diese Personen waren im Gegenzug für ihr Handeln dem Volk verantwortlich. Dieser Zusammenhang war so selbstverständlich, dass alle amerikanischen Einzelstaatsverfassungen von der Rechteerklärung von Virginia von 1776 bis zum Bürgerkrieg Bestimmungen zur Amtsanklage enthielten. Sie mochten mitunter im Detail voneinander etwas abweichen, und umfangmäßig schwankten sie von einem knappen Absatz, der kaum mehr bestimmte, als dass das Repräsentantenhaus das alleinige Recht der Amtsanklage besitze, bis zu einem eigenen Artikel mit detaillierteren Festlegungen. Doch stets war die Aussage, dass es kein politisches Instrument war, 469 Rechteerklärungen von Maryland von 1776, Abs. 6 bzw. von North Carolina von 1776, Abs. 4, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 240, V, 157. 470 Tl. I, Art. 30, in: ebd., IV, 23. 471 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 2, in: ebd., VIII, 153.

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unliebsame Politiker los zu werden, sondern es ging um Amtsmissbrauch, Korruption und dergleichen, und der öffentliche Amtsträger, angefangen vom Gouverneur bis zum letzten Gemeindemitarbeiter war für sein Handeln rechenschaftspflichtig. Lediglich die Verfassungen von Georgia 1777, Texas 1835 und Oregon 1857472 wiesen keine entsprechenden Bestimmungen auf. Dass richterliche Unabhängigkeit nicht eine Folge von Gewaltentrennung ist, zeigt sich an den amerikanischen Einzelstaatsverfassungen zwischen Revolution und Bürgerkrieg in doppelter Hinsicht. Während wir in den ersten Jahren eindrucksvolle Bekenntnisse der Notwendigkeit richterlicher Unabhängigkeit in den Verfassungen finden, mitunter aber kaum eine Verankerung der Judikative als dritter Gewalt, ist dies ab den Jahren der Jacksonian democracy eher umgekehrt, d. h. die Judikative ist weitgehend als dritte Gewalt etabliert, aber von richterlicher Unabhängigkeit wird nicht nur nicht gesprochen. Auch die materiellen Bestimmungen über die Richter sind vielfach kaum so, dass man den Eindruck hat, dass richterliche Unabhängigkeit als verfassungsrechtliches Ziel angestrebt wurde. Dagegen kontrastierte in jener Zeit und bis heute die Bundesverfassung, nach der Bundesrichter vom Präsidenten nominiert und von Senat mit absoluter Mehrheit bestätigt werden müssen und auf Lebenszeit amtieren, d. h. einmal im Amt politisch und zumal parteipolitisch unabhängig sein sollten. Das Bestallungsverfahren und die Bestallungsbedingungen sind daher entscheidende Gradmesser für die Institution der richterlichen Unabhängigkeit. Damit einher geht der Schutz vor Entlassung und Versetzung gegen den eigenen Willen. Letzteres spielte in dieser Zeit offensichtlich kaum eine Rolle; jedenfalls taucht es in den Verfassungen praktisch nicht auf. Anders steht es um die Frage des nicht zu kürzenden Gehalts, das durchweg verankert ist. Allerdings gab es durchaus Staaten, die die Richterbesoldung derart niedrig angesetzt hatten,473 dass qualifizierte und finanziell unabhängige Richter damit nur schwer zu gewinnen waren. Damit sind die für die Zeit zentralen Kriterien richterlicher Unabhängigkeit benannt, und es wird in diesem Zusammenhang hier mit der These operiert, dass dann nicht mehr von einer Verfassungsgarantie richterlicher Unabhängigkeit gesprochen werden kann, wenn die Richterbestallung durch Volkswahl für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum, bis maximal acht Jahre bei der Möglichkeit der Wiederwahl erfolgte. Der Schwachpunkt der Rechteerklärung von Virginia liegt zweifellos in der fehlenden klaren Proklamierung der richterlichen Unabhängigkeit. Zwar hatte Abs. 5 die 472

Vgl. W. C. Palmer, „The Sources of the Oregon Constitution“, in: Oregon Law Review, 5 (1925/26), 200 – 215; David Schuman, „The Creation of the Oregon Constitution“, in: ebd., 74 (1995), 611 – 641; Douglas Heider und David Dietz, Legislative Perspectives. A 150-Year History of the Oregon Legislatures From 1843 to 1993, Portland, OR: Oregon Historical Society Press, 1995. 473 So erhielten Richter des höchsten Gerichts in Illinois gemäß der Verfassung von 1818 (Art. IV, Abs. 5) jährlich 1000 $, während ihre Kollegen in Louisiana laut Verfassung von Louisiana von 1812 (Art. IV, Abs. 3) jährlich 5000 $ bezogen, Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 126, III, 85.

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III. Nordamerika

Judikative (Judicative) von den beiden anderen Gewalten abgesetzt, und Abs. 8 hatte die Urteilsverkündung in Strafprozessen an „unparteiische Geschworene aus der Nachbarschaft“ und an „das Recht des Landes“ gebunden,474 doch mehr als ein Einstieg in den Gedanken der richterlichen Unabhängigkeit war das nicht. Sehr viel eindeutiger ist dagegen bereits die Formulierung in den Rechteerklärungen von Delaware und Maryland von 1776, die beide wortgleich betonten, „[d]ass die Unabhängigkeit und Rechtschaffenheit der Richter wesentlich für die unparteiische Rechtspflege und eine große Sicherheit der Rechte und Freiheiten des Volkes sind“.475 Die Verfassung von Massachusetts von 1780 – und in ihrer Folge die von New Hampshire von 1784 – fassten diese Bestimmung noch wortreicher und grundsätzlicher: „Es ist wesentlich für die Bewahrung der Rechte jedes Einzelnen, sein Leben, Freiheit, Besitz und Charakter, dass es eine unparteiische Auslegung der Gesetze und Rechtspflege gibt. Es ist das Recht jedes Bürgers von Richtern beurteilt zu werden, die so frei, unparteiisch und unabhängig sind, wie es das Los der Menschheit zulässt.“

Daher sollten Richter des höchsten Gerichts auf Lebenszeit amtieren.476 Es ist jedoch bezeichnend, dass diese prinzipielle Einstellung im Laufe der Jahrzehnte ins Wanken geriet. Das erscheint noch eher verhalten in Virginia. Zwar heißt es stets, die Rechteerklärung von 1776 sei unverändert in den Verfassungen von 1830 und 1851 übernommen, und in der Tat wurde 1830 der laut Oxford English Dictionary vor 1641 gebräuchliche Begriff Judicative durch den längst üblichen Ausdruck Judiciary ersetzt. Doch auffälliger war, dass 1851 im Abs. 5 der Rechteerklärung der Hinweis auf die Judikative als dritte Gewalt entfallen war. 1830 sollten die Richter noch auf Lebenszeit amtieren, 1851 gab es Kreis- oder Amtsgerichte (County courts), deren Richter vom Volk auf vier Jahre gewählt wurden. Darüber standen Bezirksgerichte (Circuit courts), Distriktgerichte (Disctrict courts) und das Berufungsgericht (Court of appeals). Die ersten beiden setzten sich aus Richtern zusammen, die im Bezirk auf acht Jahre gewählt wurden, während die Richter am Berufungsgericht auf zwölf Jahre gewählt wurden. Da Wiederwahl in keinem Fall durch die Verfassung ausgeschlossen wurde, konnte der Richter nach Ablauf seiner Amtsperiode also grundsätzlich erneut kandidieren, es sei denn, er wäre aus bestimmten Gründen zuvor aus dem Amt entfernt worden.477 Anders verlief die Entwicklung in Delaware. Der Abs. 22 der Rechteerklärung von 1776 wurde in die jeweiligen Art. I der Verfassungen von 1792 und 1831 nicht wieder aufgenommen, dagegen wurden 1792 wie auch 1831 Richter auf Lebenszeit 474

Ebd., VIII, 153, 154. Rechteerklärungen von Delaware von 1776, Abs. 22, und von Maryland von 1776, Abs. 30, in: ebd., I, 212, III, 241. 476 Verfassungen von Massachusetts von 1780, Tl. I, Art. 29, und von New Hampshire von 1784, Tl. I, Art. 35, in: ebd., IV, 23, 362. 477 Verfassungen von Virginia von 1830, Rechteerklärung, Abs. 5 und Verfassung Art. V, Abs. 1, und 1851, Rechteerklärung, Abs. 5 und Verfassung Art. VI, Abs. 6, 10, 27, in: ebd., VII, 92, 112, 119, 135, 137. 475

3. Die Ausbreitung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus

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bestallt, während die Richter gemäß der nicht angenommenen Verfassung von 1853 vom Volk auf zehn Jahre gewählt werden sollten.478 Maryland hatte hingegen seinen Abs. 30 aus der Rechteerklärung von 1776 beibehalten, doch dann ebenfalls die Volkswahl für Richter eingeführt, wo jene an Bezirks-, Distriktgerichten und am Berufungsgericht für zehn Jahre mit der offensichtlichen Möglichkeit der Wiederwahl bestallt werden sollten.479 Schauen wir nun genauer in die Judikative der Einzelstaaten, so überwiegt ganz offensichtlich zunächst die Fortführung der englischen oder kolonialen Situation. In fast allen Staaten wurden die Richter auf Lebenszeit letztlich durch die Legislative ernannt, wobei die aus dem Act of Settlement von 1701 stammende Terminologie during good behaviour (solange sie sich nichts zu Schulden kommen lassen) fortgeführt wurde. Dagegen hatte die radikaldemokratische Verfassung von Pennsylvania von 1776 bestimmt, dass die Richter des höchsten Gerichts auf sieben Jahre bestallt wurden bei der Möglichkeit der Bestätigung im Amt.480 In der ebenfalls radikalen Verfassung von Georgia von 1777 blieb das Procedere eher ungelöst, allerdings war die Abhängigkeit der Richter für ihre Bestallung und Amtsdauer von der Legislative offenkundig.481 Mit den Verfassungen von 1789 und 1798 wurden die Richter der oberen Gerichte für drei Jahre bestallt, während 1798 die der unteren Gerichte auf Lebenszeit ernannt wurden.482 Mit der Verfassungsänderung von 1812 wurde dann festgesetzt, da Ernennungen auf Lebenszeit „die Tendenz haben, jenen Sinn für Verantwortung zu zerstören, der in einem freien Land am Leben erhalten und von jedem Einzelnen gefühlt werden sollte, in dessen Händen die Pflichten des Amtes ruhen“, dass die Richter der unteren Gerichte zukünftig auf jeweils vier Jahre vom Volk gewählt werden.483 Die Verfassung von Indiana von 1816 war dann die erste Verfassung, die die Amtszeit aller Richter auf sieben Jahre begrenzte. Die Richter des höchsten Gerichts wurden vom Gouverneur mit Zustimmung des Senats ernannt, die Präsidenten der Bezirksgerichte in gemeinsamer Wahl von beiden Häusern der Legislative und die übrigen Richter vom Volk gewählt.484 Wie es scheint, ist es dann die Verfassung von Mississippi von 1832, die als erste für alle Richter die Volkswahl auf je nach Gericht zwischen zwei und sechs Jahren einführte.485 Damit waren die Grundlinien aufgezeigt, nach denen die Entwicklung bis zum Bürgerkrieg verlief: Die Amtszeiten der 478

Verfassungen von Delaware von 1792, Art. VI, Abs. 2, von 1831, Art. VI, Abs. 14, von 1853 (fehlgeschlagen), Art. VII, Abs. 14, in: ebd., I, 227, 251, 280. 479 Verfassung von Maryland von 1851, Rechteerklärung, Abs. 30, Art. IV, Abs. 4, 9, in: ebd., III, 421, 433, 434. 480 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 23, in: ebd., V, 335. 481 Vgl. dazu Saye, A Constitutional History of Georgia 1732 – 1945, 111 – 113. 482 Verfassungen von Georgia von 1789, Art. III, Abs. 5, und 1798, Art. III, Abs. 1, 4, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 26, 37, 38. 483 Verfassung von Georgia von 1798, Zusatzartikel von 1812, in: ebd., 48. 484 Verfassung von Indiana von 1816, Art. V, Abs. 4, 7, in: ebd., 181. 485 Verfassung von Mississippi von 1832, Art. IV, 2, 11, 18, in: ebd., IV, 197, 198.

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III. Nordamerika

Richter wurden durch die neueren Verfassungen, und das betraf damit naturgemäß in besonderem Maße die neuen Staaten im Westen, begrenzt, wobei die normale Amtsperiode auch bei obersten Gerichten eher unter als über zehn Jahre lag, und eine wachsende Zahl von Staaten ging zur Volkswahl der Richter zumindest an den unteren Gerichten, teilweise aber auch bis zum höchsten Gericht über, so New York 1846, Illinois 1848, Wisconsin 1848, Kentucky 1850, Michigan 1850, Indiana 1851, Maryland 1851, Ohio 1851, Louisiana 1852, Iowa 1857,486 Minnesota 1857 und Oregon 1857. Damit hatte der Grundsatz demokratischer Legitimation und Verantwortlichkeit in einer wachsenden Zahl von Staaten die Oberhand über die reine Lehre der richterlichen Unabhängigkeit erlangt, für die nach wie vor die Bundesverfassung eintrat.487 Damit bleibt als zehntes Prinzip des modernen Konstitutionalismus noch die Veränderbarkeit der Verfassung unter Mitwirkung des Volkes. Wie bereits erwähnt, hatte die Rechteerklärung von Virginia von 1776 verkündet, dass, wann immer die Verfassung nicht in der Lage sei, das Glück und die Sicherheit des Volkes zu gewährleisten, „die Mehrheit der Gemeinschaft das unzweifelhafte, unveräußerliche und unantastbare Recht habe, [sie] zu reformieren, ändern oder abzuschaffen“.488 So unumstritten diese Bestimmung auch erscheinen mag, ergaben sich in der Folge zahlreiche Differenzen bei der praktischen Umsetzung dieser pauschalen Feststellung. Es gab, wie oben dargelegt, nicht nur in wachsendem Maße sogenannte Ewigkeitsklauseln, die bestimmte Bestimmungen, häufig die Rechteerklärungen, von jeder Veränderung ausnahmen, sondern es stellte sich darüber hinaus die Frage, wer überhaupt befugt sei, einen Revisionsantrag auf den Weg zu bringen und wer letztlich das in der Regel ausschließliche Recht besaß, über einen derartigen Antrag letztverbindlich zu entscheiden. Zunächst fällt auf, dass von der Verfassung von Virginia von 1776 bis zur Verfassung von Virginia von 1851 insgesamt acht Verfassungen keine praktischen Bestimmungen zur Amendierung der Verfassung enthielten. Doch dass eine Verfassung ohne die aktive Mitwirkung des Volkes geändert werden konnte, wie etwa 1776 in Delaware oder 1778 in South Carolina, war letztlich die Ausnahme. Selbst eine Bestimmung wie die von Arkansas von 1836, nach der beide Häuser der Legislative die Verfassungszusätze mit je Zweidrittelmehrheit billigten, diese daraufhin in den Zeitungen veröffentlichten und die Legislative nach der nächsten Wahl die

486 Vgl. Benjamin F. Shambaugh, History of the Constitutions of Iowa, Des Moines: Historical Department of Iowa, 1902, 350; ders., The Constitutions of Iowa, Iowa City: Athens Press, 1934, 275 – 276. 487 Inzwischen wird die Unabhängigkeit der Justiz von rechten Republikanern zunehmend offen in Frage gestellt, vgl. „Outraged by Kansas Justices’ Rulings, Republicans Seek to Reshape Court“, in: New York Times, 2. April 2016; „Pennsylvania G.O.P.’s Push for More Power Over Judiciary Raises Alarms“, in: New York Times, 15. Februar 2021. 488 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 3, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153.

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Zusätze mit einfacher Mehrheit verabschiedete,489 stellt eher ein unübliches Verfahren dar. Doch das Gegenteil war ebenso ungewöhnlich: „Aber [die Legislative] soll keine Macht haben, irgendeinem Teil dieser Verfassung etwas hinzuzufügen, ihn zu ändern, abzuschaffen oder zu verletzen.“490 Dafür war nämlich in der Verfassung von Pennsylvania von 1776 allein der Zensorenrat (Council of censors) zuständig, der alle sieben Jahre gegebenenfalls entsprechende Vorschläge zu beschließen hatte, über die dann ein zu diesem Zweck gewählter Konvent endgültig zu entscheiden hatte (Abs. 47), eine Verfassungskonstruktion, die in Vermont über die Verfassungen von 1777, 1786 und 1793 bis 1870 weiterlebte. Doch die generelle Philosophie dahinter prägt das amerikanische Verfassungsleben bis heute: Eine Verfassung muss dem Volk die Möglichkeit eröffnen, seine „Verfassung in einer friedlichen Weise zu verbessern oder zu verändern, sofern es ihm angebracht erscheint“.491 Dabei sollten die Hürden nicht zu niedrig sein, um unbedachte oder willkürliche Änderungen auszuschließen, aber auch nicht so hoch, dass Änderungen damit faktisch unmöglich gemacht wurden, wie etwa bei der Bundesverfassung von 1787, die praktisch unveränderbar ist und es in nunmehr über 230 Jahren gerade einmal auf 27 Zusatzartikel gebracht hat – nach Abzug der ersten zehn von 1791 bleiben 17, von denen wiederum der jüngste von 1992 tatsächlich ein Artikel der ursprünglich zwölf Artikel umfassenden Bill of Rights ist, der nun mit zweihundertjähriger Verspätung eingefügt wurde, so dass tatsächlich nur 16 Zusatzartikel neu hinzugekommen sind, von denen wiederum der 18. Zusatzartikel von 1919 (Prohibition) durch den 21. Zusatzartikel von 1933 aufgehoben wurde, so dass lediglich 14 Neuzusätze nach 1791 übrigbleiben –, denen Zehntausende gescheiterte Versuche der Verfassungsänderung gegenüberstehen. Zwei unterschiedliche Wege der Verfassungsänderung, beide in der Bundesverfassung angelegt, haben sich in den Einzelstaatsverfassungen bis zum Bürgerkrieg niedergeschlagen. Der eine, historisch ältere Weg, der auf das England des 17. Jahrhunderts zurückverweist, bedient sich des Verfassungskonvents,492 dessen prominentestes und deutlich den amerikanischen Weg markierendes Beispiel der Bundeskonvent zur Erstellung der Bundesverfassung von 1787 war. Der andere, direktere Weg wendet sich unmittelbar an das Volk. Beide verkörpern einen mehrjährigen Prozess, dessen Stationen im ersteren Fall mit der Feststellung der Legislative beginnt, dass eine Verfassungsänderung angebracht sei, über eine Volksabstimmung darüber, ob ein Konvent einberufen werden solle, dessen Wahl im Falle einer zustimmenden Antwort, seine Beratungen und Beschlüsse und deren Bestätigung oder Verwerfung durch das Volk. Im zweiten Fall beschlossen beide Häuser 489 Verfassung von Arkansas von 1836, Art. IV, Absatz über die Verfassungsänderung, in: ebd., I, 128. Vgl. Jesse Turner, „The Constitution of 1836“, in: Publications of The Arkansas Historical Association, 3 (1911), 74 – 166. 490 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 9, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 327. 491 Verfassung von Kentucky von 1792, Art. XI, Abs. 1, in: ebd., III, 19. 492 Zum Verfassungskonvent jenseits der USA, vgl. unten Kap. IV. 2., VI. 9., VII. 2.

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III. Nordamerika

der Legislative, in der Regel mit einer erhöhten Mehrheit eine Verfassungsänderung, die oftmals durch die nächste Legislative nach einer Wahl bestätigt werden musste, deren Beschluss darauf dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden musste und nach der Annahme häufig nochmals durch die Legislative bekräftigt werden musste. In beiden Fällen vergingen Jahre für eine erfolgreiche Verfassungsänderung. Doch in beiden spielte das Volk legitimatorisch die entscheidende Rolle. Ganz grob ließe sich sagen, dass in den ersten vierzig Jahren zwischen Revolution und Bürgerkrieg das Konventsmodell die bevorzugte Lösung darstellte, während es in den zweiten vierzig Jahren eher die Variante Legislative plus Volk zu sein scheint. Aber es gab auch Verfassungen, die offen für beide Varianten waren, darunter South Carolina 1790, Florida 1839, Illinois 1848,493 Wisconsin 1848, Kalifornien 1849, Ohio 1851, Minnesota 1857 oder die Leavenworth und Wyandotte Verfassungen von Kansas von 1858 bzw. 1859. Michigan kannte dabei 1835 eine besondere Variante, indem „normale“ Amendierungen mittels Legislative und Volk erfolgen sollten. Sollten jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt zwei Drittel von Senat und Repräsentantenhaus es für angebracht halten, „diese ganze Verfassung zu revidieren oder zu ändern“, dann sollte diese Totalrevision von einem Konvent vorgenommen werden.494 Grundsätzlicher war die Position von Massachusetts von 1780 gewesen, dem sich New Hampshire 1792 angeschlossen hatte: „Um wirkungsvoller die Prinzipien der Verfassung beizubehalten und jene Verletzungen zu korrigieren, die auf welche Art auch immer gemacht worden sein mögen, aber auch um solche Veränderungen vorzunehmen, die dank der Erfahrung notwendig erscheinen mögen,“ sollte nach fünfzehn Jahren das Volk befragt werden, ob derartige Änderungen vorgenommen werden sollten. Sollte es sich mit einer Zweidrittelmehrheit dafür ausgesprochen haben, sollte ein Konvent zu diesem Zweck einberufen werden.495 New Hampshire hatte dabei einen Modus ins Spiel gebracht, der in der Folge auch von einigen anderen Staaten aufgegriffen wurde. Hatte die Massachusetts-Bestimmung eher an einen einmaligen Vorgang gedacht, der für das Jahr 1795 angesetzt war, sah New Hampshire ab 1792 eine entsprechende Volksbefragung alle sieben Jahre vor. Indiana schlug diese mit seiner Verfassung von 1816 für alle zwölf Jahre vor,496 New York 1846 und Ohio 1851 alle zwanzig Jahre, Michigan 1850 alle sechzehn Jahre und Louisiana mit seiner Verfassung von 1852 ab 1870 alle zehn Jahre. Offensichtlich hatten derartige Bestimmungen nicht stets wirklichen Bestand. Doch die Verfassung von Ohio von 1851 ist heute noch in Kraft, und die periodische Volks493 Vgl. Gerald Leonard, The Invention of Party Politics. Federalism, Popular Sovereignty and Constitutional Development in Jacksonian Illinois, Chapel Hill und London: University of North Carolina Press, 2002, bes. 245 – 252; Cornelius, Constitution Making in Illinois, bes. 41 – 42. 494 Verfassung von Michigan von 1835, Art. XIII, Abs. 2, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 97. 495 Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. II, Kap. VI, Art. 10, in: ebd., 38. 496 Vgl. Charles Kettleborough, Constitution Making in Indiana, 4 Bde., Indianapolis: Indiana Historical Commission, 1916 – 1978, I, xxxiii – xl.

3. Die Ausbreitung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus

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befragung alle zwanzig Jahre, ob ein Konvent zur Verfassungsreform einberufen werden soll, gilt unverändert. Wenn wir die Durchsetzung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in den amerikanischen Einzelstaatsverfassungen quantifizieren wollen, so stellen wir fest, dass der Durchsetzungsgrad von der Rechteerklärung von Virginia bis zur Bundesverfassung gemittelt über alle Verfassungen dieses Zeitraums bei rund 70 % lag. Mit der Annahme der Bundesverfassung bis zur Wahl Andrew Jacksons 1828 stieg diese Durchsetzungsquote auf rund 85 %, während sie von der Präsidentschaft Jacksons bis zum Bürgerkrieg auf rund 80 % sank, was letztlich den Problemen mit der Unabhängigkeit der Judikativen geschuldet war. Damit wird einerseits deutlich, dass der Durchsetzung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus nicht allein die radikale Opposition in einigen Staaten anfänglich hinderlich im Wege stand, sondern auch dass schließlich die Bundesverfassung entscheidend zur Beförderung dieses Prozesses beigetragen hat. Spätestens ab den 1830er Jahren wurde dann die fortschreitende Demokratisierung des Landes zu einer neuen Herausforderung, der die eine oder andere Verfassung zwischen Michigan und Louisiana weniger in der Lage war zu begegnen und diese in einem nachhaltigen konstitutionellen Konzept auf der Basis des modernen Konstitutionalismus zu verankern als andere, ohne dass dabei grundsätzliche Opposition zu diesem modernen Konstitutionalismus erkennbar geworden wäre. Wie in Europa und Lateinamerika, wie spätere Kapitel ergeben werden, hatte der moderne Konstitutionalismus in den Vereinigten Staaten seit 1776 Höhen und Tiefen durchlaufen. Manche seiner Prinzipien setzten sich leicht und ohne größere Widerstände durch, andere brauchten ihre Zeit zur allgemeinen Akzeptanz und Umsetzung, was nicht allen in gleichem Maße gelang, während andere wiederum anhaltende Gegenbewegungen hervorriefen, die einen ursprünglichen Konsens aufzureiben drohten. Doch insgesamt wird man feststellen müssen, dass jene Geburt, die wir mit der Rechteerklärung von Virginia rückblickend für den 12. Juni 1776 konstatieren können, nicht zuletzt deswegen jener Gründungsakt von inzwischen globaler Dimension gewesen ist, weil sich seine Prinzipien manchen Anfeindungen und Ablehnungen zum Trotz schließlich in den Vereinigten Staaten durchsetzten und dieser Prozess eingesetzt hatte, bevor seine Ideen und Prinzipien auf Europa und Lateinamerika übersprangen. Dass dieser moderne Konstitutionalismus dennoch selbst dort, wo er als etabliert anzusehen ist, heute wiederum durchaus Feinde hat,497 ist eine Erfahrung, die aktueller denn je erscheint. Aber die Entwicklung des modernen Konstitutionalismus in den Vereinigten Staaten zwischen Revolution und Bürgerkrieg zeigt ebenso nachdrücklich, dass dieser sich immer wieder den Herausforderungen der Demokratie stellen und für sein Weiterbestehen seinen Einklang mit den Demokratievorstellungen der Gesellschaft stets aufs Neue begründen muss, was Demokratiegegner zugleich zu Feinden des modernen Konstitutionalismus macht. 497

Vgl. dazu unten Kap. III. 8.

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III. Nordamerika Anhang

3. Die Ausbreitung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus – Anhang

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Legende: Überschriften: VS = Volkssouveränität, UP = universelle Prinzipien, RE = Rechteerklärung; BR = begrenzte Regierung; SV = Suprematie der Verfassung; RR = repräsentative Regierung; GT = Gewaltentrennung; VA = Verantwortlichkeit; UJ = Unabhängigkeit der Judikative; RK = Revisionsklausel Verfassungsnachweise: PR = Präambel; RE = Rechteerklärung; VF = Verfassung Amerikanische Bundesstaaten: AL = Alabama; AR = Arkansas; CA = Kalifornien; CT = Connecticut; DE = Delaware; FL = Florida; GA = Georgia; IA = Iowa; IL = Illinois; IN = Indiana; KS = Kansas; KY = Kentucky; LA = Louisiana; MA = Massachusetts; MD = Maryland; ME = Maine; MI = Michigan; MN = Minnesota; MO = Missouri; MS = Mississippi; NC = North Carolina; NH = New Hampshire, NJ = New Jersey; NY = New York; OH = Ohio; OR = Oregon; PA = Pennsylvania; RI = Rhode Island; SC = South Carolina, TN = Tennessee; TX = Texas; VA = Virginia, VT = Vermont; WI = Wisconsin

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III. Nordamerika

4. Zum modernen Konstitutionalismus durch die Hintertür. Rhode Island 1841: Rechtskodifikation als Verfassungsersatz498 „Wie verschieden die Verfassungen der einzelnen Freistaaten sind, und welche Freiheit innerer Entwickelung und Konstituirung ihnen gestattet ist, zeigt Rhod Island, welcher Staat von einigen wenigen Familien altenglischer Abkunft regiert wird, während der großen Bevölkerung unter Präsident Doer es nicht gelang, auf dem Wege der Revolution, selbst in neuester Zeit nicht, dieses alte System zu brechen, und eine freiere Verfassung herbeizuführen, ja man hielt sich nicht einmal von Seiten des Congresses für befugt, hier einzuschreiten, und einen inneren Bürgerkrieg zu verhüten, geschweige denn diktatorisch zu verfahren, sondern man hat beide Theile nur freundlich bedeutet auf dem Wege ruhiger Reform die Sache zu schlichten, oder sie zu belassen.“499

Der steinige, sieben Jahrzehnte währende Weg Rhode Islands zu einer Verfassung auf der Grundlage des modernen Konstitutionalismus, dessen Höhepunkt mit dem „Dorr Krieg“ oder der „Dorr Rebellion“ von 1842 hier von Friedrich Hundeshagen geschildert wird, der zehn Jahre in den Vereinigten Staaten zugebracht hatte, ist nicht nur ohne Beispiel in der amerikanischen Geschichte, sondern auch um eine weitere atypische Facette reicher, als in den einschlägigen Untersuchungen dargelegt wird.500 Dabei hatte Rhode Islands Ausscheren aus dem amerikanischen Mainstream eine Vorgeschichte, die zur Konsequenz hatte, dass Rhode Island ebenso wenig wie das benachbarte Connecticut es für nötig hielten, sich in Folge der Unabhängigkeitserklärung von 1776 entsprechend dem Beispiel der übrigen ehemals britischen Kolonien in Nordamerika eine Verfassung zu geben.501 Anders als in den übrigen Kolonien war unter dem Druck der militärischen Ereignisse die zivile Verwaltung nicht zusammengebrochen. Dass der Gouverneur sich nicht auf das nächstgelegene britische Kriegsschiff hatte retten müssen, lag daran, dass er kein königlicher Be498

Überarbeitete Version meines Beitrags „Rechtskodifikation als Verfassungsersatz: Das Beispiel Rhode Island“, in: Bürgerliche Gesellschaft auf dem Papier: Konstruktion, Kodifikation und Realisation der Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie, hrg. v. Wilhelm Brauneder und Milan Hlavacka, Berlin: Duncker & Humblot, 2014, 35 – 51. Mein besonderer Dank gilt Christopher Brooks, Brandon Haynes, Matthias Schneider und Lee Teverow für die Unterstützung bei der Literaturrecherche. 499 Friedrich Hundeshagen, Das deutsche Parlament. An das deutsche Volk und seine Vertreter in Frankfurt a. M., 2. Abdruck, Frankfurt a. M.: Heinrich Ludwig Brönner, 1848, 24. 500 Vgl. dazu die einleitende Feststellung von Elmer Cornwell, „Constitutionalism in Rhode Island: Continuity of Colonial Design“, in: The Constitutionalism of American States, hrg. v. George E. Connor und Christopher W. Hammons, Columbia und London: University of Missouri Press, 2008, 63 – 76, hier 63: „In größerem Maße als in den meisten anderen Staaten hatten sich Rhode Islands politische Struktur und Verfassung fast vollständig als Antwort auf lokale Bedürfnisse und Wünsche entwickelt.“ 501 Der knappe Abriss der historischen Entwicklung Rhode Islands folgt im wesentlichen der Standarddarstellung von Patrick T. Conley, Democracy in Decline. Rhode Island’s Constitutional Development 1776 – 1841, Providence, R.I.: Rhode Island Historical Society, 1977. Vgl. auch die ältere, populäre Darstellung von Arthur May Mowry, The Dorr War. The Constitutional Struggle in Rhode Island, [1901], Ndr. New York und London: Chelsea House, 1970.

4. Zum modernen Konstitutionalismus durch die Hintertür. Rhode Island 1841

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amter war, sondern sein Amt allein der Wahl des Volkes verdankte, wie es der königliche Freibrief (Charter) Rhode Islands von 1663 bestimmte. Nicht der König oder der Eigentümer der Kolonie, wie in den übrigen Kolonien, setzte den Gouverneur und seinen Rat ein, sondern alle politischen Ämter gingen aus der Volkswahl hervor und bedurften keiner weiteren königlichen Sanktion. Gleiches galt für die Gesetze der Legislative, die London in der Vergangenheit nur dann hatte annullieren können, wenn sie britischen Gesetzen widersprachen. Angesichts dieses demokratischen Grundcharakters hatte es 1776 keinen Anlass gegeben, nach einem Ersatz für die Charter von 1663 zu suchen. Erst im Laufe der 1780er Jahre begann sich diese Haltung allmählich zu ändern, und die Ursachen dafür lagen innerhalb wie außerhalb Rhode Islands. In einer wachsenden Zahl von Staaten hatten sich Verfassungen auf der Basis des modernen Konstitutionalismus durchgesetzt, als prominenteste Beispiele die Verfassung von 1780 im benachbarten Massachusetts und dann die amerikanische Bundesverfassung von 1787 einschließlich der hinzugefügten Bill of Rights. Beides fehlte in Rhode Island, wo die Charter von 1663 die Legislative nahezu allmächtig gemacht hatte.502 Hinzu kam, dass man aus einer Reihe von Gründen bei dem Verfassungskonvent von Philadelphia erst gar nicht mitgemacht hatte, so dass im Laufe des Jahres 1790 der Druck von innen und außen auf Rhode Island ständig wuchs, als letzter der dreizehn Staaten nun endlich die Bundesverfassung zu ratifizieren. Ein weiterer Grund, der in diesen Jahren den Ruf nach Abschaffung der Charter von 1663 und der Einführung einer Verfassung auf der Basis des modernen Konstitutionalismus laut werden ließ, lag in der Bevölkerungsentwicklung des Staates, die insbesondere dem Norden und Nordosten Rhode Islands zugutekam. Dem stand entgegen, dass die Charter die Repräsentation der einzelnen Städte in der Legislative festgeschrieben hatte, wovon insbesondere der Süden und Westen profitierte, deren Bevölkerungszahlen jedoch stagnierten oder gar rückläufig waren. Dieser Konflikt, sehr vereinfacht zwischen Newport im Süden und Providence im Norden, den Hundeshagen nicht weniger vereinfachend als den zwischen „einigen wenigen Familien altenglischer Abkunft“ und der „großen Bevölkerung“ bezeichnet hatte, eskalierte mit der Steuerfestsetzung von 1796, die bewirkte, dass entsprechend der innerstaatlichen sozioökonomischen Verschiebungen die Städte des Nordens und Nordostens fortan eine deutlich erhöhte Steuerlast zu tragen hatten, während die Belastungen für die stagnierenden bzw. schrumpfenden Städte im Süden und Westen kaum oder nur mäßig stiegen. Das gleiche sollte sich 1823, bei der nächsten Steuerfestsetzung, wiederholen, mit der sich die Steuerlast von Providence gegenüber 1796 mehr als verdreifachte und damit fast das Fünffache von Newport erreichte, dessen Belastung gegenüber 1796 lediglich um ein Drittel angewachsen war,503 ohne 502

Vgl. dazu auch Patrick T. Conley, Neither Separate nor Equal. Legislative and Executive in Rhode Island Constitutional History, East Providence: Rhode Island Historical Society, 1999, bes. 48 – 60. 503 Dazu Conley, Democracy in Decline, 159.

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III. Nordamerika

dass sich irgendetwas an der ungleichen politischen Gewichtung der Städte geändert hätte, da die Charter unveränderbar war. 1796 war es bei Protesten und dem Ruf nach einer Verfassung geblieben. Knapp dreißig Jahre später waren die Kräfte der Beharrung immerhin bereit, der Einberufung eines Verfassungskonvents zuzustimmen. Allerdings konnten sie durchsetzen, dass dieser Konvent nach dem den Norden und Nordosten benachteiligenden Repräsentationsmodus der Charter zusammengesetzt war. Das Ergebnis war eine Verfassung, die die Ungleichheit der Repräsentation zwar minderte, aber nicht beseitigte, und die allen entgegenlautenden Forderungen zum Trotz an dem hohen Wahlzensus von $ 134 festhielt, der 1760 mit £ 40 festgelegt worden war, was nach der offiziellen Umrechnung von 1798 den seither gültigen Dollarbetrag ergab.504 Es überrascht nicht, dass dieser Verfassungsentwurf von 1824 in der anschließenden Volksabstimmung durchfiel. Damit war das Thema Verfassung für die Reformkräfte nicht vom Tisch, und angesichts ihres anhaltenden Drucks wurde 1834 ein neuer Verfassungskonvent, jedoch wiederum auf der Repräsentationsbasis von 1824, einberufen. Das Ergebnis war noch niederschmetternder als zehn Jahre zuvor, indem sich dieser zweite Konvent erst gar nicht auf einen Verfassungstext hatte einigen können und sich schließlich unverrichteter Dinge vertagte, ohne jemals wieder zusammenzutreten. Wo die Verfassungsbewegung an den Kräften der Beharrung scheiterte, sollte Hilfe von ganz untypischer Seite kommen: der Rechtskodifikation. Wenn hier von Rechtskodifikation gesprochen wird, so sind damit nicht jene Versuche der 1820er Jahre und der beiden folgenden Jahrzehnte gemeint, die zu Ende des 19. Jahrhunderts noch eine gewisse Wiederbelebung fanden, allerdings ebenso ausnahmslos scheiterten, eine Kodifikation des Common Law zu bewerkstelligen.505 Vielmehr geht es bei den hier gemeinten Rechtskodifikationen um die jeweilige Revision und Zusammenfassung des gültigen gesetzten Rechtes, die zwar angesichts ihrer chronologischen, teilweise auch alphabetischen Anordnung nicht europäischen Kodifikationen vergleichbar waren, aber doch der Rechtssicherheit und Rechtsvereinheitlichung dienen sollten. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wurden diese Zusammenstellungen des gültigen Gesetzesrechtes in den amerikanischen Staaten durchgeführt, wobei das Procedere mitunter in den Verfassungen geregelt war. Bis 1815 verfügten zehn der ursprünglichen dreizehn amerikanischen Staaten einschließlich Vermonts, des vierzehnten Staats, über eine derartige Kodifikation.506 504 Vgl. dazu Elisha Reynolds Potter, Considerations on the Questions of the Adoption of a Constitution, and Extension of Suffrage in Rhode Island, Boston: Thomas H. Webb & Co., 1842, 10 – 11. 505 Vgl. dazu das Standardwerk von Charles M. Cook, The American Codification Movement. A Study of Antebellum Legal Reform, Westport, CT: Greenwood Press, 1981. Zu den Bestrebungen in den 1880er Jahren, vgl. Kunal M. Parker, Common Law, History, and Democracy in America, 1790 – 1900. Legal Thought before Modernism, New York: Cambridge University Press, 2011, 238 – 240. 506 Cook, The American Codification Movement, 25, 42.

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In Rhode Island hatte es die letzte Gesetzessammlung (Law Digest) der Kolonialzeit, wie diese Kodifikationen genannt wurden, im Jahr 1767 gegeben. Der nächste war die Gesetzessammlung von 1798 (Digest of 1798), mit dem erstmals versucht wurde, das Fehlen einer Verfassung und einer Menschenrechtserklärung zumindest teilweise zu kompensieren. Die Rechteerklärung (Declaration of Rights) von Rhode Island vom Mai 1790 war in den politischen Kontroversen um die nur mit Mühe erfolgte Ratifizierung der Bundesverfassung durch den Staat untergegangen,507 und die knappe politische Mehrheit, die sie getragen hatte, vermochte nicht, der Politik des Staates in den nachfolgenden Jahren ihren Stempel aufzudrücken. Doch bei der Kodifizierung von 1798 wurde der verbreitete Ruf der letzten Jahre nach einer Verfassung samt Erklärung der Rechte insofern aufgegriffen, als der Kodifikation eine eigens dafür konzipierte Ersatz-Menschenrechtserklärung vorangestellt wurde, ein singulärer Vorgang in den amerikanischen Staaten dieser Zeit. Erstmals wurde damit der Weg der Rechtskodifikation beschritten, um, über Einzelfallregelungen hinausgehend, für einen zentralen Teilbereich einen Verfassungsersatz zu schaffen. Zwar war bereits der Kodifikation von Connecticut von 1784 ein Gesetz zur Erklärung der Rechte und Privilegien der Bewohner dieses Staates (An Act containing an Abstract and Declaration of the Rights and Privileges of the People of this State, and securing the same) beigefügt worden, doch beließ es dieses kurze Gesetz dabei, sich pauschal auf die alten Rechte zu berufen, die das Volk von Connecticut kraft seiner Charter von 1662 seit altersher besessen habe und bekräftigte nochmals ausdrücklich den Grundsatz der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz sowie der Bestimmungen des Habeas Corpus-Gesetzes.508 Ganz anders dagegen Rhode Islands Gesetz zur Erklärung bestimmter Rechte der Bewohner dieses Staats (An Act declaratory of certain Rights of the People of this State), der der Gesetzessammlung von 1798 vorangestellt war.509 Da „eine Erklärung bestimmter Rechte von dieser Ver507 Zur Entstehung und zum Text dieser Erklärung, Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 421 – 426. Der Ratifizierungskonvent hatte am 29. Mai 1790 die Bundesverfassung mit 34 : 32 Stimmen angenommen, knapper als in jedem anderen Staat, vgl. Patrick T. Conley, „Rhode Island: First in War, Last in Peace. Rhode Island and the Constitution, 1786 – 1790“, in: The Constitution and the States. The Role of the Original Thirteen in the Framing and Adoption of the Federal Constitution, hrg. v. dems. und John P. Kaminski, Madison, WI: Madison House, 1988, 269 – 294, hier 278. 508 Acts and Laws of the State of Connecticut, in America, New-London: Printed by Timothy Green, Printer to the Governor and Company of the State of Connecticut, 1784, 1 – 2. Dieses Gesetz erschien dann erneut in leicht modifizierter, aber inhaltlich nicht über die Substanz von 1784 hinausgehender Form als „Title I. Declaration of Rights“ in der Kodifikation von 1808: The Public Statute Laws of the State of Connecticut. Book I. Published by Authority of the General Assembly, Hartford: Printed by Hudson and Goodwin, 1808, 23 – 24. Die erste moderne Verfassung Connecticuts trat erst im Jahr 1818 in Kraft. 509 Vgl. dazu auch die sehr knappen Bemerkungen von Patrick T. Conley, „The Bill of Rights and Rhode Island“, in: ders., Liberty and Justice: A History of Law and Lawyers in Rhode Island, 1636 – 1998, East Providence: Rhode Island Historical Society, 1998, 204 – 205.

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sammlung als höchst angemessen und notwendig erachtet“ wurde, wurden bestimmte Rechte deklariert, die fortan als „die angeborenen und unbezweifelten Rechte des Volkes, das innerhalb der Grenzen und Gerichtsbarkeit dieses Staates wohnt“, anzusehen waren, die als „höchste Verpflichtung in allen legislativen, judikativen und exekutiven Verfahren“ gelten sollten.510 Was hier, in Ermanglung einer modernen Verfassung unternommen wurde, war mithin nichts anderes als der Versuch, mit den Mitteln der gewöhnlichen Gesetzgebung allgemeine Menschenrechte zu fundamentalisieren,511 wenngleich ihre Rechtsverbindlichkeit für jedwedes staatliche Handeln vielfach nur als moralische Verpflichtung proklamiert,512 jedoch mangels einer tatsächlichen Verfassung nicht als höherrangiges Recht konstitutionalisiert werden konnte. Hier sollte also ganz konkret die Rechtskodifikation den Ersatz für die fehlende Menschenrechtserklärung einer Verfassung liefern. Die zehn Absätze des Gesetzes dokumentieren diese Absicht eindeutig: „Abs. 1. Jede Person in diesem Staat sollte ein bestimmtes Rechtsmittel finden, indem ihr der Rechtsweg bei allen Kränkungen und Unrecht offensteht, die sie in ihrer Person, Besitz oder Charakter erlitten haben mag. Sie sollte Recht und Gerechtigkeit frei erhalten und ohne verpflichtet zu sein, sie zu kaufen; vollständig und ohne Verweigerung; zügig und ohne Verzögerung; im Einklang mit den Gesetzen. Abs. 2. Das Recht des Volks, bezüglich seiner Person, Wohnung, Papieren und Besitzungen gegen unbillige Durchsuchungen und Beschlagnahmen sicher zu sein, soll nicht verletzt werden; und kein Vollziehungsbefehl soll ausgegeben werden, es sei denn aufgrund einer schriftlichen und hinreichend begründeten und beeidigten Anzeige, die so genau wie möglich den Ort der Durchsuchung und die zu ergreifende Person oder Sachen beschreibt. Abs. 3. Niemand soll aufgrund eines Kapital- oder anderen schweren Verbrechens in Haft genommen werden, es sei denn aufgrund einer Vorladung oder Anklage durch einen Richter (by a Grand Jury), außer in Fällen der Land- oder Seestreitkräfte oder 510 The Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, As revised by a Committee, and finally enacted by the Honourable General Assembly, at their Session in January, 1798. To which are prefixed The Charter, Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, and President Washington’s Address of September, 1796. Published by Authority, Providence: Carter and Wilkinson, 1798, 79. 511 Zur Unterscheidung zwischen Fundamentalisierung und Konstitutionalisierung von Menschenrechten, vgl. Gerald Stourzh, „Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Genese des modernen Verfassungsbegriffs“, in: Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamentalgesetze, hrg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977, 294 – 328, erweiterter Wiederabdruck in Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien – Köln: Böhlau, 1989, 1 – 35. 512 Auf das Fehlen dieses normativen Zwanges weist unter anderem auch der in der Hälfte der Absätze praktizierte Sprachgebrauch von „ought to“ anstelle des autoritativen „shall“ hin, wie er sich in den Einzelstaatsverfassungen seit 1790 durchgesetzt hatte. Vgl. dazu Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge und London: Louisiana State University Press, 1980, 65 – 67; vgl. dazu auch unten Kap. III. 7.

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der zum Dienst in Kriegs- oder Gefahrenzeiten einberufenen Miliz. Niemand soll wegen derselben Tat zweimal in Gefahr von Leib und Leben gebracht werden. Abs. 4. Überhöhte Kaution soll nicht verlangt noch überhöhte Gebühren auferlegt werden, noch sollen grausame Strafen verhängt werden; und alle Strafen sollen der Tat angemessen sein. Abs. 5. Alle Inhaftierten sollen bei hinreichenden Sicherheiten auf Kaution freigelassen werden, außer im Falle von Kapitalverbrechen, wenn die Beweise eindeutig oder die Mutmaßung groß ist; und das Habeas corpus-Privileg soll nicht ausgesetzt werden, außer wenn es die öffentliche Sicherheit im Falle einer Rebellion oder Invasion erfordert. Abs. 6. In allen Strafsachen hat der Angeklagte das Recht auf ein zügiges und öffentliches Verfahren vor unparteiischen Geschworenen, über die Natur und Ursache der Anklage informiert, den Zeugen der Gegenpartei gegenübergestellt und Zeugen zu seinen Gunsten vorgelassen zu werden sowie die Unterstützung durch einen Anwalt zu seiner Verteidigung zu haben; noch kann er um Leben, Freiheit und Besitz gebracht werden außer durch einen Urteilsspruch von seinesgleichen oder nach den Gesetzen des Landes. Abs. 7. Außer im begründeten Verdacht des Betrugs kann ein Schuldner nicht in Haft gelassen werden, nachdem er seinen Besitz zugunsten seiner Gläubiger in der Art und Weise herausgegeben hat, wie es das Gesetz vorschreibt. Abs. 8. Rückwirkende Gesetze, die eine Tat bestrafen, die begangen wurde, bevor es das entsprechende Gesetz gab, sind schikanös und ungerecht und sollten nicht erlassen werden. Abs. 9. Niemand sollte in Gerichtsverfahren gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen. Abs. 10. Jedermann gilt als unschuldig, solange er nicht nach dem Gesetz verurteilt wurde; alle Zwangsmaßnahmen, die nicht erforderlich sind, um einer beschuldigten Person habhaft zu werden, sollten unterbleiben.“513

Es waren Bestimmungen, wie sie aus den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden amerikanischen Rechteerklärungen längst hinreichend bekannt waren. So ist Abs. 1 mit der Rechtswegegarantie praktisch die wörtliche Wiedergabe des entsprechenden Absatzes (Tl. I, Art. XI) der Verfassung von Massachusetts von 1780. Abs. 2 mit dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Durchsuchung ist die Kopie des sechsten Artikels der Bill of Rights der Bundesverfassung, deren Art. VII, IX und VIII ebenfalls der Text für die Abs. 3 (Garantie des Anklageverfahrens), 4 (Angemessenheit von Kautionen und Strafen) und 6 (Rechtsgarantien für den Angeklagten) entnommen wurde. Eine weitere Textvorlage bot die Rechteerklärung der Verfassung von Pennsylvania von 1790 (Art. IX), deren Abs. 14, 9 und 16 sich hier als Abs. 5 (Recht der Kautionsstellung und Habeas-Corpus-Garantie), 6 (das Recht, nur von Seinesgleichen oder nach den Gesetzen des Landes verurteilt zu werden) und 7 (Schuldnerschutz) wiederfinden. Die Abs. 8 (Verbot rückwirkender Gesetze) und 9

513

Public Laws of Rhode Island, 1798, 79 – 81.

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III. Nordamerika

(Recht der Aussageverweigerung) waren wiederum wörtlich der Rechteerklärung von Delaware von 1776 (Art. 11 und 15) entnommen.514 Allein für den zehnten Absatz (Unschuldsvermutung) fand sich in den amerikanischen Verfassungen und Rechteerklärungen der zurückliegenden zwei Dezennien kein Vorbild, so dass sich in diesem Fall allein der Art. 9 der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789 als unmittelbar einschlägige Quelle anbietet,515 dessen Bestimmungen hier erstmals ihren Niederschlag in Amerika finden.516 Dieser Artikel wurde in der Folge so hoch bewertet wurde, dass er nicht nur in den Rechtekatalog der gescheiterten Verfassung von 1824 (Art. VI, Abs. 10), sondern auch in die Rechteerklärungen aller drei Verfassungstexte Rhode Islands von 1841/42 aufgenommen wurde.517 In der Tat hatte der Verfassungsentwurf von 1824 alle zehn Absätze des Gesetzes von 1798 wörtlich als Abs. 1 – 10 seiner „Erklärung bestimmter verfassungsmäßiger Rechte und Prinzipien“ übernommen518 und damit nochmals unterstrichen, dass es sich bei dem Gesetz von 1798 tatsächlich um eine Ersatz-Menschenrechtserklärung handelte. Daran änderte auch ihr inhaltlich allein auf die Rechte Beschuldigter beschränkter Rechtekatalog nichts, während alle übrigen Rechte fehlten, die sich gemeinhin in diesen Jahrzehnten in Rechteerklärungen fanden und die zum größeren Teil auch in der untergegangenen Rechteerklärung Rhode Islands von 1790 aufgeführt waren, wie Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Eigentumsgarantie usw. Lediglich eine Ergänzung verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Der Digest of 1798 führte als zweites Gesetz „Ein Gesetz bezüglich religiöser Freiheit und der Unterhaltung der Geistlichen“ auf, nicht allein eingedenk der Tatsache, dass seit der Gründung der Kolonie Religionsfreiheit eines ihrer zentralen Grundsätze gewesen war, sondern dass diese auch bis heute einen unverrückbaren Platz unter den Menschenrechten einnimmt.519 So unvollständig damit insgesamt zwar der Katalog ungeachtet dieser Erweiterung geblieben war, stellte doch die Rechtskodifizierung von 1798 einen ersten bemerkenswerten Versuch dar, angesichts des Fehlens einer 514 Für die genannten Originalstellen, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, IV, 21, I, 82 – 83, V, 366 – 368, I, 212. 515 Vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 30. 516 Die fehlgeschlagene Rechteerklärung von Rhode Island von 1790 enthielt keine vergleichbare Bestimmung, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, V, 421 – 426. 517 Vgl. ebd., 434, 452, 470, 484. 518 Vgl. ebd., 433 – 434 (Hervorhebung hinzugefügt, H. D.). 519 Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig: Duncker & Humblot, 1895, bes. 35 – 37, in der Religionsfreiheit den Ursprung der Idee der allgemeinen Menschenrechte sah und dies durch Roger Williams 1636 in Rhode Island belegt fand.

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modernen Verfassung zumindest eine Ersatz-Menschenrechtserklärung zu schaffen, die bis zur definitiven Verfassung Rhode Islands von 1842 Bestand haben sollte. Angesichts der sich immer zäher hinschleppenden Verfassungsfrage konnte ein zweiter Versuch, auf dem Wege der Rechtskodifikation Abhilfe zu schaffen, nicht ausbleiben. Dieser ergab sich mit dem Beschluss zu einer neuerlichen Kodifikation von 1840, nachdem die vorausgegangene Kodifikation von 1822 keine weiteren Versuche in diese Richtung unternommen, jedoch die beiden erwähnten Gesetze von 1798 ihrer Sammlung erneut vorangestellt hatte.520 Mit dem Entwurf einer erneuten Kodifikation wurde William R. Staples, Richter am Obersten Gericht von Rhode Island, beauftragt und eine fünfköpfige Kommission eingerichtet, die den Vorschlag bewerten und gemeinsam mit Staples das Ergebnis der Legislative zur Beschlussfassung vorlegen sollte.521 Im Januar 1841 wurde die Beauftragung dahingehend erweitert, dass, abweichend von 1798 und 1822 „der zur Revision der Gesetze dieses Staates bestellte Ausschuss beauftragt ist, alle jene Gesetze zusammenzuführen, die dasselbe Gebiet betreffen und sie unter passenden Titeln, Kapiteln und Absätzen zu ordnen, falls dies dem Ausschuss zweckdienlich erscheint“.522 Im Prinzip stellte diese Beauftragung nichts Ungewöhnliches dar, obgleich die beiden letzten Kodifikationen von 1798 und 1822 nicht nach diesem Ordnungsschema verfahren waren, sondern, wie es in dem Gesetz von 1822 gehießen hatte, die Gesetze angeordnet hatten „unter passenden Titeln mit einem ausführlichen Register

520 The Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, As revised by a Commitee, and finally Enacted by the Honorable General Assembly, at their Session in January, 1822. To which are prefixed The Charter, Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, and President Washington’s Address of September, 1796. Published by Authority, Providence: Printed and published by Miller & Hutchens, 1822, 66 – 69. Ebenso wie die Kodifikationen von 1798 und 1844 wurde auch die von 1822 durch Supplements weitergeführt bis zur nächsten Kodifikation. Nur am Rande sei bemerkt, dass in dieser Sammlung ebenso wie in der im gleichen Jahr erschienenen Ausgabe der Verfassung von Massachusetts – Anlass dazu waren die 1821 beschlossenen und nun in Kraft getretenen Verfassungsergänzungen – der 1810 vom Kongress beschlossene Zusatz zur Bundesverfassung („Titles of Nobility Amendment“) als „13. Amendment“ aufgeführt wurde (ebd., 46) – Ausdruck einer auch zwölf Jahre nach seiner Verabschiedung durch den Kongress weiterhin verbreiteten Überzeugung, dass dieses Amendment angenommen sei, obwohl tatsächlich die erforderliche Zustimmung von drei Vierteln der Staaten nie erreicht worden war. Zur Geschichte dieses „napoleonischen“ Amendment und den Unklarheiten über seine Ratifizierung, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, I, 90. Interessanterweise werden seit diesem fiktiven „13. Amendment“ die tatsächlichen Zusätze zur amerikanischen Bundesverfassung – auch rückwirkend bezüglich der ersten zwölf Zusätze – ausschließlich mit ihrer Ordnungszahl zitiert. 521 Neuere wissenschaftliche Literatur zu Staples ist über die knappe Skizze von Patrick T. Conley, „Rhode Island’s Legal Luminaries, 1830 – 1860“, in: Rhode Island Bar Journal, 51 (2003), 9 – 11, 28 – 31, hier 10 – 11, hinaus nicht nachweisbar. 522 [Acts and Resolves] At the General Assembly of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, [1841 – 1842], [o. O, o. N., o. J.], 49.

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und passenden Randbemerkungen“.523 Jedoch entsprach der Auftrag von 1841 genau jenem, nach dem die Rechtskodifikation von Massachusetts von 1836 erfolgt war524 und nach der auch die neuerliche Rechtskodifikation von Rhode Island von 1857 anzulegen beauftragt werden sollte.525 Anders als in den bisherigen chronologischen Ordnungen sollte nun das geltende Gesetzesrecht systematisch angeordnet werden, wie das auch in europäischen Rechtskodifikationen der Fall war. Isaiah Thomas hatte 1788 erstmals in Massachusetts auf eigene Initiative eine derartige Kodifikation erstellt, die ebenso wie dann insbesondere die New Yorker Kodifikation von 1829526 das Vorbild für die Massachusetts Kodifikation von 1836 wurde,527 auf die sich wiederum Staples bei der Vorlage seines Entwurfs ausdrücklich berief: „Ich überreiche Ihnen das Vorliegende als eine Aufstellung der gegenwärtig gültigen Gesetze – im Allgemeinen entsprechend der Anordnung der Gesetze von Massachusetts.“528 Vergleicht man Staples Entwurf von 1841 im Einzelnen mit der Massachusetts Kodifikation von 1836, so fallen in der Tat die Parallelen ins Auge. Beide Kodifikationen bestanden aus vier Teilen: Öffentliches Recht, Privatrecht, Gerichte und Prozessrecht, Strafrecht, eine Rechtssystematik, wie sie letztlich Blackstone mit seiner Einteilung des Common Law vorgegeben hatte.529 Auch auf den nachfolgenden Ordnungsebenen setzten sich die Parallelen fort. So bestand zwar das Privatrecht in Staples Entwurf lediglich aus den beiden Titeln „Eigentum und seine Veräußerung“ und „Häusliche Beziehungen“, doch entsprachen diese den Tit. I und VII des zweiten Teils der Massachusetts Kodifikation. Deren Tit. II – V finden sich 523

Public Laws of Rhode Island, 1822, 63. Das gleiche Ordnungsprinzip hatte für den Digest of 1798 (Public Laws of Rhode Island, 1798, 76) gegolten mit Ausnahme der dort fehlenden „Randbemerkungen“. 524 The Revised Statutes of the Commonwealth of Massachusetts, Passed November 4, 1835; To which are subjoined An Act in Amendment thereof, and an Act expressly to repeal the Acts which are consolidated therein, Both passed in February 1836; And to which are prefixed, The Constitutions of the United States and of the Commonwealth of Massachusetts. Printed and Published, by Virtue of a Resolve of Nov. 3, 1835; Under the Supervision and Direction of Theron Metcalf and Horace Man, Boston: Published by Dutton & Wentworth, State Printers, 1836, 55. 525 The Revised Statutes of the State of Rhode Island and Providence Plantations: To which are prefixed, the Constitutions of the United States and of the State. Published by Authority of the General Assembly, Providence: Sayles, Miller and Simons, 1857, iii. 526 The Revised Statutes of the State of New-York, passed during the years one thousand eight hundred and twenty-seven, and one thousand eight hundred and twenty-eight: To which are added, certain former acts which have not been revised, 3 Bde., Albany: Printed by Packard and Van Benthuysen, 1829. 527 Vgl. Cook, The American Codification Movement, 34 – 35, 132 – 143, 168 – 171. 528 Staples an die Kommission, undatiert [Anfang 1841] mit der Vorlage seines Entwurfs, Rhode Island Historical Society, Providence, R.I., MSS 9004: Rhode Island Manuscripts, Bd. 10, S. 99: Revision of the statutes, 6. Febr. 1841. Die nachfolgenden Nachweise aus der Rhode Island Historical Society beziehen sich auf diesen Bestand. 529 Vgl. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 4 Bde., Oxford: Clarendon Press, 1765 – 1769. Weitere Auflagen und zahllose Nachdrucke, insbesondere in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, bis heute. Vgl. dazu oben Kap. III. 2.

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angesichts der geringeren Regelungsdichte in dem ungleich kleineren Rhode Island bei Staples unter Tit. I subsumiert. Dass jedoch der Tit. VI „Über das Verhindern von Betrügereien und Meineiden in Verträgen und in darauf begründeten Handlungen“ bei Staples fehlte, dürfte einer Unachtsamkeit geschuldet sein, da die Kodifikation von 1822 durchaus entsprechende Gesetze aufgewiesen hatte, die jeweils 1798 beschlossen worden waren,530 die aber nun in Staples Entwurf fehlten. Eine Gegenüberstellung der Tl. III und IV beider Kodifikationen lässt ebenso die letztlich in der Natur der Sache liegende Parallelität der Anordnung erkennen, selbst wenn es die eine oder andere Abweichung im Detail gibt, die eher in der unterschiedlichen Gesetzeslage beider Staaten als in inhaltlichen Differenzen begründet sein dürfte. Eine deutlichere Abweichung in der Anordnung ergibt sich erst mit der Kodifikation von 1857, die auf die Einteilung in die vier Blackstoneschen Teile verzichtete, so dass die Titelanordnung mitunter freier ist. So findet sich etwa der Tit. „Über die Miliz“ – Tl. I, Tit. IV in der Massachusetts Kodifikation von 1836 und Tl. I, Tit. V in Staples Entwurf von 1841 – in der Rhode Island Kodifikation von 1857 erst als Tit. XXXIV ganz am Ende der Sammlung, obgleich die Gesamtzahl der Titel durchaus der von Massachusetts 21 Jahre zuvor vergleichbar ist. Eine bemerkenswerte Abweichung des Entwurfs von Staples sowohl von der Massachusetts Kodifikation von 1836 als auch der nachfolgenden Rhode Island Kodifikation von 1857 offenbart sich erst, wenn man die ersten Titel des ersten Teils des Entwurfs von Staples mit den Anfängen der beiden genannten Kodifikationen vergleicht. Bereits dieser Vergleich verdeutlicht, warum sich der Staplesche Entwurf als eine Ersatz-Verfassung, als der Versuch begreifen lässt, angesichts des Unvermögens, auf einem politischen Weg zu einer Verfassung zu kommen, die Kodifizierung der Gesetze des Staates zu nutzen, um – ähnlich wie das schon 1798 unternommen worden war – zu einer Art Verfassungsäquivalent auf dem Wege der normalen Gesetzgebung zu gelangen. Es war nicht allein die Wortwahl von Staples, die Anklänge an eine Verfassung suggerieren sollte. So nannte er seinen ersten Teil „Über die Regierung des Staates und seine Verwaltung“.531 Der entsprechende Teil in der Massachusetts Kodifikation von 1836 hatte dagegen deutlich gesetzesspezifischer „Über die interne Verwaltung der Regierung“ geheißen. Noch eklatanter werden die Unterschiede mit den beiden Kapiteln des ersten Titels. Lauteten diese 1836 in Massachusetts „Über die Rechtsprechung des Staates und konkurrierende Rechtsprechung der Vereinigten Staaten über von dem Staat abgetretene Plätze“ (Kap. 1) und „Über Gesetze und legislative Verfahren“ (Kap. 2), so dachte Staples deutlich stärker in Kategorien einer Verfassung und formulierte „Über die Rechtsprechung und zivile Einteilungen des Staates“ (Kap. 1) bzw. „Über die Rechte der Einwohner dieses Staates“ (Kap. 2). Daran an 530

Public Laws of Rhode Island, 1822, 343, 366. Alle Titelzitate beziehen sich im Folgenden auf die Ausgaben der genannten Kodifikationen. Staples Entwurf ist erstmals abgedruckt in Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, V, 437 – 450. 531

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schloss sich bei Staples ein vollends spezifischer Verfassungstitel „Über die Legislative (On the General Assembly)“, der in der Massachusetts Kodifikation ebenso wie in der Rhode Island Kodifikation von 1857 angesichts des Vorhandenseins einer Verfassung naturgemäß fehlen musste. Stattdessen war es in der Massachusetts Kodifikation weitergegangen mit dem Titel über Wahlen, der bei Staples als Tit. III folgte. Die eigentliche Originalität Staples, die seinen Entwurf eindeutig als den Versuch ausweist, eine Ersatz-Verfassung in Zeiten der Not zu schaffen, liegt mithin in seinen ersten drei Kapiteln begründet, die es näher zu betrachten gilt. Das gesamte erste Kapitel über die Einteilung des Staates in Kreise (Counties) und Städte hatte Staples selbst geschrieben und der Vollständigkeit halber vorangesetzt, wie es bereits in Massachusetts 1836 geschehen war, und wie es die Rhode Island Kodifikation von 1857 übernehmen sollte. Staples zweites Kapitel bestand aus der Übernahme der Ersatz-Menschenrechtserklärung von 1798 und des Gesetzes über die Religionsfreiheit samt seiner späteren Amendierung. Angesichts bestehender Verfassungen fehlte dieses Kapitel zwangsläufig in der Massachusetts Kodifikation von 1836 wie in der späteren von Rhode Island von 1857. Staples Kap. 3 über die General Assembly bestand aus neun Absätzen, wobei er für die Absätze sechs bis neun die entsprechenden Absätze des „Gesetzes zur Ausführung der Amtspflichten des Gouverneurs in bestimmten Fällen und ebenso zur Regelung der Sitzungsperioden der Legislative“ zurückgriff, das in seinen Ursprüngen auf 1663 zurückging und bis 1822 immer wieder verändert und ergänzt worden war.532 Die ersten fünf Absätze fügte hingegen Staples eigenhändig ein: „Abs. 1. Die legislative Gewalt des Staates soll weiterhin einer Generalversammlung übertragen sein, die aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus besteht. Abs. 2. Es sollen weiter zwei festgesetzte Sitzungsperioden der Generalversammlung jedes Jahr abgehalten werden, eine am ersten Mittwoch im Mai in Newport und die andere am letzten Mittwoch im Oktober. Die nächste festgesetzte Sitzung im Oktober soll in South Kingstown stattfinden, die nächste danach in East Greenwich, die nächste danach in South Kingstown und die nächste danach in Bristol und so weiterhin alternierend in diesen Städten. Die Vertagungen von den festgesetzten Oktobersitzungen sollen in Providence stattfinden. Abs. 3. Der Senat besteht aus dem Gouverneur, dem stellvertretenden Gouverneur und den Senatoren. Der Gouverneur sitzt dem Senat vor und in seiner Abwesenheit der stellvertretende Gouverneur und in der Abwesenheit beider, dem Gouverneur und dem stellvertretenden Gouverneur, der älteste anwesende Senator[.] Der Senat sitzt getrennt von den Repräsentanten und debattiert und entscheidet in allen öffentlichen Angelegenheiten des Staates. Abs. 4. Das Repräsentantenhaus besteht aus den Repräsentanten der verschiedenen Städte. Sie debattieren und entscheiden für sich in allen öffentlichen Angelegenheiten, und sie wählen ihren Präsidenten (Speaker) und zwei Gehilfen (clerks). 532

Vgl. dazu Public Laws of Rhode Island, 1822, 99 – 101.

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Abs. 5. Der Senat und das Repräsentantenhaus versammeln sich zu einem großen Ausschuss in den Fällen, in denen das Gesetz dies vorsieht, und mögen zu allen anderen Zeiten, wenn sie Grund dazu sehen, sich vereinigen und gemeinsam abstimmen. In diesen Fällen übernimmt der Vorsitzende des Senats den Vorsitz, entscheidet aber nur bei Stimmengleichheit.“533

Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich im strengen Wortsinn um Bestimmungen handelt, deren konstitutiver Ort eine Verfassung ist. Hingegen drückt der Verweis auf das Gesetz von 1663 lediglich aus, dass diese Fragen in einem Staat geregelt sein müssen. Doch der Platz, dieses zu tun, ist die Verfassung. Nur wo eine Verfassung fehlt, bleibt kein anderer Weg als der der normalen Gesetzgebung. Folglich fehlten derartige Bestimmungen unter den Gesetzen von Massachusetts im Jahre 1836 ebenso wie in Rhode Island im Jahre 1857, da sie an entsprechender Stelle in die jeweilige Verfassung aufgenommen worden waren. Rhode Islands erste, 1843 in Kraft getretene Verfassung hat konsequenterweise diese Bestimmungen aufgegriffen und inkorporiert. Die obigen Abs. 1 und 2 finden sich dort in leicht abgewandelter Form im einschlägigen vierten Artikel wieder: „Abs. 2. Gemäß dieser Verfassung steht die legislative Gewalt zwei Häusern zu, von denen das eine Senat genannt wird, das andere Repräsentantenhaus und beide zusammen die Generalversammlung (General Assembly). Die Übereinstimmung beider Häuser ist erforderlich für den Erlass von Gesetzen. Der Stil dieser Gesetze ist: Die Generalversammlung hat wie folgt verfügt. Abs. 3. Die Generalversammlung hält jährlich zwei Sitzungsperioden ab; eine in Newport am ersten Dienstag des Mais für Wahlen und andere Tätigkeiten; die andere am letzten Montag im Oktober, wobei die letzte Sitzungsperiode einmal alle zwei Jahre in South Kingstown abgehalten wird und in den Jahren dazwischen alternierend in Bristol und East Greenwich; eine Vertagung von der Oktobersitzungsperiode findet jährlich in Providence statt.“

Aus Abs. 3 wurden in der Verfassung die beiden folgenden Absätze in Art. VI: „Abs. 1. Der Senat besteht aus dem stellvertretenden Gouverneur und einem Senator von jeder kleineren oder größeren Stadt. Abs. 2. Der Gouverneur und in seiner Abwesenheit der stellvertretende Gouverneur sitzt dem Senat und dem großen Ausschuss vor. Der Vorsitzende des Senats und großen Ausschusses entscheidet im Fall von Stimmengleichheit und hat sonst keine Stimme.“

Aus Abs. 4 wurden die beiden Absätze des fünften Artikels: „Abs. 1. Das Repräsentantenhaus soll nie mehr als 72 Mitglieder haben und setzt sich auf Grundlage der Bevölkerung zusammen, wobei, wenn die Bemessungsgröße um mehr als die Hälfte überschritten wird, stets ein weiterer Repräsentant gewählt wird; aber jede Stadt stellt stets mindestens einen Repräsentanten, und keine Stadt 533 Zitiert nach dem Manuskript des Entwurfs in der Rhode Island Historical Society. Vgl. den Abdruck in Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, V, 438.

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III. Nordamerika soll mehr als ein Sechstel der Gesamtzahl der Repräsentanten haben, auf die das Haus hiermit begrenzt ist. Das gegenwärtige Verhältnis lautet ein Repräsentant auf jeweils 1530 Einwohner, und die Generalversammlung kann nach jedem neuen von den Vereinigten Staaten oder diesem Staat durchgeführten Zensus das Verhältnis durch Veränderung der Bemessungsgröße neu anpassen; aber keine Stadt soll für die Wahl der Repräsentanten in Distrikte geteilt werden. Abs. 2. Das Repräsentantenhaus hat das Recht, seinen Präsidenten (speaker), Gehilfen und weitere Beamten zu wählen. Das älteste Mitglied der Stadt Newport, falls anwesend, soll bei der Organisation des Hauses den Vorsitz führen.“

Der Abs. 5 war hingegen fragmentiert worden. Für einen Teil seiner Bestimmungen stand nun aus dem Art. IV bereit: „Abs. 18. Es ist die Pflicht beider Häuser auf Verlangen eines von ihnen, sich im großen Ausschuss zu vereinen, um den Senator für den Bundeskongress zu jenen Zeitpunkten und auf die Art zu wählen, die das Gesetz für diese Wahlen vorschreibt.“534

Für den Rest galt der oben bereits erwähnte 2. Absatz aus Art. VI. In diesen Kap. II und III des Entwurfs wird mithin die Absicht Staples deutlich, in dem andauernden, doch seit einem halben Jahrhundert immer wieder gescheiterten Bemühen um eine Verfassung, mit Hilfe der Rechtskodifikation eine Art ErsatzVerfassung zu schaffen. Angesichts der bislang fehlenden modernen Verfassung Rhode Islands mit der Konsequenz, dass durch Gesetze Dinge geregelt werden mussten, die nach dem Verständnis des modernen Konstitutionalismus Bestandteil von Verfassungen sind, gab es eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen, auf die Staples in seinem Entwurf verwies und die sich in der Folge in der Verfassung wiederfanden. Als Beispiel sei lediglich die Wahlrechtsqualifikation genannt, die von 1663 bis zur jüngsten Amendierung von 1822 das „Gesetz zur Regelung der Art der Zulassungen freier Männer und zur Bestimmung der Methode der Wahl von Amtsträgern in diesem Staat“ in seinem zweiten Absatz regelte.535 Staples fügte es unter „Wahlen“ (Tit. III) in Kap. 5 ein. In der Verfassung von 1842 tauchte der Zensus von $134 dann unter Art. II, Abs. 1 auf.536 Staples Entwurf für die Rechtskodifikation in Rhode Island konnte das Verfassungsproblem Rode Islands nicht lösen; dieses sollte erst in der Krise der folgenden 24 Monate geschehen, die Hundeshagen eingangs angedeutet hatte. Aber Staples versuchte angesichts des Fehlens einer Verfassung nach den Grundsätzen des modernen Konstitutionalismus und einer innenpolitischen Situation, die eher von Stagnation und Immobilität geprägt schien, die Möglichkeiten der Rechtskodifikation so weit auszuschöpfen, dass das Ergebnis eine Ersatz-Verfassung darzustellen vermochte. Damit war Staples zugleich an seine Grenzen gestoßen, die sein Scheitern nur konsequent erscheinen ließen. Die politischen Kernfragen, an denen sich Re534 535 536

Alle Zitate aus der Verfassung von 1842, ebd., V, 487 – 489. Public Laws of Rhode Island, 1822, 90, vgl. das ganze Gesetz, ebd., 89 – 98. Vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, V, 485.

4. Zum modernen Konstitutionalismus durch die Hintertür. Rhode Island 1841

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former und Beharrer stießen, ohne eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden, die Repräsentationsfrage und der Wahlzensus,537 konnte auch Staples nicht lösen, sondern lediglich die bestehende Rechtslage fortschreiben. Das mag auch die von der General Assembly eingesetzte Kommission so gesehen haben. Ende Januar 1841 hatte die Legislative beschlossen, für November einen Verfassungskonvent einzuberufen.538 In dieser abrupt veränderten politischen Situation blieb der Kommission nichts anderes, als Staples am 6. Februar 1841 mitzuteilen, dass nach ihrer Überzeugung „es nicht angebracht erschien, ein System anzunehmen, von dem hier der Grundriss geliefert worden war, sondern dass die alte Anordnung mit vielleicht einigen Verbesserungen und einem guten Register dem Zweck mehr dienen würde als das hier vorgeschlagene“.539 So gesehen scheiterte Staples Entwurf einer Rechtskodifikation als Verfassungsersatz von 1841 an der Verfassung, die da kommen sollte. Dass diese Verfassung dann so nicht kam und es stattdessen um die Jahreswende 1841/42 gleich zwei konträre Verfassungen geben sollte, gefolgt von einem Fast-Bürgerkrieg und einer dritten Verfassung, die schließlich Anfang 1843 in Kraft treten konnte, ist eine andere Geschichte. Für Staples hieß das: „Die Annahme einer Staatsverfassung zusammen mit den nach seiner Durchsicht gemachten Gesetzen wird nach seiner Überzeugung vieles seiner vorgehenden Arbeit von geringem Wert machen.“540 Eine Rechtskodifikation als Verfassungsersatz machte in dieser Situation keine Sinn mehr, und Staples arbeitete folglich eine neue Kodifikation aus, „in gehöriger Ordnung angelegt mit einem umfangreichen Register und passenden Anmerkungen zu Beginn jedes Gesetzes“, die dann 1844 erscheinen konnte.541 Die nahezu ein halbes Jahrhundert währende Episode, in Rhode Island auf dem Wege der Rechtskodifikation eine Ersatz-Menschenrechtserklärung und eine ErsatzVerfassung zu schaffen, war beendet. Es ging in diesem Fall, anders als in Europa nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 oder dem österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, nicht um eine retrospektive Diskussion, ob die erfolgte Rechtskodifikation als Verfassung verstanden werden könne und ob eine derartige Wertung methodisch, terminologisch 537 Vgl. dazu Jacob Frieze, A Concise History of the Efforts to Obtain an Extension of Suffrage in Rhode Island, From the Year 1811 to 1842, Providence: Benjamin F. Moore, Printer, 1842. 538 Vgl. Potter, Considerations on the Questions of the Adoption of a Constitution,15. 539 Kommission an Staples, 6. Febr. 1841, Rhode Island Historical Society. 540 Staples an General Assembly, January Session 1843, Rhode Island Historical Society. 541 Public Laws of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, Revised by a committee, and finally enacted by the General Assembly at their session in January, 1844. To which are prefixed The Charter of Charles II., Declaration of Independence, Resolution of General Assembly to support the Declaration of Independence, Articles of Confederation, Constitution of the United States, Proceedings of the Convention on the adoption of the Constitution of the United States by Rhode-Island, President Washington’s Address of September, 1796, and Constitution of the State of Rhode-Island and Providence Plantations, Providence: Printed and published by Knowles & Vose, 1844, 60.

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III. Nordamerika

und inhaltlich zulässig sei. Vielmehr ging es in einer amerikanischen Situation, die nicht die Verfassungsfeindlichkeit der restaurativen Kräfte im zeitgenössischen Europa kannte, in der aber die Durchsetzung einer Verfassung des modernen Konstitutionalismus politisch an entgegenstehenden materiellen Interessen scheiterte, darum, eine Ersatz-Verfassung, einschließlich einer Menschenrechtserklärung, auf dem Wege der Rechtskodifikation einzuführen, um auf diese Weise ein Mindestmaß an Äquivalenz zu einer politisch nicht durchsetzbaren Verfassung sicherzustellen, indem sie die politisch strittigen Fragen ausklammern konnte. Dass das, was 1798 Erfolg hatte, 1841 scheitern musste, hatte viele Gründe. Ein naheliegender Verweis zielt auf die sich zuspitzende politische Krise in Rhode Island. Doch die tiefer liegenden Gründe sind in den Veränderungen des amerikanischen Rechtsdenkens und der Auffassungen von der Funktion von Recht zu sehen, die in diesen Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten nach dem Ableben der Gründergeneration und angesichts des sozioökonomischen Wandels stattfanden. Nicht nur hatte der Wandel von der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts zur Handelsund Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts seine Konsequenzen, die auch vor dem Recht, seinem Verständnis und seiner Funktion nicht halt machten.542 Hinzu kam die Woge der Jacksonian democracy, die seit den 1830er Jahren Amerika überzog und ohne die die „Dorr-Rebellion“ kaum denkbar gewesen wäre, die Veränderungen mit sich brachte, die das, was noch 1798 praktikabel gewesen war, zu Beginn der 1840er Jahre als längst nicht mehr zeitgemäß erscheinen ließ. Auch Staples musste erkennen, dass man zwar einige Menschenrechte 1798 per Gesetz dekretieren konnte, aber die Forderungen der Demokraten nach Gewaltentrennung, Gleichheit der Repräsentation und allgemeinem Männerwahlrecht543 ließen sich weder durch eine Rechtskodifikation umsetzen noch durch ihr Ausklammern ungeschehen machen. Insofern war 1841 das Scheitern dieses Versuches zwangsläufig. In dem Maße, in dem das Recht, statt der Bewahrung der Vergangenheit zu dienen, für die neuen wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert werden sollte, waren Rechtskodifikationen kein Mittel mehr, politische Grundsätze der Gründerzeit festzuschreiben. Nicht Aufarbeitung der Vergangenheit war gefragt, sondern die Bewältigung der Zukunft. Diese Anforderungen überstiegen die Möglichkeiten einer Rechtskodifikation, deren Aufgabe es war, altes Recht festzuschreiben, statt neues Recht zu setzen.

542 Zu diesem Wandel ausführlich Parker, Common Law, History, and Democracy in America, bes. 117 – 167. Aus der älteren Literatur insbes. Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1780 – 1860, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press, 1977. 543 Vgl. dazu das nachfolgende Kapitel.

5. Moderner Konstitutionalismus und die Herausforderungen der Demokratie

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5. Moderner Konstitutionalismus und die Herausforderungen der Demokratie. Der Kampf um das allgemeine Männerwahlrecht, 1776 – 1860544 Angesichts wiederholt aufgeflackerter Forderungen in den amerikanischen Kolonien und nachfolgenden Staaten nach Ausweitung der politischen Partizipation und Repräsentation545 hatte sich die amerikanische Elite 1776 und in den Jahren danach erfolgreich geweigert, das allgemeine Männerwahlrecht in den Prinzipienkatalog des modernen Konstitutionalismus aufzunehmen, von der Einführung ds Frauenwahlrechts ganz zu schweigen.546 Einerseits freie Wahlen als Ziel zu formulieren, doch andererseits den Kreis der Wahlberechtigten immer wieder neu zu begrenzen, durchzieht seither die amerikanische Geschichte wie ein roter Faden in stets neuen Varianten. Dennoch ist das Wahlrecht und damit auch die Forderung nach dem universellen Wahlrecht vom modernen Konstitutionalismus nicht zu trennen und über die Prinzipien von Volkssouveränität, Menschenrechten und repräsentativer Regierung in vielfacher Weise mit ihm eng verflochten. Die Reaktion auf die Forderungen nach dem universellen Wahlrecht verdeutlichen daher das Maß an Bereitschaft der Verfechter des modernen Konstitutionalismus, sich den Herausforderungen der Demokratie zu stellen. Als George Bancroft als überzeugter Anhänger der Ideale seiner Zeit 1834 inmitten des sog. „Zeitalters Jacksons“ mit der Veröffentlichung seiner History of the United States begann, wollte er mit seinem Werk dem Aufstieg und dem Fortgang der amerikanischen Demokratie ein Denkmal setzen. Im Jahr darauf erschien in Paris der erste Band der Démocratie en Amérique, mit dem ihr Autor Alexis de Tocqueville bekannte, in Amerika „ein Bild der Demokratie schlechthin“ gefunden zu haben.547 Etwa zur gleichen Zeit reiste ein anderer Franzose durch die Vereinigten Staaten und erschrak über „die despotische Stimmung einer ausgewachsenen Demokratie, die mehr und mehr in Radikalismus abgleitet“.548 Was die Zeitgenossen bekannten, haben seither die Historiker wiederholt. So ist, um nur einige wenige Beispiele anzuführen, Hugh Brogan überzeugt, dass „[d]ie Wahl von 1828 […] zeigte, dass der Fortgang [zur Durchsetzung der Demokratie] 544

Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Die verfassungsrechtliche Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts und die Rolle der Eliten in den Vereinigten Staaten von der amerikanischen Revolution bis zum Bürgerkrieg“, in: Tangenten: Literatur & Geschichte, hrg. v. Martin Meyer, Gabriele Spengemann und Wolf Kindermann (Hallenser Studien zur Anglistik und Amerikanistik, 1), Münster: Lit, 1996, 202 – 221. 545 Vgl. dazu unten Kap. V. 3. 546 Vgl. dazu unten Kap. V. 7. 547 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique (Œuvres complètes, I, hrg. v. J.-P. Mayer), Paris: Gallimard, 1961, I, 10. 548 Michel Chevalier, Society, Manners and Politics in the United States: Being a Series of Letters on North America, übers. n. d. 3. Pariser Aufl., Boston 1839, Ndr. New York: Kelley, 1966, 47.

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III. Nordamerika

abgeschlossen war“.549 In einer populäreren Abhandlung heißt es in dem gleichen Tenor, dass Jacksons „Wahl von 1828 die Ankunft der sogenannten Neuen Demokratie signalisierte […] [I]n den 1820er Jahren entfielen die Eigentumsqualifikationen […] und eine aufstrebende Mittelklasse wurde gehört“.550 Der Mythos von Jackson als „dem Führer einer gewaltigen demokratischen Bewegung, die im Westen anschwoll und eine Allianz von Farmern und Arbeitern mobilisierte“,551 dürfte mithin zu den zählebigsten Legenden der amerikanischen Geschichte gehören. Mit diesen Bemerkungen soll keineswegs bestritten werden, dass konkurrierende Vorstellungen von Demokratie und politischer Mitwirkung in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten Hochkonjunktur hatten.552 Doch man erliegt einem historischen Trugschluss, wenn man die bloße Existenz dieses politisch-sozialen Diskurses vorschnell mit konkret verankerten politischen Rechten und zumal mit der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts gleichsetzen will. In einem streng verfassungsrechtlichen Rahmen muss in dieser Situation vielmehr gerade nach diesen Rechten gefragt werden und damit danach, wie demokratisch die Vereinigten Staaten tatsächlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren. Was wurde in dieser Epoche verfassungsrechtlich in diesem Punkt erreicht? Können wir wirklich feststellen, dass in diesen Jahrzehnten eine Verfassungsbewegung zur Durchsetzung von Demokratie und allgemeinem Männerwahlrecht das Land überzog? Falls das so war, wo und wann begann diese Bewegung, und was waren präzise ihre Ergebnisse? Angesichts der Tatsache, dass im Rahmen der Durchsetzung der modernen Demokratie das allgemeine Wahlrecht, wenn auch nicht die einzige, so doch eine fundamentale Frage ist, erstaunt es umso mehr, dass sie unter amerikanischen Historikern und Politologen, die sich mit dieser Epoche amerikanischer Geschichte beschäftigen, kaum besonderes Interesse hervorzurufen scheint. Dabei offenbart jede eingehendere Auseinandersetzung mit der Entstehung des allgemeinen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten, wie lückenhaft unsere Kenntnis darüber tatsächlich ungeachtet des vor sechzig Jahren erschienenen Werks von Chilton Williamson553 549

Hugh Brogan, Longman History on the United States of America, London und New York: Longman, 1985, 281. 550 Tad Tuleja, American History in 100 Nutshells, New York: Fawcett Columbine, 1992, 63. 551 George Brown Tindall, David E. Shi, America: A Narrative History, 2 Bde., New York: Norton, 31993, I, 275. 552 Vgl. Richard J. Ellis, American Political Cultures, New York und Oxford: Oxford University Press, 1993, bes. 67 – 69. 553 Chilton Williamson, American Suffrage from Property to Democracy, 1760 – 1860, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1960. In ihrem Anspruch eingeschränkter oder eindeutig regional ausgerichtet, aber noch immer unverzichtbar sind u. a. Fletcher M. Green, Constitutional Development in the South Atlantic States, 1776 – 1860, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1930 (Ndr. New York: da Capo, 1971); Charles S. Sydnor, The Development of Southern Sectionalism, 1819 – 1848 (A History of the South, hrg. v. Wendell Holmes Stephenson und E. Merton Coulter, V), Baton Rouge: Louisiana State University Press,

5. Moderner Konstitutionalismus und die Herausforderungen der Demokratie

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immer noch ist, obwohl doch die Verfassungen der amerikanischen Bundesstaaten, in denen das Wahlrecht anders als in der französischen Verfassung von 1830 verankert ist, jedermann leicht zugänglich sind. Als Ausgangspunkt bieten sich die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen von 1776 und 1777 an. Trotz aller revolutionären Rhetorik von Gleichheit und – zumindest teilweise – dem Widerstandsrecht nahmen lediglich drei Staaten wesentliche Veränderungen an den einschlägigen kolonialen Wahlgesetzen vor und ersetzten die traditionelle Besitzqualifikation durch demokratischere Regelungen. New Hampshire, das – abgesehen von Connecticut und Rhode Island554 – so viel länger als die übrigen ursprünglichen Kolonien für die Verabschiedung einer eigenen Verfassung brauchte, verkündete dennoch als erster am 14. November 1775, offiziell immer noch im Status der Kolonie, ein neues Wahlrecht, das an die Stelle des bislang erforderlichen Landbesitzes im Werte von 50 £ nun für die Ausübung des Wahlrechts lediglich den Nachweis erforderte, dass der Betreffende Steuern zahlte.555 Die Verfassung von New Hampshire, die nach jahrelangen Debatten schließlich 1784 in teilweise enger Anlehnung an die Verfassung von Massachusetts von 1780 in Kraft trat und noch heute gültig ist, bestätigte im Wesentlichen die Bestimmungen des Gesetzes von 1775. Auffallend an dieser Verfassung ist, dass sie als eine der wenigen amerikanischen Verfassungen der Zeit das Wahlrecht in ihrem Rechtekatalog aufzählt. Damit war sie dem Beispiel von Massachusetts gefolgt, doch die Abweichung von dem paradigmatischen Text der Rechteerklärung von Virginia von 1776 ist bemerkenswert: „Alle Wahlen sollten frei sein und jeder Einwohner des Staates, der die angemessenen Qualifikationen (proper qualifications) besitzt, hat das gleiche Recht, zu wählen und ins Amt gewählt zu werden.“556 Erst der Blick in den zweiten 1948; Richard P. McCormick, The History of Voting in New Jersey. A Study of the Development of Election Machinery, 1664 – 1911, New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press, 1953; ders., „Suffrage Classes and Party Alignments: A Study in Voter Behavior“, in: The Mississippi Valley Historical Review, 46 (1959/60), 397 – 410; ders., The Second American Party System. Party Formation in the Jacksonian Era, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1966; Democracy, Liberty, and Property. The State Constitutional Conventions on the 1820’s, hrg. v. Merrill D. Peterson, Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1966; Fletcher Melvin Green, Democracy in the Old South and Other Essays, hrg. v. J. Isaac Copeland, Nashville, Tenn.: Vanderbilt University Press, 1969. 554 Zu Rhode Island vgl. das voraufgehende Kap. III. 4. 555 Einen Überblick über die Wahlrechtsqualifikationen in den Verfassungen und Wahlgesetzen der Revolutionszeit gibt Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1973, 199 – 223. Zum Wahlgesetz von New Hampshire von 1775, vgl. Richard Francis Upton, Revolutionary New Hampshire. An Account of the Social and Political Forces Underlying the Transition from Royal Province to American Commonwealth, 1936, Ndr. Port Washington, N.Y.: Kennikat Press, 1970, 176 – 177; Jere R. Daniell, Experiment in Republicanism: New Hampshire Politics and the American Revolution, 1741 – 1794, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1970, 108; ders., Colonial New Hampshire. A History, Millwood, N.Y.: Kto Press, 1981, 241. 556 Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl. I, Art. 11 (Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de

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III. Nordamerika

Teil der Verfassung lässt deutlich werden, was mit dem Begriff der „angemessenen Qualifikationen“ gemeint ist und offenbart dabei zugleich, dass die gängige Auffassung von dem Steuerzahlerwahlrecht als Zwischenstufe von der Eigentumsqualifikation zum allgemeinen Männerwahlrecht zu grobmaschig ist und das Steuerzahlerwahlrecht komplexerer Natur ist. In der Mehrzahl der amerikanischen Staaten des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde unter dem Steuerzahlerwahlrecht verstanden, dass derjenige männliche Erwachsene das Wahlrecht ausüben konnte, der für einen bestimmten Zeitraum Staats- oder Gemeindesteuern bezahlt hatte. Diese Form des Steuerzahlerwahlrechts stellt daher in Wirklichkeit nichts anderes als eine, wenn auch gemäßigte Variante des Eigentümerwahlrechts dar. Der Verfassung von New Hampshire ging es jedoch um eine ganz andere Art von Steuer, die nicht als verdeckte Eigentumsqualifikation ausgelegt werden kann, nämlich um eine Wahlsteuer, also einen Geldbetrag, der im Wahllokal erhoben wurde und der eine der zahllosen Möglichkeiten darstellte, nach denen in amerikanischen Wahlen Wähler von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen werden konnten, bis der XXIV. Zusatzartikel zur amerikanischen Bundesverfassung 1964 das Erheben derartiger Wahlsteuern untersagte. „Jeder männliche Einwohner einer jeden Stadt oder Kirchengemeinde mit Stadtprivilegien in den verschiedenen Kreisen dieses Staates, der 21 Jahre und älter ist und für sich selbst eine Wahlsteuer bezahlt, hat das Recht […] zu wählen.“557 Mit dieser auf Druck der Bevölkerung eingeführten reinen Wahlsteuer verfügte die Verfassung von New Hampshire 1784 über die niedrigste Wahlrechtshürde nicht nur in Amerika. Sie zeichnete sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie keine rechtliche Grundlage für den Ausschluss von Schwarzen und der indigenen Bevölkerung von der Teilnahme an Wahlen bot, noch – und dies war zu diesem Zeitpunkt vollends ungewöhnlich – dass sie einen Mindestaufenthalt in Staat oder Kreis für die Ausübung des Wahlrechts vorschrieb. Keine Verfassung eines der übrigen amerikanischen Staaten sah zu diesem Zeitpunkt ein ähnlich ausgedehntes Wahlrecht vor. So hieß es in der Verfassung von North Carolina von 1776, „[d]ass alle freien Männer von 21 Jahren, die zwölf Monate lang unmittelbar vor dem Tag jeder Wahl Einwohner in irgendeinem Kreis dieses Staates gewesen sind und öffentliche Steuern gezahlt haben, das Recht haben, Mitglieder des Unterhauses für den Kreis zu wählen, in dem sie wohnen.“558 Die Verfassung von Pennsylvania von 1776, die dafür bekannt ist, radikaler als jede andere zeitgenössische amerikanische Verfassung zu sein, wollte im Wesentlichen nicht über die Steuerzahlervariante der Eigentumsqualifikation für die Ausübung des Wahlrechts zu ihrem Einkammerparlament hinausgehen, erweiterte aber Gruyter, 2006 – 2011, IV, 360). Vgl. die Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. I, Art. 9, und die Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 6 (ebd., 21; VIII, 153 – 154). 557 Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl. II (ebd., IV, 364). Vgl. Lynn Warren Turner, The Ninth State. New Hampshire’s Formative Years, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1983, 27. 558 Verfassung von North Carolina von 1776, Art. 8 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 162).

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die Wahlrechtsbestimmungen für das Unterhaus in der Verfassung von North Carolina um den Zusatz, „[s]tets vorausgesetzt, dass die Söhne von Grundeigentümern von 21 Jahren das Recht zu wählen haben, obwohl sie keine Steuern bezahlt haben“.559 Interessanterweise war auch die durchgefallene Verfassung von Massachusetts von 1778 bereit, sich mit dem Steuerzahlerwahlrecht zufrieden zu geben, bestand aber auf dem Ausschluss von „Negern, Indianern und Mulatten“ vom Wahlrecht, wohingegen die schließlich angenommene Verfassung von 1780 zur Eigentumsqualifikation der königlichen Charter von 1691 zurückkehrte und dabei den nachzuweisenden Besitz auf das höchste Niveau in irgendeinem der dreizehn Staaten anhob.560 In den übrigen neun der dreizehn Ursprungsstaaten blieb es bei den traditionellen Formen der Eigentumsqualifikation, wobei einige Staaten sich mit geringfügig geringerem Besitz als in der Kolonialzeit begnügten.561 Ganz offensichtlich war die amerikanische Revolution nicht in der Lage gewesen, eine einheitliche und in allen Staaten gleichermaßen akzeptierte Antwort auf das Problem der politischen Mitwirkung und auf die Frage zu geben, was im Sinne der Verfassung Volkssouveränität heißen sollte und was überhaupt „Volk“ meinte. Sieht man einmal von New Hampshire ab, so waren sich alle übrigen zwölf Staaten einig, dass das Wahlrecht an irgendeine Form von Besitz gebunden bleiben sollte, für den entweder, wie traditionellerweise üblich, eine bestimmte Mindesthöhe festgeschrieben wurde, die zwischen 60 £ (in Massachusetts) und 10 £ und zusätzlichen Auflagen (in Georgia) schwanken konnte, oder bei dem man sich, moderner und weniger restriktiv, mit dem Nachweis der Zahlung von Staats- oder Gemeindesteuern begnügte.562 Es wäre jedoch verfehlt, daraus schließen zu wollen, dass alle, die diese Verfassungsauflagen erfüllten, tatsächlich mit dem Wahlrecht ausgestattet waren. Alle Verfassungen der Revolutionszeit, außer in New Hampshire, wiesen weitere Ausschlusskriterien auf, sofern nicht, wie im Fall von Delaware und Virginia 1776, auf bestehende Wahlgesetze verwiesen wurde.563 Alle Verfassungen stimmten darin 559 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Tl. II, Abs. 6 (ebd., 326). Die Rechteerklärung (Tl. I, Abs. 7) entsprach im Wesentlichen Abs. 6 der Rechteerklärung von Viriginia (ebd., 323). 560 Vgl. Art. 5 des Verfassungsentwurfs von 1778 und die Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. II, Kap. 1, Abs. 2, Art. 2, und Abs. 3, Art. 4 (ebd., IV, 10 – 11, 25 – 26, 27 – 28); die Charter von Massachusetts Bay von 1691 (The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States, hrg. v. Francis Newton Thorpe, 7 Bde., Washington: Government Printing Office, 1909, III, 1878 – 1879). Vgl. Ronald M. Peters, Jr., The Massachusetts Constitution of 1780: A Social Compact, Amherst, Mass.: The University of Massachusetts Press, 1978, bes. 35 – 36. 561 Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, 201 – 207. Die klassische Studie über das koloniale Wahlrecht stammt von Albert Edward McKinley, The Suffrage Franchise in the Thirteen English Colonies in America, 1905, Ndr. New York: Franklin, 1969. 562 Vgl. Adams, Republikanische Verfassung, 199 – 207. 563 Vgl. Verfassung von Delaware von 1776, Art. 5, und Verfassung von Virginia von 1776 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 213 – 214, VII, 87). Bzgl. Virginia, vgl. Robert E. und B. Katherine Brown, Virginia 1705 – 1786: Democracy or Aristocracy?, East Lansing, Mich.: Michigan State University Press, 1964, 129 – 134; John E.

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überein, dass das Wahlalter mit 21 Jahren begann und ausschließlich Männer betraf.564 Während die entsprechenden Formulierungen schwankten („alle freien Männer [all freemen]“, „jeder männliche Einwohner“ oder „jede männliche Person“) hielten es zwei Staaten – Georgia und South Carolina – für erforderlich, diese Bestimmungen durch den Zusatz des Wortes „weiß“ zu präzisieren („alle männlichen weißen Einwohner“ und „jeder freie weiße Mann“).565 Die zurückgewiesene Verfassung von Massachusetts von 1778 hatte die gleiche Absicht geäußert. Aber selbst alle weißen männlichen Erwachsenen, die die Eigentumsqualifikationen erfüllten, verfügten damit nicht automatisch über das Wahlrecht, vor dem zusätzlich Hürden errichtet waren, um jene abzuweisen, die sich erst vor allzu kurzer Zeit in der Gegend niedergelassen hatten. Noch war der Status des Staatsbürgers, jene Erfindung der Französischen Revolution, nicht festgelegt,566 und daher schrieben alle Verfassungen, außer der von New Hampshire, eine Mindestaufenthaltsdauer in Staat oder Kreis vor, die, so in New York und Georgia, zwischen sechs Monaten und einem Jahr schwankte.567 Angesichts dieser verschiedenen, in den jeweiligen Verfassungen sorgsam ausformulierten Bestimmungen der Wahlrechtsbeschränkungen, die ja in allen Fällen das Ergebnis eines mehr oder weniger intensiven und ausgedehnten politischen Diskurses waren, fällt es schwer, der Auffassung Gordon Woods zuzustimmen, dass „zu Beginn des Jahres 1776 es keineswegs offensichtlich war, dass das Wahlrecht von entscheidender Bedeutung sein würde“.568 Die Mehrzahl der Staaten hatte das Wahlrecht gegenüber der vormaligen Praxis zwar ausgedehnt, doch sie alle hatten ganz unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie im Gegensatz zur Jakobinischen Selby, The Revolution in Virginia 1775 – 1783, Williamsburg, Va.: Colonial Williamsburg Foundation, 1988, 117. Connecticut und Rhode Island entwarfen ihre ersten Staatsverfassungen erst 1818 bzw. 1842. 564 Interessanterweise hieß es allein in der Verfassung von New Jersey von 1776 „alle Einwohner“ (Art. 4) (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 26), womit, angeblich unbeabsichtigt, ein Schlupfloch entstanden war, aufgrund dessen Frauen und Schwarze in New Jersey zwischen 1790 und 1807 an Wahlen teilnehmen konnten, vgl. J. R. Pole, „Suffrage Reform and the American Revolution in New Jersey“, in: Proceedings of the New Jersey Historical Society, 74 (1956), 186 (auch mit Nachweisen der älteren Literatur). 565 Verfassung von Georgia von 1777 (Art. 9), und Verfassung von South Carolina von 1778 (Art. 13) (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 15, VI, 25 – 26). 566 Vgl. James H. Kettner, The Development of American Citizenship, 1608 – 1870, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1978, bes. 213 – 247. Richard C. Sinopoli, The Foundations of American Citizenship. Liberalism, the Constitution, and Civic Virtue, New York und Oxford: Oxford University Press, 1992, beschäftigt sich im Wesentlichen mit geistesgeschichtlichen Aspekten und nicht mit der rechtlichen oder verfassungsrechtlichen Seite des Problems. 567 In Massachusetts galt die Mindestaufenthaltsdauer allein für die Wahlen zum Repräsentantenhaus (vgl. Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 14; IV, 27 – 28; V, 26, 86 – 87, 162, 326; VI, 26). 568 Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776 – 1787, New York: Nortom, 1972, 168.

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Verfassung von 1793 eindeutig gegen die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts waren.569 Die revolutionäre Elite Amerikas, die weitestgehend für diese Verfassungen verantwortlich war, legte eindeutig mehr Wert auf die Betonung republikanischer Ideen als demokratischer Ideale.570 Elite und bürgerliche Tugend sollten das Gemeinwesen bestimmen und nicht die vermeintlich vulgären Niederungen von Demokratie und Pöbelherrschaft,571 so dass jene Forderungen aus dem einfachen und besitzlosen oder nahezu besitzlosen Volk nach politischer Mitwirkung und Vertretung in dieser Zeit kaum Gehör fanden. Doch sie sollten damit nur vertagt sein.572 Bis 1803 wurden vier neue Staaten in die Union aufgenommen, und in den achtzehn Jahren seit der Verfassung von New Hampshire von 1784 hatte es in diesen die Verfassungen von Vermont (nämlich die von 1777, 1786 und 1793), Kentucky (die von 1792 und 1799), Tennessee (1796) und Ohio (1802) gegeben. Hinzu kamen fünf neue Verfassungen in den dreizehn ursprünglichen Staaten: Georgia (1789 und 1798), Pennsylvania und South Carolina (beide 1790) und Delaware (1792). In diesen fünf zuletzt genannten Verfassungen hatte es bedeutsame Veränderungen gegeben. In allen tauchte nun der Rechtsbegriff des Bürgers (citizen) auf und machte damit den Einfluss des citoyen der Französischen Revolution deutlich, wobei Georgia und Delaware ihre vormalige traditionelle Eigentümerqualifikation auf die modernere Form des Steuerzahlerwahlrechts zurücknahmen. Gleichzeitig weiteten Pennsylvania, South Carolina und Delaware die Mindestaufenthaltsdauer, doch nunmehr von Staatsbürgern, auf zwei Jahre aus, um allzu demokratisch gesonnene Neubürger von der politischen Mitwirkung fernzuhalten, während Delaware zusätzlich deutlich machte, dass, über diese Einschränkungen hinausgehend, mit dem männlichen Erwachsenenwahlrecht „jeder weiße freie Mann“ gemeint war.573 569

Zum ideologischen Einfluss einer Gruppe von britischen Jakobinern im Amerika der Zeit Jeffersons und insbesondere in New York, Pennsylvania und North Carolina, vgl. Richard J. Twomey, Jacobins and Jeffersonians: Anglo-American Radicalism and the United States 1790 – 1820, New York: Garland, 1989. 570 Vgl. dazu auch Jennifer Nedelsky, Private Property and the Limits of American Constitutionalism. The Madisonian Framework and Its Legacy, Chicago: University of Chicago Press, 1990, 19, 20, 54 – 55, 58, 65 und passim. 571 Vgl. u. a. Wood, Creation of the American Republic, 46 – 124, 409 – 413, und zum Problem der Demokratie in der amerikanischen Revolution M. N. S. Sellers, American Republicanism. Roman Ideology in the United States Constitution, New York: New York University Press, 1994, passim. Während das Problem von Elitenherrschaft und Demokratie in Europa erst in der zweiten Hälfte des 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert virulent wurde und dann zum Forschungsgegenstand vor allem von Soziologen und politischen Wissenschaftlern in Italien wurde [vgl. dazu Elitism and Democracy (Mosca, Pareto and Michels), hrg. v. Robertino Ghiringhelli, Mailand: Cisalpino, 1992], gehen ihre modernen Ursprünge bis in die Zeit der amerikanischen Revolution zurück, ohne dass diese bislang allerdings hinreichend Beachtung gefunden haben. 572 Vgl. dazu unten Kap. V. 3. 573 Vgl. Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 226 – 227; V, 358; VI, 34.

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Pennsylvania übernahm diese rassistische Klausel 1838, wohingegen South Carolina bereits im Jahre 1810 mit einem Zusatzartikel zur Verfassung das Wahlrecht weißen männlichen Erwachsenen übertrug unter Einschränkung einer zusätzlichen Aufenthaltsdauer für Staatsbürger und bei gleichzeitigem Ausschluss von „Armen und Unteroffizieren und gemeinen Soldaten der Armee der Vereinigten Staaten“. Bis zum Bürgerkrieg nahmen Delaware und Georgia keine weiteren Veränderungen ihrer verfassungsmäßigen Wahlrechtsbestimmungen vor.574 Während in den vier ursprünglichen Staaten das Wahlrecht mit ihren neuen Verfassungen Ende des 18. Jahrhunderts nur teilweise ausgedehnt wurde, war die Situation in den vier neu in die Union aufgenommenen Staaten ambivalenter. Besonders schillernd war die Verfassung von Vermont von 1777. In ihrem ersten Teil wiederholte sie Abs. 7 aus der Rechteerklärung der Verfassung von Pennsylvania von 1776, die ihrerseits eine Übernahme von Abs. 6 der Rechteerklärung von Virginia darstellte: „Dass alle Wahlen frei sein sollten und dass alle freien Männer, die ein hinreichendes, offensichtliches, gemeinsames Interesse an und Zuneigung zu der Gemeinschaft haben, das Recht haben, Amtsträger zu wählen oder ins Amt gewählt zu werden.“ Hingegen fehlte in der Vermonter Verfassung die Umsetzung dieses allgemeinen Grundsatzes im zweiten Teil der Verfassung, dessen Abs. 6 ganz anders als in dem pennsylvanischen Vorbild lautete: „Jeder volljährige Mann von 21 Jahren, der für den Zeitraum eines ganzen Jahres vor der nächsten Wahl von Repräsentanten in diesem Staat gewohnt und ein ruhiges und friedlie-

574

Vgl. die Verfassung von Pennsylvania von 1838, Art. 3, Abs. 1, und den Zusatzartikel zur Verfassung von South Carolina von 1790. Die Verfassung von Delaware von 1831 setzte gegenüber der Verfassung von 1792 fest, dass Wähler ab 22 Jahre Steuerzahler sein mussten, wohingegen keiner der Zusatzartikel zur Verfassung von Georgia von 1798 zwischen 1808 und 1849 den Art. 4, Abs. 1 betraf (ebd., I, 249; V, 390 – 391; VI, 45). Bzgl. Delaware, vgl. Proceedings of the Assembly of the Lower Counties on the Delaware 1770 – 1776, of the Constitutional Convention of 1776, and of the House of Assembly of the Delaware State 1776 – 1781, hrg. v. Claudia L. Bushman, Harold B. Hancock, und Elizabeth Moyne Homsey, Newark, Del.: University of Delaware Press, 1986, 219; John A. Munroe, Federalist Delaware 1775 – 1815, New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press, 1954, 195 – 196. Zu Georgia, vgl. Ethel Kime Ware, A Constitutional History of Georgia, 1947, Ndr. New York: AMS Press, 1967, 70, 87 – 88; Albert Berry Saye, A Constitutional History of Georgia 1732 – 1968, Athens: University of Georgia Press, 21970, 143, 162; Donald A. DeBats, Elites and Masses: Political Structure, Communication, and Behavior in Ante-Bellum Georgia, New York: Garland, 1990, bes. 396 – 399. Zu Pennsylvania, vgl. J. Paul Selsam, The Pennsylvania Constitution of 1776. A Study in Revolutionary Democracy, 1936, Ndr. New York: Octagon Books, 1971, 188 – 190; Rosalind L. Branning, Pennsylvania Constitutional Development, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1960, 14, 20, 30 – 31; Douglas M. Arnold, A Republican Revolution. Ideology and Poltics in Pennsylvania, 1776 – 1790, New York: Garland, 1989, 314 – 315. Bzgl. South Carolina, vgl. Lacy K. Ford, Jr., Origins of Southern Radicalism: The South Carolina Upcountry, 1800 – 1860, New York und Oxford: Oxford University Press, 1988, 102, 108; Rachel N. Klein, Unification of a Slave State: The Rise of the Planter Class in the South Carolina Backcountry, 1760 – 1808, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1990, bes. 142 – 147, 257 – 266.

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bendes Verhalten hat und den nachfolgenden Eid (oder Bestätigung) leistet, soll alle Privilegien eines freien Mannes dieses Staates genießen.“575

Willi Paul Adams war überzeugt, dass mit diesen Formulierungen das allgemeine Männerwahlrecht verwirklicht worden war.576 Selbst wenn es lediglich um die Frage der praktischen Durchführung geht, erscheint es zweifelhaft, ob er mit dieser Überzeugung Recht hat, doch im strengen juristischen Sinn ist diese Interpretation unzutreffend, was offensichtlich wird, wenn man die Definition des „freien Mannes (freeman)“ durch die Verfassung berücksichtigt: „[J]der freie Mann sollte, um seine Unabhängigkeit zu bewahren (falls ohne hinreichendes Gut) irgendeinen Beruf, Geschäft, Gewerbe oder Farm haben, wovon er sich redlich ernähren kann.“577 Ganz offensichtlich hatte Vermont verfassungsrechtlich weder 1777 noch zu einem anderen Zeitpunkt bis zum Bürgerkrieg die Absicht, das allgemeine Männerwahlrecht einzuführen – weder die Verfassungen von 1786 und 1793 noch spätere Verfassungszusätze änderten etwas an dieser Position, die 1828 lediglich um die Einführung des Staatsbürgerrechts ergänzt wurde578 –, sondern allein eine besondere Variante der Eigentumsqualifikation, die noch am nächsten den modernen Bestimmungen des Steuerzahlerwahlrechts von Pennsylvania kam.579 Angesichts des mehrdeutigen Charakters der Vermonter Verfassung kann es daher kaum überraschen, dass es in diesem Staat im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu einem andauernden Kampf gegen die unterschiedlichsten Formen von Wahlbehinderung und den Ausschluss von Wahlrecht kam.580 Wenn Vermont tatsächlich das allgemeine Männerwahlrecht hätte einführen wollen, wäre es ein leichtes gewesen, mit seiner Verfassung von 1793 den Art. 3, Abs. 1 der Verfassung von Kentucky von 1792 zu übernehmen, jener wirklich ersten amerikanischen Verfassung, mit der dieses Prinzip unzweideutig eingeführt wurde: „In Wahlen durch die Bürger haben alle freien männlichen Bürger von 21 Jahren, die 575 Verfassung von Vermont von 1777, Tl. I, Abs. 8, Tl. II, Abs. 6 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VII, 12, 13). Vgl. Verfassung von Pennsylvania von 1776, Tl. I, Abs. 7, Tl. II, Abs. 6 (ebd., V, 323, 326). 576 Adams, Republikanische Verfassung, 197. 577 Verfassung von Vermont von 1777, Tl. II, Abs. 33 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VII, 17 – 18). Vgl. dazu analog auch die von Pennsylvania übernommenen Bestimmungen bezüglich des Einbürgerungsrechts, die den „freien Einwohner (free denizen)“ mit dem Besitz von „Land oder andere Immobilien“ verbanden, vgl. Kettner, American Citizenship, 214. 578 Vgl. die Verfassungen von Vermont von 1786 (Kap. I, Abs. 9; Kap. II, Abs. 18) und 1793 (Kap. I, Abs. 8; Kap. II, Abs. 21) sowie den ersten Zusatzartikel von 1828 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VII, 26, 30 – 31, 40, 44, 64). 579 Vgl. Marchette Chute, The First Liberty. A History of the Right to Vote in America, 1619 – 1850, New York: Dutton, 1969, 225 – 226. 580 Vgl. Randolph A. Roth, The Democratic Dilemma. Religion, Reform, and the Social Order in the Connecticut River Valley of Vermont, 1791 – 1850, Cambridge: Cambridge University Press, 1987, 35 – 36; Vermont Elections 1789 – 1989, hrg. v. Christie Carter (State Papers of Vermont, Bd. 21), [Montpelier, VT:] Secretary of State, 1989, bes. 33 – 34.

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in dem Staat zwei Jahre und in dem Kreis, in dem sie wählen wollen, ein Jahr vor der nächsten Wahl wohnen, das Wahlrecht.“581 Das Beispiel von Kentucky war singulär, auch wenn die Bestimmungen von 1792 keine geheime Wahl vorsahen, was noch auf Jahrzehnte hin in vielen Staaten ein Desiderat bleiben sollte. Doch 1792 war zum ersten Mal in einer modernen Verfassung das allgemeine Wahlrecht für Männer verankert worden, woran auch die Verfassungsrevision von 1799 nichts änderte, die im Gegenteil als noch demokratischer galt, da sie auf der gleichen rechtlichen Grundlage die direkte Wahl von Senatoren und des Gouverneurs vorsah. Eine gravierende Einschränkung muss jedoch gemacht werden, denn in der Verfassung von 1799 war nunmehr von „jedem freien männlichen Bürger“ die Rede, und das hieß „Neger, Mulatten und Indianer ausgenommen“.582 Der schleichende verfassungsrechtliche Rassismus hatte damit auch das ansonsten demokratische Kentucky erreicht. Wenn 1792 das Jahr ist, in dem das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts für erwachsene Männer erstmals in Amerika verfassungsrechtlich verankert wurde – ein Jahr, bevor es mit der Jakobinischen Verfassung in Europa Einzug hielt, auch wenn es wenige Jahre später in ein allgemeines weißes Männerwahlrecht umdefiniert werden sollte –, waren die drei Staaten, die als nächste in die Union aufgenommen werden sollten, Tennessee, Ohio, and Louisiana, nicht bereit, dem Beispiel Kentuckys zu folgen. Tennessee kam dem 1796 noch am nächsten, als es, ähnlich South Carolina vierzehn Jahre später, das Wahlrecht an einen nicht näher bestimmten Landbesitz knüpfte oder an eine sechsmonatige Residenzpflicht für „[j]eden freien Mann von 21 Jahren und darüber“,583 während Ohio 1802 wie auch Louisiana 1812 ein Steuerzahlerwahlrecht für alle erwachsenen Weißen einführten, die sich seit mindestens einem Jahr in dem jeweiligen Staat aufhielten.584 Beide Staaten waren erst 1845 (Louisiana) beziehungsweise 1851 (Ohio) bereit, das allgemeine Wahlrecht für

581 Verfassung von Kentucky von 1792, Art. 3, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 15). Vgl. Patricia Watlington, The Partisan Spirit: Kentucky Politics, 1779 – 1792, New York: Atheneum, 1972, 99, 221 – 222; Joan Wells Coward, Kentucky in the New Republic: The Process of Constitution Making, Lexington, Ky.: University Press of Kentucky, 1979, 26, 27, 31 – 32; Lowell H. Harrison, Kentucky’s Road to Statehood, Lexington, Ky.: University Press of Kentucky, 1992, 121 – 122. 582 Verfassung von Kentucky von 1799, Art. 2, Abs. 8 und 14, Art. 3, Abs. 2 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 28, 29, 30). Vgl. Coward, Kentucky in the New Republic, 120, 150 – 151. 583 Tennessee Verfassung von 1796, Art. 3, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel VI, 63). 584 Verfassung von Ohio von 1802, Art. 4, Abs. 1; Verfassung von Louisiana von 1812, Art. 2, Abs. 8 (ebd., V, 195; III, 76). Zum Verfassungskonvent von Ohio, vgl. Andrew R. L. Cayton, The Frontier Republic: Ideology and Politics in the Ohio Country, 1780 – 1825, Kent, Ohio: Kent State University Press, 1986, 76 – 80.

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weiße Männer verfassungsrechtlich zu akzeptieren, wozu sich Jacksons Heimatstaat Tennessee immerhin schon 1834 bequemen konnte.585 Die Agitation für das allgemeine Wahlrecht war weder ein generelles Phänomen des Westens, wo doch, wie uns Frederick Jackson Turner einst glauben machen wollte, „[d]er Wind der Demokratie so stark wehte“,586 und es doch zumindest drei Staaten gab, die diesem nur so widerstrebend nachgaben, noch war sie im Osten unbekannt. Ihr geistiger Ursprung war in Amerika wie in Europa das Erbe des Naturrechts, der universellen Menschenrechte und des Zeitalters der Revolutionen. Erfolg oder Misserfolg dieser Agitation für die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts in Amerika wie in Europa in diesen Jahrzehnten war daher keine Frage der Präsenz oder Abwesenheit dieser Ideen. Ganz im Gegenteil war die Agitation praktisch allgemein. Entscheidend für ihren Erfolg auf beiden Seiten des Atlantiks war letztlich allein die Stärke oder Schwäche der jeweiligen politischen Elite. In unterschiedlichem Ausmaß hatte die herrschende Elite in fast allen amerikanischen Staaten seit den Tagen der Revolution die Politik bestimmt, und an ihr lag es daher im Grunde, bis zu welchem Grad jene erfolgreich waren, die für die politische Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts kämpften. Dieser elitäre Charakter der amerikanischen Politik war besonders ausgeprägt im Nordosten des Landes, und zwar stärker, als dies gemeinhin angenommen wird, und im tiefen Süden, so dass es selbst im Südwesten nur teilweise zu Einbrüchen kam. Maryland war der erste der dreizehn Ursprungsstaaten, in dem sich das allgemeine weiße Männerwahlrecht durchsetzen konnte. Doch es war ein langer Kampf gewesen, der bereits 1797 begonnen hatte, aber erst 1810 zum Erfolg führte, als es endlich gelang, einen Zusatzartikel in die Verfassung aufzunehmen, mit dem das alte Eigentümerwahlrecht von 1776 abgeschafft wurde.587 Obwohl die Bürger von Maryland mithin in ihrem Kampf für eine demokratische Wahlrechtsreform erfolgreicher waren als die von South Carolina zwischen 1808 und 1810, folgte keiner der Gründerstaaten dem Beispiel Marylands im Verlauf des nächsten Jahrzehnts. In den zehn Jahren zwischen 1812 und 1822 wurden sieben neue Staaten in die Union aufgenommen, und in drei der bestehenden Staaten kam es zu Verfassungsänderungen. Sechs dieser insgesamt zehn Staaten führten in diesem Zeitraum das allgemeine Wahlrecht ein: Indiana 1816, Illinois 1818, Alabama und Maine 1819, 585 Vgl. die Verfassungen von Louisiana von 1845 (Art. 2, Abs. 10), von Ohio von 1851 (Art. 5, Abs. 1) und von Tennessee von 1834 (Art. 4, Abs. 1) (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 110, V, 236, VI, 81). 586 Frederick Jackson Turner, The Frontier in American History, New York: Holt, 1921, 252. 587 3. Zusatzartikel von 1810, der Art. 42 der Verfassung von 1776 änderte (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 252, 285). Vgl. Williamson, American Suffrage, 140 – 151. Tatsächlich war die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht in Maryland bereits 1776 aufgetaucht, vgl. Allan Kulikoff, „The American Revolution, Capitalism, and the Formation of the Yeoman Classes“, in: Beyond the American Revolution. Explorations in the History of American Radicalism, hrg. v. Alfred F. Young, DeKalb, Ill.: Northern Illinois University Press, 1993, 95.

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Missouri 1820 und schließlich New York – allerdings erst mit dem zweiten Zusatzartikel von 1826 zu seiner Verfassung 1821. Aber in allen diesen Staaten gab es Einschränkungen. Indiana, Illinois, Alabama und Missouri waren unverhohlen rassistisch und beschränkten das allgemeine Wahlrecht ausdrücklich auf weiße erwachsene Männer.588 Doch die Bigotterie der Bestimmungen von New York von 1821/1826 war wahrlich bemerkenswert. Die Verfassung brüstete sich, das Wahlrecht auch „Farbigen (men of color)“ zu erteilen. Doch als mit dem zweiten Zusatzartikel von 1826 das Steuerzahlerwahlrecht zugunsten des allgemeinen Wahlrechts abgeschafft wurde, geschah dies ausdrücklich allein für Weiße. Die NichtWeiße betreffenden Beschränkungen blieben dagegen unverändert bestehen, und ihre Hürden waren nahezu unüberwindbar: „[A]ber kein Farbiger, es sei denn, er ist sei drei Jahren ein Bürger dieses Staats und besitzt seit einem Jahr vor jeder nächsten Wahl ein schulden- und abgabenfreies Gut von einem Wert von 250 $ und ist tatsächlich so eingestuft und hat die Steuer bezahlt, besitzt das Wahlrecht. Und kein Farbiger ist der direkten Steuer unterworfen, es sei denn, er besitzt ein derartiges Gut.“589

Maine, dessen Bevölkerung sich erheblich von jener New Yorks unterschied, ließ dennoch in etwa die gleiche Absicht erkennen, als es mit seiner Verfassung „Arme, Personen unter Vormundschaft und nicht steuerpflichtige Indianer“ vom Wahlrecht ausschloss.590 Alle erwachsenen Männer, die in diesen sechs Staaten mit ihren allgemeinen Wahlrechtsbestimmungen das Wahlrecht besaßen, mussten Bürger des jeweiligen Staates sein – allein Illinois schrieb diese Staatsbürgerschaft nicht vor591 – und zusätzlich noch eine Mindestaufenthaltszeit nachweisen, die zwischen drei Monaten in Maine, sechs Monaten in Illinois und einem Jahr in Indiana und Alabama schwanken konnte. Missouri und New York verlangten einen Mindestaufenthalt von einem Jahr, darin eingeschlossen mindestens drei (Missouri) beziehungsweise sechs Monate (New York) in dem Kreis, in dem sie zu wählen beabsichtigten.592 588 Bzgl. Alabama, vgl. Malcolm Cook McMillan, Constitutional Development in Alabama, 1798 – 1901: A Study in Politics, the Negro, and Sectionalism, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1955, 13 – 14, 34, 36. 589 Verfassung von New York von 1821, Art. 2, Abs. 1, vgl. zweiten Zusatzartikel von 1826 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 101, 115). Vgl. die ausgedehnten Debatten über das Wahlrecht in: Reports of the Proceedings and Debates of the Convention of 1821, Assembled for the Purpose of Amending the Constitution of the State of New-York, hrg. v. Nathaniel H. Carter und William L. Stone, Albany: Horsford, 1821 (Ndr. New York: Da Capo, 1970), bes. 370 – 378. 590 Verfassung von Maine von 1819, Art. 2, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 205). 591 Vgl. Janet Cornelius, Constitution Making in Illinois 1818 – 1970, Urbana, Ill.: University of Illinois Press, 1972, 12. 592 Vgl. Verfassung von Indiana von 1816, Art. 6, Abs. 1; Verfassung von Illinois von 1818, Art. 2, Abs. 27; Verfassung von Alabama von 1819, Art. 3, Abs. 5; Verfassung von Maine von 1819, Art. 2, Abs. 1; Verfassung von Missouri von 1820, Art. 3, Abs. 10; Verfassung von New

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In Louisiana, Connecticut, Mississippi und Massachusetts gelang es in diesem Jahrzehnt nicht, vergleichbare Formen des allgemeinen Wahlrechts verfassungsrechtlich durchzusetzen. Stattdessen begnügten sich Louisiana und Massachusetts mit der Einführung des Steuerzahlerwahlrechts, eine Qualifikation, die in Connecticut – hier in der Form des kleinen Eigentums – und Mississippi allerdings auch durch den Dienst in der Miliz ersetzt werden konnte. In fast allen Fällen war ein Mindestaufenthalt von einem Jahr in dem betreffenden Staat und davon sechs Monaten in dem jeweiligen Kreis vorgeschrieben, und alle vier Verfassungen beschränkten das Wahlrecht auf entsprechend qualifizierte Weiße mit Ausnahme von Massachusetts, das „Arme und Personen unter Vormundschaft“ ausschloss.593 Als Andrew Jackson 1829 als siebter Präsident der Vereinigten Staaten sein Amt antrat, war die Demokratie in der Form des allgemeinen Wahlrechts selbst in seiner restriktiven Form des allgemeinen weißen Männerwahlrechts noch weit davon entfernt, im ganzen Land verfassungsmäßig verankert zu sein. Bezüglich der sechs Neuenglandstaaten war seine Durchsetzung in den drei zentralen Staaten Massachusetts, Connecticut und Rhode Island nach wie vor nicht gelungen. Lediglich in dem peripheren und dünn besiedelten Maine war es gültiges Recht, dem New Hampshire und Vermont relativ nahekamen. Weiter südlich hatten in den drei Mittelatlantikstaaten lediglich New York und von den sechs Südatlantikstaaten allein Maryland das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Unter den sechs Staaten des alten Südwestens war die Situation nur wenig ermutigender, standen doch hier die drei Staaten Kentucky, Alabama und Missouri mit allgemeinem Wahlrecht den verbleibenden drei, Tennessee, Louisiana und Mississippi, gegenüber, die sich diesem Prinzip bislang verweigert hatten. Ähnlich war es im alten Nordwesten mit Indiana und Illinois für und Ohio gegen das allgemeine Wahlrecht. Insgesamt waren es also ganze drei Staaten im Osten und fünf Staaten im Westen bei einer Gesamtzahl von 24 York von 1821, zweiter Zusatzartikel von 1826 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 182, 228; VIII, 12; III, 205; IV, 224 – 225; V, 115). 593 Vgl. Verfassung von Louisiana von 1812, Art. 2, Abs. 8; Verfassung von Mississippi von 1817, Art. 3, Abs. 1; Verfassung von Connecticut von 1818, Art. 6, Abs. 2; Zusatzartikel von 1821 zur Verfassung von Massachusetts von 1780, Art. 3 (ebd., III, 76; IV, 173 – 174; I, 193; IV, 45). Zum politischen Diskurs in Connecticut, vgl. Richard J. Purcell, Connecticut in Transition: 1775 – 1818, n. hrg. v. S. Hugh Brockunier, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press, 1963 [1. Aufl., 1918], 251 – 252; Jarvis Means Morse, A Neglected Period of Connecticut’s History 1818 – 1850, New Haven: Yale University Press, 1933, 24 – 25; Janice Law Trecker, Preachers, Rebels, and Traders. Connecticut 1818 to 1865, Chester, Conn.: Pequot Press, 1975, bes. 46 – 51. Bzgl. Massachusetts, vgl. das unerlässliche Werk von Ronald P. Formisano, The Transformation of Political Culture: Massachusetts Parties, 1790s – 1840s, New York und Oxford: Oxford University Press, 1983, 137; vgl. auch die ausführlichen Debatten in: Journal of the Debates and Proceedings in the Convention of Delegates, Chosen to Revise the Constitution of Massachusetts, Begun and Holden at Boston, November 15, 1820, and Continued by Adjournment to January 9, 1821, Boston: Daily Advertiser, 21853 (Ndr. New York: Da Capo. 1970), 246 – 257, 410 – 412, und passim. Zur „konservativen“ Verfassung von Mississippi von 1817, vgl. Edwin Arthur Miles, Jacksonian Democracy in Mississippi, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1960, bes. 33.

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Staaten, in denen 1829 das allgemeine Wahlrecht verfassungsrechtlich eingeführt war, wobei dieses Prinzip praktisch in allen Staaten allein für weiße Männer galt.594 Diese Ergebnisse lassen kaum jene landläufige Interpretation zu, dass ausgehend von der sog. Jeffersonian Democracy und der Wirtschaftskrise des Jahres 1819 eine demokratische Woge in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts über das Land geschwappt sein soll.595 Sicherlich hat sie demokratische Anschauungen beflügelt und jene ermuntert, die in der Folge aktiv für sie eintraten. Doch die politischen Eliten zumal im Osten zeigten wenig Bereitschaft, ihnen nachzugeben. Es ist daher kein Zufall, dass sie hier in dieser Zeit allein in dem peripheren Maine sowie unter jeweils ganz spezifischen Bedingungen in Maryland und New York erfolgreich waren.596 In den übrigen Staaten waren die lokalen wie staatlichen Eliten, die dort jeweils seit der Revolution die Politik kontrolliert hatten, nicht so leicht aus dem Sattel zu werfen. Lediglich dort, wo es keine eingesessenen Eliten gab oder ihre Position vergleichsweise schwach war wie in den neuen Staaten im Westen, die nach dem Krieg von 1812 und insbesondere nach der Krise von 1819 aufgenommen wurden, konnte sich die demokratische Bewegung für das allgemeine Wahlrecht durchsetzen. Mississippi war 1817 der letzte Staat, der mit einer Verfassung in die Union aufgenommen wurde, die nicht unzweideutig das allgemeine Wahlrecht für erwachsene weiße Männer verkündet hatte. Im Gegenzug war Ohio der letzte, nicht zu den dreizehn Gründerstaaten gehörende Staat, als er dieses demokratische Prinzip schließlich 1851 in seine Verfassung aufnahm. Die Behauptung, die Präsidentschaft von Andrew Jackson, der sich doch so nachdrücklich durch seine demokratische Rhetorik auszeichnete,597 habe einen nachhaltigen Einfluss auf die Durchsetzung des demokratischen Wahlrechts gehabt, gehört zu den anhaltendsten Mythen der amerikanischen Geschichtsschreibung.598 594

Vgl. dagegen Richard Hofstadter, The Idea of a Party System. The Rise of Legitimate Opposition in the United States, 1780 – 1840, Berkeley: University of California Press, 1970, 210, wonach 1824 „nahezu alle erwachsenen weißen Männer in Präsidentenwahlen, außer in Virginia, Rhode Island und Louisiana, wählen konnten“. 595 Vgl. das herausragende Werk von Charles Sellers, The Market Revolution: Jacksonian America, 1815 – 1846, New York und Oxford: Oxford University Press, 1991, bes. 107 – 117. 596 Bzgl. New York, vgl. Robert V. Remini, Martin Van Buren and the Making of the Democratic Party, New York: Columbia University Press, 1959, 5 – 11; John Niven, Martin Van Buren: The Romantic Age in American Politics, New York und Oxford: Oxford University Press, 1983, bes. 76 – 101. 597 Vgl. dazu u. a. Robert V. Remini, „The Democratic Party in the Jacksonian Era“, in: Democrats and the American Idea: A Bicentennial Appraisal, hrg. v. Peter B. Kovler, Washington, D.C.: Center for National Policy Press, 1992, bes. 41, 44 – 45. 598 Vgl. u. a. Fletcher Melvin Green, „Democracy in the Old South“, in: ders., Democracy in the Old South, 68 – 69: „In den frühen Tagen der amerikanischen Republik war das Wahlrecht erwachsenen männlichen Eigentümern übertragen; im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde es auf alle erwachsenen weißen Männer ausgedehnt.“ Der Aufsatz erschien erstmals 1946. Eine ähnliche Überzeugung hatte Green bereits in seinem Constitutional Development in the South Atlantic States, 302, zum Ausdruck gebracht und später in seinen „Cycles of American Democracy“ (1961), in: ders., Democracy in the Old South, 97, wiederholt.

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Während seiner acht Amtsjahre wurden keine neuen Staaten in die Union aufgenommen, doch in fünf der bestehenden Staaten kam es zu Verfassungsänderungen. In der Tat haben von ihnen Mississippi 1832 und Jacksons Heimatstaat Tennessee zwei Jahre später das allgemeine Wahlrecht für erwachsene weiße Männer akzeptiert bei einer verlangten Mindestaufenthaltsdauer von sechs Monaten bzw. einem Jahr.599 In Virginia, Delaware und North Carolina kam hingegen keine Mehrheit für die Einführung einer vergleichbaren demokratischen Reform zustande. Im Gegenteil bestand Virginia auch weiterhin auf der traditionellen Form der Eigentumsqualifikation, deren komplizierter Modus sicherstellen sollte, „[d]ass das Wahlrecht nicht ausgeübt werden soll von Geisteskranken, Armen, Unteroffizieren, Soldaten, Seeleuten oder Marineinfantristen im Dienst der Vereinigten Staaten oder irgendeiner Person, die wegen eines entehrenden Verbrechens verurteilt wurde.“600 Auch Delaware zeigte sich unbeeindruckt von der demokratischen Agitation der Zeit und wiederholte nahezu wörtlich seine Wahlbestimmungen der Verfassung von 1792 mit ihrem Steuerzahlerwahlrecht, ohne allerdings zu vergessen, dass jene sozialen Randgruppen, die in der Verfassung von Virginia aufgelistet worden waren, vom Wahlrecht ausgeschlossen bleiben sollten.601 Der gleiche Grundtenor spricht aus den Verfassungszusätzen von 1835 zur Verfassung von North Carolina von 1776, in der die Eigentumsqualifikation für die Wahlen zum Senat und das Steuerzahlerwahlrecht bei den Wahlen zum Unterhaus im Wesentlichen unverändert blieben. Allein der ausgesprochene Rassismus war neu und trug in seinen ungewöhnlich detaillierten Ausführungen durchaus originäre Züge: „Kein freier Neger, freier Mulatte oder freie Person gemischten Blutes, die von Negervorfahren bis einschließlich der vierten Generation abstammt (selbst wenn in jeder Generation ein Vorfahre eine weiße Person gewesen sein mag), soll Mitglieder für den Senat und das Unterhaus wählen.“602 Selbst mit einem weiteren Verfassungszusatz von 1857 war North Carolina lediglich bereit, die Wahlhürden auf ein generelles Steuerzahlerwahlrecht für Weiße zurückzunehmen.603 599 Verfassung von Mississippi von 1832, Art. 3, Abs. 1; Verfassung von Tennessee von 1834, Art. 4, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 193; VI, 80). Zur Verfassung von Mississippi von 1832, vgl. Miles, Jacksonian Democracy in Mississippi, bes. 38. 600 Verfassung von Virginia von 1830, Art. 3, Abs. 14 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VII, 109; vgl. ebd., 108 – 109, bezüglich des gesamten Absatzes). 601 Verfassung von Delaware von 1831, Art. 4, Abs. 1 (ebd., I, 249). 602 1835 ratifizierter Zusatzartikel zur Verfassung von North Carolina von 1776, Art. 1, Abs. 3, § 3 (ebd., V, 169, vgl. 162). Vgl. William S. Hoffmann, Andrew Jackson and North Carolina Politics, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1958, bes. 86 – 87; Thomas E. Jeffrey, State Parties and National Politics: North Carolina, 1815 – 1861, Athens, Ga.: University of Georgia Press, 1989, 51, 343. 603 Zusatzartikel von 1857 zur Verfassung von 1776, Art. 1, Abs. 3 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 173). Vgl. Marc W. Kruman, Parties and Politics in North Carolina 1836 – 1865, Baton Rouge, La.: Louisiana State University Press, 1983, 86 – 103.

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III. Nordamerika

Die Jahre nach Jackson waren in ihrem demokratischen Gehalt hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts kaum eindrucksvoller. Der politische Diskurs über das Problem, ob das Wahlrecht mit der Eigentumsfrage verbunden sein sollte, war auch weiterhin unter den politischen Parteien heftig umstritten, ohne dass ein Konsens in Sicht war.604 Die Anhänger der Eigentumsqualifikation sahen darin ein zusätzliches Mittel politischer Kontrolle über eine zahlenmäßig bedeutsame Bevölkerungsgruppe, zu der vor allem Unterschichten und jüngere, erst am Beginn ihrer Berufskarriere stehende Bürger zählten. Ob diese Bevölkerungsgruppen in den Staaten ohne allgemeines Wahlrecht dann auch tatsächlich von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen blieben, ist eine ganz andere Frage, deren Beantwortung sich nach dem Ausmaß von Korruption und der Fähigkeit der politischen Führung richtet, die Wahlen zu kontrollieren. Ganz allgemein lässt sich jedenfalls feststellen, dass die, die den erzieherischen Wert der Eigentumsqualifikation mit Blick auf die öffentliche Moral am höchsten priesen, oft auch genau jene waren, die am meisten zur Zunahme illegal abgegebener Stimmen beitrugen.605 Wie dem auch sei, Pennsylvania blieb 1838 bei seinem Steuerzahlerwahlrecht und einer vorgeschriebenen Mindestaufenthaltsdauer von zwei Jahren, wie sie 1790 eingeführt worden waren, diesmal allerdings mit dem Zusatz, dass dieses Recht allein für erwachsene weiße Männer gelte.606 Rhode Island verhielt sich noch restriktiver, als es nach der demokratischen Herausforderung durch die sog. „Dorr Rebellion“ von 1841 im darauffolgenden Jahr seine erste Staatsverfassung verabschiedete, die in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen den erforderlichen Mindestwert von Eigentum in Höhe von 134 $ zur Ausübung des Wahlrechts auch weiterhin festschrieb.607 Im Gegensatz dazu hatte die sog. „Volksverfassung“ von 1841 hervorgehoben, „dass diese Regierung eine Demokratie sein soll“ und folglich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorgesehen.608 604 Vgl. die Eintragung vom 22. Januar 1842 von Benjamin Brown French in sein Tagebuch: Benjamin Brown French, Witness to the Young Republic. A Yankee’s Journal, 1828 – 1870, hrg. v. Donald B. Cole und John J. McDonough, Hanover, NH: University of New England Press, 1989, 135. 605 Vgl. Formisano, Transformation of Political Culture, 140 – 143. 606 Verfassung von Pennsylvania von 1838, Art. 3, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 390 – 391). 607 Verfassung von Rhode Island von 1842, Art. 2, Abs. 1 (ebd., 485). Vgl. dazu auch das voraufgegangene Kapitel. 608 People’s Constitution von 1841, Art. 1, Abs. 1, vgl. Art. 2, Abs. 1 und 2 (ebd., 451, 453 – 454). Vgl. Arthur May Mowry, The Dorr War: The Constitutional Struggle in Rhode Island, New York: Chelsea House Publications, 1970, bes. 45 – 55, 94 – 118; Marvin E. Gettleman, The Dorr Rebellion: A Study in American Radicalism, 1833 – 1849, New York: Random House, 1973, 45, 209 – 211; George M. Dennison, The Dorr War: Republicanism on Trial, 1831 – 1861, Lexington, Ky.: University Press of Kentucky, 1976, 32 – 83. Die Wahlrechtsbeschränkungen und die Forderungen nach einem ausgedehnteren, allgemeinen Wahlrecht waren eine der zentralen politischen Streitfragen in Rhode Island in den voraufgegangenen Jahrzehnten, vgl.

5. Moderner Konstitutionalismus und die Herausforderungen der Demokratie

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Der Widerstand gegen demokratische Wahlrechtsreformen blieb in Massachusetts, Delaware, den beiden Carolinas und Georgia zumindest bis zum Bürgerkrieg stark. Von den Staaten der Ostküste hatten lediglich New Jersey 1844, Connecticut 1845 und Virginia 1851 sich endlich bereitgefunden, das allgemeine Wahlrecht in den Formen, in denen es sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hatte, zu akzeptieren.609 In den neu aufgenommenen Staaten des Westens, beginnend mit der Verfassung von Arkansas 1836,610 der sich schließlich auch Louisiana und Ohio 1845 beziehungsweise 1851 anschlossen, setzten sich die demokratischen Prinzipien des allgemeinen Wahlrechts in diesen Jahrzehnten ungleich leichter durch. Die Mehrzahl dieser Verfassungen datiert allerdings bereits aus den fünfziger Jahren, d. h. lange nach dem Zeitalter Jacksons, aber auch bereits nach den europäischen Revolutionen von 1848. Diesen Revolutionen waren nicht nur in Frankreich Jahre der Agitation für eine demokratische Wahlrechtsreform vorausgegangen, die schließlich in die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Frankreich mit der Verfassung von 1848 mündeten,611 sondern sie hatten auch dazu geführt, dass anschließend viele Achtundvierziger Revolutionäre in den Vereinigten Staaten Asyl suchten und ihre demokratischen Ideale dort verbreiteten, wobei so mancher die Erfahrung machen musste, dass seine Ideale demokratischer als die politische Realität zumal im östlichen Teil der Vereinigten Staaten waren.612 Viele dieser persönlichen Eindrücke bestätigten nur die Unterschiede in der politischen Kultur der Vereinigten Staaten und der westeuropäischen Staaten. Berücksichtigt man jedoch die Tatsache, dass bei Ausbruch des Bürgerkrieges immer Patrick T. Conley, Democracy in Decline: Rhode Island’s Constitutional Development 1776 – 1841, Providence, R.I.: Rhode Island Historical Society, 1977, passim. 609 Vgl. Verfassung von New Jersey von 1844, Art. 2, Abs. 1; 8. Zusatzartikel zur Verfassung von Connecticut von 1818 von 1845; Verfassung von Virginia von 1851, Art. 3, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 34 – 35; I, 204; VII, 122). Bzgl. Connecticut, vgl. Morse, Connecticut’s History, 291 – 324. 610 Vgl. Verfassung von Arkansas von 1836, Art. 4, Abs. 2; Verfassung von Michigan von 1835, Art. 2, Abs. 1; Verfassung von Texas von 1836, Art. 6, Abs. 11; Verfassung von Florida von 1839 Art. 6, Abs. 1; Verfassung von Iowa von 1846, Art. 3, Abs. 1; Verfassung von Wisconsin von 1848, Art. 3, Abs. 1; Verfassung von Kalifornien von 1849, Art. 2, Abs. 1; Verfassung von Minnesota von 1857, Art. 7, Abs. 1; Verfassung von Oregon von 1857, Art. 2, Abs. 2; Verfassung von Kansas von 1859, Art. 5, Abs. 1 – 3 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 123; IV, 88 – 89; VI, 208; I, 315; II, 257; VII, 214; I, 152 – 153; IV, 148; V, 297; II, 367). 611 Verfassung von 4. November 1848, Kap. 4, Art. 24 (Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther und Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 215). 612 Vgl. Carl Wittke, Refugees of Revolution. The German Forty-Eighters in America, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1952, bes. 163 – 165; Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830 – 1930, hrg. v. Wolfgang Helbich u. a., München: Beck, 1988, 134 – 135, 309, 327 – 328; Horst Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip, 1994, 38 – 39.

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noch neun der dreizehn amerikanischen Gründerstaaten ihre verfassungsrechtlichen Hürden gegen das allgemeine Wahlrecht nicht abgeschafft hatten und dass in nahezu allen Staaten das Wahlrecht unverhohlen rassistisch war, wird offenkundig, dass der elitäre Charakter der amerikanischen Politik wesentlich bestimmender und anhaltender war, als dies allgemein angenommen wird. Damit soll nicht behauptet werden, die Vereinigten Staaten seien weniger demokratisch gewesen, als dies nach außen den Anschein hatte, aber es kann auch nicht geleugnet werden, dass die traditionellen politischen Eliten nicht nur im Süden, sondern vor allem auch in vielen Teilen des Nordostens die politische Macht bis zum Bürgerkrieg weitaus mehr kontrollierten, als dies die politische Rhetorik der Zeit erkennen lässt. In den gleichen Zusammenhang und eng damit verknüpft gehört die hier ausgeklammerte Frage der gleichförmigen Repräsentation, die genau in diesen Staaten aus denselben Gründen gleichartige Verwerfungen bis zum Bürgerkrieg zeitigte.613 Zumindest indirekt belegt dieser anhaltende Einfluss der Elite daher, dass in dem Kampf um die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts zwischen den östlichen Vereinigten Staaten und Westeuropa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit mehr Ähnlichkeiten bestehen, als bislang gemeinhin angenommen worden ist.

6. Wisconsin 1848: Moderner Konstitutionalismus und die tugendhafte Republik614 Während in weiten Teilen Europas das Jahr 1848 in der Erinnerung als das Jahr der Revolution geblieben ist, ist es in den Vereinigten Staaten das Jahr des Endes des siegreichen Kriegs gegen Mexiko, dank dessen die kontinentalen Vereinigten Staaten, von einer kleinen Ergänzung fünf Jahre später, ihre seither bestehende Ausdehnung erfahren haben. Nur wenige Staaten waren in den 1840er Jahren in die Union aufgenommen worden, mit denen die Gesamtzahl 1848 auf 30 Staaten angewachsen war. Selbst wenn es Jahre gab, in denen mehr Staaten in die Union aufgenommen worden waren, stellen die Jahre von 1844 bis 1852 die Periode mit den meisten Verfassungsneuschöpfungen dar. 21 Verfassungen, darunter sieben aus unterschiedlichen Gründen gescheiterte Verfassungen, wurden in diesen acht Jahren konzipiert, während in den gesamten 22 Jahren von 1836 bis einschließlich 1857 613

Vgl. dazu oben Kap. III. 3. Vgl. auch unten Kap. V. 5. Überarbeitete Fassung meines Beitrags „,A mixed form of government founded on democratic principles‘: The Wisconsin Constitution of 1848 and the Virtuous Republic“, in dem von mir herausgegebenen Band Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848 – 49 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 58), Berlin: Duncker & Humblot, 1999, 271 – 286. Das Kapitel geht auf einen Beitrag zur sechsten Konferenz der International Society for the Study of European Ideas in Haifa, Israel, am 20. August 1998 zurück. Ich bin meinem damaligen Forschungsassistenten Norbert Faber aufrichtig dankbar für seine Durchsicht der Zeitschriften Wisconsins für diesen Zeitraum in den Beständen des John F. Kennedy Instituts der Freien Universität Berlin. 614

6. Wisconsin 1848: Moderner Konstitutionalismus und die tugendhafte Republik 249

lediglich zehn weitere Verfassungen angenommen wurden und sieben scheiterten.615 Damit sind in diesen acht Jahren mehr Verfassungen in Amerika geschrieben worden als in jedem anderen Achtjahreszeitraum zwischen 1776 und 1860. Von diesen 21 Verfassungen wurde lediglich die von Wisconsin 1848 geschrieben und vom Volk angenommen, nachdem eine erste Verfassung von 1846 zurückgewiesen worden war, doch Wisconsin bestrebt war, dem Kongress eine angenommene Verfassung präsentieren zu können, da dieser längst das Gesetz verabschiedet hatte, unter dem Wisconsin um Aufnahme in die Union ersuchen konnte.616 Diese Verfassung, inzwischen rund 150 Mal revidiert,617 ist heute noch in Kraft und ist damit außerhalb von Neuengland die älteste Einzelstaatsverfassung der Vereinigten Staaten.618 Von allen zwischen 1844 und 1852 geschaffenen amerikanischen Verfassungen, sind heute neben Wisconsin lediglich die Verfassungen von Ohio und Indiana, beide von 1851, noch in Kraft. Worauf gründete sich diese Langlebigkeit der Verfassung von Wisconsin, und warum konnte sie, mit so wenigen Ausnahmen, alle anderen amerikanischen Einzelstaatsverfassungen überleben, so dass sie heute in Amerika wie in Europa die einzige Verfassung von 1848 ist, die immer noch Bestand hat? Durchweg werden diese 21 Verfassungen, einschließlich der beiden Verfassungen von Wisconsin, falls überhaupt beachtet,619 pauschal als „Jacksonische“ Dokumente eingestuft, die den Triumph der Demokratie im – weitgefassten – Mississippi-Tal

615 Diese, von früheren Verfassungseditionen abweichenden Zählungen beruhen auf der von mir erstmals vorgelegten historisch-kritischen Ausgabe Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011. 616 Das sogenannte Befähigungsgesetz datiert vom 6. August 1846 und ist abgedruckt in The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States, hrg. v. Francis Newton Thorpe, 7 Bde., Washington: Government Printing Office, 1909, VII, 4071 – 4074. Bezüglich der rechtlichen Basis des zweiten Verfassungskonvents, vgl. John Alexander Jameson, The Constitutional Convention; Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Callaghan, 3 1873, 174. Die Verfassung von Illinois von 1848 war von dem Verfassungskonvent von Illinois am 31. August 1847 verabschiedet worden, vgl. Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, II, 170 – 171. 617 Jack Stark, The Wisconsin State Constitution. A Reference Guide (Reference Guides to the State Constitutions of the United States, 28), Westport, Conn.: Greenwood Press, 1997, 8; Wisconsin Blue Book 2019 – 2020, hrg. v. Joint Committee on Legislative Organization, Wisconsin Legislature, Madison, WI: Wisconsin Legislative Reference Bureau, 2019, 498 – 503. 618 Vgl. Joseph A. Ranney, „The Making of the Wisconsin Constitution“, in: Wisconsin Lawyer, 65, 8 (September 1992), 14, 60. 619 Vgl. die kritischen Bemerkungen zu dem weitverbreiteten Desinteresse an den amerikanischen Staatsverfassungen, Christian G. Fritz, „The American Constitutional Tradition Revisited: Preliminary Observations on State Constitution-Making in the Nineteenth-Century West“, in: Rutgers Law Journal, 25 (1994), bes. 945 – 962. Eine ähnliche Einschätzung findet sich bei Daniel J. Elazar, „The Principles and Traditions Underlying State Constitutions“, in: Publius, 12 (1982), 11.

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zum Ausdruck brächten.620 In der Tat lassen sich dreizehn der 21 Verfassungen von Michigan bis Texas grob dem Mississippi-Tal zuordnen. Doch sie alle ohne Unterschied als „Jacksonisch“ zu bezeichnen, verkennt die mitunter großen Unterschiede zwischen ihnen, von den gescheiterten Entwürfen bis zu den langlebigsten Verfassungen von Wisconsin von 1848 und Ohio und Indiana von 1851. Wie schon bei der Behandlung der Durchsetzung des allgemeinen Männerwahlrechts im voraufgegangenen Kapitel deutlich geworden, sind auch in diesem Fall pauschalisierende Zuordnungen wenig hilfreich und vielfach irreführend. Die Verfassung von Wisconsin von 1848 verdient daher durchaus ihre eigene Beachtung. Einer der Gründe für die außerordentliche Erfolgsgeschichte der Verfassung von Wisconsin von 1848 mag in den Biographien und Charakteren ihrer Väter liegen. Die der Aufnahme in die Union vorausgehenden Jahre des Wisconsin Territoriums hatten einen dramatischen Bevölkerungszuwachs erlebt. 1830 zählte das Territorium 3245 weiße Siedler. Zehn Jahre später war ihre Zahl auf rund 31000 angewachsen, und weitere zehn Jahre später, 1850, waren daraus mehr als 305.000 geworden.621 Dennoch war Wisconsins rasantes Wachstum in diesen zwei Jahrzehnten keineswegs einzigartig, wenn wir als Vergleich die übrigen Staaten des alten Nordwestens hinzuziehen. Von den rund 305.000 Einwohnern des Jahres 1850 stammten fast ein Viertel aus dem Staat New York, die damit zu diesem Zeitpunkt die Zahl der gebürtigen Einwohners Wisconsins, die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe, um mehrere Tausend übertrafen. Fast die gleiche Zahl war aus Neuengland, New Jersey, Pennsylvania und den anderen Staaten der Großen Seen hinzugezogen, während 106.000 im Ausland geboren waren, von denen die Deutschen mit rund einem Drittel die größte Gruppe darstellten.622 Alle diese Neuankömmlinge hatten ihr unterschiedliches kulturelles Gepäck mitgebracht, und um die Verfassung von Wisconsin zu begreifen, ist es erforderlich zu verstehen, wie dieses in die beiden Verfassungskonvente von Wisconsin eindrang. Man hat gesagt, dass der Konvent von 1846, der vom 5. Oktober bis zum 16. Dezember tagte, „überwiegend eine Versammlung von jungen Yankee Farmern“ gewesen sei.623 Von seinen 124 Mitgliedern waren 103 als Demokraten gewählt, 18 als Whigs und 3 als Unabhängige. 60 waren in ihren Dreißigern, 46 kamen aus New York, 42 aus Neuengland, während dreizehn ausländischer Geburt waren, darunter 620

Vgl. Frederic L. Paxson, „Wisconsin – A Constitution of Democracy“, in: Milo M. Quaife, Hrg., The Movement for Statehood (Wisconsin Historical Publications, Collections, Bd. XXVI), Madison, Wis.: State Historical Society of Wisconsin, 1918, 30 – 53. Vgl. auch Albert L. Sturm, „The Development of American State Constitutions“, in: Publius, 12 (1982), bes. 64 – 65. 621 Vgl. Robert C. Nesbit, Wisconsin: A History, Madison, Wis.: University of Wisconsin Press, 1973, 89, 147. 622 Ebd., 151 – 152; Alice E. Smith, The History of Wisconsin, I, Madison: State Historical Society of Wisconsin, 1973, 467 – 468. 623 Ray A. Brown, „The Making of the Wisconsin Constitution, Part I“, in: Wisconsin Law Review, 1949, 657.

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sieben Iren. Obwohl sich lediglich 49 als Farmer bezeichneten, besaßen fast alle von ihnen eine Farm, ohne dass dies stets ihr Hauptberuf oder ihre wichtigste Einkommensquelle gewesen sein mag.624 In sozialer Hinsicht ähnelte der Konvent von 1847/ 48 stark dem Konvent von 1846, obgleich lediglich sechs Mitglieder des ersten Konvents als Delegierte auch dem zweiten angehörten. Der zweite Konvent tagte vom 15. Dezember 1847 bis zum 1. Februar 1848 und zählte 69 Mitglieder, von denen 41 Demokraten, 25 Whigs und drei Unabhängige waren. 51 der 69 Delegierten waren aus Neuengland oder New York eingewandert, sieben aus Europa, alle bis auf zwei Iren. 32 waren in ihren Dreißigern, und 31 bezeichneten sich als Farmer.625 Im allgemeinen stuft man den zweiten Konvent als weniger parteipolitisch orientiert, weniger radikal in seinen Auffassungen und als konservativer ein,626 wohingegen der erste Konvent als parteipolitisch bzw. von „progressiven Demokraten“ dominiert angesehen wurde.627 Zwischen 1844 und 1846 fanden sieben Verfassungskonvente statt: in New Jersey 1844, Louisiana 1844/45, in Texas 1845, in Missouri 1845, im benachbarten Iowa 1844 und 1846 und in New York wenige Wochen, bevor der erste Konvent in Wisconsin zusammentrat.628 Aus Gründen der Chronologie wie der Biographie ist daher wiederholt behauptet worden, dass die Verfassung von Wisconsin weitgehend nach dem Modell von New York konzipiert wurde.629 New Yorks Einfluss ging in der

624

Ebd. Zu den 46 gebürtigen New Yorkern kamen 16 weitere Delegierte hinzu, die durch ihren Aufenthalt in New York deutlich geprägt waren, vgl. Nesbit, Wisconsin, 216. 625 Milo M. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood (Wisconsin Historical Publications, Collections, Bd. XXIX), Evansville, Wis.: Antes Press, 1928, 931; Brown, „Wisconsin Constitution, Pt. II“, in: Wisconsin Law Review, 1952, 24. 626 Brown, „Wisconsin Constitution, Pt. II“, 25 – 26. 627 Edward Vernon Whiton, Mitglied des zweiten Konvents und Oberster Richter von Wisconsin von 1853 bis 1859, war nur einer, der dieses Argument in seiner Rede vom 12. März 1847 gebrauchte, wie veröffentlicht im Madison Express, 30. März 1847, in: Milo M. Quaife, Hrg., The Struggle over Ratification 1846 – 1847 (Wisconsin Historical Publications, Collections, Bd. XXVIII), Madison, Wis.: State Historical Society of Wisconsin, 1920, 414, ähnlich 516, 645 (Milwaukee Sentinel and Gazette, 23. Dezember 1846 und Prairieville American Freeman, 7. April 1847). 628 Vgl., wenn auch unvollständig, Nesbit, Wisconsin, 214 – 215. Ferner „The Progress of Constitutional Reform in the United States“, in: The United States Magazine and Democratic Review, 18 (1846), bes. 243 – 244, 403. 629 Vgl. Edward P. Alexander, „Wisconsin, New York’s Daughter State“, in: Wisconsin Magazine of History, 30 (1946), bes. 23 – 26; Smith, History of Wisconsin, I, 471. Vgl. Abraham Vanderpoel an Aron Vanderpoel, Madison, 1. Februar 1848: „[…] nachdem wir unsere Arbeiten, die Verfassung unseres zukünftigen Staates zu bilden, beendet haben, bin ich sicher, dass meine Bemühungen dazu beigetragen haben, eine demokratische Verfassung zu schaffen, und ich zweifele nicht daran, dass sie vom Volk angenommen werden wird. Da ich im alten Kreis Columbia [N.Y.] aufgewachsen bin, habe ich den Fortgang der Verbesserungen in den Gesetzen meines Geburtsstaates beobachtet, und wir haben in vielen Fällen dieses Beispiel kopiert. Der Kreis Columbia lieferte vier Mitglieder unseres Konvents, mehr als jeder andere Kreis in den Vereinigten Staaten“ (Vanderpoel collection, State Historical Society, Madison, Wis.). Ge-

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Tat über spezifische Verfassungsbestimmungen hinaus630 und schloss die Erfahrung einer lebhaften politischen Kontroverse zwischen Demokraten und Whigs in diesen Anfangsjahren des zweiten amerikanischen Parteiensystems über diese Verfassungsbestimmungen ein wie auch über die Verfassungsgrundlagen der nationalen Politik in Zeiten von Krise und Krieg. Jede genauere Betrachtung wird daher nicht nur die Artikel, Absätze und Klauseln aufdecken müssen, die unmittelbar von der New Yorker Verfassung von 1846 übernommen wurden, sondern auch jene, die keine Berücksichtigung fanden bis hin zu denen, die bislang in keiner amerikanischen Verfassung aufgetaucht waren. Angesichts dieser persönlichen wie zeitlich bedingten Verbindungen wird der Einfluss von Michael Hoffman, der treibenden Kraft des New Yorker Konvents von 1846 und seine „alten republikanischen Werte“, „Jeffersonischen Prinzipien“ und der „Republikanismus freier Bauern“, wie es James Henretta nannte,631 in der Verfassung von Wisconsin klar erkennbar. Die entscheidende Frage ist dennoch nicht, was unmittelbar von der New Yorker Verfassung kopiert wurde, sondern wo und warum die Väter der Wisconsin Verfassung von 1848 in ihrem Streben nach einer exemplarischen Verfassung632 von dem Modell New Yorks und fast aller anderen Staaten abwichen. Bereits der Konvent von 1846 war dafür gelobt worden, dass er sich frei gefühlt hatte, „alte Irrtümer zurückzuweisen und seinerseits auf neue Wahrheiten hinzuweisen [und] von all dem neuen Licht der Verfassungswissenschaft Gebrauch zu machen, was immer das Urteil des Konservatismus hinsichtlich dieses Experiments sein mag“.633 Die Organisation der Legislative lässt die Parallelen zur New Yorker Verfassung von 1846 klar erkennen. Die Größe beider Häuser, das jährlich gewählte Unterhaus (Assembly), der auf zwei Jahre gewählte Senat, wobei alle Mitglieder der Legislative direkt in Einmannwahlkreisen gewählt wurden, Diäten, die Unvereinbarkeit von Sitzen im Staats- und Bundesparlament und von Mandat und Amt, gleich ob auf Staats- oder Bundesebene, die Wahl am ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November, das Quorum, Geschäftsgang, öffentliche Debatte und die Veröffentlichung der Protokolle, alle diese Bestimmungen der Verfassung von Wisconsin von

raldine Strey von der State Historical Society hat mir eine Kopie dieses Briefes freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 630 In einer kritischen Würdigung wurden die Verdienste der New Yorker Verfassung klar ausgebreitet in „The New-York Constitutional Convention“, in: The United States Magazine and Democratic Review, 19 (1846), 339 – 348. 631 James A. Henretta, „The Strange Birth of Liberal America: Michael Hoffman and the New York Constitution of 1846“, in: New York History, 77 (1996), 155, 156, 176. 632 Vgl. Alexander Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika und Westindien mit besonderer Berücksichtigung des deutschen Elements, der Auswanderung und der landwirthschaftlichen Verhältnisse in dem neuen Staate Wisconsin, 2 Bde., Dresden und Leipzig: Arnold, 1848, I, 268: „Wisconsin rühmte sich der modernsten und vollkommensten demokratischen Verfassung von allen Staaten.“ 633 Racine Advocate, 27. Januar 1847, in: Quaife, Hrg., The Struggle over Ratification 1846 – 1847, 444, vgl. ähnlich 447 (Racine Advocate, 3. Februar 1847).

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1848 lehnen sich eng an jene der New Yorker Verfassung von 1846 an.634 Diese Ähnlichkeiten sind insofern von besonderem Interesse, als sie in der Verfassung von Wisconsin von 1846 weniger ausgeprägt waren.635 Wahltag, Diäten und Unvereinbarkeitsklausel der New Yorker Verfassung erscheinen hier nicht bzw. im letzteren Fall allein in abgeschwächter Form. Alle drei Dokumente fallen jedoch auf wegen ihrer jährlichen Unterhauswahl – laut Edward V. Whiton „stärker im Einklang mit demokratischen Prinzipien als zweijährige Wahlen“636 – und einem zweijährigen Senat, beides Bestimmungen der älteren republikanischen Tradition, während andere Staatsverfassungen der Zeit in Abweichung von einer verbreiteten Praxis aus den Anfangsjahren der Republik, inzwischen weitgehend zweijährige Wahlen zum Repräsentantenhaus und vierjährige zum Senat bevorzugten.637 Ein besonderes Merkmal der Verfassung von Wisconsin war jedoch, was der Text von 1846 „Beschränkungen der Legislative“ genannt hatte, wobei drei der zehn Absätze des Art. VI besondere Beachtung verdienen. In diesen reduzierten die „Beschränkungen“ jeden Gesetzentwurf mit begrenzter Reichweite (private or local bill) auf jeweils einen Gegenstand (Abs. 4),638 verboten sie zusätzliche Vergütungen bei staatlichen Aufträgen (Abs. 5) sowie auf immer alle Lotterien (Abs. 7).639 Diese moralischen Auflagen, die nicht eingeführt wurden, um die Legislative daran zu hindern, ihre verfassungsmäßigen Befugnisse zu überschreiten, sondern um vorzuschreiben, was moralisch akzeptabel war, erschienen zwar insgesamt lediglich von begrenzter Natur, rückten aber die Idee der „Beschränkungen der Legislative“ in das Zentrum der Verfassungsvorstellungen in Wisconsin. New Yorks Verfassung kannte dieselben Vorbehalte bei Gesetzentwürfen begrenzter Reichweite (Art. III, Abs. 16), und die Verfassung von Iowa hatte ebenfalls Lotterien verboten (Art. III, Abs. 28), aber keine amerikanische Verfassung enthielt einen Artikel „Über die Macht, Pflichten und Beschränkungen der Legislative“, der dem der Verfassung von Wis-

634 Vgl. Verfassung von Wisconsin von 1848, Art. IV und Verfassung von New York von 1846, Art. III. Weniger Ähnlichkeiten ergeben ein Vergleich mit der Verfassung von Illinois von 1848, Art. III, der Verfassung von Iowa von 1846, Art. III, der Verfassung von Louisiana von 1845, Art. II oder der Verfassung von Texas von 1845, Art. III. 635 Vgl. Verfassung von Wisconsin von 1846, Art. V, VI, in: Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, VII, 161 – 168. 636 The Walworth County Democrat, 19. Januar 1848, 1. 637 Vgl. die oben erwähnten Verfassungen von Louisiana, Texas, Iowa und Illinois. In den 1840er Jahren hatten lediglich die Verfassungen von Rhode Island von 1842 und von New Jersey von 1844 jährliche Wahlen für beide Häuser der Legislative vorgesehen. Vgl. dazu auch oben Kap. III. 3. 638 Zur Bedeutung dieser Bestimmung, vgl. Stark, Wisconsin State Constitution, 95: „Der Sinn dieses Absatzes war, die Legislative zu veranlassen, sich mit Angelegenheiten zu beschäftigen, die den Staat als Ganzen betrafen, um Günstlingswirtschaft und Diskriminierungen vorzubeugen und den Blick der Mitglieder der Legislative für den Gegenstand der Gesetzgebung zu schärfen, der vor ihnen lag.“ 639 Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, VII, 167 – 168.

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consin von 1846 vergleichbar gewesen wäre.640 Unter Brandmarkung von Edward G. Ryan, einem Demokraten und einem der einflussreichsten Figuren des 1846er Konvents und seinem Bericht zur Begrenzung von Banken und Bankgeschäften bot der Telegraph aus Southport ein durchschlagendes Argument gegen diese Art von „Beschränkungen der Legislative“: „[Das Volk] will in Ruhe gelassen werden, und wenn dieser Konvent gegen die Gewähr irgendwelcher besonderen Privilegien für irgendjemanden oder bestimmte Gruppen in der Gemeinschaft Vorbeugung trifft, hat er nach unserer Meinung seine ganze Pflicht sowohl gegenüber der Demokratie als auch gegenüber dem Staat insgesamt erfüllt. Demokratie, kurz gesagt, besteht nach unserer Meinung gerade in so wenigen Gesetzen und so wenigen Beschränkungen wie sie die Intelligenz des Volkes erforderlich machen; und es kommt uns als ein beträchtlicher Mangel an Vertrauen in die Fähigkeit des Volkes vor, seine eigenen Interessen in Schutz zu nehmen, wenn versucht wird, jene Vorkehrungen, die dieser Bericht enthält, gesetzlich zu verankern.“641

Zweifellos waren die meisten Amerikaner in den Jahren der amerikanischen Revolution überzeugt gewesen, dass die Macht der Legislative begrenzt sein sollte. Die berühmte Nr. 51 des Federalist hatte dies klar zum Ausdruck gebracht: „In einer republikanische Regierung ist die Autorität der Legislative notwendigerweise vorherrschend“, und daher seien Gegengewichte „erforderlich, um vor gefährlichen Eingriffen zu schützen“, wie sie eine nicht in Schranken gehaltene Macht nun einmal hervorbringe.642 In der Folge der demokratischen Rhetorik des Zeitalters von Jackson hatte dieser Gedanke jedoch viel von seiner früheren Überzeugungskraft verloren.643 640

Über die Geschichte dieses Artikels, der einem Ausschuss des Konvents entstammte, über dessen fünf Mitglieder, darunter keiner der führenden Konventsdelegierten, sondern alle Einwanderer aus Maine, New York, Pennsylvania, South Carolina und England und über die Lesungen des Berichts im Konvent und seine Annahme, vgl. Milo M. Quaife (ed.), The Convention of 1846 (Publications of the State Historical Society of Wisconsin, Collections, XXVII), Madison, Wis.: State historical Society of Wisconsin, 1919, 43, 57, 402 – 404, 465, 479, 720 – 721, 756, 760, 776, 779, 780. 641 Zitiert im Milwaukee Sentinel and Gazette, 23. Oktober 1846, in: Quaife, Hrg., The Struggle over Ratification 1846 – 1847, 182. Die Opposition in Milwaukee gegen den Entwurf bestätigt ein Brief von Josiah A. Nooman an Morgan Lewis Martin, Milwaukee, 25. Oktober 1846: „Die Verhandlungen des Konvents, wie ich leider sagen muss, sind hier nicht sonderlich populär, und sofern es ihm nicht gelingt, einen günstigeren Eindruck zu schaffen, fürchte ich, wird es eine ziemlich mächtige und entschlossene Opposition gegen die Annahme der Verfassung geben“ (Morgan L. Martin Collection, Area Research Center, Universität von Wisconsin in Green Bay, Wis.). Ich danke dem Kasseler Austauschstudenten an der Universität in Green Bay, Thorsten Herold, für die Kopien aus der Martin L. Morgan Collection. 642 The Federalist, Nr. 51 (hrg. m. e. Einl. u. Anm. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 350). Vgl. „Restrictions on the Legislature“, Racine Advocate, 2. Dezember 1846, in: Quaife, Hrg., The Struggle over Ratification 1846 – 1847, 212 – 215. 643 Jahrzehnte später wurde Thomas Cooley mit seinen einflussreichen Constitutional Limitations der bedeutendste Autor bezüglich „aller jener Beschränkungen, die die Vorsicht der Väter der Ausübung der Regierungsgewalt auferlegten“: Thomas M. Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations which Rest Upon the Legislative Power of the States of the American Union, Boston: Little, Brown, and Company, 51883, bes. iii (Vorwort zur zweiten Auflage).

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Dem Konvent von 1846 mit seiner überwältigenden demokratischen Mehrheit war es daher nicht darum zu tun, wie die gesetzgebende Macht der Legislative begrenzt werden könne, um das innere Gleichgewicht der Verfassung zu bewahren. Seinem Verständnis gemäß bedeutete Beschränkung der Legislative stattdessen, diese daran zu hindern, „falsche“ Gesetze zu machen, indem man zusätzliche verfassungsmäßige Hürden aufrichtete, mittels dessen man zumal in den Einzelstaatsverfassungen des Westens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „verfassungsmäßige Gesetzgebung“ erreichen wollte.644 Hatte der alte Jeffersonische Republikanismus sich auf republikanische Tugenden verlassen,645 machte sich die Verfassung von Wisconsin von 1846 mit ihrem Mangel an „Vertrauen in die Fähigkeit des Volkes, sich gegen seine eigenen Interessen zu schützen“, wie es der Telegraph aus Southport formuliert hatte, daran, öffentliche Tugend zu verordnen, indem sie die klassische republikanische Idee der jährlichen Parlamente mit den Jacksonschen Vorstellungen verband, bleibende Regeln zum Schutz des Volkes aufstellen zu müssen. Die Zurückweisung der vorgeschlagenen Verfassung durch die Bevölkerung von Wisconsin war offensichtlich verursacht durch ein verbreitetes Unbehagen mit dem allgemeinen Tenor der Verfassung von 1846, besonders ausgedrückt in drei weiteren Bestimmungen gegen Banken und Papiergeld (Art. X), über Eigentumsrechte verheirateter Frauen und den Ausschluss von Heimstätten von Zwangsverkäufen (Art. XIV), die verbreiteten Widerstand hervorriefen.646 Nicht aufgrund irgendeiner fundamentalen politischen Opposition, sondern um den durch den voraufgegangenen Entwurf hervorgerufenen Eindruck zu vermeiden, dass dem Volk diktiert werden sollte, wie es sich selbst regieren sollte,647 wurden beide umstrittenen Artikel nicht in die Verfassung von 1848 übernommen,648 und der gesamte Text wurde weitgehend neu 644 Vgl. Fritz, „State Constitution-Making in the Nineteenth-Century West“, 962 – 964. Vgl. auch Cooley, Constitutional Limitations, 87. 645 Zur republikanischen Tugend in den Anfängen der Vereinigten Staaten, vgl. Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1980, bes. 8 – 12; Gerald Stourzh, Alexander Hamilton and the Idea of Republican Government, Stanford, Calif.: Stanford University Press, 1970, bes. 63 – 70; Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776 – 1787, 1969; New York: Norton, 1972, bes. 65 – 70. 646 Vgl. Quaife, Hrg., The Convention of 1846, 744 – 745, 747 – 748; Brown, „Wisconsin Constitution, Pt. I“, 692 – 693. Ungeachtet der Kritik an der Bestimmung über die Heimstätten wurde die Verfassung gefeiert als „die vielleicht beste je geschriebene zur Sicherung der Abwicklung öffentlicher Angelegenheiten […] und dass dieser Staat darauf die Ehre haben wird, mit einer gerechteren und populäreren Verfassung ins Leben zu treten als irgendein Staat vor ihm“: „Constitutional Governments“, in: The United States Magazine and Democratic Review, 20 (1847), 198 – 200. 647 Vgl. Bayrd Still, „State-Making in Wisconsin, 1846 – 48. An Illustration of the Statehood Process“, in: Wisconsin Magazine of History, 20 (1936 – 37), 34 – 59, demzufolge die erste Verfassung restriktiver in der Machtübertragung zumal an die Legislative war als die Verfassungen der Nachbarstaaten und als die zweite Verfassung. 648 Sie wurden jedoch innerhalb der nächsten paar Jahre Gesetz, vgl. The Walworth County Democrat, 4. August 1848; Smith, History of Wisconsin, I, 675 – 676; Catherine B. Cleary,

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geschrieben und neu arrangiert. Wenig Wunder, dass mithin in der neuen Verfassung kein Artikel mehr vorhanden war über die „Beschränkungen der Legislative“, dennoch die Abs. 4, 5 und 7 des vormaligen Art. VI nun fast wörtlich wieder auftauchten als Abs. 18, 24 und 26 des Artikels über die Legislative (Art. IV), zusammen mit dem jährlich zu wählenden Unterhaus649 und dem zweijährigen Senat (Abs. 4, 5). Wenn der Text bestimmte, dass Abstimmungen in der Legislative offen (viva voce) zu erfolgen hatten, war das weniger eine Abweichung von dem New Yorker Vorbild, das sich in dieser Frage nicht geäußert hatte, als vielmehr eine Regelung, die im allgemeinen von den Einzelstaatsverfassungen getroffen worden war650 und ein weiteres Beispiel eines Volkes, das Vertrauen in seine Selbstregierung besaß. Diese eindeutigen republikanischen Ideen, die häufiger auf die Gründungsphase der Vereinigten Staaten als auf die Ideologie der Zeit Jacksons zurückgriff, wird auch in weiteren Bestimmungen der Verfassung von 1848 erkennbar. Die Rechteerklärung (Art. I) bietet sich hier in besonderem Maße an. Die Garantie von Rechtshilfen (Abs. 9) wie gegen alle neofeudalen und halbfeudalen Tendenzen (Abs. 14) mochten teilweise ihren Ursprung in der Verfassung von New York haben, waren aber in der 1846er Verfassung nicht erwähnt worden. Die aufschlussreichste Bestimmung ist jedoch die abschließende Klausel von Abs. 22: „Die Segnungen einer freien Regierung können allein durch eine entschlossene Befolgung von Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit und Tugend und das ständige Zurückgreifen auf die grundlegenden Prinzipien bewahrt werden.“ Diese Klausel war erstmals in der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 aufgetaucht, in der es wörtlich gehießen hatte: „Dass keine freie Regierung oder die Segnungen der Freiheit irgendeinem Volk bewahrt werden können, als durch die entschlossene Befolgung von Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit und Tugend und das ständige Zurückgreifen auf die grundlegenden Prinzipien“ (Abs. 15).651 Mit dem Rückgriff auf das Gründungsdokument des modernen Konstitutionalismus und der Auflistung der entscheidenden republikanischen Kategorien freier Regierungen wurde die Ruhmeshalle republikanischer Tugend von James Harrington bis zu Thomas Jefferson und Thomas Paine geöffnet. Vom damaligen Vir„Married Women’s Property Rights in Wisconsin, 1846 – 1872“, in: Wisconsin Magazine of History, 78 (1994 – 95), bes. 110 – 125. 649 Indem der offizielle Name des Unterhauses von Repräsentantenhaus zu Assembly wechselte, übernahm die Verfassung von 1848 den offiziellen Namen des Unterhauses von New York, der einzigen bestehenden Verfassung, die offiziell den Bezeichnung assembly aus dem 18. Jahrhundert wieder aufgenommen hatte. Vgl. dazu auch oben Kap. III. 1. 650 Vgl. Franklin B. Hough, Hrg., American Constitutions: Comprising the Constitution of Each State in the Union and of the United States, with the Declaration of Independence and Articles of Confederation; Each Accompanied by a Historical Introduction and Notes, Together with a Classified Analysis of the Constitutions, 2 Bde., Albany, N.Y.: Weed, Parsons & Company, 1872, II, 634. 651 Der Ausschuss für allgemeine Bestimmungen hat einen leicht veränderten Text vorgeschlagen. Der endgültige Text geht auf den Ausschuss für Revision und Anordnung vom 22. Januar 1848 zurück, vgl. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 228 – 229, 714.

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ginia mit seinen aufgeklärten Gentleman Farmern wurde der Bogen geschlagen zu der freien Bauernschaft von Wisconsin siebzig Jahre später und ihrer starken Abneigung gegen Banken, Lotterien, Kapitalismus und Korruption und zu seinem tugendhaften republikanischen Volk, das sich anschickte, sich selbst zu regieren, ohne bevormundet zu werden, sondern eigenverantwortlich und in vollem Bewusstsein der Notwendigkeit, wie nicht allein die Whigs betonten, stets zurückzukehren „zu den Grundprinzipien, auf denen die Regierung beruht“.652 Die Wisconsin Klausel ist um so beachtenswerter, als keine zweite amerikanische Verfassung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine vergleichbare Bestimmung enthielt653 und weil jene wenigen Rechteerklärungen bzw. Verfassungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die das Beispiel von Virginia aufgriffen, dabei mehr oder weniger bedeutsame Veränderungen einfügten, die ausnahmslos vom Konvent in Wisconsin unbeachtet gelassen worden waren. Angefangen hatte Pennsylvania mit seiner Verfassung von 1776, die so sehr viel radikaler als die von Virginia und Wisconsin war. Angesichts ihres radikaldemokratischen Charakters dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass in ihr der Rekurs auf die Tugend durch jenen auf den Fleiß (industry) ersetzt wurde. Damit hatte der klassische Republikanismus eine spezifische Wendung erfahren, die in dem zweiten Satz dieses Artikels operationalisiert wurde: „Das Volk sollte daher diesen Punkten bei der Wahl von Beamten und Repräsentanten besondere Aufmerksamkeit schenken und hat das Recht, von ihren Gesetzgebern und Amtsträgern ihre genaue und ständige Beachtung bei der Erstellung und Ausführung jener Gesetze zu verlangen, die für die gute Regierung des Staates notwendig sind“ (Kap. I, Abs. 14).

Vermont, das sich eng an das Beispiel Pennsylvanias angelehnt hatte, übernahm als einziger Staat diese Bestimmungen wörtlich mit seinen Verfassungen von 1777, 1786 und 1793 (Kap. I, Abs. 16, 20 bzw. 18).654 Die Richtung, die Pennsylvania eingeschlagen hatte, wurde ebenfalls von der Verfassung von Massachusetts von 1780 aufgegriffen, die wie Pennsylvania vier Jahre zuvor „Tugend“ durch „Fleiß“ ersetzte, doch als weitere soziale Kategorie „Frömmigkeit“ hinzufügte und diese sogar an erste Stelle setzte (Tl I, Art. 18). Eine weitere Variante des Pennsylvania Modells wurde von New Hampshire präsentiert, dessen Verfassungen von 1784 und 1792 auf den ursprünglichen Katalog zurück652 „Opinions of the Council of Three: Political Bigotry – Conservatism – Radicalism“, in: The American Review: A Whig Journal of Politics, Literature, Art and Science, 6 (1847), 243. Über den eigentlichen Artikel hinaus, 242 – 245, war die Zeitschrift in diesen Jahren voll von diesen Ideen. 653 Art. XIII, Abs. 19 der Verfassung von Illinois von 1848 reduzierte die klassische republikanische Klausel zu der sehr verkürzten Bestimmung: „Dass ein häufiges Zurückgreifen auf die grundlegenden Prinzipien der bürgerlichen Regierung absolut notwendig ist, um die Segnungen der Freiheit zu bewahren.“ Die Rechteerklärung von North Carolina von 1776 hatte fast wörtlich die gleiche Bestimmung enthalten (Art. XXI). 654 Die einzige Abweichung von dem Text Pennsylvanias besteht in der Einfügung der Worte „auf gesetzliche Weise“ nach dem Wort „Recht“ in den Verfassungen von 1786 und 1793.

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gingen, jedoch diesmal „Tugend“ durch „alle sozialen Tugenden“ ersetzten. Aus dem Kernbegriff des Bürgerhumanismus war damit die Beliebigkeit einer gesellschaftlichen Floskel ohne konkreten Inhalt geworden, auch wenn der ergänzende zweite Satz wie in Vermont und Massachusetts beibehalten worden war (beide Male Tl. I, Art. 38). Von allen amerikanischen Verfassungen seit dem Juni 1776 trug allein die Verfassung von Wisconsin über 70 Jahre später gleich zweimal das ursprüngliche Bekenntnis des klassischen Republikanismus erneut vor mit dem Zurückgreifen auf die republikanische Tugend und die grundlegenden Prinzipien, wie sie durch die berühmten Eingangssätze der Unabhängigkeitserklärung zum klingenden Begriff geworden waren, die nun hier erstmals zu einer konkreten Verfassungsbestimmung wurden: „Alle Menschen sind gleich frei und unabhängig geboren und haben bestimmte angeborene Rechte; unter diesen sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Um diese Rechte zu sichern, sind Regierungen unter den Menschen eingerichtet, die ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ableiten“ (Art. I, Abs. 1).655 Dieser Tenor charakterisiert die angenommene Verfassung in noch stärkerem Maße als die abgelehnte Verfassung von 1846,656 die es daher „an jener Konsistenz und Harmonie in allen ihren Teilen vermissen ließ, die ein so wichtiges Dokument besitzen sollte“, wie es ein Mitglied des zweiten Konvents ausdrückte.657 Jenseits der formalen Analogien zur Verfassung von New York von 1846 in der Annahme und entscheidenden Erweiterung von „Hoffmans Jeffersonischen Prinzipien“658 unter den Bedingungen der politischen wie sozialen Situation Wisconsins offenbart sich der wirkliche Charakter der Verfassung von 1848, die entgegen der verbreiteten Annahme eines Konservatismus des Konvents von 1847/48, ihre eigene Antwort auf die demokratischen Herausforderungen der Zeit fand. Nach der Überzeugung des Konvents waren diese in Einklang zu bringen mit den Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus, wie sie sich in seiner Gründerphase mit der republikanischen Ausbalancierung der Gewalten zur Eindämmung der ungehinderten Herrschaft des Mehrheitswillens herausgebildet hatten. Der Konvent brachte dies deutlich zum Ausdruck und bekundete sein „großes Vertrauen in die Gesamtheit des Volkes. Es ist generell ehrlich, zumal in politischen Angelegenheiten“. Doch galt es, darüber nicht die Madisonschen Vorbehalte zu vergessen, denen unverändert die gleiche Bedeutung zukam wie im ausgehenden 18. Jahr655 Vgl. dazu Stark, Wisconsin State Constitution, 38. Dieser Absatz, ebenso wie der oben zitierte Abs. 22 sind auch im Jahr 2020 noch gültiges Verfassungsrecht in Wisconsin. 656 Der Abs. 1 der Rechteerklärung von 1846 (Art. XVI) hatte mit denselben acht Worten begonnen, doch danach zu eigenen Formulierungen gegriffen und sich damit von der Unabhängigkeitserklärung entfernt und selbst den berühmten Dreiklang von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ verwandelt in „Frieden, Sicherheit und Glück“. In der New Yorker Verfassung von 1846 finden sich keine vergleichbaren Bestimmungen. 657 Byron Kilbourn in der Sitzung vom 16. Dezember 1847, vgl. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 179. 658 Henretta, „The Strange Birth of Liberal America“, 156.

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hundert: „Die Menschheit ist fehlbar, Leidenschaften, Vorurteilen, Launen, Täuschungen unterworfen […] Es ist ein Grundsatz der Moralphilosophie, dass Beschränkungen notwendig sind, um die Menschen innerhalb angemessener Grenzen zu halten.“ Es war daher das Ziel der Verfassung, „die exekutiven und legislativen Bereiche zu definieren und zu begrenzen“.659 Dieser allgemeine Charakter der Verfassung von 1848 wird bestätigt durch die beiden Artikel über die vollziehende Gewalt und die Staatsverwaltung. Die Einteilung in zwei Artikel und die Bestimmungen über die Exekutive lehnten sich wiederum eng an die Art. IV und V der New Yorker Verfassung von 1846 an. Die Exekutive wurde personifiziert durch den Gouverneur, der wie in New York und acht weiteren Staaten direkt auf zwei Jahre gewählt wurde (Art. V, Abs. 1), während die Neuenglandstaaten zusammen mit zwei weiteren eine einjährige Amtszeit bevorzugten und weitere acht Staaten eine Amtsdauer von vier Jahren vorsahen. Bezeichnenderweise äußerten sich weder die Verfassung von 1848 noch die von 1846 zur Frage der Wiederwählbarkeit. Was die Funktionen und Befugnisse des Gouverneurs anging, waren diese gemäß beiden Verfassungen nicht sehr ausgeprägt. Weder ein Recht, von den Inhabern der übrigen Exekutivämter schriftliche Berichte einzufordern noch die Legislative aufzulösen, fand sich in der Verfassung im Gegensatz etwa zur Verfassung von Iowa von 1846 (Art. IV, Abs. 8 und 13) oder von Illinois von 1848 (Art. IV, Abs. 9 und 13). Anders als in der Verfassung von Illinois (Art. IV, Abs. 12) hatte der Gouverneur keine Ernennungsbefugnis, außer im Fall von Vakanzen in der Legislative oder den Gerichten (Art. IV, Abs. 14; Art. VII, Abs. 9, vgl. Verfassung von Iowa, Art. IV, Abs. 10), denn eine weiter ausgedehnte Macht galt als „die Haupt-, wenn nicht einzige Quelle des erwähnten unangebrachten Einflusses. Dieser Macht beraubt, verfügt die Exekutive nicht über die Mittel, um sich herum eine Clique zu scharen und eine Einflusszentrale aufzubauen.“660 Als Konsequenz stattete die Verfassung von 1848 den Gouverneur mit einem Minimum an Befugnissen aus, darunter als Kern Oberbefehlshaber, Anreger zukünftiger Gesetzgebung und Ausführer der Gesetze (Art. V, Abs. 4). Als zentrale Frage blieb, ob der Gouverneur wie seine Kollegen in den übrigen Staaten und der Präsident der Vereinigten Staaten mit der Vetogewalt ausgestattet 659 George W. Lakin in der Sitzung vom 30. Dezember 1847, vgl. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 308 – 309. Die Begrenzungen der gesetzgeberischen Befugnisse der Legislative in den 1870er und 1880er Jahren entsprangen einer anderen Motivation, vgl. Henry Hitchcock, American State Constitutions. A Study of Their Growth, New York: G. P. Putman’s Sons, 1887, 34 – 40. 660 Frederick S. Lovell in der Sitzung vom 22. Dezember 1847, vgl. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 233 – 234. Die gleiche Auffassung wurde von Orsamus W. Cole in derselben Sitzung vertreten, ebd., 236. Vgl. „Die Exekutive sollte der ganzen Patronage entkleidet werden. Die Ernennungsbefugnis sollte ihm völlig genommen werden und in die Hände dessen übergehen, wohin sie gehört, die des Volkes. Jeder Konvent, der dieses wichtige Reformwerk vollbringt, wird sich einen dauerhaften Anspruch auf die Dankbarkeit der Nachwelt verdienen“ („Elective Judiciary“, in: The United States Magazine and Democratic Review, 22 [1848], 206).

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sein sollte. Der Konvent von 1846 hatte die Bestimmung offensichtlich ohne größere Debatte akzeptiert.661 Der zweite Konvent war jedoch nicht bereit, diese Frage mit Schweigen zu übergehen. Diejenigen, die darauf bestanden, dass „[d]ie Befugnisse des Gouverneurs streng begrenzt sein sollten“,662 lehnten die Vetogewalt als monarchisches Relikt aus England entschieden ab. Es ist symptomatisch, dass im Konvent in der anschließenden Debatte über Repräsentation, Herrschaft der Mehrheit und Demokratie sich die Meinung durchsetzte, dass die Vetogewalt notwendig sei zur „Kontrolle von hastiger und korrupter Gesetzgebung“,663 ein Argument, das unmittelbar an Hamiltons Ausführungen im Federalist Nr. 73 erinnert.664 In der Verfassung von 1848 wurde daher die Bestimmung der voraufgegangenen Verfassung (Art. III, Abs. 11) wörtlich wiederholt und dem Gouverneur ein Veto eingeräumt, das mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern überstimmt werden konnte. Doch wie seine Kollegen in Connecticut, Arkansas, Iowa und drei Jahre später in Indiana hatte er lediglich drei Tage Zeit, sein Veto einzulegen (Art. V, Abs. 10) statt fünf oder gar zehn Tage, wie in den meisten amerikanischen Verfassungen. Tugend sollte die vorherrschende Eigenschaft jedes zukünftigen Gouverneurs von Wisconsin sein, wie dies auch bereits die Verfassung von 1846 zum Ausdruck gebracht hatte, die dem Gouverneur 1000 $ im Jahr für seine Dienste angeboten hatte (Art. III, Abs. 5).665 Die Verfassung von 1848 hob die Summe auf 1250 $ an (Art. V, Abs. 5), was immer noch nicht die reine Großzügigkeit war. Eher war 1848 die Gehaltsfestsetzung von Wisconsin einzigartig. Die einzige Verfassung, die zu diesem Zeitpunkt ihr vergleichsweise nahekam, war die von Missouri von 1820, die die genaue Summe um einen Zusatz erweiterte, der sich inzwischen in fast allen amerikanischen Verfassungen der Zeit fand: „Der Gouverneur soll zu festgesetzten 661

Vgl. Quaife, Hrg., The Convention of 1846, 392 – 394, 401, 408 – 411, 418. Dieses Schweigen ist umso erstaunlicher, als Präsident Polk erst vor wenigen Wochen mit seinem Veto der „River and Harbor Bill“ eine umfangreiche Debatte über die Vetogewalt ausgelöst hatte, bei der die Whigs vehement für die Abschaffung dieser „unverantwortlichen und korrupten Ausübung der monarchischen Prärogative“ eingetreten waren, „The Veto Power: Our Inland Trade“, in: American Review, 4 (1846), 338, vgl. den ganzen Artikel, 325 – 338. In der Präsidentenwahl von 1848 mäßigten die Whigs ihre Position. Statt „ein Teil der gewöhnlichen Gesetzgebungsbefugnis der Regierung“ zu sein, sollte die Vetogewalt „lediglich bei besonderen und außergewöhnlichen Gelegenheiten angewandt werden“, „The Whigs and Their Candidate“, in: American Review, 8 (N.F. 2) (1848), 233. Für eine Verteidigung der Vetogewalt durch die Demokraten, vgl. „The Executive Veto“, in: The United States Magazine and Democratic Review, 24 (1849), 14 – 23. 662 Edward V. Whiton in der Sitzung vom 27. Dezember 1847, Quaife, hrg., The Attainment of Statehood, 269. 663 Stoddard Judd in der Sitzung vom 27. Dezember 1847, ebd., 271. 664 The Federalist, Nr. 73 (hrg. v. Cooke, 494). 665 Der Ausschuss über die Exekutive hatte jährlich 1500 $ vorgeschlagen, worauf „in allen Teilen des Hauses Bemühungen einsetzten, den Betrag auf 1200 $, 1100 $, 1000 $, 800 $ und 500 $ zu reduzieren, die alle fehlschlugen“. Nach intensiver Debatte einigte sich eine Mehrheit auf 1000 $, vgl. Quaife, Hrg., The Convention of 1846, 325, 392 – 394, 409 – 410, 418. Vgl. die Debatten im zweiten Konvent, wo eine Minderheit für 1000 $ stimmte, vgl. Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 252 – 253, 255 – 256.

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Zeiten für seine Dienste ein angemessenes Gehalt erhalten, das per Gesetz festgesetzt wird, das während seiner Amtszeit weder erhöht noch vermindert wird, und das nie weniger als 2000 $ jährlich betragen soll“ (Art. IV, Abs. 13, eigene Hervorhebung, HD). Der Gouverneur von Wisconsin war finanziell deutlich schlechter gestellt als sein Kollege in Missouri und vermutlich die meisten von ihnen in anderen Staaten. Tatsächlich betrug sein Gehalt nur die Hälfte von dem, das sein Vorgänger Henry Dodge als Gouverneur des Territoriums erhalten hatte.666 Noch auffälliger ist, dass sein Gehalt deutlich unter dem für die Richter am Obersten Gericht von Wisconsin, ja selbst unter dem für die Richter an den Bezirksgerichten (circuit courts) lag. Die Verfassung von 1848 hatte deren Gehalt als „nicht weniger als 1500 $ jährlich“ festgesetzt (Art. VII, Abs. 10). Das geringe Gehalt des Chefs der Exekutive, verbunden mit seiner kurzen Amtsdauer und seinen reduzierten Befugnissen kennzeichnet eine Verfassung, die die Betonung auf Tugend und die grundlegenden Prinzipien in dem Wiederaufleben der Tradition des frühen amerikanischen Republikanismus legte.667 Wisconsin unterschied sich offensichtlich von den umliegenden Staaten der Großen Seen und des Mississippi-Tals, nicht weil es stärker von der New Yorker Verfassung von 1846 beeinflusst war, sondern weil es konsistenter und rigoroser als Michael Hoffman war in seinem Bestreben, zu den Werten des frühen amerikanischen Republikanismus, zu Tugend und den grundlegenden Prinzipien zurückzukehren. Es wäre verfehlt, dies als reine Nostalgie abzutun. 1848 war das Jahr des Siegs über Mexiko, das den gesamten Westen für die Vereinigten Staaten öffnete, des Goldrauschs in Kalifornien und der wachsenden Spannungen zwischen den Sklavenhalterstaaten des Südens und den „freien“ Staaten des Nordens und Westens. Eine politische Ortsbestimmung, wo die Vereinigten Staaten inmitten dieser Umbruchphase tatsächlich standen, war geradezu das Gebot der Stunde, und Wisconsins Bekenntnis zu den Werten, mit denen der moderne Konstitutionalismus in Amerika vor mehr als siebzig Jahren ins Lebens getreten war, setzte eine Orientierungsmarke, die wesentlich für den demographischen, politischen und ökonomischen Aufschwung des Staates in den 1850er Jahren werden sollte. Ihre eigentliche verfassungsrechtliche Bedeutung liegt jedoch darin, dass die Verfassung von 1848 mit ihrer Machtbegrenzung und ihren kurzen Amtszeiten einerseits und dem allgemeinen 666

Ziegler, Skizzen einer Reise durch Nordamerika, I, 252, gab dessen jährliches Gehalt mit 2500 $ an. 667 Vgl. Warren Chase in der Sitzung vom 22. Dezember 1847, Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 234. Es fügt sich in dieses Bild, dass in Übereinstimmung mit Hoffmans Verfassungsrevolution in New York es dem Staat lediglich in wenigen aufgezählten Fällen erlaubt war, öffentliche Schulden zu kontrahieren und dass, während etliche Staatsverfassungen Bestimmungen zur Anregung von Verbesserungen der Infrastruktur enthielten, keine Verfassung in diesem Punkt derart restriktiv war wie die Wisconsins: „Der Staat soll nie Schulden für Arbeiten zur Verbesserung der Infrastruktur kontrahieren oder Teil in der Ausführung derartiger Arbeiten sein“ (Art. VIII, Abs. 10, vgl. Abs. 4), vgl. Henretta, „The Strange Birth of Liberal America“, 164 – 170.

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Männerwahlrecht und der Volkswahl der Richter andererseits einen von Bestand gekrönten Weg fand, den modernen Konstitutionalismus an die Herausforderungen der Demokratie anzupassen. In diesem Sinn war die Verfassung von Wisconsin als Ausdruck der Ideale und Tugenden einer freien Bauernschaft, ihrer klassisch republikanischen Schlichtheit und ihrer Orientierung an traditionellen Werten einer vorwärtsdrängenden Zeit angepasst, indem sie eben nicht Lösungen für alle in Zukunft anstehenden Probleme zu geben versuchte, sondern Orientierungshilfen bot. Gerade das mag sie befähigt haben, die Zeiten zu überstehen,668 wohingegen nachfolgende Konvente zumal im Westen zunehmend spezifische Begrenzungen ihrer Legislativen durch das einführten, was man dann „verfassungsmäßige Gesetzgebung“ nannte,669 ein Ansinnen, das Wisconsin 1846/47 entschieden zurückwies. Wisconsin erreichte dies auch, weil es seiner Verfassung von 1848 gelang, was New York und anderen Staaten nicht in gleichem Maße gelungen war, dabei sich aber auch von den nachfolgenden Verfassungen von Ohio und Indiana von 1851 absetzte, nämlich ein Gleichgewicht zwischen dem klassischen Republikanismus der Gründerzeit des modernen Konstitutionalismus und den demokratischen Herausforderungen in der Nachfolge des Zeitalters Jacksons zu erreichen, das einen Weg aufzuzeichnen vermochte, wie sich dieser moderne Konstitutionalismus auf die Bewältigung sich wandelnder Zeitumstände institutionell vorbereiten ließ.670 In diesem Sinn mochte die neue Verfassung genau jenes sein, was der Advocate aus Racine sich von dem noch nicht fertiggestellten ersten Entwurf erhofft hatte, nämlich „eine Modellverfassung“, die „die Bedeutung des so viel zitierten Fortschritts des 19. Jahrhunderts“ zum Ausdruck bringen würde.671 Der Whig Delegierte Orsamus Cole, der von 1855 bis 1892 dem Obersten Gericht von Wisconsin angehörte, davon die letzten zwölf Jahre als Oberster Richter, drückte diese so gar nicht Jacksonschen Ideen im Verfassungskonvent aus, die eher wie eine direkte Übernahme aus dem Federalist erscheinen mochten, so dass sie verdienen, hier abschließend nach dem Protokoll ausführlich zitiert zu werden: „Er betrachtete weder die Exekutive noch die Legislative als unmittelbare Agenten des Willens des Volkes. Stattdessen war es oft notwendig, dass die bestehenden Institutionen für einen Augenblick dem Willen des Volkes widerstehen und ihn begrenzen und ihn zwingen, 668

7 – 8.

Bezüglich einer vergleichbaren Bewertung, vgl. Stark, Wisconsin State Constitution,

669 Vgl. Thomas M. Cooley, The General Principles of Constitutional Law in the United States of America, 3. Aufl. v. Andrew C. McLaughlin, Boston: Little, Brown, and Company, 1898, bes. 385 – 286; Fritz, „State Constitution-Making in the Nineteenth-Century West“, bes. 964 – 971; auch Sturm, „Development of American State Constitutions“, 74 – 76. 670 Vgl. „What now?“, in: Wisconsin Herald, 17. April 1847, in: Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 104: „Denkt daran, dass das Volk durch die Legislative die Macht behält, die ihm nicht durch die Verfassung genommen ist. Bindet nicht die Hände der Legislative. Gebt uns eine knappe, klare Verfassung, die eher zu wenige als zu viele Bestimmungen enthält – macht sie rasch und macht sie permanent, und das Volk wird damit zufrieden sein.“ 671 Racine Advocate, 21. Oktober 1846, in: Quaife, hrg., The Struggle over Ratification 1846 – 1847, 209.

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263

mit reiferer Überlegung zu handeln, als es im Augenblick der Erregung möglich ist, wenn diese die unmittelbare Kontrolle über seine Vertreter hat. Es hat so etwas gegeben wie Demokratien, die durchdrehen, und das mag auch wieder passieren. Er ist sich bewusst, dass diese Gedanken unpopulär sind und als antirepublikanisch gelten könnten; aber das könne er nun nicht ändern; er glaube vielmehr, dass sie im Einklang sind mit dem Geist und dem Genius unseres Regierungssystems, wenn es nur richtig verstanden wird.“672

Es scheint, dass es genau diese Balance war – „nicht demokratisch im weiten Sinn des Begriffs“, wie ein überzeugter Demokrat und Delegierter beider Konvente betonte, aber „eine gemischte Regierungsform, die auf demokratischen Prinzipien begründet ist“673 –, die kongenial zu der Situation und dem Volk von Wisconsin 1848 passte674 und damit dem Staat jene Grundlage gab, die ihm auch über 170 Jahre später noch als passend erscheint.

7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts675 Dass der Einzelne Rechte besaß, die dem Zugriff des Staates entzogen sein sollten, war der leitende Gedanke der Verfassungsdiskussion in den Kolonien in den Jahren von 1763 bis 1776 gewesen676 und wurde zur eigentlichen Begründung für die Konzipierung der ersten geschriebenen Verfassungen auf der Basis des modernen Konstitutionalismus in Amerika wie in Frankreich.677 Mit den ersten amerikanischen Rechteerklärungen 1776 als dem Ergebnis einer langanhaltenden Diskussion um die englische Verfassung und bedingt durch eine jahrhundertealte englische Rechts-

672 Orsamus W. Cole in der Sitzung vom 22. Dezember 1847, Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 236. Für eine im Grunde ähnliche Bekundung der Whig Ideologie, vgl. „Responsibility of the Ballot Box; with an Illustration“ und „The Future Policy of the Whigs“, beide in: American Review, 4 (1846), 435 – 446, und, 7 (= N.F. 1) (1848), bes. 329 – 332. 673 Stoddard Judd in der Sitzung vom 22. Dezember 1847, Quaife, Hrg., The Attainment of Statehood, 237. 674 Vgl. Rock County Democrat, 19. Februar 1848, 6: „Der Racine Advocate denkt, die neue Verfassung ,wird angenommen werden, nicht aufgrund ihrer Verdienste, sondern weil das Verlangen, ein Staat zu werden, sehr groß ist.‘ Wir denken das auch und sind generell mit dem Advocate in seinen Einwänden gegen die Verfassung einig. Der Herausgeber sagt, er ,werde für sie stimmen, obwohl er sie nicht wärmstens empfehlen kann,‘ und denkt, sie ,wird unterstützt werden mit dem folgenden Gefühl: Zu schlecht für einen Segen, zu gut für ein Gelächter, Ich wünschte von Herzen, du wärst besser oder schlechter.‘“ 675 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Human Rights in America, 1776 – 1849: Rediscovering the States’ Contribution“, in: Albany Law Review, 67 (2003/04), 713 – 761. 676 Vgl. dazu oben Kap. III. 1. 677 Vgl. dazu oben Kap. I. 1.

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kultur vollzog sich damit, was Gerald Stourzh als den Übergang von der Fundamentalisierung zur Konstitutionalisierung von Rechten bezeichnet hat.678 Ohne an dieser Stelle nochmals ausführlich auf die naturrechtlichen und philosophischen Grundfragen einzugehen, mag es genügen, auf James Wilson zu verweisen, den ersten Rechtsprofessor am College of Philadelphia, aus dem 1791 die Universität von Pennsylvania wurde, und nachmaligen Richter am Supreme Court der Vereinigten Staaten, der die eindeutige Feststellung traf: „Eine Regierung sollte gebildet werden, um die Ausübung der natürlichen Rechte der Menschen zu sichern und zu stärken; und jede Regierung, die diese nicht als ihren wichtigsten Gegenstand zum Ziel hat, ist keine rechtmäßige Regierung.“679 Das bekannte Essex Result hatte gut zehn Jahre zuvor die gleiche Auffassung vertreten: Mit dem Eintritt in die Gesellschaft habe der Mensch nicht seine unveräußerlichen Rechte aufgegeben, sondern lediglich jene Rechte, deren Aufgabe für das Allgemeinwohl erforderlich war. „Die höchste Gewalt kann daher lediglich das tun, was dem Wohl der Allgemeinheit dient; und wenn sie diese Linie überschreitet, ist es widerrechtliche Gewalt.“680 Doch welche Rechte hatte der Mensch, und gegenüber wem waren sie zu schützen? Was waren mithin die zentralen Ergebnisse der amerikanischen Konstitutionalisierung dieser Rechte vom ausgehenden 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, und wie unterschieden sich diese gegebenenfalls von der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789? Um auf diese Fragen Antworten zu geben, werden die amerikanischen Rechteerklärungen dieses Zeitraums als Korpus behandelt und dabei versucht, ihrer historischen Entwicklung über diesen Zeitraum gerecht zu werden.681 678 Vgl. Gerald Stourzh, „Fundamental Laws and Individual Rights in the 18th Century Constitution“, in: The American Founding. Essays on the Formation of the Constitution, hrg. v. J. Jackson Barlow u. a., Westport, Conn.: Greenwood Press, 1988, 159 – 193; Gerald Stourzh, „Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert“ [1977], ders., „Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung. Zur Entwicklung in England und den nordamerikanischen Kolonien im 17. Jahrhundert“ [1981], ders., „Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution“ [1976], alle drei in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien und Köln: Böhlau, 1989, 1 – 35, 75 – 89, 155 – 174. Vgl. ebenfalls Timothy H. Breen, The Lockean Moment. The Language of Rights on the Eve of the American Revolution. An Inaugural Lecture Delivered before the University of Oxford on 15 May 2001, Oxford: Oxford University Press, 2001. 679 James Wilson, „Lectures on Law“, in: ders., The Works of James Wilson, hrg. v. Robert Green McCloskey, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1967, II, 592. 680 The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 330 – 331. 681 Über die Staatsverfassungen in breiter Perspektive, vgl. James Quayle Dealey, Growth of American State Constitutions from 1776 to the End of the Year 1914, Boston usw.: Ginn, 1915 [Ndr. New York: Da Capo Press, 1972], 24 – 55, 124 – 127, 254 – 269; Mary Barbara McCarthy, The Widening Scope of American Constitutions, Washington, D.C.: Catholic University of America, 1928, 4 – 5, 31 – 33; Albert L. Sturm, „The Development of American State Con-

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Zwischen 1776 und 1849 wurden offiziell in den Vereinigten Staaten 79 Verfassungen entworfen, von denen 21 nie angenommen wurden.682 Von diesen 58 angenommenen Verfassungen enthielten zehn Prozent keinerlei Hinweis auf nur ein einziges deklariertes Recht, während von den verbleibenden 51 Verfassungen zwanzig Prozent nur eine begrenzte Zahl von Rechten erklärten, von denen die Verfassungen von Louisiana von 1845 und von New York von 1846 die letzten waren. Das Fehlen einer Rechteerklärung konnte ein Grund für die Zurückweisung einer Verfassung sein, wie etwa 1778 in Massachusetts, oder, wie im Fall der Bundesstitutions“, in: Publius. The Journal of Federalism, 12/1 (1982), 57 – 98. Speziell für die Zeit der Revolution: Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776 – 1787 [1969], New York: Norton, 1972; Willi Paul Adams, The First American Constitutions. Republican Ideology and the Making of the State Constitutions in the Revolutionary Era, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1980; Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge und London: Louisiana State University Press, 1980; ders., The Origins of American Constitutionalism, Baton Rouge und London: Louisiana State University Press, 1988; Marc W. Kruman, Between Authority & Liberty. State Constitution Making in Revolutionary America, Chapel Hill und London: University of North Carolina Press, 1997; Thomas B. McAffee, Inherent Rights, the Written Constitution, and Popular Sovereignty. The Founders’ Understanding, Westport, Conn. und London: Greenwood Press, 2000. Zur Vorgeschichte und Geschichte der Bill of Rights der Bundesverfassung, vgl. Robert Allen Rutland, The Birth of the Bill of Rights, 1776 – 1791, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1955; John Phillip Reid, Constitutional History of the American Revolution: The Authority of Rights, Madison und London: University of Wisconsin Press, 1986; William E. Nelson und Robert C. Palmer, Liberty and Community: Constitution and Rights in the Early American Republic, New York: Oceana, 1987; The Historic Background of the Bill of Rights, hrg. v. Paul L. Murphy, New York und London: Garland, 1990; A Culture of Rights. The Bill of Rights in Philosophy, Politics, and Law – 1791 and 1991, hrg. v. Michael J. Lacey und Knud Haakonssen, Cambridge: Cambridge University Press, 1991; The Bill of Rights and the States. The Colonial and Revolutionary Origins of American Liberties, hrg. v. Patrick T. Conley und John P. Kaminski, Madison, Wisc.: Madison House, 1992; Donald S. Lutz, „The State Constitutional Pedigree of the U.S. Bill of Rights“, in: Publius. The Journal of Federalism, 22/2 (1992), 19 – 45; The Bill of Rights. Government Proscribed, hrg. v. Ronald Hoffman und Peter J. Albert, Charlottesville und London: University Press of Virginia, 1997; Akhil Reed Amar, The Bill of Rights. Creation and Reconstruction, New Haven und London: Yale University Press, 1998; Leonard W. Levy, Origins of the Bill of Rights, New Haven und London: Yale University Press, 1999. Für die nachfolgende Periode bis zum Bürgerkrieg liegen nahezu keine Untersuchungen vor, vgl. die wenigen Ausnahmen Fletcher M. Green, Constitutional Development in the South Atlantic States, 1776 – 1860. A Study in the Evolution of Democracy, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1930; Don E. Fehrenbacher, Sectional Crisis and Southern Constitutionalism, Baton Rouge und London: Louisiana State University Press, 1995; Laura J. Scalia, America’s Jeffersonian Experiment. Remaking State Constitutions, 1820 – 1850, DeKalb: Northern Illinois University Press, 1999. Zum 20. Jahrhundert, vgl. die Aufsatzsammlungen von Stanley H. Friedelbaum, Human Rights in the States. New Directions in Constitutional Policymaking, New York: Greenwood Press, 1988, und von Paul L. Murphy, The Bill of Rights and the States, New York und London: Garland, 1990. 682 Textgrundlage ist Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011; für die Zeit von 1850 bis heute Constitutions of the World 1850 to the Present/Verfassungen der Welt 1850 bis zur Gegenwart, Microfiche Edition, Tl. II: North and South America/Nord- und Südamerika, hrg. v. Horst Dippel, München: Saur, 2007.

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verfassung von 1787 in der anschließenden Ratifizierungsdebatte zu der Auflage führen, die vorliegende Verfassung um eine derartige Erklärung zu ergänzen, was dann 1791 zur Aufnahme der ersten zehn Zusatzartikel führte, die gemeinhin als Bill of Rights bezeichnet werden. Wie im ersten Kapitel dieses Bandes und den Kapiteln dieses Teils immer wieder erwähnt, war die erste amerikanische Rechteerklärung die von Virginia vom 12. Juni 1776, dem Gründungsdokument des modernen Konstitutionalismus.683 Es war ein derart Schule machendes Beispiel, das von den meisten anderen Staaten übernommen wurde, während lediglich New Jersey bis 1844 und Georgia, New York, South Carolina und Louisiana bis nach dem Bürgerkrieg nur eine begrenzte Zahl von Rechten in ihren nachfolgenden Verfassungen eingefügt hatten. Diese Zahl variierte zwischen sechs (in New York 1777 und Georgia 1789) und 22 (in New York 1846), wobei in den übrigen Verfassungen diese reduzierte Zahl von Rechten im Durchschnitt um zehn lag. Nach der Rechteerklärung von Virginia verfügten lediglich die Konföderationsartikel von 1777 und nach gängigem, doch nicht ganz zutreffenden Verständnis die Bundesverfassung von 1787 sowie zwei der vier texanischen Verfassungen vor der Aufnahme in die Union, nämlich die von 1827 und 1835 über kein einziges erklärtes Recht. Mit Kalifornien, das seine erste Staatsverfassung Ende 1849 annahm, stieg die Gesamtzahl der amerikanischen Verfassungen mit einer Rechteerklärung auf 41. Im Allgemeinen hatten diese Verfassungen jeweils rund 30 Rechte erklärt, während drei von ihnen – Maryland 1776 und New Hampshire 1784 und 1792 – jeweils über 40 aufführten. Diese verschiedenen Rechte lassen sich in drei Gruppen einteilen: 1) jene Artikel, die ohne ein spezifisches Recht zu enthalten, sich darauf beschränkten, die „ersten“, grundlegenden Prinzipien zu verkünden; 2) aktiv dem Volk, oder zumeist spezieller dem Einzelnen übertragene Rechte, darunter politische Rechte, aber auch solche, die sich als gesellschaftliche, wirtschaftliche oder andere Rechte bezeichnen ließen; 3) dem Einzelnen passiv gewährten Schutz im politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder rechtlichen Bereich (s. Anhang II). Hinsichtlich der 51 amerikanischen Verfassungen, die, ob nun in reduziertem oder ausgedehntem Umfang Rechte erklärten, gehörten 3,2 % zur Gruppe der grundlegenden Prinzipien, 42,6 % entfallen auf die Gruppe der Einzelnen aktiv übertragenen Rechte, während es sich bei 54,3 % um passiv gewährten Schutz für den Einzelnen handelt. Ganz allgemein gesprochen nahmen die amerikanischen Rechteerklärungen, unter dem nachwir683

Zum Ursprung der Rechteerklärung von Virginia, vgl. Brent Tarter, „The Virginia Declaration of Rights“, in: To Secure the Blessings of Liberty: Rights in American History, hrg. v. Josephine F. Pacheco, Fairfax, Va.: George Mason University Press, 1993, 37 – 54. Als erster hat auf die Bedeutung der Rechteerklärung nachdrücklich hingewiesen Kruman, Between Authority and Liberty, 37 – 59. Zur nachfolgenden Periode, vgl. Scalia, America’s Jeffersonian Experiment, 27 – 47, und passim, und Kermit L. Hall, „Of Floors and Ceilings: The New Federalism and State Bills of Rights“, in: Florida Law Review, 44 (1992), bes. 641 – 645. Eine gegenteilige Auffassung findet sich bei Wood, Creation of the American Republic, 271 – 273.

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kenden Einfluss einer jahrhundertealten Common Law-Tradition,684 Abstand von der Ausbreitung theoretischer Prinzipien ohne unmittelbaren normativen Charakter. Stattdessen konzentrierten sie sich im Wesentlichen darauf, das Individuum in seinen gesellschaftlichen Bezügen mit konkreten Rechten auszustatten, die gerichtlich gegen staatliche Übergriffe durchsetzbar waren und die staatliches Handeln begrenzten, um den Schutz seiner Rechte und der Segnungen der Freiheit für den Einzelnen und damit die Gesellschaft insgesamt zu sichern.685 Es war diese doppelte Begrenzung des Staates, die die amerikanischen Rechteerklärungen charakterisierte. War die Sicherstellung dieser Rechte Ausdruck eines rechtmäßigen Staates, so stellte sich damit doch die Frage, welche der drei Gewalten für deren Einhaltung zuständig war und von welcher wiederum ihre Gefährdung ausgehen mochte. Vor wem sollte mithin der Einzelne konkret geschützt werden? Angesichts der bereits im Kap. III. 3. getroffenen Feststellung vom Wandel der Auffassungen, dass alle Macht im Volk liegt hin zu der Einstellung, dass sie dort „ursprünglich“ lag, aber im gesellschaftlichen Zustand durch die Verfassung auf seine Repräsentanten übergegangen sei, die ihm dafür jederzeit verantwortlich seien, lässt sich die aufgeworfene Frage hier summarisch beantworten. 1776, und die Rechteerklärung von Virginia bringt dies immer wieder zum Ausdruck, steht ganz unter dem Eindruck des Widerstandsrechts gegen den Tyrannen – Jefferson hatte in der Unabhängigkeitserklärung in einem langen Katalog dem britischen König Tyrannei vorgeworfen –, aber ebenso der Glorreichen Revolution, die die „gefährlichen Innovationen“ des Königs zurückwies, indem sie nachdrücklich die Macht des Parlaments stärkte. Zumal die Rechteerklärung von Pennsylvania hatte diese Position noch weiter erhöht: vor den Anmaßungen und Gefährdungen durch die Exekutive bot allein das Volk selbst und damit durch Übertragung die Legislative Schutz. Fast ein Drittel der Absätze des ersten Kapitels der Verfassung von Pennsylvania beginnt mit der kollektiven Zuordnung „Dass das Volk ein Recht hat […].“686 Alle Amtsträger waren daher, wie es in der Rechteerklärung von Virginia gehießen hatte, lediglich seine „Treuhänder und Diener“ und ihm stets verantwortlich.687

684

Vgl. Judith S. Kaye, „Foreword: The Common Law and State Constitutional Law as Full Partners in the Protection of Individual Rights“, in: Rutgers Law Journal, 23 (1992), 730 – 734. 685 Vgl. die Entschließung des Verfassungskonvents von Delaware vom 6. Dezember 1791, „[d]ass die Rechteerklärung [der Verfassung von 1776] in der Weise verbessert werden sollte, dass die von den allgemeinen Befugnissen der Regierung ausgenommenen Rechte deutlicher aufgelistet und präziser bestimmt und in Einklang mit der zu beschließenden Verfassung gebracht werden“ (Minutes of the Grand Committee of the Whole Convention of the Delaware State, Wilmington: James Adams, 1792, Ndr. in: Proceedings of the House of Assembly of the Delaware State 1781 – 1792 and of the Constitutional Convention of 1792, hrg. v. Claudia L. Bushman, Harold B. Hancock und Elizabeth Moyne Homsey, Newark: University of Delaware Press, London und Toronto: Associated University Presses, 1988, 777). 686 Vgl. Kap. I, Abs. 3, 10, 12, 13, 16, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 321 – 325. 687 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 2, in: ebd., VIII, 153.

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Die entscheidende Wende kam mit der Verfassung von Massachusetts von 1780. Erstmals wurde mit ihr der Rechtekatalog nicht um weitere Rechte für den Einzelnen erweitert. Dafür änderte sich der Ton und der Stil der Rechteerklärung vollkommen gegenüber den frühen Erklärungen von 1776. Nichts war geblieben von den Lobpreisungen des Volkes als Garant seiner Rechte. Gewiss war das Volk die Quelle der Souveränität geblieben und hatte jederzeit das Recht, seine Verfassung zu ändern. Aber die Macht, die im Sommer 1776 dem Volk von Virginia gehört hatte, hatte das Volk von Massachusetts im März 1780 zu großen Teilen an seine Repräsentanten abgetreten, die seine „Stellvertreter und Werkzeuge“ waren.688 Mit dieser Wendung von dem Radikalismus des Sommers 1776 zu den konservativeren Überzeugungen der späteren Jahre, die einem unmittelbaren Eingreifen des Volkes sehr viel reservierter gegenüberstanden, war es nur noch ein kleiner Schritt zur Bundesverfassung von 1787 mit ihrer eindeutigen Auffassung, dass, um die Rechte des Einzelnen zu sichern, es erforderlich sei, die Macht der Legislative zu begrenzen. James Madison, der gerne als Vater der Verfassung wie der nachfolgenden Bill of Rights bezeichnet wird, hat diesen Wandel in der politischen Philosophie klar zum Ausdruck gebracht. In England „sind sie nicht weiter gegangen, als Barrieren gegen die Macht der Krone zu errichten […], und es mag in diesem Land nicht für notwendig gehalten werden, Grenzen für die legislative Macht zu errichten, doch in den Vereinigten Staaten herrscht eine andere Auffassung“.689 Die ausführliche Begründung für diese amerikanische Auffassung hatte Madison in der berühmten Nr. 51 des Federalist geliefert: „In einer republikanischen Regierung ist notwendigerweise die Legislative vorherrschend.“ Daher sei es unabdingbar, gegen deren „gefährliche Eingriffe“ die erforderlichen Gegenmaßnahmen und Vorkehrungen zu treffen, wie diese nach seiner Überzeugung in der Bundesverfassung verankert wurden.690 Nur wenige Rechte waren in der ursprünglichen Verfassung von 1787 aufgeführt, und diese waren nicht allein in dem Artikel über die Legislative eingefügt, sondern, noch bezeichnender und bedeutsamer, in dem über die Begrenzung ihrer Befugnisse (Abs. 9) und über die Staaten (Abs. 10).691 Ganz auf dieser Argumentationslinie liegt der bekannte programmatische Auftakt der Bill of Rights von 1791 mit den viel zitierten Worten „Der Kongress macht kein Gesetz […]“. Auch wenn die nachfolgenden Staatsverfassungen nur sehr selten eine vergleichbare Striktheit an den Tag legten, war die Richtung eindeutig. Um die Rechte des Einzelnen zu schützen, waren weder Barrieren gegen die exekutive Macht entscheidend, 688

Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. I, Art. 5, in: ebd., IV, 20. James Madison über die vorgeschlagenen Zusätze zur Verfassung im Repräsentantenhaus, 8. Juni 1789, in: The Papers of James Madison, XII, hrg. v. Charles F. Hobson u. a., Charlottesville: University Press of Virginia, 1979, 203. Vgl. Robert A. Goldwin, „Congressman Madison Proposes Amendments to the Constitution“, in: The Framers and Fundamental Rights, hrg. v. Robert A. Licht, Washington, D.C.: The AEI Press, 1991, 57 – 85. 690 The Federalist, Nr. 51 (hrg. m. e. Einl. u. Anm. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 350). 691 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 53, 54. 689

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noch galt das Volk länger als der Garant seiner eigenen Rechte. Stattdessen waren Maßnahmen gegen die mutmaßlichen Usurpationen der legislativen Gewalt erforderlich, was letztlich nichts anderes hieß als gegen das Volk selbst.692 Wenden wir uns damit den 51 Dokumenten im Einzelnen zu und beginnen wir mit der Sprache. Die amerikanische Besonderheit beginnt bereits mit dem Titel. Im allgemeinen – amerikanischen – Sprachgebrauch hat es sich eingebürgert, eine Rechteerklärung als Bill of Rights zu bezeichnen. Dieser Gebrauch orientiert sich an den ersten zehn Zusatzartikeln zur Bundesverfassung, die unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden. Bereits in den Ratifizierungsdebatten über die Bundesverfassung war die Forderung nach einer Ergänzung um eine Bill of Rights aufgetaucht.693 Doch die daraufhin vom Kongress verabschiedeten und den Staaten am 25. September 1789 zur Ratifizierung vorgelegten zwölf Zusatzartikel, von denen schließlich zehn angenommen und der Verfassung angefügt wurden, hatten keinen zusammenfassenden Titel.694 Dass sich dennoch der Begriff Bill of Rights durchsetzte, hängt ursächlich fraglos mit der prägenden Diskussion der Jahre 1763 – 1776 über die Rechte des Engländers und über die zentrale Rolle der Glorreichen Revolution in dieser Verfassungsdebatte zusammen, auf die bereits eingangs hingewiesen wurde. Die Bill of Rights von 1689 war ein konstitutives Dokument in dieser Debatte. Auch wenn der Sinn der englischen Bill of Rights war, die Macht des Parlaments zulasten der Krone zu stärken, sollte sie kein neues Recht schaffen. Vielmehr traten die Mitglieder von Ober- und Unterhaus „vorrangig“ ein „für die Behauptung und Verteidigung ihrer alten Rechte und Freiheiten“. Dazu gehörte nach ihrem Verständnis auch, „[d]ass übermäßige Kautionen nicht verlangt werden, noch überhöhte Gebühren auferlegt, noch grausame und außergewöhnliche Strafen verhängt werden sollten“.695 Die amerikanische Bill of Rights von 1791 hatte einen ganz anderen Charakter. Hier ging es weder darum, die Machtbalance zwischen Präsident und Kongress neu auszutarieren, noch darum alte Rechte festzuschreiben, sondern um eine aktive Rechtssetzung zum Schutz der Bürger. Dennoch wurde, und darin wird zumindest die kulturelle Verbindung offenkundig, die zitierte Klausel über Kaution und Strafen wörtlich bei einer entscheidenden sprachlichen Veränderung, auf die noch einzu-

692 Vgl. allgemeiner, doch mit ähnlichen Ergebnissen, Kermit L. Hall, The Magic Mirror. Law in American History, New York und Oxford: Oxford University Press, 1989, 62. Vgl. dazu auch das vorangegangene Kapitel. 693 Vgl. The Debates in the Several State Conventions, on the Adoption of the Federal Constitution, as Recommended by the General Convention at Philadelphia, in 1787, hrg. v. Jonathan Elliot, 5 Bde., Philadelphia: J. B. Lippincott, 1836 – 1845 (Ndr. 1937), V, 538. 694 Vgl. dazu Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, bes. 83 – 84. 695 „The Bill of Rights, 1689“, abgedruckt in: Neville Williams, The Eighteenth-Century Constitution, 1688 – 1815. Documents and Commentary, Cambridge: Cambridge University Press, 1960, 26 – 33, hier 28.

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gehen sein wird, in die zwölf vorgeschlagenen Zusatzartikel aufgenommen und ist seither der VIII. Zusatzartikel der Bundesverfassung.696 Dieser amerikanische Sprachgebrauch wurde und wird gerne auch auf die Einzelstaaten übertragen und verkennt damit die Tatsache, dass, angefangen von Virginia 1776, die amerikanischen Revolutionäre und Verfassungsväter dabei bewusst nicht an die englische Bill of Rights anknüpfen wollten, selbst wenn es ihnen zumal vor 1787 und anders als 1791 auch um das Verhältnis der staatlichen Gewalten zueinander und deren Grundlegung ging. Aber es sollte eigenes, neues Recht gesetzt, nicht altes englisches Recht fortgeschrieben werden. Sie nannten diese Artikel daher ausnahmslos „Rechteerklärungen (Declaration of Rights)“. New Hampshire war 1784 die erste Verfassung, die diesen Titel in Bill of Rights änderte.697 Doch was wenige Jahre später auf nationaler Ebene sprachlich prägend wurde, fand auf einzelstaatlicher Ebene so gut wie keine Resonanz. Bis zum Ende des hier untersuchten Zeitraums blieben alle Staaten bei dem eingebürgerten Terminus der Rechteerklärung, von der einzigen Ausnahme Iowa mit seiner Verfassung von 1846 abgesehen, die ihre entsprechenden Artikel Bill of Rights überschrieb.698 Die Staaten blieben dabei, Rechte für den Einzelnen zu erklären, ob bekannte, traditionelle oder neu hinzugekommene; es ging ihnen nicht darum, vorhandene lediglich in Erinnerung zu rufen und erneut bekannt zu machen. Die amerikanischen Titel, ob nun Bill of Rights oder Declaration of Rights, sind zumindest aus europäischer Sicht bemerkenswert, enthalten sie doch weder Adressaten noch einen Hinweis auf die Natur und den Ursprung dieser Rechte. Es fällt daher schon auf, wenn die erwähnten fehlgeschlagenen Verfassungen von New Hampshire von „[E]iner Erklärung der Rechte des Volkes des Staats von New Hampshire“ gesprochen hatten.699 Heute könnte diese Wortwahl höchst aktuell als genderneutral aufgefasst und dank der Ersetzung von man durch people als „Rechte der Menschen“ gelesen werden. In der Rechteerklärung von Virginia war, wie im übrigen auch in der Unabhängigkeitserklärung, auf die Natur als Ursprung der Rechte verwiesen, wie es dann die Verfassung von Wisconsin von 1848 wieder aufgreifen sollte.700 Hatte es in der Verfassung von Pennsylvania 1776 noch gehießen, dass die Menschen „gewisse natürliche angeborene und unveräußerliche Rechte“ besäßen, „ein natürliches und 696

Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, bes. 83. In den Verfassungen von New Hampshire von 1779, 1781 und 1782, die alle in der Volksabstimmung durchfielen, war stets der Begriff „Rechteerklärung“ verwandt worden, der erst mit der angenommenen Verfassung von 1784 und erneut bei ihrer umfassenden Amendierung von 1792 in „Bill of Rights“ umbenannt wurde, vgl. ebd., IV, 317, 323, 341, 359, 391. 698 Die gleiche Bezeichnung hatte Iowa in der gescheiterten Verfassung von 1844 verwandt sowie dann erneut in seiner Verfassung von 1857, vgl. ebd., II, 239, 255, 271. 699 Ebd., IV, 317, 323, 341 (in den beiden letzten Fällen hieß es kürzer „des Volks von New Hampshire“). 700 Vgl. Rechteerklärung von Virginia von 1776, in: ebd., VIII, 153 und zu Wisconsin das vorausgehende Kap. III. 6. 697

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unveräußerliches Recht“ hätten, ihren Glauben zu praktizieren sowie „ein natürliches angeborenes Recht auszuwandern“ besäßen, so war davon in der Verfassung von 1790 lediglich „ein natürliches und unantastbares Recht“ in Glaubenssachen übriggeblieben, was auch 1838 noch Bestand hatte.701 Doch der Naturrechtsbezug ging im 19. Jahrhundert als generelle Rechtsquelle zunehmend ersatzlos verloren; so war etwa in der Verfassung von Mississippi von 1817 genauso wenig von natürlichen Rechten die Rede wie in der von Michigan von 1835. Was aber, selbst nicht als Reaktion auf die französische Erklärung von 1789, in Amerika nicht aufgegriffen wurde, war der Terminus „Menschenrechte“. Zwar unterschieden die amerikanischen Rechteerklärungen in Bezug auf die von ihnen deklarierten Rechte zumal im Westen zumeist nicht zwischen Staatsbürgern und anderen Einwohnern – wobei die Sklavenhalterstaaten systemimmanent zwischen Freien und Sklaven differenzierten, doch auch im Norden im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff des „Freien“ zunehmend rassistisch auf den freien Weißen verengt wurde.702 All dieses dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich der Begriff der Menschenrechte in den Vereinigten Staaten nie einbürgern konnte, so dass noch heute amerikanische Rechtswörterbücher den Begriff Human Rights nicht kennen703 und man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten verbreitet von der Civil Rights Revolution gesprochen hat, aber eben nicht von Menschenrechten, womit die rechtliche Qualität der damit angesprochenen Rechte, wie die seitherige Entwicklung belegt, umstritten bleibt.704 Die Sprache der Verfassung und speziell der Rechteerklärungen hat noch eine weitere Dimension, auf die Donald Lutz zu Recht hingewiesen hat.705 Die rechtliche Dimension der amerikanischen Erklärungen wurde bereits erwähnt. Aber waren ihre Bestimmungen in der Tat so konzipiert, dass sie vor Gericht eingeklagt werden konnten? In der Rechteerklärung von Virginia hatte es gehießen, „Regierungen sind oder sollten eingesetzt sein für das allgemeine Wohl“, „Wahlen […] sollten frei sein“, „alle Macht, Gesetze zu suspendieren […] sollte nicht ausgeübt werden“.706 Das war eher die Sprache des moralischen Appells als die der normativen Setzung, die gerichtstauglich war und klang mehr nach dem traditionellen Rechtsmittel der Erhebung von Einwänden vor dem König. So war auch der oben bezüglich Kaution und Strafen zitierte Passus aus der englischen Bill of Rights von 1689 verfasst worden, 701 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. I, Abs. 1, 2, 15, Verfassungen von 1790 und von 1838, jeweils Art. IX, Abs. 3, ebd., V, 321, 325, 365, 400. 702 Vgl. dazu oben Kap. III. 5. 703 Vgl. Henry Campbell Black, Black’s Law Dictionary. Definitions of the Terms and Phrases of American and English Jurisprudence, Ancient and Modern, St. Paul, MN: West Publishing Co., 51983, 378. Anders das Oxford Law Dictionary: A Dictionary of Law, hrg. v. Elizabeth A. Martin, Oxford: Oxford University Press, 52003, 237, das sehr wohl einen vergleichsweise ausführlichen Artikel „Human Rights“ enthält. 704 Vgl. dazu unten Kap. V. 8. 705 Vgl. Lutz, Popular Consent and Popular Control, 65 – 67. 706 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 5, 6, 7, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153, 154.

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und so hatte es auch in den amerikanischen Rechteerklärungen gehießen, egal ob von den Radikaleren in Pennsylvania 1776 oder den Konservativeren in Massachusetts 1780 formuliert. Es war nicht weniger als eine rechtliche Revolution erforderlich, um der Verfassungssprache normativen Charakter zu verleihen und sie gerichtsfest zu machen. Das heißt, aus dem „sollte“ (should, ought to) musste ein „ist“ (shall) werden. Genau das hatte Madison 1789 gemacht (Congress shall make no law), und so lautete die amerikanische Adaption der Kaution- und Strafenklausel der englischen Bill of Rights, dass diese außergewöhnlichen Kautionen und Strafen nicht erhoben oder auferlegt werden. Die faktisch-normative Festsetzung trat an die Stelle des moralischen Appells, und der Artikel der Rechteerklärung in der Verfassung von Pennsylvania von 1790 hat dies konsequent umgesetzt.707 Von wenigen Ausnahmen in den 1790er Jahren abgesehen, hatte sich damit die neue amerikanische Verfassungssprache etabliert. Die 51 amerikanischen Verfassungen von 1776 bis einschließlich 1849, in denen Rechte deklariert wurden, enthielten zusammen 94 einzelne Bestimmungen (vgl. Anhang I). In dieser Zahl sind nicht jene wenigen Bestimmungen berücksichtigt, die allein von lokaler Bedeutung sind und nach modernem Verständnis nicht wirklich in eine Rechteerklärung gehören sowie solche, die ausschließlich in anderen Teilen der Verfassung auftauchen, aber nie in einer Rechteerklärung. Von diesen 94 Bestimmungen stammen 53 aus dem Jahr 1776, während lediglich 19 von ihnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinzugefügt wurden. Einige Bestimmungen waren nur von vorübergehender Bedeutung, darunter etwa die über Duelle,708 oder Überbleibsel einer vergangenen Zeit, darunter die Klauseln über Primogenitur709 oder Feudaleigentum.710 Andere wie Gewaltentrennung711 oder Ämterrotation712 werden gemeinhin nicht als Rechte eingestuft, auch wenn zumal nach anfänglichem Verständnis die grundlegenden Verfassungsprinzipien in die 707 Die Verfassung von Georgia von 1789 und South Carolina von 1790 waren darin Pennsylvania bereits vorangegangen, doch werden sie in dem hier gegebenen Zusammenhang angesichts ihres nur höchst eingeschränkten Rechtekatalogs nicht weiter berücksichtigt. 708 Vgl. die Verfassungen von Iowa von 1846 (Art. II, Abs. 5) und Illinois von 1848 (Art. XIII, Abs. 25), ebd., II, 256, 165. 709 Vgl. die Verfassungen von Georgia von 1777 (Art. 51) und 1789 (Art. IV, Abs. 6) und von Texas von 1836 (Rechteerklärung, Abs. 17) und 1845 (Art. I, Abs. 18), ebd., 19, 26, VI, 219, 228. 710 Vgl. die Verfassungen von New York von 1846 (Art. I, Abs. 12) und Wisconsin von 1848 (Art. I, Abs. 14), ebd., V, 126, VII, 210. 711 Vgl. die Rechteerklärungen von Virginia von 1776 (Abs. 5), Maryland von 1776 (Abs. 6) und North Carolina von 1776 (Abs. 4) und die Verfassungen von Massachusetts von 1780 (Tl. I, Art. 30) und New Hampshire von 1784 (Tl, Art. 37) und von 1792 (Tl. I, Art. 37), ebd., VIII, 153, III, 240, V, 157, IV, 23, 363, 394. 712 Vgl. die Rechteerklärungen von Virginia von 1776 (Abs. 5), Maryland von 1776 (Abs. 31) und die Verfassungen von Pennsylvania von 1776 (Kap. I, Art. 6), Vermont von 1777 (Kap. I, Abs. 7) und 1786 (Kap. I, Abs. 8), Massachusetts von 1780 (Tl. I, Art. 8) und Mississippi von 1832 (Art. I, Abs. 30), ebd., VIII, 153, III, 241, V, 322, VII, 12, 26, IV, 21, 193.

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Rechteerklärungen gehörten. Die „christlich protestantische Religion“ zur Staatsreligion zu erklären, wie 1778 in South Carolina,713 erscheint eher als eine Beschränkung von Rechten und wurde von keiner Rechteerklärung eines anderen amerikanischen Staats übernommen, nicht einmal von South Carolina selbst in seiner neuen Verfassung von 1790. Das Recht auf Geschworene aus der Nachbarschaft des Beschuldigten (Pennsylvania 1790)714 erscheint ebenfalls umstritten und wurde in anderen Staaten häufig durch Geschworene aus dem Gebiet, in dem das Verbrechen begangen wurde, ersetzt. Es mag schließlich bezweifelt werden, ob eine Rechteerklärung der angemessene Platz ist für die Forderung der freien Schifffahrt auf dem Mississippi, wie das Tennessee 1796 tat;715 gegen wen dieses Recht durchzusetzen war, bleibt nebulös. Die Formulierung, dass dieses Recht nicht an irgendeinen „Prinzen, Potentaten, Macht, Person oder Personen“ abgetreten werden könne, legt den Schluss nahe, dass diese Bestimmung mithin mit dem Kauf Louisianas sieben Jahre später durch die Vereinigten Staaten obsolet wurde. Allerdings taucht die Bestimmung unverändert in der Verfassung von Tennessee von 1834 erneut auf,716 jedoch bei keinem anderen Mississippi-Anrainer. Ungeachtet dieser und einiger weniger weiterer Bestimmungen von ephemerem Charakter erwies sich die übergroße Mehrheit der erklärten Rechte als von bleibender Bedeutung für den modernen Konstitutionalismus. Nahezu der vollständige Katalog der klassischen Menschenrechte der sogenannten ersten Generation, darunter Presse- und Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versammlungs- und Petitionsfreiheit, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, das Recht auf angemessene Entschädigung, Rechtshilfe usw. Doch gab es auch jene Rechte, die für manchen eher überraschend selten auftauchten, darunter ein Widerstandsrecht, das expressiv erklärt wurde und über das hier in der Regel gemeinte Recht, die Verfassung zu ändern oder abzuschaffen, hinausging oder der Grundsatz Nulla poena sine lege oder die Unschuldsvermutung. Eine durchaus eigene Rolle spielte, wie im Kap. III. 5. dargelegt, das Wahlrecht. Es muss jedoch eingeräumt werden, dass einige Rechte, die heute in den Vereinigten Staaten als selbstverständlich gelten, nicht zu den amerikanischen Verfassungsrechten der ersten Stunde gehörten. So war die Verfassung von Georgia von 1777 die erste, die das altehrwürdige Habeas Corpus-Recht konstitutionalisierte.717 Die gerechte Entschädigung wurde 1777 von Vermont in das Verfassungsrecht eingeführt,718 Der alte Common Law-Grundsatz, dass ein Angeschuldigter für dasselbe Vergehen nicht zweimal „in Gefahr von Leib und Leben“ (double jeopardy) 713

Verfassung von South Carolina von 1778, Art. 38, ebd., VI, 30. Verfassungen von Pennsylvania von 1790 und 1838, jeweils Art. IX, Abs. 9, ebd. V, 366 – 367, 401. 715 Verfassung von Tennessee von 1796, Art. XI, Abs. 29, ebd., VI, 69. 716 Verfassung von Tennessee von 1834, Art. I, Abs. 29, ebd., 75. 717 Verfassung von Georgia von 1777, Art. 60, ebd., II, 20. 718 Verfassung von Vermont von 1777, Kap. I, Abs. 2, ebd., VII, 11. 714

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gebracht werden dürfe, erhielt erst 1784 in New Hampshire Verfassungsrang.719 Nulla poena sine lege tauchte in amerikanischen Rechteerklärungen erstmals 1817 in Mississippi auf,720 und die Unschuldsvermutung, die in Frankreich bereits 1789 zum Verfassungsprinzip erhoben wurde, musste in den Vereinigten Staaten bis zur Verfassung von Rhode Island von 1842 warten.721 Auf der anderen Seite wurde das Recht, Waffen zu tragen und zu emigrieren, das heute so selbstverständlich mit den Vereinigten Staaten assoziiert wird, durch die Verfassung von Pennsylvania von 1776 eingeführt,722 jedoch lange nicht von allen nachfolgenden Staatsverfassungen übernommen. Lediglich eine knappe Mehrheit, 17 von 31 Staaten, fügte das Recht, Waffen zu tragen in seinen Rechtekatalog ein, 723 wie es auch die Bundesverfassung mit ihrem II. Zusatzartikel getan hat, doch weniger als ein Drittel aller Rechteerklärung fügte ein Recht auf Auswanderung ein. Neben Pennsylvania waren dies lediglich sechs Staaten, darunter keiner der ursprünglichen Staaten noch die Bundesverfassung. Es kann daher nicht überraschen, dass der Beitrag der einzelnen Staaten zur Entwicklung des Rechtekatalogs höchst unterschiedlich ausfällt. Fast die Hälfte der 94 Bestimmungen entstammt den Rechteerklärungen von Virginia und Maryland von 1776. Allerdings haben sich einige dieser Rechte im Laufe der Jahre entwickelt und in nachfolgenden Erklärungen wesentliche Modifikationen und Erweiterungen erfahren. So hatte Virginia zwar 1776 die Religionsfreiheit erklärt.724 Aber nur wenige Wochen später hatte New Jersey schon hinzugefügt, dass keiner „verpflichtet werden 719

Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl. I, Art. 16, ebd., IV, 361. Verfassung von Mississippi von 1817, Art. I, Abs. 11, ebd., 172. Vgl. dazu die französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789, Art. 7, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 29 – 30. 721 Verfassung von Rhode Island von 1842, Art. I, Abs. 14, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 484. Vgl. die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789, Art. 9, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 30. Die Unschuldsvermutung hatte jedoch eine extrakonstitutionelle Vorgeschichte in Rhode Island, die bis 1798 zurückreicht, vgl. dazu oben Kap. III. 4. 722 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. I, Abs. 13, 15, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 324, 325. 723 Vgl. Joyce Lee Malcolm, To Keep and Bear Arms. The Origins of an Anglo-American Right, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1994, bes. 146 – 150. Zu den andauernden Kontroversen, vgl. die Beiträge von Garry Wills und Michael A. Bellesiles in: Whose Right to Bear Arms Did the Second Amendment Protect?, hrg. v. Saul Cornell, Boston und New York: Bedford/St. Martin’s, 2000, 65 – 88, 146 – 179, und für eine Gegenstimme Stephen P. Halbrook, A Right to Bear Arms. State and Federal Bills of Rights and Constitutional Guarantees, Westport, Conn.: Greenwood Press, 1989. Dealey, Growth of American State Constitutions, 125, zählt das Recht, Waffen zu tragen, zu denen, die in keiner amerikanischen Bill of Rights fehlen sollten, ebenso wie der Geschworenenprozess und freie Wahlen. Vgl. dazu auch unten Kap. V. 8. 724 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 16, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 154. 720

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soll, einen Zehnten, Steuern oder irgendeine andere Abgabe“ an Kirchen oder Sekten zu zahlen, denen er nicht angehört. Zusätzlich verbot New Jersey religiöse Tests, allerdings nur für Protestanten,725 eine gravierende Einschränkung, die bald verschwand. Die Rechteerklärung von Virginia hatte ebenfalls die Pressefreiheit deklariert.726 Doch die jüngste britische Geschichte hatte die Schwäche dieses Rechtes offengelegt, solange die Geschworenen allein das Recht besaßen, über die Tatsache der Publikation zu urteilen, ohne zu dem Inhalt der inkriminierten Schrift Stellung nehmen zu dürfen. Daher wird das berühmte britische Gesetz über die Verleumdungsschriften (Fox’s Libel Act) von 1792 als der Beginn der Pressefreiheit in Großbritannien gefeiert, da mit ihm die Geschworenen das Recht erhielten, über die Tatsache der Publikation und ihren Inhalt (the fact and the law) zu entscheiden.727 In den Vereinigten Staaten war diese entscheidende Wende jedoch bereits zwei Jahre zuvor erreicht worden mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790,728 deren diesbezügliche Bestimmung in der Folge von fast allen nachfolgenden amerikanischen Verfassungen aufgegriffen wurde. Nicht allein Pennsylvania 1776 und 1790, sondern auch Georgia und Vermont 1777 und New Hampshire 1784 machten wesentliche Beiträge zu dem sich in den Staaten entwickelnden Rechtekatalog, die heute als selbstverständlich angesehen werden. Doch die Entwicklung ging weiter. 1802 legte die Verfassung von Ohio fest, dass Schulen und Universitäten innerhalb des Staates allen offenstehen sollen; 1821 bestimmte New York, dass keiner das Staatsbürgerrecht verlieren soll, außer aufgrund der Gesetze des Landes, während 1849 Kalifornien festlegte, dass die Grundlage für die politische Repräsentation ausschließlich die Bevölkerungszahl sein soll.729 Ohne Frage war die Rechteentwicklung in den Vereinigten Staaten ein Gemeinschaftsprojekt – fast – aller Staaten. Hier zeigte die ständige amerikanische Rechtediskussion730 ihre verfassungsrechtlichen Auswirkungen. Doch diese drangen so gut wie nie auf die Bundesebene durch und führten nur in Ausnahmefällen, wie 725

Verfassung von New Jersey von 1776, Art. 18, 19, ebd., V., 28. Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 12, ebd., VIII, 154. 727 Vgl. Leslie George Mitchell, Charles James Fox, Oxford: Oxford University Press, 1992, 118; ferner dazu oben Kap. II. 2. 728 Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 7, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 366. 729 Verfassungen von Ohio von 1802, Art. VIII, Abs. 25, New York von 1821, Art. VII, Abs. 1, Kalifornien von 1849, Art. I, Abs. 14, ebd., 205, 106, I, 151. Der Ursprung der New Yorker Bestimmung lag in der Auseinandersetzung über das Wahlrecht von Afro-Amerikanern, vgl. Peter J. Galie, Ordered Liberty. A Constitutional History of New York, New York: Fordham University Press, 1996, 76 – 77; Rogers M. Smith, Civic Ideals. Conflicting Visions of Citizenship in U.S. History, New Haven und London: Yale University Press, 1997, 170 – 173. Die Wortwahl weist schon auf den zukünftigen XIV. Zusatzartikel zur Bundesverfassung von 1868 hin. 730 Vgl. dazu unten Kap. V. 6. 726

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etwa beim Frauenwahlrecht, auf entsprechende Weiterentwicklungen der Bundesverfassung. Auf der Ebene der Union blieb und bleibt die Entwicklung auf normale Gesetze und Entscheidungen des Supreme Court beschränkt. Die Rechteentwicklung in den Einzelstaaten mag die Diskussion befruchten, doch der Weg zu Auswirkungen auf die Bundesverfassung ist langwierig, steinig und ungewiss. Gerade angesichts der so verbreiteten geringen Beachtung der einzelstaatlichen Entwicklung, verdienen diese, näher betrachtet zu werden. Von den drei Untergruppen der amerikanischen Rechteerklärungen, grundlegende Prinzipien, aktiv übertragene Rechte und passiv gewährten Schutz, war die erste Gruppe die am wenigsten dynamische. Nach der Rechteerklärung von Virginia von 1776 mit ihren drei grundlegenden Prinzipien war kein neues „Grundprinzip“ während der ganzen hier betrachteten Zeitspanne hinzugefügt worden. Hinsichtlich des gewährten Schutzes lag ihr prozentualer Anteil in dem kumulativen Rechtekatalog bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei deutlich über 50 % und prägte den Charakter dieser Erklärungen. Das sollte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts nachhaltig ändern. Zwar sind die zur Verfügung stehenden Zahlen an neu hinzugefügten Rechten sowohl für die Periode von 1802 – 1821 wie für 1832 – 1849 zu klein, um verlässliche Aussagen treffen zu können. Doch es ist unverkennbar, dass das 19. Jahrhundert den aktiven Rechten des Einzelnen größeres Gewicht beimaß als dem passiv durch den Staat gewährten Schutz. Damit einhergeht, wie an andere Stelle dargelegt wird,731 der schleichende Wandel des Charakters der amerikanischen Rechteerklärungen von einem stärker die Gesellschaft betonenden Rechtsverständnis hin zur Individualisierung der Rechte. Ein Blick auf die Rechteerklärungen, die zwischen 1802 und 1849 konzipiert wurden, bestätigt diesen Eindruck. In einer Zeit, in der der Einzelne seine gesamte Energie brauchte, um voranzukommen und die Vereinigten Staaten sich in riesigen Schritten über den gesamten Kontinent bis zum Pazifik ausdehnten, erschien es angebrachter, ihn mit einer Batterie aktiv zu nutzender Rechte auszustatten, statt einen Schutzschirm über ihm aufzuspannen, für dessen Aufrechterhaltung eine mitunter schwache und weit entfernte Regierung kaum stets erfolgreich hätte eintreten können. Eine Untersuchung der zwanzig in den amerikanischen Rechteerklärungen am häufigsten anzutreffenden Rechte bestätigt diesen Eindruck (vgl. Anhang III). Zwischen 30 und 51 der insgesamt 51 Verfassungen enthalten diese Bestimmungen. Lediglich bei zwei dieser zwanzig populärsten Bestimmungen handelt es sich um passiv gewährten Schutz: die Schutzklausel, im Falle einer Enteignung eine gerechte Entschädigung zu erhalten (35 mal) und der Schutz vor Zwangsbeiträgen zu Kirchen (34 mal). Hingegen wurden 20 der 33 1776 und 1777 eigefügten Schutzbestimmungen von nicht einmal der Hälfte der 51 Verfassungen übernommen. Auch damit bestätigt sich wiederum der Eindruck von der Gewichtsverschiebung innerhalb der amerikanischen Rechteerklärungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin zu 731

Vgl. dazu unten Kap. V. 8.

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Erklärungen, die stärkeres Gewicht auf aktiv übertragene Rechte anstelle von den anfangs so prägenden Bestimmungen, die passiven Schutz gewähren.732 Es war nicht allein diese Veränderung, die die amerikanischen Rechteerklärungen von 1776 bis 1849 kennzeichnete, sondern auch jene von einer politischen Thematik hin zu wirtschaftlichen Aktivitäten. Von den 63 Bestimmungen der Jahre 1776 – 1778 übertrug keine wirtschaftliche Rechte, doch knapp 10 % wirtschaftlichen Schutz. Von den 31 Bestimmungen von den 1780er Jahren bis 1849 hatten über ein Drittel eine wirtschaftliche Thematik, wobei der anfangs überwiegende Schutz im Laufe des 19. Jahrhunderts dem aktiv gewährten Recht Platz machte. Der Verdeutlichung dieses Strukturwandels dient der Anhang IV. Von den 26 Bestimmungen der Rechteerklärung von Virginia entfallen drei auf die grundlegenden Prinzipien.733 Von den verbleibenden 23 Bestimmungen lassen sich fünf als politische Rechte fassen mit zwei weiteren, die diesem Bereich verwandt sind: Pressefreiheit und Religionsfreiheit; eine weitere betrifft das Eigentumsrecht. Diese acht Bestimmungen verteilen sich auf Anfang und Ende der Erklärung734 und sind durch fünfzehn Schutzbestimmungen geteilt, die fast zur Hälfte dem Bereich des Strafverfahrens angehören. Fragen wir nach dem Werdegang der Virginia-Bestimmungen drei bis elf – eins und zwei gehören zu den grundlegenden Prinzipien –, so begegnen wir sechs dieser neun Bestimmungen wiederum am Beginn der Rechteerklärung von Maryland von 1776 und fünf am Beginn des ersten Kapitels der Verfassung von Pennsylvania von 1776.735 Am Ende unseres Analysezeitraums war davon in den Verfassungen von Illinois von 1848 und Kalifornien von 1849 jeweils eine übriggeblieben,736 während 732 Kermit L. Hall in seiner Untersuchung der Einzelstaatsverfassungen dieser Periode kennzeichnete sie mit dem Ausdruck „[a]nhaltender Antigouvernementalismus“, vgl. Kermit L. Hall, „Mostly Anchor and Little Sail. The Evolution of American State Constitutions“, in: Toward a Usable Past: Liberty under State Constitutions, hrg. v. Paul Finkelman und Stephen E. Gottlieb, Athens, Ga.: University of Georgia Press, 1991, 402. 733 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 1, 2, 25, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 153, 154. 734 Hierbei handelt es sich um Abs. 3, 7, 8, 18, 19, 20, 23 und 26, ebd. 735 Die Bestimmungen der Rechteerklärung von Virginia: Widerstandsrecht, Gewaltentrennung, freie Wahlen und Wahlrecht, Sicherheit des Eigentums und Suspendierung von Gesetzen (Rechteerklärung, Abs. 3, 5, 6 und 7) wurden in der Rechteerklärung von Maryland von 1776, Abs. 3 – 7) (ebd., III, 239 – 240) und die über private Vergütungen, Widerstandsrecht, Ämterrotation, freie Wahlen und das Wahlrecht in der Verfassungen von Pennsylvania von 1776, Kap. I, Abs. 5 – 7 ebd., V, 322 – 323) übernommen. 736 Vgl. die Bestimmung über freie Wahlen (Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 6) in der Verfassung von Illinois von 1848 (Art. XIII, Abs. 5) und das Widerstandsrecht (Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 3) in der Verfassung von Kalifornien von 1849 (Art. I, Abs. 2) (ebd., II, 163, I, 149). Was hier als Widerstandsrecht bezeichnet wird, bezieht sich auf das Recht des Volkes, seine Verfassung zu ändern oder abzuschaffen. Zumal am Anfang unseres Zeitraums wurde dieses Recht mitunter ausschweifend begründet: „Wann immer die Ziele der Regierung missbraucht werden und die öffentliche Freiheit offenkundig gefährdet ist allein durch die Legislative oder eine heimtückische Verbindung beider [der legislativen und exekutiven Gewalt], kann das Volk und aufgrund von Recht sollte es eine neue Regierung bilden oder die alte reformieren“ (Rechteerklärung von Delaware von 1776, Abs. 5, ebd. I, 211) oder in

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in den Verfassungen von New York von 1846 und Wisconsin von 1848 keine mehr auftauchte. Die Veränderungen waren mehr als lediglich eine Frage der Hierarchie. Von allen politischen Bestimmungen der Rechteerklärung von Virginia von 1776: Widerstandsrecht, keine exklusiven Vergütungen, Gewaltentrennung, Ämterrotation, freie Wahlen, Wahlrecht, Zustimmung der Legislative und keine Suspendierung von Gesetzen ohne Zustimmung der Legislative hatten nach mehr als siebzig Jahren gerade einmal zwei überlebt, die freien Wahlen in Illinois und das Widerstandsrecht in Kalifornien. Alle anderen politischen Bestimmungen waren verschwunden, nicht immer grundsätzlich aus der Verfassung, doch aus den Artikeln über die Rechte; sie fanden sich gegebenenfalls in den Artikeln über Aufbau und Funktion der Regierungsorgane wieder. Doch zwei Bestimmung aus dem hinteren Teil der Rechteerklärung von Virginia von 1776 erfreuten sich anhaltender Popularität, die Bestimmung gegen stehende Heere, die bis 1849 in 27 Erklärungen wieder auftauchte,737 und jene über die Unterordnung der militärischen Gewalt unter die zivile Gewalt, die sich in 40 Erklärungen findet.738 Die Rechteerklärung von Virginia hatte mit einem Rückgriff auf das Naturrecht, der Volkssouveränität und dem Widerstandsrecht begonnen, um dann mit Bestimmungen über politische Rechte fortzufahren und mit der Verkündung der Religionsfreiheit zu enden. Die Mehrzahl der nachfolgenden Erklärungen begannen ebenso, seltener mit dem Naturrecht, häufiger mit der Volkssouveränität, gegebenenfalls auch mit beidem. Beginnend mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790 bis zur Verfassung von Kalifornien von 1849 erschien das Widerstandsrecht in mehr als 20 Erklärungen an zweiter bis vierter Stelle. Doch hinsichtlich der übrigen BeNew Hampshire, die 1784 hinzugefügt hatte: „Die Verwerfung des Widerstandsrechts gegen willkürliche Gewalt und Unterdrückung ist absurd, sklavisch und wider das Wohl und das Glück der Menschheit“ (Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl. I, Art. 10, ebd., IV, 360). Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Passage in der Verfassung von Kalifornien von 1849 recht prosaisch geworden: „[Das Volk] hat das Recht, [die Regierung] zu ändern oder zu reformieren, wann immer es das öffentliche Wohl erfordern mag“ (Verfassung von Kalifornien von 1849, Art. I, Abs. 2, ebd., I, 149). 737 Anne Norton, Alternative Americas. A Reading of Antebellum Political Culture, Chicago und London: University of Chicago Press, 1986, 118, ist gewiss zuzustimmen, wenn sie betont, dass der Widerstand gegen stehende Heere insbesondere die Generation der Revolution charakterisierte. Doch kann ihr nicht zugestimmt werden, wenn sie schreibt, dass der Widerstand dagegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zumal im Norden rückläufig war, „während er im Süden konstant blieb“. Im Gegenteil erschien diese Bestimmung zwischen 1802 und 1849 in den Rechteerklärungen von Ohio, Maine, Pennsylvania, Iowa und Kalifornien im Norden, plus Delaware, doch im Süden nur in Mississippi, Alabama, Tennessee und Florida. Das gleiche gilt für ihre Behauptung, die Unterordnung der militärischen unter die zivile Autorität sei Ausdruck „der Fortdauer der klassischen republikanischen Ideologie im Süden“ (ebd., 123). Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fand sich diese Bestimmung in den Rechteerklärungen von zwölf Nordstaaten, doch lediglich in sechs Südstaaten. Hinzu kommen die beiden Grenzstaaten Missouri und Delaware. 738 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 13, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VIII, 154.

7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen

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stimmungen der Rechteerklärung von Virginia hatte sich deren Anordnung vollständig aufgelöst. Bereits die Rechteerklärung von Delaware von 1776 hatte die Religionsfreiheit an zweite Stelle angehoben,739 ein herausgehobener Rang (erste bis vierte Stelle), der in der Folge von der Hälfte der Verfassungen übernommen wurde, darunter besonders prominent die Bill of Rights der Bundesverfassung. Was die Pressefreiheit angeht – vierzehn Mal auf einer der ersten sieben Plätze –, rückte sie gegenüber Virginia ebenfalls nach vorne, doch scheint ihre herausgehobene Positionierung in der Bill of Rights weniger beispielgebend gewirkt zu haben als bei der Religionsfreiheit. Wisconsin räumte 1848 der Pressefreiheit mit einem zweiten Rang die herausgehobenste Platzierung unter allen amerikanischen Staatsverfassungen ein.740 Jenseits des Bereichs der politischen Rechte waren die Veränderungen subtiler. Auf die deutliche Zunahme der Bestimmungen wirtschaftlichen Inhalts zwischen 1802 und 1849 wurde bereits hingewiesen. Aus der Perspektive von 1849 waren fast die Hälfte der wirtschaftlichen Bestimmungen im amerikanischen Rechtekatalog im 19. Jahrhundert entstanden. Das war zwar keine Revolution, doch im 19. Jahrhundert hatten wirtschaftliche Aspekte erheblich an Bedeutung gewonnen und zunehmenden Einfluss auf die Verfassungsentwicklung genommen. Diese Entwicklung verdeutlicht nicht allein die Bestimmung über eine angemessene Entschädigung, die in 35 Erklärungen verankert wurde, sondern mehr noch die Sicherheit des Schuldners, die erstmals in Pennsylvania 1790 eingeführt worden war741 und von 22 Erklärungen aufgrund ihrer Popularität zumal in den Agrarstaaten des Westens aufgegriffen wurde. Diese Bestimmung dokumentiert damit zugleich, dass nicht stets die großen Industrie- und Finanzinteressen die Oberhand behielten. Abhängig von der jeweiligen Situation waren es vielmehr häufig die Ängste der Farmer und der Mittelschicht in den Jahren der Wirtschaftskrisen, die den Verfassungen zumal im Westen ihren Stempel aufdrückten. Eine amerikanische Besonderheit, zumindest in dieser Breite, waren die verbreiteten Bestimmungen zum Strafrecht und zum Strafverfahren. Dabei stammen zehn Bestimmungen zum Strafrecht aus dem 18. und lediglich drei aus dem 19. Jahrhundert. Noch dramatischer ist die Verteilung bei jenen zum Strafverfahren: allein acht entfallen auf die Jahre 1776 – 1778, ergänzt um zwei weitere von 1790. Lediglich eine (über die writs of error) gehört mit der Verfassung von Wisconsin von 1848 dem 19. Jahrhundert an. Zwanzig dieser insgesamt 24 Bestimmungen beider Gruppen atmen daher den Geist des 18. Jahrhunderts. An der Spitze standen der Geschworenenprozess, „der wahre Hort der freien Regierung“,742 „der beste Garant für die Bürger […] gegen öffentliches und privates 739 740 741 742

Ebd., I, 211. Vgl. Verfassung von Wisconsin von 1848, Art. I, Abs. 3, ebd., VII, 208. Vgl. Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 16, ebd., V, 368. The Federalist, Nr. 83 (hrg. v. Cooke, 562).

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Unrecht“743 – die einzige Bestimmung, die in allen 51 Erklärungen erschien; die Rechte des Beschuldigten in Strafverfahren – eine komplexe Gruppe von Rechten, darunter das Recht auf ein zügiges öffentliches Verfahren, das Recht, den Zeugen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt zu werden und das Recht auf Entlastungszeugen – (in 44 Erklärungen); danach das Recht auf Aussageverweigerung (in 41 Erklärungen). Kaum weniger populär waren die sogenannte due process Klausel, mit der das Recht verankert wurde, durch seines Gleichen gerichtet zu werden oder nach dem Recht des Landes (in 38 Erklärungen), das Verbot überhöhter Kaution (37 mal), der Schutz der Habeas corpus Bestimmung (36 mal), das Verbot von rückwirkenden Gesetzen (35 mal), die Bestimmung gegen grausame und ungewöhnliche Bestrafung (34 mal) und schließlich die Klausel, nach einem Freispruch für die gleiche Tat nicht nochmals vor Gericht gestellt werden zu dürfen (in 32 Erklärungen). Angesichts der Tatsache, dass die Habeas corpus Bestimmung sowie die letzterwähnte Klausel erst 1777 bzw. 1784 in den Rechtekatalog eingefügt wurde, war ihre Popularität seit den 1790er deutlich größer, als das in der genannten Zahl der Gesamterwähnungen zum Ausdruck kommt. Einmal eingeführt, erreichten sie vielmehr eine bemerkenswerte Akzeptanz. Neben diesen mehr oder weniger allgemein akzeptierten Rechten fügte jede Zeit ihre eigenen Vorstellungen hinzu. Das Recht auf eine Anklage durch eine Anklagejury wurde durch die Bill of Rights von 1791 dem Rechtekatalog einverleibt.744 Delaware bestand 1792 darauf, dass die neu errichteten Gefängnisse auf die Gesundheit der Inhaftierten Rücksicht zu nehmen hatten.745 Vier Jahre später fügte Tennessee hinzu, dass die Einsitzenden nicht mit unnötiger Härte zu behandeln seien.746 Alle diese Klauseln ließen den anhaltenden Einfluss der englischen Strafrechtstradition und das wachsende amerikanische Bewusstsein erkennen, dass grundlegende Reformen dringend notwendig waren. Maryland war 1776 der erste Staat, der erklärte, „[d]ass blutrünstige Gesetze vermieden werden sollten“,747 ein Appell, der in der Folge wiederholt wurde und 1819 in die klare Bestimmung der Rechteerklärung von Maine mündete: „Blutrünstige Gesetze sind nicht zu verabschieden.“748 Der Grund für die verbreitete Ablehnung der Todesstrafe fand ihren bemerkenswertesten, geradezu an Beccaria erinnernden Ausdruck in der Rechteerklärung von New Hampshire von 1784: „Alle Strafen sollten der Natur der Straftat angepasst sein […] Aus demselben Grund ist die Fülle der blutrünstigen Gesetze sowohl unklug als auch ungerecht. Das wahre Ziel aller Strafen ist, die Menschheit zu 743 Benjamin L. Oliver, The Rights of an American Citizen; with a Commentary on State Rights, and on the Constitution and Policy of the United States, Boston: Marsh, Capen & Lyon, 1832, 269. 744 Vgl. V. Zusatzartikel zur Bundesverfassung, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, I, 82. 745 Verfassung von Delaware von 1792, Art. I, Abs. 11, ebd., 222. 746 Verfassung von Tennessee von 1796, Art. XI, Abs. 13, ebd. VI, 67. 747 Rechteerklärung von Maryland von 1776, Abs. 14, ebd., III, 240. 748 Verfassung von Maine von 1819, Art. I, Abs. 9, ebd., 204.

7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen

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reformieren, nicht sie auszurotten.“749 Es war diese letzte Bemerkung, die in der Folge bis nach Illinois 1848 reiste,750 wo, wie man daraus schließen sollte, sie rund 65 Jahre später nichts an Aktualität verloren hatte. Die Besonderheit der amerikanischen Rechteerklärungen bestand nicht in den Bestimmungen über das Strafrecht und seine Reform, sondern in der erhöhten Zahl von Regelungen über den Strafprozess, wobei das Übergewicht in den Jahrzehnten bis zur Jahrhundertmitte besonders auffallend ist. Ursprünglich lag der Anteil der Bestimmungen zum Strafprozess- und Strafrecht bei rund 20 – 25 % und fiel mit den Radikalen von Pennsylvania 1776 auf weniger als 15 %. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war ihr Anteil im Gegensatz zu fehlenden verfassungsrechtlichen Ergänzungen beträchtlich gestiegen und umfasste nunmehr zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Bestimmungen in den Rechteerklärungen, was dieser Rechtsgruppe eine dominierende Stellung einräumte und auch aus dieser Perspektive den bereits angedeuteten allmählichen Wandel der Rechteerklärungen von einer vorwiegend gesellschaftlichen Orientierung hin zu einer strikt individualistischen Ausrichtung unterstreicht. Rechte allgemeinerer Natur fanden angesichts dieser Entwicklung nahezu keine Beachtung wie etwa das Recht, nicht länger als 24 Stunden inhaftiert werden zu dürfen ohne die Anordnung eines unabhängigen Richters, das in keine Verfassung in dieser Zeit Eingang fand, oder jene Rechte, die verstärkt staatliches Handeln erforderten, um Bestrebungen und Bedrohungen durch andere Individuen oder gesellschaftliche oder religiöse Gruppierungen abzuwehren. In dem ständigen unterschwelligen Konflikt zwischen dem Individuum und dem Staat setzten der Verfassungsgeber zunehmend auf den ersteren zum Nachteil des letzteren. Damit vollzog sich keine Rückkehr zu dem Radikalismus des Sommers von 1776, sondern drückten sich die vielfältigen Herausforderungen der Demokratie im Zeitalter von Andrew Jackson und der nachfolgenden Jahrzehnte bis zum Bürgerkrieg aus. Waren im späten 18. Jahrhundert die Geschworenen als die Stimme des Volkes gesehen worden, die daher als das entscheidende Bollwerk zum Schutz des Individuums gegen tyrannische Anforderungen der Regierung galten – eine Überzeugung, die sich wesentlich aus den Erfahrungen des englischen 17. Jahrhunderts, der Kolonien vor der Unabhängigkeit, also den oben diskutierten Jahren von 1763 bis 1776, speiste751 – gewannen die Geschworenen eine ganz neue Bedeutung in der veränderten politischen und ökonomischen Welt nach 1830. Nun musste der Ein749

Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl I, Art. 18, ebd. IV, 361. Der Passus wurde wiederholt in den Verfassungen von New Hampshire von 1792 (Tl. I, Art. 18), von Ohio von 1802 (Art. VIII, Abs. 14) und von Illinois von 1818 (Art. VIII, Abs. 14) und von 1848 (Art. XIII, Abs. 14), ebd., 393, V, 204, II, 133, 164. In Kalifornien fand sich der Verfassungskonvent 1849 nicht bereit, eine ähnliche Klausel anzunehmen, vgl. Christian G. Fritz, „More Than ,Shreds and Patches‘: California’s First Bill of Rights“, in: Hastings Constitutional Law Quarterly, 17 (1989/1990), 27 – 28. 751 Vgl. Shannon C. Stimson, The American Revolution in the Law. Anglo-American Jurisprudence before John Marshall, Houndsmill: Macmillan, 1990, 69 – 89. Ferner oben Kap. III. 1. 750

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III. Nordamerika

zelne zunehmend mit Hilfe der Geschworenen Schutz für sein Eigentum vor der Spekulation und der Gier der Banken und der großen Industrieunternehmen und Eisenbahngesellschaften suchen.752 Ohne vergleichbare Erfahrungen in anderen Teilen der Welt zu diesem Zeitpunkt gaben sie den amerikanischen Rechteerklärungen ihren besonderen Charakter, indem sie den Einzelnen in der Überzeugung bestärkten, dass ausgedehnte Rechteerklärungen wertlos waren, solang sie den Einzelnen nicht mit dem erforderlichen rechtlichen Werkzeug ausstatten, gestärkt durch sie in den Gerichten Schutz für seine Rechte und Interessen zu finden. Die amerikanischen Rechteerklärungen beschränkten sich nicht darauf, allgemeine politische Prinzipien und erhabene Grundsätze über den Menschen innerhalb der Gesellschaft und seine Beziehung zum Staat aufzustellen. Im Gegenteil, abgesehen von dem Rückgriff auf das Naturrecht und die Volkssouveränität in der Erklärung von Virginia – was Maryland einige Monate später mit dem Recht des Volkes, sich selbst zu regieren, ergänzte753 – waren die amerikanischen Erklärungen im Allgemeinen auf genaue und praktische Bezüge begrenzt. Bestehende Wortlaute und Standardformulierungen, die allgemein akzeptiert waren, wurden in den betreffenden Bestimmungen die ganze Zeit über und durch alle Staaten hindurch ständig wiederholt. Der eigene Ehrgeiz, Bekanntes und Anerkanntes in immer wieder neuen Wortspielen zu variieren, war kein Kennzeichen der amerikanischen Erklärungen. Im Gegenzug wurde dadurch der Eindruck andauernder Wiederholung geweckt und den nachfolgenden Konventen vorgehalten, sich auf das Kopieren voraufgegangener Klauseln zu beschränken, ohne sich zu eigenen intellektuellen Anstrengungen aufzuraffen. Der Vorteil liegt jedoch in der Wiedererkennung gleicher Rechte und dem leichten Identifizieren selbst minimaler Abweichungen, die allein aufgrund ihres Abweichens vom Standard besondere Aufmerksamkeit verdienen. Rechtskontinuitäten werden damit sichtbar und Unsicherheiten über die Bedeutung eines Rechts werden tendentiell minimiert.754 Der präzise und pragmatische Charakter der Erklärungen bestimmte daher die Natur ihres Wandels. Von Anbeginn wurden einige Rechte für wichtiger gehalten als andere, und dies konnte sich in der Rangordnung innerhalb eines Dokuments ausdrücken.755 Eine Änderung in der Abfolge der Anordnung konnte einen Wandel in der Bedeutung ausdrücken, wie allein schon die Tatsache, ob eine Bestimmung nachfolgend aufgegriffen wurde oder nicht, einen Hinweis auf ihre Bedeutung und den 752 Vgl. Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1780 – 1860, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press, 1977, bes. 84 – 85. 753 Rechteerklärung von Maryland von 1776, Abs. 2, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 239. 754 Vgl. Fritz, „More Than ,Shreds and Patches‘“, 13 – 34; ders., „The American Constitutional Tradition Revisited: Preliminary Observations on State Constitution-Making in the Nineteenth-Century West“, in: Rutgers Law Journal, 25 (1994), bes. 975 – 984. 755 Zur Frage der Hierarchie von Rechten, vgl. Milton R. Konvitz, Fundamental Rights. History of a Constitutional Doctrine, New Brunswick, N.J. und London: Transaction Publishers, 2001, 1 – 19.

7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen

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Grad ihrer Akzeptanz in späterer Zeit anzudeuten vermag. So wird die Frage, ob Ämterkumulation ein Thema war oder nicht, vermutlich eher durch die Tatsache beantwortet, dass keine zweite Erklärung diese Bestimmung aufnahm, als durch den Rang, den diese Klausel in der Rechteerklärung von Maryland von 1776 einnahm.756 Wiederholungen waren daher weniger Ausdruck bequemen Kopierens als ein wichtiger Indikator, der uns darüber informiert, welche Rechte für Wert befunden wurden, in eine Rechteerklärung aufgenommen zu werden. Änderungen fanden auch auf einem anderen Gebiet statt. 1776 waren Rechteerklärungen eigenständige Dokumente, gesondert verabschiedet und gingen dem Teil, der zumeist Regierungsform genannt wurde, voraus. Beides zusammen war die Verfassung. Ab 1777 hörte diese Zweiteilung auf, und die Rechteerklärung wurde durchweg zum ersten Artikel der Verfassung. Diese Voranstellung ergab sich daraus, wie bereits erwähnt, dass die Rechteerklärung als der Ort angesehen wurde, die Grundprinzipien der nachfolgenden Regierungsform festzulegen. Daher finden sich hier viele Bestimmungen, wie Gewaltentrennung und ähnliches, die später dort verschwanden. Das passierte umso eher, nachdem mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790 die Rechteerklärung an das Ende der Verfassung rückte, womit sie ihren für die Verfassung grundlegenden Charakter endgültig verloren hatte und formal zu einer Rechteerklärung nach heutigem Verständnis und zu einem Verfassungsteil unter anderen wurde. Doch die Frage nach dem Ort der Rechteerklärung blieb damit erst recht in der Diskussion, wobei sich letztlich in den amerikanischen Staatsverfassungen bis zum Bürgerkrieg durchsetzte, dass sie an den Anfang der Verfassung gehörte.757 Abschließend erscheint es angebracht, einen knappen vergleichenden Blick auf die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zu werfen. Seit der einschlägigen Publikation von Georg Jellinek von 1895 ist, mitunter mehr unter nationalistischen als unter wissenschaftlichen Vorzeichnen eine Diskussion über den Ursprung der französischen Erklärung geführt worden.758 Ohne auf diese 756 Rechteerklärung von Maryland von 1776, Abs. 32, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 241. 757 Mehr dazu oben in Kap. III. 3. Diese Diskussion war auch in Deutschland nicht unbekannt. In der Paulskirchenverfassung und in der Verfassung der Weimarer Republik standen die Grundrechte am Ende der Verfassung. Das Grundgesetz hat sie 1949 mit Recht wieder an die Spitze der Verfassung gerückt. Vgl. dazu die einschlägigen Kapitel des Teils VI. 758 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig: Duncker & Humblot, 1895, der auf die amerikanischen Ursprünge verwies und damit die bekannte Entgegnung provozierte von Emile Boutmy, „La Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen et M. Jellinek“, in: Annales des sciences politiques, 17 (1902), 415 – 443. Die heutigen Positionen sind klar ausgebreitet von Marcel Gauchet, La Révolution des droits de l’homme, Paris: Gallimard, 1989, 36 – 59; vgl. auch die Beiträge zur Entstehung der französischen Erklärung, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, ses origines – sa pérennité, hrg. v. Claude-Albert Colliard u. a., Paris: La Documentation française, 1990, 21 – 155; Terence Marshall, „Les Droits de l’homme et la politique constitutionnelle: Un dialogue franco-américain à l’époque révolutionnaire“, in: 1791: La première constitution française. Actes du colloque de Dijon, 26 et 27 septembre 1991,

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III. Nordamerika

Debatte näher einzugehen, ergibt sich bereits aus dem bisher Gesagten, dass die amerikanischen Rechteerklärungen sich wesentlich von der französischen Erklärung unterscheiden.759 Betrachten wir die französischen Bestimmungen über Freiheit und Gleichheit, soziale Unterscheidungen, die Prinzipien von Freiheit und Gesetz, den Charakter des Gesetzes und die Unterwerfung unter das Gesetz,760 über die öffentliche Macht oder die Grundlage der Verfassung, ist es schwierig, entsprechende Bestimmung in irgendeiner amerikanischen Staatsverfassung zu finden. Zwölf der 21 Bestimmungen der französischen Erklärung befassen sich mit grundlegenden Prinzipien,761 drei mit aktiv übertragenen Rechten, die verbleibenden sechs gewähren passiv Schutz. Die übertragenen Rechte gehören in den sozialen (2) und wirtschaftlichen Bereich (1), während der gewährte Schutz sich auf politische (1) und wirtschaftliche Bereiche (2) sowie auf das Strafrecht (3) bezieht (vgl. Anhang II). Von wenigen sehr spezifischen Übereinstimmungen abgesehen, ist es nur schlecht vorstellbar, wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerechte in den amerikanischen Kontext des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts passen könnte. Ohne Frage stimmten die amerikanischen Vorstellungen des Sommers 1776 mit dem Glauben an das Volk als Wächter und Beschützer seiner Rechte sehr viel deutlicher mit den französischen Vorstellungen dreizehn Jahre später überein. Doch in Amerika hatten diese Ideen rasch dem wirkungsmächtigeren und konservativeren Vorstellungen, die Macht der Regierenden zu beschränken, Platz gemacht, womit, hrg. v. Jean Bart u. a., Paris: Economica, 1993, 395 – 408; Eric Peuchot, „L’Influence des idées américaines sur les constituents“, in: Gilbert Bodinier u. a. (Hrg.), La France de la Révolution et les Etats-Unis d’Amérique, Paris: Masson, 1995, 22 – 34; Michel Troper, „Jefferson et l’interprétation de la Déclaration des droits de l’homme de 1789“, in: Revue française d’histoire des idées politiques, 9 (1998), 3 – 23. 759 Allein unter strikter Beachtung der Chronologie wird man feststellen müssen, dass die Debatten des Kongresses über die von Madison vorgelegte Bill of Rights nahezu zeitgleich mit den Debatten der französischen Nationalversammlung über die Menschen- und Bürgerrechte stattfand, so dass allein schon angesichts der zeitbedingt eingeschränkten Möglichkeiten der Kommunikation ein direkter Einfluss der einen auf die andere praktisch ausgeschlossen ist, vgl. Creating the Bill of Rights. The Documentary Record from the First Federal Congress, hrg. v. Helen E. Veit u. a., Baltimore und London: Johns Hopkins University Press, 1991, und Thomas Jefferson an James Madison, 28. August 1789, in: Papers of James Madison, XII, 360. Jeffersons Briefe an Madison vom 22. und 29. Juli 1789, ebd., 303 – 306, 315, enthalten keine Bemerkungen über die Beratungen der Nationalversammlung, noch finden sich diese in seinen Briefen an andere Adressaten aus den Monaten Juli und August, vgl. The Papers of Thomas Jefferson, hrg. v. Julian P. Boyd, XV, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1958, 230 – 231, 268 – 269, 286, 326, 358, 364, 367 – 368. 760 Über die Bedeutung von „Gesetz“ in der französischen Erklärung, vgl. Lucien Jaume, La Liberté et la loi. Les origines philosophiques du libéralisme, Paris: Fayard, 2000, 331 – 335. 761 „Tatsächlich war es genau in dem Augenblick, wo sie sich mit ihrer Abstraktion zufrieden zu geben schienen, dass die großen Prinzipien die Aufgabe hatten, auf die demokratische Gesellschaft und Regierung einzuwirken: das war genau die Absicht, die die ersten Redakteure bewegte“, Lucien Jaume, „Avant-Propos“, in: Les Déclarations des droits de l’homme (Du Débat 1789 – 1793 au Préambule de 1946), hrg. v. dems., Paris: Flammarion, 1989, 19.

7. Die Entwicklung der Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen

285

wie gezeigt wurde, die Macht der Legislative und damit letztlich die des Volkes selbst eingeschränkt wurde. Dieses Konzept war und ist zumindest bis 2008 in Frankreich ohne jede Grundlage gewesen, wo die Revolution die rechtliche Grundlage der Macht gelegt hatte, wie Michel Troper betont hat.762 Selbst die nachhaltige Demokratisierung des amerikanischen Lebens seit Jackson konnte das Land nicht näher an die französische Erklärung heranbringen. Im Gegenteil führte sie zur immer stärkeren Individualisierung des Rechts und zur Ökonomisierung der Gesellschaft auf Kosten des Staates.763 Der Zweck der amerikanischen Erklärungen ist und bleibt verschieden von der französischen Erklärung. Die Mehrheit der in den Vereinigten Staaten erklärten Rechte befähigt den Einzelnen, gerichtlich vorzugehen, wann immer seine Rechte bedroht oder beeinträchtigt sind. In Frankreich, so die Theorie, sichert sie das korrekte Vorgehen des Staates nach demokratischen Prinzipien sowie die Herrschaft des Gesetzes die Rechte und Freiheiten des Einzelnen, selbst wenn der Einzelne auf Grundlage der Menschen- und Bürgerrechtserklärung nur mit begrenzten Mitteln des Klagerechts versehen ist.764 Über zweihundert Jahre der Diskussion über die Bedeutung der Bill of Rights der Bundesverfassung, zumal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und beflügelt durch die Diskussion über die Einzelstaatsverfassungen, haben wesentlich zu der Auffassung von der Bedeutung der Rechte des Einzelnen und der Rolle und Grenzen des Staats geführt, wohingegen in Frankreich eine vergleichsweise lange Menschenrechtstradition immer wieder überlagert wurde von Fragen der politischen Legitimation mit der Folge, dass die Debatte sich letztlich nicht auf den Einzelnen und seine Rechte, sondern auf die Theorie des Staates und seine Macht konzentrierte. Im Gegensatz zur französischen Erfahrung verfügt die amerikanische Geschichte über einen riesigen Schatz von Rechteerklärungen, der immer noch kaum gehoben ist. Dabei muss man sich jedoch eingestehen, dass die amerikanischen Rechteerklärungen vor 1789 nicht als reine Vorgeschichte der Bill of Rights der Bundesverfassung zu verstehen sind, während nach 1791 bis zum Bürgerkrieg und letztlich bis heute, die einzelstaatlichen Rechteerklärungen sich weiter entwickelten, während die Bill of Rights der Union unverändert und trotz weiterer Zusatzartikel ab 1865 im Grunde begrenzt und weitgehend unabhängig von der Einzelstaatsentwicklung ge-

762

Troper, „Jefferson et l’interprétation de la Déclaration de 1789“, 13 – 16. Vgl. dazu auch unten Kap. V. 2. 763 Vgl. dazu Charles Sellers, The Market Revolution. Jacksonian America, 1815 – 1846, New York und Oxford: Oxford University Press, 1991. 764 In seiner Entscheidung vom 23. August 1985 zur Entwicklung in Neukaledonien hat der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) erstmals erklärt, „dass das Gesetz nur ,den Ausdruck der allgemeinen Willens‘ gemäß der Definition der Rechteerklärung von 1789 ,in Hinsicht auf die Verfassung offenbart‘ […] Das bedeutet, dass der Verfassungsrichter nicht selbst das Gesetz korrigiert, denn das ist das Werk des Gesetzgebers“, Louis Favoreu und Loïc Philip, Les grandes décisions du Conseil constitutionnel, Paris: Dalloz, 101999, 653 – 654.

286

III. Nordamerika

blieben ist.765 Die Weiterentwicklung der Rechte auf Bundesebene ist wesentlich das Werk des Supreme Court und weitgehend abgetrennt von den Einzelstaaten. Zweifellos lässt sich bei aller Bedeutung der Rechteerklärungen der Einzelstaaten nicht übersehen, dass diese mitunter ihre Schwächen und Lücken haben, indem Rechte unerwähnt bleiben, die anderswo längst etabliert und gesichert sind. Ebenso offenkundig ist, dass sie im Allgemeinen weniger kreativ waren, wie dies mitunter anderenorts gewesen ist.766 Dennoch wird man sagen müssen, dass die Bedeutung der einzelstaatlichen Rechteerklärungen bei allen ihren Mängeln weit größer ist als ihre allgemeine Vernachlässigung nahelegt, zumal in ihnen mitunter jene landesweit diskutierten Rechte konstitutionalisiert wurden, die sich auf Bundesebene angesichts der extremen verfassungsrechtlichen Hürden der Bundesverfassung nicht durchsetzen ließen. Dennoch erscheinen die vereinzelten Bemühungen vor einigen Jahrzehnten, sie der verbreiteten Missachtung zu entreißen,767 bislang ohne dauerhaften Erfolg geblieben zu sein.

765 Vgl. Morton Keller, „The Politics of State Constitutional Revision, 1820 – 1930“, in: The Constitutional Convention as an Amending Device, hrg. v. Kermit L. Hall u. a., Washington, D.C.: American Historical Association and American Political Science Association, 1981, 68. 766 So hat z. B. die Paulskirche einen Grundrechtekatalog mit 60 Artikeln (Art. 130 – 189) aufgestellt und damit mehr als nahezu jede andere Verfassung der letzten gut 200 Jahre. 767 Vgl. Robert S. Rankin, „The Bill of Rights“, in: Major Problems in State Constitutional Revision, hrg. v. W. Brooke Graves [1960], Westport, CT: Greenwood Press, 1978, 159 – 175; William J. Brennan, Jr., „State Constitutions and the Protection of Individual Rights“, in: Harvard Law Review, 90 (1977), 489 – 504; Hans A. Linde, „First Things First: Rediscovering the States’ Bills of Rights“, in: University of Baltimore Law Review, 9 (1980), 379 – 396; ders., „Developments in the Law: The Interpretation of State Constitutional Rights“, in: Harvard Law Review, 95 (1982), 1324 – 1502.

7. Die Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen – Anhang

287

Anhang I: Erklärte Rechte nach Verfassung und Jahr (Aufgenommen wurden lediglich die 51 Verfassungen mit erklärten Rechten; Kursivsetzung der Staaten und Jahre bedeutet, dass die betreffende Verfassung keine bislang nicht erklärten Rechte dem Rechtekatalog hinzufügte. Bei diesen 51 Verfassungen wird die Bundesverfassung und ihre Bill of Rights als ein Dokument zusammengefasst; die Verfassung von Virginia von 1830 ist nicht berücksichtigt, da die ihr vorangestellte Rechteerklärung praktisch unverändert die Rechteerklärung von 1776 wiederholt. Bezüglich der Abkürzungen für die Einzelstaaten, s. Anhang zu Kap. III. 3., S. 215) Staat VA

NJ

MD

Jahr Recht 1776 1) Rückgriff auf das Naturrecht 2) Volkssouveränität 3) Widerstandsrecht 4) Keine exklusiven Vergütungen 5) Gewaltentrennung 6) Ämterrotation (Legislative und/oder Exekutive)/Befristung 7) Freie (und häufige/gleiche) Wahlen 8) Wahlrecht 9) Sicherheit des Eigentums 10) Zustimmung der Legislative (Volk) 11) Keine Suspendierung von Gesetzen ohne Zustimmung der Legislative 12) Rechte der Beschuldigten in Strafverfahren 13) Geschworenenprozess in Strafverfahren 14) Recht der Aussageverweigerung 15) Rechtliches Gehör (due process of law) 16) Keine überhöhte Kaution oder Gebühren 17) Keine grausame oder ungewöhnliche Bestrafung 18) Keine willkürliche Durchsuchung oder Beschlagnahme 19) Geschworenenprozess in Zivilsachen 20) Pressefreiheit 21) Miliz 22) Kein stehendes Heer in Friedenszeiten 23) Unterordnung des Militärs unter die Zivilgewalt 24) Einheitliche Regierung 25) Rückgriff auf grundlegende Prinzipien 26) Religionsfreiheit 1776 27) Recht auf Erbfolge im Fall von Selbstmord 28) Kein Zwangsbeitrag für Kirchen 29) Keine Staatskirche 30) Keine religiösen Tests (für Protestanten) 1776 31) Recht auf Selbstregierung 32) Freiheit der Rede und Debatte in der Legislative 33) Häufige/zweckdienliche Einberufung der Legislative 34) Petitionsrecht 35) Keine Kopfsteuer 36) Verhältnismäßiger Beitrag zum Unterhalt der Regierung 37) Todesstrafe/Strafe im angemessenen Verhältnis zur Tat 38) Kein rückwirkendes Gesetz

288

III. Nordamerika

DE PA

1776 1776

NC

1776

GA

1777

NY VT

1777 1777

SC MA NH

1778 1780 1784

VT US GA US, V. Am. SC PA

1786 1787 1789 1790 1790

KY DE NH VT TN

1792 1792 1792 1793 1796

GA KY OH

1798 1799 1802

39) Keine Bestrafung durch den Gesetzgeber 40) Recht auf Rechtsmittel 41) Keine Einquartierung in Friedenszeiten 42) Freiheit vom Kriegsrecht 43) Unabhängigkeit der Richter/Unparteiische Rechtsprechung 44) Keine Ämterkumulation 45) Keine Annahme auswärtiger Geschenke usw. 46) Keine Monopole 47) Keine Adelstitel, erblichen Ehren, Ämter usw. 48) Einhegung der Rechteerklärung 49) Kriegsdienstverweigerung 50) Recht, Waffen zu tragen 51) Auswanderungsfreiheit 52) Versammlungsfreiheit 53) Strafverfahren durch Anklage, amtliche Untersuchung oder Amtsanklage 54) Erbgut/Primogenitur 55) Habeas Corpus 56) Keine Sondergerichte 57) Keine Sklaverei oder unfreiwillige Knechtschaft 58) Unterordnung des Privateigentums unter öffentlichen Bedarf 59) Gerechte Entschädigung 60) Vollziehungsbefehl allein aufgrund beeidigter Aussage 61) Keine Auslieferung bei Vergehen innerhalb des Staates 62) Protestantische Religion als Staatsreligion —– 63) Doppelte Strafverfolgung wegen derselben Tat 64) Entschädigung für Geschworene 65) Pensionen nur für tatsächlich geleistete Dienste 66) Steuererhöhung nur für verbesserte Dienstleistung 67) Keine gesetzliche Beeinträchtigung von Vertragsverpflichtungen —– 68) Anklagen allein durch Anklagejury —– 69) Gesetz über Verleumdungen 70) Recht auf Geschworene aus der Nachbarschaft 71) Keine Ermächtigung, Gericht zu halten 72) Sicherheit des Schuldners —– 73) Gesundheit in Gefängnissen —– —– 74) Keine unangemessene Strenge im Gefängnis 75) Freie Schifffahrt auf dem Mississippi —– —– 76) Erziehung offen für alle 77) Verhältnismäßige Landverteilung an Sekten und Kirchen

7. Die Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen – Anhang

LA IN MS IL CT AL ME MO NY DE MS TN MI AR TX PA FL RI NJ LA TX IA NY WI IL CA

289

78) Eintragung von Gesellschaften 1812 —– 1816 —– 1817 79) Keine Strafe ohne gesetzliche Grundlage (Nulla poena sine lege) 80) Klagerecht in Zivilsachen vor staatlichen Gerichten 1818 81) Keine neuen Banken außer Staatsbank 1818 —– 1819 —– 1819 82) Hoch-/Landesverrat 1820 —– 1821 83) Garantie der Staatsbürgerschaft 1831 —– 1832 84) Keine Eigentumsqualifikation für Ämter und Wahlen 1834 —– 1835 —– 1836 —– 1836 —– 1838 —– 1839 —– 1842 85) Unschuldsvermutung 86) Fischereirecht 1844 87) Keine öffentlichen Gelder für private Unternehmungen 1845 —– 1845 —– 1846 88) Keine Duelle 89) Gleiche Eigentumsrechte für Ausländer 1846 90) Keine Ehescheidungen durch Legislative 91) Keine Lotterien 92) Keine feudalen Besitztitel 1848 93) Gerichtsbefehl zur Korrektur von Rechtsirrtümern (writs of error) 1848 —– 1849 94) Repräsentation gemäß der Bevölkerungszahl

Als Vergleich zusätzliche Bestimmungen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Frankreich 1789 95) Freiheit und Gleichheit 96) Soziale Unterscheidungen nach allgemeiner Nützlichkeit 97) Prinzip der Freiheit 98) Prinzip des Gesetzes 99) Qualität des Gesetzes 100) Ämter und Berufe offen für alle 101) Gehorsam gegenüber dem Gesetz 102) Öffentliche Macht 103) Politische Verantwortung 104) Basis der Verfassung

290

III. Nordamerika Anhang II: Gruppierung der deklarierten Rechte

Erklärung von/Rückgriff auf grundlegende Prinzipien

1, 2, 25

Übertragene politische Rechte Übertragene gesellschaftliche Rechte Übertragene wirtschaftliche Rechte Übertragene Strafrechte Übertragene Rechte zur Sicherung des Eigentums Übertragene Rechte an den Staat gegen den Einzelnen

3, 7, 8, 18, 23, 30, 31, 32, 34, 84, 94 20, 26, 40, 49, 50, 51, 52, 62, 76, 80 75, 77, 78, 86, 89 37, 38, 53, 56, 60, 61, 68, 71, 73, 74, 79, 82, 85

Gewährter Schutz von politischen Rechten Gewährter Schutz von gesellschaftlichen Rechten Gewährter Schutz von wirtschaftlichen Rechten Gewährter Schutz von Rechten in Strafverfahren

4, 5, 6, 11, 21, 22, 24, 33, 39, 41, 42, 43, 44, 45, 47, 48, 57, 65, 83, 87

19, 27 58

28, 29, 59, 88, 90, 91 9, 10, 35, 36, 46, 54, 64, 66, 67, 72, 81, 92 12, 13, 14, 15, 16, 17, 55, 63, 69, 70, 93 Ergebnisse:

Für den gesamten Zeitraum Grundlegende Prinzipien = 3,2 %; übertragene Rechte = 42,6 %; gewährter Schutz = 54,3 % Für die Jahre 1776 – 1778 (Nr. 1 – 62): Grundlegende Prinzipien = 4,8 %; übertragene Rechte = 41,9 %; gewährter Schutz = 53,2 % Für die 1780er und 1790er Jahre (Nr. 63 – 75): Grundlegende Prinzipien = 0 %; übertragene Rechte = 38,5 %; gewährter Schutz = 61,5 % Für die Jahre 1802 – 1821 (Nr. 76 – 83): Grundlegende Prinzipien = 0 %; übertragene Rechte = 75 %; gewährter Schutz = 25 % Für die Jahre 1832 – 1849 (Nr. 84 – 94): Grundlegende Prinzipien = 0 %; übertragene Rechte = 45,5 %; gewährter Schutz = 54,5 %

7. Die Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen – Anhang

291

Detailaufstellung: Für die Jahre 1776 – 1778 (Nr. 1 – 62) Rechte politische gesellschaftl. wirtschaftl. Strafrecht Sich. Eigent. Staat vor Ind.

=9 =8 =0 =6 =2 =1

Schutz politischer gesellschaftl. wirtschaftl. Strafverfahren

Für die Jahre 1802 – 1821 (Nr. 76 – 83) Rechte Schutz politische = 0 politischer gesellschaftl. = 2 gesellschaftl. wirtschaftl. = 2 wirtschaftl. Strafrecht = 2 Strafverfahren

= 17 =3 =6 =7

Für die Jahre 1780er und 1790er Jahre (Nr. 63 – 75) Rechte Schutz politische = 0 politischer gesellschaftl. = 0 gesellschaftl. wirtschaftl. = 1 wirtschaftl. Strafrecht = 4 Strafverfahren

=1 =0 =4 =3

=1 =0 =1 =0

Für die Jahre 1832 – 1849 (Nr. 84 – 94) Rechte Schutz politische = 2 politischer gesellschaftl. = 0 gesellschaftl. wirtschaftl. = 2 wirtschaftl. Strafrecht = 1 Strafverfahren

=1 =3 =1 =1

Zum Vergleich: Frankreich 1789 (21 Bestimmungen) Grundlegende Prinzipien = 57,1 %; übertragene Rechte = 14,3 %; gewährter Schutz = 28,6 %, davon: Rechte Schutz politische = 0 politischer =1 gesellschaftl. = 2 gesellschaftl. =0 wirtschaftl. = 1 wirtschaftl. =2 Strafrecht = 0 Strafverfahren = 3

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III. Nordamerika Anhang III: Popularitätsindex

Nach Zahl der Verfassungen, in denen das deklarierte Recht erschien, einschließlich Jahr der Ersterwähnung und Eingruppierung 51 Geschworenenprozess in Strafsachen 49 Pressefreiheit Religionsfreiheit 44 Rechte des Beschuldigten in Strafverfahren 41 Recht der Aussageverweigerung 40 Keine willkürliche Durchsuchung oder Beschlagnahme Unterordnung des Militärs unter die Zivilgewalt 39 Petitionsrecht 38 Volkssouveränität Rechtliches Gehör (due process of law) 37 Keine überhöhte Kaution oder Gebühren Versammlungsfreiheit 36 Habeas Corpus 35 Kein rückwirkendes Gesetz Gerechte Entschädigung 34 Keine grausame oder ungewöhnliche Bestrafung Kein Zwangsbeitrag für Kirchen Keine religiösen Tests (für Protestanten) 32 Widerstandsrecht Doppelte Strafverfolgung wegen derselben Tat 30 Recht auf Rechtsmittel Keine Einquartierung in Friedenszeiten 28 Gesetz über Verleumdungen 27 Rückgriff auf das Naturrecht Kein stehendes Heer in Friedenszeiten Keine Bestrafung durch den Gesetzgeber Recht, Waffen zu tragen 26 Freie (und häufige/gleiche) Wahlen Keine Adelstitel, erblichen Ehren, Ämter usw. 24 Keine Suspendierung von Gesetzen ohne Zustimmung der Legislative 22 Sicherheit des Schuldners 18 Keine exklusiven Vergütungen Geschworenenprozess in Zivilsachen Strafverfahren durch Anklage, amtliche Untersuchung oder Amtsanklage 16 Zustimmung der Legislative (Volk) 15 Auswanderungsfreiheit 14 Rückgriff auf grundlegende Prinzipien Einhegung der Rechteerklärung 13 Recht auf Erbfolge im Fall von Selbstmord

1776 1776 1776 1776 1776 1776

Strafverfahren gesellschafl. Recht gesellschaftl. Recht Strafverfahren Strafverfahren politisches Recht

1776 1776 1776 1776 1776 1776 1777 1776 1777 1776 1776 1776 1776 1784 1776 1776 1790 1776 1776 1776 1776 1776 1776 1776

politisches Recht politisches Recht grundl. Prinzipien Strafverfahren Strafverfahren gesellschaftl. Recht Strafverfahren Strafrecht gesellschaftl. Schutz Strafverfahren gesellschaftl. Schutz politisches Recht politisches Recht Strafverfahren gesellschaftl. Recht politischer Schutz Strafverfahren grundl. Prinzipien politischer Schutz politischer Schutz gesellschaftl. Recht politisches Recht politischer Schutz politischer Schutz

1790 1776 1776 1776

wirtschaftl. Schutz politischer Schutz Sich. des Eigentums Strafrecht

1776 1776 1776 1776 1776

wirtschaftl. Schutz gesellschaftl. Recht grundl. Prinzipien politischer Schutz Sich. des Eigentums

7. Die Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen – Anhang Keine gesetzliche Beeinträchtigung von Vertragsverpflichtungen Anklagen allein durch Anklagejury 12 Sicherheit des Eigentums Recht auf Selbstregierung Verhältnismäßiger Beitrag zum Unterhalt der Regierung Kriegsdienstverweigerung 11 Wahlrecht Miliz Todesstrafe/Strafe im angemessenen Verhältnis zur Tat Freiheit vom Kriegsrecht 10 Recht auf Geschworene aus der Nachbarschaft 9 Keine Sklaverei oder unfreiwillige Knechtschaft 8 Keine Monopole Hoch-/Landesverrat 7 Ämterrotation (Legislative und/oder Exekutive)/Befristung Keine Staatskirche 6 Gewaltentrennung Freiheit der Rede und Debatte in der Legislative Keine Auslieferung bei Vergehen innerhalb des Staates 5 Häufige/zweckdienliche Einberufung der Legislative Unabhängigkeit der Richter/Unparteiische Rechtsprechung Keine Annahme auswärtiger Geschenke usw. 4 Erbgut/Primogenitur Keine Ermächtigung, Gericht zu halten Keine unangemessene Strenge im Gefängnis Keine Strafe ohne gesetzliche Grundlage (Nulla poena sine lege) 3 Einheitliche Regierung Unterordnung des Privateigentums unter öffentlichen Bedarf Klagerecht in Zivilsachen vor staatlichen Gerichten Gleiche Eigentumsrechte für Ausländer 2 Keine Kopfsteuer Keine Sondergerichte Vollziehungsbefehl allein aufgrund beeidigter Aussage Entschädigung für Geschworene Pensionen nur für tatsächlich geleistete Dienste Steuererhöhung nur für verbesserte Dienstleistung Gesundheit in Gefängnissen Freie Schifffahrt auf dem Mississippi

293

1787 wirtschaftl. Schutz 1789 1776 1776 1776

Strafrecht wirtschaftl. Schutz politisches Recht wirtschaftl. Schutz

1776 1776 1776 1776

gesellschaftl. Recht politisches Recht politischer Schutz Strafrecht

1776 1790 1777 1776 1819 1776 1776 1776 1776 1777

politischer Schutz Strafverfahren politischer Schutz wirtschaftl. Schutz Strafrecht politischer Schutz gesellschaftl. Schutz politischer Schutz politisches Recht Strafrecht

1776 politischer Schutz 1776 politischer Schutz 1776 1777 1790 1796 1817

politischer Schutz wirtschaftl. Schutz Strafrecht Strafrecht Strafrecht

1776 politischer Schutz 1777 Staat vor Individ. 1817 gesellschaftl. Recht 1846 1776 1777 1777

wirtschaftl. Recht wirtschaftl. Schutz Strafrecht Strafrecht

1784 1784 1786 1792 1796

wirtschaftl. Schutz politischer Schutz wirtschaftl. Schutz Strafrecht wirtschaftl. Recht

294

1

III. Nordamerika Garantie der Staatsbürgerschaft Keine Duelle Keine feudalen Besitztitel Keine Ämterkumulation Protestantische Religion als Staatsreligion Erziehung offen für alle Verhältnismäßige Landverteilung an Sekten und Kirchen Eintragung von Gesellschaften Keine neuen Banken außer Staatsbank Keine Eigentumsqualifikation für Ämter und Wahlen Unschuldsvermutung Fischereirecht Keine öffentlichen Gelder für private Unternehmungen Keine Ehescheidungen durch Legislative Keine Lotterien Gerichtsbefehl zur Korrektur von Rechtsirrtümern (writs of error) Repräsentation gemäß der Bevölkerungszahl

1821 1846 1846 1776 1778 1802 1802

politischer Schutz gesellschaftl. Schutz wirtschaftl. Schutz politischer Schutz gesellschaftl. Recht gesellschaftl. Recht wirtschaftl. Recht

1802 wirtschaftl. Recht 1818 wirtschaftl. Schutz 1832 politisches Recht 1842 Strafrecht 1842 wirtschaftl. Recht 1844 politischer Schutz 1846 gesellschaftl. Schutz 1846 gesellschaftl. Schutz 1848 Strafverfahren 1849 politisches Recht

7. Die Rechteerklärungen in den Einzelstaatsverfassungen – Anhang

295

Anhang IV: Struktur des Rechtekatalogs in 51 Verfassungen (Die Bundesverfassung von 1787 und die Bill of Rights von 1791 werden hier getrennt gezählt.

296

III. Nordamerika

8. Der moderne Konstitutionalismus und seine Feinde im Innern768 Der moderne Konstitutionalismus, so die Prämisse dieses Bandes, wurde am 12. Juni 1776 mit der Rechteerklärung von Virginia geboren und breitete sich in der Folge nicht nur über die Vereinigten Staaten, sondern auch über Europa und Lateinamerika, ja, so wird man den Bogen bis heute weiter spannen können, schließlich über die ganze Welt aus. Das geschah nicht als Selbstläufer oder einer Pandemie gleich, sondern gegen Widerstände und Ablehnung, die es zu überwinden galt und die ungeachtet mancher Lippenbekenntnisse zum Teil bis heute fortbestehen. Damit sind nicht jene Länder oder Gesellschaften gemeint, die sich bewusst für eine andere Verfassungsform entschieden haben, allen voran das Vereinigte Königreich, das unverändert von den Vorzügen seiner traditionellen Verfassung überzeugt ist, oder die Schweiz, in der dank der direkten Demokratie „das Volk direkt in die Staatsführung eingreifen“ kann.769 Neben diesen und weiteren Beispielen gibt es hingegen auch jene Länder, die in ihrer offiziellen Verfassung eine geringere oder größere Nähe zum modernen Konstitutionalismus und seinen Prinzipien bekunden, doch in Wirklichkeit eine Politik verfolgen, die inhaltlich mit den Grundsätzen des modernen Konstitutionalismus unvereinbar ist. Auch von diesen wird in der Folge nicht die Rede sein. Hier geht es nicht um die Feinde des modernen Konstitutionalismus, sondern um seine Freunde und noch spezifischer um jene seiner Verteidiger, die dennoch dem einen oder anderen seiner Prinzipien kritisch, wenn nicht mit einer gewissen Reserve gegenüberstehen. Diese Reserve mag nie die Ebene des offenen Konflikts erreicht haben, aber die Friktionen treten zu Tage, wenn in Zeiten der Anspannung und Krise Entscheidungen anstehen. Dass auf dieser eher konservativen Seite es innerhalb der letzten Jahre teilweise zu einer Radikalisierung gekommen ist hin zu einer Position, die den liberalen Rechtsstaat zu unterminieren bereit ist, ja ihn offen in Frage stellt, soll abschließend zumindest angedeutet werden. Von diesen Feinden im Innern – ein Ausdruck, den Joseph McCarthy gerne verwandte, obwohl er sehr viel treffender auf ihn selbst passte als auf die Mehrzahl jener, für die er ihn gebrauchte – werde ich hier nicht die radikaldemokratischen Schöpfer und Verteidiger der Verfassung von Pennsylvania von 1776 oder der ja768 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich im März/April 2005 an der Monash University in Melbourne und der University of New South Wales in Sydney gehalten habe und der hier erstmals veröffentlicht wird. Eine frühere Version wurde veröffentlicht u. d. T. „Entre légitimation formelle et délégitimation inavouée: deux cents ans du constitutionalisme moderne“, in: L’Histoire institutionnelle et juridique dans la pensée politique. Actes du Colloque d’Aix-en-Provence (Mai 2005) de l’Association Française des Historiens des Idées Politiques, Collection d’Histoire des Idées Politiques, XVII, hrg. V. Michel Ganzin, Aix-en-Provence: Presses Universitaires d’Aix-Marseille, 2006, 261 – 274. 769 So die offizielle Webseite der Schweizerischen Eidgenossenschaft: https://www.ch.ch/ de/demokratie/funktionsweise-und-organisation-der-schweiz/ (Zugriff 2. 1. 2021).

8. Der moderne Konstitutionalismus und seine Feinde im Innern

297

kobinischen Verfassung von 1793 behandeln.770 Aus gegebenem Anlass771 erscheint es naheliegender, den Blick auf den vielschichtigen amerikanischen politischen Konservatismus zu richten. Weit entfernt, ihn insgesamt damit unter Generalverdacht zu stellen, muss es doch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass im Laufe der amerikanischen Geschichte es wiederholt in seinen Reihen besondere Anfälligkeiten für jene interne Opposition gab und weiterhin gibt, die aus Furcht geboren wurde oder, um Richard Hofstadters kraftvolleren, doch unverändert aktuellen Ausdruck zu benutzen, „aus erhitzter Übertreibung, Misstrauen und Verschwörungsphantasien“.772 Man mag sich dafür in Erinnerung rufen, dass die Vereinigten Staaten ideologisch aus den Überzeugungen von Freiheit und Selbstregierung entstanden sind, die in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Bundesverfassung von 1787 ihren bleibenden Ausdruck fanden und als sakrosankte Gründungsdokumente bis heute verstanden werden und die dem Land nicht nur als konstitutive Differenz zu Europa gelten, sondern ihm auch ein ungebrochenes Gefühl der moralischen Überlegenheit vermitteln. Jeder Versuch von außen, dieses Selbstverständnis grundlegend in Zweifel zu ziehen, gilt als Angriff und immanente Bedrohung der amerikanischen Identität.773 Er erfordert daher eine umgehende und emphatische Zurückweisung, die nach Patriotismus – einige würden sagen nach Superpatriotismus –, Loyalität und Bekämpfung alles „Unamerikanischen“ verlangt. Es geht hier um diese Furcht einer ideologischen Infiltration und die konservative Reaktion auf das, was bis heute als Bedrohung empfunden wird. Damit ist zugleich nach dem 11. September 2001 die Frage provoziert, nachdem der islamistische Terrorismus als von außen gesteuerter Krieg gegen die eigenen Werte und damit zugleich gegen den modernen Konstitutionalismus verstanden wird, ob nicht die Reaktion darauf zu einem Krieg im Innern gegen den modernen Konstitutionalismus geführt hat? Ausgehend von dieser Fragestellung und angesichts von Publikationen wie War on our Freedoms,774 wird hier die These vertreten, dass dieses Szenario von Bedrohungsgefühl und freiheitsgefährdender Überreaktion seinen Ursprung nicht 2001 mit den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon erlebte, 770

Vgl. dazu Kap. III. 3 und 5 – 4. Vgl. dazu etwa meinen Beitrag, „Unter dem Banner des Neokonservatismus und des ,Kriegs gegen den Terror‘: Die Präsidentschaft George W. Bushs“, in: Die Zeit – Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten, Hintergründe in 20 Bänden, Hamburg: Zeitverlag Gerd Bucerius, 2006, XVI, 207 – 216. 772 Richard Hofstadter, „The Paranoid Style in American Politics“ and Other Essays, Chicago: The University of Chicago Press, 1979, 3. Über das Wiederaufleben der politischen Paranoia in den 1990er Jahren, vgl. Robert Singh, The Farrakhan Phenomenon. Race, Reaction, and the Paranoid Style in American Politics, Washington, D.C.: Georgetown University Press, 1997, bes. 146 – 150, und passim. 773 Zur amerikanischen Identitätskrise, vgl. Samuel P. Huntington, Who Are We? America’s Great Debate, [2004], London: The Free Press, 2005. 774 The War on Our Freedoms. Civil Liberties in an Age of Terrorism, hrg. v. Richard C. Leone und Greg Anrig, Jr., New York: PublicAffairs, 2003. 771

298

III. Nordamerika

sondern tief in der amerikanischen Geschichte verankert und nahezu so alt wie der moderne Konstitutionalismus selbst ist. Unter einer bestimmten Perspektive betrachtet, mag es gerechtfertigt erscheinen, die Vereinigten Staaten im ausgehenden 18. Jahrhundert als einen europäischen Staat zu bezeichnen. Abgesehen von der ausgegrenzten indigenen Urbevölkerung und dem ungefähr ein Viertel ausmachenden schwarzen Bevölkerungsanteil waren die Einwohner europäische Einwanderer und deren Nachkommen. Zumindest die Elite fühlte sich kulturell mit Europa verbunden, was erst recht für den Handel und die ausländischen Kapitalinvestitionen galt. Umso nachhaltiger bestand das Land auf seiner politischen und zunehmend auch wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Europa, wie dies bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 emphatisch zum Ausdruck gebracht worden war und dann in dessen Jahrhundertfeier 1876 in Philadelphia das unübersehbare Leitthema sein sollte. Mehr als der Wunsch, sich von Europa und seiner Machtpolitik fernzuhalten, sollte auch ganz bewusst eine scharfe Trennungslinie zwischen europäischer und amerikanischer Politik gezogen werden, wie sie Washingtons Abschiedsbotschaft von 1796 ebenso zum Ausdruck brachte wie Monroes Botschaft an den Kongress 1823 – was später dann die Monroe-Doktrin genannt wurde. Es war nicht allein das Bewusstsein, eine eigene Welt zu verkörpern, sondern damit war auch das Gefühl einer moralischen Überlegenheit gegenüber der alten, degenerierten Welt mit seiner verbrauchten Legitimation zum Ausdruck gebracht – eine durchaus nachvollziehbare, wenn nicht natürliche Haltung einer Einwanderergesellschaft, die mit Stolz auf ihre eigenen zurückliegenden Ursprünge als Keimzelle einer erfolgreicheren, besseren Welt blickte. John Adams war wie kaum ein Zweiter überzeugt, dass Amerika dem alten Kontinent Lehren erteilen müsse, während Thomas Jefferson, ironischerweise der Hauptautor der Unabhängigkeitserklärung, unverändert der Meinung war, dass Amerika immer noch einiges von Europa lernen könnte. Was der erstere als höchst gefährliches Eindringen und Infiltration von revolutionären Ideen aus Europa wahrnahm, war für letzteren eine willkommene Inspiration und intellektuelle Auffrischung.775 Das einzige Problem war, der erstere war der Präsident der Vereinigten Staaten und der zweite politisch nahezu nichts – nämlich der Vizepräsident, über weite Strecken der amerikanischen Geschichte ein Amt ohne reale politische Bedeutung. Die Föderalisten mit John Adams an der Spitze waren von der Notwendigkeit überzeugt, zumal dies durchaus wohltuende Nebenwirkungen nach sich ziehen konnte, entschieden gegen die Oppositionsaktivitäten vorgehen zu müssen, um die Infiltration und Verbreitung von revolutionären französischen Ideen mit aller Macht zu unterbinden. Das Ergebnis waren vier unrühmliche Gesetze, die der Präsident 1798 unterzeichnete: die Fremden- und Aufwiegelungsgesetze.776 Sie waren im 775 Vgl. dazu allgemein James Roger Sharp, American Politics in the Early Republic. The New Nation in Crisis, New Haven und London: Yale University Press, 1993. 776 Vgl. dazu oben Kap. II. 2. mit den parallelen britischen Gesetzen der Zeit.

8. Der moderne Konstitutionalismus und seine Feinde im Innern

299

Kongress eingebracht worden „unter dem Vorwand des Patriotismus“, als die Emotionen über das aufwallten, was man als französische Anmaßungen begriff.777 Die Befugnisse, die mit diesen Gesetzen dem Präsidenten übertragen wurden, waren weitreichend. Das Fremdengesetz erklärte, „[d]ass es dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gestattet ist […] alle jenen Fremden, die er für den Frieden und die Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährlich hält […] aus dem Territorium der Vereinigten Staaten auszuweisen.“778 Das Gesetz über fremdländische Feinde erlaubte nicht nur in Zeiten des Kriegs, sondern bereits wenn Krieg und Invasion als drohend angesehen wurden, dass „alle Angehörigen, Bürger, Bewohner oder Untertanen einer feindlichen Nation oder Regierung, die männlich und 14 Jahre und älter sind und sich in den Vereinigten Staaten befinden und tatsächlich nicht eingebürgert sind, potentiell als fremdländische Feinde verhaftet, in Schranken gehalten, festgenommen und ausgewiesen werden“.779

Am beunruhigendsten war das Aufwiegelungsgesetz, bestimmte es doch, „[d]ass, falls irgendeine Person schreibt, druckt, äußert oder publiziert oder veranlasst oder dafür sorgt, dass […] irgendeine falsche, skandalöse oder bösartige Schrift oder Schriften gegen die Regierung der Vereinigten Staaten oder eines der Häuser des Kongresses der Vereinigten Staaten oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten in der Absicht geschrieben, gedruckt, geäußert oder publiziert werden, die besagte Regierung oder eines der Häuser besagten Kongresses oder besagten Präsidenten zu verleumden oder sie oder einen von ihnen der Verachtung oder Respektlosigkeit auszuliefern […] dann wird diese Person […] mit einer Geldstrafe von maximal 2000 $ und einer Haftstrafe von maximal zwei Jahren bestraft.“780

In der aufgeheizten politischen Stimmung dieser Tage waren die Föderalisten entsetzt über die massive Opposition der Anhänger Jeffersons gegen die Gesetze und sahen darin nichts anderes als „Anarchie […] die heranstürmt […], um in ihrem fürchterlichen Lauf hinweg zu spülen, was die vereinte Weisheit der Jahrhunderte errichtet hat“.781 Die Anhänger Jeffersons waren dagegen bestürzt über den „erschreckenden Eingriff in die Menschenrechte“782 und wurden nicht müde auszuru777 Alexander DeConde, The Quasi-War. The Politics and Diplomacy of the Undeclared War with France 1797 – 1801, New York: Charles Scribner’s Sons, 1966, 78. Vgl. James Morton Smith, Freedom’s Fetters. The Alien and Sedition Laws and American Civil Liberties, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1956, 3 – 9. 778 Fremdengesetz, 25. Juni 1798, in: Documents of American History, hrg. v. Henry Steele Commager, 2 Bde., New York: Appleton-Century-Crofts, 71963, I, 176. 779 Gesetz über fremdländische Feinde, 6. Juli 1798, ebd., 177. 780 Aufwiegelungsgesetz, 14. Juli 1798, ebd., 177 – 178. 781 David B. Ogden, Oration Delivered on the Fourth of July, 1798. To a Numerous Audience, Assembled in the Presbyterian Church of Newark, to Celebrate the Twenty-Second Anniversary of American Independence, Newark: Printed by Jacob Hasley & Co., 1798, 3. 782 James Ogilvie, A Speech Delivered in Essex County in Support of a Memorial, Presented to the Citizens of That County And Now Laid Before the Assembly, on the Subject of the Alien And Sedition Acts, Richmond: Printed by Jones & Dixon, Printers to the Commonwealth, 1798, 5, vgl. auch 4.

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III. Nordamerika

fen, dass die „Freiheit in Gefahr war“ und dass diese Gesetze „zerstörerisch für die wichtigsten Menschenrechte“ seien.783 Die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze ist immer wieder ausführlich diskutiert worden; sie braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Selbst wenn die Bundesregierung sich mit diesen Gesetzen verfassungswidrige Befugnisse anmaßte, die sie nicht besaß, oder sie die von der Verfassung eingerichtete Gewaltentrennung missachtete,784 bleibt doch die bemerkenswerte Tatsache bestehen, dass nur zehn Jahre nach der Annahme der Bundesverfassung die „Föderalisten so leicht damit Erfolg hatten, eine allgemeine Hysterie zu erzeugen“,785 dass die Nation es nicht für geboten hielt, sich unter ihren Gründungsdokumenten zu deren Verteidigung zu vereinigen. Stattdessen waren die Föderalisten nur allzu bereit, zu Mitteln Zuflucht zu nehmen, die nicht nur heute weit jenseits einer legitimen Politik liegen, die sich rechtsstaatlich sanktionieren ließe. Doch im politischen Gedächtnis haften blieb, mehr bei den Handelnden als bei den Betroffenen, dass die politische Antwort auf eine angebliche Gefahr von Einmischung und Infiltration in einer dramatischen Einschränkung der Rechte der Bürger und jener, die es werden wollten, bestand.786 Die Berufung auf den amerikanischen Patriotismus zur Verteidigung des Landes verweist auf ein besonderes amerikanisches Verständnis von Patriot und Patriotismus, das hier als Erklärungsmuster herangezogen werden muss. Das Longman Dictionary of English Language and Culture definiert „Patriot“ als „jemand, der sein Land liebt und bereit ist, es zu verteidigen“. „Patriotismus“ bedeutet mithin „Liebe zu und Loyalität gegenüber seinem Land“.787 Der amerikanischer Webster liefert eine signifikant abweichende Definition von „Patriot“ als „jemand, der sein Land liebt und eifrig seine Autorität und Interessen unterstützt“. Mithin bedeutet „Patriotismus“ „Liebe zu und Hingabe an sein Land“.788 Im Gegensatz zum englischen Verständnis 783 So John Taylor am 13. Dezember, 1798, in: Debates in the House of Delegates of Virginia, On Certain Resolutions Before the House, Upon the Important Subject of the Acts of Congress Passed At Their Last Session, Commonly Called, The Alien And Sedition Laws, Richmond: Printed by Tho. Nicolson, 1818 [recte 1798], 4, 8. 784 Vgl. die Kentucky und Virginia Resolutionen von 1798 und Madisons Ausschussbericht über die Virginia Resolutionen von 1800, alle in: Jonathan Elliot, The Debates in the Several State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution, as Recommended by the General Convention at Philadelphia, in 1787. Together with […] Other Illustrations of the Constitution [Elliot’s Debates], 5 Bde., Philadelphia: J. B. Lippincott, 21836 – 1845, IV, 528 – 529, 540 – 544, 546 – 580. 785 Richard Buel jr., Securing the Revolution: Ideology in American Politics, 1789 – 1815, Ithaca und London: Cornell University Press, 1972, 249. Vgl. auch Donald H. Stewart, The Opposition Press of the Federalist Period, Albany, NY: State University of New York Press, 1969, 465. 786 Vgl. James MacGregor Burns und Stewart Burns, A People’s Charter. The Pursuit of Rights in America, New York: Alfred A. Knopf, 1991, 63 – 67; Michael Linfield, Freedom Under Fire. U.S. Civil Liberties in Times of War, Boston, MA: South End Press, 1990, 16 – 21. 787 Longman Dictionary of English Language and Culture, hrg. v. Della Summers, Harlow: Longman, 1992, 968. 788 Webster’s New Collegiate Dictionary, Springfield, MA: Merriam, 1974, 840.

8. Der moderne Konstitutionalismus und seine Feinde im Innern

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erscheint das amerikanische nicht nur weniger abstrakt und eindeutig emotionaler, sondern erlaubt auch dank seines unverhohlenen Aufforderungscharakters der Regierung jederzeit, Patriotismus leicht für die Unterstützung dessen zu mobilisieren, was sie als die amerikanischen Interessen erklärt, zumal es nach amerikanischen Grundverständnis seinerzeit die „Patrioten“ waren, die Amerikas Unabhängigkeit erkämpft hatten und in deren Nachfolge es sich nun zu stellen gehöre. Auch wenn damit der Begriff mit der amerikanischen Gründerzeit verknüpft ist, erlebte er seinen Höhepunkt und seine bis heute anhaltende Geschichtsmächtigkeit erst nach dem Bürgerkrieg,789 also genau in jener Phase, die auch in Europa als die Hochzeit des Nationalismus angesehen wird. Was amerikanischer Patriotismus sein sollte, ist immer wieder heftig debattiert worden, und von Anbeginn an gab es stets jene, die wahren Patriotismus als einen im Kern demokratischen Wert begriffen und als die Grundidee eines Landes, die ständig bereit sei, eine „demokratische Kritik politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ungerechtigkeit“ getreu den eigenen Gründungsprinzipien zu unterstützen,790 oder gemäß der Selbstdefinition von Samuel P. Huntington: „Als Patriot bin ich zutiefst besorgt um die Einheit und Stärke meines Landes als eine Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit, Gesetz und individuellen Rechten basiert.“791 Wie die 1790er Jahre mit ihren Fremden- und Aufwiegelungsgesetzen unterstreichen, existierte jedoch auch immer eine breite Unterströmung, die die amerikanische Geschichte durchzieht, die Patriotismus mit unkritischer und enthusiastischer Unterstützung jeder amerikanischen Regierung gleichsetzt, die das Land glauben macht, es sei in Gefahr oder seine Identität sei bedroht.792 „Ob richtig oder falsch, es ist mein Land (Right or wrong, my country)“ bleibt bis heute der primitivste Ausdruck dieser Art von Patriotismus, der schon allein deshalb der fundamentalste Widerspruch zum modernen Konstitutionalismus und seiner grundlegenden Rechtskultur ist.793 789

Vgl. Huntington, Who Are We?, 120 – 139. Jonathan M. Hansen, The Lost Promise of Patriotism: Debating American Identity, 1890 – 1920, Chicago und London: The University of Chicago Press, 2003, xvii. 791 Huntington, Who Are We?, xvii. 792 Vgl. Betty Jean Craige, American Patriotism in a Global Society, Albany, NY: State University of New York Press, 1996, 144, 145, und passim, die dies – im Gegensatz zu ihrem „politischen Holismus [als] die ethisch angemessene Antwort auf die Globalisierung dank ihrer Verpflichtung zu demokratischer Regierung, bei der Minderheitsinteressen respektiert werden“– als „Tribalismus“ bezeichnet, der stets dann in Erscheinung tritt, wenn „irgendeine Gewalt […] die Identität, Integrität, Autonomie oder das Überleben einer Gruppe gefährdet“. 1996 neigte sie zu der Auffassung, dass der amerikanische Patriotismus sich schließlich in Richtung Globalisierung entwickeln würde. Man mag darüber streiten, ob der Patriotismus von Norman Podhoretz, My Love Affair with America: The Cautionary Tale of a Cheerful Conservative, New York usw.: The Free Press, 2000, weniger ein Ausdruck von „Tribalismus“ als vielmehr von rechtsgerichtetem Nationalismus ist. 793 Als Antwort auf den 11. September wird von der Orion Gesellschaft ein anderes Verständnis von Patriotismus zum Ausdruck gebracht: „Wir benötigen einen Patriotismus, der das ausgefranste Gefüge unserer nationalen Identität neu zusammenwebt. Wir brauchen einen Patriotismus, der unsere Landschaften und Gemeinden heilt, unsere unveräußerlichen Rechte 790

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III. Nordamerika

Ein weiteres Beispiel für eine neue Welle von Patriotismus, dessen Opfer wiederum fundamentale Rechte waren, ist offensichtlich nach dem Ersten Weltkrieg die Rote Hysterie (Red Scare) von 1919/20. Mit den Bombenattentaten durch Anarchisten, dem Aufruhr von Radikalen und ihren Gegnern war es eine Zeit „von übertriebenem Patriotismus“.794 Lynchaktionen von aufgestacheltem Mob, Verfolgungen und die sogenannten Palmer Razzien Ende 1919 und Anfang 1920 mit ihren willkürlichen Inhaftierungen und der Deportation tausender Nicht-Amerikaner waren die Folgen einer allgemeinen Hysterie über eine bevorstehende Revolution und bewirkte, „dass in einer derartigen Notlage die nationale Sicherheit Vorrang hatte vor abgehobener Sorge um verfassungsmäßige Rechte“.795 Diese angeblich bevorstehende Revolution war nichts anderes als der erfolgreiche Versuch der Wirtschaft, „die öffentliche Meinung gegen die Roten aufzubringen“, um Streiks niederzuschlagen und Gewerkschaften zu zerschlagen.796 Der Höhepunkt war erreicht mit den Palmer Razzien des 2. Januars 1920, als in über 30 Städten im ganzen Land zwischen 5 und 10.000 Personen verhaftet wurden, davon mindestens zwei Drittel ohne Haftbefehl, „eine groß angelegte und weit publizierte Verletzung fundamentaler Rechte“.797 Nicht nur waren übereifrige Gesetzeshüter auf Bundes- wie auf lokaler Ebene in diesen Monaten des Red Scare nur zu bereit, bestehende Rechte zu missachten und zu ignorieren, auch der Kongress war bemüht, seinen Part in der allgemeinen Hysterie zu spielen. Die Bemühungen des Senats, in Friedenszeiten ein Aufwiegelungsgesetz durchzubringen, kamen erst über dem öffentlichen Aufschrei zu einem abrupten Ende, den die New Yorker Legislative hervorgerufen hatte, als sie sich ohne Angabe von Gründen weigerte, die rechtmäßige Wahl von fünf Sozialisten anzuerkennen. George Huddleston, Mitglied des Repräsentantenhauses für Alabama, brachte es auf den Punkt: „Seit Monaten hat es eine ausufernde Propaganda gegeben mit dem Ziel, die freie Rede zu unterdrücken. Das war es, um was es tatsächlich ging, aber es wurde verschleiert, wie es allein professionelle Propagandisten bewerkstelligen können, unter dem Deckmantel des respektiert und aufrechthält, und uns auf den Pfad wahrer Gerechtigkeit, Freiheit und Nachhaltigkeit bringt. Und schließlich brauchen wir einen Patriotismus, der dem Rest der Welt ein authentisches und visionäres Beispiel von Führungskraft bietet“ (Marion Gilliam und Laurie Lane-Zucker, „Foreword“, in: Richard Nelson, Barry Lopez und Terry Tempest Williams, Patriotism and the American Land, Great Barrington, MA: The Orion Society, 2002, vii). 794 Stanley Coben, A. Mitchell Palmer: Politician, New York und London: Columbia University Press, 1963 [Ndr. New York: Da Capo Press, 1972], 207. 795 Ebd., 221. 796 Paul L. Murphy, The Meaning of Freedom of Speech. First Amendment Freedoms from Wilson to FDR, Westport, CT: Greenwood, 1972, 75. 797 William Preston, jr., Aliens and Dissenters. Federal Suppression of Radicals, 1903 – 1933, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1963, 221. Vgl. auch Robert Justin Goldstein, Political Repression in Modern America from 1870 to 1976, Urbana und Chicago: University of Illinois Press, 22001, 156 – 157; Zechariah Chafee, jr., Free Speech in the United States, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1941, 141 – 240, 269 – 282.

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Patriotismus. Es wurde versteckt, aber der wirkliche Zweck dieser Bewegung war, jenem fundamentalen Recht, das uns durch den I. Zusatzartikel zur Verfassung gesichert ist, einen Schlag zu versetzen.“798

Nur 30 Jahre vergingen, bis eine neue Welle des Patriotismus das Land überschwemmte und erneut bereit war, verfassungsmäßig garantierte Rechte einzuschränken. 1950 verabschiedete der Kongress das Gesetz zur inneren Sicherheit oder McCarran Act.799 Seine Absicht, die Aktivitäten subversiver Gruppen zu beschränken, stellte eine gravierende Beschneidung bürgerlicher Freiheiten dar und war in Teilen verfassungswidrig, zu viel um Präsident Trumans Zustimmung zu finden. Doch eine hinreichende Zahl von Demokraten war bereit, der patriotischen Begeisterung den Vorrang vor der Loyalität gegenüber dem eigenen Präsidenten zu geben und half damit, sein Veto zu überstimmen.800 Mehr noch als durch das Gesetz zur inneren Sicherheit bezogen die 1950er Jahre ihr berüchtigtes Ansehen von den massivsten Angriffen auf verfassungsmäßige Rechte, die das Land bislang erlebt hatte, durch den Senatsausschuss über Regierungshandeln mit seinem ständigen Unterausschuss zu Ermittlungen mit seinem skrupellosen Vorsitzenden Joseph McCarthy. Obwohl er der ganzen Ära seinen Namen aufdrückte, stand der McCarthyismus schließlich für weit mehr als nur die unverantwortliche Hexenjagd des Senators von Wisconsin und umfasste weitere Kongressaktivitäten, ein landesweit ausgedehntes System repressiver Antisubversionsgesetze, illegale Operationen des F.B.I. unter seinem Direktor J. Edgar Hoover,801 der seine einzigartige Karriere unter dem Vorzeichen des Red Scare von 1919/ 20 begonnen hatte, und weiteren Regierungsaktionen, darunter die Verweigerung von Rechten auf Reisen, Vereinigung, freie Rede und anderes. Erst 1967 fand es der Supreme Court als „ironisch“, aufgefordert zu sein, die Untergrabung jener Freiheiten zu sanktionieren, für die zu schützen die Verfassung errichtet worden war.802 798 Congressional Record, 66th Cong., 2d sess. (1920), 1680; vgl. Murphy, The Meaning of Freedom of Speech, 87 – 89. 799 Vgl. William Randolph Tanner, The Passage of the Internal Security Act, Diss. University of Kansas, Lawrence, KS 1971. Ebenfalls Abner Green, The Deportation Drive vs. The Bill of Rights. The McCarran Act and the Foreign Born, New York: American Committee for Protection of Foreign Born, 1951, 6: „Die Rechte des amerikanischen Volkes – aller Sektionen des amerikanischen Volkes – stehen unter ernsthaftem und gefährlichem Beschuss.“ 800 Vgl. Alan D. Harper, The Politics of Loyalty. The White House and the Communist Issue, 1946 – 1952, Westport, CT: Greenwood, 1969, 153 – 162; auch Paul L. Murphy, „Internal Security Act“, in: Encyclopedia of the American Constitution, hrg. v. Leonard W. Levy, 4 Bde., New York und London: Macmillan, 1986, II, 991 – 992. 801 Vgl. Athan G. Theoharis und John Stuart Cox, The Boss: J. Edgar Hoover and the Great American Inquisition, Philadelphia: Temple University Press, 1988, 280 – 300; zum Verhältnis zwischen Hoover und McCarthy; auch Athan Theoharis, Chasing Spies. How the FBI Failed in Counterintelligence But Promoted the Politics of McCarthyism in the Cold War Years, Chicago: Ivan R. Dee, 2002, 198 – 234. 802 Vgl. Linfield, Freedom under Fire, 107 – 111. Bei dem erwähnten Fall handelt es sich um United States v. Robel, 389 U.S. 258 (1967), der ein Gesetz aufgrund seiner Verletzung des I. Zusatzartikels für nichtig erklärte. Bei dem fraglichen Gesetz handelte es sich um Tl. I des

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Landesweite Loyalitätstests waren Teil dieser „Politik des Patriotismus“, die bewusst zurückgriff auf das „Ritual des Patriotismus, der einigen Stolz erforderte, wenn die Nation in Gefahr war“.803 In der Folge mussten in einem dramatischen Ausmaß individuelle Rechte den angeblichen nationalen Sicherheitsbedürfnissen geopfert werden, und in einer ganzen Reihe von Fällen der 1950er Jahre dokumentierte der Supreme Court seine „Weigerung, individuelle Rechte vor der Überwachung der Regierung zu schützen“.804 In dieser Atmosphäre von Inquisition und Denunziation805 infiltrierte die allgemeine Hysterie auch vormals respektable liberale Organisationen wie die American Civil Liberties Union (ACLU). „Viele Mitarbeiter der ACLU schluckten McCarthys Unsinn einer fürchterlichen kommunistischen Bedrohung und waren mehr darauf bedacht, Kommunisten aufzuspüren und zu vernichten als bürgerliche Freiheiten zu bewahren“, wie es ihr langjähriges Mitglied und früherer Direktor Corliss Lamont formulierte.806 „Wir sind eine Nation im Krieg“ angesichts eines Feinds, der „unsere Liebsten tötet [und] gegen unsere Demokratie kämpft“.807 Was der pennsylvanische Staatssenator Albert R. Pechan 1953 mit Blick auf das „kommunistische, gottlose Russland“ äußerte, klang ein halbes Jahrhundert später vertraut, als es diesmal um den „islamistischen, gottlosen Terrorismus“ ging.808 Es war die Wiederholung eines Reaktionsmusters gegen eine Krise der amerikanischen Identität, das stets Zuflucht McCarran Act. Sein Tl. II, The Subversive Activities Control Board, wurde 1974 annulliert. Vgl. Roberta Strauss Feuerlicht, Joe McCarthy and McCarthyism. The Hate that Haunts America, New York: McGraw-Hill, 1972, 150 – 154. 803 Michael J. Heale, McCarthy’s Americans: Red Scare Politics in State and Nation, 1935 – 1965, Houndmills: Macmillan, 1998, 34. 804 Jeanne Theoharis, Athan Theoharis, These Yet to Be United States. Civil Rights and Civil Liberties in America since 1945, [Toronto:] Wadsworth, 2003, 39. Bezüglich eines besonderen Falls, vgl. Arthur J. Sabin, Red Scare in Court: New York versus the International Workers Order, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1993. 805 Vgl. Griffin Fariello, Red Scare. Memories of the American Inquisition. An Oral History, New York und London: Norton, 1995, 25, und passim. 806 Zit. n. Corliss Lamont, Yes to Life, New York: Horizon Press, 1981, in: McCarthyism: The Great American Red Scare. A Documentary History, hrg. v. Albert Fried, New York und Oxford: Oxford University Press, 1997, 69. Schon 1956 hatte Lamont festgestellt, dass die Leitung der ACLU „so verstrickt war in den weltweiten Kampf gegen den Kommunismus, dass sie nicht in der Lage war, sich auf ihre eigentliche Aufgabe, die Verteidigung der Bill of Rights, konzentrieren konnte“, Corliss Lamont, Freedom is as Freedom does. Civil Liberties in America, [1956], New York: Continuum, 41990, 284 – 285. 807 Zit. n. Philip Jenkins, The Cold War at Home. The Red Scare in Pennsylvania, 1945 – 1960, Chapel Hill und London: The University of North Carolina Press, 1999, 69. 808 Vgl. Ted Morgan, Reds. McCarthyism in Twentieth-Century America, New York: Random House, 2003, xiv, der die McCarthy Ära „mit der widersprüchlichen Kultur der Furcht“ charakterisierte, die „wieder auferstanden ist in den Methoden, die der Justizminister John Ashcroft angewandt hat, um gegen den Terrorismus vorzugehen, die ähnlich jenen sind, die die Regierung gegen den Kommunismus anwandte: Deportation, Verhaftung ohne rechtliches Gehör, das Abzielen auf ethnische Gruppen und alarmistische Gefahrenankündigungen, reale wie eingebildete“.

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nimmt zu den Selbstsicherheit verbreitenden Werten des amerikanischen Patriotismus, ohne zu realisieren, dass es genau dieser unkritische und übereifrige Patriotismus und jene, die diese Gefühle ausbeuten, um wesentliche Veränderungen durchzusetzen, sind, die die eigentliche Gefahr für das Land darstellen. Offensichtlich passierte genau dieses erneut nach dem 11. September. Das USA Patriot Act von 2001 und das Heimatlandsicherheitsgesetz von 2002 weisen den ganzen Weg zurück auf die Präsidentschaft von John Adams, den Quasikrieg und die Fremdenund Aufwiegelungsgesetze von 1798, während im Bereich strafrechtlicher Untersuchung man leicht auf rechtliche Vorgaben zurückgreifen konnte, die einige Jahre zuvor im Drogenkrieg entwickelt worden waren.809 Es ist eine Politik, die auf der Annahme basiert, dass die Menschen in Krisenzeiten stets bereit sein werden, angebotene angebliche Sicherheit gegen Freiheit einzutauschen, denn, wie es heißt, „Extremismus in der Verteidigung von […] Rechten […] ist keine Tugend“.810 Es ist der gleiche Trugschluss, dass „um die Segnungen einer guten Regierung zu erhalten, ein Teil unsere natürlichen Freiheit geopfert werden muss“, den bereits James Wilson, einer der amerikanischen Gründungsväter, vor über 200 Jahren gegeißelt hatte.811 Dennoch ist es genau diese carte blanche, die jede Regierung in vergleichbaren Situation zu erhalten versucht, um ihren Effizienzanspruch unter Beweis zu stellen, und es offenbart die Reife einer Gesellschaft, in diesen Situationen wachsam zu bleiben. In einer weit weniger dramatischen Lage als den Vereinigten Staaten nach dem 11. September hatte Ronald Dworkin den elektrisierenden Ausdruck „Der Freiheit geht es schlecht in Großbritannien (Liberty is ill in Britain)“ geprägt.812 Seit dem 11. September muss jedoch zwingend die Frage gestellt werden, ob es der Freiheit in den Vereinigten Staaten schlecht geht? Vor mehr als 200 Jahren wurde dieses Land mit seiner Verfassung und seiner Bill of Rights geboren. Doch nach dem 11. Sep809

Dieser Zusammenhang findet sich überzeugend herausgearbeiet bei Simon Bronitt, „Constitutional Rhetoric versus Criminal Justice Realities“, in: Public Law Review, 14 (2003), 76 – 80; ders., „Australia’s Legal Response to Terrorism: Neither Novel nor Extraordinary“ (als Manuskript benutzt); ders. und Bernadette McSherry, Principles of Criminal Law, Sydney: Thomson/Law Book, 22005, Kap. 15: International and Transnational Crimes. Es mag an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass in der französischen Gesetzgebung jener Jahre beide Materien, der Krieg gegen Drogen und der gegen Terrorismus Teil derselben Gesetze waren, vgl. Gesetz Nr. 2001 – 1062, Über Sicherheit im Alltag (Journal officiel, no. 266 [16. November 2001], 18215), Gesetz Nr. 2002 – 307, Durchsetzung des Schutzes der Unschuldsvermutung und der Rechte von Opfern (ebd., no. 54 [5. März 2002], 4169), und Gesetz Nr. 2004 – 204, Über die rechtliche Anpassung an die Entwicklung der Verbrechen (ebd., no. 59 [10. März 2004], 4567). Vgl. auch Mireille Delmas-Marty, Le Relatif et l’Universel. Les forces imaginates du droit, Paris: Seuil, 2004, 241 – 307. 810 Amitai Etzioni, How Patriotic is the Patriot Act? Freedom Versus Security in the Age of Terrorism, New York und London: Routledge, 2004, 42. 811 James Wilson, „Lectures on Law, Pt. II“ [1791/92], in: The Works of James Wilson, hrg. v. Robert Green McCloskey, 2 Bde., Cambridge MA: Belknap Press, 1967, II, 586. 812 Ronald Dworkin, A Bill of Rights for Britain, London: Chatto & Windus, 1990, 1, vgl. insgesamt 1 – 9.

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tember stellte sich die Frage, ob die Bill of Rights „Gefahr läuft, zu einem weiteren Opfer des ,Kriegs gegen den Terrorismus‘“ zu werden, wie es Nancy Chang formulierte.813 Der sogenannte „sneak and peek“ (herumschleichen und verstohlen gucken) Absatz 213 des USA Patriot Act, der sich weder ausschließlich auf Taten noch auf Tatverdacht von Terrorismus bezieht und in seiner Geltungsdauer zeitlich unbegrenzt ist, ist nur ein Hinweis auf die Absicht, die Befugnis zu Untersuchungen auszudehnen, womit zugleich „der IV. Zusatzartikel und die Möglichkeit, auf der Basis des IV. Zusatzartikels eine Durchsuchung oder eine andere Maßnahme zu seiner Verteidigung anzufechten, ernsthaft untergraben wird“.814 Ronald Dworkin fasste, indem er auf die Militärverordnung von Präsident Bush vom 13. November 2001 und ihre Revision vom 21. März 2002 verwies, den Kern wie folgt zusammen: „Also behält sich die Regierung das Recht vor, nicht nur angeklagte Terroristen im Geheimen abzuurteilen, sondern auch, sie weiterhin einzusperren, selbst wenn sie für unschuldig befunden wurden.“815 Der Verdacht, nicht der Beweis war für den amerikanischen Justizminister der ausschlaggebende Grund für unbegrenzte Internierung.816 Dieses Mal und anders als 50 Jahre zuvor war die ACLU bemüht, gemeinsam mit konservativen Organisationen ein breites Bündnis unter dem Namen Patriots to Restore Checks and Balances zu bilden, um vereint gegen die Angriffe der Regierung auf amerikanische Bürgerrechte unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung Front zu machen.817 Eine politische Ordnung auf der Basis des modernen Konstitutionalismus zu errichten, war das offiziell verkündete amerikanische Ziel in Afghanistan und im Irak. Doch um glaubwürdig so hoch greifen zu können, wäre es erforderlich gewesen, den modernen Konstitutionalismus zunächst erfolgreich dort vor seinen inneren Feinden zu verteidigen, wo sein Ursprung und Fundament liegt, nämlich in den Vereinigten Staaten und Westeuropa, wo über 200 Jahre lang immer wieder entschlossen darum gerungen wurde, Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten als Grundlagen einer Regierung und einer legitimen politischen Ordnung zu verankern. Die hier aus der Geschichte der Vereinigten Staaten gewählten Beispiele hätten genauso gut aus anderen Ländern gewählt werden können, in denen der moderne 813 Nancy Chang, „How Democracy Dies: The War on Our Civil Liberties“, in: Lost Liberties. Ashcroft and the Assault on Personal Freedom, hrg. v. Cynthia Brown, New York und London: The New Press, 2003, 35. 814 Stanley Mailman u. a., Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism (USA Patriot Act) Act of 2001. An Analysis, Newark, NJ und San Francisco: LexisNexis, 2002, 6. 815 The New York Review of Books, 25. April 2002 (http://www.nybooks.com/articles/15284, Zugriff: 12. Oktober 2020). 816 David Cole und James X. Dempsey, Terrorism and the Constitution. Sacrificing Civil Liberties in the Name of National Security, New York: The New Press, 2002, 156 – 158; vgl. auch David Cole, „The Course of Least Resistance: Repeating History in the War on Terrorism“, in: Lost Liberties, hrg. v. Brown, bes. 21 – 29. 817 Vgl. Delmas-Marty, Le Relatif et l’Universel, 303 – 306. Vgl. dazu auch unten Kap. V. 8.

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Konstitutionalismus die politisch-rechtliche Grundlage darstellt. Und dennoch scheint es eine besondere Anfälligkeit für diese Gefährdungen aus dem Innern heraus in den Vereinigten Staaten zu geben. Das soll keine Kritik an dem ausgezeichneten Buch von Geoffrey Stone darstellen.818 Denn ungeachtet des emotionalisierten Sprachgebrauchs ging es in den Vereinigten Staaten weder 1798 noch 1919/20 noch in den frühen 1950er Jahren noch nach dem 11. September um einen Krieg im Innern der Vereinigten Staaten, bei dem man, allein schon fragwürdig genug, auf den alten auf Cicero zurückgehenden Grundsatz Inter arma silent leges hätte zurückgreifen können. Der moderne Konstitutionalismus kennt keine Zeit, in der die Gesetze schweigen, und nicht nur James Wilson fand ein entsprechendes Ansinnen völlig unakzeptabel.819 In den dunklen Stunden eines tatsächlichen Krieges hatte Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung die Existenz und die Macht der Rechte betont, die das Volk besitzt, jetzt und in diesem Augenblick und nicht in einer ungewissen fernen Zukunft nach dem Krieg. Auch wenn zwanzig Terroristen heute größeren Schaden anzurichten vermögen als zu früheren Zeiten, bringen sie das Land genauso wenig unter Beschuss, wie dies John Brown 1859 in Harper’s Ferry zu tun vermochte. Der moderne Terrorismus verkörpert ebenso wenig eine Bedrohung des modernen Konstitutionalismus, wie es seinerzeit die übrigen hier gebrachten Beispiele vermocht hätten, selbst wenn sich diese in den letzten hundert Jahren gehäuft haben. „[D]ie einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Korruption der Regierungen“ sind „die Unwissenheit, das Vergessen und die Verachtung der Menschenrechte“.820 Blickt man auf die hier behandelten Beispiele, die Kriegsrhetorik und den instrumentalisierten übereifrigen, unkritischen Patriotismus, wird man feststellen müssen, dass die Diagnose aus der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 nichts an Aktualität eingebüßt hat. Zwar muss betont werden, dass die genannten Beispiele genauso wenig wie ein durchaus denkbares und ebenso berechtigtes Narrativ aus der Perspektive der vierhundertjährigen schwarzen Minderheit in Amerika mit den rassistischen und widerrechtlichen Unterdrückungsmaßnahmen auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei anders als in vielen Ländern Europas keinen Absturz des Landes in den Faschismus bewirkt haben. Bislang konnte sich stets der moderne Konstitutiona818 Geoffrey R. Stone, Perilous Times: Free Speech in Wartime. From the Sedition Act of 1798 to the War on Terrorism, New York und London: Norton, 2004. 819 Die von William H. Rehnquist, All the Laws But One. Civil Liberties in Wartime, New York: Alfred A. Knopf, 1998, 225, gezogene Schlussfolgerung, dass „[d]ie Gesetze in Zeiten des Krieges nicht schweigen, sondern mit einer etwas anderen Sprache reden werden“, ist, um das wenigste zu sagen, diskussionswürdig. Dass der Rechtsstaat laut Rehnquist in den letzten 2000 Jahren keine großen Fortschritte gemacht hat, geht aus einer weiteren Feststellung von ihm hervor: „Es ist weder wünschenswert noch auch nur im entferntesten wahrscheinlich, dass die bürgerlichen Freiheiten in Kriegszeiten eine vergleichbare bevorzugte Stellung einnehmen werden wie in Friedenszeiten“ (ebd., 224 – 225). 820 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Präambel, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 29.

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lismus in den Vereinigten Staaten ungeachtet vieler böser Schrammen und Blessuren behaupten. Doch nicht erst in jüngster Zeit erscheinen die Gefahren, die sich aus der amerikanischen konstitutionellen Wende nach 1776 ergeben haben und die 1787 zur Errichtung einer derart mächtigen Exekutive geführt haben aus der Überzeugung, man müsse sie gegen eine drohende übermächtige Legislative stärken, immer schwerer beherrschbar. Statt der angestrebten Balance der Gewalten ergibt sich zunehmend eine Prädominanz der Exekutive, die heute mehr denn je am Kongress vorbei mit Hilfe von exekutiven Verordnungen, Initiativen, Memoranden, Proklamationen, Direktiven u. a. regiert.821 Diese Instrumente, darunter insbesondere die exekutiven Verordnungen, setzen effektiv Recht und untergraben damit die von der Verfassung eingerichtete Gewaltentrennung.822 Dass diese rechtssetzende Gewalt des Präsidenten letztlich den Kongress als die eigentliche Legislative aushebelt – auch wenn exekutive Verordnungen eigentlich allein auf der Basis bestehender Gesetze als Verwaltungsanordnungen fungieren sollten – ist nirgendwo in der Verfassung geregelt, scheint vielmehr von Anbeginn an als die amerikanische Variante der königlichen Prärogative des britischen Monarchen, sprich der britischen Regierung, stillschweigend akzeptiert worden zu sein.823 Doch die ihr innewohnenden Gefahren für das demokratische Gefüge des Landes hat keine amerikanische Regierung so deutlich werden lassen, wie die des skrupellos agierenden Präsidenten Trump, der schließlich um des eigenen Machterhalts willen sogar bereit war, einen Aufstand gegen das demokratische Herz des Landes zu inszenieren. Was am 6. Januar 2021 noch scheiterte, lastet als fatale Hypothek jedoch fortan auf dem Land aufgrund der ihr vorausgegangenen systematischen Diskreditierung seiner Institutionen und seiner demokratischen Grundordnung. Die Grundprinzipien, die das Land bald zweieinhalb Jahrhunderte getragen und aufgerichtet haben, bedürfen nunmehr angesichts der vier Jahre lang geschürten Missachtung von Institutionen und von Recht und Gesetz einer neuerlichen Begründung, um den Versuch, mit Hilfe von Superpatrioten das Wertesystem im Innern neu zu definieren und dem amerikanischen Kapitalismus freien Lauf zu lassen, abzuwehren. Noch hat sich das demokratische Gefüge des Landes – wieder einmal – als stärker erwiesen. Doch die Feinde des modernen Konstitutionalismus im Innern erscheinen davon nicht entmutigt. Principiis obsta!

821

Vgl. Phillip J. Cooper, By Order of the President. The Use and Abuse of Executive Direct Action, Lawrence, KS: University Press of Kansas, 2002. 822 Vgl. Kenneth R. Mayer, With the Stroke of a Pen. Executive Orders and Presidential Power, Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2001, 5. 823 Vgl. Cooper, By Order of the President, 15 – 37.

IV. Frankreich Der moderne Konstitutionalismus war 1776 in Virginia ins Leben getreten und hatte sich in den folgenden Monaten und Jahren rasch, wenn auch nicht unumstritten über weitere amerikanische Staaten ausgebreitet und 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten geprägt. Mit der Französischen Revolution griff er auf Frankreich über und bestimmte auch hier, zunächst für das Jahrzehnt der Revolution, das Verfassungsdenken, das diesen modernen Konstitutionalismus auf die französischen Bedingungen und Erfordernisse anzupassen suchte. Von Frankreich aus strahlte er dann in seinen französischen Nuancen im 19. und 20. Jahrhundert auf das übrige Europa, aber auch auf Lateinamerika aus. Frankreich nimmt daher in der Geschichte der Entstehung und den Ausprägungen des modernen Konstitutionalismus eine zentrale Rolle ein, der seine hervorgehobene Stellung in diesem Band begründet. Wenn dieser Teil mit seinen zwei Kapiteln dennoch ungewöhnlich kurz erscheint, so liegt das an der Begrenzung auf zwei wesentliche Themen, zunächst, nicht ganz unähnlich dem Teil III über Amerika, mit einem Kapitel über die Vorgeschichte vor Revolutionsausbruch, zum anderen mit einem Kapitel über zentrale Aspekte des französischen Verfassungsdenkens mit der Fokussierung auf 1791. Konkret wird mithin in Kap. VI. 1., wenn auch mit Konzentration auf das Denkens Condorcets, versucht aufzuzeigen, wie die Entstehung des modernen Konstitutionalismus in Amerika in Frankreich aufgenommen und durch die sich an den Gegebenheiten und Bedürfnissen Frankreichs orientierenden Perspektive geprägt wurde. Dieser spezifische Blickwinkel hat nicht nur die Wahrnehmung der amerikanischen Verfassungen bestimmt, sondern auch wesentlich die Richtung des französischen Verfassungsdenkens in dieser Zeit und bis weit in die Revolution hinein – und zum Teil bis in die Gegenwart – beeinflusst. Um das französische Verfassungsdenken der Revolution und damit zugleich die Stellung des Landes innerhalb des modernen Konstitutionalismus zu verstehen, ist es also erforderlich hier anzusetzen, eine bislang weitgehend vernachlässigte Perspektive. Ähnliches lässt sich bezüglich des folgenden Kap. VI. 2. sagen, bei dem es formal um den Konventsgedanken geht, ein Thema, das in der Vergangenheit in Frankreich eher geringe Beachtung, wenn überhaupt eine, gefunden hat. Dabei zeigt sich, dass das Thema nicht nur ungleich komplexerer Natur ist, als gemeinhin angenommen, sondern dass es mitten in die für Frankreich zentrale Dichothomie von Verfassung und Volkssouveränität hineinführt, ein Thema, dem Kap. V. 2. in größerer Breite erneut nachgehen wird, das für das französische Verfassungsdenken der anschließenden gut 200 Jahre bestimmend ist. Die dabei von den in Amerika entwickelten Antworten bezüglich dieser Polarität so dezidiert andersartige französische Posi-

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IV. Frankreich

tionierung hat den modernen Konstitutionalismus in seinen amerikanischen und europäischen Varianten bis in das 21. Jahrhundert hinein geprägt. Es erscheint daher angebracht, die Betrachtung Frankreichs an dieser Stelle mit der Konzentration auf die beiden, die Differenz des 19. und 20. Jahrhunderts markierenden Grundsatzthemen zu beschränken, um dann in weiteren Kapiteln nachfolgender Teile unter einer komparatistischen Perspektive die Stellung und Bedeutung Frankreichs innerhalb einer Geschichte des modernen Konstitutionalismus weiter auszuleuchten. Da die französische Ausprägung des modernen Konstitutionalismus wesentlich in der Auseinandersetzung mit ihren amerikanischen Vorgängerformen entstanden ist, empfiehlt sich, bezogen auf Frankreich, in besonderem Maße diese komparatistische Vorgehensweise, in der die französischen Nuancen erheblich deutlichere Konturen anzunehmen in der Lage sind. Dies kam bereits in Kap. I. 1. zum Ausdruck, das die zentrale Rolle Frankreichs für die Entstehung und Entwicklung des modernen Konstitutionalismus herausgestrichen hat. Im Kap. III. 7. wurde der vergleichende Blick auf Frankreich gerichtet, während insbesondere der nachfolgende Teil V in sieben der acht Kapitel dieses Teils bestimmte Aspekte des französischen Verfassungsdenkens und seines prägenden Einflusses auf den modernen Konstitutionalismus herausarbeitet. In Teil VI. ist dann speziell in den Kap. VI. 1., VI. 2. und VI. 6. von direktem französischem Einfluss die Rede, der aber auch in allen nachfolgenden Kapiteln dieses Teils mit Ausnahme von Kap. VI. 10. immer wieder anklingt. Schließlich folgen mit den Kap. VII. 1. und VII. 5. des Teils VII. zwei weitere Beispiele für diese Formen der Ausprägungen innerhalb des europäischen Kontextes, während in den beiden Kapiteln des Teils VIII. die französischen Auswirkungen auf die Verfassungsentwicklung in Lateinamerika wiederholt thematisiert wird. Auch wenn alle diese Kapitel zusammen keine umfassende Geschichte des modernen Konstitutionalismus in Frankreich ergeben können noch wollen, dürfte damit dennoch, so die Absicht, die herausragende Stellung des Landes für die Entstehung und Ausprägungen des modernen Konstitutionalismus mit der gebotenen Deutlichkeit umrissen sein.

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen vor 17891 In dem Beschwerdeheft (Cahier de doléance) des dritten Standes von Mont-deMarsan finden sich die Worte: 1

Überarbeitete und erweiterte Version eines Beitrags, der zuerst erschien als „Condorcet et la discussion des constitutions américaines en France avant 1789“, in: Condorcet, homme des Lumières et de la Révolution, hrg. v. Anne-Marie Chouillet u. Pierre Crépel, Fontenay/Saint Cloud: ENS Éd., 1997, 201 – 206. Generell möchte ich an dieser Stelle für Condorcet und die politisch-soziale Diskussion in Frankreich im ausgehenden 18. Jahrhundert auf meine Habi-

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen

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„Die Ursache aller unserer Leiden, die das Königreich durchmacht, liegen hauptsächlich im Fehlen einer Verfassung. […] [Unsere Deputierten] werden eine allgemeine Verfassung fordern, die alle Bürger einschließt und alles Eigentum garantiert. Die Prinzipien dieser Verfassung müssen in einer Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen enthalten sein.“2

Das Beispiel erscheint willkürlich gewählt, denn die Cahiers, Flugschriften und Broschüren mit vergleichbaren Äußerungen in Frankreich im ersten Halbjahr 1789 sind Legion. Dennoch verdient der hier wiedergegebene Auszug aus dem Cahier des dritten Standes von Mont-de-Marsan aufmerksam gelesen zu werden. Er beklagt das Fehlen einer Verfassung in Frankreich und gibt dabei zugleich eine Definition dessen, was unter einer Verfassung zu verstehen sei: ein Dokument für alle Staatsbürger, das auf allgemeinen und unumstößlichen Prinzipien beruhe, die in einer vorausgehenden Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen festzuschreiben seien. Mithin sollte eine Verfassung aus zwei Teilen bestehen, einer Menschenrechtserklärung und einer Verfassungsurkunde, dem eigentlich Acte constitutionnel, so die Wortwahl der jakobinischen Verfassung, oder Plan oder Form of Government, wie es die Amerikaner nannten. Es war eine moderne Definition, für die es zu diesem Zeitpunkt weder in Frankreich noch in England Beispiele gab, sondern – seit 1776 – allein in Amerika und die in Frankreich zu diesem Zeitpunkt keineswegs als unumstritten gelten konnte. Als das Parlament von Paris am 3. Mai 1788 seine „Erklärung der Rechte der Nation“ (Déclaration des droits de la nation) dem König vorlegte, tat es dies in der Überzeugung, dass die Verfassung Frankreichs in Vergessenheit geraten sei und sie, das Parlament als oberste Rechtsbehörde, berufen seien, über diese zu wachen.3 Die Parlamente des Ancien régime waren, wenig überraschend, wie generell der Amtsadel kaum die Befürworter der modernen Vorstellungen von Verfassung, wie sie sich nur wenige Monate später der dritte Stand von Mont-de-Marsan auf die Fahnen geschrieben hatte. Diese moderne Forderung war nicht mehr jene traditionelle Vorstellung von Verfassung als Sammlung von „allgemeinen Gesetzen, die als Regel für das ganze Reich dienen“, wie es in der großen Encyclopédie gehießen hatte.4 Generell lässt sich festhalten, dass in Frankreich zwischen dem Frühjahr 1777, als die ersten amerikanischen Verfassungen in französischen Übersetzungen erschienen, und dem Frühjahr 1789 zwei Vorstellungen von Verfassung konkurrierten, eine traditionelle, wenn man so will, französische oder europäische, mit dank Montesquieu einem britischen Einfluss in Hinblick auf „die politische Freiheit in ihrer litationsschrift Individuum und Gesellschaft. Soziales Denken zwischen Tradition und Revolution: Smith – Condorcet – Franklin (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 70), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1981, bes. 101 – 199, verweisen. 2 Abgedruckt in: Stéphane Rials, La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, Paris: Hachette, 1988, 116. 3 Ebd., 522 – 528. 4 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, IV, Paris: Briasson, 1754, 63.

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IV. Frankreich

Beziehung zur Verfassung“.5 Die andere orientierte sich an eben diesen neuartigen amerikanischen Verfassungen. Dieser Widerstreit, der in der Krise des Ancien régime kulminierte, bewirkte schließlich, wie im Kap. V. 1. ausgeführt werden wird, dass im Sommer 1789 der Begriff „Verfassung“ seiner Ortsbestimmung im Zeichen der ausgebrochenen Revolution harrte. In der geistigen wie moralischen Krise des Ancien régime erschien dem Bürgertum zunehmend die Demokratie als Ideal zur Verwirklichung seines politischen und sozialen Aufstiegs.6 In dieser Situation konnte sich Benjamin Franklin, als er als Abgesandter der aufständischen Kolonien in Nordamerika in Frankreich Ende 1776 eintraf, der größten Aufmerksamkeit sicher sein. Die liberalen und intellektuellen Pariser Salons standen dem Aufklärer wie der Inkarnation der amerikanischen Revolution offen. Spätestens ab März 1777 erschienen in Paris – nachhaltig gefördert durch Franklin – dank der Übersetzungen von La Rochefoucauld sukzessive die französischen Übersetzungen der amerikanischen Verfassungen als Ausdruck einer rationalen, bürgerlich-freiheitlichen politischen Ordnung.7 Damit war die Diskussion über diese neuartigen Verfassungen und auf diese Weise zugleich über den sich herausbildenden modernen Konstitutionalismus eröffnet, was der einschlägigen Geschichtsschreibung weitgehend entgangen ist.8 Dabei meldete sich kein geringerer als Turgot als einer der ersten in dieser Debatte zu Wort. In seinem berühmten Brief an Richard Price brachte er seine Begeisterung für die in der Neuen Welt verwirklichte politische Freiheit zum Ausdruck. Amerika, so schrieb er, „ist die Hoffnung des Menschengeschlechts. Sie kann dafür das Modell werden. Es muss der Welt durch die Tat beweisen, dass die Menschen frei und friedlich sein können und sich der

5 Der Titel des berühmten Buches XI von Montesquieus De l’Esprit des lois lautete „Des lois qui forment la liberté politique dans son rapport avec la constitution“ (Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 1951, II, 393, vgl. auch das ganze Buch, 393 – 430). 6 Vgl. dazu meinen Beitrag, „Démocratie, Démocrates“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 – 1820, hrg. v. Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt, H. 6, München: Oldenbourg, 1986, bes. 67 – 71. Vgl. dazu auch unten Kap. V. 3. 7 Vgl. die Briefe von und an Franklin, in: Leonard W. Labaree u. a. (Hrg.), The Papers of Benjamin Franklin, Bd. 1 ff., New Haven: Yale University Press, 1959 ff. (zuletzt Bd. 43, 2018), XXIII, 375 – 376, 473, 521, 523, 598 – 599, 606 – 607, XXIV, 6. Bernard Fay¨, Bibliographie critique des ouvrages français relatifs aux Etats-Unis 1770 – 1800, Paris: Champion, 1925, 8, 10, 11; Henry E. Bourne, „American Constitutional Precedents in the French National Assembly“, in: American Historical Review, 8 (1902 – 03), 466 – 486. 8 So sucht man Hinweise auf diese Diskussion vergeblich etwa bei Marina Valensise, „La Constitution française“, in: The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, I: The Political Culture of the Old Regime, hrg. v. Keith Michael Baker, Oxford: Pergamon, 1987, 441 – 467; Marcel Morabito u. Daniel Bourmaud, Histoire constitutionnelle et politique de la France (1789 – 1958), Paris: Montchrestien, 41996, 18 – 23; Wolfgang Schmale, „Constitution, Constitutionnel“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe, H. 12, München: Oldenbourg, 1992, 31 – 63.

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen

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Ketten aller Art entledigen können […]. Es muss das Beispiel der politischen Freiheit geben, der Religionsfreiheit, der Freiheit von Handel und Industrie.“9

Dieser Freiheitskatalog war offensichtlich von der aktuellen Lage in Frankreich inspiriert, doch die Instrumente zu seiner Erreichung schienen nun der in Amerika entstehende moderne Konstitutionalismus zu liefern. Doch ungeachtet aller seiner Sympathien für die amerikanische Revolution und die neuartigen Verfassungen erblickte Turgot ebenfalls Beunruhigendes in ihnen, das für eine Übernahme in Frankreich nicht in Frage kam. So beklagte er die fehlende Trennung zwischen der Klasse der Eigentümer und der der Nichteigentümer, da sich beide nach Interessen, Rechten und soziopolitischen Funktionen fundamental voneinander unterschieden. Noch beklagenswerter sei die Umsetzung der völlig falschen Idee von Montesquieu über die Gewaltentrennung. Schließlich führe die Übernahme der absurden liberalen englischen Auffassung von einem gebotenen Misstrauen gegenüber politischer Macht letztlich zur Anarchie: „Indem man eingebildeten Gefahren vorbeugen will, bewirkt man, dass tatsächliche entstehen.“10 Das von Turgot gegebene Beispiel blieb nicht ohne Folgen. Indem er Prinzipien der in Amerika eingeführten neuartigen Verfassungen herausstrich, unternahm er den ersten Schritt, diese an die andersartige französische Situation anzupassen. Laut Turgot erforderte das die Zentralisation der Macht in einer uneingeschränkten Nationalversammlung, um die nationale Einheit sicherzustellen, anstelle der amerikanischen Vorstellungen einer Aufteilung der Macht auf verschiedene Institutionen, die sich wechselseitig kontrollieren. Mit dieser grundlegenden Positionierung zu Beginn der französischen Diskussion um die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus markierte Turgot eine entscheidende Gegenposition zu dem in Amerika eingeführten Prinzip der Gewaltentrennung und der Einhegung einer begrenzten Macht durch Gesetze, die dem Einzelnen einen Raum frei von staatlichen Eingriffen ließ. Dagegen setzte Turgot seine Vorstellung einer modernen Verfassung, die dem Staat wirkungsvolle Mittel zur Sicherung der nationalen Einheit und der Gesellschaft die legitime Macht zur Zentralisierung staatlicher Aufgaben verschaffte. Für John Adams war dies ein Angriff auf die Gesamtheit der amerikanischen Verfassungen.11 Dabei übersah Adams, dass es eine ganz besondere amerikanische Verfassung war, die Turgot und mit ihm eine große Zahl weiterer Franzosen mehr als alle anderen amerikanischen Konstitutionen inspiriert hatte, nämlich die Verfassung von Pennsylvania von 1776 mit ihren radikaldemokratischen Bestimmungen, die 9 Œuvres de Turgot, hrg. v. Gustave Schelle, 5 Bde., Paris: Alcan, 1913 – 1923, V, 539. Der Brief datierte vom 22. März 1778 und war eine Antwort auf die Observations on Civil Liberty von Richard Price von 1777. 10 Œuvres de Turgot, V, 535. Vgl. das Kapitel über Turgots politische Theorie bei Claude Morilhat, La Prise de conscience du capitalisme. Economie et philosophie chez Turgot, Paris: Klincksieck, 1988, 94 – 121. 11 John Adams, A Defence of the Constitutions of the Government of the United States of America Against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated 22nd March, 1778, 3 Bde., London: C. Dilly, 1787 – 1788.

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IV. Frankreich

ganz nach dem Geschmack Turgots waren. Von allen amerikanischen Verfassungen fand sie in Frankreich bis zum 9. Thermidor die mit Abstand größte Verbreitung, so dass ihrem Einfluss auf die jakobinische Verfassung weiter unten ein eigenes Kapitel gewidmet ist (Kap. V. 4.) und wir uns Details der Rezeptionsgeschichte an dieser Stelle ersparen können, um uns im Nachfolgenden insbesondere auf Condorcet konzentrieren zu können. Zu dem Zeitpunkt, als Brissot 1783 seine Eloge auf die pennsylvanische Verfassung veröffentlichte, hatten sich bereits zahlreiche Franzosen mit den Prinzipien der amerikanischen Verfassungen beschäftigt, so Mably, Régnier, Mandrillon, Raynal, Diderot, Hilliard d’Auberteuil und andere.12 Von entscheidender Bedeutung wurde jedoch der Marquis de Condorcet. Seine Lettres d’un bourgeois de New-Haven à un citoyen de Virginie, über die er sicherlich ausführlich mit seinen Freunden Thomas Jefferson, dem amerikanischen Gesandten in Paris seit 1784, und Thomas Paine gesprochen hatte,13 nahm sich ausführlich der Fragen von Wahlen und Repräsentation an. Doch sein „eigentliches Thema“ (l’objet principal) war, den Nachweis von „der Nutzlosigkeit und Gefahr, die gesetzgebende Macht in verschiedene Kammern zu teilen“, zu erbringen.14 Ganz im Sinne Turgots bekräftigte er die Brissotsche Interpretation der pennsylvanischen Verfassung und definierte mit Blick auf die uneingeschränkte Legislative die Verfassung als „die Form, gemäß der die Legislative ihre Aufgaben ausführt“.15 Wie zuvor bereits Turgot, Brissot und viele andere war Condorcet überzeugt, dass schlechte, unterdrückende oder despotische Gesetze angesichts eines freien und aufgeklärten Volkes nicht von einer derartig machtvollen Legislative zu befürchten seien. Im Gegenteil, „das Prinzip, den Missbrauch zu verhindern, indem man sich der Macht entgegenstellt, hat den Nachteil, das Schicksal des Staates mehr oder weniger von der Hartnäckigkeit, mehr oder weniger von der Korruption jedes Einzelnen abhängig zu machen“.16 Die Freiheit des Handels, gute bürgerliche Gesetze und die größtmögliche Gleichheit in der Vertretung des Volkes seien der sichere Schutz vor sozialer Disharmonie und politischer Korruption, den beiden größten Fehlern Englands, wie Condorcet betonte. Daher sei eine Teilung der Legislative in zwei Kammern nicht nur unnütz, sondern vielmehr gefährlich.17 12 Vgl. Durand Echeverria, Mirage in the West. A History of the French Image of American Society to 1815, 1957, Ndr. Princeton: Princeton University Press, 1968, 71 – 74; Robert R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760 – 1800, 2 Bde., Princeton: Princeton University Press, 1959 – 1964, I, 268 – 272. 13 Vgl. Elisabeth u. Robert Badinter, Condorcet (1743 – 1794): Un intellectuel en politique, Paris: Fayard, 1988, 228 – 231 (wenn auch ohne Hinweis auf Jefferson); Frank Alengry, „Le Sens des réalités chez Condorcet constitutionnaliste“, in: Revue d’histoire politique et constitutionnelle,1 (1937), 606 – 609. 14 Œuvres de Condorcet, hrg. v. Arthur Condorcet O’Connor u. François Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 49, IX, 74. 15 Ebd., 7. 16 Ebd., 69. 17 Ebd., 74 – 93.

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen

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Ohne sich mit den anderen amerikanischen Verfassungen und ihren Zweikammerlegislativen auseinanderzusetzen, war für ihn allein die Verfassung von Pennsylvania die kongeniale Schöpfung, die durch ihre einfachen, klaren und vernünftigen Strukturen, wie er es sah, bestach, ein Grundsatz, auf den er immer wieder zurückkam. „Alle Verkomplizierungen des Systems, alle Unterscheidungen sind ihrer Natur nach schlecht und können lediglich durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden.“18 Einen weiteren Gesichtspunkt führte Condorcet ein, als er sich 1789 in seinen Idées sur le despotisme den amerikanischen Rechteerklärungen zuwandte, die punktuell seine Kritik fanden. Eine in ihnen eher ephemer auftauchende Bestimmung war ihm Anlass genug für eine grundsätzliche Bemerkung. Dass einige Verfassungen das Recht einräumten, den Militärdienst allein aus Gewissensgründen verweigern zu können, erschien ihm zu vage und hieße, ohne jede sachliche Begründung die Rechte des Einzelnen zu verabsolutieren und ließ daher jeden Bezug auf die Rechte der Gesellschaft vermissen. „Das Prinzip, das zum Ziel hat, das Gewissen des Einzelnen in dem zu respektieren, was tatsächlich der Bereich der Gesetze sein sollte, ist nur eine Ermutigung zum Fanatismus.“19 Es fügt sich in dieses Bild, dass Condorcet ebenso im Gesetzesbegriff eine wesentliche Differenz zwischen den amerikanischen und französischen Vorstellungen fand. In Amerika sei das Gesetz Ausdruck einer allgemeingültigen Regel. In Frankreich hingegen sei, so Condorcet, das Gesetz, la loi, eine Deduktion der Vernunft, ja der Ausdruck konkretisierter Vernunft.20 Daraus folgte, dass eine Verfassung nicht der Ausdruck dessen sein könne, was gesellschaftlich möglich ist, sondern das Postulat der Vernunft sein müsse. Dass ein republikanischer Gesetzgeber tyrannisch werden können, sei damit praktisch unvorstellbar. Damit hatten alle Vorstellungen von Kraft der Vernunft geschaffenen Institutionen die Oberhand über alle Betrachtungen der menschlichen Natur gewonnen, die für die Amerikaner in ihren Auffassungen über die Grundlagen des modernen Konstitutionalismus so prägend waren. Auch wenn damit bereits einige wichtige Aspekte benannt sind, die im französischen Verfassungsverständnis seither deutliche Spuren hinterlassen sollten, bleibt Condorcets frühe Analyse der soeben vorgeschlagenen und noch nicht angenommen amerikanischen Bundesverfassung von 1787, mutmaßlich die früheste ihrer Art in Europa, von einschneidender Bedeutung. Condorcet begann seine Analyse mit dem Hinweis darauf, dass diese Verfassung noch nicht von den einzelnen Staaten an18 „De l’Influence de la Révolution d’Amérique sur l’Europe“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, VIII, 95 – 96. 19 Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, IX, 170, vgl. überhaupt 168 – 170.Vgl. dazu generell die Betrachtungen zum sozialen Bezug des frühen amerikanischen Menschenrechtsverständnisses in Kap. V. 8. 20 Dazu Catherine Kintzler, „Condorcet et la lettre des lois“, in: Condorcet: Mathématicien, économiste, philosophe, homme politique. Colloque international, hrg. v. Pierre Crépel u. Christian Gilain, [Paris:] Minerve, 1989, 279 – 287.

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IV. Frankreich

genommen sei und fasste seine Ablehnung in die Worte zusammen: „Ich denke im Gegenteil, dass jeder von ihnen noch nützliche Einwände machen wird.“21 Fragt man nach seinen Gründen für diese Ablehnung, ist die Antwort auf drei Ebenen zu suchen. Prägend für seine Einstellung waren die voraufgegangenen und immer noch bestehenden Konföderationsartikel (Articles of Conferedation). Eine zweite Ebene stellen jene Artikel und Abschnitte der Bundesverfassung dar, die Condorcet konkret herausgriff und analysierte. Die aufschlussreichste Ebene ist hingegen die dritte, die die Bestimmungen und Prinzipien der Verfassung umfasst, die Condorcet in seiner Analyse schweigend überging und damit ungeachtet ihres zentralen Charakters für eine Beurteilung der Verfassung völlig unberücksichtigt ließ.22 Condorcet fasste seine Bewunderung für die Articles of Confederation in zwei Sätzen zusammen. „Die erste Bundesverfassung unter dem Titel Acte de la confédération ist in einer Art und Weise verfasst, die jede Gesellschaft vernünftiger und tugendhafter Menschen sich zur Ehre anrechnen könnte, in Kraft gesetzt zu haben. Die wenigen Fehler, die sie enthält, sind das Ergebnis einer lobenswerten Vorsicht; und daher ist es leicht, sie zu korrigieren.“23

Diese Bemerkungen erstaunen umso mehr, weil sie nicht nur in deutlichem Widerspruch zur heutigen Forschung stehen. Auch unter den amerikanischen Zeitgenossen dürften sie kaum größere Zustimmung gefunden haben. Dass die Articles of Confederation, die er übrigens genau wie die nunmehr vorgeschlagene Bundesverfassung beide als constitution fédérative bezeichnete, worauf noch zurückzukommen sein wird, nur wenige Mängel besitze, ist angesichts der Tatsache, dass sich ihr Exekutivorgan (Congress) in völliger Abhängigkeit von den Mitgliedstaaten befand, weder über eigene Einkünfte noch über politische Druckmittel zur inneren wie äußeren Durchsetzung seiner Beschlüsse verfügte und für diese ohnehin in der Regel Einstimmigkeit erforderlich war, mit der Entwicklung der zurückliegenden Jahre seit 1781 nur begrenzt in Einklang zu bringen.24 Condorcets Behauptung, dass die Articles leicht zu ändern seien, entbehrt jeder Grundlage. Lediglich einmal, am 18. April 1783 beschloss der Congress eine Amendierung der Articles, wie Con21 Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, VIII, 92. Tatsächlich wurde in den Ratifizierungskonventen der Einzelstaaten der Verfassungstext nicht verändert, sondern als ihr Ergebnis 1791 der Bundesverfassung die ersten zehn Amendments (Bill of Rights) angefügt. 22 Die Auseinandersetzung ist der abschließende Teil („Projet de constitution“) seines Essays „De l’Influence de la Révolution d’Amérique sur l’Europe“, das von 1786 datiert, tatsächlich aber erst Ende 1787 fertiggestellt worden sein dürfte, während ihm die ersten Ratifizierungen durch Delaware (7. Dezember) und New Jersey (18. Dezember 1787) noch nicht bekannt waren, Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, VIII, 69 – 113. Der Abdruck der Verfassung, einschließlich des Begleitschreibens von George Washington, erfolgt auf S. 69 – 92. 23 Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, VIII, 92. 24 Es ist hier nicht der Ort, auf die Einzelheiten dieser „kritischen Jahre“ und die historiographischen Auseinandersetzungen darüber einzugehen. Ich verweise daher nur pauschal auf meine Geschichte der USA, München: Beck, 112021, 28 – 31.

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen

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dorcet durchaus bekannt war, die er darauf den Einzelstaaten zur Ratifizierung vorlegte. Am 8. März 1786 stellte ein Bericht an den Congress fest, dass nach wie vor vier Staaten keinen Anlass gesehen hätten, sich mit der vorgeschlagenen Änderung zu beschäftigen. Die Frage kam nie wieder auf die Tagesordnung des Congress; die Änderung war gescheitert.25 Warum verteidigte Condorcet dennoch dieses „würdige Monument“, dessen Perfektion nach seiner Überzeugung doch so leicht zu erreichen gewesen wäre? Die Befugnisse seiner Exekutive seien weder zu ausgedehnt noch zu eingeschränkt gewesen. Die Articles hätten, so sah er es, ein einfaches, rationales System geschaffen, das nun durch die vorgeschlagene Verfassung unnötig verkompliziert werden sollte, ohne den Nachweis zu erbringen, dass diese Komplikationen das Bestehende tatsächlich verbessern würden. Dabei sei es einfach, „zu zeigen, dass die erforderliche gesetzgebende Gewalt ohne irgendeine Gefahr in einer einzigen Kammer liegen könne“.26 Die Einheit des Handelns tugendhafter Männer, so kongenial ausgedrückt in der Verfassung von Pennsylvania, so wird man festhalten müssen, bestimmte seinen Blick, und eine Verfassung sollte für ihn diese Zielsetzung zum Ausdruck bringen. Rund ein Dutzend Bestimmungen der vorgeschlagenen Bundesverfassung empfahl Condorcet der besonderen Beachtung seiner Zeitgenossen. Bereits ein erster Punkt, die Aufteilung der Legislative in zwei Kammern (Art. I, Abs. 1) lässt die Argumentationsrichtung erkennen. Condorcets Eintreten für den Unikameralismus war hinreichend bekannt, doch seine an dieser Stelle vorgebrachte Begründung erfordert nähere Betrachtung. Bei einem „wahren gesetzgebenden Körper“ könnte das Argument verfangen, dass die große ihm zugewiesene Machtfülle eine Zweiteilung rechtfertigen könne. Doch dieses sei hier nicht der Fall, denn es handele sich stattdessen um einen „Bundeskongress (congrès fédératif)“, dessen Macht seiner Natur nach begrenzt sei. Ferner sei „die Vereinigung aller Teile dieses Kongresses“ viel leichter und er sei ein „von den Bürgern deutlich getrennter Körper“, was die Vorsichtsmaßnahmen wenig wirksam werden ließe.27 Condorcet beließ es bei diesen „unterschiedlichen, nicht ausgeführten oder lediglich angedeuteten Gründen“, so dass wir an dieser Stelle nur nochmals in Erinnerung rufen können, dass er sowohl die Articles als auch die Bundesverfassung als constitution fédérative bezeichnete und dass er letztere als amendierte Fassung der ersteren ansah, in dessen Zentrum in beiden Fällen ein „Kongress“ stehe, ohne dass er auf die fundamental andersartige Wortbedeutung im zweiten Fall näher einging.

25

Vgl. den Text und die Ratifizierungsgeschichte der fehlgeschlagenen Änderung in Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, I, 44. 26 Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, VIII, 92 – 94. 27 Ebd., 93 – 94.

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IV. Frankreich

Sein nächster Punkt lässt sich kürzer abhandeln. So stimmte Condorcet zu, dass die Wahl der Mitglieder des Repräsentantenhauses (Art. I, Abs. 2) von den Einzelstaaten zu regeln war. Jedoch hielt er die Wahl der Senatoren auf sechs Jahre (Art. I, Abs. 3) für zu lang und sah keinen „einzigen plausiblen Grund“ für die unterschiedliche Wahl von Repräsentanten und Senatoren. „Alle Verkomplizierungen des Systems, alle Unterscheidungen sind ihrer Natur nach schlecht und können lediglich durch die Notwendigkeit gerechtfertigt werden.“ Der Senat basiere wie die Articles auf dem Prinzip der Gleichheit der Staaten, das Repräsentantenhaus dagegen auf der Ungleichheit gemäß der unterschiedlichen Bevölkerungszahl der Staaten. Diese beiden gegensätzlichen Prinzipien habe man miteinander versöhnen wollen. Das möge zwar für den Augenblick helfen, aber „niemals werden sie die Basis für ein solides Gebäude bilden“. Hier müsse man sich vielmehr entscheiden. „Die Prinzipien müssen fest und sicher sein, und alles muss darauf hinwirken, sie aufrecht zu halten.“ Daher sei es geboten, hier eine Lösung zu finden, so schwierig sie auch sein möge, auch im Sinne Europas, „wo der erhebliche Fortschritt der Philosophie Grund zur Hoffnung gibt, eines Tages die Errichtung einer Konföderation zu sehen, die die Übel der Menschheit unendlich vermindern würde“.28 Condorcets Einwände gegen die Abs. 6 (Diäten – erst mit der Verfassung des Jahres III hielten Diäten in Frankreich Einzug), 9,2 (Habeas Corpus), 9,5 (Verbot ökonomischer Bevorzugung oder Benachteiligung von Einzelstaaten), 9,6 (Veröffentlichung der Ausgaben und Einnahmen der Union) des Art. I können wir hier übergehen. Bezüglich Art. II hatte er Einwände gegen die Wahl des Präsidenten, gegen dessen Funktion als Oberkommandierenden der Streitkräfte, gegen das Fehlen eines Rates (conseil) sowie das Fehlen einer zeitlichen Amtsbegrenzung. „Es wäre besser auf den Vorteil eines derartigen Wunders an der Spitze der Konföderation zu verzichten, [dass ein Amtsinhaber von sich aus abdanke], als das Volk daran zu gewöhnen, auf diesem Platz stets dasselbe Individuum zu sehen.“ Da drohe bald das Schicksal Polens oder der Niederlande.29 Schließlich wandte sich Condorcet gegen die rechtlichen Bestimmungen in Art. III, Abs. 2 in Streitigkeiten zwischen Staaten („mit der Fähigkeit, systematische Intrigen hervorzubringen, deren Ergebnisse höchst verderblich wären“) und Bürgern verschiedener Staaten. Auch dass Zivilsachen von Geschworenenprozessen ausgenommen waren, fand nicht seine Billigung,30 um sich darauf ganz unvermittelt den Mindestaltervorschriften für Repräsentanten, Senatoren und den Präsidenten zuzuwenden, die er als absurd und widersinnig ablehnte und mit Beispielen begründete, für die er bis zu Scipio Africanus zurückging. Er schloss diese Betrachtungen mit der Verwerfung des Gnadenrechts für den Präsidenten.31 28 Ebd., 95 – 97. Zum Gedanken einer europäischen Konföderation und der Bedeutung, die Amerika dafür gewinnen könnte, s. auch Kap. VII. 3. 29 Ebd., 97 – 100. 30 Ebd., 100 – 101. 31 Ebd., 101 – 103.

1. Condorcet und die Diskussion um die amerikanischen Verfassungen

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Ein letzter spezieller Einwand Condorcets galt Art. VII mit der Bestimmung, dass neun Staaten für das Inkrafttreten der Verfassung ausreichen sollten. Das könnte einen Flickenteppich ergeben, bei dem möglicherweise die bevölkerungsreichsten Staaten ausgeschlossen blieben.32 In der Tat bestand dieses Risiko theoretisch. Doch den Einigungsdruck, der von dieser Bestimmung ausging, konnte er offensichtlich nicht nachvollziehen. Auch wenn sich Condorcet bewusst war, nicht auf alle Punkte der Verfassung eingegangen zu sein – er erwähnte ausdrücklich die Frage, ob nicht die Befugnisse, die dem Kongress in der Gesetzgebung gemäß Art. I, Abs. 8 eingeräumt seien, „nicht der Natur sind, dass sie die Regierungen der Einzelstaaten nahezu zunichtemachen“33–, und er nochmals Steuern, Zölle und Handel pauschal anführte, bleibt die Frage nach den Motiven für seine Auswahl. Natürlich wollte Condorcet die Vereinigten Staaten nicht im Chaos versinken sehen. Shays’s Rebellion, die Auseinandersetzungen zwischen New York und Vermont, die Ungewissheit um den beanspruchten Staat Franklin oder Frankland waren ihm durchaus bekannt. Lediglich eine letztlich erfolgreiche amerikanische Revolution konnte den europäischen Reformkräften und besonders jenen in Frankreich Auftrieb geben, worauf schon Turgot indirekt hingewiesen hatte. Amerika musste daher erfolgreich sein, um für die eigenen Ziele instrumentalisiert werden zu können. In diesen Kontext ist auch Condorcets Interpretation der amerikanischen Bundesverfassung einzuordnen. Eine der offensichtlichsten Abweichungen der Bundesverfassung von den voraufgegangenen Articles of Confederation war die strikte Durchführung der Montesquieuschen Gewaltentrennung, die bereits Turgot bei amerikanischen Einzelstaatsverfassungen vehement beklagt hatte. Es verwundert daher nicht, dass Condorcet sie schweigend überging. Er hatte schon genug Probleme mit der Legislative, bei der er sich auf die wenig überzeugende Konstruktion des „Bundeskongresses (congrès fédératif)“ zurückzog, der ohnehin nur begrenzte Macht habe, womit er sich aufgrund der zitierten abschließenden Bemerkung über die weitreichenden Befugnisse des Kongresses gemäß Art. I, Abs. 8 letztlich selbst widersprach. Ohnehin hielt er das Zweikammersystem und zumal die Konstruktion des Senats für unlogisch und insgesamt für zu kompliziert. Ein Unikameralismus war für ihn aus französischer Sicht eindeutig vorzuziehen. Mit der Exekutive und zumal deren Machtfülle konnte er gar nichts anfangen, und die amerikanische Wende, von dem tradierten Bild der Tyrannei der Exekutive zu der neuartigen Vorstellung einer Tyrannei der Legislative umzuschwenken, war für ihn überhaupt nicht nachvollziehbar. In Frankreich einen König oder selbst als Republik einen Präsidenten entsprechend auszustatten, war für ihn völlig absurd und – für Frankreich – bar jeder Realität. Der Präsident zog daher in Frankreich erst mit der Verfassung von 1848 in die Republik ein. Auch eine unabhängige Justiz als eigenständige dritte Gewalt stand für ihn der uneingeschränkten Durchsetzung des Willens des Volkes entsprechend 32 33

Ebd. 104. Ebd.

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IV. Frankreich

der pennsylvanischen Verfassung entgegen und schied daher für Frankreich aus. Diese Überzeugungen wiederum dämpften seine Begeisterung für weitere Grundsätze des modernen Konstitutionalismus wie repräsentative Regierung, Machtbegrenzung oder die Verfassung als höchstes Gesetz ungeachtet seines wiederholten Eintretens für klare und strikt umzusetzende Prinzipien. Mithin überging er diese ebenso wie das Prinzip der Verantwortlichkeit stillschweigend in seiner Analyse der Bundesverfassung. Dass er 1787 nicht die in der Präambel der Verfassung zum Ausdruck kommende Volkssouveränität lautstark begrüßte, mag politische Gründe gehabt haben, aber auch daran liegen, dass er sie dann in der nachfolgenden Verfassung an keiner Stelle wiederfand. Universelle Prinzipien, Menschenrechte – sieht man einmal von der Kritik an der Möglichkeit der Aussetzung der Habeas CorpusGarantie ab – und die Regelung der Verfassungsänderung ließ er ebenfalls unerwähnt. Ob im letzteren Fall dabei eine Rolle spielte, dass die von ihm so gelobten Articles ebenfalls eine Bestimmung zu ihrer Änderung enthielten – der Versuch von 1783, danach zu handeln, war ihm ja bekannt –, über die sich der Verfassungskonvent von Philadelphia in verfassungswidriger Weise hinweggesetzt hatte, was ihm kaum entgangen sein dürfte, muss dahingestellt bleiben. Die vorgeschlagene Bundesverfassung konstituierte einen Bundesstaat, der mittels Steuern und eigenem Militär einen direkten Zugriff auf die Bürger besaß. Die Articles hatten hingegen einen Staatenbund geschaffen, dessen wenig ausgeprägte zentrale Organe sich lediglich an die Einzelstaaten wenden konnten. Dies alles war Condorcet bekannt. Dennoch ging er auf diese strukturellen Unterschiede mit keinem Wort ein. Im Gegenteil versuchte er, sich ihrer zu entledigen, indem er beide Verfassungen gleichlautend jeweils als eine constitution fédérative bezeichnete. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die amerikanische Konstituierung eines Bundesstaates eine Neuerung darstellte, für die es keine historischen Beispiele gab, so dass sie mithin erst recht der besonderen Würdigung bedurft hätte, weigerte sich Condorcet konstant, dieses zu thematisieren. „Föderalismus“ wurde schließlich zum Unwort in Frankreich – die Schatten wirken bis heute nach –, und die Girondisten wurden 1793, wenn auch zu Unrecht von ihren Gegnern als „Föderalisten“ stigmatisiert. Die Revolution und insbesondere – bis heute – die Republik verlangen Einheit, und alle Revolutionsverfassungen – auch Condorcets Projekt – bis einschließlich 1802 sowie die Verfassungen der II., IV. und V. Republik erklärten stets die „unteilbare“ Republik (1791 war es das „unteilbare“ Königreich). Vor diesem Hintergrund war die konstitutionelle Analyse des Bundesstaats Anathema. Fassen wir diese gedrängten Betrachtungen zusammen, dann erlauben sie die Feststellung, dass es im Frankreich des Jahrzehnts vor Ausbruch der Revolution eine intensive Debatte über die von Amerika kommenden Vorstellungen des modernen Konstitutionalismus gab. Die amerikanische Revolution und ihr vielfältiges Verfassungswerk waren, ohne hier auf die zahlreichen Verbindungen näher eingehen zu können, das Thema der aufgeklärten Pariser Salons und darüber hinaus. Dass lediglich eine einzige der amerikanischen Verfassungen, nämlich die von Pennsylvania von 1776, in die Gedankenwelt dieser reformorientierten französischen Kreise an-

2. Verfassung und Revolution – Diskussion um einen Nationalkonvent 1791

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gesichts des Jahrzehnte lang betonten Rationalismus der französischen Aufklärung in besonderem Maße Eingang fand, lag dank ihrer vergleichsweise einfachen Struktur an ihrer Gleichsetzung mit der Vernunft, denn „je komplizierter eine Verfassung ist, umso mehr Möglichkeiten bietet sie für Intrigen und Spitzfindigkeiten“.34 Damit wird der Transformationsprozess deutlich, dem die amerikanischen Verfassungsvorstellungen einschließlich der Bundesverfassung in Frankreich unterworfen waren. Sie waren insoweit von Bedeutung, als ihnen eine Aussage bezogen auf das Frankreich des untergehenden Ancien régime entnommen werden konnte. Dieser Transformationsprozess war daher von formativer Relevanz, und gerade die Person Condorcet macht dieses in singulärer Weise deutlich. In erheblicher Zahl haben seine, in Anlehnung an Turgot aus der Auseinandersetzung mit den amerikanischen Beispielen gewonnenen Verfassungspositionen und die damit gesetzten Akzente die nachfolgende Entwicklung der französischen Variante des modernen Konstitutionalismus geprägt, wie sich insbesondere in der girondistischen wie der jakobinischen Verfassung von 1793 zeigen sollte, deren intellektuelles Erbe in Frankreich bis weit in das 20. Jahrhundert virulent blieb, woran die Wiederentdeckung Condorcets während der III. Republik im Zuge der Akademisierung der Französischen Revolution durchaus seinen Anteil hatte.

2. Verfassung und Revolution – Die Diskussion um einen Nationalkonvent im August 179135 Einer der bedeutendsten und folgenreichsten Unterschiede zwischen der amerikanischen Version des modernen Konstitutionalismus und der europäischen36 besteht 34

Œuvre de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, IX, 75. Leicht überarbeitete Version meines gleichnamigen Beitrags in: Die französische Revolution und das Projekt der Moderne, hrg. v. Anton Pelinka und Helmut Reinalter, Wien: Braumüller, 2002, 169 – 186. 36 Dieser Ansatz versteht sich als Modifizierung und Präzisierung der Auffassung Peter Häberles, dass der „europäische Verfassungsstaat […] historisch wie aktuell bis heute ein Gemeinschaftswerk Europas und der USA – ein unabgeschlossenes, offen gebliebenes, in Textstufen sich fortentwickelndes Projekt“ ist (Peter Häberle, „Die europäische Verfassungsstaatlichkeit“, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 78 [1995], 306 – 307), indem er, ausgehend von den Gemeinsamkeiten und wechselseitigen Beeinflussungen, zum besseren Verständnis der Entwicklungen auf beiden Seiten des Nordatlantiks die Differenzen beleuchtet und die Unterschiede herauszuarbeiten versucht und damit zugleich die von Häberle geforderte „Offenheit und Pluralität der Rechtsquellen im Verfassungsstaat“ (Peter Häberle, „Pluralismus der Rechtsquellen in Europa – nach Maastricht: Ein Pluralismus von Geschriebenem und Ungeschriebenem vieler Stufen und Räume, von Staatlichem und Transstaatlichem“, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, NF 47 [1999], 94) unterstreicht. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bruce Ackermans Wort von der „Europäisierung der Verfassungstheorie“ und der dagegen gerichteten Betonung der Eigenständigkeit des amerikanischen Verfassungsdenkens: Bruce Ackerman, We the People, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1991 – 98, bes. I, 3 – 6. 35

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in der zumal in Europa im allgemeinen viel zu wenig beachteten Frage der Revisionsgewalt.37 Die in den Vereinigten Staaten hierzu entwickelten Verfahrensweisen hatten sich zwar erst in einem jahrzehntelangen Erfahrungsprozess herausbilden und verfestigen können, aber schon beim Beginn des modernen Konstitutionalismus in Amerika konnten sie auf zwei Faktoren aufbauen, die für die weitere Entwicklung grundlegend sein sollten, dem aus England bekannten Gedanken der Conventions und den amerikanischen Vorstellungen von Verfassung.38 Wenn, so hatte es Blackstone verkündet, in einer politischen Ausnahmesituation kein rechtmäßiger Monarch vorhanden war und daher kein Parlament einberufen werden konnte, stand die Rechtmäßigkeit eines Convention Parliament außer Frage, da allein auf diese Weise die politische und verfassungsrechtliche Legalität und Legitimität wiederherzustellen war.39 Dieser Hilfskonstruktion der Convention Parliaments oder Conventions bedienten sich die Amerikaner ab 1776 in ihrer Revolution, um neue Verfassungsordnungen 37 Generell, vgl. Charles Borgeaud, Établissement et révision des constitutions en Amérique et en Europe, Paris: Thorin et fils, 1893; Walther Hildesheimer, Über die Revision moderner Staatsverfassungen. Eine Studie über das Prinzip der Starrheit und die Idee eines pouvoir constituant in den heutigen Verfassungen, Diss. iur. U. Rostock 1918; Karl Loewenstein, Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin: de Gruyter, 1961. Zur Verfassungsänderung im amerikanischen Verfassungsrecht aus der Fülle der Literatur u. a. John R. Vile, The Constitutional Amending Process in American Political Thought, New York: Praeger, 1992; Richard B. Bernstein mit Jerome Agel, Amending America. If We Love the Constitution So Much, Why Do We Keep Trying to Change It?, New York: Times Books, 1993; Harry L. Witte, „Rights, Revolution, and the Paradox of Constitutionalism: The Processes of Constitutional Change in Pennsylvania“, in: Widener Journal of Public Law, 3 (1993), 383 – 476; Responding to Imperfection: The Theory and Practice of Constitutional Amendment, hrg. v. Sanford Levinson, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1995; David E. Kyvig, Explicit and Authentic Acts: Amending the U. S. Constitution, 1776 – 1995, Lawrence, Ks.: University of Kansas Press, 1996. Bezüglich der Revisionsgewalt im europäischen Konstitutionalismus, vgl. u. a. Édouard Laboulaye, „La Révision de la constitution. Lettres à un ami (Février 1851)“, in: ders., Questions constitutionnelles, Paris: Charpentier, 1872, 105 – 252; Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, Ndr. Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1993, bes. 251 – 253; Carl Schmitt, Verfassungslehre, München – Leipzig: Duncker & Humblot, 1928, 101 – 112; Horst Ehmke, Grenzen der Verfasungsänderung [1953], in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, hrg. v. Peter Häberle, Königstein/Ts.: Athenäum, 1981, 21 – 141; Georges Burdeau, Le Statut du pouvoir dans l’Etat (Traité de science politique, IV), Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence, 31983, bes. 227 – 270; Olivier Duhamel, Le Pouvoir politique en France: Droit constitutionnel, 1, Paris: Presses universitaires de France, 1991, 81 – 87; Didier Maus, „Revision“, in: Dictionnaire constitutionnel, hrg. v. Olivier Duhamel u. Yves Mény, Paris: Presses universitaires de France, 1992, 932 – 934; Claude Leclercq, Droit constitutionnel et institutions politiques, Paris: Litec, 81992, 97 – 106; Dominique Turpin, Droit constitutionnel, Paris: Presses universitaires de France, 1992, 83 – 90; Philippe Ardant, „La Révision constitutionnelle en France. Problématique générale“, in: La Révision de la constitution. Journées d’études des 20 mars et 16 décembre 1992, Aix-en-Provence: Presses Universitaires d’Aix-Marseille, Paris: Economica, 1993, 79 – 91. 38 Vgl. dazu die Kap. III. 1., III. 3. und V. 1. 39 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 101 – 102.

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ins Leben zu rufen, zumal allein Verfassungen die rechtlichen Grundlagen für politische Institutionen und ihr legitimes Handeln schaffen konnten, während die noch aus der Kolonialzeit bestehenden gesetzgebenden Organe für diese Schöpfungen rechtlich nicht in Frage kamen. „Konvente […] sind die einzigen angemessenen Körper, um eine Verfassung zu bilden, und gesetzgebende Körperschaften (Assemblies) sind die angemessenen Körper, Gesetze im Einklang mit dieser Verfassung zu machen.“40 Zusätzlich erforderte die Sicherung der durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten, so das verbreitete amerikanische Verfassungsverständnis, dass die Verfassung dem Zugriff von Legislative und Exekutive entzogen war. Allein eine von diesen Organen unabhängige, direkt vom Volk gewählt Convention war daher das geeignete Gremium, eine Verfassung zu konzipieren.41 Die ersten amerikanischen Verfassungskonvente waren 1776 zusammengetreten. Doch häufig hatte es sich dabei um revolutionäre Konvente gehandelt, die getreu der englischen Praxis zum Teil noch wenig von der Trennung zwischen konstituierenden und legislativen Befugnissen erkennen ließen. Doch sowohl in ihren als auch in den nachfolgenden Verfassungen war, wenn es um die Möglichkeit ihrer Revision ging, in der Regel nicht viel von der hehren Proklamation der Souveränität des Volkes in der Unabhängigkeitserklärung übriggeblieben: „Dass wann immer eine Regierungsform diese Ziele zerstört, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen.“ Die Ergebnisse der Revolution sollten nicht in Frage gestellt werden, und die wenigen Verfassungen, die überhaupt eine Revisionsklausel aufgenommen hatten, versahen Revisionsbegehren nicht nur mit zum Teil höchst prohibitiven Auflagen, sondern beschränkten sie ohnehin allein auf Änderungen und Ergänzungen der Verfassung („revidieren und verbessern“). Allein Maryland machte 1776 eine Ausnahme und erlaubte unter gewissen Bedingungen, „[d]ass diese Regierungsform und die Rechterklärung […] verändert, gewechselt oder abgeschafft wird“.42 40 The Alarm: or, an Address to the People of Pennsylvania on the Late Resolve of Congress, Philadelphia 1776, abgedr. in: American Political Writing during the Founding Era 1760 – 1805, hrg. v. Charles S. Hyneman u. Donald S. Lutz, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Press, 1983, I, 326. 41 Immer noch grundlegend ist das klassische Werk von John Alexander Jameson, The Constitutional Convention: Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Callaghan, 3 1873, bes. 11 – 14. Zum frühen amerikanischen Verfassungsbegriff, vgl. The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar u. Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, bes. 152 – 153. 42 Verfassung von Maryland von 1776, Art. 59 (Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, III, 254). Bekanntlich hatte sich die Verfassung von Pennsylvania von 1776 in ihrer Menschenrechtserklärung (Kap. I, Abs. 5) zwar ohne Einschränkung zu dem in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Prinzip bekannt und erklärt „dass die Gemeinschaft das unzweifelhafte, unveräußerliche und unantastbare Recht hat, die Regierung auf jene Weise zu reformieren, ändern oder abzuschaffen, als von jener Gemeinschaft für das öffentliche Wohl am dienlichsten gehalten wird“ – eine Formulierung, die auf die Rechteerklärung von Virginia von 1776 (Abs. 3) zurückgeht (ebd., VIII, 153) –, doch in dem Revisionsartikel (Kap. II, Abs. 47)

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Erstmals wurde schließlich 1778 der Entwurf einer Verfassung von der Abstimmung über sie getrennt, indem – so in Massachusetts – das Volk direkt über die Vorlage befand – und sie verwarf. Darauf wurde ein Verfassungskonvent einberufen, der einen neuen Entwurf erstellte, der dann als die seither gültige Verfassung von 1780 vom Volk in direkter Abstimmung angenommen wurde.43 Damit war erstmals jene Form erfolgreich praktiziert worden, die sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts modellartig praktisch auf alle amerikanischen Staaten ausdehnen sollte, wonach im allgemeinen in ihren Vorgehensweisen inhaltlich, aber nicht rechtlich, mehr oder weniger frei und selbstbestimmte Verfassungskonvente (ein „Konvent soll zusammentreten […] zum Zweck der Revision, Änderung oder Verbesserung dieser Verfassung“, wenn die Legislative und das Volk „es für notwendig erachten, diese Verfassung zu ändern oder zu verbessern“, wie die gängigen Formulierungen lauten)44 ohne revolutionäre Umbrüche und unter Wahrung der rechtlichen Kontinuität einberufen werden, um eine Verfassung oder um Zusatzartikel zu entwerfen, über die dann das Volk abstimmt. Die Abweichungen des auch in Europa allgemein beachteten bekanntesten Beispiels, das der Bundesverfassung von 1787, erschienen in diesem Kontext eher von zu vernachlässigender Natur.45 Die Popularität des in Europa nur eingeschränkt wahrgenommenen amerikanischen Beispiels bewirkte, dass die Feststellung heute zu den Allgemeinplätzen gehört, Frankreich habe 1792 mit der Idee der Convention nationale das amerikanische

war lediglich noch von dem Verfahren für eine Teilrevision („Verbesserungen“ und „Artikeln […] die hinzuzufügen oder abzuschaffen sind“) die Rede (ebd., V, 322, 343). Wörtlich identische Formulierungen enthält die Verfassung von Vermont von 1777, während in den Verfassungen von 1786 und 1793 in der Rechteerklärung nur noch von dem Recht „die Regierung zu reformieren oder zu ändern“ die Rede ist (ebd., VII, 12, 19, 26, 34, 40, 48). Ähnliche Ambivalenzen wie in Pennsylvania finden sich auch in den Verfassungen von Massachusetts von 1780, von New Hampshire von 1784 und von Kentucky von 1792 und 1799 (ebd., IV, 20, 38, 360, 374, III, 19, 20, 37, 38). Vgl. dazu auch Marc W. Kruman, Between Authority and Liberty. State Constitution Making in Revolutionary America, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1997, bes. 53 – 59. 43 Insgesamt zu der sehr heterogenen Entwicklung in den einzelnen amerikanischen Staaten zwischen 1776 und 1784, vgl. Walter Fairleigh Dodd, The Revision and Amendment of State Constitutions, Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1910 (Ndr. Union, N.J.: Lawbook Exchange, 1999), 1 – 29. 44 Verfassung von Illinois von 1818, Art. VII, Abs. 1 (Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 129 – 130) mit ihren durchaus gängigen Formulierungen. Zur amerikanischen Diskussion über „eingeschränkte“ (limited) oder „uneingeschränkte“ (unlimited) Konvente, vgl. Paul J. Weber u. Barbara A. Perry, Unfounded Fears: Myths and Realities of a Constitutional Convention, New York: Greenwood Press, 1989, 95 – 100. 45 Die Ratifizierung der Bundesverfassung erfolgte nicht direkt durch das Volk, sondern in den dreizehn Staaten indirekt durch jeweils vom Volk zu diesem Zweck gewählte Ratifizierungskonvente. Dass hingegen der Bundeskonvent von Philadelphia mit dem Entwurf einer völlig neuen Bundesverfassung eindeutig seine Kompetenzen überschritten hatte und das auf seinen Vorschlag hin praktizierte Ratifizierungsverfahren der Revisionsklausel der noch bestehenden Konföderationsartikel widersprach, fand in Europa durchweg keine Beachtung.

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Modell aufgegriffen.46 Dabei wird allerdings übersehen, dass die englischen Convention Parliaments des 17. Jahrhunderts durchaus in Erinnerung geblieben waren, so dass bereits Mallet in der Encyclopédie Convention historisch-politisch als „außerordentliche Versammlung des Parlaments“ zur Wiederbesetzung des Throns nach der Flucht Jakobs II. nach Frankreich hatte definieren können.47 Der Begriff war mithin längst vorhanden, als nach der Flucht nach Varennes in Paris Anfang Juli 1791 erste Rufe nach der Republik und damit nach Verwerfung der noch gar nicht völlig fertiggestellten Verfassung laut geworden waren. Bleibt also zu klären, welches der beiden konträren Modelle man tatsächlich vor Augen hatte, den amerikanischen, reinen verfassungsentwerfenden Konvent, der die Entscheidung über sein Werk dem souveränen Volk überlässt, oder den englischen Konvent, der selbsttätig die neue Ordnung festsetzt und damit auch legislative Funktionen wahrnimmt und eine ihm genehme Regierung bestellt, ohne weiteren Rekurs auf das Volk zu nehmen. Am Beginn der Französischen Revolution stand der Satz von Sieyès: „Die Nation ist stets Herrin über die Reform ihrer Verfassung.“48 Damit hatte Sieyès nicht nur den Grundsatz des pouvoir constituant aufgestellt, sondern auch den der Revisionsgewalt des Volkes. Indem er hinzufügte: „Eine Körperschaft, die den konstitutiven Formen unterworfen ist, kann nichts entscheiden außer gemäß ihrer Verfassung“,49 war darüber hinaus noch eindeutig zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués unterschieden, eine Unterscheidung, auf die er in der Selbstanzeige seiner Schrift noch einmal mit Nachdruck verwies.50 Als er aber einige Jahre später präzisierte: „Daher ist die am dringendsten erforderliche Unterscheidung die zwischen pouvoir constituant und pouvoirs constitués. Eine Nation, die ihre konstituierende Gewalt delegiert, riskiert, ihre Freiheit zu verlieren und nahezu unwissentlich ihren Zustand zu verändern“,51 war deutlich – und hier würde ich der hervorragenden Analyse von 46 Vgl. etwa Jacques Godechot in: Les Constitutions de la France depuis 1789, hrg. v. dems., Paris: Flammarion, 1979, 69; Jean-Jacques Chevallier, Histoire des institutions et des régimes politiques de la France de 1789 à nos jours, Paris: Dalloz, 71985, 65; Leclercq, Droit constitutionnel, 390. 47 Art. „Convention, (Hist. mod.)“, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrg. v. Diderot u. d’Alembert, IV, Paris: Briasson, 1754, 164. 48 Emmanuel Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers état?, hrg. v. Roberto Zapperi, Genf: Droz, 1970, 187. Zur Einordnung und Nachwirkung, vgl. Paul Bastid, Sieyès et sa pensée, Paris: Hachette, 1939, bes. 582 – 586. 49 Ebd. Vgl. dazu auch Pasquale Pasquino, „Die Lehre vom ,Pouvoir constituant‘ bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt“, in: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrg. v. Helmut Quaritsch, Berlin: Duncker & Humblot, 1988, 374 – 378; Marcel David, La Souveraineté du peuple, Paris: Presses Universitaires de France, 1996, bes. 156 – 158. 50 Vgl. den Abdruck bei Pasquale Pasquino, Sieyes et l’invention de la constitution en France, Paris: Odile Jacob, 1998, 167 – 170, hier 168. 51 Emmanuel Sieyès, „Bases de l’ordre social ou série raisonnée de quelques idées fondamentales de l’état social et politique (an III)“, in: Pasquino, Sieyes, 187. Vgl. dazu insges. auch Bastid, Sieyès, 375 – 385.

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Olivier Beaud, der allerdings den zuletzt zitierten Text nicht kannte, widersprechen52 –, dass Sieyès, wenn er meinte, man könne mit diesem pouvoir constituant Repräsentanten beauftragen, „die sich allein zu diesem Zweck versammeln, ohne selbst irgendeine der konstituierten Gewalten auszuüben“,53 nicht den pouvoir constituant mit der Repräsentationslehre verband, wie dies etwa Barnave in seiner bekannten Rede vom 31. August 1791 tat,54 also eine assemblée nationale im Sinn hatte, sondern vielmehr an eine strikte Trennung zwischen konstituierenden und legislativen Funktionen und damit an ein verfassunggebendes Organ in der Art eines Konvents nach amerikanischem Vorbild dachte.55 In seiner Thematisierung des Grundproblems von Verfassung und Volkssouveränität56 hatte Sieyès damit schließlich eine Lösungsmöglichkeit angedeutet, die in der französischen Entwicklung allerdings keinen Fuß zu fassen vermochte. Dabei schien es keinem Zweifel zu unterliegen, dass die konstituierte Gewalt der Verfassung unterworfen war. Doch wie stand es um die verfassunggebende Gewalt, jene „ewige Ursache von Revolutionen“, so Barnave?57 Wie konnte eine „verfassungsmäßige Art und Weise der Ausübung der konstituierenden Gewalt“58 erreicht werden? Kaum eine zweite Verfassungsfrage schien der Französischen Revolution so schwer zu beantworten wie diese, und jede Revolutionsverfassung hat sich mit diesem Problem auseinandergesetzt und stets eine neue Antwort darauf zu geben versucht, von denen sich keine als praktikabel erweisen oder verfassungsrechtlich Bestand haben sollte. Doch die Beantwortung der Frage, warum sich ihre Lösung in Frankreich, etwa im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, als so anhaltend schwierig herausstellen sollte und die schließlichen Einsichten Sieyès’, Condorcets, Pétions und anderer sich im französischen Verfassungsleben wie generell im euro52 Vgl. Olivier Beaud, La Puissance de l’Etat, Paris: Presses Universitaires de France, 1994, bes. 223 – 233. 53 Emmanuel Sieyès, „Préliminaire de la Constitution. Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme et du citoyen. Lu les 20 et 21 juillet 1789, au comité de constitution“, in: Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 259. Ähnlich auch Murray Forsyth, Reason and Revolution: The Political Thought of the Abbé Sieyes, Leicester: Leicester University Press, 1987, 99. 54 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 113 – 115. 55 Zu Sieyès’ Lehre von der konstituierenden Gewalt, vgl. auch allgemein Stefan Breuer, „Nationalstaat und pouvoir constituant bei Sieyes und Carl Schmitt“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 70 (1984), bes. 500 – 501; Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, Diss. St. Gallen 1994, bes. 96 – 102; Ulrich Thieme, „Volkssouveränität – Menschenrechte – Gewaltenteilung im Denken von Sieyes“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 86 (2000), 48 – 69. 56 Vgl. dazu u. a. Burdeau, Statut du pouvoir, 175 – 182, 191 – 193; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, Frankfurt/M.: Alfred Metzner, 1986, bes. 11, 16 – 18; Josef Isensee, Das Volk als Grundlage der Verfassung – Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, bes. 30 – 34, 37, 39 – 40. 57 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 114. 58 Beaud, La Puissance de l’Etat, 229.

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päischen nicht durchzusetzen vermochten, krankte bislang stets daran, dass einerseits der Revisionsproblematik zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde59 und andererseits die französische Idee der Verfassung in diesem Zusammenhang durchweg unberücksichtigt blieb. Generell, so ließe sich in einer ersten Antwort formulieren, wirkt jenes Bodinsche Erbe fort, das den Souveränitätsbegriff als unteilbare oberste staatliche Kategorie versteht und damit Verfassung nicht als Manifestation des in ihr konsensual aufgehenden Souveräns begreift,60 sondern als apodiktische Äußerung des repräsentierten und damit politisch jederzeit wandelbaren Souveräns. Einige Aspekte dieses französischen Verfassungsdenkens hatten sich bereits vor der Revolution herausgebildet.61 Ungeachtet dessen hieß es im Patriote françois im Sommer 1789, als in Frankreich die Diskussion um die zu entwerfende eigene Verfassung einsetzte: „Man ist sich über die Definition dieses Ausdrucks Verfassung nicht einig.“ Der Autor warf Jean-Joseph Mounier vor, dass seine bekannte Definition von Verfassung als „eine feststehende und eingebürgerte Ordnung in der Art zu regieren“ vage und seine Behauptung, dass eine derartige Ordnung nicht bestehen könne, „wenn sie nicht von grundlegenden Regeln unterstützt wird, die durch die freie und formelle Zustimmung einer Nation oder jenen, die sie gewählt hat, sie zu vertreten, geschaffen wurden“,62 falsch sei. Denn, so stellte er fest: „Man schafft keineswegs die Rechte, auf denen jede freie Verfassung ruhen muss, man kann sie nur ausdrücken, nur deklarieren & danach muss eine Verfassung, um gültig und legal zu sein, durch die Nation selbst angenommen werden. Allein die Zustimmung ihrer Repräsentanten reicht nicht, um sie für rechtsgültig zu erklären.“63 59 Ardant, „La Révision constitutionnelle en France“, 79, bezeichnet sie als die „so selten gestellte“ Frage, während Erwin Chemerinsky, „Amending the Constitution“, in: Michigan Law Review, 96 (1997/98), 1561, aus amerikanischer Sicht feststellt: „Der letztendliche Maßstab einer Verfassung ist, wie sie Einhegung und Veränderung ausbalanciert.“ 60 Bei Sieyès ist diese Möglichkeit noch offen, vgl. seinen bekannten Ausspruch: „Eine Verfassung setzt vor allem eine konstituierende Gewalt voraus“ (Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259). 61 Vgl. dazu das vorausgehende Kap. IV. 1. 62 Mouniers Definition vom 9. Juli 1789 (Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 214) wird immer wieder zitiert, ausführlich etwa von Jean Morange, La Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (26 août 1789), Paris: Presses Universitaires de France, 21989, 13. Vgl. zu Mounier und der ganzen Debatte um den Verfassungsbegriff in der konstituierenden Nationalversammlung Pierre Duclos, La Notion de Constitution dans l’Œuvre de l’Assemblée Constituante de 1789, Paris: Dalloz, 1932; Denis Richet, „L’esprit de la constitution, 1789 – 1791“, in: The Political Culture of the French Revolution, hrg. v. Colin Lucas (The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, II), Oxford: Pergamon Press, 1988, 63 – 68.Vgl. dazu auch Kap. V. 1. 63 Am 21. 9. 1792 erklärte der Konvent einstimmig auf Antrag Dantons: „Der Nationalkonvent erklärt, dass es nur eine Verfassung geben kann, die vom Volk angenommen ist“ (Faustin-Adolphe Hélie, Hrsg., Les Constitutions de la France. Ouvrage contenant outre les constitutions, les principales lois relatives au culte, à la magistrature, aux élections, à la liberté de la presse, de réunion et d’association, à l’organisation des départements et des communes. Avec un commentaire, Paris: A. Marescq ainé, 1880, 341). Vgl. auch Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen:

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Im Gegenzug vermisste er in der Definition „die Trennung, die Teilung der konstituierten Gewalten, die von der konstituierenden Gewalt frei eingeführt wurde“.64 Hatte Mounier Regierung als Wesensmerkmal von Verfassung hervorgehoben, so legte sein Gegenspieler Wert auf die Betonung des naturrechtlich begründeten Rechts, verbunden mit dem politischen Grundsatz der Gewaltentrennung, wie es ähnlich auch Pétion im August 1791 tun sollte, als er Verfassung definierte als: „Das ist der Akt der Teilung der Gewalten; das ist der Akt, der die Begrenzung der legislativen Gewalt, der exekutiven Gewalt und der sekundären Gewalten festlegt.“65 Es war jene letztere Auffassung, die im Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ihren Ausdruck gefunden hatte: „Jede Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“66 Der Art. 16 ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil er den Begriff Verfassung mit drei weiteren Begriffen in eine konstitutive Verbindung bringt, die für das Verfassungsverständnis im Frankreich der Revolution im Unterschied zu den zeitgenössischen Auffassungen in Großbritannien und in Amerika von elementarer Bedeutung sind: Gesellschaft, Garantie der Rechte und Gewaltentrennung. Dass eine Verfassung nicht eine Nation begründe – „Es ist die Regierung, die konstituiert wird, nicht die Nation“67 –, sondern das Werk ihrer Gesellschaft sei, hatte Sieyès in seiner Definition von Verfassung erneut betont,68 schien dies doch, historisch betrachtet, aus französischer Sicht im Gegensatz zur amerikanischen Perspektive offensichtlich. Aus dem Vorrang der Nation gegenüber der Verfassung ergab sich jedoch ein sozialer Bezugsrahmen politischer Rechte – Sieyès sprach von ihrer „sozialen Erschaffung“69 –, der das Naturrecht sozial einband und damit den Menschenrechten in den französischen Erklärungen eine ganz andere Wendung gab, als in den amerikaniJ. C. B. Mohr, 1909, 334. In Frankreich wurde erstmals am 4. August 1793 eine Verfassung dem Volk zur Billigung vorgelegt – und angenommen, dann aber nie eingeführt. Dass in der ersten Abstimmung über eine Verfassung überhaupt fünfzehn Jahre zuvor das Volk von Massachusetts im März – Juni 1778 die Verfassung verwarf, klingt in diesem Kontext schon fast wie eine Ironie. 64 „Aux Auteurs du Patriote François“, in: Le Patriote françois (n8 5, 1. August 1789), [I,] 3. 65 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 45. 66 Vgl. dazu Michel Troper, „L’Interprétation de la déclaration des droits: L’exemple de l’article 16“, in: Droits. Revue française de théorie juridique, 8 (1988), 111 – 122; Pierre Albertini, „Article 16“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaires, hrg. v. Gérard Conac, Marc Debene u. Gérard Teboul, Paris: Économica, 1993, 331 – 342; auch Bartolomé Clavero Salvador, „Garantie des Droits: emplazamiento histórico del enunciado constitucional“, in: Enunciazione e giustiziabilità dei diritti fondamentali nelle carte costituzionali europee. Profili storici e comparatistici. Atti di un convegno in onore di Francisco Tomàs y Valiente (Messina, 15 – 16 Marzo 1993), hrg. v. Andrea Romano, Mailand: Giuffrè, 1994, 19 – 39. 67 Selbstanzeige von Qu’est-ce que le Tiers état? von 1789, abgedruckt in: Pasquino, Sieyes, 168. 68 Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259. 69 Ebd.

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schen, in denen der anfängliche soziale Bezug im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend einer rein individualistischen Betrachtung Platz machte.70 Wenn Sieyès dabei an der gleichen Stelle betonte: „Das ist die wahre Bedeutung des Wortes Verfassung: Es bezieht sich auf das Ganze und auf die Trennung der öffentlichen Gewalten,“71 setzte er neben die soziale zusätzlich noch die politische Kategorie, wohingegen die jurisdictio angesichts der rechtlich nicht konkretisierten naturrechtlichen Prinzipien gegenüber beiden in den Hintergrund trat, wie überhaupt die französischen Menschenrechtserklärungen sehr viel stärkeres Gewicht auf die Feststellung politisch-sozialer Grundsätze als auf die Aufstellung einklagbarer Rechtspositionen legen.72 Nicht nur der Inhalt und das Verständnis der Menschenrechtserklärungen in Frankreich unterschieden sich substantiell vom amerikanischen Beispiel,73 sondern auch die übrigen Teile der Verfassung. Es bieten sich erneut Mounier und Sieyès zur Verdeutlichung zentraler Divergenzen an.74 Ganz in der Manier des traditionellen gubernaculum hatte Mounier festgestellt: „Also ist eine Verfassung eine präzise und konstante Form der Regierung oder, wenn man so will, der Ausdruck der Rechte und Verpflichtungen der verschiedenen Gewalten, die sie bilden.“75 Die Verfassung als Regelwerk zur rationalen Organisation von Regierung und ihres Ablaufs war sicherlich nicht das, was der revolutionären Stimmung des Sommers 1789 und der

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Vgl. dazu unten Kap. V. 8. Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259. 72 So bereits Raymond Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat, spécialement d’après les données fournies par le Droit constitutionnel français, 2 Bde., Paris: Recueil Sirey, 1920 – 1922, I, 236, II, 581. Zur Unterscheidung von jurisdictio und gubernaculum beziehe ich mich auf Charles Howard McIlwain, Constitutionalism: Ancient and Modern, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 21947, 77 – 146. 73 Wenn dagegen Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma, München: Oldenbourg, 1997, betont, dass die jahrhundertealten kontinentalen Entwicklungslinien als „tiefschürfende und mehrgestaltige Prozesse ihrer Realisierung […] bis zu den Vordenkern der französischen Menschenrechtserklärung wie Sieyès zu gegenwärtigen sind“ (ebd., 457 – 458), dann übersieht er dabei nicht nur, dass sich ebenso Formulierungen aus den amerikanischen Erklärung teilweise wörtlich bis auf die englische Magna Carta von 1215 zurückführen lassen, sondern auch, dass der grundlegende Unterschied der Menschenrechtserklärungen zu ihren frühneuzeitlichen oder mittelalterlichen geistigen Vorläufern nicht in der etwaigen Neuartigkeit der Ideen, sondern in ihrer Konstitutionalisierung liegen, worauf bereits Gerald Stourzh in seinem wegweisenden Aufsatz „Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution“ (erneut abgedruckt in: Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien-Köln: Böhlau, 1989, 155 – 174) hingewiesen hat. Vgl. dazu auch Kap. III. 7. 74 Zu der Debatte vgl. auch Keith Michael Baker, Inventing the French Revolution. Essays on French Political Culture in the Eighteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, 258 – 264; generell zum Gegensatz zwischen Mounier und Sieyès in der Verfassungsdiskussion dieser Wochen, Bastid, Sieyès, 75 – 78. 75 Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 214. 71

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folgenden Jahre entsprach. Das Volk erwartete mehr, und der abbé Sieyès machte sich zum Anwalt seiner verfassunggebenden Gewalt: „Die konstituierende Gewalt kann alles auf diesem Gebiet. Sie ist keineswegs im Voraus einer gegebenen Verfassung unterworfen. Die Nation, die folglich die größte, die bedeutendste seiner Gewalten ausübt, muss in dieser Funktion frei von jeder Beschränkung und jeder Form sein außer jener, die ihr beliebt anzunehmen.“76

Es war genau dieses – von Sieyès schon bald wieder aufgegebene77 – Postulat der ungehinderten Mehrheitsherrschaft, die den amerikanischen Verfassungsvätern so viel Furcht eingeflößt und sie zum Einbau zahlreicher Kautelen veranlasst hatte. John Adams sollte später den Franzosen Naivität vorhalten, dass sie diese angesichts der menschlichen Natur unerlässlichen Sicherungsmaßnahmen weder gesehen, gehört, gefühlt noch verstanden hätten.78 Tatsächlich aber hatte Adams nicht erkannt, dass am Beginn des französischen Konstitutionalisierungsprozesses die zentrale Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Volkssouveränität völlig konträr zu den in Amerika dominierenden Anschauungen beantwortet worden war. Wenn Carré de Malberg aus der Perspektive der III. Republik feststellte, dass das Fehlen von Verfassungsinstrumentarien zur Begrenzung der ungehinderten Mehrheitsherrschaft des souveränen Volkes nicht auf einem Vergessen beruhe, im Gegenteil „ist es zwangsweise die Konsequenz und bildet einen integralen Bestandteil der Verfassungsordnung von 1875, gemäß der die Entscheidungen der Kammern der Ausdruck des höchsten Willens im Staat sind,“79 ist damit das entscheidende Grundprinzip des französischen Verfassungsverständnisses benannt, das seit 1789 die demokratischen Verfassungen des Landes in unterschiedlichen Variationen bis zur Gegenwart charakterisiert.80 Dieser Gedanke der Volkssouveränität als oberstes Prinzip, die sich gegebenenfalls direkt über ihre Repräsentanten äußert, widerspricht diametral der amerikanischen Auffassung von der deutlichen Trennung zwischen legislativen und konstitutiven Befugnissen und damit von der Verfassung als letztgültigem Maßstab von Recht, d. h. jurisdictio statt gubernaculum, während in der

76 Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259. Zum Verfassungsdenken von Sieyès generell, vgl. Paul Bastid, L’Idée de constitution, Paris: Économica, 1985, 135 – 143. 77 So die neuartige und sehr anregende Interpretation von Pasquino, Sieyes, bes. 31 – 52. 78 John Adams, Discourses on Davila, in: The Works of John Adams, hrg. v. Charles Francis Adams, 10 Bde., Boston: Little and Brown, 1850 – 56, VI, 276 (Anmerkung von 1813). Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die Jeffersonian republicans mit der Interpretation der Verfassung durch Adams vielfach nicht übereinstimmten, vgl. dazu Richard Buel jr., Securing the Revolution. Ideology in American Politics, 1789 – 1815, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1972, 230 – 231. 79 Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat, I, 227. 80 Vgl. etwa Jacques Julliard, La Faute à Rousseau. Essai sur les conséquences historiques de l’idée de souveraineté populaire, Paris: Éditions du Seuil, 1985, sowie unten Kap. V. 4.

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englischen Verfassung der Sitz der Souveränität ins Parlament verlagert worden war, das zugleich der Ursprung exekutiver wie judikativer Gewalt ist.81 Dieses sich herausbildende französische Verfassungsverständnis übte bereits seinen Einfluss aus, als Mounier am 12. August 1789 in seinen der Nationalversammlung vorgelegten Considérations sur les gouvernements erstmals die Frage aufgeworfen hatte, ob sich die Nationalversammlung an den aus England bekannten conventions oder eher an jenen Amerikas orientieren solle.82 Als in den folgenden Wochen im Zuge der generellen Verfassungsdebatten im Kontext der Erklärung der Menschenrechte das Problem der Verfassungsrevision angesprochen wurde, blieb dieser Vorstoß zwar ohne Folgen, und man sprach entweder von „außerordentlichen Einberufungen“ oder „außerordentlichen Nationalversammlungen“.83 Aber allmählich setzte sich der Begriff convention durch, ohne dass allerdings damit Mouniers Frage entschieden worden wäre. So verkündete der duc de La Rochefoucauld-Liancourt in seiner bekannten Rede vom 1. September 1789, dass die Nationalversammlung lediglich das Mandat habe, das System („dieses ancien régime“) zu erneuern („de le régénérer“). „Um eine andere Regierungsform dem Vaterland zu geben, bräuchte es einen Nationalkonvent.“ Denn, so fügte er sogleich hinzu, ein Nationalkonvent sei nichts anderes als „der Ausdruck des allgemeinen Willens“.84 Auch wenn damit das Stichwort gegeben war und in den anschließenden Debatten durchweg der Ausdruck convention im Zusammenhang mit Verfassungsrevision verwandt wurde,85 blieb der Begriff nach Inhalt und Funktion zunächst unklar. Dennoch hatte Liancourt bereits jetzt präzise jene, strukturell allein der englischen Verfassungsentwicklung des 17. Jahrhunderts zuzuschreibende Unterscheidung getroffen zwischen der Assemblée nationale, in deren Kompetenz die Teilrevision falle, und der Convention, die allein eine Totalrevision besorgen könne – auch wenn dabei im konkreten Fall die Repräsentation des Souveräns und die Trennung zwischen konstituierenden und legislativen Befugnissen noch offen schien –, eine Unterscheidung, die dann zwei Jahre später in der Generaldebatte über die Verfassung im August 1791 erneut aufgegriffen werden sollte und die sich heute, wenn auch nicht unumstritten, noch am ehesten in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland widerspiegelt.86 81

Vgl. dazu auch die Überlegungen von Thomas Fleiner, „Verfassungsbegriff, Verfassungsziele und Verfassungscharakteristika in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in der Europäischen Union“, in: Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, hrg. v. Peter-Christian Müller-Graff u. Eibe Riedel, Baden-Baden: Nomos, 1998, bes. 18 – 25. 82 Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 415, vgl. ebenso 587. 83 Ebd., 421, 470, 516. 84 Ebd., 529. 85 Vgl. ebd., 544 – 545, 549, 562, 589, 618. 86 Vgl. dazu die strikt nach Inhalt und Verfahren getrennten Art. 79 GG (Teilrevision durch die konstituiertern Gewalten) und Art. 146 GG (Totalrevision durch die konstituierende Gewalt). Zur Diskussion um Art. 146 GG n.F., vgl. Alejandro Alvarez, Die verfassungsgebende

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Am 8. August 1791 begann die Nationalversammlung mit der Diskussion über den vom Verfassungs- und Revisionsausschuss vorgelegten Entwurf einer französischen Verfassung,87 eine Diskussion, die sich mit Unterbrechungen bis zum 1. September hinzog, als die Nationalversammlung die Einsetzung einer Deputation beschloss, um die fertiggestellte Verfassung dem König zwecks Annahme vorzulegen.88 Noch bevor die Nationalversammlung am Montagmorgen mit ihren Verfassungsberatungen beginnen konnte, war die Pariser Stadtversammlung im Rathaus zusammengetreten und hatte am Sonntag in der Frühe eine Resolution zum Verfassungsentwurf veröffentlicht, die nicht nur den Konventsgedanken thematisierte, sondern, indem sie ihn in Verbindung zu Volkssouveränität, pouvoir constituant und pouvoirs constitués setzte und die Verfassung zwischen die Pole von ewiger Dauer einerseits und Abschaffung durch revolutionäre Gewalt andererseits platzierte, damit zugleich den Rahmen vorgab, der in den Auseinandersetzungen der folgenden Wochen prägend sein sollte: „Und zunächst sehen wir mit Überraschung, dass in dem Verfassungsakt keine einzige Erwähnung dieser heilsamen Konvente gemacht ist. Der Geist der Redakteure und jener, die einigen Einfluss auf das Komitee haben, ist bekannt. Sie wollen dem Volk seine Souveränität nehmen, und diese Auslassung beweist es; denn es ist leicht zu beweisen, dass die Zurückweisung des Systems der Konvente entweder bedeutet, die Aufgaben eurer Verfassung verewigen zu wollen oder die konstituierende Gewalt auf alle zukünftigen Legislativen zu übertragen. Denn in dem Augenblick, wo die konstituierende Gewalt kontinuierlich von einer der konstituierten Gewalten ausgeübt wird, besteht sie nicht mehr, ist sie absorbiert, ist sie vernichtet, und dem Volk bleibt kein anderes Mittel als die Insurrektion.“89 Gewalt des Volkes unter besonderer Berücksichtigung des deutschen und chilenischen Grundgesetzes, Frankfurt/M. usw.: Lang, 1995, bes. 196 – 213. Die in diesem Zusammenhang mitunter vorgebrachte Auffassung, die konstituierende Gewalt in die Verfassung hineinzunehmen, sei „unüblich“ oder „ungewöhnlich“ (vgl. ebd., 210), führt direkt auf die Diskussion um den Konventsgedanken im amerikanischen und europäischen Konstitutionalismus zurück. Nicht alles, was im europäischen Konstitutionalismus „unüblich“ erscheint, muss deswegen sogleich auch „ungewöhnlich“ sein. Hingegen ist es unbegründet, allein aus dem Hinweis auf die auch ohne den Verfassungsverweis stets handlungsberechtigte konstituierende Gewalt eine Handlungsbedürftigkeit abzuleiten, wie dies Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluß nach Artikel 146 Grundgesetz, Paderborn usw.: Schöningh, 1996, tut. Klarer dagegen Birgitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, Berlin: Duncker & Humblot, 1997. Zur offiziösen Plebiszitfeindlichkeit in Deutschland auf nationaler Ebene Hans J. Lietzmann, „Verfassungspolitik und Plebiszit. Eine Studie zur politischen Kultur in Deutschland“, in: Verfassung und politische Kultur, hrg. v. Jürgen Gebhardt, Baden-Baden: Nomos, 1999, 33 – 54.– Von den gegenwärtigen europäischen Verfassungen sehen insbesondere die Spaniens und der Schweiz ausdrücklich Teil- und Totalrevision vor, beide jedoch ohne dafür der deutschen Verfassung vergleichbare, grundsätzlich unterschiedliche Verfahrensweisen vorzuschreiben. Die übrigen heutigen europäischen Verfassungen behandeln in der Regel den Fall der Totalrevision nicht. 87 Archives parlementaires, 1ère sér., XXIX, 262. 88 Ebd., XXX, 140. 89 Le Patriote françois, n8 729, 8. August 1791, [V,] 161.

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Nicht nur die Pariser Stadtversammlung versuchte, Druck auf die anstehenden Verfassungsberatungen der Konstituante auszuüben, sondern auch die Clubs und andere Vereinigungen.90 Noch am gleichen Tag hielt Condorcet seine Rede über Nationalkonvente im Jakobinerclub, wo am folgenden Tag Brissot zum selben Thema sprach. Obwohl sich beide in der Notwendigkeit von Konventen einig waren, um Fehler, wie sie angesichts der Unvollkommenheit der menschlichen Natur unvermeidlich seien, nachfolgend korrigieren zu können – so Brissot91 – bzw. um die Verfassung jeweils dem Fortschritt des menschlichen Geistes anpassen zu können – so Condorcet92 –, offenbart ihr unterschiedlicher Argumentationsgang nicht nur Differenzen, sondern auch Unklarheiten. Wenn dabei Brissot nach eigenem Bekunden ausdrücklich bemüht war, „die Idee, die man mit dem Wort Konvent verbinden muss, deutlich zu bestimmen“,93 dann bedeutete das für ihn insbesondere die Antwort auf die Kardinalfrage amerikanischer oder englischer Konvent. Condorcet hatte eindeutig Stellung bezogen. Ein Konvent, wie er ihm vorschwebte, um sowohl die tyrannische Erstarrung der Macht als auch den revolutionären Umsturz der Verfassung zu verhindern, ließ sich ausschließlich mit Amerika in Verbindung bringen und verlangte die Sanktion durch das souveräne Volk.94 Für Brissot hingegen zählte das englische Beispiel, denn die dortige Convention, und er verwies hier ausdrücklich auf die Glorreiche Revolution, „übte tatsächlich die konstituierende Gewalt aus. Dieser Akt musste keineswegs vom Volk ratifiziert werden.“95 In Amerika hingegen habe man, so das Beispiel der Bundesverfassung von 1787, zwei Konvente unterschieden, einen, der die Verfassung entwarf und einen anderen, in jedem Einzelstaat, der sie ratifizierte, „die eine mit der einzigen Befugnis des Vorschlags, die andere mit der konstituierenden Gewalt“.96 Angesichts dieser grundlegenden Unterschiede von englischer und amerikanischer Convention erübrigte sich aus Sicht Brissots die Frage, ob ein in Frankreich einzuberufender Konvent „die konstituierende Gewalt ausüben sollte ohne die Notwendigkeit der Ratifikation durch das Volk oder ob er nicht allein eine Versammlung von Redakteuren sein werde, deren Projekt vom Volk in Urversamm90 Vgl. ebd., n8 747, 26. August 1791, [V,] 238: „Mehrere Gesellschaften der Freunde der Verfassung haben bereits periodische Nationalkonvente gefordert.“ 91 Ebd., n8 731, 10. August 1791, [V,] 168 – 170, hier 168. 92 Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet, „Discours sur les Conventions nationales, prononcé à l’assemblée des Amis de la Constitution, séante aux Jacobins, le 7 août 1791“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. A. Condorcet O’Connor u. F. Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 1849, X, 209 – 222, hier 209. 93 Le Patriote françois, n8 731, 10. August 1791, [V,] 169. 94 Condorcet, „Discours sur les Conventions nationales“, 209 – 212. 95 Le Patriote françois, n8 731, 10. August 1791, [V,] 169. 96 Ebd. Interessanterweise hatte Brissot zuvor dem Bundeskonvent ebenfalls „eine wirkliche konstituierende Gewalt“ eingeräumt, weil er in seinem Verfassungsentwurf in einem Artikel, so seine irrtümliche Annahme, festgelegt habe, „dass wenn neun Staaten diesem Plan annehmen, er als von allen angenommen gilt“ (ebd.).

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lungen sanktioniert werden müsste“. Denn aufgrund der Tatsache, dass nur in kleinen Staaten, wie etwa Genf, eine Ratifizierung durch das Volk durchführbar sei – selbst die Amerikaner hätten sie für unmöglich gehalten –, folge daraus, dass ein französischer Konvent nichts anderes sein könne als „[e]ine Versammlung von Repräsentanten des Volkes, die von ihm frei gewählt sind, ausschließlich um seine Verfassung zu machen, zu ändern oder zu modifizieren“.97 Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Positionen sprachen sich beide, angeregt durch die von beiden hoch geschätzte Verfassung von Pennsylvania von 1776,98 für periodisch abzuhaltende Konvente aus, wenngleich Condorcet zusätzlich spontan einzuberufende Konvente für sinnvoll und notwendig hielt, was Brissot strikt ablehnte.99 Condorcet wie Brissot waren der Überzeugung, dass man diese Revisionsgewalt nicht den konstituierten Gewalten, schon gar nicht der Legislative überlassen dürfe, es würde der Korruption Tür und Tor öffnen und wäre das Ende der Volkssouveränität.100 Daher war es Condorcet wichtig, dass der Konvent als Revisionsorgan bereits in der Verfassung erwähnt war101 und dass Konvent und Legislative, die ja gegebenenfalls nebeneinander bestehen würden, funktional und personell deutlich voneinander getrennt waren, damit es zu keinen inhaltlichen Verquickungen kam.102 Brissot hingegen lehnte diese Zweiteilung ab, und seine Präferenz des englischen Modells von 1688/89 basierte letztlich auf dem Gedanken der souveränen Entscheidungsgewalt des Konvents, was er mit dem Ausdruck „ausschließlich (uniquement)“ zusätzlich unterstrich, der als Ausschluss eines weiteren Sanktionsorgans verstanden werden kann. Nur dadurch wird verständlich, warum Brissot schließlich bereit war, alternativ für den Begriff des Konvents den der „konstituierenden Versammlung (assemblée constituante)“ zuzulassen,103 womit 97

Ebd. Vgl. dazu unten Kap. V. 4. 99 Condorcet, „Discours sur les Conventions nationales“, 212 – 219; Le Patriote françois, n8 731, 10. August 1791, [V,] 168 – 170. Brissot hatte offensichtlich erst nachträglich von Condorcets Rede Kenntnis erhalten und dann insbesondere auf diesen Punkt abgehoben, vgl. Le Patriote françois, n8 746, 25. August 1791, [V,] 235 – 236. 100 Condorcet, „Discours sur les Conventions nationales“, 218 – 219; Le Patriote françois, n8 731, 10. August 1791, [V,] 168 – 169. 101 Während der Restauration wurde aus dem Fehlen einer Revisionsklausel in der Charte eine Forderung der liberalen Opposition, vgl. Albert Fritot, Esprit du droit et ses applications à la politique et à l’organisation de la monarchie constitutionnelle, Paris: E. Pochard, 21825, 558: „Eine Verfassung, die nach den gesichersten Prinzipien der Ordnung und der Stabilität erstellt wurde, muss noch bestimmen und das Verfahren vorschreiben, nach dem man zu ihrer Revision wird vorgehen können; und alle die, die keine Bestimmung in dieser Hinsicht enthalten, können als unvollständig angesehen werden.“ Für Fritot hieß Revision „das Recht zu reformieren, zu modifizieren und die Verfassung selbst zu ändern“, und er hielt es für wünschenswert, „bei der Revision dieser Verfassung das Verfahren in Anwendung zu bringen, das soeben für ihre Annahme beschlossen wurde“ (ebd., 559). 102 Condorcet, „Discours sur les Conventions nationales“, 214 – 215, 220. 103 Le Patriote françois, n8 731, 10. August 1791, [V,] 169. 98

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zumindest indirekt auf die bestehende Konstituante verwiesen war, die für sich ja durchaus darüber hinausgehende gesetzgeberische Kompetenzen beanspruchte. In der entscheidenden Kernfrage bezüglich der Entscheidungs- und Machtkompetenz eines Konvents waren die Fronten mit Condorcets Plädoyer für das amerikanische und Brissots Eintreten für das englische Modell klar abgesteckt und die sich anbietenden Alternativen aufgedeckt. Wenn sich nun eine Nation eine Verfassung gebe, delegierte sie dann durch den Akt ihrer Konstituierung Souveränität oder beauftragte sie, entsprechend der Auffassung von Sieyès, lediglich Repräsentanten mit ihrer Ausführung? Die Auffassung von der konstituierenden Gewalt ließ nur die zweite Möglichkeit zu, aus der aber auch folgte, dass das Volk „sich mit Hilfe von Nationalkonventen stets das Recht vorbehalte, zu intervenieren und zu prüfen, ob die konstituierten Gewalten nicht ihre Grenzen überschritten haben, um sie wieder in diese Grenzen zurückzuverweisen“.104 Mit dieser Feststellung deutete sich bereits eine dritte Variante des Konvents als spontan einzusetzendes Instrumentarium zur Steuerung revolutionärer Politik an, dessen vorrangiges Ziel nicht mehr die Begründung einer neuen politischen Legalität ist. Damit war an die Stelle des amerikanischen und des englischen Konvents unter Berufung auf das souveräne Volk nicht nur eine dritte Möglichkeit getreten, sondern auch mit dieser Verselbständigung des Konventsgedankens die Verfassung hinter die Ausübung der Volkssouveränität auf den zweiten Platz abgerutscht. War also Verfassung eben doch nichts anderes als der absurde Versuch, eine ihrer Natur nach unbegrenzbare Macht begrenzen zu wollen, wie es der amerikanische Chief Justice John Marshall 1803 fragen, aber dabei zugleich auch entschieden verneinen sollte?105 Für die Verfechter der der Nationalversammlung vorgelegten Verfassung war ein derartiger spontaner Konvent unakzeptabel. Im Gegenteil würde eine gute Verfassung, so Barnave, dauerhaft sein und einen Konvent überflüssig machen,106 ganz wie Le Chapelier unter dem Beifall der Linken der Hoffnung Ausdruck gab, dass die Revolution beendet und die Verfassung begründet sei, so dass kein zukünftiger Konvent zwecks Veränderungen des Regierungssystems notwendig sei,107 was

104 Pétion in der Sitzung vom 10. August 1791, Archives parlementaires, 1ère sér., XXIX, 327. Robespierre und Thouret lehnten dagegen nur die zeitlich unbegrenzte Delegation der Souveränität ab, ebd., 328. 105 1 Cranch 137, 177. 106 Archives parlementaires, 1ère sér., XXIX, 368. Vgl. dazu auch Patrice Gueniffey, „Terminer la Révolution: Barnave et la révision de la Constitution (Août 1791)“, in: Terminer la Révolution: Mounier et Barnave dans la Révolution française, hrg. v. François Furet u. Mona Ozouf (Bicentenaire de la Révolution française en Dauphiné, Colloque de Vizille 1988), Grenoble: Presses universitaires, 1990, 147 – 170. 107 Archives parlementaires, 1ère sér., XXIX, 387.

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Pougeard Dulimbert schließlich auf die griffige Formel brachte: „[E]s ist Zeit, vom Zustand der Revolution in den Zustand der Verfassung überzugehen.“108 Jene dritte Variante, dass Konvente, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt festgesetzt oder periodisch wiederholt, mit Aufstand und Revolution gleichzusetzen seien, tauchte auch in den nachfolgenden Beratungen immer wieder auf.109 Da sich die Nationalversammlung in deren Ablehnung letztlich noch einig war,110 blieb die entscheidende Frage, wie das Problem der Volkssouveränität und der konstituierenden Gewalt, das selbst die Anhänger der Rechten kaum öffentlich zur Disposition zu stellen wagten, zu kanalisieren sei. Einerseits war es unbestritten, dass die Nation generell das Recht habe, ihre Verfassung zu verändern,111 doch andererseits schien dem der Gedanke entgegenzustehen, dass die Verfassung politische Ruhe und Stabilität bewirken sollte.112 Zur Lösung dieses Konflikts wurde eine Vielzahl von Hürden vorgeschlagen, wie mögliche Revisionsbegehren zwar nicht ausgeschlagen werden sollten – das hätte das Prinzip der Volkssouveränität nicht gestattet –, aber so weit wie möglich, im Maximalfall bis zu dreißig Jahren, hinausgeschoben werden konnten.113 Wenn André in diesem Zusammenhang forderte, dass es notwendig sei, um Frankreich seine Ruhe wiederzugeben und seiner Bevölkerung die Furcht vor Unruhen zu nehmen, eine Zeit lang – bis 1821! – keine Veränderung der Verfassung zuzulassen,114 dann war dies nichts anderes als die Forderung, die Volkssouveränität für dreißig Jahre auszusetzen.115 Nicht nur Reubell und La Fayette waren überzeugt,

108 Ebd., 724. Vgl. dazu auch François Furet u. Ran Halévi, La Monarchie républicaine: La Constitution de 1791, Paris: Fayard, 1996, bes. 234 – 237, mit der besonderen Betonung der Rolle von Barnave. 109 Vgl. Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 35 – 36, 39, 40, 96, 107, 114. 110 Dass außerhalb der Nationalversammlung mitunter radikalere Positionen vertreten wurden, dokumentiert nicht nur die Pariser Stadtversammlung mit ihrer Resolution, sondern etwa auch Camille Desmoulins mit seinem romantisierten Konventsbegriff, vgl. Révolutions de France et de Brabant, n8 90, 29 – 38: „Allein durch die Erneuerung der Konvente kann die Gesellschaft die Hoffnung bewahren, baldmöglichst die Schimäre eines ungetrübten Glücks zu erlangen, wahrhaft schützende, wahrhaft geweihte Gesetze zu erlassen und ihnen einen grenzenlosen Gehorsam zu versichern“ (ebd., 32). 111 So Le Chapelier bei der Präsentation der Vorstellungen des Verfassungsausschusses zur Verfassungsrevision, Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 35. 112 Vgl. ebd., 70 – 71 u. ö. 113 Vgl. ebd., 35, 36, 40 – 43, u. ö. Vgl. dazu auch die Bemerkung Brissots: „Herr Chapelier hat darauf einen Bericht über die große Frage von Nationalkonventen gegeben […] so als wollte er absichtlich Konvente als unmöglich darstellen“ (Le Patriote françois, n8 751, 30. August 1791, [V,] 253; Hervorhebung im Original). 114 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 65. Auch verschiedene amerikanische Verfassungen kannten Klauseln, die generelle oder bestimmte Veränderungen vor Ablauf längerer Fristen bzw. ad infinitum ausschlossen, so etwa Art. V der Bundesverfassung von 1787. 115 So auch Salle, in: Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 63: „[D]ie der Nation belassene Fähigkeit, Nationalkonvente zu haben, würde suspendiert.“

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dass die Nationalversammlung nicht befugt sei, eine ganze Generation von ihrem Recht, über ihre Verfassung zu bestimmen, auszuschließen.116 Über allen diesen Diskussionen hatte wie ein Damoklesschwert stets der Gedanke des „durch den Willen des Volkes einberufenen Konvents“117 geschwebt, die Pétion am 29. August eingehend in der mit Abstand längsten Rede thematisierte, die vor der Nationalversammlung im Zusammenhang der Generaldebatte über die Verfassung im August 1791 gehalten und die mit großem Beifall aufgenommen wurde. Konvente waren für ihn „der Schlussstein“ des ganzen Verfassungsgebäudes.118 Pétion ging zunächst ausführlich auf die englischen Beispiele von 1604 bis 1688 und dann auf das amerikanische von 1787 ein, um daraufhin einen Konvent als „eine vom Volk mit der notwendigen Autorität ausgestattete Versammlung, seine Verfassung zu machen und zu reformieren“, zu definieren, wobei er eine Unterscheidung der Konvente aufgrund ihrer Befugnis zur Teil- oder Totalrevision als irreführend ablehnte.119 Nach seiner Überzeugung waren Konvente für die Freiheit eines Volkes unverzichtbar, denn sie verbesserten eine schlechte Verfassung und verhinderten, dass die gute degeneriere. Aber: „Konvente sind heftige Heilmittel, von denen man nur selten Gebrauch machen sollte, und die, um heilsam zu sein, mit Vorsicht gehandhabt werden müssen.“120 Um aber jene gefürchteten Aufstände zu verhindern, sollten Konvente zu festgesetzten Zeitpunkten periodisch stattfinden, und in Weiterführung der Gedanken von Brissot und Condorcet, auf den er sich ausdrücklich berief, sollten sie in Zusammensetzung und Funktion genau definiert seien: Wahl auf Departementsbasis wie bei der Legislative von bis zu 1200 Repräsentanten, die weder der Legislative noch dem nächsten Konvent angehören durften, Dauer des Konvents sechs Monate, keine legislativen Befugnisse und ein Tagungsort, der mindestens sechzig Kilometer von dem der Legislative entfernt war.121 Pétions Versuch, einen am amerikanischen Beispiel orientierten Konvent mit dem alleinigen Auftrag, „den allgemeinen Willen zu erkennen und zu deklarieren“,122 in die französische Verfassung einzuführen, fand im August 1791 ebenso wenig eine

116 Vgl. ebd., 66, 70. Vgl. auch die Kritik von Brissot, in: Le Patriote françois, n8 752, 31. August 1791, [V,] 257 – 258, n8 753, 1. September 1791, [V,] 261 – 262. 117 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 63. 118 Ebd., 44. Die ganze Rede ebd., 44 – 54. 119 Ebd., 44 – 45. 120 Ebd., 47. Wörtlich nahezu gleichlautende Vorbehalte gegen zukünftige Conventions waren auf dem Bundeskonvent in Philadelphia 1787 geäußert worden, vgl. Winfried Herget, „Contested Text: The Debate over the Perpetuity of the Constitution“, in: The Construction and Contestation of American Cultures and Identities in the Early National Period, hrg. v. Udo J. Hebel, Heidelberg: Winter, 1999, 331 – 332. 121 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 51, 54. Den letzten Punkt ließ Brissot in seiner wohlwollenden Zusammenfassung („tiefschürfend und glänzend“) unerwähnt, vgl. Le Patriote françois, n8 751, 30. August 1791, [V,] 253. 122 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 52.

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Mehrheit wie Brissots Plädoyer für das englische Modell.123 Damit war der Versuch, der Konstitutionalisierung von sich nicht selbst legitimierenden Konventen und damit der Einbindung der Volkssouveränität und der konstituierenden Gewalt in die Verfassung gescheitert. Die Konstituante folgte stattdessen schließlich den Vorstellungen von Frochot, der wieder zur Unterscheidung von Teilrevision und Totalrevision zurückführte und damit letztlich den Anstoß zum Titel VII der Verfassung von 1791 gab, die allein die Teilrevision in der bekannten Form der drei konsekutiven Legislativen konstitutionalisierte, während, abweichend von Frochot, die Totalrevision ausgeklammert wurde, so dass für sie nur blieb, was Frochot vorausgesagt hatte: „Die Insurrektion, wenn die Verfassung stumm ist.“124 Es war die Tragik der Verfassung von 1791, dass sie in dem Augenblick, in dem sie verabschiedet wurde, bereits gescheitert war. Die Konstituante war sich bewusst, dass sie das Revisionsproblem lösen musste, doch sie sah sich außerstande, eine konstitutionelle Lösung für die konstituierende Gewalt zu finden, und wenn André meinte, „es gibt überhaupt keine menschliche Kraft, die die Urversammlungen hindern kann, ihr ausdrückliches Mandat zur vollständigen Veränderung der Verfassung zu erteilen,“ so dass für diesen Fall auch keine Vorkehrungen zu treffen seien, dann war wohl Robespierres Fazit aus dieser Überzeugung nicht so abwegig: „Das heißt also, die Insurrektion an die Stelle jedes Mittels und jeder konstitutionellen Form zu setzen.“125

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Vgl. dazu Brissot: „Die Tagesordnung enthielt die Frage der Nationalkonvente, und man hat mehrere Projekte verlesen, die sich in letzter Analyse fast alle auf die zwei Worte reduzieren lassen: keine Konvente“ (Le Patriote françois, n8 753, 1. September 1791, [V,] 262; Hervorhebung im Original). 124 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 96, vgl. seine ganze Rede, ebd., 95 – 104. Dazu auch ebd., 117. Auch der amerikanische Verfassungskonvent hatte sich kurz mit der Frage der Limitierung von Verfassungsänderungen befasst und genau aus dieser Einsicht Begrenzungen abgelehnt, vgl. dazu Elai Katz, „On Amending Constitutions: The Legality and Legitimacy of Constitutional Entrenchment“, in: Columbia Journal of Law and Social Problems, 29 (1996), bes. 277 – 278. 125 Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 111, 112. Vgl. auch die harsche Kritik Brissots, die allerdings keine Lösungsmöglichkeit aufzeigte: Le Patriote françois, n8 755 u. 757, 3. u. 5. September 1791, [V,] 269, 278. Die Position Andrés wurde dann noch einmal von Barnave in seiner Rede vom 31. August theoretisch untermauert (Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 113 – 115), die in der Folge sehr viel Beachtung gefunden hat, vgl. als Beispiele Furet u. Halévi, La Monarchie républicaine, 236 – 237, 581 – 586; Antoine Barnave, Potere costituente e revisione costituzionale. Discorso del 31 agosto 1791 sulle Convenzioni nazionali, hrg. v. Roberto Martucci, Manduria: Piero Lacaita Editore, 1996. Während sie für den Revisionsgedanken keine neuen Aspekte enthält, ist sie ein weiterer Beleg für Barnaves deutlich an die amerikanischen Federalists erinnerndes Demokratieverständnis. Mit der positiven Deutung, in der Verfassung von 1791 lediglich die Teilrevision vorgesehen zu haben, verkennt hingegen Burdeau, Statut du pouvoir, 241 („die Begründer unseres traditionellen öffentlichen Rechts [d. h. die Nationalversammlung von 1791] haben im Gegenteil schon von Beginn an den fundamentalen Unterschied markiert, der die konstituierende Gewalt im vollen Wortsinn von der Zuständigkeit für Revisionen trennt“), die Tiefe der Diskussion des August 1791.

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Indem die Nationalversammlung sich an ihre Verfassung klammerte und sich außerstande sah, konstitutionelle Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, um diese, falls erforderlich, durch eine neue Verfassung zu ersetzen, verfehlte sie nicht nur ihr selbst proklamiertes Ziel einer „fortwährenden Verfassung“,126 sondern sie provozierte damit auch letztlich jene Insurrektion, die sie doch so bemüht gewesen war zu vermeiden. Angesichts dieses Unvermögens dokumentierte sie zugleich, dass der sich in Amerika herausbildende Gedanke der convention als Institution zur Bildung oder Veränderung einer Verfassung, die sich nicht selbst in Kraft setzt und die weder regiert noch Gesetze erlässt,127 ebenso wie die englische Convention-Praxis zur Wiederherstellung der politischen Legalität 1791 an den französischen Vorstellungen von Verfassung, Volkssouveränität und konstituierender Gewalt scheiterten und einer dritten Konventsvariante Platz machten, für die die Convention nationale, wie sie 1792 in Paris einberufen wurde, primär ein Mittel zur Steuerung revolutionärer Politik und erst sekundär ein Gremium zur Erarbeitung einer Verfassung war, auch wenn diese, getreu dem amerikanischen Beispiel, dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden sollte.128 Als Gründe für die Abweichung vom amerikanischen Modell hatte die Nationalversammlung immer wieder auf die Größe und den Bevölkerungsreichtum des Landes sowie auf den Wunsch, die Revolution zu beenden, verwiesen. Tatsächlich aber war es das sich in der Nationalversammlung artikulierende Verfassungsverständnis, das dem amerikanischen entgegenstand und die Einbindung der Volkssouveränität in die Verfassung verhinderte und damit eine Übernahme des amerikanischen Modells unmöglich machte. 1792 gab Robespierre eine Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel Le Défenseur de la Constitution („Der Verteidiger der Verfassung“) heraus. Programmatisch verkündete er im Mai in der ersten Nummer: „[J]ede Veränderung [der Verfassung] würde heute nur die Freunde der Freiheit alarmieren können“.129 In der Nummer 12, seinem letzten Heft, schrieb er, nachdem die Insurrektion passiert und folgerichtig die Convention nationale anberaumt war, in seinem Kommentar der Ereignisse des 10. August: „Leute, bisher haben Schurken Euch von Gesetzen erzählt […] Sie predigten Euch den Respekt vor den konstituierten Autoritäten, und diese konstituierten Autoritäten waren nur ausgemachte Betrüger, ausgestattet mit einer ungerechten Gewalt […] Ihr werdet nur glücklich sein, wenn Ihr Gesetze haben werdet; Ihr werdet nur Gesetze haben, wenn der 126

So ausdrücklich André, in: Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 133. Bezeichnenderweise gab es auch in den Vereinigten Staaten im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zwischen Thomas Jefferson und seinen Anhängern auf der einen und den Federalists auf der anderen Seite eine Debatte, ob die Verfassung permanent sein sollte oder ob jede Generation das Recht habe zu einer Neubestimmung. Vgl. dazu jüngst Herget, „Contested Text“, 331 – 339. 127 Vgl. dazu die Definition der constitutional convention von Jameson, The Constitutional Convention, bes. 10. 128 Dieses Verfahren gehörte aber nicht zum Auftrag des Konvents durch das Wahlgesetz, sondern wurde bekanntlich von diesem in seiner ersten Sitzung vom 21. 9. 1792 auf Antrag Dantons beschlossen. 129 Le Défenseur de la Constitution, par Maximilien Robespierre, 1792, Nr. 1, 4.

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IV. Frankreich

allgemeine Wille gehört und respektiert wird und wenn die Delegierten des Volkes ihn nicht länger ungestraft werden verletzte können, indem sie sich der Souveränität bemächtigen. Die Früchte Eurer Anstrengungen, Eurer Opfer und Eurer Siege muss die bestmögliche Verfassung sein, die würdigste eines großmütigen und aufgeklärten Volkes. Ihr schuldet diese Wohltat dem Universum und Euch selbst. Das ist das Ziel des Nationalkonvents, den Ihr jetzt bildet.“130

Dies war nicht der amerikanische Konvent eines Condorcet oder Pétion, der auf der klaren Trennung der Funktionen basierte, vor deren Verwischung Pétion mit geradezu prophetischem Worten einst so vehement gewarnt hatte: „Denn nichts würde im Prinzip absurder, monströser und gefährlicher sein als eine Körperschaft, die ihre Existenz sich selbst verdankt, die nur sich selbst Rechenschaft gibt und die alleine beauftragt ist, den von ihr selbst hervorgebrachten Missbrauch zu korrigieren. Eine derartige Körperschaft würde bald die schrecklichste und ungeheuerlichste Bedrohung für die Freiheit werden; sie würde sich über die Nation stellen, von der alle Körperschaften abhängig sein müssen, und sie als Despot beherrschen.“131

Dennoch war das amerikanische Beispiel nicht völlig vergessen und ein wenig von dem Gedanken der Trennung der Funktionen in die Verfassung vom 3. September 1791 eingegangen, deren „Revisionsversammlung“ neben den 745 Mitgliedern der Nationalversammlung zuzüglich weitere 249 Mitglieder umfassen sollte, die zu dem alleinigen Zweck gewählt werden sollten, gemeinsam diese Assemblée de révision zu bilden, um die vorgeschlagenen Veränderungen zu behandeln. Sowie dieses geschehen sei, „ziehen sich die 249 zusätzlich ernannten Mitglieder zurück, ohne in irgendeiner Weise an gesetzgebenden Handlungen teilzunehmen“. Sehr viel anders sah, wie zu erwarten, der Titel über die Nationalkonvente in dem girondistischen Verfassungsprojekt vom Februar 1793 aus, der insgesamt 16 Artikel umfasste und sehr detaillierte Regelungen vorsah. Konvente sollten mit Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur für jede Verfassungsänderung einberufen werden, sie sollten auch jeweils in deutlicher geographischer Distanz zur Legislative (ca. 200 km) tagen, um die nach Mitgliedern und Funktion vollständige Trennung zwischen beiden Versammlungen über jeden Zweifel erhaben zum Ausdruck zu bringen. Für die Gültigkeit der vorgeschlagenen Verfassungsänderung war wiederum die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung erforderlich.132 Bezeichnenderweise wies der Abschnitt über die Nationalkonvente in der jakobinischen Verfassung mit seinen insgesamt drei Artikeln dagegen stärkere Parallelen zur pennsylvanischen Verfassung von 1776 als zum Projekt der Gironde auf und enthielt keine ihrer zentralen Bestimmungen.133 So wurde nicht ausdrücklich fest130

Ebd., Nr. 12, 581 – 582. Archives parlementaires, 1ère sér., XXX, 45. 132 Plan de Constitution de Condorcet von 1793, Titel IX, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 82 – 83. 133 Jakobinische Verfassung von 1793, Art. 115 – 117, in: ebd., 103. 131

2. Verfassung und Revolution – Diskussion um einen Nationalkonvent 1791

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gehalten, dass allein ein Konvent die Verfassung verändern oder ergänzen könne, im Gegenteil verfügte dieser gleichfalls über legislative wie exekutive Funktionen: „Der Nationalkonvent wird in der gleichen Weise wie die Legislative gebildet und vereinigt in sich die gesamte Macht.“134 Dennoch waren aufgrund dieses neuerlichen Abrückens von der amerikanischen Konventsidee mit ihrer strikten Abgrenzung sowohl von legislativen als auch von exekutiven Befugnissen und angesichts der Praxis des seit September 1792 bestehenden Konvents die Vorstellungen Condorcets und Pétions keineswegs vollständig aus dem französischen Verfassungsdenken verschwunden. Vielmehr stellt die Verfassung des Jahres III den letzten Versuch dar, den amerikanischen Konventsgedanken doch noch in Frankreich zu verwirklichen. Zwar konnte, diskreditiert durch die Terreur, nach dem Thermidor der Ausdruck Convention nicht verwandt werden. Umso bereitwilliger griff man daher auf die Bezeichnung „Revisionsversammlung“ der Verfassung von 1791 zurück, während man sie inhaltlich unter starker Anlehnung an das Condorcetsche Projekt von 1793 in einen tatsächlichen Verfassungskonvent umzuformen suchte. Die Bestimmungen über die Wahl und die strikte räumliche Trennung von der Legislative waren eindeutig von diesem beeinflusst. Allerdings sollte das Volk keine Verfassungsrevision veranlassen können, während wie 1791 die Zustimmung von drei konsekutiven Parlamenten erforderlich war, um ein Revisionsbegehren in Gang setzen zu können. In der Festsetzung der Aufgaben dieser Assemblée de révision gingen die Thermidorianer jedoch noch deutlich restriktiver vor: „Die Revisionsversammlung übt weder gesetzgeberische Funktionen aus noch die der Regierung; sie beschränkt sich allein auf die Revision der Verfassungsartikel, die ihr vom gesetzgebenden Körper bezeichnet wurden.“135 In keiner französischen Verfassung wurde das konstituierende Prinzip des Verfassungskonvents je in ähnlich rigoros eingrenzender Weise zum Ausdruck gebracht wie in diesem Artikel von 1795.136 Doch diese Rigorosität hatte auch, und sei es nur indirekt, dokumentiert, dass für die amerikanische Konventsidee letztlich kein Platz im französischen Verständnis des modernen Konstitutionalismus war. Der Konvent oder, wie es richtiger heißen muss, die Revisionsversammlung der Verfassung des Jahres III verfügte lediglich über untergeordnete, gleichsam editorische Funktionen, wie sie schon Brissot abgelehnt hatte, und hatte, anders als noch bei Condorcet oder Pétion, weder einen 134

Jakobinische Verfassung von 1793, Art. 116 (ebd.). Verfassung des Jahres III (1795), Art. 342, in: ebd., 130. 136 Die Berechtigung der eingangs angemahnten stärkeren Beachtung des Revisionsgedankens im europäischen Konstitutionalismus wird erneut bestätigt durch den Band La Constitution de l’an III. Boissy d’Anglas et la naissance du libéralisme constitutionnel, hrg. v. Gérard Conac u. Jean-Pierre Machelon, Paris: Presses universitaires de France, 1999, der die Revisionsproblematik völlig unbeachtet lässt. Vgl. dagegen zuvor, jedoch ohne Erwähnung der Diskussion von 1791 und ohne Verweis auf die Rückgriffe auf das Condorcetsche Projekt, Vida Azimi, „L’impossible révision de la Constitution: l’exemple de l’an III“, in: La Constitution de l’an III ou l’ordre républicain, hrg. v. Jean Bart u. a., Dijon: Editions Universitaires de Dijon, 1998, bes. 212 – 215. 135

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IV. Frankreich

eigenen Willen noch konnte sie eigenmächtig tagen und beraten. Hingegen bestand das französische Verfassungsdenken auf der Suprematie des souveränen Volkes, das sich mittels seiner Repräsentanten in der Nationalversammlung äußerte. Eine konstituierende Nationalversammlung mit verfassunggebenden wie gesetzgebenden Vollmachten und dem Recht, eine Regierung einzusetzen, die ihren Willen notfalls auch bereits existierenden nationalen Institutionen aufzwang, schien sich sehr viel mehr im Einklang mit derartigen Vorstellungen zu befinden. Ihre Legitimation bezog sie allein aus der Revolution, die damit auch ihre radikalste Form rechtfertigte, nämlich die Convention, die zusätzlich die Regierungsgewalt mittels Ausschüsse direkt ausübte, ohne eine weitere politische Autorität unabhängig von ihr und jenseits ihrer unmittelbaren Kontrolle anzuerkennen. Trotz oder eher wegen der Bestimmungen von 1795 vermochte weder der amerikanische noch der englische Verfassungskonvent zu einer dauerhaften Einrichtung im französischen Verfassungsleben zu werden. Das nächste und zugleich letzte Mal tauchte er, wiederum unter der Bezeichnung „Revisionsversammlung“ in der Verfassung von 1848 auf. Doch von den 15 Artikeln der Verfassung des Jahres III war lediglich ein einziger übriggeblieben, der bewusst vage gehalten war und völlig offenließ, wie weit die Mitglieder der Revisionsversammlung mit denen der Nationalversammlung identisch waren,137 womit der zentrale Gedanke ihrer strikten Trennung aufgegeben war.138 Die Idee des Konvents war zum sprichwörtlichen Synonym für ungehinderte Volkssouveränität und Revolution geworden und das amerikanische Beispiel letztlich an dem in Frankreich entwickelten Verfassungsbegriff, das englische an den Vorstellungen der Volkssouveränität endgültig gescheitert. Fragt man, warum die amerikanischen Vorstellungen eines beratenden und vorschlagenden und damit in seiner Macht begrenzten Gremiums, über dessen Ergebnisse das Volk direkt befindet, sich in Frankreich nicht durchzusetzen vermochten, reicht mithin der Verweis auf das abschreckende Beispiel des Konvents von 1792, der schließlich mit der terreur gleichgesetzt wurde, nicht aus. Indem bereits die Debatte des August 1791 letztlich das Unvermögen offenbart hatte, die konstituierende Gewalt in die Verfassung zu integrieren und auf diese Weise zu kanalisieren und Regeln zu unterwerfen, war die Bereitschaft erkennbar geworden, im Konfliktfalle notfalls die Verfassung der 137 Verfassung von 1848, Art. 111 („de la révision de la Constitution“); vgl. auch Art. 29, wonach die Beschränkungen der Mitgliedschaft in der Nationalversammlung nicht für die Revisionsversammlungen galten, sowie die Art. 21 u. 22 (750 Mitglieder der Nationalversammlung – fünf mehr als 1791 – und 900 Mitglieder in den Revisionsversammlungen – 94 weniger als 1791; die Parallelen sind bezeichnend), in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 215, 222. Bzgl. weiterer Aspekte, vgl. François Luchaire, Naissance d’une constitution: 1848, Paris: Fayard, 1998, 161 – 163. 138 Auf die Parallelen zur Verfassung von 1791 verwies besonders Laboulaye, vgl. Olivier Jouanjan, „La Constitution de 1791 dans la doctrine constitutionnelle libérale française du XIXe siècle“, in: 1791: La Première constitution française. Actes du colloque de Dijon, 26 et 27 septembre 1991, hrg. v. Jean Bart u. a., Paris: Economica, 1993, bes. 437 – 442.

2. Verfassung und Revolution – Diskussion um einen Nationalkonvent 1791

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Volkssouveränität zu opfern, da die Revolution jede andere Lösung auszuschließen schien. Nicht nur wog offensichtlich der Einfluss Rousseaus schwerer als der amerikanische,139 auch die amerikanische, naturrechtlich begründete Vorstellung eines vom Staat unabhängigen, vorstaatlichen Rechts, das selbst die konstituierende Gewalt letztlich beschränke, war dem französischen Denken fremd.140 Damit war der Rang und das Verständnis von Verfassung von Anbeginn in Frankreich völlig anders als zuvor in Amerika definiert worden mit dem Ergebnis, dass sich im französischen Verfassungsdenken die Auffassung durchsetzen konnte, dass eine Verfassung stets den sich wandelnden Grundanschauungen des souveränen Volkes Platz zu machen habe,141 eine Auffassung, die sich erst in unserer Zeit zu wandeln scheint142 und die es damit für die Zukunft denkbar erscheinen lässt, dass die Frage nach der amerikanischen Konventsidee in Europa neu gestellt werden könnte.143

139 Vgl. Pasquino, „,Pouvoir constituant‘ bei Emmanuel Sieyès und Carl Schmitt“, bes. 371 – 372. 140 Vgl. dazu Kap. V. 1. 141 Vgl. Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789. Ihre Grundlagen in der Staatslehre der Aufklärungszeit und in den englischen und amerikanischen Verfassungsgedanken, Leipzig: von Veit, 1912, bes. 154 – 172; sowie Kap. V. 2. 142 Vgl. dazu Adolf Kimmel, „Nation, Republik, Verfassung in der französischen politischen Kultur“, in: Jürgen Gebhardt (Hrg.), Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden: Nomos, 1999, bes. 134 – 138. 143 Vgl. dazu unten Kap. VII. 2.

V. England – Nordamerika – Frankreich: Entwicklungslinien und Divergenzen Nach drei nationalen Teilen ist dieser Teil einer komparatistischen Betrachtung und Analyse gewidmet, die alle drei vormals getrennt behandelten Räume – oder zumindest zwei von ihnen – gemeinsam in den Blick nimmt. Dabei geht es in den ersten drei Kapiteln um jene sich in diesem Zusammenhang aufdrängenden Themen von Verfassung, Volkssouveränität und Demokratie, die im ausgehenden 18. Jahrhundert und beginnenden 19. Jahrhundert in allen drei Ländern in der Diskussion waren, dessen jeweiliges Verständnis sich aber mitunter signifikant voneinander unterscheidet, wobei gerade das Verhältnis zwischen Verfassung und Volkssouveränität einen bedeutsamen und bis heute nachwirkenden Unterschied im Verständnis des modernen Konstitutionalismus zumal zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich begründet. Das eine oder andere mag dabei in den voraufgegangenen Teilen bereits angeklungen sein, doch ist der systematische vergleichende Blick angebracht, um hier noch stärkere Akzente zu setzen. Die Transferproblematik ist in diesen drei Kapiteln das offensichtliche Metathema. Eindrücklich in den Vordergrund rückt es in Kap. V. 4., das sowohl an das Kap. III. 3. anknüpft, das die Sonderstellung der Verfassung von Pennsylvania von 1776 offenlegte, als auch an Kap. IV. 1. über die Diskussion der amerikanischen Verfassungen im vorrevolutionären Frankreich. Hier werden nun nicht nur die ideellen Verbindungslinien zwischen der pennsylvanischen Verfassung von 1776 und der jakobinischen Verfassung von 1793 aufgedeckt, sondern auch diese Wanderung von Verfassungsvorstellungen nachgezeichnet und bis in die sozialen Trägerschichten beider Verfassungen verfolgt. Die Geschichte des modernen Konstitutionalismus kann und will nicht das Ziel verfolgen, nationale Empfindlichkeiten zu verletzten. Eine transnationale, mitunter globale Perspektive führt jedoch zwangsläufig zu Ergebnissen, die aus einem rein nationalstaatlich orientierten Blickwinkel mitunter übersehen oder in einen anderen, letztlich engeren Betrachtungshorizont eingeordnet sind. In einer globaler gewordenen Welt ist daher der moderne Konstitutionalismus Einladung und Aufforderung, über die eigenen Grenzen hinaus zu denken, das Gemeinsame in den Blick zu nehmen und darin die eigenen nationalen oder regionalen Besonderheiten einzuordnen. Das ist auch das Thema von Kap. V. 5. über die Ausprägungen und Besonderheiten des Bikameralismus zumal in seinen amerikanischen und französischen Realisierungen. In Kap. V. 6. gilt es, Demokratie- und Verfassungsentwicklung in den USA und Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert vergleichend in den Blick zu nehmen. Ohne

1. Der Begriff der Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

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dies als einziges Erklärungsmodell hinzustellen, lässt sich jedoch so viel in Fortführung der Betrachtung der Kap. II. 1. und III. 1. festhalten, dass auf amerikanischer Seite ein wesentliches, dem Modernisierungsprozess der letzten Jahrhunderte zugrundeliegendes Thema der Rechtediskurs und die Ausweitung und Grenzen zumal von politischen und bürgerlichen Rechten waren, während in England seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert dieser Prozess entscheidend von einer Anpassung der politischen Institutionen mit dem Wandel von Verfassung und Demokratie einherging. Im Zentrum der beiden abschließenden Kapitel dieses Teils stehen die Menschenrechte, auf die bereits in Kap. III. 7. eingegangen wurde und die uns in Kap. VII. 5. erneut beschäftigen werden. Hier geht es zunächst und eher thesenartig verkürzt um die Rechte der Frau, wobei der Blick im Prinzip auf den drei bislang behandelten Ländern liegt und dabei Errungenschaften wie Defizite anspricht. Das abschließende Kapitel stellt unsere generelle Perspektive in Frage, dass es sich bei den Menschenrechten um individuelle Rechte handelt und versucht nachzuweisen, dass sie im 18. Jahrhundert und über den größten Teil des 19. Jahrhunderts mit Nachwirkungen bis in die Gegenwart vielmehr als soziale Rechte eingeführt, verstanden und praktiziert wurden und manche dieser Rechte adäquat auch nur als solche zu praktizieren sind. Zwar stehen die USA hier im Zentrum, jedoch werden an den sich anbietenden Stellen auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland einbezogen. Dass damit die komparatistische Betrachtung im Rahmen einer Geschichte des modernen Konstitutionalismus nicht erschöpft ist, bedarf keiner ausdrücklichen Betonung. Hier kann es nur darum gehen, seine Möglichkeiten und den daraus erwachsenden Erkenntnisgewinn bewusst zu machen. In den drei abschließenden Teilen VI. – VIII. zu Deutschland, Europa und Lateinamerika werden uns dieser Rahmen und die Wanderung von Verfassungsideen erneut beschäftigen.

1. Der Begriff der Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert in Großbritannien, Nordamerika und Frankreich1 In den voraufgegangenen Überlegungen zur Entstehung und den Ausprägungen des modernen Konstitutionalismus ist wiederholt die Frage aufgetaucht, was eigentlich zumal in dieser Inkubationszeit des modernen Konstitutionalismus2 im 1 Überarbeitete Version des letzten Teils eines Beitrags, der zuerst erschien als „Prolegomena zu einer europäischen Verfassungsgeschichte“, in: Michael Wala (Hrg.), Gesellschaft und Diplomatie im transatlantischen Kontext. Festschrift für Reinhard R. Doerries zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner, 1999, 355 – 384. 2 Vgl. Gerald Stourzh, „Constitution: Changing Meanings of the Term from the Early Seventeenth to the Late Eighteenth Century“, in: Terence Ball u. J. G. A. Pocock, Hrg., Conceptual Change and the Constitution, Lawrence, Ks.: University Press of Kansas, 1988,

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V. England – Nordamerika – Frankreich

ausgehenden 18. Jahrhundert in den bislang im Zentrum stehenden Ländern unter Verfassung verstanden wurde und warum die Antworten in England bzw. Großbritannien, Nordamerika und dann den Vereinigten Staaten und Frankreich so unterschiedlich ausfielen. Es erscheint mithin geboten, diesen Fragen in einem eigenen Kapitel systematisch nachzugehen und zu versuchen herauszuarbeiten, wo, bezogen auf diese drei Länder, die Schnittmengen lagen und wie die sich zwangsläufig ergebenden Differenzen zu erklären und zu bewerten sind und welche Konsequenzen sich daraus für die weitere Entwicklung des modernen Konstitutionalismus zumal in Amerika und in Europa ergeben. Angesichts ihrer politischen, sozialen und kulturellen Prägungen und Eigentümlichkeiten wird kaum davon auszugehen sein, dass ein gleichartig verwendeter Begriff „Constitution“, der sich lediglich in der Aussprache unterschied, mit gleichartigen inhaltlichen Konnotationen versehen war. Jedoch werden die Unterschiede zwischen dem britischen, amerikanischen und französischen Terminus lediglich deutlich werden, wenn nicht nur die jeweiligen nationalen, politischen Koordinaten, die historisch-kulturellen Bedingungen und die Denktraditionen der betreffenden Länder in die Betrachtung einbezogen werden, sondern auch der Blick über nationale Entwicklungslinien hinaus ebenso auf gegenseitige Beeinflussungen, Ein- und Rückwirkungen gerichtet wird, um, von dort ausgehend, die Frage nach dem Verbindenden und Trennenden zu stellen.3 Obgleich in den Vereinigten Staaten und in Frankreich ähnlich formalisierte Verfassungsdokumente entstanden, kann diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass es generell dem Verfassungsverständnis von Anbeginn an inhaltlicher Geschlossenheit fehlte, was wiederum die Möglichkeit eröffnete, ihm entsprechend der eigenen historischen und kulturellen Traditionen verschiedene, diese Eigentümlichkeiten berücksichtigende Ausdeutungen zu geben, deren Nachwirkungen bis zum heutigen Tage spürbar sind. Diese beziehen sich nicht nur auf Nuancen im Verständnis der Begrifflichkeit, sondern ebenso auf die Regelungskompetenz von Verfassungen wie überhaupt auf das Verständnis von Recht und Politik und das, was McIlwain in Anlehnung an Bracton das Spannungsverhältnis zwischen jurisdictio 35 – 54; Gerald Stourzh, „Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff. Staatsformenlehre und Fundamentalgesetze in England und Nordamerika im 17. und 18. Jahrhundert“, in: ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien: Böhlau, 1989, 1 – 35. 3 Diese Perspektive bleiben bei Wolfgang Schmale, „Constitution, Constitutionnel“, in: Rolf Reichardt u. a., Hrg., Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680 – 1820, H. 12, München: Oldenbourg, 1992, 31 – 63, und bei Heinz Mohnhaupt u. Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin: Duncker & Humblot, 1995 (zuvor in gekürzter Fassung in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Hrg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, VI, Stuttgart: Ernst Klett, 1990, 831 – 899) weitgehend unberücksichtigt. Vgl. dagegen Paolo Comanducci, „Ordre ou norme? Quelques idées de constitution au XVIIIe siècle“, in: Michel Troper u. Lucien Jaume, Hrg., 1789 et l’invention de la constitution. Actes du colloque de Paris oprganisé par l’Association Française de Science Politique: 2, 3 et 4 mars 1989, Paris: L. G. D. J. – Bruylant, 1994, 23 – 43.

1. Der Begriff der Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

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und gubernaculum genannt hat,4 und das sich von Anbeginn in diesen drei für die Ausbildung des modernen Konstitutionalismus so essentiellen Ländern deutlich voneinander unterschied. Großbritannien, obwohl selbst ohne Verfassung im Sinne des modernen Konstitutionalismus, hat dessen Herausbildung zumal in Nordamerika indirekt erheblich beeinflusst und angesichts des eigenen Diskurses auch direkt nachhaltig zu einem neuartigen Verfassungsverständnis beigetragen. Das englische 17. und frühe 18. Jahrhundert erfuhr eine zunehmende Verdichtung des Begriffs constitution, der politisch immer stärker aus seiner Gleichsetzung mit einzelnen Gesetzen heraustrat und als seine abstrahierte Summe unter Einbeziehung weiterer Aspekte schließlich die Form des Kollektivsingulars annahm.5 Hatte es noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehießen „[…] ihre besagten Verordnungen und Verfassungen“,6 „[…] seine Abneigung gegen alle Innovationen und das Aufgeben alter Verfassungen zu erklären“7 oder „kirchliche Verfassungen und Ordensregeln“8 und tauchte der Begriff in der Rechtspetition von 1628, einem nach heutigem Verständnis zentralen Text der britischen Verfassung, erst gar nicht auf, so steht am Ende der Entwicklung Bolingbrokes berühmt gewordene Definition von 1734: „Mit Verfassung meinen wir, wann immer wir mit Korrektheit und Exaktheit sprechen, jene Ansammlung von Gesetzen, Institutionen und Gewohnheiten, die von gewissen festgelegten Vernunftprinzipien abstammen und auf gewisse festgelegte Gegenstände des öffentlichen Wohls gerichtet sind, die das allgemeine System bilden, nach der die Gemeinschaft übereingekommen ist, regiert zu werden.“9

4 Charles Howard McIlwain, Constitutionalism: Ancient and Modern, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 21947, 77 – 146. 5 Anders hingegen war die Diskussion in Frankreich im 18. Jahrhundert verlaufen, wo die fest bestimmte Gruppe der „Grundgesetze (lois fondamentales)“ mit „constitution“ gleichgesetzt wurde, vgl. dazu erneut Olivier Tholozan, „Aux Origines pré-révolutionnaires de la notion de constitution: Henri de Boulainvilliers (1658 – 1722)“, in: Michel Ganzin, Hrg., Pensée politique et droit. Actes du colloque de Strasbourg (11 – 12 septembre 1997) (Association Française des Historiens des Idées Politiques, Collection d’Histoire des Idées Politiques, XII), Aix-en-Provence: Presses Universitaires d’Aix-Marseille, 1998, 168 – 173. 6 Aus der Erklärung des Königs zu den „Religionsartikeln“ vom November 1628, in: Samuel Rawson Gardiner, Hrg., The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625 – 1660, Oxford: Clarendon Press, 31906, 75. 7 Act of the Privy Council on the Position of the Communion Table at St. Gregory’s, 3. 11. 1633, in: ebd., 104. 8 Titel der königlichen Erklärung vom 16. 6. 1640, in: J. P. Kenyon, Hrg., The Stuart Constitution 1603 – 1688, Cambridge: Cambridge University Press, 21986, 149. 9 Henry St. John, Viscount Bolingbroke, Political Writings, hrg. v. David Armitage, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, 88. Das Zitat stammt aus dem 10. Brief seiner Dissertation upon Parties, die 1734 erstmals veröffentlicht wurde.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

In Großbritannien mit seiner ungeschriebenen Verfassung hat Bolingbrokes Definition bis heute praktisch nichts an Bedeutung verloren.10 Die knappe Definition, die sich 1771 in der ersten Auflage der Encyclopaedia Britannica findet, ist daher bezeichnend: „VERFASSUNG, im politischen Sinn, bedeutet die Regierungsform, die in einem Land oder Königreich eingerichtet ist.“11 „Form“ oder „Rahmen der Regierung“ sollten in wenigen Jahren die Amerikaner jenen zweiten Teil ihrer Verfassungen nach dem Teil nennen, der die Rechteerklärung erhielt. Doch 1771 ist ebenso wie dann bei Burke12 der Begriff noch so allgemein gehalten, dass sich nahezu jeder Staat der Zeit darin wiederfinden konnte, keineswegs nur der britische. Zudem ist die Bezeichnung, wie bereits bei Bolingbroke angeklungen, eindeutig dem politischen Bereich unter Ausschluss jedes den Bürger oder Untertan unmittelbar einschließenden Rechtsbezugs zugeordnet. Dieses Fehlen mag angesichts der Tatsache verwundern, dass die englische Verfassung in den großen Traktaten von Bracton bis Blackstone stets im Kontext des englischen Rechtssystems abgehandelt wurde. Damit war aber nicht ein besonderer, durch die Verfassung garantierter, rechtlicher Schutz des Bürgers vor Übergriffen des Staates und seiner Organe im Sinne moderner Menschenrechtserklärungen ausgedrückt, sondern lediglich der rechtssystematische Ort normativer Akte des Staates, und es war letztlich Albert V. Dicey im ausklingenden 19. Jahrhundert vorbehalten, die „Herrschaft des Rechts (rule of law)“ als Grundpfeiler der englischen Verfassung nachdrücklich herauszustellen.13 In diesem Sinne hatte Burke in seiner Polemik gegen die Französische Revolution das bekannte Wort von dem „unveräußerlichen Erbe (entailed inheritance)“ der englischen Verfassung geprägt, die die Freiheiten der Engländer behaupte und bewahre, während er zugleich allen Versuchen, derartige Rechte durch eine allgemeine Menschenrechtserklärung wie in Frankreich sichern zu wollen, als bloße Hirngespinste eine grundsätzliche Absage erteilte, wobei er verächtlich von „Fabrizierern von Regierungen“ sprach14 und Bentham den berühmt gewordenen Ausspruch vom „Unsinn auf Stelzen“15 prägen sollte. Geschriebene Verfassungen 10 Als Beispiel vgl. etwa E. C. S. Wade, A. W. Bradley, Constitutional and Administrative Law, London: Longman, 101985, 4 – 5. Indirekt ebenso O. Hood Phillips, Paul Jackson, Constitutional and Administrative Law, London: Sweet & Maxwell, 71987, 5. 11 Encyclopaedia Britannica; or, a Dictionary of Arts and Sciences, Compiled Upon a New Plan. By a Society of Gentlemen in Scotland, 3 Bde., Edinburgh: A. Bell and C. Macfarquhar, 1771, II, 273a. 12 Vgl. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), in: L. G. Mitchell, Hrg., The Writings and Speeches of Edmund Burke, VIII, Oxford: Clarendon Press, 1989, 85 – 86. 13 Albert V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, London: Macmillan, 1885. Vgl. dazu Richard A. Cosgrove, The Rule of Law: Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, London: Macmillan, 1980, bes. 66 – 113; Bernard J. Hibbits, „The Politics of Principle: Albert Venn Dicey and the Rule of Law“, in: Anglo-American Law Review, 23 (1994), 1 – 31. 14 Burke, Reflections on the Revolution in France, 83, 110 – 111, 117. 15 Jeremy Bentham, „Nonsense Upon Stilts, Pandora’s Box Opened“, in: ders., Rights, Representation, and Reform: Nonsense Upon Stilts and Other Writings on the French Revo-

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seien Ausdruck eines „kindischen und pedantischen Systems“, das jeder Realität entbehre.16 Burkes rein politisch motivierte Polemik, deren alleiniges Ziel die unveränderte Bewahrung der bestehenden englischen Verfassung gegen alle Reformbestrebungen im eigenen Land war, sollte dennoch ihren nachhaltigen Eindruck auf das Verständnis von Verfassung zumal in konservativen Kreisen auf dem europäischen Kontinent im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert nicht verfehlen.17 Allein der organisch – nach dem Plane Gottes, wie Joseph de Maistre hinzufügen sollte18 – gewachsene Staat mit seinen Institutionen schien vielen der natürlichen Ordnung zu entsprechen, und selbst Wilhelm von Humboldt empfand es in diesen Jahren als widernatürlich, eine Verfassung „nach dem Plane der bloßen Vernunft“ konzipieren zu wollen.19 Wenn nicht Vernunft, so konnte eben nur das historisch-organisch Gewachsene letztlich einer Verfassung, und damit exemplarisch der englischen, ihre Legitimation erteilen, ganz so wie in der Glorreichen Revolution immer wieder betont worden war, dass man sich gegen die „Neuerungen (innovations)“ Jakobs II. zu Wehr setzen müsse, denn es gelte, die „alte Verfassung (ancient constitution)“ wiederherzustellen. Genauso und damit völlig konträr zum modernen Verständnis von Revolution hatten die Zeitgenossen hier den Begriff Revolution verwandt, zumal lution (The Collected Works of Jeremy Bentham), hrg. v. Philip Schofield, Catherine PeaseWatkin und Cyprian Blamires, Oxford: Clarendon Press, 2002, 321; „Nonsense Upon Stilts“. Bentham, Burke and Marx on the Rights of Man, hrg. v. Jeremy Waldron, London und New York: Methuen, 1987, 29 – 45, 53. Vgl. Yannick Bosc, „Le conflit des conceptions de la république et de la liberté: Thomas Paine contre Boissy d’Anglas“, in: Républicanismes et droit naturel. Des humanistes aux révolutions des droits de l’homme et du citoyen. L’esprit des Lumières et la révolution. Actes du colloque tenu à l’Université Paris VII Denis Diderot en juin 2008, hrg. v. Marc Belissa, Yannick Bosc und Florence Gauthier, Paris: Kimé, 2009, 101 – 115. 16 Burke, Reflections on the Revolution in France, 263. Vgl. dazu auch Morton J. Frisch, „Edmund Burke and the Origins of the Constitutionalism“, in: Manuel J. Peláez, Hrg., European Constitutional Law/Derecho constitucional Europeo (Estudios interdisciplinares en homenaje a Ferran Valls i Taberner con ocasión del centenario de su nascimiento, Bd. 7), Barcelona: Promociones y Publicaciones Universitarias, 1988, 1893 – 1910; Gérard Gengembre, „La Contre-Révolution et le refus de la constitution“, in: Troper u. Jaume, Hrg., 1789 et l’invention de la constitution, bes. 58 – 60. 17 Vgl. dazu die klassische Untersuchung von Frieda Braune, Edmund Burke in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte des historisch-politischen Denkens, Heidelberg: Carl Winters, 1917; ferner Philippe Raynaud, „Burke et les Allemands“, in: François Furet u. Mona Ozouf, Hrg., The Transformation of Political Culture, 1789 – 1848 (The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, III), Oxford: Pergamon Press, 1989, 59 – 78. 18 Joseph de Maistre, Essai sur le principe générateur des constitutions politiques et des autres institutions humaines [1809], in: Œuvres du comte J. de Maistre, I, Lyon u. Paris: J. B. Pélagaud, 1860, (Tl. 2,) 1, 39, 40, 67, 79 u. ö. 19 Wilhelm von Humboldt, „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt“ [1792], in: Friedrich Eberle u. Theo Stammen, Hrg., Die Französische Revolution in Deutschland. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren, Stuttgart: Philipp Reclam, 1989, 327. Vgl. dazu Heinz Wismann, „Raison et contingence: Humboldt sur la constitution de 1791“, in: Furet u. Ozouf, Hrg., The Transformation of Political Culture, 273 – 279; dazu ausführlich hier das Kap. VI. 2.

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die englische Verfassung, wie Montesquieu mit Nachdruck betonte,20 wie auch das englische Common Law ursächlich mit Freiheit verbunden waren. Selbst wenn Paine gegen Burke stichelte, wenn die englische Verfassung so bewundernswürdig sei, dann solle er sie ihm doch einmal zeigen. Dennoch ist Paines Schlussfolgerung irrig, und bis heute ist die britische Verfassung, wie schon bei Bolingbroke angeklungen, ein Bündel aus Gesetzen, Konventionen, Privilegien und anerkannten historischen Rechtsauslegungen, das aber dennoch jederzeit, ohne Vorankündigung oder besondere Hürden durch einen einfachen Mehrheitsbeschluss des britischen Parlaments verändert oder gar abgeschafft werden kann. Edmund Burke steht stellvertretend für eine politische Richtung des englischen Verständnisses von Verfassung. Eine erheblich radikalere Auffassung vertrat der zumal in den amerikanischen Kolonien und nachmaligen Staaten um 1776 so überaus einflussreiche James Burgh. Er unterschied in seiner Kritik der gegenwärtigen Situation Großbritanniens zwischen Form und Inhalt der Verfassung. „Die Wahrheit ist, dass weder Ausländer noch Engländer viel jenseits der Theorie unserer Verfassung beachten.“ Sie bewunderten lediglich, was sie sein sollte, statt ihre, wie er fand, weit weniger glanzvolle Realität zur Kenntnis zu nehmen,21 eine Problematik, der oben das Kap. II. 2. gewidmet ist. Für Burgh war die britische Verfassung mehr als nur „König, Lords und Unterhaus“. Vielmehr hatte Verfassung etwas mit dem Willen des Volkes und der Wahrung seiner Rechte und Freiheiten zu tun. Fehle diese, so sein als höchst modern zu bezeichnendes Verständnis, sei eine Verfassung nichts anderes als „ein feierliches Gespött“.22 Tatsächlich hatte Großbritannien, so Burghs Überzeugung, „Eingriffe in die Verfassung“ erlebt, weshalb es gelte, ihren eigentlichen Charakter wiederherzustellen.23 Burgh, dessen Political Disquisitions nahezu biblischen Rang unter den aufständischen Amerikanern genossen,24 hatte diesen die entscheidenden Stichworte 20 Montesquieu, De L’Esprit des lois, XI, 5, ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 51, II, 396. 21 [James Burgh,] Political Disquisitions: or, An Enquiry into public Errors, Defects, and Abuses. Illustrated by, and established upon Facts and Remarks extracted from a Variety of Authors, ancient and modern. Calculated To draw the timely Attention of Government and People to a due Consideration of the Necessity, and the Means, of Reforming those Errors, Defects, and Abuses; of Restoring the Constitution, and Saving the State, 3 Bde., London: Dilly, 1774 – 75, I, 107, vgl. I, 26, III, 319. Georg Forster war einige Jahre später einer der wenigen, der diese Unterscheidung, ob in Kenntnis Burghs sei dahingestellt, wiederholte, vgl. Horst Dippel, „Georg Forster und England: Weltläufigkeit und Tradition im Denken des Forschers und Revolutionärs“, in: Georg-Forster-Studien I (1997), bes. 110 – 114. 22 [Burgh,] Political Disquisitions, III, 272, vgl. I, 23. 23 Ebd., I, 134, der als grundlegender Gedanke das gesamte Werk durchzieht. 24 Vgl. dazu Caroline Robbins, The Eighteenth-Century Commonwealthman. Studies in the Transmission, Development and Circumstance of English Liberal Thought from the Restoration of Charles II until the War with the Thirteen Colonies (1959), Ndr. New York: Atheneum, 1968, 365; Oscar und Mary Handlin, „James Burgh and American Revolutionary Theory“, in: Proceedings of the Massachusetts Historical Society, 73 (1961), 38 – 57; Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1967, 41;

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geliefert: Verfassung war kraft Recht durch das Volk veränderbar, und sie bestimmte nicht nur Verteilung und Organisation der Macht im Staat, sondern sie garantierte auch dem Bürger den Schutz seiner Rechte und Freiheiten, worüber dieser dank seiner Mitwirkung bei der Gesetzgebung wachte. Diese Argumente trafen in den Kolonien auf eine seit 1763 mit wachsender Intensität geführte Verfassungsdiskussion, die neben aktuellen politischen Anlässen auf dem Fundament des englischen Common Law und der englischen Entwicklung nicht nur des 17. Jahrhunderts begründet war, wie im Kap. III. 1. dargelegt wurde. Mehr als jeder andere war Burgh damit zum konkreten Inspirator der ersten, nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung seines Aufsehen erregenden Werkes erschienenen amerikanischen Verfassungen geworden, wohingegen sich der nachhaltige Einfluss des deutlich konservativeren William Blackstone, wie im Kap. III. 2. gezeigt wurde, in den achtziger Jahren und zumal bei den Diskussionen um die Bundesverfassung stärker auf spezifische Inhalte dieser Verfassung und damit die inhaltliche Ausgestaltung des modernen Konstitutionalismus bezog. In den revolutionäreren siebziger Jahren galt Blackstone hingegen als Verfechter jener britischen Parlamentssouveränität, der sich die Amerikaner mit ihren Rechten und Freiheiten schutzlos ausgeliefert sahen. Schließlich hatte es in seiner autoritativen Auslegung englischen Rechts gehießen: „[W]enn das Parlament definitiv eine Maßnahme beschließt, die ungerechtfertigt ist, kenne ich keine Gewalt, die es daran hindern kann.“25 Diese Allmacht des englischen Parlaments, das ihnen alle Gesetze auferlegen konnte, die ihm in den Sinn kamen, ganz gleichgültig, ob diese gegen bestehendes Recht verstießen oder nach amerikanischer Auffassung „verfassungswidrig“ waren, führte letztlich 1776 zum Bruch mit der englischen Verfassung und einem radikal neuen Verfassungsverständnis, das nicht länger wie in England seine Legitimation aus der langen Tradition des organisch Gewachsenen schöpfte, sondern aus dem Naturrecht und dem Recht der Revolution – und darin lag der moderne Bruch mit der Glorreichen Revolution –, Neues zu schaffen. Zwei der bekanntesten frühen amerikanischen Definitionen von Verfassung lassen diese Zusammenhänge erkennen. So hatten die Einwohner von Pittsfield im westlichen Massachusetts am 29. Mai 1776 beschlossen, „[D]ass der erste Schritt, den das Volk in einer derartigen Situation [d. h. nach dem Zusammenbruch der englischen Kolonialverwaltung] zum Genuss oder der Wiederherstellung der bürgerlichen Regierung unter ihnen unternehmen muss, ist die Bildung einer grundlegenden Verfassung als eine Basis oder Fundament der Gesetzgebung.“26

Isaac Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. Political Ideology in Late Eighteenth-Century England and America, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1990, 201, u. a. 25 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 66. 26 „Pittsfield Petitions, May 29, 1776“, in: The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 1966, 90.

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Fünf Monate später, am 22. Oktober, stellte die Stadtversammlung von Concord im östlichen Massachusetts fest, „dass eine Verfassung in ihrem eigentlichen Sinn ein System von Prinzipien sein soll, um den Untertan im Besitz und Genuss seiner Rechte und Privilegien gegen jeden Eingriff der Regierungsseite zu schützen.“27 Im deutlichen Gegensatz zu Bolingbroke und Blackstone, doch ähnlich Burgh und vor ihm Vattel, der Verfassung als die Errichtung einer Ordnung definiert hatte, auf deren Basis eine Nation bereit sei zusammenzuarbeiten,28 herrschte, über Pittsfield hinausgehend, in Amerika die Meinung vor, dass eine Verfassung Voraussetzung einer politischen Ordnung sei und nicht durch diese nachträglich erst geschaffen werde.29 Thomas Paine sollte fünfzehn Jahre später dieser Überzeugung ihren seither klassischen Ausdruck geben: „Eine Verfassung ist eine Sache, die einer Regierung vorausgeht, und eine Regierung ist lediglich das Geschöpf einer Verfassung. Die Verfassung eines Landes ist nicht der Akt seiner Regierung, sondern des Volkes, das eine Regierung konstituiert.“30 Das bedeutete für ihn: „Regierung ohne Verfassung ist Macht ohne Recht.“31 Dieser Gedanke, dass erst eine Verfassung politischer Herrschaft die erforderliche Legitimation verleihen konnte, war wohl die revolutionärste Neuerung, die den modernen Verfassungsbegriff prinzipiell von seinen traditionellen Konnotationen unterschied, was den Aufständischen in Massachusetts durchaus bewusst war, als sie, bevor noch die erste moderne Verfassung ins Leben getreten war, beschlossen: „Dass die Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu dieser fundamentalen Verfassung absolut notwendig ist, um ihr Leben und Wirklichkeit zu geben. Dass dann und erst dann die Grundlage für Gesetzgebung gelegt ist“.32 Die Legitimation von Herrschaft durch das Volk mittels einer Verfassung bedingte notwendigerweise Instrumentarien zur dauerhaften Sicherung von Rechten und Freiheiten, um die Pervertierung der Verfassung und den von Burgh beschriebenen und aus amerikanischer Sicht nur zu leicht nachvollziehbaren Zustand der gegen-

27

Ebd., 153. Emer de Vattel, Le Droit des gens ou principes de la loi naturelle, I, 3 § 27, Leyden: Au Depens de la Compagnie, 1758, I, 15. 29 Wie J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law. A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century, Cambridge: Cambridge University Press, 1957, 229 – 251 u. ö., nachgewiesen hat, wurde seit dem 17. Jahrhundert als Grundlage englischer Freiheit die seit „undenklichen“ Zeiten bestehende Verfassung verstanden. Indem Locke sich bemühte, diese Verfassung rational zu begreifen, öffnete er die Tür für das Naturrecht, das Freiheit abstrakt begründete. Daraus folgte im modernen Verfassungsverständnis, wie es sich in Amerika entwickelte, dass universelle Grundsätze und Naturrechtstheorien und nicht länger Langlebigkeit Verfassung legitimierten. 30 Thomas Paine, Rights of Man (Tl. 1), hrg. v. Henry Collins, Harmondsworth: Penguin, 1969, 93. 31 Ebd. (Tl. 2), 207. 32 Handlin, Hrg., Popular Sources of Political Authority, 90. 28

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wärtigen britischen Verfassung zu verhindern. Die Antwort auf dieses Problem ist in den Beschlüssen der Stadtversammlung von Boston vom 30. Mai 1776 nachzulesen: „Es ist wesentlich für die Freiheit, dass die legislative judikative und exekutive Gewalt so weit wie möglich unabhängig und getrennt voneinander sind; denn wenn sie in den gleichen Personen vereint sind, fehlt jene natürliche Kontrolle, die die Hauptsicherheit gegen das Erlassen von Willkürgesetzen und eine rücksichtslose Gewaltanwendung bei ihrer Durchsetzung ist“.33

Wenige Wochen vor seiner ersten offiziellen Verkündigung in der Verfassung von Virginia taucht damit das Montesquieusche Prinzip der Gewaltentrennung in seinen Grundgedanken auf.34 Die Basis für die Entstehung des modernen Konstitutionalismus war gelegt. Bezeichnenderweise markierte genau dieser Gedanke einen der grundlegenden Unterschiede zum französischen Verfassungsdenken ungeachtet dessen ähnlich vorgetragener Begründung des Prinzips der Gewaltentrennung. Aus amerikanischer Sicht waren getreu dem Common law Recht und Freiheit nicht länger gesichert, wenn „dieselbe Partei Gesetzgeber, Ankläger, Richter und Vollstrecker ist“, wenn also alle drei Staatsgewalten sich in einer Hand befanden.35 Daher sei es unerlässlich, eine Verfassung zu gestalten, „unter Berücksichtigung der Unvollkommenheit der menschlichen Natur und der unvorhersehbaren Fährnisse menschlichen Lebens“, die folglich „alle Einschränkungen und Begrenzungen der Regierung klar bestimmt, um keine Ausflüchte zuzulassen“.36 Dieses Eingeständnis menschlicher Schwächen und Irrungen, die bereits bei Burgh angeklungen waren, fand im französischen Verfassungsdenken keinen Niederschlag, so dass Turgot 1778 in seiner folgenreichen Antwort an Richard Price den amerikanischen Verfassungen genau jenes institutionalisierte Misstrauen gegenüber dem Staat vorhielt, das aus seiner Sicht letztlich zu nichts anderem als Anarchie führen müsse.37 Der Sieg der abstrakten Theorie über die praktische Psychologie und damit das Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und Verfassung, dem das nachfolgende Kap. V. 2. gewidmet ist, ist eine der bemerkenswertesten Abweichungen des französischen vom voraufgegangenen amerikanischen Verfassungsdenken, der auch in den Vorstellungen über die Menschenrechte seinen Ausdruck finden sollte. Schon in der Petition von Pittsfield war von „den unveräußerlichen Rechten des 33

Ebd., 95. Montesquieu, De L’Esprit des lois, XI, 6, ders., Œuvres complètes, hrg. v. Caillois, II, 397. Bzgl. Montesquieus Einfluss in Amerika immer noch hilfreich Paul M. Spurlin, Montesquieu in America, 1760 – 1801, Baton Rouge, La.: Louisiana State University Press, 1940; ferner Anne M. Cohler, Montesquieu’s Comparative Politics and the Spirit of American Constitutionalism, Lawrence, Ks.: University Press of Kansas, 1988. 35 Handlin, Hrg., Popular Sources of Political Authority, 337. 36 Ebd., 237, 295; vgl. auch 309, 338. 37 Anne-Robert-Jacques Turgot, „Lettre au docteur Price“, in: Gustave Schelle, Hrg., Œuvres de Turgot, 5 Bde., Paris: Alcan, 1913 – 1923, V, 532 – 540. 34

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Volkes“ gesprochen worden,38 die dann wenige Wochen später in der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 ihre erste moderne Konstitutionalisierung erfuhren. Noch bemerkenswerter ist jedoch in diesem Zusammenhang die Begründung der Menschenrechtserklärung, die das bekannte Essex Result im April 1778 lieferte: „Die höchste Gewalt ist aus der Macht aller Individuen, zusammengenommen und freiwillig von ihnen abgetreten, gebildet. In diesem Fall trennt sich kein Individuum von seinen unveräußerlichen Rechten, die die höchste Gewalt daher nicht kontrollieren kann. Jeder Einzelne gibt jedoch die Macht, seine veräußerlichen natürlichen Rechte zu kontrollieren, nur dann ab, wenn es das Allgemeinwohl erfordert. Die höchste Gewalt kann daher allein das tun, was dem Allgemeinwohl dient; und wenn sie über diese Linie hinausgeht, ist es widerrechtliche Gewalt.“39

Daraus folgte, „[d]ass die höchste Gewalt begrenzt ist und die unveräußerlichen Rechte der Menschheit nicht kontrollieren kann […]. Dass diese unveräußerlichen Rechte […] klar definiert und gesichert sind in einer Bill of Rights, vor der Ratifizierung jeder Verfassung“.40 Nach amerikanischem Verständnis definierten Rechteerklärungen individuelle Rechte – auch wenn ihre strikt individualistische Ausdeutung sich erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts durchsetzen sollte41 –, um diese vor den Übergriffen des Staates zu schützen. Die nachfolgenden französischen Erklärungen von 1789, 1793 und 1795 hingegen verbanden diese Menschenrechte stets mit den allgemeinen Interessen der Gesellschaft. Gemäß amerikanischer Überzeugung legitimiert sich individuelles Interesse allein aus dem Recht und weist damit notfalls den Staat in seine Schranken,42 während nach herrschender französischer Auffassung zwischen dem Einzelnen und dem Recht vermittelnd die Gesellschaft steht,43 eine dem 38

Handlin, Hrg., Popular Sources of Political Authority, 91 – 92. Ebd., 330 – 331. 40 Ebd., 332, 339. 41 Vgl. dazu unten Kap. V. 8. 42 Vgl. dazu die deutlich durch die amerikanische Sicht der Jahrhundertwende eingefärbte Feststellung von Thorpe: „Der Staat wurde begriffen als bestehend für das Wohl des Individuums; alle seine Aufgaben waren, seine Interessen zu schützen und sein Glück zu befördern. Nicht eine dieser [frühen Staats-] Verfassungen deutete an, dass der Staat Rechte, unabhängig von jenen des Einzelnen, besaß. Den Verfassungen fehlte völlig jener sozialistische Charakter, der allen nach 1850 gemachten eigen ist“ (Francis Newton Thorpe, The Constitutional History of the United States, 3 Bde., Chicago: Callaghan, 1901, I, 170). 43 Vgl. Franck Moderne, „Les Protections et les garanties constitutionnelles des droits et des libertés en France“, in: Louis Favoreu, Hrg., Droit constitutionnel et droits de l’homme. Rapports français au IIe Congrès Mondial de l’Association Internationale de Droit constitutionnel, Paris – Aix-en-Provence, 31 août-5 septembre 1987, Paris: Économica, 1987, bes. 100 – 106; Marcel Morabito u. Daniel Bourmaud, Histoire constitutionnelle et politique de la France (1789 – 1958), Paris: Monchrestien, 41996, bes. 48 – 50. Vgl. auch Joseph Klaits u. Michael H. Haltzel, Hrg., LIBERTY/LIBERTÉ: The American and French Experiences, Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press, u. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1991; Rett R. Ludwikowski u. William F. Fox, Jr., The Beginning of the Constitutional Era. A 39

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amerikanischen Denken längst unbekannte Instanz.44 Es ist das Gesetz, ebenso Ausdruck der Vernunft wie des allgemeinen Willens, das das Recht definiert, und nicht wie in Amerika das Recht, das dem Gesetz Schranken auferlegt.45 Hier lagen ebenso die Grenzen von Montesquieus Einfluss auf das amerikanische Verfassungsverständnis wie die des Naturrechts auf das französische.46 Entsprechend hat das an Burgh anklingende amerikanische Streben nach einer Garantie individueller Rechte „gegen jeden Eingriff der Regierungsseite“47 in Frankreich keine Resonanz finden können. Selbst wenn die Verfassung dort der Regierung Schranken auferlegen mochte, änderte das nichts an der grundsätzlichen Omnipotenz der Nation, der sich im Konfliktfall auch die Verfassung zu beugen hatte.48 Einige Aspekte dieses französischen Verfassungsdenkens hatten sich bereits vor der Revolution herausgebildet.49 Ungeachtet dessen hieß es im Patriote françois im Sommer 1789, als in Frankreich die Diskussion um die zu entwerfende eigene Verfassung einsetzte: „Man ist sich über die Definition dieses Ausdrucks Verfassung nicht einig.“ Der Autor warf Jean-Joseph Mounier vor, dass seine bekannte Definition von Verfassung als „eine feststehende und eingebürgerte Ordnung in der Art zu regieren“ vage und seine Behauptung, dass eine derartige Ordnung nicht bestehen könne, „wenn sie nicht von grundlegenden Regeln unterstützt wird, die durch die

Bicentennial Comparative Analysis of the First Modern Constitutions, Washington, D.C.: Catholic University of America Press, 1993, bes. 83 – 96, 147 – 167. 44 Vgl. dazu ausführlich Kap. V. 8. 45 Vgl. Louis Henkin, „Revolutions and Constitutions“, in: Louisiana Law Review, 49 (1989), 1023 – 1056. 46 Im Anschluss an J. G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1975, entwickelte sich insbesondere unter amerikanischen Historikern eine ausgedehnte Diskussion über „vivere civile“, „Bürgerhumanismus“, „Tugend“, und die „klassische republikanische Tradition“. Nach meiner Überzeugung ist Pococks These von der amerikanischen Revolution als dem letzten Akt einer von dem Florenz der Renaissance datierenden Entwicklungslinie völlig verfehlt – eher ließen sich Frankreich und bestimmte Aspekte der Französischen Revolution bis hin zu Robespierre in diesem Zusammenhang interpretieren. Individualismus, interessenorientierte Politik, und die Forderung nach einer Regierung, die die individuellen Interessen berücksichtigte, waren keine Erfindung von Madisons Federalist N8 10, sondern Teil der kolonialen Lebenserfahrung am Vorabend der Revolution. Vgl. einige Beiträge zu dieser historischen Kontroverse, darunter Ralph Lerner, The Thinking Revolutionary. Principle and Practice in the New Republic, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1987; Michael Lienesch, New Order of the Ages: Time, the Constitution, and the Making of Modern American Political Thought, Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1988; Thomas L. Pangle, The Spirit of Modern Republicanism: The Moral Vision of the American Founders and the Philosophy of Locke, Chicago: University of Chicago Press, 1988; Kramnick, Republicanism and Bourgeois Radicalism. 47 Handlin, Hrg., Popular Sources of Political Authority, 153. 48 Vgl. dazu hier Kap. V. 2. 49 Vgl. dazu hier Kap. IV. 1.

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freie und formelle Zustimmung einer Nation oder jenen, die sie gewählt hat, sie zu vertreten, geschaffen wurden“,50 falsch sei. Denn, so stellte er fest: „Man schafft keineswegs die Rechte, auf denen jede freie Verfassung ruhen muss, man kann sie nur ausdrücken, nur deklarieren & danach muss eine Verfassung, um gültig und legal zu sein, durch die Nation selbst angenommen werden. Allein die Zustimmung ihrer Repräsentanten reicht nicht, um sie für rechtsgültig zu erklären.“51

Im Gegenzug vermisste er in der Definition „die Trennung, die Teilung der konstituierten Gewalten, die von der konstituierenden Gewalt frei eingeführt wurde“.52 Hatte Mounier Regierung als Wesensmerkmal von Verfassung hervorgehoben, so legte sein Gegenspieler Wert auf die Betonung des naturrechtlich begründeten Rechts, verbunden mit dem politischen Grundsatz der Gewaltentrennung. Es war jene letztere Auffassung, die im Artikel 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 ihren Ausdruck fand: „Jede Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“53

50

Mouniers Definition vom 9. Juli 1789 (Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 214) wird immer wieder zitiert, ausführlich etwa von Jean Morange, La Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (26 août 1789), Paris: Presses Universitaires de France, 21989, 13. Vgl. zu Mounier und der ganzen Debatte um den Verfassungsbegriff in der konstituierenden Nationalversammlung Pierre Duclos, La Notion de Constitution dans l’Œuvre de l’Assemblée Constituante de 1789, Paris: Dalloz, 1932; Denis Richet, „L’esprit de la constitution, 1789 – 1791“, in: The Political Culture of the French Revolution, hrg. v. Colin Lucas (The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, II), Oxford: Pergamon Press, 1988, 63 – 68. 51 Am 21. 9. 1792 erklärte der Konvent einstimmig auf Antrag Dantons: „Der Nationalkonvent erklärt, dass es nur eine Verfassung geben kann, die vom Volk angenommen ist“ (Faustin-Adolphe Hélie, Hrsg., Les Constitutions de la France. Ouvrage contenant outre les constitutions, les principales lois relatives au culte, à la magistrature, aux élections, à la liberté de la presse, de réunion et d’association, à l’organisation des départements et des communes. Avec un commentaire, Paris: A. Marescq ainé, 1880, 341). Vgl. auch Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1909, 334. In Frankreich wurde erstmals am 4. August 1793 eine Verfassung dem Volk zur Billigung vorgelegt – und angenommen, dann aber nie eingeführt. Dass in der ersten Abstimmung über eine Verfassung überhaupt fünfzehn Jahre zuvor das Volk von Massachusetts im März – Juni 1778 die Verfassung verwarf, klingt in diesem Kontext schon fast wie eine Ironie. 52 „Aux Auteurs du Patriote François“, in: Le Patriote françois (n8 5, 1. August 1789), [I,] 3. 53 Vgl. dazu Michel Troper, „L’Interprétation de la déclaration des droits: L’exemple de l’article 16“, in: Droits. Revue française de théorie juridique, 8 (1988), 111 – 122; Pierre Albertini, „Article 16“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaires, hrg. v. Gérard Conac, Marc Debene u. Gérard Teboul, Paris: Économica, 1993, 331 – 342; auch Bartolomé Clavero Salvador, „Garantie des Droits: emplazamiento histórico del enunciado constitucional“, in: Enunciazione e giustiziabilità dei diritti fondamentali nelle carte costituzionali europee. Profili storici e comparatistici. Atti di un convegno in onore di Francisco Tomàs y Valiente (Messina, 15 – 16 Marzo 1993), hrg. v. Andrea Romano, Mailand: Giuffrè, 1994, 19 – 39.

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Der Artikel 16 ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil er den Ausdruck Verfassung mit drei weiteren Begriffen in eine konstitutive Verbindung bringt, die für das Verfassungsverständnis im Frankreich der Revolution im Unterschied zu den zeitgenössischen Auffassungen in Großbritannien und in Amerika von elementarer Bedeutung sind: Gesellschaft, Garantie der Rechte und Gewaltentrennung. Dass eine Verfassung nicht eine Nation begründe, sondern das Werk ihrer Gesellschaft sei, hatte bereits Sieyès in seiner Definition von Verfassung festgestellt,54 schien dies doch, historisch betrachtet, aus französischer Sicht im Gegensatz zur amerikanischen Perspektive offensichtlich. Aus dem Vorrang der Nation gegenüber der Verfassung ergab sich jedoch ein sozialer Bezugsrahmen politischer Rechte – Sieyès sprach von ihrer „sozialen Erschaffung“55 –, der den naturrechtlich begründeten Menschenrechten in den französischen Erklärungen eine ganz andere Wendung gab, als in den amerikanischen mit ihren individuellen Bezügen anzutreffen war. Wenn Sieyès dabei an der gleichen Stelle betonte: „Das ist die wahre Bedeutung des Wortes Verfassung: Es bezieht sich auf das Ganze und auf die Trennung der öffentlichen Gewalten,“56 setzte er neben die soziale zusätzlich noch die politische Kategorie, wohingegen die jurisdictio angesichts der rechtlich nicht konkretisierten naturrechtlichen Prinzipien gegenüber beiden in den Hintergrund trat, wie überhaupt die französischen Menschenrechtserklärungen sehr viel stärkeres Gewicht auf die Feststellung politischsozialer Grundsätze als auf die Aufstellung einklagbarer Rechtspositionen legen.57 Nicht nur der Inhalt und das Verständnis der Menschenrechtserklärungen in Frankreich unterschieden sich substantiell vom amerikanischen Beispiel, sondern auch die übrigen Teile der Verfassung. Es bieten sich erneut Mounier und Sieyès zur Verdeutlichung der zentralen Divergenzen an.58 Ganz in der Manier des traditionellen gubernaculum hatte Mounier festgestellt: „Also ist eine Verfassung eine präzise und konstante Form der Regierung oder, wenn man so will, der Ausdruck der Rechte und Verpflichtungen der verschiedenen Gewalten, die sie bilden.“59 Die Verfassung als Regelwerk zur rationalen Organisation von Regierung und ihres Ablaufs war sicherlich nicht das, was der revolutionären Stimmung des Sommers 1789 und der

54 Emmanuel-Joseph Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme et du citoyen lu les 20 et 21 juillet au comité de la Constitution“, in: Antoine de Baecque, Wolfgang Schmale u. Michel Vovelle, Hrg., L’An 1 des droits de l’homme, Paris: Presses du CNRS, 1988, 75. 55 Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 75. 56 Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259. 57 So bereits Raymond Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat, spécialement d’après les données fournies par le Droit constitutionnel français, 2 Bde., Paris: Recueil Sirey, 1920 – 1922, I, 236, II, 581. 58 Zu der Debatte vgl. auch Keith Michael Baker, Inventing the French Revolution. Essays on French Political Culture in the Eighteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, 258 – 264; generell zum Gegensatz zwischen Mounier und Sieyès in der Verfassungsdiskussion dieser Wochen, Paul Bastid, Sieyès et sa pensée, Paris: Hachette, 1939, 75 – 78. 59 Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 214.

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folgenden Jahre entsprach. Das Volk erwartete mehr, und der abbé Sieyès machte sich zum Anwalt seiner verfassungsgebenden Gewalt: „Die konstituierende Gewalt kann alles auf diesem Gebiet. Sie ist keineswegs im Voraus einer gegebenen Verfassung unterworfen. Die Nation, die folglich die größte, die bedeutendste seiner Gewalten ausübt, muss in dieser Funktion frei von jeder Beschränkung und jeder Form sein außer jener, die ihr beliebt anzunehmen.“60

Es war genau dieses – von Sieyès schon bald wieder aufgegebene61 – Postulat der ungehinderten Mehrheitsherrschaft, die den amerikanischen Verfassungsvätern so viel Furcht eingeflößt und sie zum Einbau zahlreicher Kautelen veranlasst hatte. John Adams sollte später den Franzosen Naivität vorhalten, da sie diese angesichts der menschlichen Natur unerlässlichen Sicherungsmaßnahmen weder gesehen, gehört, gefühlt noch verstanden hätten.62 Tatsächlich hatte Adams nicht erkannt, dass am Beginn des französischen Konstitutionalisierungsprozesses die zentrale Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Volkssouveränität völlig konträr zu den in Amerika dominierenden Anschauungen beantwortet worden war,63 zumal nach jener folgenreichen amerikanischen Wende der 1780er Jahre weg von einer Beschränkung der Exekutive hin zu einer Beschränkung der Legislative, die für Frankreich überhaupt nicht nachvollziehbar war. Wenn Carré de Malberg aus der Perspektive der III. Republik feststellte, dass das Fehlen von Verfassungsinstrumentarien zur Begrenzung der ungehinderten Mehrheitsherrschaft des souveränen Volkes nicht auf einem Vergessen beruhe, im Gegenteil „es zwangsweise die Konsequenz ist und einen integralen Bestandteil der Verfassungsordnung von 1875 bildet, gemäß der die Entscheidungen der Kammern der Ausdruck des höchsten Willens im Staat sind,“64 ist damit das entscheidende Grundprinzip des französischen Verfassungsverständnisses benannt, das seit 1789 die demokratischen Verfassungen des Landes in unterschiedlichen Varianten bis zur Gegenwart charakterisiert.65 Als de Gaulle am 4. September 1958 auf der Place de la République – bereits Zeitpunkt und Ort waren in hohem Maße symbolträchtig – die zukünftige Verfassung der V. Republik mit einer Rede über die republikanische Tradition des Landes vorstellte, setzte 60 Sieyès, „Reconnaissance et exposition raisonnée des droits de l’homme“, 259. Zum Verfassungsdenken von Sieyès generell, vgl. Paul Bastid, L’Idée de constitution, Paris: Économica, 1985, 135 – 143. 61 So die sehr anregende Interpretation von Pasquale Pasquino, Sieyes et l’invention de la constitution en France, Paris: Éditions Odile Jacob, 1998, bes. 31 – 52. 62 John Adams, Discourses on Davila, in: Charles Francis Adams, Hrg., The Works of John Adams, 10 Bde., Boston: Little and Brown, 1850 – 56, VI, 276 (Anmerkung von 1813). Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Jeffersonian republicans mit der Interpretation der Verfassung durch Adams vielfach nicht übereinstimmten, vgl. dazu Richard Buel jr., Securing the Revolution. Ideology in American Politics, 1789 – 1815, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1972, 230 – 231. 63 Vgl. dazu ausführlich Kap. V. 2. 64 Carré de Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat, I, 227. 65 Vgl. etwa Jacques Julliard, La Faute à Rousseau. Essai sur les conséquences historiques de l’idée de souveraineté populaire, Paris: Éditions du Seuil, 1985.

1. Der Begriff der Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert

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er Republik mit „der Souveränität des Volkes, dem Ruf der Freiheit, der Hoffnung der Gerechtigkeit“ gleich.66 Es war derselbe de Gaulle, der sich 1962 kurzerhand – und verfassungswidrig – über die Bestimmungen des Art. 89 der Verfassung der V. Republik hinwegsetzte und sich zwecks Einführung der Volkswahl des Staatspräsidenten direkt an das Volk wandte, wodurch dieses Kraft seiner Souveränität die einschlägige Bestimmung der Verfassung für diesen Fall praktisch außer Kraft setzte. Dieser Gedanke der Volkssouveränität als oberstes Prinzip, dem im Konfliktfall selbst die Verfassung zu weichen habe, widerspricht diametral der amerikanischen Auffassung von der Verfassung als letztgültigem Maßstab von Recht, dem „höchsten Gesetz des Landes“, d. h. jurisdictio statt gubernaculum, während in der englischen Verfassung der Sitz der Souveränität ins Parlament verlagert worden war, das zugleich der Ursprung exekutiver wie judikativer Gewalt war.67 Vergleicht man die Verfassungsdiskurse in den drei für die Entstehung des modernen Konstitutionalismus zentralen Ländern, so werden nicht nur bei allen wechselseitigen Beeinflussungen drei unterschiedliche Diskursverläufe sichtbar, sondern es kristallisieren sich auch drei durchaus unterschiedliche materielle Inhalte von dem heraus, was letztlich unter Verfassung im Sinne des modernen Konstitutionalismus zu verstehen ist, welche Wesensmerkmale für sie konstitutiv sind und in welchem Verhältnis diese zum Individuum, zur Gesellschaft und zur Nation stehen. War sie in England die Grundlage der Rechte und Freiheiten des Bürgers, wurde sie in Amerika und Frankreich zur Legitimation jedweder politischer Herrschaft, jener Umkehr des Prinzips, von der dann Ranke gesprochen hat.68 Doch während in Amerika die Sphären von Bürger und Staat deutlich voneinander getrennt blieben und die Verfassung ihre Rechte und Funktionen gegenüber den Gesetzen einander garantierte, stellte Verfassung in Frankreich eine Art Medium der Gesellschaft dar, das durch Gesetze genauer zu definieren war, deren sich diese auch jederzeit wieder entledigen konnte, um sie durch eine andere Verfassung zu ersetzen. Es ist in diesem Zusammenhang höchst aussagekräftig nicht nur für das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und normalem Recht, dass, wenn man in beiden Ländern den Begriff adjektivisch erweiterte, man im Amerika jener Zeit häufig von der „grundlegenden Verfassung“ sprach, während man in Frankreich gerne den Aus66 Abgedruckt in: Eric Cahm (Hrg.), Politics and Society in Contemporary France (1789 – 1971). A Documentary History, London: Harrap, 1972, 179. Die Rede findet sich auch in der Digithèque MJP unter: https://mjp.univ-perp.fr/textes/degaulle04091958.htm (aufgerufen am 18. 5. 2020). Am 4. September 1870 hatte Léon Gambetta in Paris die Republik ausgerufen, womit dieses Datum als symbolisches, nicht jedoch historisches Gründungsdatum der III. Republik angesehen werden konnte. 67 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Thomas Fleiner, „Verfassungsbegriff, Verfassungsziele und Verfassungscharakteristika in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in der Europäischen Union“, in: Müller-Graff u. Riedel (Hrg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, bes. 18 – 25. 68 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte [1854], hrg. v. Theodor Schieder u. Helmut Berding, in: Ranke, Aus Werk und Nachlaß, hrg. v. Walther Peter Fuchs u. Theodor Schieder, II, München: Oldenbourg, 1971, 417.

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druck „freie Verfassung“ benutzte. In Amerika wurde also Verfassung verstanden als die Grundlegung jeder politischen wie rechtlichen Ordnung, die diese, indem sie sie definierte, begrenzte und damit jenseits staatlicher Gewalt den unverzichtbaren Freiraum für den Bürger garantierte. In Frankreich hingegen war Verfassung Ausdruck einer freiheitlichen Rechts- und Staatsordnung, die die Aufgaben des Staates beschrieb und den Bürger in die Nation als übergeordneten Legitimationsrahmen einordnete. Damit sind die entscheidenden Unterschiede im Grundverständnis von Verfassung zum Beginn des modernen Konstitutionalismus zwischen seiner amerikanischen und seiner französischen Ausprägung benannt, die in ihrem Kern bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren haben. Erst die Analyse dieser Verfassungen und der um sie im ausgehenden 18. Jahrhundert geführten Diskurse offenbart die Bandbreite des modernen Konstitutionalismus und schafft damit die Voraussetzungen für das Verständnis der Unterschiede zwischen den beiden Hauptvarianten des modernen Konstitutionalismus, wie sie sich bereits in dieser Inkubationsphase herausbildeten. Sie betrafen ebenso die Gewichtung von Grundprinzipien wie die normative Ausgestaltung materiellen Verfassungsrechts, und sie fanden ihren Niederschlag sowohl in der unterschiedlichen Konstitutionalisierung von Volkssouveränität und Widerstandsrecht als auch im Rang der Verfassung in der Ausformung der Gewaltentrennung, der Konstituierung und Funktion von Legislative, Exekutive und Judikative, der Beziehung zwischen Legislative, Gesetz und Verfassung, der Möglichkeit der Veränderung oder Ergänzung der Verfassung und weiteren Fragen. Trotz aller Differenzen im Detail war ihnen jedoch aufgrund des Bekenntnisses zur konstituierenden Gewalt des Volkes der grundsätzliche Unterschied zum vorkonstitutionellen Verfassungsverständnis gemeinsam, dessen Nachwirkungen in Europa noch das ganze 19. Jahrhundert über anzutreffen sind. Denn es war genau jene Trennungslinie, entlang der die Bruchstelle zwischen dem im modernen Konstitutionalismus einerseits, wie immer dieser dann in Amerika oder Europa ausgeformt sein mochte, und dem vormodernen Verfassungsverständnis andererseits verlief, ungeachtet seines zähen Nachlebens in Europa weit über 1789 hinaus und all jener Schein- und Pseudoformen des 19. Jahrhunderts, deren unterschiedlichste Ausprägungen, ob nun als Charte oder Verfassung in vielfältigsten Variationen die Distanz zum modernen Konstitutionalismus zum Ausdruck bringen, indem sie bei allen Kompromissen in sekundären Fragen das entscheidende Bekenntnis zur verfassungsgebenden Gewalt des Volkes verweigern. Was sich in Amerika in der Folge von 1776 mehr oder weniger problemlos durchsetze, erforderte unter den gänzlich anderen Bedingungen in Europa, aber auch in Lateinamerika69 ungleich größere Anstrengungen und unvergleichlich langwierigere Auseinandersetzungen.

69

Vgl. dazu Teil VIII.

2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität

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2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität: England, Vereinigte Staaten, Frankreich70 Die Integrierung der Volkssouveränität in die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus gilt als eines der schwierigsten Probleme der Verfassungsgebung. Das trifft nicht zu, solange es um die grundlegende Frage der legitimatorischen Basis einer Verfassung geht. Im Kontext des modernen Konstitutionalismus gilt es längst als unstrittig, dass allein das Volk berechtigt ist, eine Verfassung zu erstellen und ihr die erforderliche Legitimation zu verleihen, selbst wenn in den Monarchien in der Europäischen Union das offizielle Bekenntnis dazu bislang nach wie vor, mit der einzigen Ausnahme Spanien, fehlt. Doch ganz anders sieht es aus, wenn wir nach der Volkssouveränität im Alltagsleben der Verfassung fragen. Hier konnte man nicht nur in der Vergangenheit vielfach die Antwort finden, dass mit einem völlig souveränen Volk die Demokratie frenetisch zu werden drohe, was bald zum Untergang eben dieser Demokratie führen müsse,71 was wiederum andere dazu bewogen hat, Volkssouveränität in der Verfassungsrealität als eine „Fiktion“ zu bezeichnen.72 Die Ergebnisse, zu denen beide Richtungen gelangen, sind im Grunde ähnlich, so dass die gestellte Frage bestehen bleibt: Wie lässt sich Volkssouveränität in die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus integrieren? Drei grundlegend unterschiedliche Antworten haben sich schließlich mit der Entstehung und frühen Entwicklung des modernen Konstitutionalismus herausgebildet und prägen seit über 200 Jahren bei gewissen Modifikationen das britische, amerikanische und französische Verfassungsdenken. Um diese Differenzen zu verstehen, ist es daher erforderlich, ihre historischen Ursprünge aufzudecken. Für Jean Bodin, den bedeutendsten frühmodernen Theoretiker der Souveränität, waren legitime Staatsmacht und Souveränität nahezu identisch. In einem englischen Zusammenhang wurde jedoch Thomas Hobbes schon bald einflussreicher. Nach seiner Überzeugung wurde die Übertragung der Souveränität auf das Gemeinwesen (Commonwealth) dann vollzogen, „wenn die Menschen untereinander übereinkamen, sich Einem oder einer Versammlung von Menschen freiwillig zu unterwerfen“, womit im Kern der Gesellschaftsvertrag begründet war.73 Während Bodin erklärt

70

Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Angleterre, Etats-Unis, France: Constitutionnalisme et souveraineté populaire“, in: L’An I et l’apprentissage de la démocratie, Actes du colloque organisée à Saint-Ouen les 21, 22, 23, 24 juin 1993, hrg. v. Roger Bourderon, SaintDenis: PSD, 1995, 537 – 559. 71 Vgl. die Artikel von Jean Leca, „Peuple“ und Pierre Bouretz, „Souveraineté“, in: Dictionnaire constitutionnel, hrg. v. Olivier Duhamel und Yves Mény, Paris 1992, 751 – 753, 989 – 993. 72 Vgl. Edmund S. Morgan, „Government by Fiction: The Idea of Representation“, in: Yale Review, 72 (1982/83), 321 – 339; ders., Inventing the People, New York 1988, bes. 235 – 287. 73 Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 18 (hrg. v. C. B. McPherson, Harmondsworth: Penguin, 1968, 228).

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hatte, dass Souveränität das Recht des Fürsten sei, erkannte Hobbes zumindest indirekt an, dass im Naturzustand die Souveränität den Menschen eigen war. Für Hobbes war das Problem der Souveränität erledigt, sobald der Gesellschaftsvertrag geschlossen war, da er sorgfältig jede Idee einer Delegation von Souveränität vermieden hatte. Wichtiger für die weitere Diskussion des Begriffs der Souveränität innerhalb der englischen Verfassung wurde daher James Harrington, der, ausgehend von Hobbes Leviathan, ein eigenes Konzept von Souveränität entwickelte. Laut Harrington war die Regierung der Sitz der souveränen Gewalt. Doch um sein Reich der Gesetze als Garant menschlicher Freiheit zu verwirklichen, mussten Gesetze erlassen werden „auctoritate patrum et jussu populi“, das heißt, sie mussten von einem Zweig der Regierung „vorgeschlagen“ werden und „durch die Macht des Volkes“ „beschlossen“ werden, also durch einen anderen Zweig der Regierung.74 Es war diese grundlegende Idee, die als Eckpunkt des modernen liberalen Verfassungsdenkens bezeichnet werden kann und die nicht nur den Kern der englischen Verfassung seit der Glorreichen Revolution beschreibt. Harringtons Konzept legt zwei der Grundprinzipien der englischen Verfassung offen, die in der Glorreichen Revolution von jenen als unerlässlich verstanden wurden, die von der Notwendigkeit der Zurückweisung der Politik Jakobs II. überzeugt waren, um die wahre Bedeutung der englischen Verfassung wiederherstellen zu können: das Prinzip, dass der Sitz der Souveränität die Regierung ist und allein durch das Zusammenwirken von König und Parlament ihren Ausdruck finden kann. Um den Unterschied und damit die Veränderung deutlich zu machen, den die Glorreiche Revolution für das Konzept der Souveränität bedeutet, mag es hilfreich sein, noch einmal einen Schritt zurückzugehen. Karl I. hatte in seiner berühmten Antwort auf die neunzehn Thesen (Answer to the Nineteen Propositions) 1642 bereitwillig das Prinzip anerkannt, dass „die Gesetze gemeinsam gemacht werden durch einen König, ein Oberhaus und ein Unterhaus, das vom Volk gewählt wird“. In einer Zeit, die von dem modernen, alles durchdringenden Gesetzesverständnis noch weit entfernt war, mag es vergleichsweise einfach sein, dem Parlament eine Mitwirkung bei dem Erlass von Gesetzen einzuräumen, solange die Verabschiedung von Gesetzen noch zu den eher marginalen Tätigkeiten des Parlaments zählte. Weit weniger kompromissbereit war der König hingegen in der zentralen Frage einer Mitwirkung an der Regierung des Reiches und damit an dem, was er als das wahre arcanum imperii ansah. Dieses, so war er überzeugt, war allein dem König übertragen, der das Land mit Hilfe seiner Räte regierte, während „das Eintreiben von Geld“ Aufgabe des Unterhauses war und „eine rechtsprechende Gewalt“ bei den Lords lag. Diese Teilung der Macht, wie man es mit allen Vorbehalten nennen könnte,

74 James Harrington, The Commonwealth of Oceana, in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 170, 174.

2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität

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war nach Überzeugung Karls I. „mehr als hinreichend, um die Macht der Tyrannei zu verhindern und zurückzuhalten“.75 Die königliche Erklärung provozierte verbreiteten Widerspruch, und einer, der am lautstärksten verfassungsmäßige Begrenzungen der Monarchie forderte, war Philip Hunton. Er mag durchaus einer der ersten gewesen sein, die eine klare Definition des Begriffs der begrenzten Monarchie lieferten. Laut Hunton war ein „begrenzter Monarch“ jemand, „der ein Gesetz jenseits seines eigenen Willens als Maßstab seiner Macht“ hat, und diese Grenzen waren im Grund durch eine „ursprüngliche Verfassung“ gesetzt. Seine entscheidende Feststellung, die noch anderthalb Jahrhunderte später bei der Entstehung des modernen Konstitutionalismus in Amerika das Verfassungsdenken prägte, war die Definition der „ursprünglichen Verfassung“ als „wenn eine menschliche Gemeinschaft einem Mann eine Macht durch begrenzten Vertrag überträgt und sich selbst durch dieses Gesetz seiner Regierung anvertraut und sich entsprechende Freiheiten vorbehält: in diesem Fall hatten sie, die zuvor Macht über sich selbst hatten, die Macht, ihre eigenen Bedingungen der Unterwerfung aufzustellen; und er, der keinen Machttitel über sie hat außer durch ihren Akt, kann de jure keinen größeren haben, als ihm durch diesen Akt übertragen wurde“.76

Während Karl I. ebenso wie Hobbes den Monarchen in Folge des einmal abgeschlossenen Gesellschaftsvertrags als mit originärer Macht im Staat ausgestattet verstanden, wohingegen das Parlament lediglich über eine strikt begrenzte delegierte Macht verfügte, lagen für Hunton und Harrington die originäre Macht im Volk und fand durch das Parlament ihren Ausdruck. Folglich war es für sie der Monarch, der lediglich delegierte Macht besaß, deren Grenzen in einer „ursprünglichen Verfassung“ definiert waren. Offiziell hieß es, dass diese „alte Verfassung“ mit ihrem Machtgleichgewicht zwischen König und Parlament durch die Glorreiche Revolution wiederhergestellt worden sei. Der Kompromiss zwischen Whigs und Tories in den Januartagen des Jahres 1689 über die Thronvakanz konnte jedoch den Schlag kaum verbergen, den die Macht des zukünftigen Monarchen erlitten hatte. Hatten noch die Royalisten weniger als zehn Jahre zuvor in der sogenannten Ausschlusskrise (Exclusion crisis) unter Mitwirkung des Königs jeden Eingriff in die Thronfolgeregelung mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass die englische Monarchie sich ausschließlich über die Erblichkeit der Thronfolge legitimiere, wirkten nun die meisten von ihnen nicht nur bei der Absetzung Jakobs II. mit – nur notdürftig mit der künstlichen Konstruktion seiner sogenannten Abdankung verdeckt –, sondern stimmten auch einem Vorgehen zu, das Lord Falkland angeregt hatte: „Bevor die Frage gestellt wird, wer auf den Thron

75 The Stuart Constitution 1603 – 1688. Documenty and Commentary, hrg. v. J. P. Kenyon, Cambridge: Cambridge University Press, 21986, 18 – 20. 76 Philip Hunton, A Treatise of Monarchy (1643), auszugsweise abgedruckt in: Divine Right and Democracy. An Anthology of Political Writing in Stuart England, hrg. v. David Wootton, London: Penguin, 1986, 183.

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gesetzt werden soll, würde ich darüber nachdenken wollen, welche Macht wir der Krone geben sollten.“77 Das Ergebnis dieses Vorschlags war bekanntlich die Rechteerklärung vom 13. Februar 1689, die festsetzte, dass in einigen Grundfragen der vorausgegangenen Auseinandersetzungen allein die Zustimmung des Parlaments „königliche Autorität“ legitimieren konnte. Entgegen den „alten Rechten und Freiheiten“ des Parlaments hatte der vormalige König mehrere „vorgetäuschte“ Befugnisse ergriffen, von denen einige „ohne Zustimmung des Parlaments“ rechtswidrig, andere von vorneherein rechtswidrig waren. Die Sprache der Erklärung war eindeutig. 1628 hatte das Parlament um Beachtung seiner Rechte und die Beseitigung von Gravamina untertänigst gebeten („[…] ersuchen sie demütigst […] Eure Majestät möge […] die Güte haben zu erklären, dass die Verleihungen, Handlungen und Verfahren zum Nachteil Eures Volkes in einem der Anwesen hiernach nicht als Konsequenz oder Beispiel herangezogen werden“).78 Angesichts des ähnlichen Sachverhalts ist der Unterschied der Wortwahl sechzig Jahre später umso auffallender: „[…] beanspruchen, fordern und bestehen sie darauf […], dass keine Erklärungen, Urteile, Handlungen oder Verfahren zum Nachteil des Volkes in einem der genannten Anwesen hiernach in irgendeiner Weise als Konsequenz oder Beispiel herangezogen werden sollten“.79 Die Feststellung parlamentarischer Rechte zulasten des Monarchen war eindeutig; mehr als eine Erklärung der Rechte war es eine Erklärung der Parlamentsrechte, die der Monarch anzuerkennen hatte. In diesen Unterschieden steckt größere Bedeutung als gemeinhin angenommen wird, und eine sorgfältige Lektüre der zeitgenössischen Interpretationen macht dies deutlich. Kaum dreißig Jahre war es her, dass Cromwells Republik gescheitert war, doch viele überzeugte Republikaner lebten noch und warteten nur auf den geeigneten Augenblick, sie wieder zum Leben zu erwecken. Jede Maßnahme zur Begründung der Revolution durch das Konventsparlament80 musste dieser Situation Rechnung tragen. Gilbert Burnet ist nur einer, der dieser Furcht vor einem wieder erstarkenden Republikanismus Ausdruck gab: „Es wurde eindringlich darauf hingewiesen, dass, falls unter welchem Vorwand immer die Nation sich mit ihrem König überwerfen würde, die Krone unsicher werden müsse und die Macht, über den König zu befinden, im Volk liegen müsse. Dies müsse in einer neuen Republik (Commonwealth) enden.“81 Burnet, wie alle Monarchisten, warnte eindringlich „lediglich einen nominellen König“ feierlich einzusetzen. Denn, „der, da er seine Macht vom Volk hat, wäre ihm für ihre Ausübung Rechenschaft schuldig und würde sie nach seinem 77

Aus Grey’s debates, abgedruckt bei David Lewis Jones, A Parliamentary History of the Glorious Revolution, London: Her Majesty’s Stationery Office, 1988, 126. 78 Stuart Constitution, hrg. v. Kenyon, 70 – 71. 79 Jones, Parliamentary History of the Glorious Revolution, 44. 80 Vgl. dazu oben Kap. IV. 2. 81 Gilbert Burnet, History of His Own Time, 3 Bde., London: Printed for the Company of Booksellers, 1725, III, 1363.

2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität

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Gutdünken verlieren“.82 Maßnahmen gegen einen König, der den Vertrag und seinen Krönungseid bricht, müssten strikt in der Weise ergriffen werden, wie sie in der Magna Charta niedergelegt seien, und dieses Verfahren „entblößte nicht die Monarchie, noch beschwor es eine volkstümliche Autorität herauf“.83 Das Konventsparlament entschied sich für diesen schmalen Pfad zwischen der Gefahr, in eine Republik mit schrankenloser Volkssouveränität abzurutschen, einerseits und einem Monarchen, dem strikt zu gehorchen war und der ohne Kontrolle durch die Gesetze blieb, andererseits. Die Konsequenz dieser Politik war fast zwangsläufig die Stärkung der Macht des Parlaments. Die Glorreiche Revolution mit der Rechteerklärung bereitete daher den Weg für das vor, was sich dann im 18. und 19. Jahrhundert als die Parlamentssouveränität herausbildete. Wilhelm III. bekam die Macht des Parlaments, in den 1690er Jahren in der Zeit der sogenannten Haushaltsrevolution (Financial revolution) seine Politik kontrollieren zu können, drastisch zu spüren. Seine Macht wurde noch deutlicher in dem Thronfolgegesetz (Act of Settlement) von 1701 eingeengt, dessen offizieller Titel bezeichnenderweise lautete „Ein Gesetz zur weiteren Begrenzung der Krone und zur besseren Sicherung der Rechte und Freiheiten der Untertanen“. Mit diesem Gesetz regelte das Parlament nicht nur die Thronfolge in einer Weise, die nicht einmal vorgab, das Recht der Erbfolge als letztlichen Legitimationsgrund zu berücksichtigen, es begrenzte zusätzlich den Monarchen bei der Auswahl seines Geheimrats (Privy council) und schloss Strohmänner von der Mitgliedschaft im Unterhaus aus, was die Einflussmöglichkeiten des Königs auf das Parlament entscheidend reduzierte. Auch Richter sollten dem königlichen Einfluss entzogen werden, da sie nunmehr auf Lebenszeit zu ernennen waren, wobei dem Parlament jedoch unter bestimmten Voraussetzungen das Recht eingeräumt wurde, sie notfalls aus dem Amt zu entfernen. Das Parlament hatte nicht nur die höchste Macht im Reich eingenommen, es hatte sich ebenfalls zum Garanten der Verfassung aufgeschwungen. „Bewahrer der Verfassung und der Freiheit des Parlaments“ galten nunmehr als zwei Seiten derselben Medaille, wie es das Gesetz zur parlamentarischen Qualifikation von 1710 formulierte.84 Das war weniger Ausdruck einer defensiven Haltung. Dass letztlich das Gegenteil der Fall war, wurde über alle Maßen deutlich mit dem Septenatsgesetz von 1716, das völlig unverfroren das Wohlergehen des Landes mit dem Wohlergehen des Parlaments und seiner Mitglieder gleichsetzte: „[…] während es sich aus Erfahrung erwiesen hat, dass besagte Bestimmung [gemeint ist das Dreijahresgesetz, das der König 1694 nur höchst widerwillig akzeptiert hatte] sich als sehr schmerzlich und lästig herausgestellt hat, da sie zu wesentlich größeren und anhaltenderen Kosten für die Wahlen zu Mitgliedern im Parlament und zu heftigeren und blei82

Ebd., 1364. Ebd., 1372. 84 Great Britain: The Lion at Home. A Documentary History of Domestic Policy 1689 – 1973, hrg. v. Joel H. Wiener, 4 Bde., New York: Chelsea House, 1983, I, 47. 83

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V. England – Nordamerika – Frankreich

benden Erhitzungen und Feindseligkeiten unter den Untertanen des Reichs geführt hat, als je bekannt waren, bevor besagte Bestimmung eingeführt wurde; und die besagten Bestimmungen, falls sie andauern sollten, wahrscheinschlich zu diesem Zeitpunkt, wenn eine rastlose und papistische Faktion eine neue Rebellion in diesem Königreich und eine Invasion vom Ausland planen und anstreben, für den Frieden und die Sicherheit der Regierung zerstörerisch sein mögen: wird verfügt […], dass dieses Parlament und alle Parlamente, die zu irgendeiner Zeit hiernach einberufen werden […] eine Dauer von sieben Jahren haben“.85

Ohne Zweifel hielt sich das Parlament für souverän, und weder der Monarch noch das Volk schien ihm besonderer Beachtung wert. Ein halbes Jahrhundert später präsentierte es davon ein weiteres Beispiel. In der Wahlkrise von Middlesex verweigerte das Parlament dem Gewinner der Wahl von 1769 den Parlamentssitz, weil es seine radikalere politische Einstellung missbilligte und übergab den Sitz dem Verlierer der Wahl, der den Vorzug hatte, dass seine politischen Anschauungen mit denen der Mehrheit des Unterhauses übereinstimmten. Im Jahr darauf attackierte Edmund Burke heftig den Hof und seine Mehrheit im Parlament aufgrund ihrer Versuche, das Parlament zu korrumpieren und es zu „einem bloßen Mitglied des Hofs“ herabzuwürdigen.86 Tatsächlich hatte der neue König, Georg III., die alte Whig Oligarchie ausgebotet und damit jenen ungebrochenen Aufstieg des Parlaments seit der Glorreichen Revolution ausgebremst, den inzwischen der führende Rechtsgelehrte des Landes als Verfassungsrealität anerkannt hatte. William Blackstone hatte 1765 den ersten Band seiner maßgeblichen Commentaries on the Laws of England veröffentlicht, in denen er das Prinzip der Parlamentssouveränität in aller Deutlichkeit zum Ausdruck brachte: „[W]enn das Parlament definitiv eine Maßnahme beschließt, die ungerechtfertigt ist, kenne ich keine Gewalt, die es daran hindern kann.“ Nicht allein der Monarch hatte sich dem Willen des Parlaments zu beugen, wollte er nicht eine schwere Verfassungskrise riskieren, sondern auch die Richter, denn „die richterliche Gewalt über die der Legislativen zu setzen […], wäre für jede Regierung umstürzlerisch“.87 Ein Jahrhundert nach der Restauration der Monarchie in England und nach einer weiteren Revolution und einem Wechsel der Dynastie hatte sich das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative in England völlig verkehrt, sowohl um einen europäischen Absolutismus als auch um eine Cromwellsche Republik mit seinem souveränen Volk zu vermeiden. Den Preis, den die britischen Monarchen bis zur Gegenwart dafür zu bezahlen haben, ist die Souveränität des Parlaments. Selbst wenn sich aus politischen oder anderen Gründen das britische Parlament dem Monarchen oder dem Volk oder einem voraufgegangenen Parlament beugen mag, bleibt es verfassungsrechtlich souverän und kann jedes Gesetz beschließen, das seiner 85

Ebd., 56 – 57. Edmund Burke, Thoughts on the Present Discontents [1770], in: The Writings and Speeches of Edmund Burke, hrg. v. Paul Langford, II, Oxford: Clarendon Press, 1981, 291. 87 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 66. Zu Blackstone vgl. oben Kap. III. 2. 86

2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität

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Mehrheit in den Sinn kommt, selbst wenn es gegen etabliertes nationales oder internationales Recht oder die manifesten Interessen des Landes verstößt.88 Wie oben in Kap. III. 1. dargelegt, entwickelten die Amerikaner ihr Verfassungsverständnis und damit auch ihre Vorstellungen von Souveränität zumal in den Jahren zwischen 1763 und 1776 in ihrer Auseinandersetzung mit der britischen Verfassung. Dabei stießen sie sich zunehmend an Gesetzen des Parlaments, die sie als bedrückend und ungerecht empfanden. Besonders das Stempelgesetz von 1765 rief verbreiteten Widerstand hervor und galt vielen von ihnen als „verfassungswidrig“.89 Doch, wie sie bald erfahren mussten, hatte Blackstone dieses Argument zunichte gemacht: Verfassungswidrige Gesetze des britischen Parlaments existierten nicht und waren eine reine Fata Morgana. Dass die Souveränität letztlich im Parlament liegen sollte, erwies sich zunehmend als mit den amerikanischen Vorstellungen von ihren Rechten und Freiheiten unvereinbar. Aus amerikanischer Sicht waren Machtbegrenzungen unerlässlich, um die Freiheit zu sichern. Die Vertragsidee mit der begrenzten Herrschaft bot dafür einen Weg. Aber das Naturrecht hatte generell eine Lösung bereitgehalten, die die Freiheitssöhne von New London, Conn. bereitwillig ergriffen: „Dass, wann immer diese Grenzen [die von dem Volk gesetzt sind] überschritten sind, das Volk ein Recht hat, die Ausübung jener Autorität wieder zu übernehmen, die sie von Natur aus besaß, bevor sie sie an Individuen delegierte.“90 In den frühen 1770er Jahren hatten Männer wie Samuel Adams und andere Mitglieder der Elite eingesehen, dass sie die Unterstützung der städtischen wie ländlichen Mittelschichten und unteren Mittelschichten benötigten und hatten daher diese auf dem Naturrecht fußenden Ideen der Volkssouveränität vorsichtig in ihre öffentlichen Äußerungen einzubeziehen begonnen. Der erste bekannte Ausdruck dieses vorsichtigen Argumentationswandels der revolutionären Elite war die Resolution des Ersten Kontinentalkongresses vom 14. Oktober 1774. In ihr verzichtet der Kongress darauf, eine Position gegen Blackstone zu beziehen und die britischen Parlamentsgesetze als „verfassungswidrig“ zu bezeichnen, wie es John Sullivan in seinem Entwurf angeregt hatte,

88 Vgl. E. C. S. Wade und A. W. Bradley, Constitutional and Administrative Law, London – New York: Longman, 101985, 70 – 75; Stanley de Smith, Constitutional and Administrative Law, 5. Aufl. hrg. v. Harry Street und Rodney Brazier, London: Penguin, 1985, 75 – 107; Harry Calvert, An Introduction to British Constitutional Law, London: Financial Training Publications, 1985, 120 – 132; Owen Hood Phillips, Constitutional and Administrative Law, 7. Aufl. hrg. v. Paul Jackson, London: Sweet & Maxwell, 1987, 41 – 92; Colin Turpin, British Government and the Constitution. Texts, Cases and Materials, London: Weidenfeld and Nicolson, 21990, 23 – 42: Unterhaltsamer und dennoch seriös Ferdinand Mount, The British Constitution Now: Recovery or Decline?, London: Mandarin, 1993, bes. 15 – 23. 89 Vgl. die Resolution von Maryland, 28. September 1765, in: Edmund S. Morgan, Hrg., Prologue to Revolution. Sources and Documents on The Stamp Act Crisis, 1764 – 1766, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1959, 53. 90 Connecticut Courant, 30. Dezember 1765, 4. Vgl. dazu auch Kap. V. 3.

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sondern erstmals erklärte er, das Volk habe „unzweifelhafte Rechte und Freiheiten, die ihm rechtlich nicht genommen werden können“.91 Gewiss hatten die Delegierten vorgezogen, von „unzweifelhaften“ statt von „natürlichen“ Rechten zu sprechen und der konkrete Ausdruck „Volkssouveränität“ kam nicht vor. Doch die radikaleren städtischen wie ländlichen mittleren Schichten, die Handwerker, kleinen Laden- und Landbesitzer, die Angestellten und Arbeiter, sie alle hatten verstanden, dass ihre Argumente endlich Gehör gefunden hatten. Doch wie konnte der Gedanke der begrenzten Regierung mit dem Prinzip der Volkssouveränität in Einklang gebracht werden und wie konnte die souveräne Gewalt daran gehindert werden, zu einer Bedrohung der Freiheit zu werden? Um eine Ordnung zu schaffen, die in der Lage war, die Freiheit dauerhafter zu sichern, als dies nach amerikanischem Verständnis die Glorreiche Revolution vermocht hatte, musste die Macht des Volkes, zumal in einer zu errichtenden Republik, anerkannt werden. Aber am Ende sollte weder ein Cromwell noch ein Tyrann stehen. Doch wie konnte das souveräne Volk zu der Einsicht gebracht werden, dass letztlich die Souveränität selbst begrenzt sein musste?92 Dabei muss betont werden, dass sich die Einstellungen in Amerika wandelten. Auf dem Höhepunkt der amerikanischen Revolution im Sommer 1776 mit teilweisen Nachwirkungen bis weit in das Jahr 1777 hinein, galt verbreitet das Volk als Verteidiger seiner Rechte und als Garant für eine freiheitliche Ordnung.93 Mit der konservativen Wende der nachfolgenden Jahre, zu der fraglos das für die amerikanische Elite abschreckende Beispiel der Verfassung von Pennsylvania von 1776 beigetragen hat,94 die verfassungsmäßig erstmals greifbar wurde mit der Verfassung von Massachusetts von 1780, wurde für die amerikanische Variante des modernen Konstitutionalismus die Auffassung bestimmend, dass, um die Gefahr der politischen Degeneration und des parlamentarischen Missbrauchs der Macht zu verhindern, zusätzliche Begrenzungen der Legislative erforderlich seien. Denn eine Exekutive, die über die in der Verfassung bestimmten Grenzen hinausging, wurde offensichtlich tyrannisch, doch eine Legislative mochte das gleiche unter dem Deckmantel der Volkssouveränität anstreben. „Eine einzelne Kammer ist häufig von den Lastern, Torheiten, Leidenschaften und Vorurteilen eines Einzelnen beeinflusst. Sie neigt dazu, habgierig zu sein und sich selbst von jenen Lasten auszunehmen, die

91 Worthington Chauncey Ford, Hrg., Journals of The Continental Congress 1774 – 1789, 34 Bde., 1904 – 37, Ndr. New York: Johnson, 1968, I, 70 – 71. 92 Diese Idee ging deutlich über die englischen Vorstellungen der Parlamentssouveränität hinaus, gemäß der ein Parlament nachfolgende Parlamente nicht binden kann, wie es in dem bekannten Fall Godden v. Hales von 1686 hieß, „dieselbe Macht, die es machte, mag es aufheben“ (zit. n. Turpin, British Government and the Constitution, 35). 93 Vgl. dazu oben Kap. III. 7. 94 Vgl. dazu das Kap. V. 4.

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sie ihren Wählern auferlegt. Sie ist anfällig für Ehrgeiz.“95 Diese Gedanken bestimmten schließlich die Bundesverfassung von 1787 und waren in dem Verfassungskonvent klar zum Ausdruck gebracht worden.96 „Eine Abhängigkeit vom Volk ist ohne Zweifel die Hauptkontrolle der Regierung“, so Madison in seinem berühmten Federalist Nr. 51, „doch die Erfahrung hat die Menschheit die Notwendigkeit zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen gelehrt“.97 Die Begrenzung der Legislative sollte das Abgleiten der Freiheit in Zügellosigkeit und Anarchie verhindern.98 Damit spitzte sich die Frage zu, wie diese legislativen Beschränkungen mit dem proklamierten Prinzip der Volkssouveränität in Einklang zu bringen waren. Im Juni 1776 hatte es noch in der Rechteerklärung von Virginia gehießen: „Dass alle Macht im Volk liegt und daher von ihm herrührt; dass Amtsträger seine Treuhänder und Diener sind und ihm zu allen Zeiten verantwortlich sind.“99 Doch im Laufe der Jahre mehrten sich die Zweifel über die verfassungsmäßige Bedeutung und Konsequenzen der Volkssouveränität, woraus Benjamin Rush im Februar 1787 folgerte: „Es wird oft gesagt, dass ,die souveräne und alle andere Macht im Volk liegt‘. Dieser Gedanke ist unglücklich ausgedrückt. Es sollte heißen – ,alle Macht ist vom Volk abgeleitet‘. Sie besitzen sie nur an den Tagen ihrer Wahlen. Danach ist sie das Eigentum ihrer Regierenden, noch können sie sie ausüben oder wieder an sich ziehen, außer wenn sie missbraucht wird.“100

Noch deutlicher war der Richter Alexander C. Hanson aus Maryland: „Alle Macht fließt in der Tat vom Volk, doch die Doktrin, dass die Macht tatsächlich und zu jeder Zeit dem Volk innewohnt, ist für Regierung und Recht gleichermaßen zerstörerisch.“101 Rush und Hanson waren überzeugte Verfechter der Bundesverfassung. Noch aufschlussreicher ist eine der intensivsten Kontroversen um die neue Verfassung, die in New York unter den Pseudonymen „Cato“ und „Caesar“ ausgefochten wurde und 95 „The Essex Result“ von 1778, in: The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 343. 96 Vgl. Max Farrand, Hrg., The Records of the Federal Convention of 1787, 3 Bde., New Haven: Yale University Press, 1911, II, 73 – 80, 299 – 301. Calvin C. Jillson, Constitution Making: Conflict and Consensus in the Federal Convention of 1787, New York: Agathon Press, 1988, behandelt dieses Problem nicht. 97 The Federalist, Nr. 51 (hrg. m. e. Einl. u. Anm. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 349). 98 Vgl. Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776 – 1787, New York: Nortom, 1972, 403 – 413. 99 Rechteerklärung, Abs. 2, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153. 100 Benjamin Rush, „Address to the People of the United States“, in: The Documentary History of the Ratification of the Constitution, XIII: Commentaries on the Constitution, Public and Private, I, hrg. v. John P. Kaminski und Gaspare J. Saladino, Madison, Wisc.: State Historical Society of Wisconsin, 1981, 47. 101 Zit. n. Wood, Creation of the American Republic, 370.

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die sich um die Frage der Volkssouveränität drehte. „Cato“ wies die Verfassung zurück, da sie nach seiner Überzeugung die Freiheit des Volkes nicht sicherte, und trat für eine unbegrenzte Volkssouveränität ein. „In demokratischen Republiken wird das Volk kollektiv als souverän verstanden – alle legislative, judikative und exekutive Gewalt ist ihm eigen und von ihm hergeleitet.“102 „Caesar“ als Verteidiger der Verfassung fühlte sich nicht „sonderlich angezogen von der Majestät der Menge“ und sah kein Prinzip von grundlegender Bedeutung involviert. „Ich gehöre nicht zu jenen, die nach Einfluss streben, indem sie der gedankenlosen Masse schmeicheln (obgleich ich sie für ihre Verblendungen bemitleide) und in ihren Ohren die huldvollen Töne ihrer absoluten Souveränität erklingen lasse.“ Vielmehr, so seine Überzeugung, delegierten sie ihre Macht mittels Wahlen.103 Viele Amerikaner lehnten die Bundesverfassung ab, weil nach ihrer Auffassung die Volkssouveränität in ihr eine zu geringe Rolle spielte.104 Auch wenn die Anhänger der Verfassung dieser Interpretation widersprachen und darauf hinwiesen, dass die Volkssouveränität als Basis der Verfassung verankert sei, ließ sich nicht wegdiskutieren, dass ihr keine operative Bedeutung im Rahmen der Verfassung zukam. So eröffnet die Verfassung zwar mit den bekannten Worten „Wir das Volk“, doch danach war von dem Volk jenseits von Wahlen nicht mehr die Rede. Eine Mitwirkung an Gesetzen wie in Pennsylvania war ebenso wenig vorgesehen wie irgendwelche plebiszitären Elemente. Selbst die Verfassungsänderungen sind im Grunde der Legislative und den Staaten übertragen, ohne dass das Volk dabei eine direkte Rolle spielt.105 Eine Bostoner Zeitung formulierte es 1790 so: „Die Rechte und Freiheit des Volkes“ wurden ersetzt durch „Kontrolle und Machtgleichgewicht (Checks and Balances)“.106 Eine Verfassung, so hieß es, sollte der Gesetzgebung, ja der Regierung vorangehen. Die Verfassung, so stand es in der Bundesverfassung, war das höchste Gesetz des Landes, und bereits in der Verfassung von Georgia von 1777 war die Hierarchie klar ausgesprochen: 102 New York Journal, 11. Oktober 1787, in: Documentary History of the Ratification of the Constitution, hrg. v. Kaminski und Saladino, XIII, 370; ebenfalls in: Herbert J. Storing, Hrg., The Complete Anti-Federalist, 7 Bde., Chicago – London: University of Chicago Press, 1981, II, 107 (2.6.8). Vgl. ganz allgemein, David E. Narrett, „A Zeal for Liberty: The Anti-Federalist Case against the Constitution in New York“, in: Essays on Liberty and Federalism. The Shaping of the U.S. Constitution, hrg. v. David E. Narrett und Joyce S. Goldberg, College Station, Tex.: Texas A & M University Press, 1988, 48 – 87; eine gekürzte Version des Aufsatzes ebenfalls in: New York History, 69 (1988), 285 – 317. 103 New York Daily Advertiser, 17. Oktober 1787, in: Documentary History of the Ratification of the Constitution, hrg. v. Kaminski und Saladino, XIII, 396 – 397. 104 Vgl. den ersten „Brutus“ Artikel in: New York Journal, 18. Oktober 1787, ebd., 411 – 421. 105 Vgl. Joyce Appleby, „The American Heritage: The Heirs and the Disinherited“, in: Journal of American History, 74 (1987/88), 804. 106 Zit. n. Merrill Jensen, The American Revolution within America, New York: New York University Press, 1974, 170 – 171.

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„Die gesetzgebende Versammlung soll die Macht haben, solche Gesetze und Bestimmungen zu erlassen, die der guten Ordnung und dem Wohlergehen des Staates dienlich sind; vorausgesetzt, derartige Gesetze und Bestimmungen stehen nicht der wahren Absicht und Bedeutung irgend einer Regel oder Bestimmung in dieser Verfassung entgegen“.107

In einfachen Worten ausgedrückt, erklärte also die Verfassung, dass die Macht der Repräsentanten des souveränen Volks durch die Verfassung begrenzt sei. Diese Bestimmung verkörperte einen Grundsatz des sich in Amerika entwickelnden modernen Konstitutionalismus, und sie institutionalisierte – im Gegensatz zu Praxis und Rechtsverständnis in England – eine hierarchische Ordnung von übergeordnetem Verfassungsrecht und untergeordnetem Gesetzesrecht. Die Verfassung von Georgia von 1777 drückte aber noch mehr hinsichtlich der Äußerungen des souveränen Volks aus. Nur wenn das souveränen Volk mit einer qualifizierten, also einer Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit spricht, steht es über Verfassungsbestimmungen, ja über der Verfassung selbst. Obwohl die Verfassung – so jedenfalls die weithin akzeptierte Regel – mit einer einfachen Mehrheit angenommen wird, kann sie allein durch eine deutlich höhere qualifizierte Mehrheit verändert oder abgeschafft werden.108 Im Laufe der Zeit gewann jedoch die Auffassung an Verbreitung, dass die konstituierende Macht des Volkes nicht die normale Befugnis des Souverän sei, wie eben auch die Verfassung kein normales Gesetz sei, sondern ein grundlegendes Gesetz, das dem Zugriff zufälliger oder flüchtiger Mehrheiten entzogen sein müsse. Daher sei es notwendig, die legislative Macht zu begrenzen, um die Freiheit des Volkes zu sichern. Die Furcht vor legislativem Machtmissbrauch siegte über den Gedanken der Legitimation der Macht durch das Volk. Volkssouveränität war daher das die amerikanische Variante des modernen Konstitutionalismus begründende Prinzip, aber nicht sein operatives Prinzip, und es war genau dieses begründende Prinzip, das die Bundesverfassung mit ihrer Garantieklausel zum Ausdruck bringen wollte: „Die Staaten können ihre Verfassungen verändern und verbessern, vorausgesetzt, sie machen sie nicht aristokratisch, oligarchisch oder monarchisch – denn die Bundesverfassung hindert sie an jeder Änderung, die nicht wirklich republikanisch ist. Das heißt, die Souveränität des Volkes darf nie verletzt oder zerstört werden.“109

107

Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 14 (Art. VII, eigene Hervorhebung, HD). 108 Vgl. die Verfassungen der IV. und V. Republik (1946, 1958), Jacques Godechot, Hrg., Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris: Flammarion, 1979, 407 – 408, 444. Vgl. Dominique Turpin, Droit constitutionnel, Paris: Presses Universitaires de France, 1992, 82, der das Referendumsverfahren als „das demokratischste“ bezeichnete. 109 Pennsylvania Gazette, 30. Januar 1788, in: The Documentary History of the Ratification of the Constitution, XV: Commentaries on the Constitution, Public and Private, III, hrg. v. John P. Kaminski und Gaspare J. Saladino, Madison, Wisc.: State Historical Society of Wisconsin, 1984, 509.

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Die Begründung, nicht die Handlungsweise musste „republikanisch“ sein, und die Volkssouveränität hielt sich daher „in gebührenden Grenzen [mittels] Verfassungen und Bills of Rights“.110 Selbst nach der Ratifizierung der Bundesverfassung waren längst nicht alle Amerikaner von diesem Prinzip überzeugt, und während John Adams 1790 „Republik“ auf „eine Regierung, in der das Volk [nicht mehr als] einen wesentlichen Anteil an der Souveränität hat“, reduzierte, glaubte sein Vetter Samuel Adams unverdrossen, „dem Volk [gebühre] die ganze Souveränität“.111 Diese Vorstellung einer geteilten Souveränität des Volkes – eine unter, eine andere über der Verfassung, je nach zahlenmäßiger Stärke der Mehrheit – war fraglos neu in Amerika und weder dem britischen noch dem französischen Verfassungsdenken bekannt und selbst in den Vereinigten Staaten heftig umstritten.112 James Wilson hingegen sah in dieser Abweichung von der europäischen Tradition angesichts ihrer Folge, „die Macht und das Verfahren der Legislative durch eine übergeordnete Verfassung zu kontrollieren, […] eine Verbesserung der Wissenschaft und Praxis von der Regierung“,113 während andere Zeitgenossen in den amerikanischen Staaten diesen Grundsatz eher für „antirepublikanisch“ hielten.114 110

„The Fallacies of the Freeman Detected by A Farmer“, in: Freeman’s Journal (Philadelphia), April 1788, Ndr. in: Storing, Hrg., Complete Anti-Federalist, III, 183 (3.14.4). Es verdient, darauf hingewiesen zu werden, dass dieses Grundprinzip der amerikanischen Version des modernen Konstitutionalismus sehr klar von einem der führenden deutschen Liberalen Anfang der 1830er Jahre erkannt wurde, auch ohne spezifische Kenntnisse der einstigen amerikanischen Verfassungsdebatte, vgl. Friedrich Murhard, Die Volkssouverainität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel: Bohné, 1832, 31 – 32: „Schon seines eigenen theuersten Interesses halber muß das souveraine Volk daher das Bestehen eines Verwalters seiner höchsten Gewalt verlangen und sich selbst von der souverainen Macht nur soviel verfassungsmäßig vorbehalten, als zur Erhaltung des Wohls des Ganzen zweckmäßig ist. Mit einer auf diese Weise gesetzlich modifizirten Volkssouverainität, die sich allezeit nur in bestimmten, genau in der Verfassung vorgeschriebenen Formen äußern kann, ist das Bestehen einer weisen volksthümlichen Regierung vollkommen verträglich, wie das Beispiel des freien Nordamerika’s auf die glänzendste Weise beurkundet.“ 111 Zit. n. Lance Banning, The Jeffersonian Persuasion. Evolution of a Party Ideology, Ithaca, N.Y. – London: Cornell University Press, 1978, 96 (eigene Hervorhebung, HD). 112 Dennoch darf daran erinnert werden, dass der Gedanke einer „geteilten Souveränität“ bereits in der Glorreichen Revolution aufgetaucht war, wo er, ganz traditionell zur Wahrung eines Mindestmaßes an erbrechtlicher Legitimität, auf William und Mary als König und Königin von England angewandt wurde, vgl. Burnet, History of His Own Time, III, 1377. 113 „Speech Delivered on 26th November, 1787, in the Convention of Pennsylvania“, in: The Works of James Wilson, hrg. v. Robert Green McCloskey, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1967, II, 770. 114 Vgl. als ein Beispiel, wenn auch einige Jahrzehnte später, Daniel Chipman, Reports of Cases Argued and Determined in the Supreme Court of the State of Vermont, 2 Bde., Middlebury, Vt.: D. Chipman & Son, 1824 – 1835, I, 22 – 26. Chipman war lange oberster Richter von Vermont. Vgl. George W. Carey, The Federalist. Design for a Constitutional Republic, Urbana – Chicago: University of Illinois Press, 1989, bes. 138 – 141. Anfang der 1790er Jahre war unter dem Einfluss der Parteipolitik Madison von seiner Meinung abgerückt, die er gemeinsam mit Hamilton noch 1787/88 im Federalist vertreten hatte, vgl. Douglas W. Jaenicke,

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In den Vereinigten Staaten erlaubte diese Vorstellung einer geteilten Volkssouveränität eine weitere Ausprägung des modernen Konstitutionalismus, nämlich ein Oberstes Gericht, das mit dem Recht ausgestattet ist, normale Äußerungen des souveränen Volks, also ein verfassungsmäßig zustande gekommenes Gesetz für verfassungswidrig und nichtig zu erklären, falls es nach Auffassung des Gerichts der Verfassung widerspricht.115 Selbst innerhalb der revolutionären Elite war dieses richterliche Überprüfungsrecht höchst umstritten, und der Verfassungskonvent hatte 1787 die Vorstellung zurückgewiesen, das Oberste Gericht „könnte ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig erklären“.116 Daher wurde keine entsprechende Bestimmung in die Verfassung aufgenommen. Dennoch war nach Überzeugung konservativerer Mitglieder des Konvents dieser Gedanke nach den Gesetzen der Logik in der Verfassung enthalten, und Alexander Hamilton brachte dies mit der erforderlichen logischen Schärfe zum Ausdruck: „Die vollständige Unabhängigkeit der Gerichtshöfe ist besonders notwendig in einer begrenzten Verfassung [… Diese] Begrenzungen […] können in der Praxis in keiner anderen Weise bewahrt werden, als durch das Medium der Gerichtshöfe, deren Pflicht es ist, alle Gesetze, die der eindeutigen Absicht der Verfassung widersprechen, für nichtig zu erklären. Daohne wären alle Vorbehalte besonderer Rechte oder Privilegien nichts wert.“117

Diese Vorstellung, dass die souveräne Macht zum Schutze individueller Freiheit begrenzt werden müsse und dass bestimmte Bereiche individueller Rechte und Freiheiten für immer von der Einmischung der Regierung ausgeschlossen bleiben müssen, widersprach nach Theorie und Praxis der französischen Erfahrung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fundamental. In der Encyclopédie definierte Jaucourt Souveränität sehr präzise: „Der Souverän als solcher ist auf dieser Welt niemandem Rechenschaft für sein Verhalten schuldig […] der Souverän ist nicht verantwortlich […] Die Beschränkungen der souveränen Gewalt beeinträchtigen die Souveränität nicht; denn ein Fürst oder ein Senat, dem man die Souveränität übertragen hat, kann alle Handlungen ausüben genauso wie in einer absoluten Souveränität: der ganze Unterschied, der hier besteht, ist, dass der König hier erst in letzter Instanz nach seinem eigenen Dafürhalten entscheidet, & dass es in einer beschränkten Monarchie einen Senat gibt, der gemeinsam mit dem König über gewisse Angelegenheiten

„Madison v. Madison: The Party Essays v. The Federalist Papers“, in: Reflections on the Constitution. The American Constitution After Two Hundred Years, hrg. v. Richard Maidment und John Zvesper, Manchester: Manchester University Press, 1989, bes. 123 – 130, 135 – 139. 115 Aus der kaum noch zu überblickenden Fülle an Literatur über die Entstehung und Entwicklung des richterlichen Überprüfungsrechts sei hier stellvertretend verwiesen auf Sylvia Snowiss, Judicial Review and the Law of the Constitution, New Haven – London: Yale University Press, 1990. 116 Vgl. die Diskussionen am 21. Juli und 15. August 1787, in: Farrand, hrg., Records of the Federal Convention, II, 73 – 80, 299 – 301. 117 The Federalist, Nr. 78 (hrg. v. Cooke, 524).

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V. England – Nordamerika – Frankreich

befindet & das seine Zustimmung eine notwendige Bedingung ist, ohne die der König nichts entscheiden kann.“118

Die französische Begeisterung für die englische beschränkte Monarchie119 hielt daher nach anderen Lösungen Ausschau. Ein England vergleichbares Parlament, dessen Macht gegenüber dem König gestärkt werden konnte, stand im Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht zur Verfügung. Allein das Volk schien dafür in Frage zu kommen, gegenüber einer Exekutive den erforderlichen Ausgleich und Kontrolle zu gewährleisten. Dieses Konzept der Volkssouveränität war die Grundlage des französischen Verständnisses der konstituierenden Gewalt des Volkes, das bei Ausbruch der Revolution proklamiert wurde und sich am 17. Juni 1789 manifestierte, als die Delegierten des Dritten Standes sich selbst zur Nationalversammlung erklärten. In der Folge dieses „Staatsstreichs“ kam es zu weiteren Manifestationen der Volkssouveränität: dem Ballhausschwur, der Weigerung, sich königlicher Anordnung zu fügen, und der Proklamation der Verfassungsgebenden Nationalversammlung. In grundlegendem Unterschied zu der Anfangsphase der amerikanischen Revolution trat die Französische Revolution mit dem eindeutigen Ausdruck der absoluten Souveränität des Volkes und seiner konstituierenden Gewalt ins Leben. Jean-Louis Seconds war einer von jenen, die dies zum Ausdruck brachten und der Anfang Juli 1789 in seinem Essai sur les droits des hommes verkündete: „Die Souveränität oder die ALLMACHT ist von Natur aus unveräußerlich oder für immer unübertragbar, weil das Volk nicht auf sein Glück verzichten kann, noch auf das Recht, seine Vernunft zu benutzen, um sich entsprechend zu verhalten.“120 Marat, wie immer, war radikaler, aber auch präziser und trat in einem Pamphlet drei Tage vor der Verabschiedung der Menschen- und Bürgerrechtserklärung für den uneingeschränkt omnipotenten Staat ein: „Der Souverän ist unabhängig von jeder menschlichen Gewalt, und er genießt eine Freiheit ohne Grenzen kraft der unbegrenzten Freiheit, die jedes seiner Mitglieder von Natur aus besitzt […]. Da der Souverän aus allen Mitgliedern des Staates zusammengesetzt ist, ist er der absolute Herr des Reiches; ihm allein gebührt grundsätzlich die höchste Autorität, und von ihm allein gehen alle Gewalten, alle Privilegien, alle Prärogativen aus.“121 118 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste d’Alembert, 35 Bde., Paris: Briasson, 1751 – 1780, XV (1765), 425. 119 Vgl. dazu Montesquieu, De l’Esprit des lois (1748), XI, 6 (Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 51, II, 396 – 407); Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné, hrg. v. Diderot u. d’Alembert, X, 637. 120 Jean-Louis Seconds, Essai sur les droits des hommes, des citoyens et des nations; ou Adresse au roi sur les États généraux et les principes d’une bonne constitution, 1789, abgedruckt in: Les Déclarations des droits de l’homme de 1789, hrg. v. Christine Fauré, Paris: Payot, 1988, 66. 121 Jean-Paul Marat, Projet de déclaration des droits de l’homme et du citoyen, suivi d’un plan de constitution juste, sage et libre, 1789, abgedruckt in: ebd., 279, 280. Es ist höchst aufschlussreich, Marats Auffassung mit denen des „Essex Result“ von 1778 zu vergleichen:

2. Die Konstitutionalisierung der Volkssouveränität

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Diese Doktrin prägte die Französische Revolution, als sie sich in den folgenden Monaten und Jahren selbst weiter radikalisierte. Art. 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789 verkündete: „Das Prinzip der ganzen Souveränität geht grundlegend von der Nation aus. Kein Körper, kein Individuum kann Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich davon herrührt.“122 In Bezug auf die Befugnisse des Königs war die Verfassung von 1791 deutlich einschränkender, da sie den König praktisch von der Ausübung souveräner Macht ausschloss: „Die Souveränität ist eine, unteilbar, unveräußerlich und unantastbar. Sie gehört der Nation; kein Teil des Volkes, kein Individuum kann sich ihre Ausübung anmaßen.“123 Das dem König nach langen Debatten in der Nationalversammlung zugestandene suspensive Veto mag als Versuch gewertet werden, das Prinzip der unveräußerlichen Souveränität mit der unverändert bestehenden Monarchie und ihrer grundlegend gewandelten Legitimation zu versöhnen,124 tatsächlich verkörperte es jedoch einen gravierenden Widerspruch zu dem proklamierten Prinzip. Mit diesen Verfassungsartikeln waren ebenso die historische Erfahrung, wie sie von den französischen Revolutionären verstanden wurde, zum Ausdruck gebracht wie die Ideen Rousseaus, die erst jüngst durch Sieyès in seiner berühmten Schrift Qu’est-ce que le Tiers état? erneut vorgebracht worden waren: „Der nationale Wille […] bedarf nichts weiter als seiner Realität, um stets legal zu sein, er ist der Ursprung jeder Legalität.“125 Der von der Verfassung von 1791 hinterlassene Widerspruch musste sich notwendigerweise mit der Abschaffung der Verfassung auflösen. Der girondistische Verfassungsentwurf verkündete erneut die „nationale Souveränität“, die im Volk in seiner Gesamtheit lag, das diese jedoch nur in indirekter Weise ausüben könne: „Keine partielle Vereinigung von Bürgern und kein Individuum kann sich die Souveränität anmaßen, irgendeine Autorität ausüben und irgendeine öffentliche Funktion ausüben ohne eine formelle Delegation durch das Gesetz.“126 Erst die jakobinische Verfassung brachte das Argument zu seiner logischen Schlussfol„Die höchste Macht des Staates […] wird gebildet aus der Macht aller Individuen zusammengenommen und freiwillig von ihnen übertragen. Kein Individuum […] trennt sich von seinen unveräußerlichen Rechten, die die höchste Gewalt daher nicht kontrollieren kann. Jedes Individuum gibt außerdem die Macht, seine natürlichen veräußerlichen Rechte zu kontrollieren, nur auf, wenn es das allgemeine Wohl erfordert. Die höchste Gewalt kann daher nichts tun, als was dem Ganzen dient, und wenn es über diese Linie hinausgeht, ist es usurpierte Gewalt“ (Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 330 – 331). 122 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 29. 123 Ebd., 38 (Tit. III, Art. 1). 124 Vgl. Keith Michael Baker, „Souveraineté“, in: François Furet, Mona Ozouf, Hrg., Dictionnaire critique de la Révolution française, Paris: Flammarion, 1988, 896. 125 Emmanuel Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers état?, hrg. v. Roberto Zapperi, Genf: Droz, 1970, 182. 126 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 62 (Rechteerklärung, Art. 28).

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V. England – Nordamerika – Frankreich

gerung: „Die Souveränität geht vom Volk aus. Sie ist unteilbar, unantastbar und unveräußerlich.“127 Darüber hinaus unternahm sie es erstmals in Frankreich, die Volkssouveränität zu einem operativen Instrument der Verfassung zu machen, was in Condorcets Projekt nicht mit einer vergleichbaren Klarheit angelegt war: „Das französische Volk ist zur Ausübung seiner Souveränität in Urversammlungen der Kantone eingeteilt.“128 Mit diesen Bestimmungen der jakobinischen Verfassung erreichte das Prinzip der Volkssouveränität seinen Höhepunkt während der Französischen Revolution, und angesichts der Ausführungen im voraufgegangenen Kapitel zum französischen Verfassungsverständnis erübrigt es sich, hier erneut die weiteren Stationen der Debatte über die Volkssouveränität zu wiederholen. Auch wenn die jakobinische Verfassung nicht vermochte, wirksame Barrieren gegen eine Usurpation tyrannischer Macht im Namen des souveränen Volkes zu errichten,129 war damit eine Vorstellung begründet, die Frankreich über 200 Jahre lang in deutlichem Unterschied zum modernen Konstitutionalismus amerikanischer Prägung bestimmen sollte: Im Falle eines unlösbaren Konflikts zwischen Verfassung und Volkssouveränität hatte die Verfassung zu weichen und der manifesten Stimme des souveränen Volkes Platz zu machen. Nicht die Verfassung konnte das höchste Gesetz des Landes sein und notfalls die Volkssouveränität kompromittieren. Die höchste Gewalt lag stets bei dem souveränen Volk, das sich eine Verfassung gab und, wenn angebracht, sie durch eine andere ersetzte.130 Erst mit der Verfassungsreform 2008 hat der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) das Recht, auch über die Verfassungsgemäßheit bestehender Gesetze zu entscheiden. Damit, so wird man festhalten müssen, ergibt sich die prägende Situation, dass aufgrund historischer Erfahrungen, nationaler Traditionen und wechselseitiger diskursiver Prozesse die fundamentale Frage nach dem Verhältnis von Souveränität und Verfassung zu Beginn des modernen Konstitutionalismus völlig konträr beantwortet wurde, was in diesem modernen Konstitutionalismus bis zur Gegenwart nachwirkt. In England, das in so vielen Verfassungsfragen gerade in der Inkubationszeit des modernen Konstitutionalismus ein wesentlicher Ideengeber war, ohne je selbst auf diese Linie einzuschwenken, entwickelte sich der Gedanke der Parlamentssouveränität, der seine Verfassung flexibel gestaltete, weitere Revolutionen verhinderte und das Land und seine Institutionen in die Moderne führte.131 Wenn das Parlament dennoch in jüngster Zeit seine Souveränität punktuell an das Volk abgetreten hat, mag das als systemischer Widerspruch erscheinen. Dass sich damit ein generelles Abrücken von dem Prinzip der Parlamentssouveränität anbahnt, ist jedoch derzeit nicht zu erkennen. 127 128 129

335. 130 131

Ebd., 96 (Rechteerklärung, Art. 25). Ebd., 97 (Verfassungsakt, Art. 2). Vgl. dazu das Kap. V. 4. Vgl. Lucien Jaume, Le Discours jacobin et la démocratie, Paris: Fayard, 1989, bes. 324 – Vgl. dazu oben Kap. V. 1. Vgl. dazu unten Kap. V. 6.

3. Demokratie und die Anfänge des modernen Konstitutionalismus

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Auf der anderen Seite setzte sich in den Vereinigten Staaten mit der Bundesverfassung von 1787 die Vorstellung einer letztlich begrenzten und geteilten Volkssouveränität durch, die sich prinzipiell der Verfassung unterzuordnen habe, wobei schließlich nach dem Bürgerkrieg die schon rund einhundert Jahre zuvor diskutierte Auffassung Oberhand gewann, dass das Oberste Gericht (Supreme Court) jederzeit das Recht habe, Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit seinem Verständnis der Verfassung zu überprüfen und gegebenenfalls für nichtig erklären zu können. Dieser massive Eingriff in die Volkssouveränität durch eine dem Volk letztlich entzogene Richterschaft hat zwar wiederholt zu Diskussionen über die demokratische Legitimation dieses Prozesses geführt, scheitert jedoch zwangsläufig immer wieder an der faktischen Unveränderbarkeit der amerikanischen Bundesverfassung. Ganz anders die Situation in Frankreich, die angesichts der historischen Gegebenheiten und der Entwicklung der Französischen Revolution, zusätzlich inspiriert durch das Beispiel der pennsylvanischen Verfassung von 1776, letztlich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf die Suprematie der Volkssouveränität zusteuerte, die langfristig ohne tragfähige Alternative blieb. Sie hat den Weg des Landes in die Moderne geprägt, der auf diese Weise mitunter eruptiver verlief als im Vereinigten Königreich und dem Land den Juni 1848 ebenso wenig wie die Commune 1871 ersparte, aber auch keinen jahrlangen Bürgerkrieg wie in den Vereinigten Staaten heraufbeschwor. Während noch die III. Republik diese französischen Grundakzente zum Ausdruck brachte, vollzieht sich in der V. Republik, nicht zuletzt auch unter europäischem Einfluss, ein gradueller Wandel zu dem, was sich nach den Divergenzen der zurückliegenden zwei Jahrhunderte als eine zukünftige Gemeinsamkeit herausstellen könnte, die der Verfassungsstabilität auch in der Theorie einen höheren Stellenwert einräumt, als dies in der Vergangenheit in Frankreich der Fall war.

3. Demokratie und die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Amerika und Frankreich132 Die amerikanischen und französischen Revolutionäre wie nahezu alle Revolutionäre dieser Epoche nutzten die gleiche Sprache, die gleichen Schlagworte und wurden im Großen und Ganzen von vergleichbaren Beweggründen angetrieben. Ihre Handlungen waren mit den Worten Jean-Jacques Godechots Ausdruck „einer ausgedehnten revolutionären Bewegung“, der die westliche Welt am Ende des

132 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „La pensée démocratique en Amérique et en France à l’époque révolutionnaire à la fin du XVIIIème siècle: unité et divergences“, in: La Pensée démocratique. Actes du XI8 colloque d’Aix-en-Provence (21 – 22 septembre 1995), hrg. v. Michel Ganzin, Aix-en-Provence: Presses universitaires d’Aix-Marseille, 1996, 141 – 151.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

18. Jahrhunderts umstürzte.133 Als Folge haben einige Historiker daher von einer atlantischen Revolution gesprochen,134 ein Begriff, der zumal in Frankreich verbreiteten Widerspruch hervorrief.135 Aber selbst wenn die Zeitgenossen auf beiden Seiten des Atlantiks in ähnlicher Weise Parolen von Freiheit, Gleichheit oder Volkssouveränität auf ihre Fahnen geschrieben hatten, standen wirklich gleiche Inhalte hinter denselben Worten? Alexis de Tocqueville mag hier nur als einer von vielen stehen, der mit aller Deutlichkeit die Unterschiede zwischen beiden Revolutionen betonte: „Der große Vorteil der Amerikaner ist, in der Demokratie angekommen zu sein, ohne demokratische Revolutionen erlitten zu haben.“136 Ist es dennoch angesichts seiner durchdringenden Analyse wie seiner Überzeugung, die Amerikaner seien „gleich geboren, statt es zu werden“,137 angemessen, von der Hypothese auszugehen, Amerikaner wie Franzosen hätten am Ende des 18. Jahrhunderts die gleichen Vorstellungen mit dem Begriff Demokratie verbunden? Lässt sich gar behaupten, in beiden Ländern sei das Wort Demokratie gleichsam das Synonym für Freiheit, eine gewisse Form der Gleichheit, gewisse bürgerliche Rechte und die Volkssouveränität und damit das Ziel der zu schaffenden Verfassungen auf der Grundlage des modernen Konstitutionalismus gewesen und dass angesichts dieses beeindruckend verwandten Wortfeldes etwaige Unterschiede zwischen beiden eher fiktiver oder marginaler statt konstitutiver Natur seien? Um Antworten auf diese fundamentalen Fragen geben zu können, empfiehlt es sich, zunächst einen Blick auf den Gebrauch und die Entwicklung des Begriffs „Demokratie“ in Amerika und Frankreich im 18. Jahrhundert zu werfen. Dabei fällt sogleich ein bemerkenswerter Unterschied ins Auge. Wenn man in Frankreich um 1700 und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts von real existierender Demokratie sprach, verwies man auf das antike Athen oder Rom, mitunter auch auf einige Schweizer Kantone oder Reichsstädte, doch stets in abwertender Weise, da es sich dabei ihrer Natur nach um schwache und unbeständige Regierungssysteme

133 Jacques Godechot, La Pensée révolutionnaire en France et en Europe 1780 – 1799, Paris: Colin, 1964, 7. 134 Vgl. Jacques Godechot u. Robert R. Palmer, „Le Problème de l’Atlantique du 18e au 20e siècle“, in: Relazioni del X Congresso Internazionale di Scienze Storiche, V, Florenz: Sansoni, 1955, 175 – 239; Robert R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760 – 1800, 2 Bde., Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1959 – 64; ders., „La ,Révolution atlantique‘ – vingt ans après“, in: Die Französische Revolution – zufälliges oder notwendiges Ereignis? Akten des internationalen Symposions an der Universität Bamberg vom 4. – 7. Juni 1979/La Révolution française – produit de la contingence ou de la nécessité? Actes du colloque à l’université de Bamberg du 4 au 7 juin 1979, hrg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, 3 Bde., München: Oldenbourg, 1983, I, 89 – 104. 135 Vgl. Alice Gérard, La Révolution française, mythes et interprétations (1789 – 1970), Paris: Flammarion, 1970, 112. 136 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 2 Bde., in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. J.-P. Mayer, Tl. I, Paris: Gallimard, 1961, I/2, 108. 137 Ebd.

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gehandelt habe oder handele.138 Für das Frankreich dieser Epoche hatte Demokratie keinerlei Bedeutung. In England hingegen und seinen amerikanischen Kolonien war die Situation völlig anders. Nach verbreiteter Auffassung war die englische Verfassung eine Mischverfassung, bestehend aus den drei klassischen Elementen: Monarchie, Aristokratie (dem Oberhaus) und Demokratie (dem Unterhaus).139 Nach zeitgenössischer Theorie war mithin Demokratie in Großbritannien etwas Reales und Existierendes. Dennoch hatte diese Realität bezogen auf die britischen Kolonien in Amerika eine sehr spezifische Bedeutung. Hier handelte es sich mehr um eine soziale, denn eine politische Kategorie. Der Ausdruck „Demokratie“ wurde nicht verwandt zur Abgrenzung von Aristokratie oder zur Charakterisierung des politischen Systems und der Regierungsform, und die Ableitungen „demokratisch“ und „Demokrat“ waren noch nicht bekannt. Vielmehr galt Demokratie ebenso wie Aristokratie als eine der sozialen Grundlagen des politischen Systems. „Die Wenigen und die Vielen (The few and the many)“ war eine immer wieder anzutreffende Floskel mit Blick auf die soziale Situation in den amerikanischen Kolonien, mit der zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass die Masse der kleinen Eigentümer die Mitglieder der Elite zur Mitwirkung bei der Verwaltung der Kolonien wählte. „Die Wenigen“ meinte die „natürliche Aristokratie“, jene „wenigen Männer von Wohlstand und Fähigkeiten“, während „die Vielen“ der Ausdruck war für „die große Masse des Volkes“ oder eben „die Demokratie“.140 Demokratie als soziale Kategorie war so allgegenwärtig, dass einige Reisende und andere Zeitgenossen bereits vor der amerikanischen Revolution der Ansicht waren, die eine oder andere Kolonie käme beinahe einer reinen Demokratie gleich, wie sie vielfach mit einem vorwurfsvollen Ton schrieben. Selbst wenn diese Kommentare nicht geeignet sind, sie, wie geschehen, zur Grundlage für die Hypothese einer „Mittelklasse-Demokratie“ im Massachusetts des 18. Jahrhunderts zu nehmen,141 erleichterten der Gebrauch von Demokratie als sozialer Kategorie und die Auffassung von der britischen Verfassung als Mischverfassung erheblich die Entstehung des modernen Konstitutionalismus während der amerikanischen Revolution mit einer auf dem Volk begründeten Kammer der Legislative („ein Zweig der legislativen

138

Für weitere Details und Nachweise, vgl. meinen Artikel „Démocratie, Démocrates“, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 – 1820, hrg. v. Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt, H. 6, München: Oldenbourg, 1986, 58 – 61. 139 Eine umfassende Dokumentation von der Magna Charta bis zur Gegenwart bietet Democracy in Britain. A Reader, hrg. v. Jack u. Adam Lively, Oxford: Blackwell, 1994. 140 Vgl. Pauline Maier, „The Transforming Impact of Independence, Reaffirmed: 1776 and the Definition of the American Social Structure“, in: The Transformation of Early American History: Society, Authority, and Ideology, hrg. v. James A. Henretta, Michael Kammen u. Stanley N. Katz, New York: Knopf, 1991, 198 – 199, 306. 141 So Robert E. Brown, Middle-class Democracy and Revolution in Massachusetts, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1955.

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Gewalt sollte im Volk liegen“).142 Die revolutionäre Elite konnte umso leichter diese Zugeständnisse machen, als diese ersten Verfassungen des modernen Konstitutionalismus in den meisten Staaten nicht mit gravierenden Veränderungen des Wahlrechts einhergingen, so dass die dominierende Stellung der Eliten in der Führung der staatlichen Politik nicht gefährdet schien.143 Während der amerikanischen Revolution war die Stellung der Eliten jedoch alles andere als unangefochten. Viele, die man nun nicht länger als Kolonisten, aber auch noch nicht als Amerikaner bezeichnen kann, versuchten, die Demokratie von einer sozialen in eine politische Kategorie überzuführen. Das war weniger eine Herausforderung der Gesellschaftsordnung als vielmehr die Zurückweisung jener politischen Folgen, die bislang traditionsbedingt als natürlich akzeptiert worden waren. Selbst wenn sie nicht so gleich geboren waren, wie es Tocqueville ein halbes Jahrhundert später darstellte, forderten sie nun die Ausdehnung der politischen Partizipation auf die bislang vom Wahlrecht ausgeschlossenen Nicht-Eigentümer, die Handwerker, Tagelöhner, Seeleute, um die Demokratie in eine politische und verfassungsrechtliche Realität umzuwandeln. Im Kontext der amerikanischen Politik war Demokratie damit nicht primärer Ausdruck einer sozialen Emanzipation, sondern eher eine politische Forderung nach Ausweitung von Repräsentation und politischer Partizipation. Damit spielte die Demokratie in der amerikanischen Revolution eine entschieden andere Rolle als wenige Jahre später in der Französischen Revolution. Nicht die amerikanische revolutionäre Elite war der Bannerträger der Demokratie gegen die Verteidiger eines altem Regimes, d. h. gegen die britische Kolonialmacht, sondern es waren die Angehörigen einer städtischen wie ländlichen Mittelschicht in den Kolonien, die sie gegen die Stellung der Eliten einforderten. So verlangten während der Stempelgesetzkrise die „Freiheitssöhne“ von New London, Connecticut, im Dezember 1765: „Dass, wann immer diese Grenzen [die von dem Volk gesetzt sind] überschritten sind, das Volk ein Recht hat, die Ausübung jener Autorität wieder zu übernehmen, die sie von Natur aus besaß, bevor sie sie an Individuen delegierte.“144

Auch andere forderten gleich den „Freiheitssöhnen“ Demokratie und politische Mitwirkung in ihren Kolonien. Unter ihnen waren die Levellers aus dem Hudson-Tal am bekanntesten, die ihre sozialen Anliegen in politische Forderungen umgewandelt hatten und sich dabei den vielsagenden Namen der Radikalen aus der englischen

142 Zit. n. Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic 1776 – 1787, New York: Norton, 1972, 163 – 164. 143 Vgl. Robert J. Dinkin, Voting in Revolutionary America: A Study of Elections in the Original Thirteen States, 1776 – 1789, Westport, Conn.: Greenwood Press, 1982, 3 – 43; ferner oben Kap. III. 5. 144 Connecticut Courant, 30. Dezember 1765, 4. Vgl. dazu auch das Kap. V. 2.

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Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts beigelegt hatten.145 Doch das bedeutendste Beispiel gaben die Radikalen in Pennsylvania. Anders als in den übrigen nordamerikanischen Städten, vielleicht mit Ausnahme von New York für einen kurzen Augenblick, war es dem Handwerkerausschuss (committee of mechanics) von Philadelphia gelungen, die Führung von Philadelphia und Pennsylvania überhaupt zu übernehmen und damit die lokale Elite auszuschalten unter ihrem Anführer John Dickinson, einem der reichsten Bürger der Stadt.146 Das Ergebnis dieses Umsturzes war die Verfassung von Pennsylvania vom September 1776, die bedeutendste radikaldemokratische Schöpfung der amerikanischen Revolution, die das demokratische Denken auf beiden Seiten des Atlantiks nachhaltig beeinflusste.147 Ihre demokratische Ausrichtung war für ihre Gegner ein Frontalangriff auf die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus und eine nicht hinnehmbare Provokation. „Von vielen Leuten wird sie als viel zu sehr auf der demokratischen Seite angesehen, denn Freiheit neigt ebenso dazu, zu Zuchtlosigkeit zu degenerieren, wie Macht zu Willkür zu werden.“148 Wenige Monate später brachte Rush seine ebenso heftige Gegnerschaft ohne Umschweife zum Ausdruck und prangerte „die Gefahr und die Torheit der Verfassung“ an, die „eine Pöbelherrschaft“ eingeführt habe, das absolute Gegenteil dessen, was der moderne Konstitutionalismus zum Ziel habe und was geboten sei, um Freiheit mit Tugend zu verbinden, damit Schrankenlosigkeit und Tyrannei vermieden würde.149 Rush, wie viele seiner Freunde in Philadelphia, bezeichnete sich in diesem Konflikt als „Republikaner“ gegen die „Konstitutionalisten“ – interessanterweise benutzte keine der beiden Parteien in dieser Auseinandersetzung das Wort „Demokrat“ –, und dieser Prinzipienstreit lag auch noch fast zehn Jahre später seinem berühmten Brief an Richard Price zugrunde, mit dem er die verbreitete Auffassung, die amerikanische Revolution sei beendet, scharf zurückwies. „Das ist so entfernt von der Tatsache, dass wir erst den ersten Akt des großen Dramas beendet haben. Wir haben unsere Regierungsformen geändert, aber es bleibt noch, eine Revolution in unseren Prinzipien, Meinungen und Sitten herbeizuführen, um sie den Regierungsformen anzupassen, die wir angenommen haben. Dies ist der schwierigste Teil der Aufgabe der Patrioten und Gesetzgeber unseres Landes.“150

145 Vgl. Edward Countryman, A People in Revolution. The American Revolution and Political Society in New York, 1760 – 1790, Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1981, 36 – 71, 252 – 279. 146 Vgl. Gary B. Nash, „Artisans and Politics in Eighteenth-Century Philadelphia“, in: The Origins of Anglo-American Radicalism, hrg. v. Margaret u. James Jacob, London: George Allen & Unwin, 1984, 162 – 182. 147 Vgl. dazu das nachfolgende Kap. V. 4. 148 Brief von Anthony Wayne, 24. September 1776, in: Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Lyman H. Butterfield, 2 Bde., Princeton: Princeton University Press, 1951, I, 114 – 115. 149 Briefe an Anthony Wayne, 19. Mai u. 18. Juni 1777 u. an John Adams, 8. August 1777 u. 12. Oktober 1779, ebd., 148 – 150, 152, 240. 150 Brief an Richard Price, 25. Mai 1786, ebd., 388.

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Diesem Ziel war man mit der Bundesverfassung von 1787 und ihrer Ratifizierung durch Pennsylvania und weiteren Staaten näher gekommen, so dass Rush zwar beruhigter war, doch im Frühjahr 1788 erneut seine Opposition zur pennsylvanischen Verfassung, „die [das Volk] offen der Gefahr einer reinen Demokratie aussetzt“, klar zum Ausdruck brachte, sei doch eine „reine Demokratie“ nichts anderes als „ein Vulkan, der in seinem Schoß das feurige Material seiner eigenen Zerstörung enthält“.151 Die Opposition der amerikanischen Elite gegen die Demokratie, reduziert auf „eine reine Demokratie“ und damit verkürzt auf das ausschließliche Verständnis von Demokratie als direkter Demokratie, war angesichts ihres Widerspruchs zu den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus offenkundig. Aber was bedeutete das, wenn man zugleich doch die Übernahme des Prinzips der Mischverfassung entsprechend dem englischen Vorbild betonte, deren integraler Bestandteil die Demokratie war? Schließlich waren weite Teile der amerikanischen Elite von den Vorzügen der Mischverfassung überzeugt, wie sie Aristoteles und Polybios dargelegt hatten, die ihnen eine Quelle der Inspiration waren,152 ebenso wie jüngst de Lolme. So hatte John Adams ganz in ihrem Sinn geschrieben, „dass es keine Herrschaft der Gesetze ohne Gleichgewicht geben kann, und dass es kein Gleichgewicht ohne drei Institutionen (orders) geben kann; und dass selbst diese drei Institutionen nie im Gleichgewicht sein können, solange nicht jede von ihnen in ihrem Bereich unabhängig und absolut ist“.153 Doch wie ließ sich diese Mischverfassung mit ihren drei Ständen auf ein Amerika ohne Monarchie und Aristokratie sowie eine verschmähte Demokratie übertragen? Wir sind im Zentrum des im Amerika der Revolution entstehenden modernen Konstitutionalismus angekommen und dem Kern des Problems, wie es um die Demokratie in einem System steht, das auf der Volkssouveränität basiert. Wiederum ist es John Adams, der die Lösung zu diesem neuartigen Problem in Amerika präsentierte. Im Grunde ging es um die unterschiedlichen staatlichen Zweige und den Gedanken des Gleichgewichts. Da es in Amerika keine unterschiedlichen gesellschaftlichen Stufen oder Stände gab, „bestehen unterschiedliche Institutionen als Ämter, nicht als Menschen; außerhalb der Ämter sind alle Menschen von derselben Art, von einem Blut“.154 John Adams und mit ihm die revolutionäre amerikanische Elite, die in der Regel für die Verfassungen dieser Zeit verantwortlich war, hatten in der Republik die unterschiedlichen alteuropäischen Stände in moderne Teile eines neuartigen Regierungssystems umgewandelt. In dieser abstrahierten Weise waren 151

Brief an David Ramsay, März oder April 1788, ebd., 454 – 455. Vgl. Mortimer N. S. Sellers, American Republicanism. Roman Ideology in the United States Constitution, New York: New York University Press, 1994, 46 – 49 u. passim. 153 John Adams, A Defense of the Constitutions of Government of the United States of America against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated 22nd March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: William Cobbett, 31797 (Ndr. Aalen: Scientia, 1979), I, 224 (die erste Auflage war 1787 – 88 in London erschienen). 154 Adams, Defense of the Constitutions, I, 93 (Hervorhebungen im Original). 152

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die Menschen, sprich Männer, was das Wahlrecht betraf, mehr oder weniger gleich, und der moderne Konstitutionalismus konnte daher im klassischen Sinne der antiken Theorie als eine Modifikation der Mischverfassung gemäß seinen Prinzipien gelten, jedoch nicht als Drehbuch für demokratische Verfassungen. James Madison hatte daher mit Nachdruck auf dem fundamentalen Unterschied zwischen einer republikanischen und einer demokratischen Verfassung bestanden, als er die Bundesverfassung von 1787 im berühmten Federalist Nr. 10 verteidigte. Die Demokratie biete keinen Schutz vor den menschlichen Leidenschaften und der Heftigkeit der Faktionen, die allein die Republik mit ihrem System der Repräsentation ausgleichen könne; allein sie, so die weitere – doch nicht einmal für Amerika zutreffende – Abstraktion, mache es „weniger wahrscheinlich, dass eine Mehrheit des Ganzen ein gemeinschaftliches Motiv habe, in die Rechte der anderen Bürger einzudringen“.155 Für die revolutionäre Elite, die für die amerikanischen Verfassungen dieser Epoche verantwortlich war mit der Ausnahme jener von Pennsylvania von 1776, waren die amerikanischen Verfassungen nicht demokratisch. Sie waren geradezu die Zurückweisung der Demokratie, die zu einer Art Schimpfwort geworden war.156 Gemäß ihren Gegnern waren die demokratischen Gesellschaften der 1790er Jahre, die sich von den Ideen der Französischen Revolution beflügelt sahen, die potentiellen Zerstörer des modernen Konstitutionalismus, wie er mit der Bundesverfassung auf nationaler Ebene eingeführt worden war. Entsprechend geißelte ein anonymer Autor unter dem bezeichnenden Namen Xanthippe die „Demokratische Gesellschaft“ von Kentucky mit den Worten „jener grauenhafte Ausguss von Verrat – jene verhasste Synagoge der Anarchie – jenes abscheuliche Konklave des Aufruhrs – jene schreckliche Kathedrale der Uneinigkeit – jener vergiftete Garten der Verschwörung – und jene höllische Schule der Rebellion und Opposition gegen jede geregelte und wohl ausgeglichene Autorität“.157 Darüber darf allerdings nicht vergessen werden, dass die amerikanischen Verfassungen, selbst wenn sie die Demokratie gemäß ihrem zeitgenössischen Verständnis zurückwiesen, nicht in einer Weise antidemokratisch waren wie die Verfassung des Jahres III. Als Mischverfassung konzipiert, war die Demokratie ein integraler Bestandteil dieser Verfassungen, außer nach dem Wort. Doch um die Amerikaner daran zu hindern, „abzugleiten in den Schlamm einer Demokratie, die

155 The Federalist, no. 10, in: Alexander Hamilton, John Jay u. James Madison, The Federalist, hrg. v. Jacob E. Cooke, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press, 1961, 64. 156 Im Gegensatz zu Lance Banning, „The Jeffersonians: First Principles“, in: Democrats and the American Idea. A Bicentennial Appraisal, hrg. v. Peter B. Kovler, Washington, D.C.: Center for National Policy Press, 1992, 21, war die Bevorzugung des Begriffs „republikanisch“ statt „demokratisch“ keine Frage des Geschmacks, sondern das Ergebnis der Zurückweisung der Demokratie. 157 The Virginia Chronicle & General Advertiser, 17. Juli 1794, 1.

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die Moral der Bürger verdirbt, bevor sie ihre Freiheiten verschlingt“,158 hatte man die Wortwahl gewechselt und sprach nunmehr von „volkstümlich (popular)“ statt von demokratisch. Das Repräsentantenhaus wurde „der volkstümliche Zweig der Regierung“ und nicht der demokratische Zweig. Offiziell existierte die Demokratie nicht in den amerikanischen Verfassungen, aber tatsächlich gab es nichts, was ihrer raschen Ausbreitung nach 1800 unter der Präsidentschaft Jeffersons mit seiner Rückkehr zu den „Ideen von 1776“ zumal im Norden der Vereinigten Staaten im Wege stand. Diese unaufhaltsame Entwicklung, die entscheidend vom wirtschaftlichen Aufschwung und der Ausdehnung nach Westen gefördert wurde, für Gordon Wood einer der Beweise für den Radikalismus der amerikanischen Revolution,159 hatte für Teile der revolutionären Elite von einst einen Beigeschmack. Noch 1812 bezeichnete Benjamin Rush die amerikanischen Demokraten – die inzwischen anders als in den 1790er Jahren im mainstream angekommen waren – als „französische Demokraten“, um damit den Einfluss der französischen Demokratie auf die amerikanische zum Ausdruck zu bringen.160 Betrachtet man den widersprüchlichen Weg der Demokratie im Amerika der Revolution und die inkonsistente Art und Weise, wie der moderne Konstitutionalismus hier in dieser Phase mit ihr umging, erscheint die These George Bancrofts von der amerikanischen Geschichte als Triumphzug der Demokratie als sehr spezifische Interpretation der Ära Andrew Jacksons in den 1830er Jahren. Nicht nur ein halbes Jahrhundert zuvor, wohl nicht einmal in den 1820er Jahren hätte jemand diese These mit gleicher Überzeugungskraft vertreten können. Selbst wenn die Demokratie ein integraler Bestandteil der Mischverfassung vor der amerikanischen Revolution war und der Triumphzug der Demokratie in Amerika seit der Präsidentschaft Thomas Jeffersons Anfang des 19. Jahrhunderts allmählich einsetzte, stieß das Wort Demokratie während der amerikanischen Revolution und in den 1790er Jahren auf verbreitete Ablehnung und wurde, zumal seit der Französischen Revolution in zunehmendem Maße als französisches Prinzip neu interpretiert. Angesichts dieser sehr unspezifischen amerikanischen Semantikgeschichte stellt sich die Frage, worin der konzeptionelle Unterschied zum französischen Demokratieverständnis verglichen mit dem der amerikanischen Verfassungen und ihrer Begründung auf Volkssouveränität und der Mitwirkung des Volkes an der Regierung lag?161 Allem Anschein nach waren die amerikanischen Revolutionäre zumal nach der konservativen Wende der späten 1770er Jahre, die nunmehr von einer Gefähr158

Fisher Ames zit. n. Gordon S. Wood, The Radicalism of the American Revolution, New York: Knopf, 1992, 230 – 231. 159 Vgl. ebd. 229 – 369. 160 Brief an John Adams, 21. August 1812, in: Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Butterfield, II, 1160 – 1161. 161 Zum Begriff „Demokratie“ in Frankreich in dieser Epoche, vgl. Pierre Rosanvallon, Le Sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris: Gallimard, 1992, 185 – 205; ders., „L’Histoire du mot démocratie à l’époque moderne“, in: Situation de la démocratie (La Pensée politique, no. 1), hrg. v. Marcel Gauchet u. a., Paris: Le Seuil, 1993, 11 – 29.

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dung der Freiheit durch die Legislative und nicht wie in der klassischen Theorie durch die Exekutive ausgingen, stärker von Montesquieu beeinflusst als ihre französischen Zeitgenossen, die diese Wende erst nach dem Thermidor, doch auch dann nicht auf Dauer vollzogen. Kaum eine zweite Feststellung hatte die amerikanische revolutionäre Elite so verinnerlicht wie Montesquieus Behauptung: „Kurzum, wie in den Demokratien das Volk so ziemlich das zu machen scheint, was es will, hat man die Freiheit in diese Regierungsform gelegt; und man hat die Macht des Volkes mit der Freiheit des Volkes verwechselt.“ Dies sei ein fataler Irrtum, denn: „Die politische Freiheit findet sich allein in den gemäßigten Regierungen.“162 Anders als in Amerika blieb das aufgeklärte Frankreich nicht bei dieser Definition stehen, wie der Artikel „Démocratie“ in der Encyclopédie verdeutlicht. Von Jaucourt geschrieben, gab er vor, eine Interpretation von Montesquieu zu sein, während er tatsächlich die Demokratie als Mittel der bürgerlichen Emanzipation darstellte, denn „die Demokratien heben den Geist empor, da sie den Weg der Ehre und des Ruhms weisen, der offener für alle Bürger, erreichbarer und weniger begrenzt ist als unter der Regierung weniger Personen und unter der Regierung eines Einzelnen“.163 Rousseau fügte dann noch hinzu, dass die Demokratie der Ausdruck des allgemeinen Willens sei.164 Mehr als Montesquieu hatten die Encyclopédie und Rousseau zur Popularisierung des Begriffs Demokratie im Frankreich dieser Epoche beigetragen und sie zum gesellschaftlich wie politisch anzustrebenden Ideal erhoben, und insbesondere Rousseau überzeugte die Zeitgenossen von dem natürlichen Gegensatz zwischen Demokratie und Aristokratie, ein Gegensatz, der der britischen Mischverfassung fremd war.165 Selbst in der amerikanischen Revolution könne man den Widerstreit zwischen Demokratie und Aristokratie erleben, worauf der eine oder andere französische Kommentator hinwies, ebenso wie in Frankreich, wo die Krise des Ancien régime den Beweis liefere, „dass die Demokratie genauso der Freund der Monarchie wie die Aristokratie ihr Feind ist“.166 Bis zur Revolution und damit ganz im Gegensatz zu Amerika war die Demokratie zum Sinnbild für bürgerlichen Aufstieg und für den Dritten Stand zum kollektiven Ausdruck in seiner Forderung von Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und Reform der Justiz, gleiche Bedingungen wie Aufstiegschancen in der Geschäfts- wie der politischen Ordnung. Im Gegensatz zu Amerika diskutierte man in Frankreich am Vorabend der Revolution nicht, wie sich Demokratie umsetzen ließe, sondern man begnügte sich mit der Feststellung der Nähe der Demokratie sowohl zur Monarchie 162 Montesquieu, De l’Esprit des lois, XI, 2 u. 4 (1748), in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 1951, II, 394, 395. 163 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste d’Alembert, 35 Bde., Paris: Briasson, 1751 – 1780, IV (1754), 816. 164 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social (1762), in: ders., Œuvres complètes, III, hrg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris: Gallimard, 1964, 380, 434. 165 Für weitere Details, vgl. meinen Artikel „Démocratie“, 64 – 71. 166 De la féodalité et de l’aristocratie française, ou Tableau des effets désastreux des droits féodaux, & réfutation des erreurs sur lesquelles la noblesse fonde ses prétentions, [1789], 34.

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wie zur Republik, die ohnehin mit Demokratie nahezu gleichgesetzt wurde, und ganz allgemein zum menschlichen Fortschritt. Im Gegenzug wurden die Stimmen, die ähnlich der amerikanischen Elite auf die menschlichen Leidenschaften und die Heftigkeit der Faktionen in der Demokratie hinwiesen und auf dem Grundsatz der Ausgeglichenheit beharrten, immer seltener und schließlich das Markenzeichen der Revolutionsgegner. Damit ist jene Gemengelage angerissen, in der laut einer sehr umstrittenen Äußerung von François Furet „die erste Erprobung der Demokratie“ begann.167 Zunächst war die Art und Weise, die Demokratie umzusetzen, wie kaum anders zu erwarten, sehr umstritten. Amerika hatte kein nachvollziehbares Beispiel geliefert, und Rousseau hatte geschrieben, dass die Souveränität nicht repräsentiert werden könne. Doch die Nationalversammlung bestand und sah ihre eigene Existenz als demokratisch legitimiert an. Für die entschieden radikaleren Revolutionäre, die sich in der Nachfolge Rousseaus als Anhänger der direkten Demokratie verstanden, wie etwa Marat, stellte die gegenwärtige Situation Frankreichs hingegen lediglich „eine angebliche Demokratie“ dar.168 Die Verteidiger der Konstituanten hielten dagegen, dass Rousseau sich geirrt habe, denn „die Schwierigkeit reduziert sich auf null angesichts einer repräsentierten Demokratie“, und diese sei ohne jede Frage eine „wirkliche Demokratie“.169 Der Gegensatz zwischen repräsentativer und direkter Demokratie prägte die ersten Jahre der Revolution.170 Einer der interessantesten Versuche, diesen Immobilismus zu überwinden und ein Konzept der Demokratie zu entwickeln, stammt von François Robert. Robert wies die klassische Theorie der Mischverfassung zurück und damit, ebenso wie Rousseau, die Auffassung, dass das britische Unterhaus die Demokratie repräsentiere. Es sei die Einteilung Frankreichs in Departements, Kantone, Städte und Sektionen, die alle Franzosen gleich gemacht habe. Daher würden alle Franzosen innerhalb von 48 Stunden die Beschlüsse der Nationalversammlung kennen, so dass sie im Rahmen eines imperativen Mandats ihren Deputierten Instruktionen erteilen könnten, was die Nationalversammlung in den Stand versetze, den Willen der Mehrheit auszuführen. „Um sich die Idee der Freiheit mit der Idee der repräsentativen Regierung vorzustellen, ist es erforderlich, dass die Repräsentanten nicht ihre persönliche Meinung als Gesetz abgeben, sondern allein den Willen aller oder der Mehrheit.“171 167

François Furet, Penser la Révolution française, Paris: Gallimard, 1978, 109. Ami du Peuple, Nr. 223 (28. Dezember 1790), 181; vgl. auch Nr. 276 (10. November 1790), 213. 169 Louis-Thomas-Hébert Lavicomterie de Saint-Samson, Du Peuple et des rois, Paris: Chez les Marchands des Nouveautés, 1790, 111, 119. 170 Für Alphonse Aulard war die Demokratie das herrschende Prinzip der Revolution, vgl. seine Histoire politique de la Révolution française: Origines et développement de la démocratie et de la république 1789 – 1804, Paris: Colin, 1926. 171 Pierre-François-Joseph Robert, Le Républicanisme adapté à la France, [Paris:] chez l’auteur, 1790, 93. 168

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Die Verfassung von 1791 führte weder diese Form der Demokratie ein noch eine Mischverfassung nach klassischer Auffassung, doch man mag bezweifeln, ob ihre beiden Pfeiler – König und Volk – sich tatsächlich im Gleichgewicht befanden. Zumal nach der Flucht nach Varennes war es offenkundig, dass die Monarchie keine Zukunft in Frankreich hatte. „Diese repräsentative Regierung existiert in allen Teilen der französischen Verfassung, außer in einer“, schrieb Brissot, und er fügte hinzu, dass die aus diesem Ereignis zu ziehenden notwendigen Konsequenzen nicht sein könne, „die alten Demokratien zu neuem Leben zu erwecken“, sondern zu akzeptieren, dass „alle die repräsentative Regierung wollen“.172 Brissot hatte unterstrichen, was in Frankreich zu diesem Zeitpunkt ohnehin niemand bestritt, dass es bei der zu verwirklichenden Demokratie nicht wirklich um ein Wiederaufleben antiker Modelle gehen könne. Doch ebenso wenig kam die klassische Theorie der Mischverfassung in Frage, die in Amerika wieder aufgelebt war. Die Französische Revolution suchte ihren eigenen Weg zur repräsentativen Demokratie zwischen der amerikanischen Version des modernen Konstitutionalismus und der direkten Demokratie kleiner und meist mehr oder weniger armer Staaten. Diese republikanische und repräsentative Demokratie gegen die Forderungen nach direkter Demokratie durchzusetzen, war die Aufgabe der Jakobiner in der zweiten Phase der Revolution nach dem 10. August 1792.173 Das Wahlrecht wurde auf alle männlichen Erwachsenen ausgedehnt, aber die weit wichtigere Frage war, wie der Missbrauch der Macht verhindert werden könne, worauf Marat nicht müde wurde hinzuweisen.174 Da man die Idee der Mischverfassung verworfen hatte, musste die Antwort in eine ganz andere Richtung gehen als in den amerikanischen Verfassungen. Die Jakobiner griffen direkt auf das Volk zurück, der Albtraum der revolutionären Elite Amerikas,175 und nahmen damit, wie im nachfolgenden Kap. V. 4. dargelegt, das Beispiel der pennsylvanischen Verfassung von 1776 auf. Die Freiheit des Volkes erforderte nach ihrer Überzeugung eine andere Sicherung, als sie die amerikanische Variante des modernen Konstitutionalismus vorgab. Die Verbindung der Brüderlichkeit, jenes Schlüsselbegriffs der jakobinischen Revolution, mit Sitten und bürgerlichen Tugenden, „ohne die die demokratische Regierung, deren Grundlage sie sind, nicht würde bestehen können“,176 war von übergeordneter Bedeutung. Der Weg zu diesem tugendhaften Volk schien eine radikaldemokratische Ordnung wirtschaftlicher und materieller Gleichheit mit einer Gesellschaft kleiner Eigentümer zu erfordern. „Damit eine Republik wahrhaft groß und mächtig ist, muss 172

Le Patriote François, Nr. 696 (5. Juli 1791), 20. Zum Problem der Demokratie im jakobinischen Diskurs, vgl. die profunde Analyse von Lucien Jaume, Le Discours jacobin et la démocratie, Paris: Fayard, 1989, bes. 257 – 403. 174 Vgl. z. B. seinen Ami du Peuple (2ème série), Nr. 116 (8. Februar 1793), 6. 175 Vgl. The Federalist, Nr. 51 (hrg. v. Cooke, 349). 176 Petition an den Nationalkonvent, 10. Juni 1794, in: Die Sansculotten von Paris. Dokumente zur Geschichte der Volksbewegung 1793 – 1794, hrg. v. Walter Markov u. Albert Soboul, Berlin: Akademie Verlag, 1957, 410. 173

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sie arm sein, müssen die Bürger nicht reich sein, aber in guten Verhältnissen leben. Wenn jeder ein Stück Boden haben wird, wird es weniger große Vermögen geben, die in einer demokratischen Republik immer gefährlich sind.“177 Statt eines einfachen Wiederauflebens des Traums der Gracchen war diese Idee nun Teil des modernen Prinzips der Volkssouveränität als grundlegende Legitimation des Staates, die Robespierre im Konvent klar zum Ausdruck brachte: „Die Demokratie ist ein Staat, wo das Volk, souverän, geleitet von Gesetzen, die sein Werk sind, alles das selbst macht, was es gut selbst machen kann und durch seine Delegierten alles, was es nicht selbst machen kann.“178 Damit haben wir die wichtigsten Elemente des jakobinischen demokratischen Denkens erwähnt, um die Abweichungen von den dominierenden amerikanischen Auffassungen nachvollziehen zu können. Für die Jakobiner bestand ein enger Zusammenhang zwischen Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und die Demokratie, so die Theorie, gründete sich im Volk, das dank seiner Souveränität allein in der Lage war, den Missbrauch der Macht zu vereiteln, wie es ähnlich viele Amerikaner 1776 gesehen hatten. Um diese Rolle wahrnehmen zu können, mussten die Menschen nicht nur gleich, sondern auch tugendhaft sein – man musste anders als in Amerika die Menschen an die Demokratie und an die Verfassung anpassen, nicht die Verfassung an die Menschen. Fundamentaler konnte der Unterschied zum amerikanischen Denken nicht sein, wie es zumal seit den 1780er Jahren die Oberhand gewonnen hatte. Für jakobinisches Denken, und das gilt zugleich für große Teile der europäischen Linken bis weit in das 20. Jahrhundert, war Demokratie eingebettet in den großen Zusammenhang des menschlichen Glücks und nicht des materiellen Erfolgs. Aber es umfasste ebenso die Rigidität der Gesetze, selbst wenn Robespierre von der „gemäßigten Demokratie“ sprach („diese Demokratie, die für das allgemeine Glück durch Gesetze gemäßigt ist“).179 Es war jener Rigorismus, der die Menschen glücklich und zu Brüdern machen sollte und für den gemäß dieser Definition die Feinde der Demokratie die „Feinde des Menschengeschlechts“ waren.180 Zu den Feinden dieser Demokratie gehörten nach dem Verständnis der Bergpartei ebenso die Anhänger der direkten Demokratie. Wenn „die Souveränität des Volkes notwendigerweise das Recht einschloss, seine ungetreuen Repräsentanten und alle öffentlichen Amtsträger, die seines Vertrauens unwürdig sind, zurückzurufen“,181 waren die 177

Questions agraires au temps de la Terreur, hrg. v. Georges Lefebvre, La Roche-sur-Yon: Potier, 21954, 145 (Dokument 16 vom 12. März 1794). 178 Zit. n. Max Frey, Les Transformations du vocabulaire français à l’époque de la Révolution, 1789 – 1800, Paris: Presses Universitaires de France, 1925, 138 – 139 (Rede vom 5. Februar 1794). 179 Maximilien Robespierre, Œuvres complètes, hrg. v. Albert Mathiez u. a., 10 Bde., Paris: Bureaux de la Revue historique de la Révolution française, 1910 – 67, IX, 557 (Rede vom 14. Juni 1793). 180 Journal du vrai Jacobin, Nr. 14 (7. Juni 1794). 181 Zit. n. Albert Soboul, Comprendre la Révolution. Problèmes politiques de la Révolution française (1789 – 1797), Paris: Maspero, 1981, 62 (Sektion des Observatoire, Anfang des Jahres II).

3. Demokratie und die Anfänge des modernen Konstitutionalismus

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Tage des 31. Mai und 2. Juni 1793 nur die logische Konsequenz. Aber à la longue zogen sie die Legitimation des demokratisch gewählten Konvents ebenso in Zweifel wie die jakobinische Demokratie überhaupt. Für die Jakobiner waren die Vorstellungen der Sansculotten unannehmbar, dass das souveräne Volk jederzeit das Recht habe, seine Feinde zu bestrafen, da diese Aktionen keinerlei gesetzliche Grenzen kannten. Daher haben die Jakobiner, wie bekannt, nach der Krise des Ventôse des Jahres II die Sansculotten systematisch entwaffnet, militärisch wie politisch, mit der Konsequenz, dass die Auseinandersetzung zwischen repräsentativer und direkter Demokratie in Frankreich nicht durch die Kraft der Argumente oder unwiderlegbare Erfahrung entschieden wurde, sondern durch die Macht des Staates. Die Analyse des Begriffs Demokratie in der Französischen Revolution bleibt unvollständig, ohne auf das Wort „Demokrat“ einzugehen, das als Neologismus in Frankreich spätestens 1789 als abwertender Begriff auftauchte. Verbal mochte man das Ideal der Demokratie begrüßen, doch für die Menschen des Ancien régime waren Demokraten verabscheuungswürdige Radikale, Unruhestifter, vielleicht aber auch nur Träumer. In der gesamten ersten Phase der Revolution blieb der Demokrat umstritten. Für die einen war er „ein Anhänger der Demokratie oder der Revolution, der das französische Volk wieder in seine Rechte eingesetzt hat,“182 für die anderen das Synonym eines Demagogen.183 Die grundlegende Änderung trat mit der jakobinischen Republik ein. Jetzt galten alle Unterstützer der Revolution als mehr oder weniger leidenschaftliche Demokraten. Aber das Einvernehmen hielt nicht lange vor, und die Begriffe „Demokratie“ und „Demokrat“ erzielten nicht auf Dauer die soziopolitische Akzeptanz durch die große Mehrheit. Anders als in Amerika blieben es durch die Revolution geprägte Begriffe, die zudem häufig mit der Jakobinerherrschaft in Verbindung gebracht wurden. Anstelle von Symbolen der nationalen Einheit wurde der Demokrat nach dem Thermidor mehr und mehr soziopolitisch marginalisiert, was noch durch die Reaktion auf die Anhänger Babeufs und ihr Streben nach der sozialistischen Demokratie mit der Gleichsetzung von Demokratie und materieller Gleichheit unterstrichen wurde.184 Ungeachtet der Einwände von Babeuf wandelte sich die Bedeutung von „Demokrat“ gegen Ende der 1790er Jahre wieder zu dem Stereotyp des Beginns der Revolution als einem negativ konnotierten Ausdruck.185 Der semantische Niedergang des „Demokraten“ geht einher mit jenem der „Demokratie“ in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre. Die Thermidorianer waren 182 P. N. Gautier, Dictionnaire de la Constitution et du gouvernement français, Paris: Guillaume, 1791, 149. 183 Vgl. den Artikel „Démocrate ou Démagogue“, in: [Adrien Quentin Buée,] Nouveau Dictionnaire, pour servir à l’intelligence des termes mis en vogue par la Révolution, dédié aux amis de la religion, du roi et du sens commun, Paris: Crapart, 1792, 36. 184 Vgl. Le Tribun du peuple, Nr. 35 (7. November 1795), 79, 101, Nr. 38 (5. Januar 1796), 175, Nr. 42 (13. April 1796), 295 – 296. 185 Vgl. Dippel, „Démocratie“, 87 – 89.

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stolz darauf, „die Geißel der grenzenlosen Demokratie“ überwunden zu haben,186 und wenn im Sommer 1799 die Verteidiger der Demokratie, so wenige es auch gewesen sein mögen, trotzig ausriefen „Demokratie oder Tod!“,187 war es im Grunde nichts anderes als das Eingeständnis der Niederlage, bereits vor dem Brumaire. Zusammenfassend wird man feststellen müssen, dass die amerikanische Revolution zur Theorie der Demokratie nahezu nichts beigetragen hat, während der Anteil der Französischen Revolution an der Praxis der Demokratie im Wesentlichen zu vernachlässigen ist. Die amerikanischen Revolutionäre, abgesehen von den Radikalen, haben nicht von Demokratie gesprochen, aber was sie geschaffen haben, war eine Variante des modernen Konstitutionalismus, die offen für die Demokratie war, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten ohne Unruhen oder Umstürze durchsetzen konnte. Im Gegensatz dazu hat das Frankreich der Revolution drei Modelle der Demokratie hervorgebracht, die republikanisch-repräsentative Demokratie, die direkte Demokratie der Sansculotten und die egalitär-sozialistische Demokratie der Babouvisten, von denen in der Theorie allein die erste mit den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Einklang zu bringen gewesen wäre. Der theoretische Reichtum der Französischen Revolution hatte im Gegenzug das fehlende Einvernehmen in der Umsetzung zur Folge, anders als in der sozial wesentlich begrenzteren und größere Gleichheit aufweisenden Situation Amerikas, wo es der politischen Elite, dort wo sie fest verankert war, in der Regel bis zum Bürgerkrieg – im Süden mit kurzer Unterbrechung auch weit darüber hinaus – gelang, die politischen Zügel in der Hand zu behalten. Daher war es den Amerikanern zumal nach ihren jahrelangen Diskussionen über die britische Verfassung, wie im Kap. III. 1. dargelegt, sehr viel leichter möglich, ihren Weg zum modernen Konstitutionalismus mit Hilfe einer Modifikation des klassischen Modells der Mischverfassung einzuschlagen, während sich die Franzosen, ohne historische Anknüpfungspunkte, nach neuen Modellen umsehen mussten, wobei ihnen die pennsylvanische Verfassung von 1776 eine kongeniale Hilfe darstellte. Diese politische Modernität des französischen demokratischen Denkens wiederum hatten Thomas Jefferson und mit ihm viele Amerikaner in den 1790er Jahren und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Zeit beeinflusst, als in Frankreich selbst die Demokratie bereits zunehmend mit den in Ungnade gefallenen Jakobinern assoziiert wurde. Da in Frankreich der jakobinische Radikalismus in wachsendem Maße mit Demokratie und Terror gleichgesetzt wurde, hatte die Demokratie für lange Zeit innerhalb des Bürgertums ihre Bedeutung verloren, wo man sich erneut auf die Unterscheidung Montesquieus zwischen Liberalismus und Demokratie zurückbesann. In dem Maße, in dem es der Französischen Revolution nicht gelungen war, den Begriff der Demokratie in ein tragfähiges Konzept des modernen Konstitutionalismus für die große Mehrheit im Lande überzeugend einzubinden, gab die Bourgeoisie in ihrer Mehrheit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einem montesquieuschen Liberalismus den Vorzug 186 187

La Quotidienne, Nr. 176 (13. August 1795), 3. Le Démocrate ou le défenseur des principes, Nr. 29 (31. August 1799), 3.

4. Die Konstitutionalisierung des bürgerlichen Radikalismus

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gegenüber der Demokratie, womit zugleich die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Frankreich bis 1848 politisch verworfen waren, während in der gleichen Zeit die durch das revolutionäre Frankreich weitgehend beeinflusste Demokratie in Amerika zu ihrer nationbildenden Bedeutung aufstieg und nunmehr geradezu selbstverständlich als integraler Bestandteil des modernen Konstitutionalismus angesehen wurde.

4. Die Konstitutionalisierung des bürgerlichen Radikalismus – Von der pennsylvanischen Verfassung von 1776 zur jakobinischen Verfassung von 1793188 Keiner, der sich unter einer übergreifenden Perspektive mit der amerikanischen und der Französischen Revolution beschäftigt, kann sich der Frage nach dem Verbindenden bzw. dem Trennenden zwischen beiden Ereignissen entziehen. Ob man nun einen ideologischen, einen strukturellen, einen revolutionstheoretischen oder welchen Ansatz auch immer wählt, eingedenk der verbreiteten Auffassung, dass die historische Wirksamkeit beider Revolutionen bis in unsere Tage in erheblichem Maße in ihren verfassungsrechtlichen Errungenschaften zu erblicken ist, muss es umso mehr erstaunen, dass bis heute keine vergleichende Untersuchung über die Verfassungen beider Revolutionen vorliegt. Die Gründe für das Fehlen einer derartigen Analyse mögen vordergründig einleuchtend erscheinen, hat doch der unter nationalistischer Perspektive verzerrte Jellinek-Boutmy-Streit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinreichend deutlich gemacht, dass die Ausprägungen des modernen Konstitutionalismus in beiden Revolutionen signifikante Abweichungen voneinander aufweisen, wie die Kapitel dieses Teils V immer wieder zum Ausdruck bringen. Als gelte es dieses noch zu unterstreichen, finden wir uns auf der einen Seite mit der inzwischen 230 Jahre alten amerikanischen Bundesverfassung von 1787 konfrontiert, während auf der anderen Seite bereits detailliertere historische und verfassungsgeschichtliche Kenntnisse erforderlich scheinen, um wenigstens angeben zu können, wie viele Verfassungen Frankreich seit 1789 bislang erlebt hat. Welcher Sinn kann dann aber in einem verfassungsrechtlichen Vergleich beider Revolutionen, zwischen dem scheinbar Immerwährenden und dem nur allzu ephemer Erscheinenden liegen? Der Disput um den Ursprung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 kann heute als erledigt gelten, doch das Problem einer verfassungsrechtlichen komparatistischen Betrachtung beider Revolutionen ist damit keineswegs aus der Welt. Nicht die praktische Geltungsdauer einer Verfassung entscheidet über ihre Bedeutung, sondern ihr Inhalt und das, was man gerne den 188 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Aux origines du radicalisme bourgeois. De la constitution de Pennsylvanie de 1776 à la constitution jacobine de 1793“, in: Francia, 16/2 (1989), 61 – 73.

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„Geist“ einer Verfassung nennt. Unter den Verfassungshistorikern und Forschern der Französischen Revolution herrscht daher weitgehende Einmütigkeit darüber, dass die jakobinische Verfassung von 1793 die bedeutendste konstitutionelle Schöpfung der Französischen Revolution verkörpert. Die Gründe für diese Einschätzung liegen auf der Hand. Von allen französischen Verfassungen vor wie nach ihr gilt sie als die demokratischste, ja geradezu – zumal aus der Retrospektive nach dem 9. Thermidor des Jahres II – als „die Bibel der Demokratie“, als – wie Kropotkin geschrieben hat – „das Credo der Demokratie“ oder – in den Worten Jean-Jacques Chevalliers – als „die Magna Carta der Republik“.189 Während laut Alphonse Aulard der radikaldemokratische Charakter der Verfassung durch die Verwirklichung der Volkssouveränität auf der Basis des allgemeinen Wahlrechts und durch die direkte Mitwirkung des Volkes am Gesetzgebungsprozess mittels der Primärversammlungen ausgedrückt ist – die „bedeutendste Neuerung (Innovazione importantissima)“ der Verfassung laut Armando Saitta –, liegen ihre „wesentlichen und originären Züge“ nach Überzeugung des bedeutenden französischen Verfassungshistorikers Maurice Deslandres einerseits in der Verwirklichung des „demokratischen Prinzips“ mit dem allgemeinen und direkten Wahlrecht, der jährlichen Wahl und der direkten Mitwirkung des Volkes am Gesetzgebungsprozess sowie bei Verfassungsänderungen und andererseits in der weitgehenden Unterdrückung des Prinzips der Gewaltentrennung mit einer Legislative als eigentlichem Träger der höchsten Macht im Staat, die die Mitglieder des „Exekutivrats (Conseil excutif)“ – bereits der Name war für ihn Ausdruck von Originalität – bei jährlicher Teilerneuerung wählen.190 Dieses „Beispiel und Modell für die Demokraten“191 hat nicht nur die französischen Verfassungsgeber von 1848 ebenso wie jene von 1946 inspiriert, es verweist, obwohl von den französischen Verfassungshistorikern bislang kaum beachtet, mit aller Deutlichkeit zurück auf die Verfassung von Pennsylvania von 1776, die sich mit gleichem Recht mit den Attributen der Verfassung von 1793 charakterisieren ließe. Wenn diese direkten Übereinstimmungen auch im Bereich der beiden Verfassungen vorangestellten Menschenrechtserklärungen angesichts der generellen Verbreitung allgemeiner Menschenrechtsvorstellungen begreiflicherweise eher gering erscheinen, so ist doch nicht zu übersehen, dass die Art. 5, 7, 25, 28, 29, 30 und 32 der jakobinischen Verfassung deutlich an die Abs. 7, 12, 4, 5, 16 und 6 des ersten Kapitels 189 Alphonse Aulard, „La Constitution de 1793“, in: Révolution française, 37 (1899), 6; Peter Kropotkin, Die Französische Revolution 1789 – 1793, übers. u. hrg. v. Gustav Landauer, Leipzig: Thomas, o. J., 439; Jean-Jacques Chevallier, Histoire des Institutions et des régimes politiques de la France de 1789 à nos jours, Paris: Dalloz, 71985, 72. Vgl. aber auch Jacques Ellul, Histoire des Institutions, V, Paris: Presses Universitaires de France, 61969, 89: „Diese Verfassung ist die demokratischste, die Frankreich je gekannt hat, aber sie ist nicht liberal.“ 190 Aulard, „Constitution de 1793“, 48; Maurice Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France de 1789 à 1870, 3 Bde., Paris: Armand Colin, 1932 – 37, I, 278 – 80; Armando Saitta, Costituenti e Costituzioni della Francia rivoluzionaria e liberale (1789 – 1875), Milano: Giuffrè, 1975, 409. 191 Jacques Godechot, in: ders. (Hrg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris: Flammarion, 1979, 76.

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der pennsylvanischen Verfassung und an Passagen aus deren Vorrede erinnern, während die französischen Art. 22 und 24 auf Bestimmungen der Abs. 44 bzw. 22 aus dem zweiten Kapitel der pennsylvanischen Verfassung verweisen. In diesen Fällen handelte es sich um allgemeine Bestimmungen, wie sie sich auch in anderen Verfassungen finden, ohne dass eine direkte Verbindungslinie zwischen der pennsylvanischen und der jakobinischen Verfassung daraus abzuleiten wäre. Doch, was im ersten Fall als „Unzweifelhaftes, unveräußerliches und unverletzliches Recht (Indubitable, Unalienable and Indefeasible right)“ galt, war im späteren Fall „unteilbar, unantastbar und unveräußerlich (indivisible, imprescriptible et inaliénable)“.192 Sehr viel substantieller werden die Übereinstimmungen zwischen beiden Verfassungen im Bereich dessen, was in der einen „Plan oder Rahmen der Regierung“, in der anderen „Verfassungsakt“ heißt. So sind die Parallelen zwischen den jakobinischen Bestimmungen über die „Urversammlungen“ bzw. die „Nationalrepräsentation“ (Art. 11 – 36) und den Abs. 5 – 9, 17 und 18 im zweiten Kapitel der pennsylvanischen Verfassung nicht zu übersehen. Das gilt sowohl für die Verankerung der Volkssouveränität als auch für die jährlichen Wahlen zur Legislativen und für die Gleichförmigkeit der Repräsentation. Die respektiven Bestimmungen über die Legislative, „Repräsentantenhaus“ bzw. „gesetzgebender Körper“, weisen ebenfalls bemerkenswerte Analogien auf. Entgegen der gängigen Repräsentationslehre bestanden beide Legislativen allein aus einer Kammer, deren Sitzungsperiode während der Legislaturperiode nicht begrenzt war. Beide tagten öffentlich, und von beiden sollten die Sitzungsprotokolle veröffentlicht werden (II, 2, 13, 14 bzw. Art. 39, 45, 46). Noch bedeutsamer erscheinen die Übereinstimmungen bezüglich der Entstehung von Gesetzen, bei der beide Verfassungen grundlegend von den konstitutionellen Praktiken ihrer wie nachfolgender Zeiten abwichen. Während die pennsylvanische Verfassung in Abs. 15 (2. Kap.) verfügt hatte, dass um einer gründlichen und von momentanen und persönlichen Stimmungen freien Beratung willen „sollen alle Bills von einer öffentlichen Art zur Erwägung des Volks gedruckt werden, ehe sie in der General-Assembly das letztemal zum Durchreden und Verbessern gelesen werden“.193 um damit – so wird man analog zu den Bestimmungen des Abs. 47 schließen müssen – dem Volk die Möglichkeit zu geben, direkt auf den Gesetzgebungsprozess einzuwirken, legten die Art. 56 – 60 der jakobinischen Verfassung fest, dass ebenfalls 192 Kap. I, Abs. 5 der pennsylvanischen Verfassung von 1776, zit. n. Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 322; Art. 25 der Déclaration des droits de l’homme et du Citoyen der jakobinischen Verfassung, zit. n. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 96. 193 Kurze Anzeigen von dem Verfahren der Convention des Staats von Pennsylvanien, Gehalten zu Philadelphia, den Fünfzehnten Tag July, 1776, Philadelphia: Henrich Miller, 1776, 58 – 66, Kap. II, Abs. 15, abgedruckt in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 330.

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hinreichend Zeit für eine abwägende Gesetzesberatung vorhanden sein sollte und alle Gesetzesvorschläge gedruckt und an die Gemeinden versandt werden sollten, damit das Volk in einer gesetzten Frist die Möglichkeit des Einspruches gegen das geplante Gesetz habe. Unabhängig von der Frage, in welchem der Fälle das Volk über größere Möglichkeiten der direkten Einwirkung auf den Gesetzgebungsprozess verfügte, wird man feststellen müssen, dass beide Bestimmungen im amerikanischen wie französischen Verfassungsrecht gleichermaßen singulär sind. Die Parallelen scheinen sogar noch einen Schritt weiterzugeben, indem selbst das pennsylvanische Verfahren offensichtlich nicht für alle Gesetze bestimmt war, sondern nur für „Bills von einer öffentlichen Art“. Die dadurch indirekt eingeführte Unterscheidung zwischen Gesetzen erster und zweiter Kategorie, d. h. zwischen „öffentlichen Bills“, also Gesetzesvorschlägen genereller Art, und „privaten Bills“, Gesetzesvorschlägen allein von lokaler oder personenbezogener Bedeutung, findet sich in abgewandelter und inhaltlich angereicherter Form in Art. 54 und 55 der jakobinischen Verfassung wieder, wo zwischen „Gesetzen“ und „Verordnungen“ unterschieden wird – eine Unterscheidung, die ja bekanntlich von der Verfassung der 5. Republik erneut aufgegriffen wurde. Muss schon in der Frage des Zustandekommens von Gesetzen der originäre Charakter der jakobinischen Verfassung differenzierter beurteilt werden, als dies in den gängigen Verfassungsgeschichten gemeinhin der Fall ist, so gilt dies zumindest in ebenso großem Maße für einen weiteren dort ebenfalls als wesentlich angesehenen Bereich. Die von Deslandres als originell verstandene Bezeichnung der Exekutive in der jakobinischen Verfassung als „Exekutivrat (Conseil exécutif)“ erscheint zunächst als nichts anderes als das, was in der pennsylvanischen Verfassung Executive Council hieß. In Pennsylvania bestand dieser „Exekutivrat“ aus zwölf Mitgliedern, die von den Wählern der Kreise jeweils direkt auf drei Jahre gewählt wurden (II, 19). Der jakobinische „Exekutivrat“ sollte 24 Mitglieder umfassen, die von den Départements nominiert und vom gesetzgebenden Körper auf zwei Jahre gewählt wurden bei jährlicher Halberneuerung (Art. 62 – 64). Führte der „Executive Council“, dessen Präsident und Vizepräsident jährlich von der Legislative und dem Council gewählt wurden, in Pennsylvania die Regierungsgeschäfte, war der jakobinische „Conseil exécutif“ lediglich für die Außenpolitik sowie die Führung und Überwachung der Verwaltung nach Maßgabe der Gesetze und Dekrete der Legislativen zuständig, deren Aufgaben durch von ihm nominierte und der Legislativen eingesetzte „Hauptangestellten der allgemeinen Verwaltung der Republik“ ausgeführt wurden (II, 19, 20 bzw. Art. 65 – 68). In beiden Verfassungen verkörperte mithin eine Legislative, auf die das Volk mittels des allgemeinen Wahlrechts, der jährlichen Wahlen und des Gesetzgebungsprozesses vielfältige direkte Einflussmöglichkeiten hatte, das entscheidende Machtgremium, gegenüber dem die Exekutive lediglich ein abhängiges Vollzugsorgan ohne wirkliche politische Eigenständigkeit darstellte. Die klassischen Regeln der Gewaltentrennung waren mithin in beiden Verfassungen zugunsten einer unbehinderten Volkssouveränität weitgehend außer Kraft gesetzt. Beide Verfassungen

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kannten daher auch keine wirklich unabhängige Judikative als eigenständige Gewalt (vgl. II, 22 – 26 bzw. Art. 86 – 95), und beide Verfassungen sahen eine weitestgehende und letztlich entscheidende Mitwirkung des Volkes bei Verfassungsänderungen vor, wobei die pennsylvanische Verfassung einen „Zensorenrat“ plus Konvent als zusätzliche Organe, die jakobinische Verfassung einen für diesen Fall zu bildende „Nationalkonvent“ kannte (II, 9, 47 bzw. Art. 99 – 117). Beide Verfassungen basieren schließlich nicht auf dem modernen Konstitutionalismus festgeschriebenen Grundsatz der Repräsentation, sondern auf einer eigentümlichen Mischform, die neben repräsentativen Elementen Prinzipien der direkten Demokratie in die Verfassungskonstruktion in einer Weise hineinnahm, wie sie keine zweite Verfassung dieser Zeit in Amerika oder Frankreich aufwies.194 Sieht man einmal von Fragen eher sekundärer Bedeutung ab, wird man nicht umhinkönnen, eine weitgehende Identität zwischen beiden Verfassungen in ihren zentralen, als radikaldemokratisch einzustufenden Bestimmungen feststellen zu müssen. Doch was in Europa zum „Modell für die Demokraten“ wurde, galt und gilt – bezogen auf die pennsylvanische Verfassung von 1776 – jenseits des Atlantiks geradezu als der Sündenfall wider den Geist des sich in Amerika herausbildenden modernen Konstitutionalismus. So interessant diese auf Grund nationaler Traditionen diametral entgegengesetzte Bewertung gleichartiger Phänomene auch sein mag, muss doch zunächst die Frage im Vordergrund stehen, ob diese konstatierten Analogien in der Substanz beider Verfassungen reiner Zufall sind oder ob ein wie immer gearteter historischer Zusammenhang zwischen ihnen vorliegt. War die pennsylvanische Verfassung von 1776 im Frankreich der Revolution bekannt, und wie konnten gegebenenfalls ihre Grundgedanken in das französische Verfassungsdenken und konkret in die Entstehung der jakobinischen Verfassung 1793 einfließen? Diese Frage scheint umso wichtiger, als der im französischen Kontext gemeinhin allein gegebene pauschale Hinweis auf Rousseau für sich alleine nicht ausreichend ist, da er weder die Parallelen zwischen der pennsylvanischen und der jakobinischen Verfassung zu erklären vermag, noch zur Kenntnis nimmt, dass die repräsentativen Elemente in der jakobinischen Verfassung im eindeutigen Widerspruch zu Rousseau stehen und lediglich die von den Jakobinern verworfenen Verfassungsvorstellungen der Sansculotten in der kompromisslosen Nachfolge Rousseaus stehen. Angesichts der aufklärerischen Begeisterung in Europa für die amerikanische Revolution und ihre Ideale wurde Benjamin Franklin, der im Sommer 1776 dem Verfassungskonvent in Philadelphia als Präsident vorgesessen hatte, bei seiner Ankunft in Frankreich ohne Umschweife als eigentlicher Vater der pennsylvanischen Verfassung gefeiert, die „so wunderbar ausgestattet ist mit wahrer Weisheit und 194 Da es sich bei der Verfassung von Vermont von 1777 praktisch um eine Adaption der pennsylvanischen Verfassung von 1776 handelt, wird sie in diesem Zusammenhang nicht als eigenständige konstitutionelle Schöpfung behandelt. Auf die girondistische Verfassung von 1793 wird weiter unten noch einzugehen sein.

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Liberalität“ sei.195 Obwohl Franklins Rolle beim Zustandekommen dieser Verfassung heute von der Forschung wesentlich zurückhaltender beurteilt wird,196 hat dieser in Frankreich nach außen – sehr zum Ärger von John Adams u. a. – gerne die Rolle des amerikanischen Solon gespielt. Kaum in Paris angekommen, wurde er daher sogleich um die Texte der amerikanischen Verfassungen angegangen, die eilends ins Französische übersetzt wurden,197 und schon wenige Monate später wusste Franklin zu berichten, dass ganz Europa voller Begeisterung die Übersetzungen der verschiedenen amerikanischen Verfassungen lese.198 Wie viele französischsprachige Ausgaben mit Texten amerikanischer Verfassungen und speziell der Pennsylvanias von 1776 tatsächlich zwischen 1777 und 1793 erschienen sind, ist nie exakt ermittelt worden; es dürften jedoch weit über ein Dutzend sein.199 Dass dabei die Verfassung von Pennsylvania besondere Publizität fand, ist mehrfach belegt und zumindest teilweise indirekt auf Franklin zurückzuführen. Allein in den Jahren 1777/78 sind in Paris mindestens vier Ausgaben von Franklins Science du bonhomme Richard erschienen, in denen regelmäßig der Wortlaut der pennsylvanischen Verfassung in französischer Übersetzung abgedruckt war. Dieses Werk ist offensichtlich die gesamten 1780er und 1790er Jahre hindurch in Frankreich immer wieder aufgelegt worden200 und dürfte mithin erheblich zur Verbreitung der Kenntnis der pennsylvanischen Verfassung in Frankreich beigetragen haben. Über diese biographischen wie bibliographischen Indizien hinausgehend, verfügen wir über weitere Anhaltspunkte hinsichtlich der Rezeption der pennsylvanischen Verfassung im vorrevolutionären wie revolutionären Frankreich, wobei Turgot, La Rochefoucauld, d’Aubertueil, Mably u. a. Erwähnung verdienen.201 Besonders hingewiesen werden muss jedoch in diesem Zusammenhang auf Jacques-Pierre Brissot, einen der führenden nachmaligen Revolutionäre und Gegenspieler Robespierres, der in der ersten Hälfte der 1780er Jahre seine weit verbreitete Bibliothèque du législateur herausgab. Obwohl konzipiert als Sammlung zum Strafrecht und 195 Brief von Samuel Wharton, 21. Dez. 1776, in: Leonard W. Labaree u. a. (Hrgg.), The Papers of Benjamin Franklin, Bd. 1 ff., New Haven: Yale University Press, 1959 ff. (zuletzt Bd. 43, 2018), XXIII, 65. 196 Vgl. die „Editorial Notes on the Pennsylvania Constitutional Convention“, ebd., XXII, 512 – 15, XXIII, 365 – 66. 197 Brief von La Rochefoucauld, vor 24. Febr. 1777, ebd., XXIII, 375 – 76. 198 Brief an Samuel Cooper, 1. Mai 1777, ebd., XXIV, 6. 199 Vgl. u. a. Henry E. Bourne, „American Constitutional Precedents in the French National Assembly“, in: American Historical Review, 8 (1902/03), 466 – 86; Durand Echeverria, Mirage in the West. A History of the French Image of American Society to 1815, 1957, Ndr. Princeton: Princeton University Press, 1968, 71. 200 Vgl. Bernard Fay, Bibliographie critique des ouvrages français relatifs aux Etats-Unis 1770 – 1800, Paris: Champion, 1925, 10. 201 Vgl. – zumal bzgl. d’Auberteuil, Démeunier, Mably u. a. – J. Paul Selsam u. Joseph G. Rayback, „French Comment on the Pennsylvania Constitution of 1776“, in: Pennsylvania Magazine of History and Biography, 76 (1952), 311 – 25.

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seiner Reform in Frankreich – eine fundamentale Forderung der französischen Aufklärung –, widmete Brissot im 3. Band 70 Seiten der pennsylvanischen Verfassung, die er nach einer 25seitigen Einleitung vollständig in französischer Übersetzung abdruckte. Die Gründe für die Aufnahme dieser Verfassung in seine Sammlung – trotz einer gegenteiligen Absichtserklärung hat sich Brissot in seiner Bibliothèque mit keiner weiteren amerikanischen Verfassung beschäftigt – fasste er in der Feststellung zusammen: „Ich betrachte das Gesetzbuch von Pennsylvania als das Modell einer ausgezeichneten Regierung.“202 Laut Brissot sprach aus der Verfassung „die Sprache der Vernunft“ und ihr grundlegendes Prinzip, durch das sie sich von allen übrigen Verfassungen unterscheide, war das „Glück des Einzelnen“,203 in dem St. Just das Movens der jakobinischen Republik entsprechend dem Art. 1 der jakobinischen Verfassung sah: „Das Ziel der Gesellschaft ist das gemeinsame Glück.“204 Nach Brissots Überzeugung war die pennsylvanische Verfassung nicht allein Ausdruck, dass in Amerika Philosophen und Politiker existierten, sondern auch dass das Land in der theoretischen Begründung von Politik Europa weit voraus sei. Was die Alte Welt in diesem Punkt von der Neuen lernen könne, sei gerade die Verankerung von Politik und Regierung auf der unmittelbaren Mitwirkung des Volkes. „Ein Artikel erlaubt sogar allen Bürgern, die Gesetzesprojekte zu prüfen und zu diskutieren, frei ihre Meinung darzulegen, bevor das Gesetz beschlossen wird. Ist das nicht der sicherste Weg, Amtsträger zu zwingen, gerecht zu sein und Gesetzgeber, republikanisch zu sein?“

Allein dank dieser überwachenden Funktion des souveränen Volkes, das sich selbst regiere und dessen Bürger über das gleiche Wahlrecht verfügten, sei der Despotismus und die Macht des Einzelnen auf immer gebannt. „Man zentriert die Macht, Gesetze zu machen in einer allgemeinen Versammlung von Repräsentanten und übergibt das Recht, sie auszuführen, einem absetzbaren Rat.“205 Die Grundüberzeugungen der späteren jakobinischen Demokratie sind damit vorformuliert. Die Begeisterung Brissots für die Verfassung von Pennsylvania – keine andere Konstitution war nach seiner Überzeugung je der Vollkommenheit so nahe gekommen wie diese206 –, deren fundamentale Prinzipien er durchaus richtig erkannt hatte, blieb nicht ohne Folgen. Zehn Jahre später zu Zeiten der Convention – bereits 202 Jacques-Pierre Brissot, Bibliothèque philosophique du législateur, du politique, du jurisconsulte, 10 Bde., Berlin – Paris: Desauges, 1782 – 85, III (1783), 234, vgl. auch 258 sowie insges. 231 – 302. Brissots Einleitung „Réflexions sur le code de Pensylvanie“, ebd., 233 – 58, ist in englischer Übersetzung herausgebracht worden von J. Paul Selsam, „Brissot de Warville on the Pennsylvania Constitution of 1776“, in: Pennsylvania Magazine of History and Biography, 72 (1948), 25 – 43. 203 Brissot, Bibliothèque philosophique, III, 237, 238, 239, 244. 204 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 95. 205 Brissot, Bibliothèque philosophique, III, 244, 249, vgl. auch 246, 250 – 53. 206 Ebd., III, 258.

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der Name mochte an gleichnamige amerikanische Institutionen erinnern207 – gehörte Brissot jenem neunköpfigen Verfassungsausschuss an, der nach Abschaffung der Monarchie eine neue, republikanische Verfassung ausarbeiten sollte. Brissot war nicht das einzige Ausschussmitglied, das die Grundzüge der pennsylvanischen Verfassung von 1776 in diesem Komitee zur Geltung bringen konnte. Sein Ausschusskollege Thomas Paine dürfte ihn in diesem Punkt gewiss unterstützt haben, denn Paine hatte die pennsylvanischen Verfassungsberatungen im Sommer 1776 nicht nur aus nächster Nähe verfolgt, sondern auch zumindest indirekt beeinflusst.208 Von einem dritten dürfte schließlich der entscheidende Einfluss ausgegangen sein, dem Marquis de Condorcet, dem Freund und Vertrauten Paines, von dem einer seiner Biographen, Frank Alengry, behauptet, er sei „vernarrt“ in die pennsylvanische Verfassung von 1776 gewesen. Noch in seinem Nachruf auf Franklin hatte Condorcet sie wegen ihres, verglichen mit den übrigen amerikanischen Verfassungen, größeren Maßes an Gleichheit sowie wegen des Prinzips der Einkammerlegislative gepriesen.209 Dieses Einkammersystem, das „Einheitsprinzip der Entscheidung“, wie es laut Condorcet in diesem Teil der Vereinigten Staaten praktiziert werde, war nach seiner Überzeugung unerlässlich für ein soziales System, das nicht von Revolution zu Revolution taumeln, sondern zur nationalen Einheit auf der Basis einer völligen Gleichheit führen wolle. Doch wie könnten die gleichen Maximen wahr und falsch zugleich sein, „wahr in Amerika“, aber „falsch in Europa“?210 Die radikaldemo207 So etwa auch Albert Mathiez, „La Constitution de 1793“, in: Annales historiques de la Révolution française, 5 (1928), 497; Godechot, Constitutions, 69. Vgl. dazu jedoch ausführlich oben Kap. IV. 2. 208 Vgl. dazu u. a. J. Paul Selsam, The Pennsylvania Constitution of 1776. A Study in Revolutionary Democracy, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1936, 173, 186 – 87; Jackson Turner Main, The Sovereign States, 1775 – 1783, New York: New Viewpoints, 1973, 151. 209 Frank Alengry, „Le Sens des réalités chez Condorcet constitutionnaliste“, in: Revue d’histoire politique et constitutionnelle, 1 (1937), 606: „Das ist auch der Augenblick (1786 – 87), wo er [Condorcet] die amerikanischen Verfassungen las. Seine Freunde Turgot, de la Rochefoucauld und er selbst ,waren vernarrt‘ in die Verfassung von Pennsylvania.“ Marie-JeanAntoine-Nicolas de Caritat, marquis de Condorcet, „Eloge de Franklin“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Arthur Condorcet O’Connor u. François Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 49, III, 401: „Die Verfassung dieses Staats war zum Teil sein Werk. Sie zeichnete sich gegenüber der Mehrheit der anderen durch eine größere Gleichheit aus und gegenüber allen dadurch, dass die legislative Gewalt darin einer einzigen Kammer von Repräsentanten übertragen war; die Stimme Franklins entschied letztlich diese letztere Bestimmung.“ Ähnlich auch James M. Moore, The Roots of French Republicanism. The Evolution of the Republican Ideal in French-Revolutionary France and Its Culmination in the Constitution of 1793, New York: American Press, 1962, 100 – 01. Die Parallelen zwischen der pennsylvanischen und der girondistischen bzw. jakobinischen Verfassung bleiben bei Moore jedoch unerwähnt, vgl. ebd., 224 – 309. Ausführlich zu Condorcets Auseinandersetzung mit den amerikanischen Verfassungen vor 1789 oben Kap. IV. 1. 210 Condorcet, „Réflexions sur la Révolution de 1688, et sur celle du 10 août 1792“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, XII, 209, 210, 213.

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kratischen Grundsätze der pennsylvanischen Verfassung von 1776 schwingen unüberhörbar mit. Das Ergebnis der Ausschussberatungen, die sog. girondistische Verfassung, gilt weitgehend als das Werk Condorcets, der sie am 15. und 16. Februar 1793 dem Konvent vorstellte.211 Obgleich diese girondistische Verfassung, letztlich mehr durch den Gang der Revolution im Frühjahr 1793 als durch ihren Inhalt bedingt, keine Mehrheit im Konvent fand, stimmen die französischen Verfassungsrechtler weitgehend darin überein, dass sich die girondistische Verfassung in ihrem demokratischen Gehalt nur unwesentlich von der jakobinischen Verfassung unterscheidet.212 Auch der girondistischen Verfassung war eine Menschenrechtserklärung vorangestellt, auch sie basierte auf der Volkssouveränität und dem allgemeinen Wahlrecht. Der Exekutivrat tauchte ebenfalls bereits auf und bestand aus sieben Ministern und einem Sekretär, die jährlich nach einem komplizierten Verfahren in den Départements direkt vom Volk gewählt wurden, wobei das Präsidentenamt nach dem Prinzip der Rotation wechselte (Titel V).213 Dem Rat gegenüber stand eine Legislative, deren einzige Kammer, der gesetzgebende Körper (Titel VII), ebenfalls jährlich gewählt wurde; seine Sitzungen waren öffentlich, und die Sitzungsprotokolle sollten gedruckt werden. Auch die girondistische Verfassung unterteilte die Beschlüsse der Legislative in „Gesetze“ und „Verordnungen“, doch allein aufgrund sachlicher Kriterien (Titel VII, Abs. 3), ohne dass beim Zustandekommen der Gesetze eine direkte Mitwirkung des Volkes vorgesehen war. Jedoch hatte das Volk jederzeit das Recht über Petitionen, Volksbegehren und Referenden auf die Politik, bereits verabschiedete Gesetze sowie öffentliche Funktionsträger einzuwirken und Änderung oder Rechenschaft zu verlangen (Titel VIII). Ebenso waren gemäß dem Willen des Volkes „Nationalkonvente“ zum Zwecke der Verfassungsänderung zu wählen, deren Entwürfe allein durch das Volk gebilligt werden konnten (Titel IX).214 211

Zur girondistischen Verfassung und Condorcets Rolle in ihrer Entstehung immer noch instruktiv: Alfred Stern, „Condorcet und der girondistische Verfassungsentwurf von 1793“, in: Historische Zeitschrift, 141 (1930), 479 – 96; vgl. ferner Alengry, „Condorcet constitutionnaliste“, bes. 611 – 14. 212 So etwa Aulard, „Constitution de 1793“, 48; Deslandres, Histoire constitutionnelle, I, 274 – 75; Michel Troper, La Séparation des pouvoirs et l’histoire constitutionnelle française, Paris: Pichon et Durand-Auzias, 1973, 180 – 81. Wenn Saitta, Costituenti, 343, feststellt „Die Rechteerklärung war der einzige Teil der girondistischen Verfassung, der vom Konvent angenommen wurde“, ist dies nur in einem formalen Sinne zutreffend, der mehr dem jakobinischen politischen Anspruch als einer vergleichenden inhaltlichen Analyse entspricht. Hingegen sind die Unterschiede zwischen beiden Texten sehr stark betont worden von Mathiez, „Constitution“, 497 – 521. 213 Der Text der girondistischen Verfassung ist abgedruckt in Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 61 – 90. 214 Dass Condorcet dennoch einen direkten Einfluss des Volkes auf den Gesetzgebungsprozess sah, machte er in seiner Vorstellung der Verfassung deutlich: „Exposition des principes et des motifs du plan de constitution“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, XII, bes. 351 – 54 („Das neue Gesetz, das die Frucht der Forderung sein wird, die durch die Urversammlungen gemacht wurde […]“, ebd., 352). In seiner Schrift „Aux Citoyens

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Die Grundgedanken der pennsylvanischen Verfassung von 1776 hatten mithin ebenfalls in die girondistische Verfassung Eingang gefunden. Auch wenn ihr radikaldemokratischer Charakter etwas weniger expressiv erscheint als in der nachfolgenden jakobinischen Verfassung, sind die Grundelemente in ihr konzipiert, einschließlich der stark zurückgedrängten Gewaltentrennung und einer ebenfalls nicht als eigenständige Gewalt zu bewertenden Judikativen (Titel X). Hingegen wird man das repräsentative Element in ihr stärker als in der jakobinischen Verfassung ausgeprägt sehen müssen, während die Ansätze zur direkten Demokratie – jene jakobinische Konzession an die Sansculotten – in ihr begreiflicherweise weniger stark entwickelt waren. Es war eine Verfassung, von der ihre Gegner behaupteten: „Den französischen Philosophen ist es gelungen, die leichtfertige Masse zu überreden, dass politische Macht ein persönliches Recht ist, ohne das sie keine bürgerliche Freiheit genießen können.“ Wieviel weiser seien dagegen die Amerikaner gewesen, deren Verfassungsväter – womit sicher nicht die von Pennsylvania gemeint waren – „weise für Barrieren gegen die Übergriffe des bedürftigen Pöbels gesorgt haben“. Doch in Frankreich sei Brissot einer der Führer des Konvents und damit einer der „Fürsprecher für extreme Gleichheit“.215 Mit dem Sturz der Gironde in den Tagen des 31. Mai und 2. Juni 1793 war das girondistische Verfassungsprojekt endgültig begraben. Die nunmehr im Konvent tonangebenden Jakobiner machten sich sogleich an die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Dem zu diesem Zweck gebildeten Komitee stand Hérault de Séchelles vor, der bereits nach einer Woche dem Konvent seinen Entwurf vorlegte, der in den folgenden vierzehn Tagen debattiert und am 24. Juni 1793 als die Verfassung des Jahres I verabschiedet und im August in einem Referendum nahezu ohne Gegenstimmen, doch bei millionenfacher Enthaltung angenommen wurde.216 Nicht nur die amerikanischen Verfassungspublikationen der 1780er und 1790er Jahre und nicht allein die inhaltlichen Parallelen zur girondistischen Verfassung erklären die Analogien zwischen der pennsylvanischen Verfassung von 1776 und der jakobinischen Verfassung. Wesentliche demokratische Inhalte der jakobinischen Verfassung, zumal der Gedanke der Mitwirkung des Volkes bei der Verabschiedung von Gesetzen, lassen sich im Frankreich der Revolution bis auf jene 1790 erstmals français, sur la nouvelle constitution“ vom Juni 1793 hieß es dann sogar: „Überprüft man die Art, in der das Volk in beiden Projekten [d. h. in der girondistischen und der jakobinischen Verfassung] seine Überwachung der gemachten oder vorbereiteten Gesetze ausübt, sieht man darin eine nahezu vollständige Ähnlichkeit“ (ebd., XII, 658). 215 The Antigallican; or, Strictures on the Present Form of Government Established in France, London: Faulder, 1793, 16, 30, 52. 216 Hérault de Séchelles, der Berichterstatter des jakobinischen Verfassungskomitees, wird mitunter als der „Vater der jakobinischen Verfassung“ bezeichnet, obwohl weder die große Eile, mit der der Komiteeentwurf zu Papier gebracht wurde, noch sein Inhalt wesentliche originäre Züge erkennen lassen. Vgl. dazu auch die nicht sehr inhaltsreiche Biographie von Arnold de Contades, Hérault de Séchelles ou la révolution fraternelle, Paris: Perrin, 1978, bes. 59 – 67.

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öffentlich auftretende Gruppe von Republikanern um Louis Lavicomterie, François Robert und seine Frau, Louise de Keralio, die Herausgeberin des Mercure national, zurückverfolgen. Selbst wo der konkrete Hinweis auf die pennsylvanische Verfassung fehlt und die Autoren sich mit Rousseau auseinandersetzen, werden die gleichen, in Frankreich hinreichend bekannten Grundgedanken von der Kontrolle der Regierung durch das Volk geäußert, wie sie die Amerikaner, „diese unerschrockenen Republikaner“ verwirklicht hätten, so dass Robert in strittigen Verfassungsfragen seine Leser direkt aufforderte: „Ziehen Sie das Regime des neuen Amerika zu Rate.“217 Selbst in dieser recht allgemein gehaltenen Formulierung kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass mit ihm letztlich nur die pennsylvanische Verfassung von 1776 gemeint sein konnte, da man um ihren radikaldemokratischen Charakter wusste, wohingegen die übrigen amerikanischen Verfassungen nur in ungleich geringem Maße rezipiert worden waren – Robert kannte 1790 offensichtlich nicht einmal die Bundesverfassung von 1787. Zumindest indirekt ist damit zugleich die Frage aufgeworfen, wie weit die pennsylvanische Verfassung für geradezu repräsentativ für die amerikanische Revolution gehalten wurde und wie weit die Konstitutionalisierung des bürgerlichen Radikalismus in diesen Kreisen als letztlich selbstverständliches Ziel jeder bürgerlichen Revolution galt. Robert war nicht nur einer der ersten Republikaner in der Französischen Revolution, sondern in den folgenden Jahren auch Mitglied des Jakobinerclubs. Als Deputierter im Konvent für das Département Paris entsandten ihn die Jakobiner Anfang 1793 in das jakobinische Gegenkomitee zum nahezu vollständig von der Gironde gestellten Condorcetschen Verfassungsausschuss, wo er ebenso wie im Konvent selbst mit großem Nachdruck seine radikaldemokratischen Verfassungsvorstellungen entwickelte mit einer Einkammerlegislative, die die Gesetze redigierte und einen bestimmenden Einfluss auf die Exekutive (Conseil) ausübte.218 217

Vgl. dazu u. a. Louis-Thomas-Hébert Lavicomterie de Saint-Samson, Du Peuple et des rois, Paris: Les Marchands des Nouveautés, 1790, bes. 109 – 25 (Kap. XIII: Des Républiques, ou de la Démocratie); ders., Les Crimes des rois de France, depuis Clovis jusqu’à Louis seize, Paris: Petit, 1791, passim; Pierre-Francois-Joseph Robert, Le Répulicanisme adapté à la France, [Paris:] chez l’auteur, 1790, bes. 8 – 9, 40. 218 Zu Robert und dem frühen Republikanismus in der Französischen Revolution, vgl. u. a. Alphonse Aulard, „La Formation du Parti Républicain (1790 – 1791)“, in: Révolution Française, 35 (1898), bes. 305, 307, 309; Auguste Kuscinski, Dictionnaire des Conventionnels, Paris: Société de l’Histoire de la Révolution française, 1916, Ndr. Brueil-en-Vexin: Ed. du Vexin Français, 1973, 530 – 31; Félix Magnette, „Le Liégeois François Robert et le premier Salon républicain à Paris sous la Constituante et la Législative“, in: La Vie wallonne, 6 (1925/ 26), 395 – 412 (laut Magnette hat Robert seinen Republikanismus von Lavicomterie, ebd., 401 – 02); Jos. Henquin, „Robert de Gimnée. Conventionnel“, ebd., 14 (1933/34), 133 – 42, 177 – 86 (schließt sich eng an Aulard an); Louis Antheunis, „Le Conventionnel belge François Robert et sa femme Louise de Keralio (1758 – 1822)“, in: Bijdragen tot de geschiedenis, 6 (1954), 170 – 262 (ohne dezidierte Stellungnahme dazu, stellt aber fest, Robert und seine Frau seien „die Prototypen dieser radikalen Bürger, die dem Frankreich des 19. Jahrhunderts seine Physiognomie gegeben haben“, ebd., 185). Ein Hinweis auf Amerika und die pennsylvanische Verfassung als wesentliche Inspiration für Roberts Republikanismus fehlt in allen diesen

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Insgesamt lassen sich mithin zumindest drei Stränge verfolgen, über die eine Rückwirkung der pennsylvanischen Verfassung von 1776 auf die jakobinische Verfassung von 1793 nachzuvollziehen ist. Dass es sich bei der Betonung dieser unzweideutigen Parallelen um keine ausschließliche retrospektive Konstruktion handelt, sondern um Zusammenhänge, die im zeitgenössischen Frankreich über den Kreis der unmittelbaren Akteure hinaus bekannt waren, ist zumindest durch eine Schrift des nachmaligen napoleonischen Diplomaten und späteren Präfekten des Rhein-Mosel-Départements, Adrien Lezay-Marnésia, belegt. Lezay begann seine vermutlich im Sommer 1795 erschienene Schrift Qu’est-ce que la constitution de 93? mit der frappierenden Feststellung: „Da es nicht erlaubt ist, über die Verfassung von 93 anders als zustimmend zu reden…, werde ich nicht darüber reden. – Aber da es nicht verboten ist, die Verfassung von Pennsylvania zu missbilligen, die der Schutzheilige ist, nach dem sie grob zugeschnitten worden ist, ist es diese, an die ich meine Bemerkungen richten werde.“219

Der Kern der Lezayschen Kritik an der pennsylvanischen, sprich jakobinischen Verfassung zielte auf die durch sie begründete Einkammerlegislative und die darin verankerte unbegrenzte Volkssouveränität. Beides könne auf Dauer nicht die Freiheit und das Wohlergehen eines Volkes sichern. In dieser Grunderkenntnis spiegelte sich nach Lezays Überzeugung der fundamentale Unterschied zwischen der amerikanischen und der Französischen Revolution wider. „Das, was die Vereinigten Staaten von Amerika auszeichnet, wie mir scheint, ist weniger der Mut, mit dem sie ihre Unabhängigkeit errungen haben, als die Weisheit, mit der sie ihre Freiheit begründet haben.“ Statt kraftloser Menschenrechtsdeklarationen hätten die Amerikaner kraftvolle Institutionen zur Verteidigung der Freiheit geschaffen. Dazu gehörten, wie in der Verfassung von Massachusetts – dem leuchtenden Gegenstück zur pennsylvanisch-jakobinischen Verfassung – vorbildlich verwirklicht, „der Ausgleich der Gewalten“ und das „Balancieren der verschiedenen Teile der Macht“, was die Teilung der Legislative in zwei Kammern und die Begrenzung ihrer Macht unabdingbar machte.220 Wenn auch die Kritik des kaum 25-jährigen Lezay an den Grundprinzipien der französischen revolutionären Antwort auf den modernen Konstitutionalismus vorbeigeht, wie sie sich, auf den Reformidealen der Aufklärer aufbauend, seit 1789 entwickelt hatte und für die eine die Volkssouveränität, die sie doch gerade verwirklichen wollte, begrenzende Verfassung wie die von Massachusetts kein nach-

Schriften. Bzgl. Roberts im Konvent geäußerten radikaldemokratischen Verfassungsvorstellungen, ebd., 220 – 23. 219 Adrien Lezay-Marnésia, Qu’est-ce que la constitution de 93?, Paris: Migneret, an III, v. 220 Ebd., v – vi, vii, 2, 3, 4 und passim. Vgl. dazu auch die wenigen Bemerkungen bei Egon von Westerholt, Lezay Marnésia, Sohn der Aufklärung und Präfekt Napoleons (1769 – 1814), Meisenheim am Glan: Hain, 1958, 44, sowie bzgl. seiner Kritik an der Verfassung des Jahres III, ebd., 45 – 46.

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ahmenswertes Vorbild darstellen konnte,221 trifft der von ihm konstatierte Befund dennoch den Kern des Problems. Die unzweideutigen Parallelen zwischen der pennsylvanischen Verfassung von 1776 und der jakobinischen Verfassung von 1793 können kein Zufall sein. Das bedeutet nicht, dass die jakobinische Verfassung eine Kopie der pennsylvanischen ist, sondern dass die in Frankreich hinreichend bekannten Grundprinzipien der pennsylvanischen Verfassung hier auf einen fruchtbaren Boden fielen, der historisch wie ideologisch für ihre Aufnahme und Übertragung in einen französischen Sinnzusammenhang bereits seit langem hinreichend vorbereitet war, während durch den Fortgang der Französischen Revolution nun auch die soziale Trägerschicht bereit stand, die willens war, diese Ideale eines bürgerlichen Radikalismus in die Tat umzusetzen.222 Allein aus diesem sehr komplexen und vielschichtigen Rezeptionsprozess erklärt sich die so grundverschiedene Entwicklung und historische Bedeutung beider Verfassungen in beiden Ländern bzw. Räumen. In der besonderen Situation Pennsylvanias im Frühsommer 1776, in der die alte Legislative zwar noch tagte, sich aber als unfähig erwies, auf den Druck nach revolutionärer Veränderung eine überzeugende Antwort zu geben, gerieten die konservativeren Kräfte zusehends in die Defensive, während die gemäßigten z. T. abwesend waren bzw. sich z. T. selbst zurückgezogen hatten. Das dadurch entstandene Machtvakuum nutzten die Radikalen mit Hilfe der bereits bestehenden revolutionären Komitees zielsicher aus.223 Verbunden mit der vertikalen wie horizontalen Ausweitung der Repräsentation ist dann am 8. Juli 1776 eine Verfassungsgebende Versammlung gewählt worden, in der die sieben westlichen Kreise, die in der alten Versammlung (Assembly) nicht einmal ein Drittel der Abgeordneten gestellt hatten, auf fast 60 % der Sitze kamen, während den 221

Vgl. dazu ausführlich das Kap. V. 2. Bezeichnenderweise wurde in beiden Fällen die Einführung eines Agrargesetzes strikt abgelehnt. Während ein entsprechender Antrag 1776 im Verfassungskonvent in Philadelphia ohne Mehrheit geblieben war, beschloss der Konvent in Paris am 13. 3. 1793 einmütig die Todesstrafe für jeden, der die Einführung eines Agrargesetzes propagiere. Vgl. dazu Robert Barrie Rose, „The Red Scare of the 1790 s: The French Revolution and the Agrarian Law“, in: Past and Present, 103 (1984), bes. 127 – 29. 223 Vgl. dazu u. a. Paul Leicester Ford, „The Adoption of the Pennsylvania Constitution of 1776“, in: Political Science Quarterly, 10 (1895), 426 – 59; Charles Henry Lincoln, The Revolutionary Movement in Pennsylvania 1760 – 1776, 1901, Ndr. Cos Cob, Conn.: J. E. Edwards, 1968, 249 – 75; Allan Nevins, The American States During and After the Revolution, 1775 – 1789, 1924, Ndr. New York: Kelley, 1969, 40, 98 – 108; Selsam, Pennsylvania Constitution of 1776, 165; Rosalind L. Branning, Pennsylvania Constitutional Development, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1960, 12 – 13; Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution, Darmstadt-Neuwied: Luchterhand, 1973, 77 – 79; Jackson Turner Main, Political Parties before the Constitution, 1973, Ndr. New York: Norton, 1974, 174; Charles S. Olton, Artisans for Independence. Philadelphia Mechanics and the American Revolution, Syracuse, N. Y.; Syracuse University Press, 1975, 65 – 80; Richard Alan Ryerson, The Revolution is Now Begun. The Radical Committees of Philadelphia, 1765 – 1776, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1978, bes. 149 – 246; Joseph J. Kelley, Jr., Pennsylvania: The Colonial Years, 1681 – 1776, Garden City, N.Y.: Doubleday, 1980, 764 – 66. 222

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vormals dominierenden alten Kreise Philadelphia, Chester und Bucks sowie der Stadt Philadelphia zusammen nur noch 32 Mandate zustanden. 91 der gewählten 96 Delegierten hatten nie zuvor der Assembly oder dem Gouverneursrat angehört.224 Gordon Wood hat diese „neuen Männer“ „politische Außenseiter“ und „unerfahrene Emporkömmlinge“ genannt.225 Genauere Untersuchungen geben eher Anlass zu einer differenzierteren Betrachtung. Sicherlich gehörten sie, einschließlich der führenden Radikalen wie James Cannon, Timothy Matlack, Thomas Young u. a., nicht zur politisch-sozialen Elite des kolonialen Pennsylvania, ohne dass dies eine Generationenfrage gewesen wäre, aber ihr bürgerlicher oder middle class-Charakter steht außer Frage, und etliche von ihnen kann man durchaus als wohlhabend bezeichnen.226 In dieser sozialen Einordnung weisen die pennsylvanischen Radikalen von 1776 bemerkenswerte Analogien zum soziopolitischen Status der Jakobiner und besonders der Montagnards von 1793 auf. Auch sie zählten in der Regel nicht zur vormaligen sozialen wie politischen Elite, sind aber ebenso wenig als klein- oder unterbürgerlich einzustufen. Wie in Pennsylvania gehörten sie eher dem mittleren und oberen Bürgertum an – wobei der Typ des bürgerlichen Intellektuellen, ob nun in der Form eines James Cannon, David Rittenhouse oder Thomas Paine oder in der eines Robespierre, St. Just oder Marat, in beiden Fällen eine wesentliche Rolle spielte –, fanden aber wie diese bislang den Weg zur Spitze zumeist blockiert.227

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Nevins, American States, 132 – 33; Branning, Pennsylvania, 910; Thomas Burns Mega, „Political and Constitutional Development in Pennsylvania: 1739 – 1780“, Ms. Ph.D. Diss. University of Minnesota 1985, 256. 225 Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776 – 1787, 1969, Ndr. New York: Norton, 1972, 85. Diese Feststellung geht auf die bekannte Charakterisierung von Joseph Shippen, Jr. zurück: „Tim Matlack & eine Zahl weiterer ungestümer verschrobener Leute der Unterklasse“, an Edward Shippen, 29. Febr. 1776, zuletzt zit. in: Kelley, Pennsylvania, 745. 226 Vgl. dazu die grundlegenden Untersuchungen von David Hawke, In the Midst of a Revolution, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1961, 102 – 07, 165 – 200 und Robert Gough, „Notes on the Pennsylvania Revolutionaries of 1776“, in: Pennsylvania Magazine of History and Biography, 96 (1972), 89 – 103. Ferner Ryerson, Revolution, 177 – 206. 227 Vgl. dazu Albert Soboul, „Klassen und Klassenkämpfe in der Französischen Revolution“, in: Walter Markov (Hrg.), Jakobiner und Sansculotten. Beiträge zur Geschichte der französischen Revolutionsregierung 1793 – 1794, Berlin: Rütten & Loening, 1956, bes. 63 – 64; Soboul, „De l’Ancien régime à l’Empire: Problème national et réalités sociales“, in: ders., Comprendre la révolution. Problèmes politiques de la révolution française (1789 – 1797), Paris: Maspero, 1981, bes. 262 – 76; Marc Bouloiseau, La République jacobine: 10 août 1792 – 9 thermidor an II, Paris: Ed. du Seuil, 1972, 54 – 59; Susanne Petersen, Lebensmittelfrage und revolutionäre Politik in Paris 1792 – 1793. Studien zum Verhältnis von revolutionärer Bourgeoisie und der Volksbewegung bei der Herausbildung der Jakobinerdiktatur, München: Oldenbourg, 1979, 27 – 28 und passim; Michel Vovelle, La Mentalité révolutionnaire. Société et mentalités sous la Révolution française, Paris: Ed. Sociales, 1985, 143 – 56; Donald M. G. Sutherland, France 1789 – 1815: Revolution and Counterrevolution, New York – Oxford: Oxford University Press, 1986, 155 – 60.

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Doch während in Pennsylvania die Reaktion auf die Verfassung vom 28. September 1776 sogleich einsetzte und dabei machtvolle Unterstützung seitens der revolutionären Elite der anderen amerikanischen Staaten erhielt, die vielfach am Sitz des Kongresses in Philadelphia versammelt war, wobei die Bundesverfassung von 1787 einen von der Opposition zusätzlich genutzten Hebel bot, der es ihr schließlich erlaubte, die verhasste Verfassung loszuwerden und Pennsylvania 1790 eine neue, im Einklang mit den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus stehende Verfassung zu geben,228 war die Situation in Frankreich anders gelagert. Indem es der Französischen Revolution gelang, die links von den Jakobinern liegenden Kräfte politisch und militärisch auszuschalten und damit sowohl die direkte Demokratie der Sansculotten wie die sozialistische Demokratie Babeufs außerhalb der revolutionären Legitimität zu stellen, verkörperte die jakobinische Verfassung den End- und Höhepunkt einer sich seit 1789 ständig weiter demokratisierenden Revolution, die mit dem 9. Thermidor des Jahres II abrupt beendet wurde, ohne dass bis dahin die jakobinische Verfassung je in Kraft getreten war. So blieb sie das revolutionäre Ideal, 228 Auf die – auch aus der Sicht der Verfassungsargumentation – höchst interessante Auseinandersetzung um die Verfassung von 1776 und ihre schließliche Abschaffung kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Aus der reichhaltigen zeitgenössischen wie späteren Literatur sei nur auf folgende Stellen verwiesen: An Essay of a Frame of Government for Pennsylvania, Philadelphia: James Humphreys, 1776 (vor dem 28. September erschienen, schlägt eine Verfassung eher nach Art der späteren Bundesverfassung mit starker Exekutive, Zweikammernparlament u. a. vor; bzgl. der ungeklärten Autorschaft, s. Selsam, Pennsylvania Constitution of 1776, 174); The Constitution of the Commonwealth of Pennsylvania…To which is added, A Report of the Committee … as adopted by the Council of Censors, Philadelphia: Francis Bailey, 1784, 35 – 64 (Auszug aus den Protokollen des Zensorenrats von 1783, in dem der Legislativen zahlreiche Verfassungsverstöße und die Usurpation von Macht vorgeworfen wird); A Candid Examination of the Address of the Minority of the Council of Censors to the People of Pennsylvania, Philadelphia: o. N., 1784 (Schrift gegen die Verfassung und ihre radikaldemokratischen Inhalte. Eine 12:10 Mehrheit sei im Zensorenrat für die Abschaffung der Verfassung gewesen, doch die erforderliche 2/3-Mehrheit nicht erreicht worden, obwohl es inzwischen in allen drei Repräsentativorganen des Staates eine Mehrheit gegen die Verfassung gebe, vgl. bes. 4 – 5, 10, 13 – 16, 21, 22, 24, 26); Minutes of the Convention of the Commonwealth of Pennsylvania, Philadelphia: Zachariah Poulson, jun., 1789 (Protokollauszug über den Verfassungskonvent vom 24. 11.1789 bis 26. 2. 1790 bzw. 9.8. bis 2. 9. 1790, tatsächlich daher 1790 erschienen. Um nicht bei dem nächsten Zusammentritt des Zensorenrats 1790 erneut an der Hürde der 2/3-Mehrheit zu scheitern, legte die Mehrheit im Repräsentantenhaus 1789 eine Resolution vor, die entgegen den Bestimmungen der Verfassung die Einberufung eines Verfassungskonvents verlangte, da die pennsylvanische Verfassung in mehreren Punkten „der Verfassung der Vereinigten Staaten widerspreche“. Die Resolution wurde mit einer Stimme mehr als der erforderlichen 2/3-Mehrheit, mit 41:17, angenommen, vgl. 3 – 4; vgl. dazu auch The Proceedings relative to Calling the Conventions of 1776 and 1790, Harrisburg, Pa.: John S. Wiestling, 1825, 130 – 33 (nur 5 der 58 Abgeordneten hatten 1776 dem Verfassungskonvent angehört, von denen drei nun für die Abschaffung der Verfassung votierten; einer von ihnen, George Clymer, hatte jedoch 1776 die Verfassung nicht unterzeichnet). Vgl. dazu insges. u. a. Robert Levere Brunhouse, The Counter-Revolution in Pennsylvania 1776 – 1790, 1942, Ndr. Harrisburg: The Pennsylvania Historical and Museum Commission, 1971; bzgl. der Diskussion im Sommer 1776 um die entstehende Verfassung: John N. Shaeffer, „Public Consideration of the 1776 Pennsylvania Constitution“, in: Pennsylvania Magazine of History and Biography, 98 (1974), 415 – 37.

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das zu erstrebende Vorbild der Demokraten des Jahres III wie auch das nachfolgender Generationen. Doch nicht nur der äußerlich unterschiedliche Revolutionsverlauf und damit das andersartig gestellte Problem der Herrschaftssicherung durch die revolutionäre Elite haben zur konträren Bewertung und historischen Bedeutung der pennsylvanischen bzw. jakobinischen Verfassung geführt. In dem schließlich in den Unabhängigkeitskrieg führenden Konflikt mit dem Mutterland haben sich die amerikanischen Revolutionäre in zunehmendem Maße von einem in seiner Souveränität unbegrenzten britischen Parlament und dem von ihm ausgehenden ungehinderten Machtanspruch bedroht gefühlt, dessen Legitimität William Blackstone 1765 über jeden Zweifel erhaben dargelegt hatte. Die verfassungsrechtliche Antwort der Führer des amerikanischen Widerstands darauf konnte zumal nach 1776 und dem pennslyvanischen Desaster nur lauten: Verhinderung einer Legislative, die zum willfährigen Organ eines in seinen Handlungen unbegrenzt souveränen Volkes werden kann.229 Die Französische Revolution ging hingegen von einer ganz anderen historischen Erfahrung aus, die durch einen als tyrannisch empfundenen König und einen parasitären Adel und Klerus geprägt war, die sich, wenn nicht zur Versklavung des Volkes verbündet hatten, so doch den Interessen der Nation zuwiderhandelten. Dagegen galt es dem Willen der Nation – oder der Bourgeoisie, was für viele aus dem Kreis der Revolutionäre das gleiche war – ungehindert Bahn zu brechen. Eine verfassungsrechtliche Beschränkung der Legislative als Organ des souveränen Volkes hätte diese revolutionäre Zielsetzung nicht nur konterkariert, sondern auch umso leichter in den Verdacht der allgegenwärtigen Konterrevolution gebracht. Dagegen blieb der sich ausformenden revolutionären Mentalität, die in ihrem ungebrochenen Glauben an die Kraft der menschlichen Vernunft einen homo novus und eine ideale Weltenordnung schaffen zu können glaubte, die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung menschlichen Handelns fremd.230 Vielmehr sollte die allfällige Kontrolle der Regierenden direkt und ausschließlich durch das Volk stattfinden. Eine Verfassung wie die Massachusetts von 1780, wie sie Lezay-Marénsia vorschwebte, die diese Funktion Verfassungsinstitutionen zugewiesen hatte, die der direkten Einwirkung des Volkes weitgehend entzogen waren, machte in dieser Situation keinen Sinn.231 Nicht die Verwirklichung einer begrenzten Regierung gemäß den 229 Der Verfassungsdiskussion in den amerikanischen Kolonien von 1763 bis 1776 ist oben Kap. III. 1. gewidmet. 230 Vgl. dazu grundlegend Michel Vovelle, Die Französische Revolution – Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, München: Oldenbourg, 1982; ders., „La Révolution Française: Mutation ou Crise des Valeurs?“, in: Eberhard Schmitt, Rolf Reichardt (Hrgg.), Die Französische Revolution – zufälliges oder notwendiges Ereignis?, 3 Bde., München: Oldenbourg, 1983, I, 63 – 85; Vovelle, Mentalité révolutionnaire. 231 Wenn daher Jacques Julliard in seinem brillant geschriebenen La Faute à Rousseau. Essai sur les conséquences historiques de l’idée de souveraineté populaire, Paris: Ed. du Seuil, 1985, die nach seiner Überzeugung für Frankreich fatalen Konsequenzen jenes in den Reihen der französischen Linken fortlebenden Glaubens an die uneingeschränkte Volkssouveränität

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Vorstellungen des modernen Konstitutionalismus musste das Ziel der Revolution sein, sondern die Realisierung der Volkssouveränität, die dem stets souveränen Willen des Volkes keine Hindernisse in den Weg stellte. Keine Verfassung schien diesem Ideal so nahezukommen wie die pennsylvanische Verfassung von 1776 und erneut dann die nie Praxis gewordene, stets Ideal gebliebene jakobinische. Daher wurde die jakobinische Konstitutionalisierung des bürgerlichen Radikalismus zum verklärten Vorbild nachfolgender Generationen europäischer Demokraten, die über Ledru-Rollin 1848 und Gambetta 1870 in Frankreich bis über den ersten Verfassungsentwurf von 1946 hinaus geschichtswirksam geworden ist, und nicht die mit Schimpf und Schande aus dem konstitutionellen Gebäude der Vereinigten Staaten gejagte pennsylvanische Verfassung von 1776.

5. Unikameralismus vs. Bikameralismus in der amerikanischen und Französischen Revolution232 Ende des 19. Jahrhunderts bescheinigte der New Yorker Jurist Roger Foster den amerikanischen Gründungsvätern, eine eindeutige Lösung gefunden zu haben: „Die Befugnisse des Oberhauses der nationalen Legislative waren jenen des House of Lords angepasst. Wie dieses besaß es die Rechtsprechung in Amtsanklageverfahren und konnte keine Finanzgesetze auf den Weg bringen. Das Repräsentantenhaus war als Imitation des House of Commons beabsichtigt.“233

Diese kühne Behauptung lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass die amerikanische Revolution ebenso wie einige Jahre später die Französische Revolution, wie man sagen könnte, jeweils mit einer unikameralen Legislative begann, um in beiden Fällen mit einer bikameralen zu enden, was offensichtlich einer schlichten Adaption des englischen Modells entgegensteht. Wenn dies aber bedeutet, dass die Frage, ob die Legislative aus einer oder aus zwei Kammern bestehen solle, in beiden Revolutionen umstritten war, dann verdienen die Antworten, die beide gaben, umso eher und damit die generelle Handlungskompetenz des Staates im sozialen und ökonomischen Bereich aufzeigt, mag man dies als politische Äußerung zur Gegenwartssituation bewerten. Der dabei konstatierte Bruch, den 1789 gegenüber der bis in die Antike zurückreichenden Staatenund Verfassungslehre im Gegensatz zu 1776 – womit Julliard indirekt die pennsylvanische Verfassung ausklammert – bedeutet, ist sicherlich zutreffend. Dennoch wäre es falsch, daraus ableiten zu wollen, dass die historische Realität von 1789 die Alternative von 1776 – jenseits von Pennsylvania – tatsächlich zugelassen hätte. 232 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „The Ambiguities of Modern Bicameralism. Input vs. Output-Oriented Concepts in the American and French Revolutions“, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, 71 (2003), 409 – 424. 233 Roger Foster, Commentaries on the Constitution of the United States Historical and Juridical with Observations upon the Ordinary Provisions of State Constitutions and a Comparison with the Constitutions of Other Countries, I [mehr nicht erschienen], London: Kegan Paul, 1896, 40, vgl. auch 461, 491 – 492.

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eine sorgfältige Analyse, um ihre Bedeutung für jede weitere Diskussion des Bikameralismus entsprechend gewichten zu können. Eine derartige Untersuchung erscheint umso angebrachter, als selbst nach weit mehr als 200 Jahren das vieldeutige Erbe der ursprünglichen Prinzipien der legislativen Macht im Rahmen des modernen Konstitutionalismus die Entwicklung einer kohärenten und stimmigen Theorie ihrer Organisation eher verhindert hat, was ihre modernen Erscheinungsformen letztlich Tradition und Gewohnheit statt begründeten Argumenten überlässt. In diesem Kapitel soll daher der Versuch unternommen werden aufzuzeigen, dass die Herausbildung des Konzepts des Bikameralismus wesentlich komplexer war, als gemeinhin angenommen, und dass mit ihr zentrale Fragen des modernen Konstitutionalismus angesprochen sind. Es soll darüber hinaus verdeutlichen, dass dazu eine Reihe sich widersprechender Vorstellungen darüber gehörte, wie die Legislative zu organisieren war, deren Grund nicht zuletzt an dem Unvermögen lag, auf die grundsätzliche und bis heute ungelöste Frage eine Antwort zu geben: Kann das souveräne Volk, von dem alle politische Macht herrührt, und wenn ja, wie geteilt werden, um zwei unterschiedliche Vertretungskörper zu bilden, die beide mit dem gleichen Maß an politischer Legitimation ausgestattet sind? Die Unterschiede zwischen Montesquieu und Blackstone sind bemerkenswert. Laut Montesquieu war die legislative Gewalt in Großbritannien auf zwei Kammern verteilt, „die Körperschaft der Adeligen und die Körperschaft, die gewählt wird, um das Volk zu repräsentieren“.234 Deutlich präziser und korrekter war Blackstone, als er keine zwanzig Jahre später die legislative Gewalt in Großbritannien definierte als, „bestehend aus König, Lords und Unterhaus“ und ergänzte, „dass die exekutive Gewalt, ein Zweig, aber nicht die Gesamtheit, der Legislative sein sollte“.235 Der König rief die Stände des Reichs zusammen, um ihn zu beraten, und nur gemeinsam konnten sie ein Gesetz beschließen. Das Parlament als Ständeversammlung, die ihre Legitimation durch den König erhielt, wie es Blackstone beschrieben hatte, stellte die gemeinsame Überzeugung in Europa bis zum 17. Juni 1789 dar, und sie charakterisierte nicht nur die deutschen Verfassungen der Restaurationszeit nach dem Wiener Kongress von 1814.236 Am 17. Juni 1789 kam die Ständeversammlung in Frankreich zu einem abrupten Ende, indem sich der versammelte Dritte Stand zur Nationalversammlung erklärte.237 234 Charles de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu, De l’Esprit des lois, XI, 6 (1748), in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 51, II, 401. 235 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 98, 103. 236 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München: Beck, 1988 – 2012, II, 112. Lothar Gulitz, Das Zweikammersystem in der Geschichte des Konstitutionalismus, insbesondere das preußische Zweikammersystem, Diss. iur. Breslau 1917, 70 – 100. Vgl. dazu auch unten Kap. VI. 7. 237 Vgl. Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution. Eine Untersuchung zur Genesis der kontinentalen Theorie und Praxis parlamentarischer Repräsentation aus der Herrschaftspraxis des Ancien régime in Frankreich (1760 – 1789), München: Beck, 1969, 261 – 284.

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Montesquieus Gedanke der Repräsentation hatte eine entscheidende Wendung erfahren. Es wurden nicht länger Stände repräsentiert, sondern das Volk insgesamt, die Nation, der anzugehören jeder Franzose das gleiche Recht hatte. Einige Jahre zuvor war dieses Prinzip in Amerika schweigend und ganz selbstverständlich praktiziert worden, allein, weil es dort keine alteuropäischen Stände gab.238 Doch in Frankreich, wie in Europa überhaupt, war die Situation anders und erheblich komplizierter. Wie konnte hier de Lolmes eindringliche Warnung umgesetzt werden: „Um daher die Verfassung eines Staates stabil zu erhalten, ist es unbedingt erforderlich, die legislative Gewalt in ihr zu begrenzen“? Laut de Lolme ließe sich dies, getreu dem englischen Beispiel, allein dadurch erreichen, dass die Legislative geteilt wurde.239 Getreu Montesquieu und dem englischen Vorbild sollte dabei eine Kammer das Volk repräsentieren, während die andere für den Adel reserviert war, ein Konzept, das im monarchischen Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vielfach weit darüber hinaus die Regel war.240 Aufgrund der äußeren Gegebenheiten hatten die Dinge in Amerika eine andere Entwicklung genommen. Nachdem Gouverneur John Wentworth aus New Hampshire geflohen war, versammelte sich ein Kongress als Konvent der Repräsentanten des Volkes der Kolonie am 21. Dezember 1775 in Exeter. Am 5. Januar 1776 verabschiedeten er, was in der Folge die erste amerikanische Staatsverfassung genannt wurde.241 Darin war festgelegt, dass dieser Kongress den Namen Repräsentantenhaus oder einfach Versammlung annehmen sollte und „dann dazu schreiten sollte, zwölf Personen auszuwählen, allesamt angesehene Grundbesitzer und Einwohner dieser Kolonie […], um einen eigenen und getrennten Zweig der Legislative zu bilden unter dem Namen eines Rates für diese Kolonie“. Sollte die gegenwärtige Krise länger als ein Jahr andauern, sollten die Mitglieder des Rates vom Volk gewählt werden. Alle Gesetze und Ernennungen waren von beiden Zweigen der Legislative zu billigen, doch „alle Gesetze, Beschlüsse oder Abstimmungen zur Festsetzung, Erhebung und Einsammlung von Steuern haben ihren Ursprung im Repräsentantenhaus“.242

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Vgl. J. R. Pole, Political Representation in England and the Origins of the American Republic, London: Macmillan; New York: St. Martin’s Press, 1966, 56 – 75, 109 – 124. 239 [Jean Louis de Lolme,] Constitution de l’Angleterre, NAufl., Amsterdam: E. van Harreveit, 1774, 129 – 140. 240 Vgl. Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht (Lehre vom modernen Staat, II), 6. Aufl. v. E. Loening, Stuttgart: Cotta, 1885, 62 – 63, 84 – 92; auch Joseph Condrau, Das parlamentarische Zweikammersystem unter besonderer Berücksichtigung des Schweizerischen Bundesstaates, Diss. iur. Fribourg 1932, 30 – 35. 241 Vgl. dazu oben Kap. I. 1. 242 Verfassung von New Hampshire von 1776, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, IV, 313 – 314. Zu kolonialen Vorbildern des amerikanischen Bikameralismus, vgl. Thomas Francis Morgan, The Rise and Development of the Bicameral System in America (Johns Hopkins University Studies in Historical and Political Science, XIII, 5), Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1895.

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In dieser Übergangsphase erschien es dem Volk von New Hampshire geboten, seine Legislative so nahe wie möglich und erforderlich an dem britischen Beispiel und der eigenen kolonialen Vergangenheit auszurichten, um ihren Handlungen während der Abwesenheit des Gouverneurs einen gesetzlichen Status zu verleihen. Mit seiner Verfassung vom 26. März 1776 schloss sich South Carolina für seine Generalversammlung dem Beispiel New Hampshires an.243 Abweichungen kamen mit der Unabhängigkeit und einer einsetzenden theoretischen Debatte, die längst nicht so gleichmütig verlief, wie es die späteren Verfassungen zu suggerieren scheinen. Mit einer Ausnahme entschieden sich alle 1776 beschlossenen Verfassungen für das Zweikammernmodell, wobei die zweite Kammer entweder als „Rat (Council)“244 oder als „Senat“245 bezeichnet und ebenso wie das „Haus der Delegierten“246 direkt von den qualifizierten Wählern gewählt wurde, doch überwiegend für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren anstelle von einem Jahr.247 Um der zweiten Kammer im Gegensatz zu der jährlich erneuerten ersten Kammer ein größeres Maß an Kontinuität zu verleihen, führten Virginia und Delaware den Gedanken der Teilerneuerungen von jeweils lediglich einem Drittel oder einem Viertel der Mitglieder bei den jährlichen Wahlen ein. Unter dem Gesichtspunkt der Theorie war bedeutsamer als die Größe – in der Regel etwa ein Drittel der ersten Kammer – oder die Mandatsdauer die Frage, wen oder was die zweite Kammer repräsentieren sollte. Konnte das souveräne Volk sich selbst teilen und zwei unterschiedliche Körper bilden mit dem Anspruch einer getrennten Repräsentation? Virginia und Delaware umgingen diese Frage und verwiesen auf bestehende Wahlgesetze, doch New Jersey, Maryland und North Carolina stellten sich ihr und bestimmten, dass für die Wahl in die erste Kammer jeder Kandidat über ein persönliches Vermögen von mindestens 500 Pfund verfügen müsse, während für die zweite Kammer mindestens 1.000 Pfund vorgeschrieben waren oder anderenfalls ein Grundbesitz von mindestens 100 acres (etwa 40 ha) bzw. 300 acres in North Carolina. Maryland fügte ein höheres Mindestalter hinzu, 25 Jahre anstelle von 21, und eine höhere Aufenthaltsdauer, drei Jahre im Staat anstelle von einem Jahr im Kreis, während North Carolina ein Steuerzahlerwahlrecht für die erste Kammer und einen

243

Verfassung von South Carolina von 1776, Art. 1 – 12, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, VI, 17 – 19. 244 Verfassung von Delaware von 1776, Art. 4; Verfassung von New Jersey von 1776, Art. 1, ebd., I, 213, V, 25. 245 Verfassung von Virginia von 1776; Verfassung von Maryland von 1776, Art. 1; Verfassung von North Carolina von 1776, Art. 1, ebd., VII, 86, III, 245, V, 161. 246 Die Verfassung von New Jersey wählte den Ausdruck „Generalversammlung“ (Art. 1), Delaware „Haus der Versammlung“ (Art. 3) und North Carolina „House of Commons“ (Art. 1). Nur Maryland hatte sich 1776 für die indirekte Wahl der Senatoren ausgesprochen (Art. 14 – 16), ebd., V, 25, I, 213, V, 161, III, 247 – 248. 247 Allein in New Jersey (Art. 3) und North Carolina (Art. 2) wurden die Mitglieder der zweiten Kammer ebenfalls nur für ein Jahr gewählt, ebd., V, 25 – 26, 161.

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Besitz von mindestens 50 acres für das passive Wahlrecht zum Senat vorsah.248 Kein Zweifel, die zweite Kammer sollte von einem mehr aristokratischen Element geprägt sein und Eigentum und gehobenen Status repräsentieren („Männer von höchster Weisheit, Erfahrung und Tugend“, wie es die Verfassung von Maryland formulierte).249 In dem „Essex Result“ von 1778 hatte Theophilus Parsons das Thema direkt angesprochen. Er hatte den englischen Grundsatz aufgegriffen, dass „Eigentum einen Mann zur Repräsentation berechtigt“,250 das zehn Jahre später in Amerika verstanden wurde als „Eigentum [ist] die Regel der Repräsentation“.251 Dennoch sprach Parsons in seinem ausgedehnten Abschnitt über das „legislative Gewalt“ nie über Volkssouveränität und Repräsentation, sondern allein über „Machen von Gesetzen oder Vorschreiben solcher Handlungsanweisungen für jeden Einzelnen im Staat, die das allgemeine Wohl erfordern“, ohne zugleich in Analogie zum Konzept des „Besitzindividualismus“ von C. B. Macpherson zu vergessen hinzuzufügen „mit Hinblick sowohl auf ihre Person und Eigentum“.252 Aus seiner an Locke erinnernden Perspektive war es für Parsons ein leichtes, daraus abzuleiten: „Der einzige Gegenstand der Gesetzgebung sind daher die Person und das Eigentum der Einzelnen, die den Staat bilden.“ Ein Bikameralismus war die natürliche Antwort, wobei eine Kammer die „Personen“ repräsentiert, die andere das „Eigentum“. Somit fasst er zusammen: „Um daher ein vollkommenes Gesetz in einem freien Staat zu bilden, das die Personen und das Eigentum der Mitglieder betrifft, ist es erforderlich, dass das Gesetz dem allgemeinen 248 Verfassung von New Jersey von 1776, Art. 3; Verfassung von Maryland von 1776, Art. 2, 15; Verfassung von North Carolina von 1776, Art. 4 – 8, ebd., V, 25 – 26, III, 245, 247, V, 161 – 162. Die Verfassung von South Carolina von 1778 sah keine unterschiedlichen Qualifikationen für das aktive Wahlrecht vor, setzte aber deutlich höhere Anforderungen für die Wahl zum Senator fest – Alter 30 Jahre, Residenzpflicht 5 Jahre und Vermögen von 2.000 Pfund –, während die Qualifikationen für Mitglieder des Repräsentantenhauses gesetzlichen Regelungen überlassen wurden, jenseits der allgemeinen Anforderung, dass sie Protestanten sein mussten, vgl. Verfassung von South Carolina von 1778, Art. 12, 13, ebd., VI, 25 – 27. 249 Verfassung von Maryland von 1776, Art. 15 (ebd., III, 247). Die Variationen dieser Standardfloskel verdienen Beachtung. So hatten z. B. die Repräsentanten im Einkammerparlament von Pennsylvania „bekannt [zu sein] für Weisheit und Tugend“ (Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 7, ebd., V, 326 – 327). Die verschiedenen Eigentumsqualifikationen für Mitglieder beider Häuser in Maryland wurden mit dem zweiten Zusatzartikel von 1837 abgeschafft (Abs. 5), ebd., III, 384. New Jersey schaffte die Eigentumsqualifikationen für die Mitglieder beider Häuser mit der Verfassung 1844 ab, Art. IV, Abs. 1,2, ebd., V, 35. Vgl. Jackson Turner Main, The Upper House in Revolutionary America, 1763 – 1788, Madison, Wis.: University of Wisconsin Press, 1967, bes.188 – 191. Ferner oben Kap. III. 5. 250 Reflexions on Representation in Parliament, London: W. Flexney, 1766, 6. 251 Essex County Convention, 25. April 1776, in: The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 75. 252 „The Essex Result“, 1778, in: Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 335. Vgl. C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, London: Oxford University Press, 1962.

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Wohl dient, welches durch die Mehrheit seiner Mitglieder bestimmt wird, und diese Mehrheit sollte jene einschließen, die den größten Teil des Eigentums im Staat besitzen.“253

Für demokratischer eingestellte Zeitgenossen stellte eine getrennte Repräsentation von Eigentum lediglich die Fortwirkung der britischen aristokratischen Tradition dar, der in einem Land, das die Volkssouveränität als Verfassungsprinzip ansah, jede Legitimation fehlte. Nach ihrer Überzeugung verlangte ein demokratischer Egalitarismus nach allein einer Kammer, die eine getrennte Repräsentation von Sonderinteressen ausschloss.254 In diesem Sinne hatte die Verfassung von Pennsylvania von 1776 festgesetzt: „Die höchste legislative Gewalt ist einem Repräsentantenhaus der Bürger des Commonwealth oder Staates von Pennsylvania übertragen.“ Um dieses demokratische Prinzip noch offensichtlicher zu machen, war das Wahlrecht allen erwachsenen männlichen Steuerzahlern übertragen einschließlich der erwachsenen Söhne von Grundbesitzern, „auch wenn sie keine Steuern bezahlt haben“. Jedoch sollte sich die Mandatszeit von Mitgliedern des Repräsentantenhauses auf „nicht mehr als vier Jahre im Zeitraum von sieben“ ausdehnen.255 Das Repräsentantenhaus wurde jährlich gewählt und hatte weitreichende Befugnisse, „[d]och haben sie keine Gewalt, irgendeinen Teil der Verfassung zu ergänzen, zu ändern, abzuschaffen oder zu brechen“.256 Ungeachtet dieser gravierenden Beschränkung war ein Einkammerparlament mit seinen ausgedehnten Befugnissen untragbar für Männer wie John Adams oder Benjamin Rush, die nicht müde wurden, sich über „die elenden Regierungsvorstellungen“ der Verfassung zu beklagen.257 Kern war dabei die Einkammerlegisla253 „Essex Result“, in: The Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 336. Vgl. Marc W. Kruman, Between Authority & Liberty. State Constitution Making in Revolutionary America, Chapel Hill u. London: University of North Carolina Press, 1997, 131 – 145, 152 – 154; Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776 – 1787 [1969], New York: Norton, 1972, 214 – 222. 254 Hinsichtlich einer verbreiteten Unterstützung für eine Einkammerlegislative in den Kolonien in den Jahren 1775 – 76, vgl. Willi Paul Adams, The First American Constitutions. Republican Ideology and the Making of the State Constitutions in the Revolutionary Era, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1980, 262 – 264. 255 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 2, 6, 8, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 326, 327. 256 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 9, vgl. Abs. 1, 19, 20, ebd., 325 – 334. 257 Vgl. John Adams an Abigail Adams, 4. Oktober 1776, in: Letters of Delegates to Congress, 1774 – 1789, hrg. v. Paul H. Smith, V, Washington, D.C.: Library of Congress, 1979, 302; Benjamin Rush an Anthony Wayne, 24. September 1776, 2. April 1777, in: Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Lyman H. Butterfield, 2 Bde., Princeton: Princeton University Press, 1951, I, 114 – 115, 137. Über den Einfluss von John Adams auf Rushs Zurückweisung des Unikameralismus, vgl. Thomas W. Clark, Virtuous Democrats, Liberal Aristocrats: Political Discourse and the Pennsylvania Constitution, 1776 – 1790, MS. Diss. phil. Frankfurt am Main 2001, bes. 272 – 294; Robert F. Williams, „The Influences of Pennsylvania’s 1776 Constitution on American Constitutionalism During the Founding Decade“, in: Pennsylvania Magazine of History and Biography, 112 (1988), 33.

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tive: „Eine Legislative mit nur einer Kammer geht hochschwanger mit Tyrannei.“258 Rushs Breitseiten gegen die Verfassung von Pennsylvania von 1776 und insbesondere ihren Unikameralismus werden auch heute noch vom bikamerlen mainstream in Amerika gerne gehört. Dennoch müssen sie in der gebotenen Perspektive betrachtet werden. Ende 1776 und in Laufe des Jahres 1777 äußerte sie Rush mit besonders glühenden Worten gegenüber einem und demselben Adressaten. Zu dieser Zeit war Rush ein Mitglied des Kongresses, der in diesen Monaten die Konföderationsartikel (Articles of Confederation) entwarf mit einer einzigen Kammer, was allem Anschein nach Rushs Zustimmung fand.259 Sein Widerstand gegen die Verfassung von Pennsylvania von 1776 mag also durchaus andere Gründe gehabt haben, dennoch gelang es ihm, geschickt von einem Argument Gebrauch zu machen, das in der politischen Diskussion dieser Zeit bei jenen gut ankam, auf die es ihm anzukommen schien. Die Radikalen in Pennsylvania waren nicht taub gegenüber einer verbreiteten Furcht, dass eine Legislative dazu neigen könnte, unkluge oder unbedachte Gesetze zu verabschieden. Die amerikanischen Siedler, die sich über ein Jahrzehnt lang über Gesetze des britischen Parlaments beklagt hatten, deren Inhalt sie für verhängnisvoll und deren Auswirkungen auf nicht repräsentierte Minderheiten nach ihrer Überzeugung diskriminierend waren,260 waren für die Risiken ungehinderter legislativer Suprematie sensibilisiert – selbst wenn dieses Parlament aus zwei Kammern bestand. Doch nach Überzeugung der Radikalen in Pennsylvania ließen sich diese Gefahren im Rahmen der Volkssouveränität beherrschen. Daher war ihre Verfassung bestrebt, Lösungen anzubieten, „[z]u dem Zweck, damit Gesetze, bevor sie verabschiedet werden, reiflicher erwogen und die Unannehmlichkeiten übereilter Beschlüsse so weit wie möglich vermieden werden“, ohne zu einer zweiten Kammer Zuflucht zu nehmen.261 Jedoch vermochte die Absicht Pennsylvanias, das Volk direkt am Gesetzgebungsprozess quasi als zweite Kammer zu beteiligen, nicht, weniger radikal eingestellte Zeitgenossen zu überzeugen.262 Auch Georgia hatte sich für eine Einkammerlegislative ausgesprochen, die ebenso wie das Repräsentantenhaus in Pennsylvania weitreichende Befugnisse hatte. 258 Benjamin Rush an Anthony Wayne, 19. Mai 1777, in: Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Butterfield, I, 148. Die Auffassung, eine unikamerale Legislative könne tyrannisch werden, wurde in diesen Jahren auch von anderen in Amerika geteilt, darunter John Adams, vgl. [John Adams,] Thoughts on Government: Applicable to the Present State of the American Colonies. In a Letter from a Gentleman to His Friend, Philadelphia: John Dunlap, 1776, in: The Works of John Adams, hrg. v. Charles Francis Adams, 10 Bde., Boston: Charles C. Little and James Brown, 1850 – 1856, IV, 195 – 196, 206, und passim. Er hatte diese Überzeugung bereits 1772 vertreten, vgl. Clark, Virtuous Democrats, Liberal Aristocrats, 269. 259 Vgl. Benjamin Rush an Barbeu Dubourg, 16. September 1776, in: Letters of Benjamin Rush, hrg. v. Butterfield, I, 111. 260 Vgl. dazu oben Kap. III. 1. 261 Verfassung von Pennsylvania von 1776, Kap. II, Abs. 15, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 330. 262 Vgl. Kruman, Between Authority & Liberty, 150 – 151.

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Aber nicht das Volk war direkt als Ersatz für die fehlende zweite Kammer einbezogen, um unbedachte Gesetze zu verhindern, sondern eigenartigerweise die Exekutive, denn: „[A]lle Gesetze und Verordnungen sollen nach der zweiten Lesung dem Exekutivrat für seine Prüfung und Ratschläge zugesandt werden.“263 Lediglich in dieser Funktion saß dem Exekutivrat ein Präsident und nicht der amtierende Gouverneur vor.264 Interessanterweise scheint die Verfassung von Vermont von 1777 sich sowohl am pennsylvanischen Beispiel wie an dem Georgias orientiert zu haben, indem laut ihr die vorgeschlagene Gesetzgebung sowohl an den Exekutivrat, hier allerdings einschließlich Gouverneur, und an das Volk ausgesandt wurde.265 Doch während die Einbeziehung des Exekutivrates in Georgia praktisch einen Widerspruch innerhalb seiner Verfassung darstellte, die die Gewaltentrennung deklariert hatte, „auf dass kein [Zweig der Regierung] Befugnisse ausübe, die rechtlich einem anderen gehören“,266 enthielt die Verfassung von Vermont keine derartige Bestimmung. Diese Gewaltentrennung fand ohnehin erst allmählich in den amerikanischen Verfassungen Verbreitung.267 So hatte etwa die New Jersey Verfassung von 1776 noch ganz unbekümmert die Verantwortlichkeiten seines Legislativrats mit zusätzlichen exekutiven und sogar judikativen Funktionen vermengt.268 Indem die Montesquieusche Theorie der Gewaltentrennung, nicht zuletzt dank des Blackstoneschen Zusatzes der checks and balances,269 in den folgenden Jahren allmählich an Resonanz gewann und ihr Stellenwert innerhalb des Prinzipiengefüges des modernen Konstitutionalismus klarer erkannt wurde, verschwand zunehmend der Reiz eines alles überlagernden Prinzips der Volkssouveränität zugunsten systemischer Konsistenz und größerer konstitutioneller Stabilität.270 Insbesondere nach der Verfassung von Pennsylvania von 1776271 kristallisierte sich diese Tendenz allmählich heraus. Auf der einen Seite werden wir Zeuge eines abnehmenden Interesses an der Umsetzung des reinen Prinzips der Volkssouveränität in eine damit korrespondierende Repräsentationstheorie, ob mit einer oder zwei 263

Verfassung von Georgia von 1777, Art. 8, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 15. 264 Verfassung von Georgia von 1777, Art. 22, 25, ebd., 16, 17. 265 Verfassung von Vermont von 1777, Kap. II, Abs. 2, 7, 8, 14, ebd., VII, 13 – 15. Wie in Pennsylvania kam der Ratschlag dazu von dem radikalen Thomas Young aus Pennsylvania, vgl. Clark, Virtuous Democrats, Liberal Aristocrats, 287. 266 Verfassung von Georgia von 1777, Art. I, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 13. 267 Vgl. dazu oben Kap. III. 3. 268 Verfassung von New Jersey von 1776 Art. 8, 9, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 26 – 27. 269 Vgl. dazu oben Kap. III. 2. 270 Die Verfassung in New York ist ein weiteres Indiz für die noch offene Situation, als sie eine Zweikammernlegislative und einen Rat aus dem Gouverneur und den obersten Richtern zur Revision von Gesetzesvorschlägen vorsah, vgl. Verfassung von New York von 1777, Art. 3, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 85 – 86. 271 Vgl. Williams, „The Influences of Pennsylvania’s 1776 Constitution“, bes. 25 – 37.

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Kammern – hier taten offensichtlich die durchweg an Eigentumsqualifikationen gebundenen Wahlgesetze im Sinne des politischen Machterhalts der Elite ihre Wirkung272 –, während auf der anderen Seite eben diese Elite ein wachsendes Interesse an Gesetzgebung, ausbalancierter Regierung und „vernünftigen“ Gesetzen propagierte, womit die konservative Wende dieser Jahre zu einer stärkeren Begrenzung der Legislative begleitet wurde. Unter dem Einfluss von Wassily Leontief273 würden Wirtschaftswissenschaftler dies als einen Wechsel von einer Input orientierten Perspektive, die auf der Bedeutung der zugrunde liegenden Prinzipien der Repräsentation bestand, wie sie in den Debatten über das Für und Wider um die gesonderte Repräsentation von Eigentum in einer Zeit zum Ausdruck kamen, als das britische Beispiel noch einen naheliegenden Referenzpunkt verkörperte, hin zu einer Output orientierten Perspektive bezeichnen,274 dem es verstärkt um die vorgegebenen oder zu erwartenden Folgen geht, demzufolge die Wirkungen der Gesetzgebung höher einzustufen sind als die Reinheit des Prinzips. Mehr als jeder andere hatte John Adams in den Jahren der vehementen Kritik an der Verfassung von Pennsylvania von 1776 zu diesem Perspektivwechsel beigetragen. Bereits Anfang 1776 hat er anlässlich von Thomas Paines heftigen Angriff auf das bikamerale britische Parlament seine Thoughts on Government veröffentlicht. Bevor er überhaupt eine Argumentation in dieser kleinen, aber höchst einflussreichen Schrift entwickelte, machte er klar, dass für ihn die Output-Orientierung oberstes Gebot war: „Wir sollten darüber nachdenken, was das Ziel der Regierung ist, bevor wir entscheiden, welches die beste Form ist.“275 Eine emphatische Zurückweisung der Idee eines Einkammerparlaments war die Folge. Adams führte aus, dass eine zweite Kammer als „Mediator“ zwischen der Legislative, die „ein exaktes Porträt der Bevölkerung insgesamt en miniature sein sollte“ und der Exekutive fungierte. Anderenfalls würde „die Balance zwischen den beiden widerstreitenden Gewalten“ nicht erreicht, und jede würde danach streben, die andere zu schmälern, „bis der Konflikt im Krieg enden wird“.276 Indem er seine Idee der zweiten Kammer als „Mediator“, was so offensichtlich im Widerspruch zu der sich herausbildenden Vorstellung der Gewaltentrennung stand, modifizierte, legte Adams rund zehn Jahre später seine Überlegungen zum Verfassungsausgleich in seiner Verteidigung der amerikanischen Verfassungen dar, die 272

Vgl. dazu oben Kap. III. 5. Es ist hier nicht der Ort, näher auf Leontiefs Input-Output-Analyse einzugehen, vgl. jedoch die zu Ehren von Wassily Leontief erschienenen Beiträge in: Journal of Policy Modeling, 11 (1989), 1 – 178. 274 Indirekt stellt dieser Ansatz eine Antwort auf Donald S. Lutz und seine Feststellung dar, dass „die bikamerale Legislative einem neuen Zweck dienen würde“: Donald S. Lutz, Popular Consent and Popular Control. Whig Political Theory in the Early State Constitutions, Baton Rouge und London: Louisiana State University Press, 1980, 231. 275 [Adams,] Thoughts on Government, in: Works of John Adams, hrg. v. Adams, IV, 193. 276 Ebd., 195, 196. Vgl. S. B. Benjamin, „The Significance of the Massachusetts Constitution of 1780“, in: Temple Law Review, 70 (1997), bes. 891 – 895. 273

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ungeachtet seines elitären Politikansatzes jedes Input-orientierte Konzept einer gesonderten Vertretung von Eigentum ausschloss.277 In der hauptsächlich von ihm verfassten Verfassung von Massachusetts von 1780 hatte Adams darauf bestanden, dass Eigentum in der Frage der Repräsentation zumindest indirekt eine Rolle spielen sollte, wie es in den Anforderungen für die Mitglieder beider Häuser zum Ausdruck kam, indem für das Repräsentantenhaus Eigentum im Wert von 100 Pfund und eine Aufenthaltsdauer von einem Jahr und für den Senat Eigentum im Wert von 300 Pfund und eine Aufenthaltsdauer von fünf Jahren vorgeschrieben waren.278 Doch war dies einer überlagernden Betrachtung untergeordnet. Während vergleichbare Bestimmungen bereits 1776 in New Jersey, Maryland und North Carolina und 1778 in South Carolina eingeführt worden waren, war die Verfassungsstruktur des Bikameralismus inzwischen deutlich weiter ausgereift. Auf die verschwommenen Verantwortlichkeiten des Rates in der Verfassung von New Jersey ist bereits hingewiesen worden. Das Haus der Delegierten in Maryland hatte ebenfalls judikative Befugnisse, und hier wie in den drei übrigen Verfassungen kam die Teilung in zwei Kammern regelmäßig dann zu ihrem Ende, wenn es darum gibt, Amtsträger in gemeinsamen Abstimmungen zu wählen. In allen Fällen beinhaltete diese Bestimmungen über gemeinsame Abstimmungen die Gefahr, den politischen Willen der kleineren Kammer dem der zahlmäßig größeren unterzuordnen und sie damit zum Opfer einer Mehrheit zu machen, für die das mitgliederreichere Haus verantwortlich war.279 Während beide 277 John Adams, A Defense of the Constitutions of Government of the United States of America against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated 22nd March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: Budd and Bartram, 31797 [Ndr. Aalen: Scientia, 1979], I, 93, 224 (die erste Auflage war 1787 – 88 in London erschienen). 1790 fügte Adams jedoch in seinen Discourses on Davila hinzu: „Eigentum muss jedoch gesichert sein, oder Freiheit kann nicht existieren. Denn wenn unbegrenzte oder unausgeglichene Macht, über Eigentum zu verfügen, in die Hände jener gelegt wird, die kein Eigentum besitzen, wird Frankreich feststellen, wie wir festgestellt haben, dass das Lamm der Obhut des Wolfs übergeben wurde. […] Die große Kunst der Gesetzgebung besteht darin, in der Legislative die Armen gegen die Reichen in Ausgleich zu bringen“ (Works of John Adams, hrg. v. Adams, VI, 280). Ich danke Thomas Clark für den Hinweis, diesen Text erneut zu lesen. Vgl. C. Bradley Thompson, „John Adams and the Science of Politics“, in: John Adams and the Founding of the Republic, hrg. v. Richard Alan Ryerson, Boston: Massachusetts Historical Society, 2001, 252 – 257. Über Adams und seine Defense of the Constitutions allgemein, C. Bradley Thompson, John Adams and the Spirit of Liberty, Lawrence, Ks.: University Press of Kansas, 1998; Correa Moylan Walsh, The Political Science of John Adams. A Study in the Theory of Mixed Government and the Bicameral System, New York und London: Putnam, 1915. 278 Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. II, Kap. I., Abs. 1, Art. 1, Abs. 2, Art. 2, 5, Abs. 3, Art. 3, 4, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 23, 25, 26, 27 – 28. Vgl. Pole, Political Representation, 214 – 226. 279 Vgl. Verfassung von Maryland von 1776, Art. 10, 12, 25, 26, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, III, 246 – 249. In New Jersey wurde auch der Gouverneur in gemeinsamer Abstimmung von beiden Häusern gewählt (Verfassung von New Jersey von 1776, Art. 7, ebd., V, 26), während in North und South Carolina fast alle öffentlichen Ernennungen durch gemeinsame Abstimmungen vollzogen wurden (Verfassung von North Carolina von 1776, Art. 13 – 16, 20, 22, 24, 33, ebd., V, 162 – 164; Verfassung von South Carolina von 1778, Art. 3, 18, 22, 24, 26 – 31, ebd., VI, 23, 27 – 30). New York praktizierte die

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Kammern getrennt und gleichberechtigt entschieden, hörte der Bikameralismus praktisch stets dann auf, wenn es um die Vergabe wichtiger, wenn nicht der wichtigsten Staatsämter ging. Selbst wenn die Verfassung von Massachusetts nicht vollends mit den gemeinsamen Abstimmungen brach,280 gelang es Adams, die Trennung beider Kammern voneinander dank seiner Betonung des Verfassungsgleichgewichts konsequenter durchzuführen, als dies in den bisherigen amerikanischen Staatsverfassungen geschehen war. Indem er das Prinzip der checks and balances in das System der Gewaltentrennung einfügte, glaubte Adams, den Bikameralismus auf die solide Grundlage eines Output-orientierten Konzeptes zu stellen und damit zugleich die unausgeglichene Regierung einer unbeschränkten Mehrheit mit ihren eigensüchtigen, überhasteten und unausgewogenen Gesetzen vermeiden zu können, wie dies nach seiner Überzeugung zwangsläufig das Ergebnis der radikaldemokratischen Verfassung von Pennsylvania sein musste.281 Der Bikameralismus war in Amerika zum vorherrschenden Modell geworden, als der Bundeskonvent 1787 in Philadelphia zusammentrat. Die alleinige Kammer der Konföderationsartikel hatte wenige Befürworter, unter ihnen Benjamin Franklin aus Pennsylvania. Dagegen überwogen die Bemühungen um Verfassungsbalance und Gesetzgebung, die nunmehr im Rahmen einer Bundesverfassung eine zusätzliche Dimension erlangten. Als sich im Zuge der Debatten herausstellte, dass allein ein Kompromiss zwischen den kleinen und den großen Staaten den Konflikt lösen konnte, der den Konvent zu sprengen drohte, wurde die bikamerale Lösung unausweichlich.282 Auf diese Weise bezog das Repräsentantenhaus „seine Gewalt vom Volk von Amerika“, wie es Madison im Federalist Nr. 39 ausdrücken sollte, und der Senat „von den Staaten als politische und gleichrangige Gesellschaften“, so dass die erste Kammer das „nationale“ Element verkörpere und die zweite das „föderale“.283 Doch damit der Ehrgeiz des Einen den Ehrgeiz des Anderen neutralisieren konnte, erschien eine strikte Trennung der Gewalten entscheidend. Jeder Zweig sollte „einen eigenen Willen haben“ und daher „sollten die Mitglieder eines jeden so wenig wie gemeinsame Abstimmung ausschließlich zur Nominierung der Delegierten zum Kongress der Vereinigten Staaten (Verfassung von New York von 1777, Art. 30, ebd., V, 90). 280 Vgl. Verfassung von Massachusetts von 1780, Tl. II, Kap. II, Abs. 3, Art. 2, Abs. 4, Art. 1, Kap. IV, ebd., IV, 32, 33, 34. Sie tauchten bereits in dem Entwurf von John Adams auf, vgl. Works of John Adams, hrg. v. Adams, IV, 253, 254, 256. Bezüglich der Teilung beider Kammern, der Qualifikation ihrer Mitglieder und der gemeinsamen Abstimmung übernahm New Hampshire die Bestimmungen der Verfassung von Massachusetts mit keiner oder nur geringfügigen Veränderungen, vgl. Verfassung von New Hampshire von 1784, Tl. II, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, IV, 370 – 372. 281 Vgl. Wood, The Creation of the American Republic, 254 – 255. 282 Vgl. dazu den Delegierten von Connecticut Roger Sherman, der im Konvent äußerte, dass er glaubte, dass „ein Zweig ausreichend sei“, er jedoch bereit sei, zwei Zweige zu akzeptieren, „um die Rechte der kleineren Staaten zu sichern“, The Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Max Farrand, 4 Bde., New Haven, CT: Yale University Press, 21937, I, 343, 352. 283 The Federalist, Nr. 39 (hrg. m. e. Einl. u. Anm. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 254 – 255).

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möglich mit der Ernennung der Mitglieder der [anderen] zu tun haben“.284 Folglich waren gemeinsame Abstimmungen nicht beabsichtigt, noch war eine unterschiedliche Repräsentation von Personen und Eigentum vorgesehen, da die föderale Struktur zur Fragmentarisierung oder der „Vielfalt der Interessen“ führte. „Während alle Autorität […] von der Gesellschaft herrührt und von ihr abhängig ist, wird die Gesellschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Klassen von Bürgern heruntergebrochen, dass die Rechte des Einzelnen oder der Minderheit in geringer Gefahr durch interessierte Bündnisse der Mehrheit sind.“285 Mithin war die „Heftigkeit der Faktionen“, die „durch die bestimmende Kraft einer interessengeleiteten und anmaßenden Mehrheit“ leicht zu „gefährlicher“ Gesetzgebung führen könne, abgewehrt, nicht „durch Beseitigung der Ursachen“ – oder mittels zugrunde liegender theoretischer Prinzipien –, sondern durch „Kontrolle ihrer Auswirkungen“, will sagen ihrer zu erwartenden Folgen.286 Was sich auf der Ebene der Staatsverfassungen als Output-orientiertes Modell zur Sicherung einer Gesetzgebung im Interesse der besitzbürgerlichen Elite entwickelt hatte, wurde von der Bundesverfassung als Leitgedanke aufgegriffen, während sie zugleich dem Bikameralismus eine weitere, föderale Legitimation verschaffte. Doch unter der Herausforderung der Demokratie im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor das Eigentum seine politischen Privilegien, und die Idee des inneren Verfassungsausgleichs, die John Adams so teuer gewesen war, büßte ihre politische Bedeutung jenseits des Rahmens des föderalen Systems ein. Dennoch bestimmte der Bikameralismus weiterhin die Staatsverfassungen, so dass das Fehlen einer theoretischen Begründung auf Staatsebene ihn zwang, sich allein auf die Output-orientierte Sorge der Verhinderung „schlechter“ oder „falscher“ Gesetzgebung als einzigem verbliebenen Prinzip zu stützen,287 in Tocquevilles Worten ein „Axiom der politischen Wissenschaft“: „Die legislative Gewalt teilen, dadurch die Bewegung der politischen Versammlungen verlangsamen und ein Berufungstribunal für die Revision der Gesetze schaffen, das sind die einzigen Vorteile, die aus der aktuelle Verfassung der zwei Kammern in den Vereinigten Staaten resultieren.“288 284

Madison, in: The Federalist, Nr. 51 (ebd., 348). Ebd., 351. 286 Madison, in: The Federalist, Nr. 10 (ebd., 56 – 58). 287 Vgl. Laura J. Scalia, America’s Jeffersonian Experiment. Remaking State Constitutions, 1820 – 1850, DeKalb: Northern Illinois University Press, 1999, 106 – 108; ferner oben Kap. III. 6. 288 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 2 Bde. (Œuvres complètes, hrg. v. J.-P. Mayer, I), Paris: Gallimard, 1961, I, 85. Vgl. Thomas Cooley, der Jahrzehnte später mit seinen meisterhaften Constitutional Limitations der einflussreichste Autor wurde über „alle jene Einschränkungen, die die Vorsicht der Gründerväter der Ausübung der Befugnisse der Regierung auferlegt hat“: Thomas M. Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations which Rest Upon the Legislative Power of the States of the American Union, Boston: Little, Brown, and Company, 51883 [Ndr. Union, N.J.: Lawbook Exchange, 1998], iii (Vorwort zur 2. Auflage). Auch Clyde Chester Walker, A Study of the Theoretical Basis of the American 285

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Weder die frühen amerikanischen Ideen eines Input-orientierten Bikameralismus mit der getrennten Repräsentation von Eigentum, noch der sich durchsetzende Output-orientierte in einem System strikter Gewaltentrennung eingebundene Bikameralismus, der ungehinderte Mehrheitsherrschaft und unbedachte Gesetzgebung verhindern und auf der Bundesebene die föderale Struktur der Union bekräftigen sollte, vermochten das Verfassungsdenken der Französischen Revolution zu beeinflussen. Dennoch plädierte der wenig glückliche erste Verfassungsausschuss der französischen Nationalversammlung im Sommer 1789 für eine Zweikammernlegislative, eine Einteilung, die „die Weisheit ihrer entsprechenden Resolutionen“ sichere.289 Mit den Bezeichnungen „Repräsentantenhaus“ und „Senat“ und mit höheren Alters-, Aufenthalts- und Eigentumsanforderungen für die Mitglieder der zweiten Kammer als für die der ersten gestand er den Einfluss amerikanischer Beispiele bereitwillig ein.290 Doch neben diesem amerikanischen Beispiel, ergaben sich fraglos auch Parallelen zum britischen Parlament, so dass die auf dem Fuß folgende Zurückweisung wenig überraschend erscheint.291 Dass das britische Parlament aus zwei Häusern bestehe, habe nichts mit dem Streben nach besserer Gesetzgebung zu tun, so der Hinweis von Rabaud Saint Etienne in der Nachfolge Condorcets,292 sondern sei vielmehr ein Relikt aus feudalen Zeiten, um die Interessen des Adels gegenüber der übrigen Bevölkerung zu wahren. Mit einem vergleichbaren Gesellschaftsaufbau würde daher in Frankreich eine zweite Kammer stets „eine Kammer des Adels“ sein, wie Barnave bald mit Rückgriff auf Argumente von Sieyès hinzufügen würde.293 Weder ein britischer noch ein amerikanischer Bikameralismus konnten daher ein Modell für das revolutionäre Frankreich abgeben, wo die souveräne Nation an oberster Stelle stand. Da der Souverän „eine und einfache Sache“ sei, so Rabauds Schlussfolgerung, ist auch die Founders’ Bicameral Preference, 1776 – 1790, Ms. Ph.D. diss. University of Notre Dame 1977, bes. 149 – 151. 289 Archives parlementaires, 1re sér., VIII, 555. 290 Vgl. die Ausführungen von Lally-Tollendal vom 31. August und von Mounier vom 4. September 1789 sowie den Ausschussentwurf in Archives parlementaires, 1re sér., VIII (1875), 514 – 522, 523 – 527, 554 – 564. Generell Roger Delagrange, Le premier comité de constitution de la Constituante (1789): Ses vues et ses projets. Un moment d’éclat du Parti royaliste libéral en 1789, Paris: Arthur Rousseau, 1900, bes. 206 – 221. 291 Vgl. Pasquale Pasquino, Sieyes et l’invention de la constitution en France, Paris: Odile Jacob, 1998, 15 – 29; Patrice Gueniffey, „Constitution et intérêts sociaux: le débat sur les deux chambres“, in: 1789 et l’Invention de la constitution. Actes du colloque de Paris organisé par l’Association Française de Science Politique, 2, 3 et 4 mars 1989, hrg. v. Michel Troper und Lucien Jaume, Paris: L. G. D. J – Bruylant, 1994, 77 – 88. 292 Vgl. [Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet,] Lettres d’un bourgeois de New-Haven à un citoyen de Virginie, sur l’inutilité de partager le pouvoir législatif entre plusieurs corps [1787], in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Arthur Condorcet O’Connor u. François Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 49, IX, bes. 74 – 93. 293 Antoine Barnave, De la Révolution et de la Constitution [1792/93], hrg. v. Patrice Gueniffey, Grenoble: Presses Universitaires de Grenoble, 1988, 122. Vgl. Emmanuel Sieyès, Qu’est-ce que le Tiers état ? [1789], hrg. v. Roberto Zapperi, Genf: Droz, 1970, 167 – 171.

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legislative Gewalt „eine und einfache: und da der Souverän nicht geteilt werden kann, kann auch die legislative Gewalt nicht geteilt werden“. Die Legislative war das Abbild der souveränen Nation und erlaubte keine Fragmentierung.294 Der abbé Sieyès schloss jede Vorstellung einer zweiten Kammer noch kategorischer aus. Nach seiner Überzeugung war das Gesetz, la loi, der Ausdruck des Willens der Regierten, was wiederum mit irgendeiner Ungleichheit an politischen Rechten unvereinbar war. „Es existiert lediglich ein Stand im Staat, oder vielmehr Stände haben aufgehört zu existieren, seit die Repräsentation allgemein und gleich ist. Ohne Zweifel kann keine Klasse von Bürgern erwarten, zu seinen Gunsten eine partielle, getrennte und ungleiche Repräsentation zu bewahren. Dies wäre ein politisches Monster; es ist für immer abgeschafft.“295

Nicht allein die Idee der Einheit des Gesetzes und des Prinzips der Gleichheit widersprachen laut Sieyès jedem Versuch einer getrennten Repräsentation. Wenn Repräsentation auf der Stimme des Bürgers basierte, mochte jeder, der das Recht hatte, dieses Privileg auf zwei Stimmen auszudehnen, es mit dem gleichen Recht unendlich weiter ausdehnen. Am Ende konnte der König beanspruchen, der einzige Repräsentant der Nation zu sein. Ungleichheit, einmal eingeführt, mochte leicht in Aristokratie resultieren und rasch „in dem absurdesten Despotismus“ enden. Vielmehr war der vor Ort gewählte Repräsentant der Repräsentant der gesamten Nation. Ohne auf diesem Prinzip zu beharren, „würde es eine politische Ungleichheit unter den Deputierten geben, die durch nichts zu rechtfertigen wäre; und die Minderheit könnte der Mehrheit ein Gesetz vorschreiben“.296 Sieyès Auffassung verdient nicht allein deswegen Beachtung, weil sie sich in Frankreich durchsetzte und zumindest bis 1795 die vorherrschende Meinung in Frankreich bildete, sondern weil sie ebenfalls den frühen demokratischen Auffassungen in Amerika ähnelte,297 womit zugleich ihr diametraler Gegensatz zu den in Amerika in der Folge tonangebenden Auffassungen ausgedrückt ist. Nicht Kontrolle und Begrenzung der Regierung bestimmten die Zusammensetzung der Legislative, um zu verhindern, dass den Bürgern unnötige Lasten auferlegt wurden und sichergestellt wurde, dass weise Gesetze verabschiedet wurden, sondern der Begriff des Gesetzes und die reinen Prinzipien von Repräsentation und Gleichheit. Es war die klassische Input-orientierte Perspektive, die die strikte Einhaltung der zugrunde liegenden Lehrsätze betonte, statt mit Nachdruck auf die zu erwartenden Folgen zu verweisen. Es blieb dem Mathematiker Condorcet vorbehalten hinzuzufügen, dass zwei Kammern keine Garantie für breitere Mehrheiten noch für weisere Gesetzgebung seien und dass eine Rechteerklärung und die Revisionsgewalt eines Konvents

294 295 296 297

Archives parlementaires, 1re sér., VIII, 569. Emmanuel Sieyès, 7. September 1789, ebd., 592. Ebd., 593. Vgl. Paul Bastid, Sieyès et sa pensée, Paris: Hachette, 1939, 382 – 385. Vgl. dazu das voraufgegangenen Kap. V. 4.

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jenseits des Zugriffs der Legislative einen ausreichenden Schutz vor ausufernden Machttendenzen einer unikameralen Legislative boten.298 In Folge dieser Input-orientierten Theorie waren die französischen Revolutionsverfassungen eindeutig. Während die Verfassung von 1791 erklärte, dass die Legislative aus „nur einer Kammer“ bestehe und ihre Mitglieder als „Repräsentanten der Nation“ bezeichnete, 299 war die jakobinische Verfassung von 1793 noch deutlicher. Sie verkündete, dass „[d]ie Bevölkerung die einzige Grundlage der nationalen Repräsentation ist“ und dass „[j]eder Deputierte der ganzen Nation angehört“. Noch zentraler war die Einheit und Unteilbarkeit der Republik, ihr zentraler Verfassungsmythos,300 dessen Spiegelbild die Legislative war: „Der gesetzgebende Körper ist ein, unteilbar und permanent.“301 Ideologisch war die Legislative die verkörperte Republik, mit der die Input-orientierte Theorie des Unikameralismus ihren Höhepunkt erreichte. Eine radikale Veränderung kam mit den Thermidorianern und der Verfassung des Jahres III (1795). Hatte die Betonung von Prinzip und Theorie die Diskussion der voraufgegangenen Jahre geprägt, legten Boissy d’Anglas und der Elferausschuss (Commission des Onze) das Gewicht auf die Erfahrung, deren Preis man in den letzten Jahren gezahlt habe.302 Prinzip gegen Erfahrung austauschen bedeutete jedoch, eine Konstruktion im Einklang mit der reinen Theorie durch eine zu ersetzen, die bereit war, die Konsequenzen ebenso in Betracht zu ziehen. Wiederum wurde an die Verfassung von Pennsylvania von 1776 erinnert, die in Frankreich seit den späten 1770er Jahren so hochgehalten worden war,303 doch nunmehr eindeutig unter negativen Vorzeichen.304 Dagegen wurde zustimmend auf John Adams und seine Theorie des Verfassungsausgleichs verwiesen, selbst wenn ihre Erfassung lückenhaft 298

Condorcet, „Examen sur cette question: Est-il utile de diviser une Assemblée nationale en plusieurs chambres?“ [1789], in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, IX, 331 – 364. 299 Verfassung von 1791, Tit. III, Kap. I, Art. 1, Kap. I, Abs. V, Art. 7, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 39, 42. 300 Vgl. Roland Debbasch, Le Principe révolutionnaire d’unité et d’indivisibilité de la République. Essai d’histoire politique, Paris: Economica; Aix-en-Provence: Presses universitaires d’Aix-Marseille, 1988. 301 Jakobinische Verfassung von 1793, Verfassungsakt, Art. 21, 29, 39, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 98, 99. 302 Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 281, 11. Messidor, Jahr III, in: Réimpression de l’ancien Moniteur, XXV, Paris: Henri Plon, 1862, 81. Vgl. Pierre Avril, „Le ,bicamérisme‘ de l’an III“, in: La Constitution de l’an III ou l’ordre républicain. Actes du Colloque de Dijon, 3 et 4 Octobre 1996, hrg. v. Jean Bart u. a., Dijon: Editions Universitaires de Dijon, 1998, 184 – 187. 303 Vgl. dazu neben dem bereits erwähnten Kap. V. 4. auch oben Kap. IV. 1. 304 Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 283, 13. Messidor, Jahr III, in: Réimpression de l’ancien Moniteur, XXV, 98.

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bleiben mochte.305 Beide hatten den Nachweis geliefert, dass die ausschließliche Konzentration auf Input einem Nachdenken über Output Platz machen müsse, darüber „wo Ihr ankommen wollt“.306 Um dahin zu kommen, sei es notwendig, einen Deich zu errichten, nicht den der Leidenschaft, sondern den der Erfahrung. „[D]ieser Deich ist die Teilung des gesetzgebenden Körpers in zwei Teile.“307 Damit deutete sich die Lösung an, die die Verfassung des Jahres III (1795) präsentierte, die einen Bikameralismus sui generis verkörperte, wie Pierre Avril betont hat, ohne zwei nach Ursprung und Legitimation unterschiedliche Kammern.308 Statt vormals hochgehaltene Ideale völlig aufzugeben, suchte man einen Kompromiss, der die Einheit aufrechterhielt, aber die Unteilbarkeit preisgab. Titel V der Verfassung über „Legislative Gewalt“ errichtet einen gesetzgebenden Körper, dessen Mitglieder auf drei Jahre bei jährlicher Drittelerneuerung gewählt wurden. Kein Mitglied durfte länger als sechs aufeinanderfolgende Jahre ihm angehören. Sie waren nicht Repräsentanten ihrer Departements, sondern der gesamten Nation und saßen permanent.309 Dieser gesetzgebende Körper war geteilt in den „Rat der Alten“ und den „Rat der 500“, die nie gemeinsam abstimmen durften.310 Das Recht der Gesetzesinitiative besaß ausschließlich der „Rat der 500“, während der „Rat der Alten“ in drei Lesungen den Vorschlag annehmen oder zurückweisen konnte. Allein ihre Zustimmung machte aus dem Vorschlag ein Gesetz.311 Diese an James Harrington erinnernden Bestimmungen312 wurden emphatisch von Boissy d’Anglas begründet: „Der Rat der 500, der aus den jüngeren Mitgliedern gebildet wird, schlägt die Dekrete vor, die er

305

Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 283, 13. Messidor, Jahr III, ebd., 100. Vgl. auch Adrien Lezay-Marnésia, Qu’est-ce que la constitution de 93?, Paris: Migneret, an III [1795]. Auch Patrice Gueniffey, „La Révolution ambiguë de l’an III: La Convention, l’élection directe et le problème des candidatures“, in: 1795: Pour une République sans Révolution. Colloque International, 29 juin – 1er Juillet 1995, hrg. v. Roger Dupuy und Marcel Morabito, Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 1996, 53 – 54. 306 Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 281, 11. Messidor, Jahr III, in: Réimpression de l’ancien Moniteur, XXV, 82. 307 Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 282, 12. Messidor, Jahr III, ebd., 94. 308 Vgl. Avril, „Le ,bicamérisme‘ de l’an III“, 189 – 198. 309 Verfassung des Jahres III, Art. 44, 52, 53, 55, 59, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 110 – 111. Zum corps législatif, vgl. Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 283, 13. Messidor, Jahr III, in: Réimpression de l’ancien Moniteur, XXV, 98 – 100. 310 Verfassung des Jahres III, Art. 44, 60, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 110, 111. 311 Art. 76 – 79, 86 – 100, ebd., 112 – 114. 312 Vgl. James Harrington, The Commonwealth of Oceana [1656], in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 170 – 174.

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für nützlich hält; er wird der Gedanke oder sozusagen die Imagination der Republik sein; der Rat der Alten wird die Vernunft sein.“313 Das Ziel dieser Konstruktion war, beide Gefahren zu umgehen, die einer einzigen Kammer, tyrannisch zu werden, und die von zwei Kammern, die, unabhängig voneinander, sich bekriegen könnten, mutmaßlich mit dem Volk auf der einen Seite und der Aristokratie auf der anderen, jenem klassischen Konflikt, wie ihn gut hundert Jahre später Großbritannien erneut gemäß der Formel von Lloyd George in der Unterhauswahl von 1910 als „Der Adel gegen das Volk“ inmitten einer ernsten Verfassungskrise erleben sollte, die dann zu einer der einschneidendsten Veränderungen des britischen Bikameralismus mit der dramatischen Beschneidung der Macht des Oberhauses führte. Man hat der Verfassung des Jahres III vorgeworfen, „weit entfernt vom modernen Bikameralismus“ gewesen zu sein.314 Selbst wenn dem kaum zu widersprechen ist, muss doch in Rechnung gestellt werden, dass mit dieser Verfassung erstmals in der französischen Verfassungsgeschichte der Versuch unternommen wurde, in der Organisation der legislativen Macht die Frage zu berücksichtigen, ob die zu errichtende Struktur angemessen ist, um die Verfassungsziele von Freiheit, Gleichheit und Eigentumsschutz gewährleisten zu können.315 Man mag darüber streiten, ob der Bikameralismus und insbesondere die spezifischen Bestimmung der Verfassung des Jahres III eine angemessene Antwort auf die Frage sind, wie dieser mithin zu organisieren sei. Dennoch wird man festhalten müssen, dass die Verfassung des Jahres III in Frankreich den ersten Versuch darstellte, die vormals beherrschende Inputorientierte Perspektive in der Verfassungsgebung durch einen Output-orientierten Zugang zu ersetzen, um tragfähige Gesetze sicherzustellen, die den zugrunde liegenden Verfassungsprinzipien gerecht werden sollten. Darin zeigt sich ein spürbarer amerikanischer Einfluss, wie er sich dann aus ganz anderen Gründen in der Verfassung von 1848 manifestierte und erneut, wenn auch deutlich geringer, in der von 1958. Auch wenn diese französische Reorientierung von 1795 nur kurzlebig war und der erneuerte amerikanische Einfluss von 1848 mit Tocqueville als einem seiner Befürworter es nicht vermochte, eine Zweikammernlegislative mit einer Output-

313 Boissy d’Anglas, in: Gazette nationale ou Le Moniteur universel, N8 283, 13. Messidor, Jahr III, in: Réimpression de l’ancien Moniteur, XXV, 99. 314 Jean-Pierre Machelon, „La Constitution du 5 fructidor an III (22 août 1795): archaïsme ou modernité?“, in: La Constitution de l’an III. Boissy d’Anglas et la naissance du libéralisme constitutionnel, hrg. v. Gérard Conac und Jean-Pierre Machelon, Paris: Presses Universitaires de France, 1999, 32. Vgl. auch Jean-Pierre Marichy, La deuxième Chambre dans la vie politique française depuis 1875, Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence, 1969, 31, 53 – 56. Die traditionelle Ablehnung findet sich bei Maurice Deslandres, Histoire constitutionnelle de la France de 1789 à 1870, 3 Bde., Paris: Edouard Duchemin, 1932 – 1937, I, 301 – 305. 315 Vgl. dazu etwa Verfassung des Jahres III, Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und Bürgers, Art. 9, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 105.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

orientierten Perspektive oder einem anderen verfügbaren Prinzip hervorzubringen,316 erwies sich das Modell von 1795 außerhalb von Frankreich in den 1790er Jahren und darüber hinaus aus unterschiedlichsten Gründen durchaus als beispielgebend.317 Der Bikameralismus entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Axiom der politischen Wissenschaft, was nicht nur durch zahllose Verfassungen dieses Jahrhunderts dokumentiert ist, sondern ebenfalls von so unterschiedlichen Autoren wie Tocqueville, Esmein318 oder James Bryce319 belegt ist. Den einzigen wirklichen Grund, den sie für ihr Pochen auf einer zweiten Kammer lieferten, ist deren Kontrollfunktion gegenüber überhasteten und unbedachten Gesetzentwürfen der ersten Kammer. Es ist eine strikte Output-orientierte Perspektive, mit der ein vermeintlich praktisches Argument die fehlende theoretische Begründung ersetzen sollte.320 Die Frage bleibt daher, welchen Wert dieses aus dem späten 18. Jahrhundert stammende praktische Argument in demokratischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch beanspruchen kann. Das Prinzip einer ernst genommenen Volkssouveränität lässt unverändert keinen Raum für die getrennte Repräsentation besonderer Interessen321 und war erneut ein Argument, mit dem amerikanische Progressive Anfang des 20. Jahrhunderts den Bikameralismus in den amerikanischen 316 Vgl. Alexis de Tocqueville, Souvenirs (Œuvres complètes, hrg. v. J.-P. Mayer, XII), Paris: Gallimard, 1964, 184 – 187. 317 Vgl. die sogenannte Schweizer Verfassung der Notabeln vom 20. Mai 1802, Tl. VI, Art. 15 („Die Gesetze werden durch den Senat vorbereitet und entworfen, und durch die Tagsatzung beschlossen“). Weitgehende Kopien der Organisation der legislativen Gewalt der Verfassung des Jahres III finden sich in der Verfassung der Cisalpinischen Republik vom 30. Juni 1797 (Tl. V) und in der Verfassung der Batavischen Republik vom 17. März 1798 (Tit. III, Tl. I). Die Einteilung in beratende und beschließende Kammer findet sich ebenfalls in der Verfassung des Königreichs der Niederlande vom 24. August 1815 (Kap. III, Tl. V). Die napoleonischen Verfassungen Frankreichs zwischen 1799 und 1804 verdienen in diesem Zusammenhang keine besondere Beachtung, da ihre einzige Funktion war, die ungeschmälerte Gewalt des Ersten Konsuls bzw. des Kaisers zu konsolidieren. Zur Geschichte des Bikameralismus in Frankreich, vgl. Paul Smith, „,A quoi sert le Sénat?‘ Reflections on French Bicameralism“, in: Modern & Contemporary France, N.S. 4 (1996), 51 – 60. Zum Einfluss der Verfassung des Jahres III in Deutschland in den 1790er Jahren, vgl. unten Kap. VI. 1. und VI. 2. sowie in Lateinamerika Kap. VIII. 1. und VIII. 2. 318 Vgl. A. Esmein, Éléments de droit constitutionnel français et comparé, Paris: Sirey, 5 1909, 90 – 91. 319 Vgl. James Bryce, The American Commonwealth, 2 Bde., NAufl., London: Macmillan, 1913, I, 185 – 190. 320 Das gilt auch für Hastings Bertrand Lees-Smith, Second Chambers in Theory and Practice, London: George Allen & Unwin, 1923, und John A. R. Marriott, The Mechanism of the Modern State. A Treatise on the Science and Art of Government, 2 Bde., Oxford: Clarendon Press, 1927, I, 391 – 430. Zu Hayek in diesem Zusammenhang, vgl. Volker Nienhaus, Persönliche Freiheit und moderne Demokratie. F. A. von Hayeks Demokratiekritik und sein Reformvorschlag eines Zweikammersystems, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1982. Als Versuch der Theoretisierung auf einer empirischen Datenbasis eines strikt Output orientierten Zugriffs, vgl. George Tsebelis und Jeannette Money, Bicameralism, Cambridge: Cambridge University Press, 1997, 35 – 42, und passim. 321 Vgl. Marichy, La deuxième Chambre, 29.

5. Unikameralismus vs. Bikameralismus

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Staatsverfassungen angriffen,322 wie in vergleichbarer Weise die Blair-Regierung im Vereinigten Königreich, als sie die jüngste Reform des House of Lords anzugehen suchte.323 Die Abschaffung des antiquierten bayerischen Senats dank einer Volksabstimmung 1998 geht in die gleiche Richtung.324 Angesichts des wachsenden Einflusses von Medien und öffentlicher Meinung auf Regierungen und des sich immer weiter durchsetzenden richterlichen Überprüfungsrechts durch unabhängige Verfassungsgerichte auf der einen Seite, aber auch der heute allgegenwärtigen Parteienregierung, in der Abstimmungen allein nach Parteizugehörigkeit die Regel sind, auf der anderen Seite, hat das Argument von der Verbesserung der Gesetzgebung dank zweiter Kammern letztlich seine Überzeugungskraft verloren.325 Folglich ist die Situation der Parlamentsstruktur in den Ländern der Europäischen Union heute unentschieden. Während Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Portugal, Schweden, 322 Vgl. James D. Barnet, „The Bicameral System in State Legislation“, in: The American Political Science Review, 9 (1915), 449 – 466; James Quayle Dealey, Growth of American State Constitutions. From 1776 to the End of the Year 1914, Boston: Ginn, 1915 [Ndr. New York: Da Capo Press, 1972], 255 – 256, 278 – 279. Rund ein halbes Jahrhundert später hieß es, die Basis der Repräsentation sei „ein größeres Problem in Zweikammernlegislativen“ und daher „sollten die Verantwortlichen für Staatsverfassungen in Zukunft die Möglichkeit der Einführung von Einkammerlegislativen in Betracht ziehen“, Charles W. Shull, „The Legislative Article“, in: Major Problems in State Constitutional Revision, hrg. v. W. Brooke Graves, 1960, Ndr. Westport, CT: Greenwood Press, 1978, 200 – 201. Nach dem Ersten Weltkrieg befürwortete zumindest ein Teil der britischen Labour Party den Bikameralismus mit der Idee, das House of Lords in eine Kammer zur Repräsentation von Industriearbeitern und Lohnempfängern umzuwandeln, vgl. James Ramsay MacDonald, Parliament and Revolution, New York: Scott & Seltzer, 1920 [Ndr. New York: Kraus, 1970], 48 – 59, 81 – 83. Das Buch erschien zuerst 1919, nachdem Ramsay MacDonald aufgrund seiner Antikriegshaltung seinen Parlamentssitz in den Unterhauswahlen vom Dezember 1918 verloren hatte. 323 Vgl. Dawn Oliver, „The Reform of the United Kingdom Parliament“, in: The Changing Constitution, hrg. v. Jeffrey Jowell und Dawn Oliver, Oxford: Oxford University Press, 42000, bes. 276 – 290; Meg Russell, Reforming the House of Lords. Lessons from Overseas, Oxford: Oxford University Press, 2000, 14 – 18; Rodney Brazier, „The Second Chamber: Paradoxes and Plans“, und Paul Carmichael und Andrew Baker, „Second Chambers – A Comparative Perspective“, beide in: The House of Lords. Its Parliamentary and Judicial Roles, hrg. v. Paul Carmichael und Brice Dickson, Oxford: Hart, 1999, 53 – 65, 70; John Wells, The House of Lords. From Saxon Wargods to a Modern State, London: Hodder & Stoughton, 1997, 281 – 286. 324 Vgl. Ottmar Funk, Grenzen unmittelbarer Demokratie, am Beispiel der Abschaffung des Bayerischen Senats, Diss. iur. Erlangen-Nürnberg 1999. 325 Die Geschichte des Senats in der französischen V. Republik, der aufgrund seiner indirekten Wahl über eine geringere demokratische Legitimation als die direkt gewählte Nationalversammlung verfügt, mag hier ebenfalls einschlägig erscheinen. Als Vertretung der Gebietskörperschaften vermag er jedoch in einem dezentralisierten Staat regionalen Interessen eine Stimme zu verleihen, vgl. Jean Mastias, „A Problem of Identity: The French Sénat“, in: Senates. Bicameralism in the Contemporary World, hrg. v. Samuel C. Patterson und Anthony Mughan, Columbus, OH: Ohio State University Press, 1999, 162 – 198. Das Fehlen einer theoretischen Begründung des Bikameralismus im demokratischen Einheitsstaat wird zumindest indirekt von diesem Buch unterstrichen, vgl. Samuel C. Patterson und Anthony Mughan, „Senates and the Theory of Bicameralism“, ebd., 1 – 31.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

Ungarn und Zypern über ein Einkammerparlament verfügen, bestehen in den dreizehn übrigen Staaten zwei Kammern. In den meisten Fällen handelt es sich jedoch dabei um einen mehr oder weniger asymmetrischen Bikameralismus mit unterschiedlicher politischer Gewichtung der beiden Kammern, darunter etwa in Belgien, Deutschland, Irland, Österreich oder Spanien, was in diesem Fall sowohl für Bundesstaaten wie für unitarische Staaten, aber auch für Spanien gilt, dessen aktuelle Struktur irgendwo zwischen diesen beiden Polen anzusiedeln ist.326 Global gesehen überwiegt hingegen eindeutig das Einkammersystem,327 was eine gewissen Sieg des Input-orientierten Konzepts nahelegen könnte, wenngleich eine derartige Interpretation angesichts der in vielen Staaten fehlenden demokratischen Legitimation jedoch dort eher als Form der Herrschaftssicherung zu werten sein dürfte. Dennoch besteht nach wie vor ein überzeugendes Argument für zwei Kammern in föderalen Staaten,328 wobei die erste Kammer die Gesamtbevölkerung und die zweite Kammer die Staaten repräsentieren, eine Einteilung, die ebenso in der Theorie wie in der Praxis überzeugt,329 so dass schwer vorstellbar ist, wie einst eine europäische Verfassung, wie immer diese auch aussehen mag, von diesem Muster abweichen könnte.330

326 Vgl. u. a. Rudolf Dolzer und Michael Sachs, „Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf“, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 58 (1999), 7 – 77; Parlements. Une étude comparative sur la structure et le fonctionnement des institutions représentatives dans quarante et un pays, hrg. v. der Union interparlementaire, Paris: Presses Universitaires de France, 1961, 6 – 8, 11 – 12. 327 Vgl. Russell, Reforming the House of Lords, 22 – 24; Carmichael und Baker, „Second Chambers – A Comparative Perspective“, 69. 328 Vgl. den allgemeinen Überblick bei Renaud Dehousse, Représentation territoriale et représentation institutionnelle: réflexions sur la réforme du Sénat belge à la lumière des expériences étrangères, Badia Fiesolana: European University Institute, 1990. Auch Parlements. Une étude comparative, hrg. v. der Union interparlementaire, 5: „[D]ie Parlamente in föderalen Staaten sind in der Tat immer bikameral.“ Vgl. auch Tobias Jaag, Die Zweite Kammer im Bundesstaat. Funktion und Stellung des schweizerischen Ständerates, des deutschen Bundesrates und des amerikanischen Senats (Zürcher Beiträge zur Rechtswissenschaft, 497), Zürich: Schulthess Polygraphischer Verlag, 1976. Gegenwärtig sind lediglich zwei Ausnahmen vom bikameralen Föderalismus bekannt, nämlich die Vereinigten Arabischen Emirate und die Föderierten Staaten von Mikronesien, vgl. Tsebelis und Money, Bicameralism, 6. 329 So war z. B. die Schweiz, als sie 1848 von einem Staatenbund zum Bundesstaat wechselte, deutlich vom amerikanischen Beispiel beeinflusst, ungeachtet aller fortwirkenden autochthonen Traditionen, vgl. René van Berchem, De la Chambre unique au système bicaméral. Une innovation dans le droit public suisse. Son facteur politique autochtone, Diss. iur. Zürich 1924. 330 Vgl. dazu unten Kap. VII. 3. und VII. 4.

6. Großbritannien und die Vereinigten Staaten

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6. Großbritannien und die Vereinigten Staaten: Zwei Wege zur westlichen liberalen Demokratie331 Zumal in den deutschen Medien findet sich England gerne als „älteste Demokratie der Welt“ apostrophiert, eine irreführende Bezeichnung, hatte doch schon JeanJacques Rousseau in einem berühmt gewordenen Ausspruch behauptet, dass die Engländer lediglich glaubten, frei zu sein, was tatsächlich aber allein für den kurzen Augenblick der Wahl der Mitglieder des Parlamentes der Fall sei, während sie für die Dauer des Parlaments Sklaven seien. In einer weniger bekannten Fußnote des gleichen Werks konzedierte er allerdings immerhin, die Engländer seien „näher an der Freiheit als alle anderen“.332 Dennoch fand die Einführung des allgemeinen (Männer-)Wahlrechts in Frankreich wesentlich früher statt, nämlich 1793 und dauerhaft ab 1848, als in England (1918), und während Frauen in New Jersey schon 1776 (bis 1807) und in einer zunehmenden Zahl von Territorien und Staaten der Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts wählen konnten, erhielten sie in England das volle Wahlrecht erst 1928.333 Ungeachtet dieser nachhinkenden englischen Entwicklung ist der Hinweis auf die lange Tradition eines demokratischen Elements in der englischen Verfassung keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, hatte sich doch seit dem 16. Jahrhundert in England die Vorstellung herausgebildet, der Vorzug der englischen Verfassung sei darin begründet, dass sie eine aristotelische Mischverfassung sei, in der sich Monarchie (König), Aristokratie (Oberhaus, House of Lords) und Demokratie (Unterhaus, House of Commons) harmonisch verbanden, was ihr Bestand gebe und sie vor politischer Degeneration bewahre.334 Was in dem von Verfassungskonflikten geprägten 17. Jahrhundert noch eine durchaus politische Aussage war, verfestigte sich im 18. Jahrhundert zum Dogma, worauf am Ende des Jahrhunderts John Adams feststellte, auch die amerikanischen Verfassungen seien Mischverfassungen, wenngleich die drei Elemente in Amerika (Präsident, Senat und Repräsentantenhaus) naturgemäß nicht Ausdruck einer sozialen Hierarchie seien – hier seien vielmehr alle Menschen gleich –, sondern in den Ämtern (offices) begründet wären, die sie ausübten.335 331 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Englische und amerikanische Verfassungs- und Demokratiemodelle (18. – 20. Jahrhundert)“, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hrg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2015 – 10 – 30. URL: http://www.iegego.eu/dippelh-2015-de, URN: urn:nbn:de:0159-2015102918. 332 Jean-Jacques Rousseau, Du Contract social; ou, Principes du droit politique [1762], in: ders., Œuvres complètes, III, hrg. v. Bernard Gagnebin u. a., Paris: Gallimard, 1964, 361, 430. Vgl. dazu auch seine spätere Feststellung, in der Schweiz würden die reichen Kantone zwar aristokratisch, doch die ärmeren demokratisch regiert (ders., Constitution pour la Corse, ebd., 906). 333 Vgl. dazu das nachfolgende Kap. V. 7. 334 Vgl. Winfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit, Stuttgart: Klett-Cotta, 1980. 335 John Adams, A Defense of the Constitutions of Government of the United States of America against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated 22nd March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: Budd and Bartram, 31797 [Ndr. Aalen: Scientia, 1979], I, viii, 70, 93 u. ö.

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Es erscheint mithin angebracht, mit der genaueren Betrachtung der Situation auf beiden Seiten des Atlantiks im 18. Jahrhundert einzusetzen, als die europäische Anglophilie ihren Höhepunkt erreichte und die englische Verfassung zum Vorbild des aufgeklärten Europas wurde. Parallel zu diesem ideellen Transfer englischer Verfassungsvorstellungen nach Europa wurde beiderseits des Atlantiks die Auseinandersetzung über das Ausmaß des praktischen Transfers englischer Verfassungsund Rechtsgrundsätze nach Nordamerika zunehmend heftiger. Damit bietet sich das 18. Jahrhundert zugleich an zu fragen, warum dieser transatlantische Transfer trotz gleicher Grundüberzeugungen letztlich misslang, so dass die amerikanische Revolution zugleich den Endpunkt des Höhenflugs der europäischen Anglophilie markierte. In der Konsequenz der amerikanischen Entwicklung standen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Verfassungsmodelle gegenüber, die ihrerseits Ausgangspunkt für zwei sich im Laufe des Jahrhunderts völlig unterschiedlich entwickelnde Demokratiemodelle wurden. Erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als beide Länder angesichts des Aufstiegs der Vereinigten Staaten zur Weltmacht und des Verlustes zunächst des ökonomischen und schließlich des politischmilitärischen Gewichts Großbritanniens in der Welt politisch aufgrund gemeinsamer Gegner wieder zueinander fanden und sich das Bewusstsein durchsetzte, dass ihre unterschiedlichen Verfassungs- und Demokratiemodelle auf gleichen Wertvorstellungen und gemeinsamen Wurzeln basierten, wandelte sich der Dualismus des 19. Jahrhunderts zu einer Gemeinsamkeit bei gleichzeitiger Akzeptanz der Unterschiede in der jeweiligen Ausprägung dieser Modelle. In Europa hatten hingegen die Brüche und Entwicklungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert langfristig die politische Anglophilie aufgerieben. Hatten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die moderaten bis konservativen Liberalen ihre Bewunderung der englischen Verfassung bewahrt, war es spätestens ab Mitte des Jahrhunderts die kleinere Schar der progressiveren Liberalen, die in der englischen parlamentarischen Monarchie ein erstrebenswertes politisches Ideal sahen, während sich ihre konservativer eingestellten Zeitgenossen, darunter verbliebene Anhänger Edmund Burkes, an der Demokratisierung des Landes störten und Teile der hiesigen Demokraten nunmehr die amerikanische Verfassung als nachahmenswertes Beispiel herausstellten.336 Was sich im 18. Jahrhundert in Europa zumal dank der Inszenierung durch Montesquieu als das Modell einer glücklichen freiheitlichen Verfassung etablierte, 336

Ein interessantes Beispiel dafür ist Friedrich Murhard, der sich für die englische Verfassung erwärmte, ohne sie jedoch je ganz zu erfassen oder sie nachdrücklich mit Demokratie in Verbindung zu bringen. Für die amerikanische Verfassung begeisterte er sich dagegen überschwänglich, dank ihrer Begründung „der freiesten staatsgesellschaftlichen Ordnung, die je die Welt in dieser Ausdehnung und in dieser Vollkommenheit gesehen“ hätte (Friedrich Murhard, „Nordamerikanische Verfassung: Grundideen“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Carl von Rotteck u. Carl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, IX, 710).

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hatte die englische Realität nur unvollkommen und zum Teil verzerrt wiedergegeben. Schließlich lag Montesquieus prägender Englandaufenthalt, als sein Esprit des lois mit dem berühmten Kapitel über die englische Verfassung (Buch XI, Kap. 6) 1748 erschien,337 bereits nahezu zwanzig Jahre zurück (1729 – 1731), in denen sich die Verfassung weiter entwickelt hatte. Montesquieus Auffassung einer Verfassung, deren zentrale Komponenten, der König und das Parlament, sich in einem machtpolitischen Gleichgewicht befanden, hatte in den Jahren um 1770 nur noch wenig mit der englischen Verfassungswirklichkeit gemein. Dank der Glorreichen Revolution (1688/89) war die Stellung des Parlaments gegenüber dem König deutlich gestärkt worden, hatte die Bill of Rights (1689) doch wesentliche Rechte, die Jakob II. noch für sich reklamiert hatte, dem König genommen und in die Entscheidungsbefugnis des Parlaments gegeben bzw. dort bekräftigt, darunter die Suspendierung und Dispensierung von Gesetzen, die Einrichtung kirchlicher und anderer außerordentlicher Gerichtshöfe, die Erhebung von Steuern und Abgaben, die Aushebung und Unterhaltung stehender Heere in Friedenszeiten und anderes mehr. Erstmals musste der König in Folge im Krönungseid schwören, das Land nach den Parlamentsgesetzen und dem geltenden Recht zu regieren. Zusätzlich war das Parlament dazu übergegangen, dem König die Gelder für seine Hofhaltung und die normalen Amtsgeschäfte nicht mehr auf Lebenszeit, sondern nur noch auf wenige Jahre zu bewilligen, was dem Parlament einen erheblichen Einfluss auf seine Amtsführung und die von ihm verfolgte Politik sicherte.338 1701 wurde mit dem Act of Settlement schließlich die Unabhängigkeit der Justiz festgeschrieben und damit die Richter königlichem Einfluss entzogen. Zugleich setzte das Parlament eigenmächtig fest, dass nach dem Tode von Königin Anne die Krone an das Haus Hannover übergehen sollte. Damit kam eine landfremde Dynastie in ein politisch tief gespaltenes Land, die sich zum eigenen politischen Überleben vollends in die Abhängigkeit des von den Whigs dominierten Parlaments begab, das soeben seine eigene Amtszeit von bislang drei Jahren auf maximal sieben Jahre ausgedehnt hatte.339 Während der Regierungszeit der ersten beiden Hannoveraner (Georg I. und Georg II.) von 1714 bis 1760, die sich mit einem Land konfrontiert sahen, dessen politische Kultur und Sprache eine erhebliche Herausforderung für sie bedeuteten, regierte de facto nicht wie vor der Glorreichen Revolution der König mit seinem Geheimrat (Privy Council), sondern ein von der Mehrheit des Parlaments gebildeter Ausschuss, das Kabinett unter der formalen Leitung eines Premierministers, dessen Beschlüsse ebenso wie Parlamentsgesetze vom König gebilligt werden mussten. Theoretisch hätte er letztere zurückweisen können, praktisch geschah dies seit 1707 337 Charles de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu, De l’Esprit des lois, XI, 6 (1748), in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 51, II, 396 – 407. 338 Vgl. Gary S. De Krey, Restoration and Revolution in Britain: A Political History of Charles II and the Glorious Revolution, Basingstoke: Palgrave, 2007, bes. 251 – 304. 339 Vgl. dazu oben Kap. V. 2.

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bis heute nie mehr.340 Das Ergebnis, wie es sich um 1770 darstellte, war nicht das von Montesquieu und den Anglophilen in Europa bejubelte Gleichgewicht voneinander getrennter Gewalten, sondern eine englische Verfassung mit einem König an der Spitze, dessen politischer Handlungsspielraum zunehmend enger geworden war, der noch (bis zum Beginn der 1820er Jahre) einen Premierminister seines Vertrauens ernennen, aber gegen den anhaltenden Widerstand des Parlaments nicht lange halten konnte, während im Gegenzug das Parlament eine Machtstellung erreicht hatte, die praktisch unbegrenzt war. Gegen ein gültiges Parlamentsgesetz hatten weder der König noch die Gerichte eine legale Handhabe. Allein das Parlament brauchte es nicht zu beachten und konnte es jederzeit durch ein neues Gesetz ersetzen.341 Es war diese Omnipotenz des englischen Parlaments – später setzte sich dafür der Ausdruck der in der Theorie bis heute gültigen Parlamentssouveränität durch –, die das liberale Europa im 18. und 19. Jahrhundert nicht wahrhaben wollte.342 Noch Jean Louis de Lolme zeichnete in seinem 1771 erstmals erschienenen Klassiker über die englische Verfassung ein eher Montesquieusches Bild von ihr,343 während sich die Siedler auf der anderen Seite des Atlantiks mit zunehmender Vehemenz gegen dieses Gestalt annehmende englische Verfassungsmodell zur Wehr setzten. Die schließlich dreizehn englischen Kolonien an der amerikanischen Nordostküste zwischen Kanada und Florida waren zwischen 1607 und 1732 begründet worden: nicht durch ein direktes staatliches Eingreifen wie im Falle der spanischen Kolonien weiter südlich – lediglich das holländische Nieuw Nederland (im Wesentlichen entsprechend Teilen des heutigen New York, New Jersey und Delaware) fiel 1664 in Folge eines Krieges zwischen beiden Ländern an England –, sondern durch private Gesellschaften mit ökonomischen, religiösen oder philanthropischen Zielsetzungen. Diese gingen mit entsprechenden königlichen Schutzbriefen (char340 Vgl. dazu generell E. Neville Williams, The Eighteenth-Century Constitution, 1688 – 1815. Documents and Commentary, Cambridge: Cambridge University Press, 1960. 341 Vgl. zur Machtstellung des Parlaments die bekannten Passagen: „[W]enn das Parlament definitiv eine Maßnahme beschließt, die ungerechtfertigt ist, kenne ich keine Gewalt, die es daran hindern kann“ und: „[Das Parlament] kann, kurz gesagt, alles tun, was nicht natürlicherweise unmöglich ist; und daher haben einige keine Skrupel, seine Macht mit einem fast zu kühnen Ausdruck als die Omnipotenz des Parlaments zu bezeichnen. Es ist jedoch wahr, dass, was es tut, keine Autorität auf Erden ungeschehen machen kann“ (William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 66, 107). 342 Erhellend dazu Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus: Eine Darstellung und Kritik des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Stuttgart: Kohlhammer, 1928, der zwar bemüht ist darzulegen, wie sich der vormärzliche Liberalismus von der Montesquieuschen Interpretation absetzte und dabei auch auf die „Omnipotenz des Parlaments“ (S. 92) zu sprechen kam, doch mit dem Begriff letztlich genauso wenig etwas anzufangen wusste wie die von ihm behandelten Autoren. Auch Murhard, „Englische Staatsverfassung“, in: Das Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck u. Welcker, IV, 403 – 404, wies diese „von den britischen Staatsrechtslehrern aufgestellte Doctrin“ zurück. 343 Vgl. [Jean Louis de Lolme,] Constitution de l’Angleterre, NAufl., Amsterdam: E. van Harreveit, 1774, 52 – 55.

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ters) an die Kolonisation der ihnen zugewiesenen Gebiete, während Rhode Island und Connecticut durch Abspaltungen von Massachusetts entstanden waren und sich ihre Eigenständigkeit 1662/1663 in London durch charters hatten bestätigen lassen. Alle diese Kolonien verfügten über ihre eigenen Beziehungen zum Mutterland, und diese waren höchst heterogen. Sie verwalteten sich weitgehend selbst getreu dem englischen Vorbild durch einen Gouverneur, einen ihm zur Seite stehenden und zumeist von ihm ernannten Rat (council) sowie eine gewählte Versammlung (assembly), die in der Regel jährlich das Gehalt des Gouverneurs festsetzte. Angesichts einer stetigen Einwanderung zumal von den britischen Inseln und aus dem deutschen Sprachraum sowie der wachsenden Einfuhr von schwarzen Sklaven aus Afrika nahm die Bedeutung dieser Kolonien für die britische Wirtschaft ständig zu. Wenig überraschend wechselten daher Phasen größerer politischer Vernachlässigung dieser Kolonien mit Bemühungen, sie stärker an das Mutterland anzubinden und ihre politisch-rechtliche Stellung zu vereinheitlichen. In dem einen oder anderen Fall kam es zu Aussetzungen oder Aufhebungen von charters, doch ein straff geführtes Kolonialreich wurde nie daraus, selbst wenn die in den Kolonien beschlossenen Gesetze durch die Regierung in London einkassiert werden konnten. Am Ende (1776) gab es acht sogenannte königliche Kolonien, in denen der König den Gouverneur einsetzte, drei Eigentümerkolonien (Pennsylvania, Delaware und Maryland), die den Familien Penn und Calvert (Baltimore) gehörten, die jeweils über den Gouverneur bestimmten, und die beiden genannten Rhode Island und Connecticut, die ihren Gouverneur selbst wählten.344 Die Gründe für das Scheitern der englischen Bemühungen, die nordamerikanischen Kolonien politisch in den Griff zu bekommen, waren vielfältig. So hatten die Pilgerväter, Abtrünnige der englischen Staatskirche aus dem holländischen Exil, die zusammen mit einer größeren Gruppe von Auswanderern aus London auf der Mayflower den Atlantik überquert hatten, am 11. November 1620, bevor sie bei Cape Cod im heutigen Massachusetts an Land gingen, vereinbart, gemeinsam eine „Bürgerregierung zu unserer besseren Ordnung und Erhaltung“ bilden zu wollen, um zukünftig „solche gerechte und gleiche Gesetze, Verordnungen, Akte, Verfassungen und Ämter von Zeit zu Zeit zu verfügen, in Kraft zu setzen und zu bilden, die für das allgemeine Wohl der Kolonie am geziemendsten und zweckmäßigsten gehalten werden und denen wir alle gebührende Unterwerfung und Gehorsam geloben“.345 344 Als bester knapper Überblick immer noch Carl Ubbelohde, The American Colonies and the British Empire: 1607 – 1763, Arlington Heights, IL: Harlan Davidson, 21975 (zahlreiche Nachdrucke). Vgl. unter dem Aspekt des Transfers englischen Rechts und der Herausbildung staatlicher Institutionen in den englischen Kolonien: Peter Charles Hoffer, Law and People in Colonial America, Baltimore u. a.: Johns Hopkins University Press, 1992; Jack P. Greene, Negotiated Authorities: Essays in Colonial Political and Constitutional History, Charlottesville u. a.: University Press of Virginia, 1994. 345 „Agreement Between the Settlers at New Plymouth“, in: Benjamin Perley Poore, The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the United States, 2 Bde., Washington: Government Printing Office, 21878, I, 931.

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Dieser Mayflower Compact ist zwar nicht das viel gerühmte Gründungsdokument der amerikanischen Demokratie, doch der früheste und markanteste Ausdruck auf dieser Seite des Atlantiks, sich nach selbst gegebenen und für alle gleichermaßen verbindlichen Regeln und Gesetzen in einem Gemeinwesen zu organisieren. Das sollte auf der bis 1776 ständig wiederholten Überzeugung geschehen, frei geborene Engländer zu sein, die ihre englischen „Geburtsrechte“ mit in die Neue Welt genommen hätten. Dazu gehörte nach ihrer Überzeugung das Recht, sich selbst zu regieren und nur solchen Gesetzen zu gehorchen und Steuern zu akzeptieren, die sie sich selbst oder durch ihre frei gewählten Repräsentanten auferlegt hatten. Auf diesen Grundprinzipien sahen sie die englische Verfassung begründet, der sie sich auch weiterhin verbunden fühlten. Tatsächlich hatte sich die englische Verfassung über die Zeit, wie gesehen, dramatisch verändert. Bereits nach der Glorreichen Revolution, die in einigen nordamerikanischen Kolonien zu erheblichen Turbulenzen geführt hatte,346 hatte die englische Regierung darauf bestanden, dass ihre Ergebnisse, das sogenannte revolution settlement, nicht für die Kolonien gelten würden.347 Zu keinem Zeitpunkt war die Parlamentsmehrheit zudem bereit zu akzeptieren, dass die Kolonien – ähnlich den Kanalinseln – lediglich dem König unterstellt seien und das Parlament mithin gar keine Gesetzgebungsbefugnis über sie hätte.348 Überhaupt weigerte sich London bis zuletzt, je mehr die Siedler in den Kolonien auf ihren angestammten Rechten beharrten, verbindlich die definitive Rechtsstellung der Kolonien und ihrer Bewohner zu klären. Nur umso mehr insistierten die politischen Führer in den Kolonien auf der englischen Verfassung und ihren fundamentalen Prinzipien, wie sie sie verstanden, die ungeschmälert und ungeachtet der politischen Abirrungen in London auch für sie zu gelten hätten.349 Britische Versuche, mittels Gesetzen den Handel innerhalb des Reiches zu regeln, wie es sie seit dem 17. Jahrhundert immer wieder gegeben hatte, mochte man, wenn sie sich nicht durch Schmuggel umgehen ließen, zähneknirschend und mitunter nicht ohne Proteste noch hinnehmen. Doch als das Parlament 1765 mit dem Stamp Act zur internen Besteuerung überging, war aus ihrer Sicht eine rote Linie überschritten, und 346

Immer noch grundlegend David S. Lovejoy, The Glorious Revolution in America, New York: Harper & Row, 1972. 347 Als Beispiel Daniel J. Hulsebosch, Constituting Empire: New York and the Transformation of Constitutionalism in the Atlantic World: 1664 – 1830, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press, 2005, 53 – 54. 348 Diese Rechtsauffassung der britischen Regierung wurde im Wesentlichen von Blackstone geteilt, vgl. Blackstone, Commentaries, I, 75 – 76, der in den Parlamentsdebatten über die weiter unten erwähnte Aufhebung des Stamp Act und das Declaratory Act eine deutlich konservative Haltung einnahm, vgl. Proceedings and Debates of the British Parliaments Respecting North America: 1754 – 1783, hrg. v. R. C. Simmons u. a., 6 Bde., Millwood, NY: Kraus, 1982 – 1987, II, 140, 147 – 148, 151, 299 – 301. Vgl. auch Parliament and the Atlantic Empire, hrg. v. Philip Lawson, Edinburgh: University Press, 1995. 349 Vgl. dazu generell Craig Yirush, Settlers, Liberty, and Empire: The Roots of Early American Political Theory 1675 – 1775, New York: Cambridge University Press, 2011.

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bereits nach wenigen Monaten sah sich die englische Regierung angesichts des massiven Widerstands gezwungen, das Gesetz zurückzunehmen. Doch das damit zugleich erlassene Declaratory Act (1766) goss Öl ins Feuer, erklärte es doch unumwunden, das Parlament „hatte, hat und von Rechts wegen sollte alle Macht und Autorität haben, Gesetze und Statute von genügender Kraft und Gültigkeit zu machen, um die Kolonien und Bevölkerung von Amerika als Untertanen der Krone von Großbritannien in allen Fällen auch immer zu binden“.350 Es war die donnernde Bekräftigung der Omnipotenz des englischen Parlaments, die die Führer des amerikanischen Widerstands sich bis zum Schluss weigerten anzuerkennen und der sie ihre mit Argumenten des Naturrechts unterfütterte Interpretation der englischen Verfassung entgegensetzten, die in England lediglich eine ihnen wohlgesonnene liberale Minderheit interessierte. Während sich die Regierung beharrlich geweigert hatte, Grundzüge ihrer Verfassung nach Amerika zu transferieren, bestand man dort darauf, dass dieser Transfer durch die eigene Migration tatsächlich stattgefunden habe,351 ohne der in der Zwischenzeit im Mutterland erfolgten Weiterentwicklung dieser Verfassung im Vertrauen auf ihre dortigen liberalen Fürsprecher gebührend Beachtung zu schenken. Stattdessen verurteilte man diese Entwicklungen als den wahren Kern der Verfassung verfälschende Degenerationserscheinungen.352 Nur so ist zu erklären, warum der aus dieser Krise hervorgegangene moderne Konstitutionalismus sich so anders präsentiert, obwohl ihre Autoren nie die englische Verfassung ausdrücklich verworfen hatten.353 Diese amerikanische Ausprägung des modernen Konstitutionalismus manifestiert sich in den Verfassungen, die sich die unabhängig gewordenen vormaligen Kolonien ab 1776 gaben, einschließlich der Bundesverfassung von 1787.354 Das Schlüsseldokument ist dabei die Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776. In ihr standen jene zehn Grundprinzipien, die 350 Documents of American History, hrg. v. Henry Steele Commager, 2 Bde., New York: Appleton-Century-Crofts, 71963, I, 61. Dort auch der Stamp Act (Auszug), I, 53 – 55. 351 Zu der Transferproblematik der englischen Verfassung, des Common Law und von Parlamentsgesetzen hat die Literatur erst in letzter Zeit Stellung bezogen. Grundlegend Jack P. Greene, Peripheries and Center: Constitutional Development in the Extended Polities of the British Empire and the United States: 1607 – 1788, Athens, GA u. a.: University of Georgia Press, 1986, neu veröffentlicht als Jack P. Greene, The Constitutional Origins of the American Revolution, New York: Cambridge University Press, 2011. Vgl. ferner Hulsebosch, Constituting Empire, und Yirush, Settlers, Liberty, and Empire. 352 Vgl. für die amerikanische Verfassungsdiskussion der Jahre 1763 – 1776 oben Kap. III. 1. 353 Noch 1797 konnte man bei John Adams, A Defense of the Constitutions of Government of the United States of America against the Attack of M. Turgot in His Letter to Dr. Price, Dated nd 22 March, 1778, 3 Bde., Philadelphia: Budd and Bartram, 31797 [Ndr. Aalen: Scientia, 1979], I, 70, lesen: „[D]ie englische Verfassung ist, in der Theorie, der erstaunlichste Bau menschlicher Erfindungskraft.“ 354 Sie finden sich in der historisch-kritischen Ausgabe Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011.

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als Ergebnis des amerikanischen Widerstands gegen die Politik Londons und der damit einhergehenden Verfassungsdiskussion der Jahre 1763 – 1776 seither als die Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus gelten.355 Dass dabei ausgerechnet William Blackstone eine wesentliche Rolle spielen sollte, erscheint fast wie eine Ironie der Geschichte.356 Diese Prinzipien fanden in zunehmendem Maße Eingang in die amerikanischen Verfassungen,357 wobei die Verfassung von Massachusetts von 1780 – die bis heute gültige älteste geschriebene Verfassung der Welt – und die Bundesverfassung von 1787 Meilensteine dieser Entwicklung darstellten, während die Verfassung von Pennsylvania von 1776 aus dem amerikanischen Modell ausscherte und einen radikaldemokratischen Gegenentwurf darstellte, der dann für die jakobinische Verfassung von 1793 während der Französischen Revolution Pate stehen sollte.358 Dieses amerikanische Modell des modernen Konstitutionalismus basierte auf einer geschriebenen Verfassung, die 1776 noch aus zwei getrennten Teilen bestand, der Rechteerklärung, die die Prinzipien beinhaltete, auf denen die Verfassung basierte, und dem Plan oder Form der Regierung, der die Machtverteilung und die Organisation und Aufgaben der verschiedenen Teile regelte. Beide zusammen bildeten die Verfassung. Beides wuchs in der Folge rasch zu einem gemeinsam verabschiedeten Dokument zusammen, wobei ab 1790, mit der zweiten Verfassung von Pennsylvania, die Rechteerklärung unter Aufgabe ihrer ursprünglichen Intention an das Ende der Verfassung rücken konnte. Dennoch blieb das Wesen des amerikanischen Modells, das die Anordnung von 1776 so augenfällig zum Ausdruck gebracht hatte, im Kern erhalten: Die Aufgabe einer Verfassung war es, die Rechte und Freiheiten der Bürger zu sichern und die Staatsmacht so zu organisieren, dass sie diese nicht beeinträchtigen konnte. Damit erschienen die Akzente, insbesondere mittels Volkssouveränität, Menschenrechtserklärung, strikter Gewaltentrennung mit der Judikativen erstmals als eigenständiger dritter Gewalt, der Verfassung als oberstem Gesetz, aber auch der neuartigen bundesstaatlichen Ordnung der Union, konsequenter gesetzt als im englischen Verfassungsmodell, und so mancher in Europa sah seit der amerikanischen Revolution das amerikanische Modell als Ausdruck freiheitlicher Grundordnung als dem englischen überlegen an. Es war nicht das Ziel des amerikanischen Verfassungsmodells gewesen, die Demokratie in den Vereinigten Staaten einzuführen, und die überwiegende Mehrheit der Verfassungsväter hätte eine derartige Behauptung als Unterstellung entrüstet zurückgewiesen.359 Bei aller Mitwirkung des Volkes hatte die politische Kultur des Landes im 18. Jahrhundert eine durchaus elitäre Grundstruktur. Doch das sollte sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Rückwirkungen auf die 355 356 357 358 359

Vgl. dazu oben Kap. I. 1. Vgl. dazu oben Kap. III. 2. Vgl. dazu oben Kap. III. 3. Vgl. dazu oben Kap. V. 4. Vgl. dazu oben Kap. V. 3.

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Vereinigten Staaten rasch ändern. 1800 gewann Thomas Jefferson die Präsidentenwahlen gegen John Adams unter dem Slogan der Rückkehr zum „Geist von 1776“. Demokratie bekam einen neuen Klang – einige sprachen von der Jeffersonian democracy. Das allgemeine Klima wandelte sich, und in einigen Staaten wurde das Wahlrecht ausgeweitet und vormalige Eigentumsqualifikationen fielen oder wurden zumindest gemindert.360 Nach dem Krieg von 1812 verschwanden diese Beschränkungen in den neuen Staaten des Westens nahezu völlig. Aber es gab auch Gegenbewegungen. 1807 verloren die Frauen in New Jersey ihr Wahlrecht wieder für mehr als ein Jahrhundert, und freien Schwarzen wurde in einer wachsenden Zahl von Staaten das Wahlrecht verwehrt.361 In den alten Staaten des Südens, in denen – anders als in Neu-England – die politische Repräsentation auf Kreis-(County-)Basis anstelle des Gemeindeverwaltungsbezirks (Township) erfolgte, verhinderte in der Regel die alte Elite bis zum Bürgerkrieg jede Veränderung der politischen Vertretung, um das Übergewicht der Küstenregionen gegenüber dem Hinterland zu wahren, obwohl dort längst die Mehrheit der Bevölkerung lebte. Im Falle Virginias führte dies mit der Sezession zum Auseinanderbrechen des Staates, dessen westliche Counties sich der fortdauernden Bevormundung durch die Ostküstenelite zur Wehr setzten und 1863 als eigener Staat West Virginia in die Union aufgenommen wurden. Aber das vorwärtsstürmende Land hatte sich inzwischen grundlegend verändert. 1828 wurde mit Andrew Jackson erstmals ein Präsident gewählt, der nicht der Ostküstenelite Virginias oder Massachusetts’ entstammte, und der wie kein zweiter amerikanischer Präsident mit dem Durchbruch der Demokratie im Lande gleichgesetzt wird, dessen Auswirkungen auf die politische Kultur eines Landes Alexis de Tocqueville scharfsinnig analysierte und in seinem Epoche machenden Buch De la Démocratie en Amérique insbesondere Frankreich als Spiegel vorhielt.362 Die Jacksonian democracy wurde auch das Zeitalter des gemeinen Mannes genannt, obwohl sich in einigen Ostküstenstaaten die letzten Eigentumsqualifikationen im Wahlrecht zäh behaupteten. Doch moderne Parteien entstanden, die Wähler aller Schichten an sich banden und sie in ihre Kandidatenfindung einbezogen. Viele Staaten gaben sich neue Verfassungen auf breiterer demokratischer Grundlage bis hin zur Wahl von Richtern durch das Volk, um ihre demokratische Legitimation und Volksnähe sicherzustellen. Der elitäre Charakter der amerikanischen Politik verschwand – außer im Süden –, aber der Wandel kannte auch seine deutlichen Grenzen. Er bezog nicht die Frauen und nicht die Schwarzen ein, von den Ureinwohnern ganz zu schweigen, die unverändert als außerhalb der amerikanischen Gesellschaft stehend hingestellt und vielfach brutal aus ihren angestammten oder zugewiesenen 360

Vgl. dazu oben Kap. III. 5. Vgl. dazu generell Alexander Keyssar, The Right to Vote: The Contested History of Democracy in the United States, New York: Basic Books, 2000. 362 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 2 Bde., in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. J.-P. Mayer, Tl. I, Paris: Gallimard, 1961. 361

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Siedlungsräumen vertrieben wurden, wo immer sie den Kapitalinteressen der Weißen im Wege standen.363 Die Zäsur des Bürgerkrieges (1861 – 1865) brachte in seiner Folge eine neue Welle von Ausweitungen der Individualrechte, die nunmehr ihre vormalige gesellschaftliche Einbettung vollends verloren.364 Die rechtliche Stellung der Frauen begann sich grundlegend zu verbessern, und ab 1869 gab es erste, wenige Territorien und Staaten, die ihnen in den kommenden Jahrzehnten das Wahlrecht gewährten.365 Auf Bundesebene war das zur maßlosen Enttäuschung der Frauenbewegung 1870 gescheitert, als im 15. Zusatzartikel zur Verfassung Geschlecht, anders als Rasse, Hautfarbe, „vormalige Bedingungen der Knechtschaft“, nicht als unzulässiger Grund für die Verweigerung des Wahlrechts definiert wurde. Langfristig als noch folgenreicher sollte sich der 14. Zusatzartikel von 1868 erweisen. Seine Rechtsgarantien stärkten nicht nur den Bundesstaat gegenüber den Einzelstaaten, sondern ermöglichten es auch dank der Rechtsprechung des Obersten Bundesgerichtes (Supreme Court) ab 1925, die Mehrheit der in der Bill of Rights der Bundesverfassung garantierten Rechte auf den Schutz vor Übergriffen der Einzelstaaten auszuweiten, die ungeachtet des 15. Zusatzartikels und jüngerer Gesetze bis in die Gegenwart immer wieder versuchen, bestimmte Personen oder Bevölkerungsgruppen von Wahlen auszuschließen oder von der Ausübung ihres Wahlrechts abzuhalten. Die „fortschrittliche Bewegung“ (Progressive movement) zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte einen weiteren Demokratisierungsschub, indem sie gegen die politische Korruption entschieden vorging, Vorwahlen einführte, mit denen die Bürger aktiv die Kandidatenaufstellungen der Parteien mitbestimmen konnten und diese damit aus den Hinterzimmern holten, die Direktwahl der Senatoren für den Bundessenat (17. Zusatzartikel) und schließlich 1920 das Frauenwahlrecht (19. Zusatzartikel) in die Verfassung einfügten.366 So viel das amerikanische Demokratiemodell 1920 auf der Habenseite auch vorweisen konnte, waren die Schattenseiten nicht zu übersehen. Die amerikanische Urbevölkerung war dezimiert und der in trostlosen Reservaten zusammengepferchte Rest von dieser Entwicklung ausgeschlossen. Erst 1924 sollten sie das amerikanische Bürgerrecht erhalten. Die Schwarzen wurden diskriminiert und segregiert, was der Supreme Court in einem berüchtigten Urteil 1896 (Plessy v. Ferguson) für verfassungskonform erklärt hatte. Aber auch die Mehrheitsgesellschaft war schutzlos einem überbordenden Kapitalismus mit seinem rigiden Individualismus ausgeliefert, so dass der Supreme Court in einem weiteren berühmten Urteil (Lochner v. New York) 1905 dem Staat New York verbot, die Arbeitszeiten im Bäckergewerbe zu regeln, da 363

Vgl. Laura J. Scalia, America’s Jeffersonian Experiment: Remaking State Constitutions: 1820 – 1850, DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 1999. 364 Vgl. dazu unten Kap. V. 8. 365 Vgl. dazu unten Kap. V. 7. 366 Immer noch der beste knappe Überblick bei Arthur S. Link und Richard L. McCormick, Progressivism, Arlington Heights, IL: Harlan Davidson, 1983.

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dies der Vertragsfreiheit der – so ungleichen – Tarifpartner widerspreche. Es war, um es kurz zu machen, ein Demokratiemodell, das zwar dem Einzelnen eine Fülle an freiheitlichen Rechten gewährte, in dem aber letztlich, ideologisch sanktioniert durch den Sozialdarwinismus der letzten Jahrzehnte, die Rechte des Stärkeren den Ton angaben, so sehr die Reformbewegung zum Jahrhundertbeginn auch um Korrekturen bemüht blieb. Englands Weg zur Demokratie war im 19. Jahrhundert völlig anders verlaufen. Wenn es von Englands Mischverfassung gehießen hatte, in ihr sei die Demokratie dank der Repräsentation des Volkes im House of Commons verankert, bedarf dies einiger Differenzierungen. In dem für die Zukunft stilprägenden Parlament von 1265 wurden für die Commons zwei Vertreter für jede Grafschaft, die knights of the shire, und zwei für jede Stadt, burgesses, einberufen.367 Dieses blieb bis in das 19. Jahrhundert das Grundmodell, wenngleich die Zahl der Vertreter der counties, wie etwa im Fall von Yorkshire, schließlich höher sein konnte und die Zahl der boroughs, die das Recht einer eigenen Vertretung im Parlament erhielten, im Mittelalter auf mehrere hundert angewachsen war, von denen etliche jedoch nur einen Parlamentsvertreter entsandten. Hinzu kamen noch je zwei Vertreter für die Universitäten Oxford und Cambridge. Seit dem Mittelalter galt in den counties ein aktives Wahlrecht für alle Männer, die über gewissen Grundbesitz verfügten, das sogenannte forty-shilling freehold. Das Wahlrecht in den boroughs richtete sich nach der jeweiligen borough charter und war höchst heterogen. Diese boroughs entwickelten sich über die Jahrhunderte sehr unterschiedlich, einige waren zu großen Städten angewachsen, so etwa London, andere kleine Marktflecken geblieben und wiederum andere hatten an Bevölkerung abgenommen oder waren gar ganz ausgestorben, darunter Old Sarum bei Salisbury. Angesichts dieser Situation reichten, wie es 1780 hieß, lediglich 6.000 Wähler aus, um eine klare Mehrheit in den Commons zu bestimmen, und nach der Union mit Irland 1801 sagte man, dass von den nunmehr 658 Mitgliedern des House of Commons 487 praktisch nominiert würden,368 d. h. Abgeordnete aus jenen kleinen und kleinsten boroughs waren, in denen letztlich der lokal dominierende Adelige, was in dem besonders viele dieser boroughs aufweisenden Cornwall etwa der jeweilige Thronfolger war, regelte, wer für die betreffende borough im Parlament saß. Was also vor 1832 in der Theorie als Ausdruck des demokratischen Elements in der englischen Verfassung galt, bezeichnete in Wirklichkeit eine Parlamentskammer, deren Mehrheit sich überwiegend aus den jüngeren Söhnen, Verwandten oder Abhängigen des Hochadels zusammensetzte, der seinerseits im House of Lords saß. Der Ruf nach Reformen wurde immer lauter, zumal als im Zuge der Industriellen Revolution Städte wie Birmingham, Manchester oder Leeds zu nationaler Bedeutung aufstiegen, die im Parlament über keine eigenständige Vertretung verfügten. Nach 367 Vgl. John A. R. Marriott, English Political Institutions: An Introductory Study, Oxford: Clarendon Press, 1938, 175. 368 Ebd., 219.

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langen Kämpfen und einer ernsten politischen Krise verloren 1832 mit einem ersten Representation of the People Act, dem sogenannten Großen Reformgesetz, 56 der sogenannten rotten boroughs ihre bisherige Parlamentsvertretung vollends, während 30 weitere zukünftig nur noch einen Vertreter in die Commons entsandten. Die frei gewordenen Parlamentssitze wurden vor allem auf die neuen Industriestädte im Norden und aufstrebende Städte im Großraum London verteilt. Neben den maßvollen Veränderungen in der Repräsentation der Städte sowie einigen weiteren im Bereich der county-Repräsentation wurde das Wahlrecht in den Städten auf Hausbesitzer ausgeweitet, deren Eigentum jährlich mindestens zehn Pfund abwarf.369 Das Gesetz war alles andere als revolutionär, und dennoch waren mit ihm Dämme auf dem Weg zur Demokratie gebrochen. Es schwächte nachhaltig die Position des Königs und der Lords, die beide schließlich zähneknirschend dem Gesetz hatten zustimmen müssen – „refomiert, um Euch zu bewahren“ in den beschwörenden Worten von Thomas Babington Macaulay370 –, und es stärkte die Commons als die politisch dominierende Parlamentskammer, in der der Einfluss des Hochadels zurückging, während sich in der Folge Whigs und Tories zu den modernen Parteien der Liberalen und Konservativen wandelten, die sich fortan um Wähler und Mehrheiten bemühen mussten. Zwar hatten die Arbeiter noch keinen direkten Einfluss auf die Wahlen gewonnen, aber die Rolle des Bürgertums war gestärkt. Es sollte im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachsender Zahl Kabinettsmitglieder und selbst den Premierminister stellen.371 Mit den weiteren Representation of the People Acts von 1867, 1884 – 85 und 1918 wurde die Repräsentationsbasis schrittweise weiter demokratisiert bis hin zur Einführung der heutigen Ein-Mann-Wahlkreise und das Wahlrecht vereinheitlicht und sukzessive ausgeweitet, das 1918 allen Männern über 21 Jahren und allen Steuer zahlenden Frauen oder mit Steuer zahlenden Männern verheirateten Frauen über 30 Jahren das Wahlrecht verlieh. Damit hatte der Hochadel seinen letzten Einfluss auf die Zusammensetzung der Commons verloren; 1895 wurde mit Lord Robert Cecil Marquess of Salisbury letztmals ein Premierminister ernannt, der seinen Sitz im House of Lords hatte.372 369

Der Wortlaut des Gesetzes findet sich in Constitutional Documents of the United Kingdom 1782 – 1835, hrg. v. H. T. Dickinson, München: Saur, 2005, 117 – 169. Zu diesem und den nachfolgenden Gesetzen als knappen Überblick, vgl. Robert Pearce und Roger Stearn, Government and Reform: 1815 – 1918, London: Hodder & Stoughton, 1994. 370 Hansard, House of Commons Debates, 2. März 1831, Sp. 1204 (Rede von Thomas Babington Macaulay) (https://api.parliament.uk/historic-hansard/commons/1831/mar/02/minis terial-plan-of-parliamentary-reform, Zugriff 1. 10. 2020). 371 Vgl. generell zur englischen Verfassung im 19. Jahrhundert die beiden bis heute nachgedruckten Klassiker: Walter Bagehot, The English Constitution, London: Chapman and Hall, 1867, und Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, London: Macmillan, 1885. 372 Die Englandrezeption des Anglophilen Rudolf von Gneist und seine Wirkung auf die liberal-konservative Öffentlichkeit zumal in Preußen wäre ein eigenes Thema. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass Gneist nach der zweiten und dritten Reformbill mit Abscheu von der

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Dank dieser Reformen hatte sich in England ein Demokratiemodell durchgesetzt, das dem Land zwar nach außen seine mittelalterlichen Institutionen bewahrt hatte, in denen der König weitgehend auf die Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben beschränkt war, während die eigentliche Regierung in den Händen eines Kabinetts unter Führung eines Premierministers lag, die das Vertrauen der Mehrheit der Commons besaß. In einem evolutionären und graduellen Prozess waren die ehrwürdigen Institutionen an die Moderne herangeführt worden. Dass dabei zu Beginn des 20. Jahrhunderts die alten elitären Strukturen durchaus noch intakt waren und über viele weitere Jahrzehnte bestehen bleiben sollten und Großbritannien somit durchaus noch von der „Herrschaft der Menge“ entfernt war, die James Bryce in Amerika konstatiert hatte,373 ist die andere Seite dieses Modells, das sich rühmte, ohne Brüche und Revolution die Arbeiterklasse in das politische System und seine Institutionen integriert zu haben. Der im 19. Jahrhundert in England eingeschlagene Weg, durch institutionelle Reformen der liberalen Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen, war ebenso eine Fortsetzung bereits zuvor unternommener und im 20. Jahrhundert fortgeführter institutioneller Reformen,374 wie sich dies ebenso für die Vereinigte Staaten mit der Durchsetzung von Individualrechten sagen lässt. Die Rechtediskussion hatte dort bereits die Kolonialzeit geprägt und sollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Civil Rights Revolution münden, zu der ebenso das 1954 durch Brown v. Board of Education of Topeka einsetzende Ende der Segregation und Baker v. Carr von 1962 mit der Gleichheit der Wählerstimmen durch gleich große Wahlbezirke wie das Civil Rights Act von 1964, das Voting Rights Act von 1965 und Roe v. Wade von 1973 mit dem Recht auf Abtreibung während der ersten drei Schwangerschaftsmonate gehören.375 In England hatten sich die politischen Institutionen nicht erst seit der Glorreichen Revolution und das ganze 18. Jahrhundert über gewandelt, und die House of Lords-Reformen von 1911, 1949 und 1999 sollten das 20. Jahrhundert kennzeichnen. Beiden Reformprozessen stellt sich im 21. Jahrhundert ein gestärkter Konservatismus zunehmend provokanter in den Weg, der nicht nur die weitere Rechteentwicklung in den Vereinigten Staaten aufzuhalten beabsichtigt, sondern auch vieles des bislang Erreichten wieder abzuschaffen bemüht ist. Der Fehlschlag der verfassungsrechtlichen Gleichstellung der Frauen aufgrund des Scheiterns des Equal Rights Amendment von 1982 weist darauf ebenso hin wie die unverändert Tendenz „zur weiteren Demokratisierung der Verfassung“ sprach und mit dem Wunsch schloss, dass England „die Bausteine zum Wiederaufbau ihres freien Staatswesens in der eigenen Vergangenheit finden wird“ (Rudolf Gneist, Das Englische Parlament in tausendjährigen Wandelungen vom 9. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Literatur, 1886, 402, 405). 373 James Bryce, The American Commonwealth, NAufl., 2 Bde., London: Macmillan, 1913, I, 1. Dank des in England geschulten „institutionellen“ Blickwinkels konzentrierte sich Bryce in seiner Amerika-Analyse auf die politischen Institutionen. 374 Vgl. dazu grundlegend The British Constitution in the Twentieth Century, hrg. v. Vernon Bogdanor, Oxford: Oxford University Perss, 2003. 375 Vgl. dazu unten Kap. V. 8.

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bestehende Diskriminierung von Schwarzen und anderen Minderheiten, während in Großbritannien mit dem Austritt aus der Europäischen Union der vormals von dort bedingten institutionellen Anpassung Einhalt geboten wurde. Dennoch sind in beiden Ländern die Reformen des 19. Jahrhunderts in besonderem Maße mit der Durchsetzung der Demokratie verbunden. Damit hatte sich auch der Charakter der Verfassungen beider Länder gewandelt. Der Gedanke der Mischverfassung, der im 18. Jahrhundert beiderseits des Atlantiks noch so virulent gewesen war, entschwand. Für viele in Europa, zusätzlich gefördert durch die amerikanische und Französische Revolution, hatte auf diese Weise die englische Verfassung ihren Vorbildcharakter verloren. An seine Stelle trat im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, wenn auch nur für eine deutlich reduzierte liberale Gemeinde, ein neues Paradigma, für das insbesondere England Pate stehen konnte: das Ideal der parlamentarischen Monarchie als Mittelweg zwischen autoritärer konstitutioneller Monarchie und der Republik,376 aus der sich dann im 20. Jahrhundert generell die Verfassungen mit parlamentarischer Regierungsform entwickelten, deren Regierungen angesichts einer „weichen“ Gewaltentrennung aus der und durch die Parlamentsmehrheit gebildet werden. Ohne dabei auf das weite Feld der Demokratietheorien einzugehen,377 verkörpert England in diesem Zusammenhang das, was man vielfach das „Westminster-Modell“ nennt, eine Mehrheitsoder Konkurrenzdemokratie, in der der Regierung stets eine politische Opposition als inhaltliche und personelle Alternative gegenübersteht – entsprechend ist die Sitzordnung in den Parlamentskammern –, die diese kontrolliert und herausfordert und jederzeit bereit ist, an ihre Stelle zu treten. In einer Reihe vormaliger britischer Kolonien und jetziger Commonwealth-Staaten und darüber hinaus hat dieses System Nachahmung gefunden. Dem gegenüber steht der moderne Konstitutionalismus mit der sich in den Vereinigten Staaten herausgebildeten Variante einer präsidialen Republik mit strikter Gewaltentrennung, in der der Präsident als Chef der Exekutive vergleichsweise eigenmächtig die Regierung führt und – anders als in England – nicht vom Parlament durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden kann. Im Gegenzug kann er es allerdings auch mit einem Parlament zu tun haben, dessen Mehrheiten ihm politisch entgegenstehen und ihn am Regieren nachhaltig hindern können. Dieses Modell des modernen Konstitutionalismus hat insbesondere in Lateinamerika verbreitete Nachahmung gefunden378 und – nach 1989 – vielfach in den Staaten des vormaligen Ostblocks, nicht ohne inzwischen Gegenbewegungen in dem einen oder anderen Land gegen einen übermächtigen und selbstherrlichen Präsidenten hervorzurufen. 376 Vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, bes. I, 85 – 104. 377 Vgl. dazu stellvertretend Arend Lijphart, Patterns of Democracy: Government Forms and Performance in Thirty-six Countries, New Haven: Yale University Press, 22012. 378 Vgl. dazu unten Teil VIII.

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Was mit der Anglophilie des 18. Jahrhunderts als Verherrlichung der freiheitlichen englischen Verfassung begonnen hatte, wurde verbreitet im 20. Jahrhundert als das liberale westliche Verfassungs- und Demokratiemodell gefeiert, als dessen prägende Wurzeln England und die Vereinigten Staaten gelten. Beide Länder, das Vereinigte Königreich wie die Vereinigten Staaten haben damit zwei Wege zur westlichen liberalen Demokratie aufgezeigt. Dabei ist der britische Weg ein besonderer, der zugleich demonstriert, dass selbst eine so spezielle Verfassung wie die britische diesen Weg dank der ihr eigenen Traditionen und Institutionen und deren schrittweiser Anpassung gehen konnte. Auch andere Länder außerhalb des modernen Konstitutionalismus, wie etwa die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie, zählen ebenso zum Kreis der westlichen liberalen Demokratien. Dennoch sind die Länder mit Verfassungen des modernen Konstitutionalismus geradezu prädestiniert für diesen Weg, selbst wenn dieser von Fall zu Fall durchaus unterschiedlich verlaufen mag, wie etwa im Fall der Vereinigten Staaten mit einer beständigen Verfassung. Während in anderen Ländern, darunter Deutschland, Frankreich und den meisten übrigen europäischen wie lateinamerikanischen Staaten, auf dem Weg zur modernen liberalen Demokratie die Verfassung mehrfach geändert wurde, hat sich in den Vereinigten Staaten allein das Verständnis dieser Verfassung immer wieder gewandelt, wobei Politik und Rechtsprechung die entscheidenden, doch keineswegs stets im Gleichklag agierenden Motoren dieses Wandels waren. Dabei erscheinen Unterschiede im Detail wie auch die jedem System naturgemäß innewohnenden Defizite und Gebrechen langfristig eher sekundärer Natur, solange die Betonung eindeutig – und nicht unähnlich dem 18. Jahrhundert – auf der freiheitlichen Grundordnung und Rechtsstaatlichkeit liegt. Darin klingt jenes von James Harrington thematisierte Menschheitsideal der „Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen“ an,379 das als Markenzeichen der westlichen liberalen Demokratien gilt und, obwohl mitunter mehr ein hehres Ziel, doch grundsätzlich eine ständige Herausforderung darstellt, zumal in Zeiten, in denen seine generelle Akzeptanz nicht allein in den Vereinigten Staaten, sondern auch in der Europäischen Union manche irritierende Risse erkennen lässt.380

379 James Harrington, The Commonwealth of Oceana, in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 171. 380 Vgl. dazu die Kap. III. 8. und VII. 4.

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7. Die Erklärung der Menschenrechte in Nordamerika und Westeuropa und die Rechte der Frau381 Für mehr als 200 Jahre hat eine von Männern dominierte Geschichts- und Verfassungsgeschichtsschreibung, wenn es um das Wahlrecht und weitere politische Rechte der Frau in der Revolution – ob nun der amerikanischen oder der Französischen – im ausgehenden 18. Jahrhundert ging, darauf bestanden, dass dies eine unhistorische Fragestellung sei. Diese Rechte hätte es nicht gegeben, ja entscheidender noch, sie seien weder gefordert noch diskutiert worden. Man hat es sich mit dieser Antwort nicht nur außerordentlich einfach gemacht, sondern es ist wohl auch längst an der Zeit einzugestehen, dass diese Antwort historisch falsch ist und dass wir gehalten sind, das Problem der Gleichheit in den beiden Revolutionen von Grund auf neu zu bewerten. Ich möchte aber hier noch einen Schritt weitergehen und feststellen, dass die Behauptung, die Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts – auf beiden Seiten des Atlantiks – seien als Rechtekataloge in dem Bewusstsein universeller Gültigkeit – zumindest soweit die eigene Staatlichkeit reichte – konzipiert worden, ahistorisch ist.382 Diese zunächst provozierend wirkende Feststellung wird weit weniger überraschen, wenn wir uns daran erinnern, dass im September 1791 Olympe de Gouges ihre „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ veröffentlichte. Auch ohne auf de Gouges und ihre Erklärung an dieser Stelle näher einzugehen, war mit der Veröffentlichung dieser Schrift zweierlei zum Ausdruck gebracht: 1) Indem de Gouges die französische Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 als Vorlage nahm und – bei kleineren, im Einzelnen dennoch nicht unwichtigen Abweichungen – sich im Wesentlichen darauf beschränkte, überall dort, wo im Original homme und citoyen stand, nun „Frau“ und „Bürgerin“ zu schreiben, offenbarte sie, dass im Grunde der homme der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen „Mann“ bedeutete und nicht – wie gerne unterstellt – „Mensch“. 2) Mehr als nur den fundamentalen Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzuzeigen, hatte de Gouges mit ihrer kleinen Schrift zugleich artikuliert, dass es Frauen – und Männer – in Frankreich, ebenso wie in Amerika und Großbritannien, im ausgehenden 18. Jahrhundert gab, die sich dieser Defizite bewusst und die nicht bereit waren, sie unwidersprochen hinzunehmen. 381

Überarbeitete Fassung meines Beitrags „The Declaration of the Rights of Man in America and Europe and the Rights of Woman“, in: The Construction and Contestation of American Cultures and Identities in the Early National Period, hrg. v. Udo J. Hebel, Heidelberg: Winter, 1999, 341 – 354. 382 Allein aus Gründen der Kuriosität, vgl. den Gegenentwurf einer vergleichenden Betrachtung der Menschenrechte in Amerika und Frankreich, der nichts weiter als eine oberflächliche Zelebrierung des sogenannten amerikanischen exceptionalism ist durch Russell Kirk, „The Rights of Man vs. The Bill of Rights“, in: Presidential Studies Quarterly, 20 (1990), 493 – 501.

7. Die Erklärung der Menschenrechte und die Rechte der Frau

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Ich möchte im Folgenden darlegen, dass wir es entgegen der traditionellen Auffassung im ausgehenden 18. Jahrhundert in Nordamerika und Westeuropa tatsächlich mit einem Diskurs – wenn auch einem sui generis – um die Rechte der Frau und die politische Rolle der Frauen zu tun haben, der auf mehreren Ebenen ablief und in allen drei hier zu behandelnden Ländern hinsichtlich der an ihm Beteiligten ähnlich strukturiert war. So begegnen wir in ihm zum einen Frauen, die gemäß den Gesetzen von Natur und Vernunft Teilhabe an den Menschenrechten forderten, da diese in gleichem Maße für Männer wie für Frauen gälten. Daneben gab es Männer, die aus unterschiedlichen Motiven darzulegen versuchten, warum eine politische und rechtliche Integration der Frauen in die Cité – um den Ausdruck von Condorcet zu verwenden – geboten und notwendig sei. Und schließlich gab es einige Politiker und Juristen, die es für angebracht hielten zu begründen, warum genau dieses weder möglich noch ratsam sei und die es bei einem Bürgerbegriff belassen wollten, der seine fernen Ursprünge in der Rechtsstellung des civis Romanus nicht verleugnen konnte.383 Bevor ich im Einzelnen näher auf die Argumente jener drei Ebenen oder Gruppen eingehe, sind noch zwei generelle Bemerkungen erforderlich. Zum einen hat es aus heutiger Perspektive den Eindruck, dass in keinem der drei Länder eine wirkliche Diskussion zwischen den drei unterschiedlichen Positionen stattgefunden hat. Anstelle eines offenen Diskurses wurde mit den verschiedenen Argumenten kaum mehr als die jeweils eigene Klientel erreicht, was nicht nur für seine relative Folgenlosigkeit zu seiner Zeit spricht, sondern indirekt auch dazu beigetragen hat, dass der Durchbruch in dieser Frage erst wesentlich später und unter völlig andersartigen historischen Bedingungen, ja eigentlich erst im 20. Jahrhundert erreicht wurde. Zum anderen fällt auf, dass jene Politiker, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert für die Rechte der Frau aussprachen in der Regel weder zu den führenden Exponenten der amerikanischen wie Französischen Revolution gehörten noch zur Gruppe der jeweils radikalsten Revolutionäre zählten, ja dass dort eher eine kategorische Ablehnung dieser Thematik anzutreffen war, worin sich die Radikalen mit den Gemäßigten und Traditionalisten verbunden wussten. Wenn also die Forderung nach Frauenrechten heute mitunter als Postulat einer weitergehenden „Demokratisierung“ hingestellt wird, so erscheint diese Interpretation nicht nur deshalb problematisch, weil das Eintreten für die Rechte der Frau nicht von den radikalen Demokraten getragen wurde, sondern auch weil es rechtshistorisch keine zwingende Kongruenz von Menschenrechten und Demokratie gibt, diese Verbindung vielmehr erst das Ergebnis späterer Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert ist. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen möchte ich zunächst kurz auf jene Frauen eingehen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert in Westeuropa und Nordamerika für die Rechte der Frau als Teil der allgemeinen Menschenrechte eintraten. Im Ge383 Vgl. A. N. Sherwin-White, The Roman Citizenship, Oxford: Clarendon Press, 21973; Max Kaser, Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch, München: Beck, 222020; Claude Nicolet, Le Metier de citoyen dans la Rome républicaine, Paris: Gallimard, 22006.

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gensatz zur traditionellen Naturrechtslehre384 waren sie sich durchweg einig darin, dass Vernunft und Natur keine rechtliche Ausgrenzung der Frauen zuließen und Frauen das gleiche Anrecht auf Bildung wie Männer hätten. Als Beispiel fällt dabei sogleich der Name Mary Wollstonecraft ein, die im Rahmen des englischen Diskurses um die Französische Revolution, angeheizt ebenso durch Edmund Burkes gegenrevolutionäre Reflections on the Revolution in France wie angeregt durch Thomas Paines Rights of Man 1792 AVindication of the Rights of Woman publizierte, ein Werk, das im 20. Jahrhundert wesentlich mehr Beachtung als im 18. Jahrhundert gefunden hat.385 Nicht allein sein revolutionärer Inhalt war dafür verantwortlich, sondern auch die Lautstärke jener Gegner, die sich rasch sehr viel lieber über den Lebenswandel der Autorin als über den Inhalt ihres Buches äußerten. Es kann jedoch bei allen unbestreitbaren Verdiensten dieses Pionierwerks nicht übersehen werden, dass die Gedankenführung der Vindication unsystematisch, sprunghaft und mitunter langatmig ist. Ihr Ruf nach Gerechtigkeit für die eine Hälfte der Menschheit386 führte aber nicht zur Feststellung der natürlichen Rechte der Frau, sondern zur vielfach geäußerten Forderung nach Erziehung, deren Ziel war, nicht Macht über die Männer als vielmehr über sich selbst zu gewinnen.387 Hatten sich in der amerikanischen wie der Französischen Revolution zuvor bereits Männer wie Benjamin Rush und Condorcet für die Erziehung der Frauen eingesetzt, was 1787 zur Errichtung einer ersten Weiterbildungsstätte für Frauen in Philadelphia und schon bald darauf in weiteren amerikanischen Städten geführt hatte, so hatte bei ihnen der Gedanke der Verankerung der Frau in der Republik bzw. als gleicher Träger von Rechten zum Nutzen der ganzen Gesellschaft und damit nicht zuletzt der Männer im Vordergrund gestanden.388 Während in ihren Darlegungen die Einbindung in die Revolution offensichtlich war, ging Wollstonecraft weit über sie hinaus, indem sie Erziehung als die notwendige Voraussetzung für die Selbstverwirklichung der Frau begriff. 384 Vgl. Ginevra Conti Odorisio, „Les Droits naturels et les relations entre les genres: Ambiguïtés de la nature et certitudes de la société“, in: Les Femmes et la Révolution française. Actes du colloque international, 12 – 13 – 14 avril 1989, Université de Toulouse-Le Mirail, hrg. v. Marie-France Brive, 3 Bde., Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, 1989 – 1991, I, 351 – 362, bes. 358. 385 Vgl. Olive Schreiner, „Introduction to the Life of Mary Wollstonecraft and The Rights of Woman“, in: History Workshop, 37 (1994), 189. Über den beträchtlichen Einfluss in den Vereinigten Staaten am Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere über die „amerikanische Wollstonecraft“ Judith Sargent Murray, vgl. allgemein Mary Beth Norton, Liberty’s Daughters. The Revolutionary Experience of American Women, 1750 – 1800, NAufl., Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1996, 251 – 255. 386 Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman, London: David Campbell, 1992, 11. 387 Ebd., 67. 388 Vgl. Benjamin Rush, „Thoughts upon Female Education, accomodated to the Present State of Society, Manners and Government, in the United States of America [28 July 1787]“, in: ders., Essays, Literary, Moral & Philosophical, Philadelphia: Thomas & Samuel F. Bradford, 1798, 75 – 92; Œuvres de Condorcet, hrg. v. Arthur Condorcet O’Connor u. François Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 49, VII, 217 – 228.

7. Die Erklärung der Menschenrechte und die Rechte der Frau

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Ungeachtet der ungeheuren Modernität der von ihr getroffenen Feststellung fehlte ihr jedoch das durch die Revolution geschärfte Bewusstsein für die rechtliche Absicherung ihrer sozialen Ziele. Abigail Adams, Frau des zweiten amerikanischen Präsidenten John Adams, hatte dagegen ihren Mann bereits am 31. März 1776 beschworen, in den zukünftigen Verfassungen nicht erneut die unbegrenzte Gewalt über die Frauen in die Hände der Ehemänner zu legen. Das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der Völker vertrüge sich schlecht mit dem Beibehalten der absoluten Gewalt über die Ehefrauen.389 Abigail Adams blieb mit ihren Überzeugungen kein Einzelfall, und weitere Frauen in der amerikanischen wie Französischen Revolution bezogen im Prinzip ähnliche und zudem öffentlich artikulierte Positionen,390 die sich allerdings vielfach nicht mit der Feststellung des Defizits begnügten, sondern, wie etwa im Falle von Olympe de Gouges bereits angedeutet, sie offen einforderten.391 Es ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass es Frauen in der amerikanischen Revolution im Gegensatz zumal der Frauen in Paris nahezu vollständig an kollektiven Erfahrungen fehlte, so dass sie mehr oder weniger auf individuelle Erklärungen zur Einforderung ihrer Rechte angewiesen waren.392 Während auf dieser Ebene in beiden Revolutionen keine konkreten Reaktionen auf diese Forderungen erfolgten, differenziert sich der Eindruck, wenn wir den Bereich des öffentlichen Rechts verlassen und uns in den des Privatrechts und seiner möglichen Veränderungen begeben,393 zumal in den des von zahllosen Frauen besonders verurteilten Ehestandsgesetzes. Entgegen vielfachen Forderungen weigerte 389

Beide Briefe vom 31. März und 7. Mai 1776 in: Adams Family Correspondence, hrg. v. L. H. Butterfield, I, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1963, bes. 370 und 402. Vgl. auch Norton, Liberty’s Daughters, 83 – 84. 390 Vgl. John M. Murrin, „From Liberties to Rights: The Struggle in Colonial Massachusetts“, in: The Bill of Rights and the States. The Colonial and Revolutionary Origins of American Liberties, hrg. v. Patrick T. Conley und John P. Kaminski, Madison, Wis.: Madison House, 1992, 93; Ute Gerhard, „Menschenrechte auch für Frauen. Der Entwurf der Olympe de Gouges“, in: Kritische Justiz, 20 (1987), 131. 391 Hierzu wird man auch Mercy Otis Warren zählen müssen, vgl. ihre anonyme Flugschrift Observations On the New Constitution, And on the Federal and State Conventions, By A Columbian Patriot [1788], Ndr. in: The Complete Anti-Federalist, hrg. v. Herbert J. Storing, 7 Bde., Chicago: University of Chicago Press, 1981, IV, 270 – 287, selbst wenn dies bislang nicht geschehen zu sein scheint. Aber ihre Vorstellungen von Republikanismus und Menschenrechten lassen, verbunden mit ihrer sorgfältigen Wortwahl, keinen Zweifel daran, dass für sie Frauen einen natürlichen und unerlässlichen Teil der Menschenrechte bildeten, vgl. bes. 278 – 279. Auch Larry M. Lane und Judith J. Lane, „The Columbian Patriot: Mercy Otis Warren and the Constitution“, in: Women & Politics, 10 (1990), 17 – 31. 392 Vgl. Linda K. Kerber, „,I Have Don … much to Carrey on the Warr‘: Women and the Shaping of Republican Ideology After the American Revolution“, in: Journal of Women’s History, 1 (1989/90), 231 – 243 und erneut in: Women and Politics in the Age of the Democratic Revolution, hrg. v. Harriet B. Applewhite und Darline G. Levy, Ann Arbor, Mich.: University of Michigan Press, 1990, 227 – 257. 393 Vgl. Elisabeth G. Sledziewski, „La Femme dans la législation révolutionnaire“, in: Les Femmes et la Révolution française, hrg. v. Brive, I, 411 – 415, die mit Blick auf die Französische Revolution von der „Verzerrung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts“ sprach (411).

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sich die revolutionäre Elite in der Mehrzahl der amerikanischen Staaten nachdrücklich, das aus dem englischen Common Law übernommene Ehestandsgesetz (Law of coverture) abzuändern, das die bürgerliche Identität der Frau auf ihren Ehemann übertrug, der fortan allein über ihr Eigentum verfügte.394 Aus diesem Rechtsgrundsatz leiteten amerikanische Gerichte noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ab, dass aus dem Status der Ehefrau folge, dass Ehefrauen im Sinne des Common Law nur ein Mitglied, aber keine mit eigenem Recht ausgestattete Bürgerinnen des Staates sein könnten,395 was den Schriftsteller Charles Brockden Brown dazu veranlasste, die Rechtsstellung der Frau in der Gesellschaft mit der eines Insektes zu vergleichen.396 Die Französische Revolution zeigte sich ebenso wie Pennsylvania397 und einige weitere amerikanische Staaten auf dieser Rechtsebene nur wenig beweglicher und führte mit dem Zivilstand der Ehe, dem Scheidungsrecht und dem Erbrecht der Frauen wesentliche Schritte durch, die zwar zu einer größeren rechtlichen Autonomie der Frauen beitrugen,398 der Code civil hielt jedoch für mehr als ein weiteres Jahrhundert analog dem Law of coverture an den zentralen Bestimmungen der rechtlichen und ökonomischen Abhängigkeit der Ehefrauen und Witwen von ihren Ehemännern bzw. deren Familien fest. Auch wenn französischen Ehefrauen dabei nicht wie in Amerika der Bürgerstatus generell abgesprochen wurde, stand doch die Frage im Raum, welche Rechte dieser Status tatsächlich verlieh. Schließlich folgten nach antikem republikanischem Verständnis Freiheitsrechte aus den Bürgerrechten. Da die Französische Revolution – und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt – im Gegensatz zu den andersartigen Rechtstraditionen der angelsächsischen Welt399 die Verknüpfung von Menschen- und Bürgerrechten sehr viel unmittelbarer vornahm, als dies in der amerikanischen Revolution geschah, fand hier auch eher ein Diskurs über die Rolle der Frauen in diesem Kontext statt. Diese männlichen Verfechter der Rechte der Frau unterschieden sich in ihrer Argumentation von den zuvor behandelten Frauen, indem sie 394 Vgl. Linda K. Kerber, „The Paradox of Women’s Citizenship in the Early Republic: The Case of Martin vs. Massachusetts, 1805“, in: American Historical Review, 97 (1992), bes. 351. 395 Vgl. ebd., 349 – 378. 396 Zit. n. Jane Rendall, „Feminism and Republicanism: American Motherhood“, in: History Today, 34 (1984), 33. 397 Vgl. Pennsylvania Gazette, 30. Januar 1788, in: The Documentary History of the Ratification of the Constitution, XV, hrg. v. John P. Kaminski und Gaspare J. Saladino, Madison, Wis.: State Historical Society of Wisconsin, 1984, 508. 398 Vgl. Elisabeth Badinter, Paroles d’hommes (1790 – 1793): Condorcet, Prudhomme, Guyomar…, Paris: P.O.L., 1989, 42; Hugues Fulchiron, „La Femme, mère et épouse dans le droit révolutionnaire“, in: Les Femmes et la Révolution française, hrg. v. Brive, I, 377 – 386. 399 Zur amerikanischen Situation und dem Fehlen gleicher Bürgerrechte für Mann und Frau bis heute – auf das Scheitern de Equal Rights Amendment von 1982 wurde im voraufgehenden Kap. V. 6. hingewiesen –, vgl. Nancy F. Cott, „Women’s Rights: Unspeakable Issues in the Constitution“, in: Yale Review, 77 (1988), 382 – 396. Auch, obwohl indirekt, Ralph D. Church, „,We the People‘. Reflections on the Meaning of the ,People‘ in The Constitution of the United States of America“, in: Il Politico, 57 (1992), 259 – 280.

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die Ebene des Naturrechts verließen und es vorzogen, auf dem des öffentlichen Rechts zu argumentieren. Ganz allgemein beschrieben sie die Rechte der Frau als sozial nützlich und angemessen, was bewirkte, dass Erwägungen des Nutzens für die Männer unterschiedliche Gewichtung erfuhren. Die Folge waren divergierende Auffassungen über das Ausmaß der den Frauen zu gewährenden Rechte. Condorcet war unter diesen Frauenrechtlern der prominenteste und am weitesten gehende, der als einer der ersten bereits im Juli 1790 öffentlich die Ausdehnung der vollen Bürgerrechte auf die Frauen forderte400 und mit logischer Schärfe darauf hinwies, dass die von ihren Gegnern auf beiden Seiten des Atlantiks immer wieder angeführte stärkere Zurückgezogenheit und häusliche Anbindung der Frau zwar ein Motiv sein könnten, sie von Wahlen auszuschließen, ihre Lebensumstände aber „nie der Grund für einen rechtlichen Ausschluss“ sein könnten.401 Vielmehr führe die gesetzliche Ungleichheit zwischen Mann und Frau nahezu überall zur Korrumpierung der Sitten, und wie die 1789 eingeführte Gleichheit der Männer sich wohltätig ausgewirkt habe, werde dies auch das Ergebnis der Einführung der Rechtsgleichheit von Mann und Frau sein. Joseph Lequinio, bretonischer Advokat, Großgrundbesitzer und „unbarmherziger Enthaupter“,402 forderte daher Ende 1792 in seiner Schrift über Les Préjugés détruits, dass die Erklärung der Menschenrechte in vollem Umfang auch für Frauen zu gelten habe, wie es die Freiheit und die von der Vernunft diktierte Gleichheit gebiete.403 Es ließen sich weitere Stimmen für die Überzeugung anführen, dass die Menschenrechtserklärung von 1789 in gleichem Maße für Männer und Frauen gelte, wie dies noch einmal der bretonische Abgeordnete Pierre Guyomar am 29. April 1793 mit bemerkenswerter Klarheit im Nationalkonvent zum Ausdruck brachte, als er fragte: „Wo ist denn die Verpflichtung der Frauen, Gesetzen zu gehorchen, zu denen sie weder direkt noch indirekt beigetragen haben? Wo ist der politische Tausch für die natürliche Unabhängigkeit, die jedes Individuum von Gott, von der Natur hat, wenn man so will? Ich behaupte, dass die Hälfte der Individuen einer Gesellschaft nicht das Recht hat, die andere Hälfte um ihr unverjährbares Recht zu bringen, ihren Wunsch zu äußern“.404

Jenseits hehrer Erklärungen blieb jedoch das ungelöste Problem der Durchsetzung derartiger Rechte. Neben der Rechtsordnung war damit als Folge des Bürgerrechts die Frage nach der politischen Mitwirkung gestellt. Öffentliche Forderungen nach einem uneingeschränkten und gleichen Wahlrecht für Frauen waren jedoch außer von Condorcet und Guyomar nur selten zu vernehmen, so von dem 400 Vgl. Joan B. Landes, Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1988, 112 – 117. 401 Condorcet, „Sur l’Admission des femmes au droit de cité“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. Condorcet O’Connor u. Arago, X, 128 – 129. 402 Badinter, Paroles d’hommes, 38. 403 Abgedruckt in: ebd., 117. 404 Abgedruckt in: ebd., 145, vgl. auch 148. Ebenfalls abgedruckt in: Les Droits de l’homme, hrg. v. Christian Biet, Paris: Imprimerie nationale, 1989, 500.

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ebenfalls zum Kreis um Condorcet zählenden Konventsabgeordneten Gilbert Romme. In Großbritannien schlossen sich dem Thomas Spence, George Phillips, Thomas Cooper und einige wenige andere an.405 Von diesem grundsätzlichen Prinzip abweichend, wollte der englische Pfarrer und von der Nationalversammlung zum „französischen Bürger“ erklärte David Williams hingegen ein Stimmrecht zumindest für unverheiratete Frauen und Witwen gelten lassen.406 Williams hatte sich damit – vermutlich unbewusst – den Bestimmungen der Verfassung von New Jersey von 1776 genähert, die als einzige amerikanische Verfassung im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Wahlrecht für alleinstehende Frauen bei entsprechender Besitzqualifikation zuließ, bis die Federalists angesichts ihres schwindenden politischen Rückhalts 1807 auf die Linie der Jeffersonian Republicans einschwenkten und gemeinsam mit ihnen für die Abschaffung des Frauenwahlrechts in New Jersey stimmten.407 Noch zehn Jahre zuvor hatten sich die Federalists damit gebrüstet, „nicht nur die ,Rechte der Frau‘ zu verkünden, sondern sie auch mutig in der Praxis durchzusetzen“.408 Die Verweigerung des Frauenwahlrechts – und damit bin ich bei meinem dritten und letzten Punkt angelangt – war, einer Abigail Adams, einem Condorcet oder einem David Williams und allen übrigen Frauenrechtlern zum Trotz, eine Haltung, über die sich die Männer in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien im ausgehenden 18. ebenso wie im 19. Jahrhundert weitestgehend einig waren. Wenn die Sicherung von Freiheit und Eigentum für Männer galt, würden Ehefrauen, Mütter und Töchter unter dem Schutz des Mannes davon indirekt ebenfalls profitieren, ohne die von Männern dominierte Gesellschaft ändern zu müssen. Bestenfalls könne man die politische Mitwirkung der Männer ausweiten, was allerdings zwischen Radikalen und Gemäßigten höchst umstritten war. Doch ein Wahlrecht für Frauen sei angesichts der definierten Geschlechterrollen nicht tunlich. John Adams wusste daher auf das Plädoyer seiner Frau keinen anderen Ausweg als die Flucht in die Ironie, mit der er ihr versicherte, dass die Führer der amerikanischen Revolution klug genug seien, „unser männliches System“ nicht aufzugeben, um nicht dem „Despotismus des Petticoats“ zum Opfer zu fallen.409 Einige Wochen später dachte Adams erneut über die moralische Begründung von Herrschaft nach. „Woher stammt das Recht der Männer, über Frauen ohne ihre Zustimmung zu regieren?“ Warum sollte man Frauen, Kinder und jene ohne Eigentum ausschließen? Seine Antwort war ein vor jeder 405

Vgl. Harry T. Dickinson, The Politics of the People in Eighteenth-Century Britain, Basingstoke: Macmillan, 1995, 184 – 185. 406 Vgl. Badinter, Paroles d’hommes, 140 – 141. 407 Vgl. Gregory Evans Dowd, „Declarations of Dependence: War and Inequality in Revolutionary New Jersey, 1776 – 1815“, in: New Jersey History, 103 (1985), 56 – 57; Judith Apter Klinghoffer und Lois Elkis, „,The Petticoat Electors‘: Women’s Suffrage in New Jersey, 1776 – 1807“, in: Journal of the Early Republic, 12 (1992), 159 – 193. 408 Zit. n. Norton, Liberty’s Daughters, 192. 409 John Adams an Abigail Adams, 14. April 1776, in: Adams Family Correspondence, hrg. v. Butterfield, I, 382. Vgl. auch Norton, Liberty’s Daughters, 163.

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Neuerung zurückschreckendes Plädoyer für den Status quo: Amerikaner hätten sich nie sonderlich viele Gedanken über die Qualifikation von Wählern gemacht, und daher sei es das Beste, alles so zu belassen, wie es ist. Denn würde man die Qualifikation von Wählern ändern, hieße das, die Fluttore für immer neue Forderungen zu öffnen, die ersten wären die Frauen, und schließlich würde man bei einer reinen Demokratie landen. Das Endergebnis wäre eine Katastrophe: „Es wird dazu führen, alle Unterschiede durcheinander zu bringen und zu zerstören und alle sozialen Ränge auf ein gemeinsames Niveau hinunterzudrücken.“410 Die Verfassungen der amerikanischen Staaten mit der Ausnahme von New Jersey wie die der Französischen Revolution waren sich folglich im Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht völlig einig, wobei die in den französischen Verfassungen zusätzlich enthaltene Definition des citoyen ein weiteres Mal demonstrierte, dass es den jeweiligen Verfassungsvätern letztlich stets nur um Männer ging. Nicht die Tatsache des nahezu allgemeinen Ausschlusses der Frauen vom Wahlrecht sind das Besondere an der Situation des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika, sondern die praktisch gleichlautenden Begründungen, die auf beiden Seiten des Atlantiks in diesen Jahren für eine derartige Politik geliefert wurden. Für den jungen Rechtsanwalt Theophilus Parsons hieß das in dem von ihm verfassten, bekannten Essex Result von 1778, dass alle Mitglieder der Gesellschaft das Wahlrecht besäßen, es sei denn, sie verfügten nicht über eine „hinreichende Diskretion“, wie das nun einmal u. a. bei den Frauen der Fall sei, „nicht aufgrund eines Mangels ihrer geistigen Kräfte, sondern aufgrund der natürlichen Empfindsamkeit und Zartgefühl ihres Gemüts, ihrer zurückgezogenen Lebensart und verschiedenen häuslichen Pflichten“.411 Condorcets Argument, dass die den Frauen von den Männern zugewiesene Rolle kein Rechtfertigungsgrund sein könne, sie, nachdem sie diese Rolle eingenommen hatten, nun eben deswegen wiederum vom Wahlrecht auszuschließen, zählte dabei in Nordamerika wie in Westeuropa wenig.412 410 John Adams an James Sullivan, 26. Mai 1776, in: Letters of Delegates to Congress, 1774 – 1789, hrg. v. Paul H. Smith, 26 Bde., Washington. D.C.: Library of Congress, 1976 – 2000, IV, 73 – 75. Vgl. auch James A. Henretta, „Society and Republicanism: America in 1787“, in: this Constitution: A Bicentennial Chronicle, no 15 (Sommer 1987), 22. Fast 40 Jahre später, 1814, war John Adams bereit, Frauen im Bereich des Privatrechts gleiche Rechte einzuräumen, doch nach wie vor nicht im öffentlichen Recht: „Daher ist die Vorstellung einer Regierung einer demokratischen Republik (democratical republic), in der jeder Mann und jede Frau ein gleiches Gewicht in der Gesellschaft hätten, eine Schimäre. Sie haben alle gleiche Rechte, aber sie können nicht und sollten nicht gleiche Macht haben“ („Letters to John Taylor of Caroline, Virginia, in Reply to His Strictures on Some Parts of the Defence of the American Constitutions“, in: The Works of John Adams, hrg. v. Charles Francis Adams, 10 Bde., Boston 1850 – 1856, VI, 460). 411 The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 340 – 341. 412 Vgl. Jeanne Boydston, Mary Kelley, Anne Margolis, The Limits of Sisterhood: The Beecher Sisters on Women’s Rights and Woman’s Sphere, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1988, 4: „Die Ideologie der Häuslichkeit diente teilweise als Grund für die

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Umso bereitwilliger wurde die Argumentation von Emmanuel Sieyès aufgegriffen, die dieser in seinem am 20./21. Juli 1789 vorgetragenen Entwurf für eine Menschenrechtserklärung entwickelt hatte, mit dem die Verbindung von Bürger- und Freiheitsrechten gelungen schien bei gleichzeitiger Begründung für die Aufnahme der Frauen als Staatsbürger, ohne sie an deren Rechten teilhaben zu lassen. Sieyès hatte, abweichend von jeder gängigen Rechtssystematik, die Existenz von „zwei Arten von Rechten“ behauptet, nämlich den natürlichen und bürgerlichen Rechten einerseits und den politischen Rechten andererseits. Dabei seien die natürlichen und bürgerlichen Rechte für den Unterhalt und die Entwicklung der Gesellschaft gemacht und mithin passive Rechte, während die politischen Rechte, durch die die Gesellschaft ihre Gestaltung erfahre, aktive Rechte darstellten. Diese juristisch eigenwillige Rechtssystematik erschien notwendig, da sich daraus die Einteilung in Passivund Aktivbürger vornehmen ließ, also in jene, die das Recht auf den Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit hätten, und jene, die das Recht hätten, einen aktiven Teil bei der Bildung der öffentlichen Gewalt auszuüben. „Die Frauen, zumindest in ihrem gegenwärtigen Zustand, die Kinder, die Ausländer, jene schließlich, die nichts zum Unterhalt der öffentlichen Einrichtungen beitragen würden, dürfen nicht aktiv die öffentlichen Dinge beeinflussen. Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber nur die, die zu den öffentlichen Einrichtungen beitragen, sind wie die wahren Aktionäre des großen gesellschaftlichen Unternehmens. Nur sie sind die wahren aktiven Staatsbürger, die wahren Mitglieder der Verbindung“.413

Keine zweite Begründung für den Ausschluss der Frauen von den Menschenrechten und den daraus sich ergebenden politischen Rechte erreichte im Sommer 1789 in Frankreich dieses Niveau, und selbst was Marat in seinem Entwurf vom 23. August beizusteuern wusste, wies nicht über den sattsam bekannten Rekurs auf die Frau als Ehefrau und ihre vollständige Einbindung in die Familie hinaus, dank der sie durch den Ehemann hinreichend politisch vertreten sei.414 Das Rechtsmodell der Aktiv- und Passivbürger wurde für die Französische Revolution bestimmend. Wenn die gängige Interpretation davon ausgeht, dass die jakobinische Republik diese Zweiteilung zugunsten von Demokratie und allgemeinem Wahlrecht aufgegeben habe, so erweist sich diese Einstufung als verzerrend. Denn die Abschaffung der Einstufung in Aktiv- und Passivbürger galt allein für Männer, während Frauen weiterhin passive Staatsbürger blieben. Ihr Titel „Staatsbürgerin (citoyenne)“, der seit Herbst 1792 quasi offiziell war, verführte jedoch einige zu der Absonderung der Frauen in ihre ,separate Sphäre‘ und als Zurückweisung jener, die versuchten, das Argument gleicher Rechte auf Frauen auszudehnen.“ 413 Die Vorstellung des Entwurfs ist abgedruckt in: L’An 1 des droits de l’homme, hrg. v. Antoine de Baecque, Wolfgang Schmale und Michel Vovelle, Paris: Presses du CNRS, 1988, bes. 72 – 76. Vgl. auch Emile Walch, La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen et l’Assemblée constituante. Travaux préparatoires, Thèse pour le doctorat, Paris: Jouve, 1903, 85, der zur eigenwilligen Rechtssystematik von Sieyès keine Stellung bezieht. 414 Vgl. das Projekt Marats in: L’An 1 des droits de l’homme, hrg. v. de Baecque, Schmale und Vovelle, bes. 297.

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Annahme, beide Geschlechter hätten die gleichen Rechte und unterschieden sich allein in ihren Pflichten.415 Vielmehr war es „eine Staatsbürgerschaft mit zwei Geschwindigkeiten“,416 und es bedurfte nur weniger Monate, bis den Frauen bewusst wurde, dass das, was die Bergpartie ihnen zu bieten hatte, weit von irgendeinem Radikalismus entfernt war und eher dem Republikanismus der Antike ähnelte: „Seid einfach in Eurer Kleidung, arbeitsam in Eurem Haushalt; folgt nie den Volksversammlungen mit dem Wunsch, auf ihnen zu sprechen; doch Eure Anwesenheit dort ermutige zuweilen Eure Kinder.“417 Die Rechtfertigung lieferte am 9. Brumaire des Jahres II der Konventsabgeordnete Jean Pierre André Amar. Seine Antwort auf die Frage, ob Frauen erlaubt sein sollte, „die politischen Rechte auszuüben und sich in die Angelegenheiten der Regierung einzumischen“, war ein zweifaches Nein. Nach seiner Überzeugung waren Frauen nicht in der Lage, die Herausforderungen der Regierung und „die Befähigungen, die sie erfordern“ zu erfüllen, und man sollte ihnen nicht erlauben, sich in politischen Versammlungen zu vereinigen, da Natur und Moral die Frauen im Rahmen der allgemeinen Gesellschaftsordnung zu „privater Tätigkeit“ bestimmt haben, und, so schloss er, „ohne die Moral keine Republik“.418 Das dahinterstehende Ideal der Frau in der von Männern dominierten republikanischen Welt hatte zuvor bereits James Wilson, Mitglied des Verfassungskonvents von 1787, Richter am Supreme Court der Vereinigten Staaten und erster Inhaber des juristischen Lehrstuhls an der nachmaligen Universität von Philadelphia dargelegt, als er in seiner Antrittsvorlesung 1790 die anwesenden Frauen direkt ansprach, die im amerikanischen politischen System mit seiner Garantie der Rechte der Männer „vergessen“ worden waren: „Das gesellschaftliche Leben zu schützen und zu verbessern ist […] die Aufgabe von Regierung und Recht. Wenn […] Sie keinen Anteil an deren Bildung haben, haben Sie doch eine höchst enge Verbindung mit den Auswirkungen eines guten Rechts- und Regierungssystems.“419

Um dies zu erreichen, hätten Mütter nicht allein die Aufgabe, „Eure Töchter zu bilden“, sondern laut Wilson auch die Pflicht zur „Erziehung Eurer Söhne“, und „die

415 Vgl. William H. Sewell, Jr., „Le citoyen/la citoyenne: Activity, Passivity, and the Revolutionary Concept of Citizenship“, in: The Political Culture of the French Revolution, hrg. v. Colin Lucas (The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, II), Oxford: Pergamon, 1988, 113 – 117. 416 Sledziewski, „La Femme dans la législation révolutionnaire“, 412. 417 Abgedruckt in: Les Droits de l’homme, hrg. v. Biet, 542. 418 Archives parlementaires de 1787 à 1860, 1ère sér., LXXVIII, 50. Vgl. auch Sewell, Jr., „Le Citoyen/la citoyenne“, 117 – 120; Susanne Petersen, „L’Image de la femme citoyenne dans l’esprit public, Paris 1793“, in: L’Image de la révolution française. Communications présentées lors du Congrès Mondial pour le Bicentenaire de la Révolution, Sorbonne, Paris, 6 – 12 juillet 1989, hrg. v. Michel Vovelle, 4 Bde., Paris: Pergamon, 1989 – 1990, I, 219 – 227. 419 The Works of James Wilson, hrg. v. Robert Green McCloskey, 2 Bde., Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1967, I, 88.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

Verfeinerung ihrer Tugenden“ erfordere das Beispiel der Frauen.420 Die eigentliche Berufung der Frau sei daher die der republikanischen Mutter, eine Überzeugung, die vielen Revolutionären auf beiden Seiten des Atlantiks weitaus sympathischer war als die weiblichen Forderungen, einen aktiven Teil im politischen Leben zu spielen.421 Versucht man ein Fazit aus diesen thesenhaft verkürzten Ausführungen zu ziehen, so hieße es, die historische Wahrheit verzeichnen, wollte man die Diskussion um die Rechte der Männer und die damit einhergehenden Forderungen nach den Rechten der Frauen am Ende des 18. Jahrhunderts als eine unhistorische Rückprojektion einer Thematik unserer Zeit in das Zeitalter der Revolutionen beiseite wischen, wie dies in der Vergangenheit wiederholt – durch Männer – geschehen ist.422 Im Gegensatz zu derartigen konservativen Stimmen ist es hier jedoch nicht meine Absicht, etwas in seinen Einzelheiten Neues und bislang Unbekanntes vorzubringen. Vielmehr kommt es mir auf zwei zentrale Aspekte an: 1) Ungeachtet aller Unterschiede zwischen der amerikanischen und der Französischen Revolution und dem englischen Radikalismus der Zeit lässt sich eine erstaunliche Ähnlichkeit in den Argumenten und in der Struktur des politischen Diskurses in allen drei Ländern feststellen, wenn es um die Rechte von Frauen ging. Diese Analogien tragen dazu bei, die Grenzen des politischen Radikalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert aufzuzeigen, ohne dass dies bislang hinreichend gewürdigt wurde. 2) Jede ernsthafte Diskussion der ersten Menschenrechtserklärungen in Nordamerika und Westeuropa muss die Tatsache akzeptieren, dass diese nicht nur völlig unzureichend waren, was die Rechte der Frau angeht, sondern, mehr noch, dass diese Rechte bewusst verneint wurden. Diese Negation war in Frankreich offenkundiger als in Amerika, gerade weil die Französische Revolution schließlich den Status des aktiven Staatsbürgers den Mitgliedern fast aller vormals diskriminierten sozialen Gruppen zugesprochen hatte, Protestanten, Juden, Eigentumslosen, außer Frauen und Domestiken,423 während die 420

Ebd. Vgl. auch Philadelphia Independent Gazetteer, 2. Oktober 1787, der die Frauen wegen ihrer Tugend aufforderte, die Verfassung zu unterstützen – „Eure Herzen sind natürlicherweise föderal“ – um ihre Ehemänner, Väter, Söhne und Brüder von den Vorzügen der neuen Verfassung zu überzeugen, „da Euer Glück mit ihrem verknüpft ist, da Ihr ohne sie nicht leben könnt und sie für Euch sterben würden“ (Documentary History of the Ratification of the Constitution, XIII; hrg. v. Kaminski und Saladino, 293). 421 Ohne das Ideal der republikanischen Mutter als Ziel weiblicher Erziehung direkt anzusprechen, finden sich ähnliche Vorstellungen bei Rush, „Thoughts on Female Education“, bes. 75 – 77. Vgl. auch Linda K. Kerber, Women of the Republic. Intellect and Ideology in Revolutionary America, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1980, bes. 11 – 12, 283 – 288; dies., „The Republican Mother“, in: Women’s America. Refocusing the Past, hrg. v. ders. und Jane Sherron De Hart, New York und Oxford: Oxford University Press, 31991, 87 – 95; Rendall, „Feminism and Republicanism“, 28 – 33; Landes, Women and the Public Sphere, 129 – 138. 422 So etwa der prominente amerikanische Verfassungshistoriker Herman Belz, „Liberty and Equality for Whom? How to Think Inclusively About the Constitution and the Bill of Rights“, in: The History Teacher, 25 (1991/92), 263 – 277. 423 Es verdient in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden, dass die Bergpartei mit dem Gesetz vom 16. Pluviôse des Jahres II für die sofortige Abschaffung der Sklaverei stimmte,

7. Die Erklärung der Menschenrechte und die Rechte der Frau

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amerikanischen Staaten in der Regel fortfuhren, nicht nur Frauen – mit der erwähnten partiellen Einschränkung von New Jersey – von politischen Rechten auszuschließen, sondern auch die indigene Urbevölkerung, Afroamerikaner, durchweg gleich ob frei oder versklavt, und jene weißen Männer, die nicht über einen gewissen Besitz verfügten oder zumindest Steuern zahlten.424 Der Universalitätsanspruch dieser Erklärungen – Marcel Gauchet nannte es „die Verlockung des radikalen Universalismus“425 – trug nicht einmal innerhalb der Grenzen des jeweiligen Staates. Mehr noch, wurde er nur zu bereitwillig auf dem Altar des Opportunismus geopfert, allerdings ohne viel Aufhebens darum zu machen.426 Die Folgen sind nur zu offensichtlich. Die schwierige Geschichte der Rechte der Frau im 19. und 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten wie in Frankreich ist nur eine davon.427 Dank der Frauen und Männer, die in Amerika und Frankreich diese Fragen öffentlich ansprachen, müssen wir uns dieser Diskussion stellen und aufhören, sie weiterhin zu ignorieren.428 Die heutigen Widersprüche zwischen dem Universalitätsanspruch der Menschenrechte und der tatsächlichen Situation der Rechte der Frau weltweit sind lediglich ein Reflex der Vieldeutigkeiten der Verfassungssituation zu Beginn der Menschenrechte am Ende des 18. Jahrhunderts.429 Zweifellos hat sich die Lage der Rechte der Frau in vielen Ländern im Laufe der nachdem das Gesetz vom 15. Mai 1791 das Staatsbürgerrecht lediglich freigeborenen Mulatten übertragen hatte, vgl. auch Shanti Marie Singham, „Betwixt Cattle and Men: Jews, Blacks, and Women, and the Declaration of the Rights of Man“, in: The French Idea of Freedom. The Old Regime and the Declaration of Rights of 1789, hrg. v. Dale Van Kley, Stanford, Cal.: Stanford University Press, 1994, 114 – 153. 424 Bezüglich der sozialen Vorstellungen der Bill of Rights von 1791, vgl. Donald S. Lutz, „The State Constitutional Pedigree of the U.S. Bill of Rights“, in: Publius: The Journal of Federalism, 22 (1992), 19 – 45; Craig R. Smith, To Form a More Perfect Union. The Ratification of the Constitution and the Bill of Rights, 1787 – 1791, Lanham, Md.: University Press of America, 1993, bes. 127 – 134. Ferner oben Kap. III. 5. 425 Marcel Gauchet, La Révolution des droits de l’homme, Paris: Gallimard, 1992, 141. 426 Der Anspruch auf universelle Gültigkeit wurde in den amerikanischen politischen Debatten bekanntlich nicht in vergleichbarer Weise erhoben. Dennoch kann man die Augen nicht davor verschließen, dass, wenn die Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 verkündete, „[D]ass alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind“ (Art. 1, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153), dies de facto einen Anspruch auf universelle Gültigkeit darstellt. 427 Vgl. die Auffassung von Hubertine Auclert, die im Juni 1889 schrieb: „Der Mann konnte die Frauen von den Wohltaten der Revolution nicht ausschließen, ohne das Werk der Revolution zu sterilisieren“ (zit. n. Edith Taïeb, „La Référence à 89 dans le discours d’Hubertine Auclert“, in: Les Femmes et la Révolution française, hrg. v. Brive, III, 205). 428 Vgl. im Zusammenhang mit den Zweihundertjahrfeiern der amerikanischen Revolution den Aufsatz von Ellen Carol DuBois, „Outgrowing the Compact of the Fathers: Equal Rights, Woman Suffrage, and the United States Constitution, 1820 – 1878“, in: Journal of American History, 74 (1987/88), 836 – 862. 429 Vgl. auch den eher allgemeinen, dennoch sehr einfühlsamen Artikel von Oscar Handlin, „The Bill of Rights in Its Context“, in: The American Scholar, 62 (1993), 177 – 186.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

zurückliegenden mehr als 200 Jahre verbessert. Doch die Ergebnisse wären vermutlich eindrucksvoller, wenn in der amerikanischen und der Französischen Revolution die Bemühungen um Gleichheit allgemein wie auch um die Gleichheit der Rechte für alle Menschen430 – Voraussetzung für jede moderne liberale Demokratie, wie Gerald Stourzh sehr klug bemerkt hat431 – mutiger und radikaler gewesen wären – und die Argumente ihrer überzeugtesten Anhänger ernster genommen worden wären.

8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten432 Ein Bürgermeister konnte ein Privathaus niederreißen lassen, ohne eine Entschädigung leisten zu müssen, wenn dadurch der Übergriff des Feuers auf benachbarte und weitere Häuser der Stadt verhindert werden konnte. Eine entsprechende Anordnung galt als im Einklang mit dem öffentlichen Wohl, das Individualrechten vorging und würde auch vor Gericht Bestand haben. Das Beispiel stammt nicht aus einem fernen Winkel der Welt, in dem Menschenrechte nicht beachtet werden. Vielmehr verweise ich auf Fälle, die sich in New York im Zusammenhang mit dem großen Feuer von 1835 und in den nachfolgenden Jahren ereigneten,433 obwohl es in der Verfassung des Staates New York von 1821 heißt: „Keine Person wird […] um Leben, Freiheit oder Eigentum gebracht ohne ordentliches Gerichtsverfahren; noch wird Privateigentum zum öffentlichen Gebrauch eingezogen ohne gerechte Entschädigung.“434 Die Verfassung von New York von 1846 war noch spezifischer hinsichtlich der Frage der Entschädigung: „Wenn Privateigentum für irgendeinen öffentlichen Gebrauch eingezogen wird, wird die dafür zu leistende Entschädigung, wenn sie nicht vom Staat vorgenommen wird, durch eine

430 Vgl. u. a. zur UN-Konvention zur Beseitigung jeder Diskriminierung gegen die Frau: Rebecca J. Cook und Valerie L. Oosterveld, „A Select Bibliography of Women’s Human Rights“, in: American University Law Review, 44 (1994/95), 1429 – 1471. 431 Gerald Stourzh, „The Modern State: Equal Rights. Equalizing the Individual’s Status and the Breakthrough of the Modern Liberal State“, in: The Individual in Political Theory and Practice, hrg. v. Janet Coleman, Oxford: Clarendon Press, 1996, 303 – 327. 432 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Human Rights: From Societal Rights to Individual Rights“, in: Boletim da Faculdade de Direito. Universidade de Coimbra, LXXXIV (2008), 341 – 367. Bei der Erstveröffentlichung handelt es sich um eine erheblich erweiterte Version eines Vortrags, den ich am 21. Oktober 2008 in der Rechtsfakultät der Universität Coimbra gehalten habe. Den Professoren José de Faria Costa und João Carlos Loureiro danke ich wärmstens für ihre herzliche Gastfreundschaft. 433 Vgl. William J. Novak, The People’s Welfare. Law and Regulation in NineteenthCentury America, Chapel Hill und London: University of North Carolina Press, 1996, 71 – 79. 434 Art. VII, Abs. 7, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 107.

8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten

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Jury festgesetzt oder durch nicht weniger als drei Kommissare, die von einem ordentlichen Gericht ernannt werden entsprechend den gesetzlichen Vorschriften.“435

Ungeachtet dieser Bestimmungen stellte James Kent, oberster Richter von New York und Vorsitzender der Billigkeitsgerichtsbarkeit (Chancellor), in seinen vielbeachteten Commentaries on American Law fest, dass „es viele Fälle gibt, in denen das Eigentumsrecht dem öffentlichen Wohl untergeordnet werden muss. Die Rechtsmaxime ist, dass ein privater Schaden eher zu erdulden ist als öffentliche Unannehmlichkeit. Auf diesem Grund fußt das Recht der öffentlichen Notwendigkeit. Wenn eine öffentliche Straße unpassierbar ist, mag ein Passant rechtmäßig über den angrenzenden privaten Grund gehen. Also ist es rechtmäßig, Häuser niederzureißen, um die Ausbreitung einer Feuersbrunst zu verhindern. Dies sind Fälle dringender Notwendigkeit; doch Privateigentum muss in vielen anderen Fällen dem allgemeinen Interesse weichen.“436 Daher kam Chancellor Reuben H. Walworth in dem zweiten Fall Mayor of New York v. Lord von 1837 zu dem Schluss: „Das Prinzip erscheint klar geregelt, dass in einem Fall tatsächlicher Notwendigkeit, um die Ausdehnung eines Feuers, das Wüten der Pest, das Vordringen einer feindlichen Armee oder eine andere große öffentliche Katastrophe zu verhindern, das Privateigentum eines Einzelnen rechtmäßig eingezogen und genutzt oder zerstört werden kann, zur Hilfe, Schutz oder Sicherheit der Vielen, ohne jene, deren Pflicht es ist, die öffentlichen Interessen zu schützen, durch den oder unter dessen Anweisung besagtes Privateigentum eingezogen oder zerstört wurde, der persönlichen Haftbarkeit zu unterwerfen für den Schaden, den der Besitzer dadurch erlitten hat.“437

Ein vergleichbares Urteil aus Massachusetts mag genügen, um deutlich zu machen, dass die Betonung von sozialen Rechten nicht lediglich eine isolierte, auf New York begrenzte Rechtsmeinung war. Auf Grundlage gleicher Prioritäten urteilte der oberste Richter von Massachusetts Lemuel Shaw 1851: „Alles Eigentum in diesem Staat […] rührt direkt oder indirekt von der Regierung her und unterliegt jenen allgemeinen Regeln, die für das Gemeinwohl und das allgemeine Wohlergehen notwendig sind. Eigentumsrechte, wie alle anderen sozialen und Gewohnheitsrechte, unterliegen in ihrem Genuss solchen angemessenen Begrenzungen, die sie daran hindern, schädlich zu sein und jenen durch Gesetz festgesetzten angemessenen Einschränkungen und Regulierungen, die die Legislative gemäß der ihr durch die Verfassung 435

Art. I, Abs. 7, ebd., 125. James Kent, Commentaries on American Law, 4 Bde., New York: O. Halsted, 1826 – 1830, II, 274 – 275. Kent blieb bei dieser Feststellung in den ersten vier Auflagen. In der letzten Auflage vor seinem Tod, der 5. Aufl. von 1844, blieb er bei dem Billigkeitsprinzip, empfand aber das dem Einzelnen zugefügte Unrecht. Doch ein Druckfehler verdrehte die Bedeutung des erweiterten Satzes: „Dies sind Fälle dringender Notwendigkeit, bei denen eine Klage nach dem Common Law durch den Einzelnen eingereicht werden kann, dem Unrecht widerfuhr; doch Privateigentum muss in vielen anderen Fällen dem allgemeinen Interesse weichen“ (New York: Printed for the Author, 51844, II, 338, eigene Hervorhebung, H.D.). In der 6. Aufl., New York: Printed for William Kent, 1848, II, 338, wurde „eine“ in „keine“ korrigiert, was in allen nachfolgenden Ausgaben beibehalten wurde. 437 18 Wend. 126 (1837), 129 – 130; vgl. auch Novak, The People’s Welfare, 76. 436

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V. England – Nordamerika – Frankreich

übertragenen lenkenden und kontrollierenden Befugnisse für notwendig und zweckdienlich halten mag.“438

Eigentumsrechte waren nur ein Bereich, in denen soziale Rechte in Amerika zumindest bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Vorrang hatten. Andere Felder waren Unternehmen und Gewerbe, öffentliche Moral und öffentliche Gesundheit, in denen in den Vereinigten Staaten von der Gründung bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Vorstellung der wohlgeordneten Gesellschaft eindeutig die Rechtsordnung und die Auslegung der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen zulasten letzterer bestimmte, wenn diese mit denen der Gesellschaft kollidierten. In diesem Sinn werden hier soziale oder kollektive Rechte verstanden als jene Rechte des Einzelnen, die von der Gesellschaft kontrolliert und ihr untergeordnet sind und die von den Erfordernissen der wohlgeordneten Gesellschaft oder Gemeinschaft bestimmt werden. Im Gegensatz dazu benutze ich den Begriff der individuellen Rechte in neueren Zeiten, als die Vorstellung der alles überwölbenden Gesellschaft, gemäß der die Rechte des Einzelnen weichen mussten, wenn sie sich im Konflikt mit den Interessen der Allgemeinheit befanden, sich in Luft aufgelöst hatten und Grenzen der Rechte des Einzelnen laut Verfassung nicht länger zu existieren schienen. Wenn die Rechte des Einzelnen sich selbst in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts den Erfordernissen der wohlgeordneten Gesellschaft zu unterwerfen hatten, wie begrenzt mochten sie dann erst in anderen Teilen der Welt sein? Zumal der Konsens orientierte amerikanische Liberalismus der 1950er bis 1970er Jahre hat diese Strukturen völlig ignoriert und in seinen Nachwirkungen für den Rest des 20. Jahrhunderts das Bild der liberal-individualistischen Vereinigten Staaten als Gründungsmythos weiter gepflegt, so dass eine realistischere Betrachtung in der historischen Forschung erst langsam in Gang gekommen ist,439 während sie in den 438 Commonwealth v. Alger, 7 Cush. 53, 61 Mass. 53 (1851), 85, http://masscases.com/cases/ sjc/61/61mass53.html (Zugriff 6. Oktober 2020). Vgl. Leonard W. Levy, The Law of the Commonwealth and Chief Justice Shaw. The Evolution of American Law, 1830 – 1860, New York: Harper Torchbooks, 1957, bes. 247 – 254. 439 Ein wichtiger Befürworter dieser Perspektive ist der bereits zitierte Novak, The People’s Welfare. In diesem Sinn, aufbauend auf John G. Sproat, „The Best Men.“ Liberal Reformers in the Gilded Age, New York: Oxford University Press, 1968, ließ Leslie Butler, Critical Americans: Victorian Intellectuals and Transatlantic Liberal Reform, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2007, den amerikanischen Liberalismus insbesondere mit der Zeit nach dem Bürgerkrieg einsetzen. Für die traditionelle Sicht des liberalen Amerikas mit der Zurückweisung der Vorstellung „einer Bindung an die Rechte der individuellen Person bei gleichzeitigem Verzicht auf die individualistischen Voraussetzungen des Liberalismus“ als ahistorisch, Nancy Cohen, The Reconstruction of American Liberalism, 1865 – 1914, Chapel Hill und London: The University of North Carolina Press, 2002, 7. Ihr Referenzpunkt ist augenscheinlich unverändert Sidney Fine, Laissez Faire and the General-Welfare State. A Study of Conflicts in American Thought 1865 – 1901, Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1956, 5: „[I]n den Vereinigten Staaten wurde der Individualismus zum festen Bestandteil des demokratischen Glaubens der Nation. Amerikaner setzten ihr Vertrauen nicht in die ,äußerliche Regierung‘, sondern in das freie Individuum, das von Beschränkungen freigehalten werden musste.“ Das klassische Werk dieses Bildes des amerikanischen Liberalismus war bekanntlich

8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten

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politischen Wissenschaften440 und erst recht in der Verfassungsgeschichte441 noch weitgehend auf sich warten lässt, obgleich die Konsequenzen für diese Disziplinen evident sind. Wenn der Vorrang der sozialen über die individuellen Rechte sich aus derselben Verfassung ergibt, die heute die Basis für den individualistischen Zugriff auf die Rechte des Einzelnen bildet, ist das einzige, was sich im Laufe der Geschichte geändert hat, die Interpretation eben dieser Verfassungen. Wurden also die Menschenrechte, wie sie verfassungsmäßig erstmals in Amerika und Europa 1776 bzw. 1789 erklärt wurden, tatsächlich anders verstanden, als wir sie heute begreifen? Eine nähere Betrachtung der ersten Menschenrechtserklärungen und der mit ihnen verbunden Vorstellungen mag darüber Aufschluss bringen. In der Entwicklung zu einem modernen Verständnis des Wortes „Verfassung“ nimmt Montesquieu eine zentrale Rolle ein, da er der erste war, der „Verfassung“ in unmittelbare Beziehung mit Freiheit brachte. Er bewunderte die englische Freiheit und sah sie begründet in der Verfassung des Landes. Dabei ging es ihm nicht um individuelle Freiheit. „Es geht mir keinesfalls darum zu untersuchen, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit genießen oder nicht. Ich begnüge mich damit festzustellen, dass sie durch ihre Gesetze begründet ist, und um mehr geht es mir nicht.“442 Anfang 1771 übersetzte eine Zeitung in Boston diesen Zugriff in die alltägliche soziale Praxis und kam zu dem Ergebnis, dass, wenn der Mensch in die politische Gesellschaft eintritt, „er sich nicht länger als Einzelner betrachtet, der absolut unverantwortlich und unkontrollierbar ist, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die jedes Mitglied verpflichtet ist, zu beachten und ihr allgemeines Wohl zu befördern.“443 Das war offensichtlich keine Einzelmeinung. Als 1774 die Freiheit in den amerikanischen Kolonien in ernsthafter Gefahr zu sein schien, lesen wir von diesen konvergierenden Ideen von sozialer Freiheit und Verfassung: „Freiheit besteht in der Louis Hartz, The Liberal Tradition in America: An Interpretation of American Political Thought Since the Revolution, New York: Harcourt, Brace and Co., 1955. 440 Vgl. z. B. Joseph C. Bertolini, The Serpent Within. Politics, Literature and American Individualism, Lanham, MD: University Press of America, 1997, 9: „Die amerikanische soziopolitische Kultur ist vor allem liberal nach Locke.“ Ellis Sandoz, Republicanism, Religion, and the Soul of America, Columbia und London: University of Missouri, 2006, 68: „Ein Kennzeichen der amerikanischen Freiheit, die Bill of Rights […].“ Nicht ganz so kompromisslos, dennoch im Wesentlichen basierend auf Fine, Paul M. Rego, American Ideal. Theodore Roosevelt’s Search for American Individualism, Lanham, MD: Lexington Books, 2008, 6: „Zur gleichen Zeit wurde die liberale Tradition von Jefferson und Jackson mit der Feindschaft gegen die Vorstellung einer positive Staatsmacht nicht von allen Amerikanern akzeptiert.“ 441 Vgl. Mortimer N. S. Sellers, The Sacred Fire of Liberty. Republicanism, Liberalism and the Law, Houndsmill: Macmillan, 1998, ix: „Die Institutionen der Vereinigten Staaten waren von Anbeginn sowohl ,liberal‘ als auch ,republikanisch‘.“ 442 Charles de Secondat Baron de la Brède et de Montesquieu, De l’Esprit des lois, XI, 6 (1748), in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 51, II, 407. 443 Boston Evening Post, 14. Januar 1771, zit. n.: Timothy H. Breen, The Lockean Moment. The Language of Rights on the Eve of the American Revolution. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford on 15 May 2001, Oxford: Oxford University Press, 2001, 13.

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V. England – Nordamerika – Frankreich

Existenz und Wirkung einer bürgerlichen Verfassung.“ Daraus folgte, „dass eine gute Regierung in einem Staat und die Freiheit dieses Staates ein und dasselbe sind“.444 Rund zwei Jahre später flossen die beiden Zweige der Diskussion zusammen, jener über die Entwicklung und Bedeutung der englischen Verfassung seit der Glorreichen Revolution und jener andere aus der Naturrechtstradition: „[A]lle diese großen Rechte, die der Mensch nie verlieren will noch verlieren sollte, sollten durch eine Verfassung garantiert nicht gewährt werden.“445 Eine Verfassung, und dies war noch Teil des traditionellen Verständnisses, sollte die Regeln für die Organisation und Verteilung der Macht enthalten, aber „gemäß ihrer eigentlichen Idee“, und dies war eine radikale Erweiterung des bisherigen Begriffs, bedeutet Verfassung wesentlich mehr, nämlich „ein System von Prinzipien aufgesetzt, um den Untertan im Besitz und Genuss seiner Rechte und Privilegien gegen jeden Eingriff der Regierungsseite zu schützen.“446 Wir neigen heute dazu, diese Feststellungen unter einer ausschließlich individualistischen Perspektive zu lesen, denn ohne Zweifel enthalten sie für den Einzelnen eine Aussage und Bedeutung. Aber in den angeführten Zusammenhängen wurden „Mensch“ oder „Untertan“ nicht in ihrer individuellen Eigenschaft verstanden, sondern in ihrer gesellschaftlichen Dimension. Da sie alle diese allen garantierten Rechte genossen, war die Gesellschaft als Ganze Träger dieser „Rechte und Privilegien“. Eine logische Folge dieses Arguments ist, dass Verfassungen nicht länger verstanden wurden als Garanten politischer Rechte, sondern dass ihre wesentliche Bedeutung darin lag, dass sie Rechte garantierte, die sie nicht geschaffen hatte, sondern die allen gehörten, bevor irgendeine Regierungsform errichtet worden war. Bevor eine Verfassung Macht übertrug, hatte sie Rechte zu garantieren, nicht individuell jedem Einzelnen, sondern jedem in seiner Eigenschaft als Teil der konstituierenden Gesamtheit. Dies war der oberste Zweck, die eigentliche raison d’être. Der angemessene Ort, dies zu tun und dieses „System von Prinzipien“, auf denen die Verfassung begründet war, festzustellen, war, wie es in einer klassisch gewordenen Formulierung ausgedrückt wurde, „eine Bill of Rights, vor der Ratifizierung jeder Verfassung“.447 Wie bereits erwähnt,448 ging 1776 diese Rechteerklärung als eigener Teil der „Regierungsform“ voraus, und beide bildeten zusammen die „Verfassung“.

444 Nathaniel Niles, Two Discourses on Liberty [Newburyport, Massachusetts, 1774], abgedruckt in: American Political Writing during the Founding Era, 1760 – 1805, hrg. v. Charles S. Hyneman und Donald S. Lutz, 2 Bde., Indianapolis: Liberty Press, 1983, I, 260, 271. 445 Four Letters on Interesting Subjects [Philadelphia, 1776], abgedruckt ebd., I, 387 (Hervorhebung im Original, HD). 446 Concord, 22. Oktober 1776, in: The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusets Constitution of 1780, hrg. v. Oscar und Mary Handlin, Cambridge MA: Belknap Press, 1966, 153. Vgl. dazu auch oben Kap. III. 1. und V. 1. 447 Essex Result, 1778, in: The Popular Sources of Political Authority, hrg. v. Handlin, 332, 339. 448 Vgl. dazu oben Kap. III. 3.

8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten

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Um festzustellen, ob diese frühen Rechteerklärungen tatsächlich so individualistisch gemeint waren, wie wir sie heute zu lesen gewohnt sind, oder ob sie nicht doch eher den Blick auf die Gesellschaft als Ganze richteten, mag nochmals an die bereits so häufig angesprochene Rechteerklärung von Virginia als Gründungsdokument des modernen Konstitutionalismus erinnert werden.449 Ohne hier erneut die Inhalte ihrer sechzehn Artikel aufzuführen, müssen wir, wenn wir bereit sind, die Brille der Gegenwart abzulegen, uns ernsthaft fragen, wieso diese Artikel jemals so gelesen werden konnten, als hätten sie eine vorrangig individualistische Bedeutung. Diese Rechteerklärung, und das gilt ausnahmslos für alle amerikanischen Rechteerklärungen von 1776 übertrugen soziale Rechte, genau wie es der Abs. 5 der Rechteerklärung von Pennsylvania von 1776 proklamierte: „Dass die Regierung für das allgemeine Wohl, den Schutz und die Sicherheit des Volkes, der Nation oder der Gemeinschaft eingesetzt ist und sein sollte und nicht für die besondere Vergütung oder den Vorteil eines einzelnen Mannes, einer Familie oder einer Reihe von Menschen, die nicht Teil dieser Gemeinschaft sind.“450

Die Rechteerklärung von Maryland von 1776 war noch präziser: „Dass jede rechtmäßige Regierung ihren Ursprung im Volk hat, ausschließlich auf Vertrag begründet ist und allein für das Wohl des Ganzen eingerichtet ist.“451 Selbst nachdem diese Rechteerklärungen in den nachfolgenden Jahren ihren ursprünglichen Charakter verloren hatten, blieb es bei der vorherrschenden Perspektive auf die Gesellschaft als Ganze, statt auf den Einzelnen, wie in dem Eingangssatz der Präambel der Verfassung von Massachusetts von 1780 zum Ausdruck kommt: „Das Ziel der Einrichtung, Unterhaltung und Verwaltung der Regierung ist, die Existenz des staatlichen Gemeinwesens sicherzustellen.“452 Es war die Gesellschaft, der die Menschen einige ihrer natürlichen Rechte geopfert hatten, und es war die Gesellschaft, die im Gegenzug „den Schutz der anderen“, also der verbliebenen natürlichen Rechte, zuzusichern hatte, wie es die Verfassung von New Hampshire von 1784 ausdrückte.453 Diese Rechte begründeten und charakterisierten eine freie Gesellschaft und die Prinzipien, gemäß denen Herrschaft ausgeübt wurde. Das hatte eine klare Bedeutung für jedes Mitglied dieser Gesellschaften, doch allein in dem Maße, dass individuelle Freiheit die Konsequenz einer freien Gesellschaft war und nicht deren Voraussetzung.454 449

Vgl. dazu oben insbes. Kap. I. 1. Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, V, 322. 451 Ebd., III, 239 (Abs. 1). 452 Ebd., IV, 19. 453 Ebd., 359 (Tl. I, Art. III). Vgl. auch Antonio Cassese, I diritti umani nel mondo contemporaneo, Rom und Bari: Laterza, 2004, 21 – 23. 454 Vgl. Montesquieu, De L’Esprit des lois, XII, 2, ders., Œuvres complètes, hrg. v. Caillois, II, 431: „Politische Freiheit besteht in der Sicherheit oder zumindest in der Auffassung, dass man seine Sicherheit habe.– Diese Sicherheit ist nie mehr gefährdet als in den öffentlichen oder privaten Anklagen. Die Freiheit der Bürger hängt daher zuallererst von der Güte der Strafge450

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V. England – Nordamerika – Frankreich

Tatsächlich lässt sich das gleiche für Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution behaupten. Die Vorstellung, dass eine Rechteerklärung einer Verfassung vorauszugehen hatte und ihr die prinzipielle Richtung weisen würde, war in Frankreich am Vorabend der Revolution in gleichem Maße verbreitet. Das Beschwerdeheft (cahier de doléances) des Dritten Standes von Mont-de-Marsan ist nur ein Beispiel: „Die Ursachen für alle Übel, die das Königreich erlitten hat, liegen grundsätzlich im Fehlen einer Verfassung. Die Menschenrechte, die Vernunft und die Gerechtigkeit sind nie die Basis gewesen, auf die man die verschiedenen Einrichtungen seiner Regierung gegründet hat […] Es ist an der Zeit […] dass man Frankreich eine Verfassung zusichert, die die natürlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen garantiert […] Die Prinzipien dieser Verfassung müssen in einer Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen enthalten sein.“455

Ein Entwurf einer Rechteerklärung, die in Paris im April 1789 anonym veröffentlicht wurde, stellte fest: „Die Verfassung muss daher auf einer präzisen Erklärung dieser Rechte begründet sein.“456 In seinem Entwurf einer Menschenrechtserklärung vom 1. Mai 1789 schrieb Brissot de Warville, um ein letztes Beispiel zu zitieren, dass die von ihm aufgeführten Recht „als Basis der Verfassung dienen müssen“. Er warnte davor, eine Verfassung mit einer Menschenrechtserklärung zu verwechseln, denn eine Verfassung möge sich ändern, „die Rechte können nicht variieren“.457 Wenn wir uns nun der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789 zuwenden, dem ersten Verfassungsdokument der Französischen Revolution und das einzige, das heute noch in Frankreich Verfassungskraft hat, stoßen wir auf einige bemerkenswerte Analogien zur Rechteerklärung von Virginia: sie ist ähnlich kurz – siebzehn statt sechzehn Artikel –, und ihr Fokus liegt ebenfalls auf der Bestimmung grundlegender Prinzipien, die eine freie Gesellschaft konstituieren. Eine nähere Betrachtung bestätigt diesen Eindruck. Nach einer Präambel mit einigen allgemeinen Feststellungen betreffend alle Mitglieder der Gesellschaft und die Glückseligkeit aller enthält Art. 1 die universellen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, während Art. 2 die natürlichen Rechte des Menschen bekräftigt. Nachfolgend wird die Souveränität der Nation proklamiert. Art. 4 definiert Freiheit, und in setze ab.“ Wenn wir „Strafgesetze“ durch „Verfassung“ ersetzen, entsprechen die amerikanischen Verfassungen, die die Rechte der Beklagten zu sichern suchten, Montesquieus Vorstellungen auf diesem Gebiet und lösen sein Problem, dass es passieren kann, dass „die Verfassung frei ist und dass der Bürger es keineswegs ist. Der Bürger kann frei sein, und die Verfassung ist es nicht. In diesen Fällen ist die Verfassung rechtlich, aber nicht tatsächlich frei; der Bürger ist tatsächlich, aber nicht rechtlich frei“ (XII, 1, ebd., 430 – 431). 455 Zit. n. La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, hrg. v. Stéphane Rials, Paris: Hachette, 1988, 116. 456 Déclaration de droits à faire, et pouvoirs à donner par le peuple françois pour les Étatsgénéraux, dans les soixante assemblées indiquées à Paris, le mardi 21 avril 1789, o. O., o. N., o. J., abgedruckt in: La Déclaration des droits, hrg. v. Rials, 558. 457 Jacques-Pierre Brissot de Warville, Précis adressé à l’Assemblée-Générale des Electeurs de Paris, pour servir à la rédaction du Cahier de doléances de cette ville, Paris 1789, abgedruckt in: La Déclaration des droits, hrg. v. Rials, 563. Vgl. dazu auch unten Kap. VII. 5.

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den beiden nachfolgenden Artikeln geht es um die Grenzen und Bedeutung des Gesetzes. Art. 7 und 8 bestimmen, dass Anklagen und Strafen lediglich in strikter Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen erfolgen können. Art. 9 erklärt die Unschuldsvermutung, worauf Religionsfreiheit und die Freiheit der Rede und der Presse verkündet werden. Art. 12 unterstellt die bewaffnete Macht dem öffentlichen Nutzen, während Art. 13 und 14 öffentliche Steuern an die freie Zustimmung der Allgemeinheit bzw. ihrer Repräsentanten bindet, worauf das Prinzip der Verantwortlichkeit für Inhaber öffentlicher Ämter folgt. Der berühmte Art. 16 erklärt schließlich rundheraus: „Jede Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Abschließend folgt die Unverletzbarkeit des Eigentums.458 Zusammenfassend wird man schließen müssen, dass es hier um grundlegende Prinzipien der Verfassung und wiederum nicht um individuelle, sondern um soziale Rechte ging. Diese Betonung der sozialen Rechte wird von der Menschenrechtserklärung der jakobinischen Verfassung von 1793 noch deutlicher herausgestellt: „Die soziale Garantie besteht in der Tätigkeit aller, um jedem den Genuss und die Bewahrung seiner Rechte zu sichern; diese Garantie ruht in der nationalen Souveränität.“459 Dieser Artikel wiederholte die entsprechende Bestimmung der vom Konvent am 29. Mai 1793 angenommenen, doch nie in Kraft gesetzten Menschenrechtserklärung, die den Vorteil hatte, eindeutig zu bestimmen, was mit „sozialer Garantie“ gemeint war, denn hier hieß es: „Die soziale Garantie der Menschenrechte besteht […].“460 Diese Rückbindung der Rechte des Einzelnen an die Gesellschaft wiederum hatte die Erklärung vom 29. Mai im Wesentlichen von Condorcets Verfassungsentwurf vom 16. Februar 1793 übernommen, in dem es unter anderem hieß: „Die Bewahrung der Freiheit hängt von der Unterwerfung unter das Gesetz ab, das der Ausdruck des allgemeinen Willens ist.“ Wenig später war dann von „der sozialen Garantie dieser Rechte“ die Rede, die in der nationalen Souveränität liege.461 Die Thermidorianer sprachen dann von „den Rechten des Menschen in der Gesellschaft“ und machten daraus „die Verpflichtung eines jeden gegenüber der Gesellschaft“, die darin bestände, „sie zu verteidigen, ihr zu dienen, in Unterordnung unter die Gesetze zu leben“.462 Die Vorstellung einer sozialen Bindung der Rechte des Einzelnen 458 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 29 – 32. Eine eingehende Analyse, Artikel für Artikel, findet sich in La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaires, hrg. v. Gérard Conac, Marc Debene und Gérard Teboul, Paris: Economica, 1993. 459 Art. 23 der Menschenrechtserklärung der jakobinischen Verfassung von 1793, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 96. 460 Menschenrechtserklärung vom 29. Mai 1793, Art. 24, ebd., 92. 461 Art. 3, 25 der Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte des Menschen des girondistischen Verfassungsentwurfs, ebd., 61, 62. 462 Art. 1 der Rechte, Art. 3 der Pflichten der Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und Bürgers in der Verfassung des Jahres III (1795), ebd., 105, 106.

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durchzog mithin alle Phasen der Revolution gleichermaßen, und in der Tat wurden diese französischen Menschenrechtserklärungen nie als Ausdruck individueller Rechte verstanden. Es wäre sicherlich ebenso abwegig, daraus schließen zu wollen, dass die Franzosen mithin ihre Menschenrechtserklärungen richtig, zur gleichen Zeit jedoch die Amerikaner mit ihrer individualistischen Perspektive ihre Erklärungen falsch interpretiert hätten, wie umgekehrt, dass die Franzosen, die ihr Land gerne als „Mutterland der Menschenrechte“ begreifen mit ihrer Vorstellung, Frankreich hätte in seinen Erklärungen universelle und ewige Prinzipien verkündet, während die Amerikaner lediglich an individuellen, vor Gericht einklagbaren Rechten interessiert gewesen seien.463 Nationale Stereotypen helfen hier ebenso wenig weiter wie die beliebten Klischees von anglo-amerikanischem Pragmatismus gegen französischen philosophisch unterfütterten Universalismus. Angebrachter wäre da schon, in beiden Fällen Eric Hobsbawms Metapher von der „Erfindung der Tradition“ zu bemühen.464 Vielmehr ergibt eine von heutigen Auffassungen unbeeinflusste und strikt textorientierte Analyse, dass im ausgehenden 18 Jahrhundert und über weite Strecken des 19. Jahrhunderts in beiden Ländern die Rechte des Einzelnen nicht als individuelle, sondern als soziale Rechte verstanden wurden, womit sie sich zugleich in die Geschichte der Entstehung und Ausprägung des modernen Konstitutionalismus einfügen, der auf der Vorstellung begründet wurde, dass eine Verfassung auf allgemeinen und allgemeingültigen Prinzipien beruhen müsse. Dazu gehörten auch die Menschenrechte, ein Begriff, der durchaus bereits in der amerikanischen Verfassungsdiskussion der Jahre 1763 – 1776 virulent war,465 auch wenn er dort in die Verfassungstexte ab 1776 keinen Eingang fand. Während der napoleonischen Ära und der anschließenden Restauration waren Menschenrechte nicht vergessen, doch die politischen Verhältnisse standen ihnen entgegen. Es war eine Zeit, die offiziell wohl dazu geneigt hätte, Casseses Argument zuzustimmen, unveräußerliche Menschenrechte seien ein „Mythos“, obgleich ihr idealistischer und politischer Einfluss nicht unterschätzt werden sollte.466 Daunou war lediglich ein besonders prominenter Autor unter vielen, die, indem sie diese Rechte öffentlich ansprachen, ihren Einfluss dokumentieren und dabei zugleich ihre soziale Verankerung betonen. „Gerade diese Ausübung der politischen Rechte (droits de cité), die man politische Freiheit nennt, würde uns bald ermüden, wären sie nicht ein wirkungsvolles Mittel, die bürgerliche Freiheit und das individuelle Glück 463 Vgl. dazu etwa Claude-Albert Colliard, „Le message libérateur“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, ses origines – sa pérennité, hrg. v. Claude-Albert Colliard u. a., Paris: La Documentation française, 1990, 298 – 316. 464 Vgl. Eric Hobsbawm, „Introduction: Inventing Traditions“, in: The Invention of Tradition, hrg. v. Eric Hobsbawm und Terence Ranger [1983], Cambridge: University Press, 1992, 1 – 14. 465 Vgl. dazu oben Kap. III. 1. 466 Cassese, I diritti umani, 23 – 25.

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zu garantieren.“467 Ganz besonders, so Daunou, galt dies für die Pressefreiheit, die „nicht nur eine individuelle Garantie sein würde, die die Kraft einer öffentlichen Institution annehmen würde und fast schon allein genügen würde für die unverbrüchliche Aufrechterhaltung aller anderen Garantien“.468 Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht der Ort für freie Gesellschaften, begründet auf den Prinzipien universeller Rechte. Einige Verfassungen mochten eine begrenzte Zahl bürgerlicher Rechte enthalten, die staatlicherseits gewährt waren, wobei die belgische Verfassung von 1831 besonders hervorragt.469 Um verfassungsmäßig garantierte Menschenrechte zurückzubringen, war eine neue Revolution erforderlich. Doch das Menschenrechtsvermächtnis der europäischen Revolutionen von 1848 ist bestenfalls zweideutig. Kaum eine der oktroyierten Verfassungen von 1848/49 enthielt eine Rechteerklärung, und selbst bei den durch die Revolution eingeführten Verfassungen sah es in der Regel kaum wesentlich besser aus. Das gilt selbst für die Verfassung der Römischen Republik von 1849, die demokratischste Verfassung von allen 1848/49 geschriebenen, und für die Verfassung der II. Republik in Frankreich 1848. Wenn in vielen Fällen nicht einmal ein revolutionärer Zusammenhang eine Rechteerklärung erforderte, wie mochte es dann erst in „normalen“ Zeiten um sie bestellt sein? Folglich fügte der Herausgeber einer 1848 publizierten französischen Sammlung amerikanischer und französischer Verfassungen zusätzlich zur amerikanischen Bundesverfassung lediglich die Verfassung von New York von 1821 ein – ihm schien nicht bewusst, dass diese Verfassung 1846 durch eine neue Verfassung abgelöst worden war, ein Mangel an Kenntnissen, der offensichtlich auch für die Verfassungsentwicklung anderer amerikanischer Staaten galt. Bezeichnend ist jedoch seine Begründung für diese Auswahl: „Wir veröffentlichen die Verfassung dieses besonderen Staates, die uns als die vollständigste erscheint. Die anderen fußen auf denselben Prinzipien und unterscheiden sich wenig. Jedoch geht den Verfassungen von Virginia, Maryland, Delaware, Pennsylvania, North Carolina, Massachusetts, wie den ersten französischen Verfassungen, eine Erklärung der Rechte des Menschen in der Gesellschaft voraus.“470

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Pierre Claude François Daunou, Essai sur les garantis individuelles que réclame l’état actuel de la société, Paris: Brissot-Thivars, 1822, 64. 468 Ebd., 107. 469 Vgl. ihren Tit. II „Über die Belgier und ihre Rechte“ (Art. 4 – 24), in: Documents constitutionnels de la Belgique, du Luxemburg et des Pays-Bas 1789 – 1848/Constitutionele Documenten van België, Luxemburg en Nederland 1789 – 1848/Verfassungsdokumente Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande 1789 – 1848/Constitutional Documents of Belgium, Luxembourg and the Netherlands 1789 – 1848, hrg. v. Fred Stevens, Philippe Poirier und Peter A. J. van den Berg, München: Saur, 2008, 72 – 75. 470 Constitutions américaines et françaises, suivies d’un règlement parlementaire, des traités de 1814 et 1815, des causes de la révolution de 1848, des dernières séances de la Chambre des Députés, des décrets du gouvernement provisoire, de la situation financière, de la politique extérieure de la République Française, etc., hrg. v. Jean-Baptiste-Joseph Pailliet, Paris: Alphonse Delhomme, Libraire, 1848, 27.

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Wie es scheint, war die Bedeutung dieser Erklärungen als Grundlage für die politische Ordnung und die Rechte des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft verloren gegangen. Das scheint auch für jene Verfassungen von 1848/49 zuzutreffen, die eine Rechteerklärung enthielten, allem voran die Paulskirchenverfassung von 1849 mit ihrem ausgedehnten Grundrechtekatalog mit 60 Paragraphen. Sie erschienen am Ende der Verfassung, wie das seit 1790 in einer Reihe, allerdings inzwischen wieder rückläufigen Zahl von amerikanischen Verfassungen und in der Bundesverfassung mit ihren ersten zehn Zusatzartikeln als Bill of Rights der Fall war. Damit war, wie erwähnt, der ursprüngliche Charakter der Rechteerklärungen verloren gegangen, doch ebenso wie in den amerikanischen Erklärungen sind die Grundrechte der Paulskirche primär als soziale eher denn als individuelle Rechte zu verstehen. Ein dafür bezeichnendes Beispiel ist der § 136, der die Auswanderungsfreiheit begründete. Statt zu erklären, dass jeder das Recht hat auszuwandern, was eine individualistische Auslegung nahelegen würde, hieß es: „Die Auswanderungsfreiheit ist von Staatswegen nicht beschränkt“,471 eine eindeutig soziale Perspektive, obgleich doch der Einzelne der Nutznießer sein sollte. Dass Menschenrechte, selbst in der eingebürgerten Form der sozialen Rechte im Europa des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im deutlichen Gegensatz zu Lateinamerika im 19. Jahrhundert,472 nicht stärker geschützt waren, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.473 Ein Grund lag in der Opposition, die sich ihnen angesichts vermeintlich besserer Alternativen entgegenstellte, ein Argument, das heute so nicht mehr verwandt wird: im Vereinigten Königreich ist damit der von A. V. Dicey so prominent herausgestellte Verfassungsgrundsatz der Herrschaft des Rechts (rule of law) gemeint,474 in Deutschland der Begriff des 471 Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, I, 85. 472 Klassische Beispiele dafür sind die Verfassung von Tunja von 1811, Kap. I, Abs. 6, die sich eng der französischen Verfassung des Jahres III anschloss: „Die Sicherheit besteht in dem Schutz, den die Gesellschaft gleichermaßen jedem Einzelnen seiner Mitglieder für den Erhalt seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums gewährt“ (Documentos Constitucionales de Colombia y Panama 1793 – 1853, hrg. v. Bernd Marquardt, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 652), und in den Bestimmungen des ersten Artikels der mexikanischen Verfassung von 1857: „Das mexikanische Volk anerkennt, dass die Rechte des Menschen die Basis und der Gegenstand der sozialen Einrichtungen sind.“ Zit. n. Bernd Marquardt, „Dos siglos de derechos fundamentales en Hispanoamérica (1810 – 2008). Exigencia y realidad desde una perspectiva global comparada“, in: Revista Pensamiento Jurídico, 23 (Sept. – Dez. 2008), 50. Bezüglich weiterer Beispiele, vgl. den gesamten Artikel, 33 – 72. Vgl. auch unten Teil VIII. 473 Vgl. dazu die einschlägigen Kapitel des nachfolgenden Teils VI. sowie VII. 5. 474 Albert Venn Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution [1885], London: Macmillan, 81915, Ndr. Indianapolis: Liberty Fund, 1982, 107 – 273. Vgl. auch Richard A. Cosgrove, The Rule of Law: Albert Venn Dicey, Victorian Jurist, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1980, 78 – 87; Ian Harden und Norman Lewis, The Noble Lie. The British Constitution and the Rule of Law, London: Hutchinson, 1986, bes. 3 – 51; Trevor Robert Seaward Allan, Law, Liberty, and Justice. The Legal Foundations of British

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„Rechtsstaats“, ein Terminus, der um 1800 auftauchte, doch im 19. Jahrhundert in seinen Bestimmungen eher vage blieb. Weit davon entfernt das Motto der Liberalen zu sein, dürfte die Mehrzahl seiner Unterstützer Carl von Rottecks Definition akzeptiert haben: „Nicht was der persönliche oder Eigenwille der Regenten verlangt, ist Recht im Staate, sondern nur was der Gesammtwille der politisch mündigen Staatsangehörigen festsetzt.“475 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff verbreiteter geworden zu sein bei allerdings schwankender Bedeutung. Der führende Konservative, Friedrich Julius von Stahl, hatte mit seiner kraftvollen Definition einen deutlichen Einfluss.476 Nach Überzeugung vieler anderer sollte der Constitutionalism, Oxford: Clarendon Press, 1993, bes. 20 – 47; Keith D. Ewing und Conor A. Gearty, The Struggle for Civil Liberties. Political Freedom and the Rule of Law in Britain, 1914 – 1945, Oxford: Oxford University Press, 2000, bes. 6 – 10; John Phillip Reid, Rule of Law. The Jurisprudence of Liberty in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, DeKalb: Northern Illinois University Press, 2004, bes. 3 – 9. 475 Carl von Rotteck, „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Prinzip und System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Das Staats-Lexikon, Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Carl von Rotteck u. Carl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, III, 527. Vgl. auch die Definitionen oder Beschreibungen von Carl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt, Gießen: Heyer, 1813, 25 – 26, 71 – 108, 166 – 188, der recht allgemein Rechtsstaat in Verbindung setzte mit Tugend, Freiheit und Recht. Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 3 Bde., Tübingen: Laupp, 21844 – 1845 [die erste Auflage war in zwei Bänden 1832 – 1833 erschienen], I, 8: „Ein Rechtsstatt kann also keinen andern Zweck haben, als den: das Zusammenleben des Volkes zu ordnen, daß jedes Mitglied desselben in der möglichst freien und allseitigen Uebung und Benützung seiner sämmtlichen Kräfte unterstützt und gefördert werde. In was aber diese Förderung und Unterstützung zu bestehen hat, ist leicht einzusehen. Die Freiheit des Bürgers ist bei dieser Lebensansicht der oberste Grundsatz.“ Ders., Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt, 3 Bde., Erlangen: Enke, 1855 – 1858, Ndr. Graz: Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, 1960, I, 227 – 264; Paul Achatius Pfitzer, „Urrechte oder unveräußerliche Rechte; vorzüglich in Beziehung auf den Staat“, in: Das Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, XII, 689 – 706. Es ist bezeichnend, dass das Staats-Lexikon keinen Artikel „Rechtsstaat“ enthielt. 476 Interessanterweise enthielt die erste Auflage von Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, 3 Bde., Heidelberg: Mohr, 1830 – 1837, noch keine Erwähnung von Rechtsstaat. Vielmehr stellte er fest: „Eben so wenig ist der Zweck des Staates gegenseitiger Schutz der Freiheit oder Herrschaft des Rechtsgesetzes“ (II/2, 17). In der zweiten Auflage seiner Philosophie des Rechts, 3 Bde., Heidelberg: Mohr, 1845 – 1847, hatte er das Kapitel „Das Wesen des Staates“ völlig neu geschrieben und den Begriff des Rechtsstaates eingeführt: „Der Staat soll Rechtsstaat sein, das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwickelungstrieb der neuern Zeit. Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäumung. Dieß ist der Begriff des Rechtsstaats, nicht etwa daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte des Einzelnen schütze, er bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter dieselben zu verwirklichen“ (II/2, 106). Diese Bestimmung findet sich noch in der 5. Auflage von 1878 (Ndr. Hildesheim: Georg Olms, 1963), II/2, 137 – 138.

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Rechtsstaat genügend Rechte gewähren, während der Staat in Übereinstimmung mit den Gesetzen handelte, wobei man zugleich den Eindruck gewinnt, dass mit diesen Auffassungen zumal auf konservativer Seite ein Bollwerk gegen die Ideen des modernen Konstitutionalismus geschaffen werden sollte.477 Bekanntlich werden die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) und der Rechtsstaat in beiden Ländern nicht länger als adäquater Ersatz für Menschenrechte angesehen. Jedoch ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung, dass beide Konzepte zum Übergang von einem sozialen Verständnis von Menschenrechten zu einem individualistischen Zugriff angesichts des in ihren Begriffsbestimmungen innewohnenden verminderten Charakters der Gesellschaft beitrugen, indem diese in zunehmendem Maße als Mittel zum Schutz des Einzelnen interpretiert wurden. Dies bringt uns zur gegenwärtigen Situation, die in Westeuropa im Allgemeinen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs datiert wird, während sie in den Vereinigten Staaten bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Das „Goldene Zeitalter (Gilded Age)“, ein ursprünglich eher satirisch gemeinter Begriff für die zwei Jahrzehnte ab 1877, markierte den Übergang zum individualistischen Zugriff auf die Menschenrechte. Die sozialen Verwerfungen dieser Zeit, unterstützt und verschärft durch die vorherrschende Ideologie des Sozialdarwinismus, Vorstellungen eines krassen (rugged) Individualismus und eines den Interessen der Großindustrie hörigen Obersten Gerichts setzte die Gegenbewegung der „soziologischen Rechtsprechung (sociological jurisprudence)“ in Gang, die den Blick zurück auf die sozialen Dimensionen der Menschenrechte zu richten bemüht war, um die Auswüchse eines ungebändigten Kapitalismus durch einen effektiveren Schutz der Rechte des Einzelnen zu bändigen. Der Naziterror und der Zweite Weltkrieg hatten vergleichbare Auswirkungen in Europa. Die deutliche Betonung des Schutzes des Einzelnen fand nicht nur Eingang in die neuen westeuropäischen Verfassungen nach 1945, sondern auf breiterer Grundlage auch in die Universelle Erklärung der Menschenrechte der 477

Vgl. [Eduard Fischel,] Preußens Aufgabe in Deutschland. Rechtsstaat wider Revolution, Berlin: Haude und Spener, 1859, der einen „wahren“ oder „freien“ Rechtsstaat als die leuchtende Alternative für Preußen und Deutschland beschrieb gegen eine französische und Bonapartistische Revolution. Gneist, mehr noch als Fischel vom englischen Verfassungsmodell beeinflusst, verstand ebenfalls Rechtsstaat und modernen Konstitutionalismus als grundsätzliche Gegensätze, Rudolf Gneist, Der Rechtsstaat, Berlin: Julius Springer, 1872, 115. Vgl. auch die anonyme satirische Entgegnung u. d. T. H. Prof. Gneist oder der Retter der Gesellschaft durch den „Rechtsstaat“, Berlin: L. Schoppmeyer, 1873. Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, Kassel und Göttingen: Georg H. Wigand, 1864, mochte wohl Gneist zustimmen, wenn er schrieb, dass „der Staatsbegriff […] in seiner Vollendung ja nichts Anderes ist als der Rechtsstaat“ (iv) und die Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung und die Möglichkeit der Errichtung von Verwaltungsgerichten beschrieb als „eine wesentliche Bedingung des Rechtsstaats“ (54). Vgl. auch Bernd Tönnies, Wir Deutschen und der Rechtsstaat. Ein Beitrag zur politischen Erziehung, Hamburg: Hoffmann und Campe, 1946; Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1954 – 1973, München: C. H. Beck, 21976; Gottfried Dietze, Kant und der Rechtsstaat (Walter Eucken Institut, Reden und Aufsätze, 85), Tübingen; Mohr Siebeck, 1982; Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997.

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Vereinten Nationen 1948.478 Die Europäische Konvention der Menschenrechte, 1950 durch den Europarat erstellt, war in vieler Hinsicht noch bedeutsamer, da nun Rechtsverletzungen schließlich auch individuell vor einem zu diesem Zweck errichteten Gerichtshof eingeklagt werden konnten.479 Dank dieser neuen Instrumente und der liberalen Rechtsprechung des obersten amerikanischen Gerichts schlug, zumindest in diesen Ländern, die große Stunde der Menschenrechte als individuelle Rechte.480 Um die Folgen dieses dramatischen Perspektivwechsels in der Interpretation der Menschenrechte zu analysieren, werde ich mich im Weiteren auf die Vereinigen Staaten konzentrieren, wo die Konsequenzen am deutlichsten sichtbar sind. Ich werde mich dabei auf drei Bereiche beschränken, die Rechterevolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das seitens Politik und Militär gern gebrauchte Argument der Notwendigkeit oder nationalen Sicherheit und schließlich den II. Zusatzartikel zur Bundesverfassung mit dem Recht, Waffen zu tragen. Nach der Gezeitenwende „zugunsten des Liberalismus“481 im Gilded Age, als die Vorstellung der wohlgeordneten Gesellschaft durch eine nachdrückliche individualistische Orientierung ersetzt wurde, überrollte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Welle neu verstandener Rechte die Vereinigten Staaten und führte zu dem, was seither als die Rechterevolution bezeichnet wird.482 Damit einherging eine dramatische Ausweitung von Bürgerrechten und -freiheiten, unterstützt durch die sogenannte „Inkorporationsdoktrin“ des Obersten Gerichts, gemäß der eine wachsende Zahl von in der Bill of Rights der Bundesverfassung garantierten Rechte ebenfalls die Einzelstaaten band,483 sowie die einzelstaatlichen Obersten 478 Vgl. u. a. Cassese, I diritti umani, bes. 26 – 49; Miko Lempinen, The United Nations Commission on Human Rights and the Different Treatment of Governments. An Inseparable Part of Promoting and Encouraging Respect for Human Rights?, Åbo: Åbo Akademi University Press, 2005. Als kritische amerikanische Perspektive, vgl. Noam Chomsky, The Umbrella of U.S. Power. The Universal Declaration of Human Rights and the Contradictions of U.S. Policy, New York: Seven Stories Press, 1999. 479 Zur Konvention und ihren Wirkungen, vgl. Fundamental Rights in Europe. The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950 – 2000, hrg. v. Robert Blackburn und Jörg Polakiewicz, Oxford: Oxford University Press, 2001. 480 Zum Beitrag der internationalen Menschenrechte auf diese Entwicklung, vgl. Karl Josef Partsch, „The Contribution of Universal International Instruments on Human Rights“, in: The Limitation of Human Rights in Comparative Constitutional Law, hrg. v. Armand de Mestral u. a., Cowansville, Quebec: Les Editions Yvon Blais, 1986, bes. 66 – 73. 481 Butler, Critical Americans, 89. 482 Vgl. Samuel Walker, The Rights Revolution. Rights and Community in Modern America, New York und Oxford: Oxford University Press, 1998; ders., Civil Liberties in America. A Reference Handbook, Santa Barbara, CA: ABC-CLIO, 2004; Frederic O. Sargent, The Civil Rights Revolution. Events and Leaders, 1955 – 1968, Jefferson, N.C. und London: McFarland, 2004; David A. Nichols, A Matter of Justice. Eisenhower and the Beginning of the Civil Rights Revolution, New York: Simon & Schuster, 2007. 483 Vgl. William J. Brennan, Jr., The Bill of Rights and the States, Santa Barbara, CA: Center for the Study of Democratic Institutions, 1961.

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Gerichte, die begannen, die Rechteerklärungen ihrer eigenen Staatsverfassung entschlossener zu interpretieren.484 Alle diese Entwicklungen bewirkten vielfältige Reaktionen von konservativer Seite und anderen, die den Verlust sozialer Tugenden und des sozialen Zusammenhangs befürchteten, wie ihn zumal die Kommunitaristen beklagten.485 Entscheidender ist, dass die Rechterevolution die vormals als „Menschenrechte“ verstandenen Rechte nunmehr in „Bürgerrechte (civil rights)“ umbenannte. Hatte die Unabhängigkeitserklärung von „unveräußerlichen Rechten“ und die Vereinten Nationen noch 1948 von „universellen Rechten“ gesprochen, erscheinen die insbesondere mit der Rechterevolution verbundenen Rechte als jene, die eine politische Mehrheit finden. Damit sind sie nicht länger wie die vorgesellschaftlichen Rechte des 18. Jahrhunderts „garantiert“, sondern lediglich durch die herrschende Mehrheitsauffassung „gewährt“.486 Dass sie folglich, wie tatsächlich der Fall, politisch hart umkämpft sind und politisch wieder kassiert werden können, kann sie nicht diskreditieren; alle jemals politisch eingeführten Rechte waren ursprünglich umstritten. Dennoch sind einige dieser Rechte wie etwa das Abtreibungsrecht derart polarisierend in den Vereinigten Staaten, dass die Auseinandersetzungen darum auch noch nach fast fünfzig Jahren von Roe v. Wade (1973) nicht nur mit verbissener Härte in Parlamenten und vor Gerichten, sondern immer wieder auch unter Anwendung physischer Gewalt bis hin zum Mord auf der Straße durchgeführt werden, worin die zunehmende Spaltung der Gesellschaft angesichts einer sich radikalisierenden Rechten zum Ausdruck kommt. Aus ihrer Sicht sind diese umkämpften Rechte nicht Ausdruck der Mehrheit einer demokratischen Gemeinschaft, wie sie Ignatieff 2005 hinstellte, sondern aufgrund eines zweifelhaften Demokratieverständnisses das Ergebnis individueller Abirrungen, die eine Gesellschaft nicht tolerieren sollte.487 Die Hinterlassenschaft der Rechterevolution ist daher zweideutig. Auf der einen Seite hat sie zu einer dramatischen Ausdehnung von Bürgerrechten und -freiheiten geführt mit nahezu globalen Auswirkungen. Auf der anderen Seite haben diese strikt individuellen Rechte zu einer Erosion des sozialen Konsenses über Menschenrechte mit universellem Anspruch geführt. So war eine Folge dieser Entwicklung in einer 484 Ein entscheidender Anstoß zu dieser Entwicklung dürfte von dem wegweisenden Artikel von William J. Brennan, Jr., „State Constitutions and the Protection of Individual Rights“, in: Harvard Law Review, 90 (1976/77), 489 – 504, ausgegangen sein. 485 Vgl. Mary Ann Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse, New York: Free Pree, 1991, und zumal die wachsende Zahl von Publikationen von Amitai Etzioni, beginnend mit seinem The Spirit of Community. Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda, New York: Crown Publishers, 1993; ders., The Monochrome Society, Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2001; ders. u. a. (Hrg.), The Communitarian Reader: Beyond the Essentials, Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2004, u. a. 486 Vgl. Michael Ignatieff, „Introduction“, in: American Exceptionalism and Human Rights, hrg. v. dems., Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2005, 15: „Aus einer amerikanischen Perspektive können Rechte nicht von der demokratischen Gemeinschaft getrennt werden, der sie dienen; sie sind von dieser Gemeinschaft durchgesetzt worden, und ihre Interpretation muss daher ausschließlich von den Institutionen dieser Gemeinschaft abhängen.“ 487 Vgl. dazu allgemein Walker, Civil Liberties in America, passim.

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Art Gegenbewegung die Verbreitung der sogenannten Rechte zweiter und dritter Generation,488 besonders soziale, ökonomische, kulturelle und erzieherische Rechte, alle mit einem deutlichen sozialen Bezug, wie etwa die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen von 1966 und weitere Menschenrechtskonventionen seither.489 Eine andere Folge dieser Rechterevolution ist eine zunehmende Tendenz hin zu einer selektiven Anwendung von Menschenrechten. Das mag zwar in einigen Teilen der Welt keine grundsätzlich neue Erfahrung darstellen, doch in den Vereinigten Staaten stellte dies zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Entwicklung dar, die ironischerweise erst durch die Rechterevolution möglich geworden war. Denn die erschreckende Missachtung grundlegender Menschenrechte konnte erst in einer Situation erfolgen, die vorbereitet war durch den allmählichen Übergang der Menschenrechte von umgreifenden sozialen Rechten hin zu ausschließlich individuellen Rechten, verbunden mit ihrer Abstufung zu bürgerlich-politischen Rechten und dem wachsenden Verlust des gesellschaftlichen Konsenses hinsichtlich dieser Rechte im Zuge der Rechterevolution. In Westeuropa, Australien und einigen anderen Ländern, in denen dieser Verlust weniger ausgeprägt war, mag zwar dennoch die Menschenrechtsbilanz defizitäre Züge aufweisen. Aber dennoch hat ein weiterhin bestehender gesellschaftlicher Konsens derart extreme politische Rechtsmanipulationen bislang verhindert, die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts viele in und außerhalb der Vereinigten Staaten schockiert haben.490 Um dieses selektive und sich wandelnde Verständnis der Menschenrechte zu verdeutlichen, mag ein Blick auf das politische und militärische Argument der Notwendigkeit und der nationalen Sicherheit aufschlussreich sein. Ein sich anbietender Ausgangspunkt ist der antike römische Grundsatz inter arma silent leges, selbst wenn seine beklagenswerte Rolle in anderen Staaten durchaus schlimmer gewesen sein mag als den Vereinigten Staaten. Eine ermutigende Zurückweisung dieses Grundsatzes verkündete das Oberste Gericht 1866 in einem immer wieder zitierten Passus, der jene allmähliche Erosion einer Rechte garantierenden freien

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Vgl. dazu etwa Cass R. Sunstein, „Why Does the American Constitution Lack Social and Economic Guarantees?“, in: American Exceptionalism and Human Rights, hrg. v. Ignatieff, 90 – 110. 489 Vgl. The United Nations and Human Rights, 1945 – 1995, With an introduction by Boutros Boutros-Ghali, Secretary-General of the United Nations, New York: United Nations, 1995, 3 – 125, 153 – 155, 229 – 244. Ferner Christopher P. Banks, „Judicial Policymaking and the Advancement of ESC Rights“, in: Boletim da Faculdade de Direito, 83 (2007), 219 – 239. Allgemeiner Jeanine de Vries Reilingh, L’application des Pactes des Nations Unies relatifs aux droits de l’homme de 1966 par les Cours constitutionnelles ou par les Cours suprêmes en Suisse, en Allemagne et au Canada. Présentation des systèmes et comparaison, Basel – Genf – München: Helbing & Lichtenhahn, 1998; Markus Engels, Verbesserter Menschenrechtsschutz durch Individualbeschwerdeverfahren? Zur Frage der Einführung eines Fakultativprotokolls für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, München: VVF, 2000. 490 Vgl. dazu oben Kap. III. 8.

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Gesellschaft und ihre Ersetzung durch eine Gesellschaft, die Rechte gewährt – oder sie gar notfalls willkürlich ihren Bürgern vorenthält –, ausdrückt: „Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist ein Gesetz für Regierende und Volk, gleich in Krieg und in Frieden, und bedeckt mit seinem Schutzschild alle Klassen von Menschen, zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten. Keine Doktrin, die schädlichere Konsequenzen hervorrief, wurde je vom menschlichen Verstand erfunden, als die, dass egal welche Bestimmung während jeder großen Notlage der Regierung ausgesetzt werden kann. Eine derartige Doktrin führt unmittelbar zu Anarchie oder Despotismus, doch die Theorie der Notwendigkeit, auf der sie fußt, ist falsch.“491

Die Theorie der Notwendigkeit, die das Gericht mit seiner Milligan Entscheidung zurückgewiesen hatte, wurde von der amerikanischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs reaktiviert und von demselben Gericht in seiner Korematsu Entscheidung sanktioniert492 und erst 1984 korrigiert.493 Ohne auf Milligan zurückzukommen hatte Richter Murphy 1944 seine abweichende Meinung mit der gleichen Begründung vorgetragen: „[E]s ist entscheidend, dass militärischer Entscheidungsgewalt definitive Grenzen gesetzt sind, zumal wenn kein Kriegsrecht verkündet ist. Der Einzelne darf nicht seiner verfassungsmäßigen Rechte beraubt werden mit der Begründung der militärischen Notwendigkeit, die weder Substanz noch Unterstützung hat. Daher muss der militärische Anspruch wie jeder andere, der sich im Konflikt mit den erklärten verfassungsmäßigen Rechten des Einzelnen befindet, sich der juristischen Überprüfung unterwerfen, der über seine Annehmbarkeit entscheidet und seinen Konflikt mit anderen Interessen ausgleicht.“494

Die Verantwortung einer freien Gesellschaft, die Rechte zum Nutzen aller garantiert, war der Sanktionierung verfassungswidriger Prinzipien gewichen, nur um die Warnung Jacksons in seinem Korematsu Ablehnung zu bestätigen: „Jede Wiederholung gräbt dieses Prinzip tiefer in unser Recht und Denken ein und bereitet es für neue Zwecke vor.“495 Fred Korematsu erlebte noch das Wiederaufleben des Prinzips der Notwendigkeit nach dem 11. September 2001 und seine Anwendung auf die Gefangenen in Guantánamo, als nationale Sicherheit erneut zur Triebfeder für Regierungshandeln wurde. Bushs Krieg gegen den Terror provozierte unterschiedliche Reaktionen von den Kommunitaristen auf den einen Seite496 und heftigeren Widerstand von Liber491

Ex parte Milligan, 4 Wallace 2 (1866), 120 – 121. 323 U.S. 214 (1944). 493 Vgl. C. Edwin Baker, „Limitations on Basic Human Rights – A View from the United States“, in: The Limitation of Human Rights, hrg. v. Mestral u. a., 93 – 99. 494 323 U.S. 214 (1944), 234. 495 Ebd., 246. 496 Vgl. Douglas W. Kmiec, „Confusing Freedom with License – Licenses Terrorism, Not Freedom“, in: Etzioni u. a. (Hrg.), The Communitarian Reader, 206: „Die Möglichkeit des Missbrauchs sollte nicht die gegenwärtige Notlage verzerren und das Ausmaß an Vertrauen, das man haben muss, wenn unsere demokratische Ordnung vor jenen außerhalb unserer Grenzen geschützt werden muss, die sie zu untergraben wünschen.“ 492

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tären, Liberalen und anderen auf der anderen Seite.497 Menschenrechte erschienen in den Vereinigten Staaten gefährdeter als je zuvor. Während der Oberste Richter William Rehnquist feststellte, dass „[d]ie Gesetze daher im Krieg nicht schweigen, aber mit einer etwas anderen Sprache reden werden“ und dass „[e]s weder wünschenswert ist noch auch nur entfernt wahrscheinlich, dass die bürgerliche Freiheit eine ähnlich bevorzugte Stellung in Kriegszeiten einnehmen wird wie in Friedenszeiten“,498 entschied das Oberste Gericht 2004 im Fall Rasul v. Bush499 anders und ließ eine Untersuchung dieser Politik in amerikanischen Gerichten zu. So bemerkenswert die Rasul Entscheidung für sich bereits ist, verdient die Argumentation von Richter Stevens, der die Mehrheitsmeinung verfasste, umso mehr Beachtung, als er weit zurück auf das englische Common law und Lord Mansfield 1759 griff und sich dabei ausdrücklich auf William Blackstone bezüglich des Charakters der englischen freien Gesellschaft berief, nach dem diese bedingte, dass „der König zu allen Zeiten berechtigt ist, einen Bericht zu erhalten, warum die Freiheit eines seiner Untertanen eingeschränkt wurde“.500

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Die Politik der Bush Regierung stieß auf wachsenden Widerspruch. Für eine historische Perspektive, vgl. oben Kap. III. 8. Vgl. ferner Philip B. Heymann und Juliette N. Kayyem, Protecting Liberty in an Age of Terror, Cambridge, MA und London: The MIT Press, 2005; Stephen J. Schulhofer, Rethinking the Patriot Act. Keeping America Safe and Free, New York: The Century Foundation Press, 2005; At War with Civil Rights and Civil Liberties, hrg. v. Thomas E. Baker und John P. Stack, Jr., Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2006; Howard Ball, Bush, the Detainees & the Constitution. The Battle over Presidential Power in the War on Terror, Lawrence, KS: University Press of Kansas, 2007; Kenneth Christie, America’s War on Terrorism. The Revival of the Nation-State versus Universal Human Rights, Lewiston, NY: The Edwin Mellen Press, 2008. 498 William H. Rehnquist, All the Laws But One. Civil Liberties in Wartime, New York: Alfred A. Knopf, 1998, 224 – 225. Richter Breyer stimmte dieser Auffassung nicht zu und bestand darauf, dass selbst in Zeiten eines nationalen Notstandes „sich unabhängige Richter zwischen Regierung und Bürger stellen – um sicherzustellen, dass die Regierung die Freiheit nicht mehr einschränkt, als das Gesetz erlaubt.“ Und: „Die Verfassung ist immer von Bedeutung und vielleicht erst recht in Notfällen“ (Stephen G. Breyer, „Liberty and Security. A speech before the Association of the Bar in the City of New York, April 14, 2003“, in: At War with Civil Rights and Civil Liberties, hrg. v. Baker und Stack, 13, 16. 499 542 U.S. 466 (2004). Fred Korematsu gab eine amicus curiae Stellungnahme ab, in der er argumentierte, „[d]ieses Gericht sollte klarstellen, dass die Vereinigten Staaten selbst in Kriegszeiten die grundlegenden Freiheiten in Abwesenheit einer zwingenden militärischen Notwendigkeit nicht aufgeben werden. Unser Versäumnis, uns in der Vergangenheit an diesen Standard gehalten zu haben, hat zu vielen der schmerzlichsten Episoden als Nation geführt. Wir sollten diesen Fehler nicht erneut begehen“ (S. 20), https://ccrjustice.org/sites/default/files/ attach/2015/05/2003 – 10 – 03_Rasul_AmicusBriefSupportCert_Fred_Korematsu.pdf (Zugriff 12. Oktober 2020). 500 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, III, 89. Vgl. 542 U.S. 466, 482.

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Es ist hier nicht der Ort darzulegen, wie die Regierung in den folgenden Jahren das Gerichtsurteil zu umgehen suchte.501 Für unsere Zwecke ist es ausreichend, auf eine zweite wegweisende Entscheidung hinzuweisen. In Boumediene v. Bush verfasste Richter Kennedy die Meinung des Gerichts, die erneut den Charakter einer freien Gesellschaft herausstrich und entschied, dass „[w]ir dafürhalten, dass die Kläger sich auf den fundamentalen Verfahrensschutz des habeas corpus berufen können. Die Gesetze und die Verfassung sind darauf angelegt, in außerordentlichen Zeiten zu überleben und in Kraft zu bleiben. Freiheit und Sicherheit können miteinander in Einklang gebracht werden, und in unserem System sind sie aufeinander abgestimmt im Rahmen des Rechts. Die Verfassungsväter entschieden, dass habeas corpus, ein Recht allererster Ordnung, Teil dieses Rahmens, Teil dieses Rechts ist.“502

Wie mit diesem „richterlichen Sieg“503 dargelegt, scheint die Vorstellung eines sozialen Konsenses oder einer freien Gesellschaft, die Rechte garantiert und sie zum Nutzen des Einzelnen anwendet, ungeachtet der Rechterevolution noch nicht vollständig in den modernen Vereinigten Staaten verloren gegangen zu sein. Diese Entwicklung hat ebenfalls Rückwirkungen auf unser drittes Thema, das Recht Waffen zu tragen nach dem II. Zusatzartikel zur Bundesverfassung und die emotional höchst aufgeladene anhaltende Diskussion darum. Es handelt sich dabei um den einzigen Artikel der Bill of Rights, dessen Interpretation als soziales oder kollektives Recht von Anbeginn bis in die 1960er Jahre unumstritten schien, bis die National Rifle Association und ihre Verbündeten massiv in die Propagierung des individuellen Rechts, Waffen zu tragen, und in eine aufständische Interpretation des Zusatzartikels investierte.504 Seither haben die anhaltenden politischen Fehden zwischen Anhängern von Waffenrecht und Waffenkontrolle oder, wie sich ebenso sagen ließe, zwischen Anhängern sozialer Rechte, individueller Recht und der Theorie des Rechts auf Aufstand, falls „die Regierung den Bürgern ihre Waffen wegnehmen will“ – so der platte Alltagskampfspruch – über die wahre Bedeutung dieses Rechts die Tatsache vernebelt, dass dieses Recht über die ersten amerikanischen Einzelstaatsverfassungen in die Bundesverfassung kam, und dass man hier, in die stets so gerne vernachlässigten Staatsverfassungen schauen muss, um den II. Zusatzartikel verstehen zu können. Erstmals wurde dieses Recht in der Rechteerklärung von Delaware vom September 1776 konstitutionalisiert, wo es in dem eindeutigen Zusammenhang mit Milizen und dem Dienst in der Miliz erwähnt wird. Es war ebenso soziales Recht wie 501

Ein ausführlicher Bericht findet sich bei Ball, Bush, the Detainees & the Constitution, bes. 87 – 186. 502 Boumediene v. Bush, 553 U.S. ___ (2008), Nos. 06 – 1195 und 06 – 1196 at 69 – 70, http://www.scotusblog.com/wp/wp-content/uploads/2008/06/06-1195.pdf (Zugriff 11. Oktober 2020). 503 Ebd., zustimmende Meinung des Richters Souter, 3. 504 Vgl. Carl T. Bogus, „The History and Politics of Second Amendment Scholarship: A Primer“, in: The Second Amendment in Law and History. Historians and Constitutional Scholars on the Right to Bear Arms, hrg. v. dems., New York: The Free Press, 2001, 1 – 15.

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Verpflichtung, was das Delaware Dokument mit bewundernswerter Klarheit zum Ausdruck bringt: „Dass jedes Mitglied der Gesellschaft das Recht hat, in dem Genuss von Leben, Freiheit und Eigentum geschützt zu werden und daher verpflichtet ist, seinen Anteil an den Kosten für diesen Schutz beizutragen und seine persönlichen Dienste, wenn nötig, oder ein entsprechendes Äquivalent zu leisten; aber kein Teil des Eigentums eines Mannes kann ihm gerechterweise genommen oder zum öffentlichen Nutzen verwendet werden ohne seine eigene Zustimmung oder die seiner gesetzlichen Vertreter. Noch kann irgendein Mann, der Gewissensskrupel hat, Waffen zu tragen, in irgendeinem Fall gerechterweise dazu gezwungen werden, wenn er jenes Äquivalent zahlen will.“505

Dass die Ausnahmeregel ein Äquivalent erfordert, unterstreicht die soziale Dimension dieses Rechtes und war das zumindest bis zum Bürgerkrieg generell akzeptierte Prinzip. Die Verfassung von Oregon von 1857 verdient in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen Beachtung: „Personen, deren religiöse Glaubenssätze oder Gewissensskrupel ihnen verbieten, Waffen zu tragen, sollen nicht gezwungen werden, dieses in Friedenszeiten zu tun, sollen aber ein Äquivalent für den persönlichen Dienst zahlen.“506 Die Verfassung hatte die Ausnahmeregelung auf Friedenszeiten begrenzt, eine Bestimmung, die auf die Verfassung von Illinois von 1818 zurückging und der sich bislang allein das benachbarte Iowa angeschlossen hatte,507 und diese Beschränkung, zusammen mit dem Äquivalent, wurde erst 1962 aus der Verfassung gestrichen.508 39 Verfassungen oder Rechteerklärungen, einige von ihnen fehlgeschlagen, zwischen 1776 und 1857 in zwanzig Staaten verbanden das Recht, Waffen zu tragen, unmittelbar mit Ausnahmeklauseln und der Einforderung eines Äquivalents. Selbst wenn keine Ausnahme vorgesehen war, erschien das Recht, Waffen zu tragen, unmissverständlich als soziales Recht wie etwa in der Verfassung von Massachusetts von 1780: „Das Volk hat das Recht, für die gemeinsame Verteidigung Waffen zu halten und zu tragen.“509 Die verbleibenden 21 Staatsverfassungen oder Rechteer505 Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, I, 211 – 212 (Abs. 10). 506 Ebd., V, 308 (Art. X, Abs. 2) (eigenen Hervorhebung, HD). 507 Vgl. die Verfassungen von Illinois von 1818 (Art. V, Abs. 2) und 1848 (Art. VIII, Abs. 2) und von Iowa von 1844 (Art. VII, Abs. 2), 1846 (Art. VII, Abs. 2) und 1857 (Art. VI, Abs. 2). Erneut in Kansas (Lecompton Verfassung von 1857, Art. XIII, Abs. 2). Ebd., II, 127, 160, 247, 263, 281, 328. 508 Vgl. Verfassung von Oregon – Fassung von 2019, https://sos.oregon.gov/blue-book/Docu ments/oregon-constitution.pdf (Zugriff 11. Oktober 2020). 509 Constitutional Documents of the United States of America, hrg. v. Dippel, IV, 22 (Tl. I, Art. XVII). Praktisch die gleiche Bestimmung erschien in der Rechteerklärung von North Carolina von 1776 (Abs. 17, ebd., V, 158), und in den Verfassungen von dem Staat Franklin von 1784 (Rechteerklärung, Abs. 17, ebd., I, 342), Frankland von 1785 (Rechteerklärung, Abs. 17, ebd., I, 352), Maine von 1819 (Art. I, Abs. 16, ebd., III, 205), Tennessee von 1834 (Art. I, Abs. 26, ebd., VI, 75), Arkansas von 1836 (Art. II, Abs. 21, ebd., I, 123), Florida von 1839 (Art. I, Abs. 21, ebd., I, 308), Deseret von 1849 (Art. VIII, Abs. 14, ebd., I, 295), und in der

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klärungen, weniger als ein Drittel der Gesamtzahl, könnten aus heutiger Sicht als uneindeutig gelten und Raum für Interpretationen lassen.510 Dennoch gibt es ein starkes Argument für die Auffassung, dass zumindest bis zum Bürgerkrieg das Recht, Waffen zu tragen, überwiegend als ein soziales Recht in engem Zusammenhang mit den Vorstellung einer wohlgeordneten Gesellschaft verstanden wurde. Daher behandelten 40 Staatsverfassungen dieses Recht in ihren Rechteerklärungen, während zwei Dutzend es zusätzlich in ihren Artikeln über die Miliz oder einem entsprechenden anderen Ort aufführten, beginnend mit der Verfassung von Pennsylvania von 1790. Gut 40 % der letzteren, fast ausschließlich aus den 1840er und 1850er Jahren, verzichteten auf eine entsprechende Behandlung in ihren Rechteerklärungen, ganz zu schweigen von jenen rund 30 Staatsverfassungen, die überhaupt keine Bestimmungen zum Recht, Waffen zu tragen, enthielten. Diese Analyse der Staatsverfassungen lässt uns den II. Zusatzartikel zur Bundesverfassung besser verstehen. Eindeutig wurde damit kein neues Recht eingeführt, da die Sprache sich zu eng an die entsprechenden Bestimmungen der Einzelstaatsverfassung anlehnt, es fügt jedoch eine föderale Dimension in dieses Recht ein, um die Bundesregierung daran zu hindern, die Einzelstaaten um ihre Milizen zu bringen.511 Dennoch hat die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts 2008 im Fall District of Columbia v. Heller, unter Stimmführung des Richters Scalia, einem bekannten Anhänger der Theorie der individuellen Rechte, in sinnentstellender Weise entschieden, „dass [die Verfassungen der 1770er und 1780er Jahre] das individuelle Recht, für Verteidigungszwecke Waffen zu tragen, gesichert haben“.512 Dass der Richter Stevens in seiner abweichenden Meinung darauf verzichtete, die Frage zu untersuchen, „ob der II. Zusatzartikel ,kollektive Rechte‘ oder ,individuelle

fehlgeschlagenen Verfassung von Massachusetts von 1853 (Rechteerklärung, Art. XVIII, ebd., IV, 65). 510 Bezüglich dieser konkurrierenden Interpretationen, vgl. Gun Control and the Constitution. Sources and Explorations on the Second Amendment, hrg. v. Robert J. Cottrol, 3 Bde., New York und London: Garland Publishing, 1993; Whose Right to Bear Arms Did the Second Amendment Protect? Readings, hrg. v. Saul Cornell, Boston und New York: Bedford/St. Martins, 2000; The Second Amendment in Law and History, hrg. v. Bogus; H. Richard Uviller und William G. Merkel, The Militia and the Rights to Arms, or, How the Second Amendment Fell Silent, Durham und London: Duke University Press, 2002; David C. Williams, The Mythic Meanings of the Second Amendment. Taming Political Violence in a Constitutional Republic, New Haven und London: Yale University Press, 2003; Saul Cornell, A Well-Regulated Militia. The Founding Fathers and the Origins of Gun Control in America, Oxford und New York: Oxford University Press, 2006. 511 Die Aufständischentheorie, wie sie von Williams, The Mythic Meanings of the Second Amendment, und anderen als das angebliche Recht vertreten wird, gegen die eigene Regierung kämpfen zu können, wenn diese in ihren Augen tyrannisch wird, wird nicht von einem einzigen mir bekannten staatlichen oder föderalen Verfassungsdokument gestützt. Vgl. Bogus, „The History and Politics of Second Amendment Scholarship“, bes. 4 – 13. 512 554 U.S. ___ (2008), ___, no. 07 – 290, 29, http://www.supremecourtus.gov/opinions/ 07pdf/07-290.pdf (Zugriff 11. Oktober 2020).

8. Menschenrechte – Von sozialen zu individuellen Rechten

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Rechte‘ schützt“,513 während Richter Breyer in einer weiteren abweichenden Meinung das Gericht dafür rügte, „uneindeutige historische Forschung mit einem richterlichen ipse dixit zu verbinden“,514 ist nur ein weiterer Beleg für den Übergang von der sozialen Interpretation der Menschenrechte hin zu einer rein individualistischen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschleunigte. Selbst der II. Zusatzartikel, ungeachtet aller historischen und verfassungsrechtlichen Evidenz wurde schließlich ein Opfer dieser Entwicklung. Insgesamt mahnt uns dieser lange Transformationsprozess, die ursprünglich sehr viel andere Lesart jener Rechte nicht aus dem Blick zu verlieren, die uns heute unverändert besonders wichtig sind. Dieser Transformationsprozess war zweifellos von nachhaltiger Bedeutung, indem er Rechte inhaltlich wie räumlich ausdehnte und es einer ungleich größeren Zahl von Menschen ermöglicht, in ihren Genuss zu kommen. Zugleich hat jedoch die Individualisierung der Rechte bei gleichzeitigem Verlust ihrer sozialen Basis dazu geführt, dass viele dieser Rechte prekärer geworden sind, was es den Regierungen erleichtert, sie bestimmten Personen oder Gruppen vorzuenthalten, ohne dass die Gesellschaft Widerstand leistet. Wie das Gericht im Fall Heller bewies, schreckt dies auch nicht vor der Verdrehung historischer und verfassungsrechtlicher Tatsachen zurück, wenn damit die Interessen einer strikt individualistischen Lesart und Verfassungsauslegung bedient werden können. Nichts lag mir ferner, als damit einer nostalgischen Retrospektive auf die wohlgeordnete Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Die Welt des 18. und 19. Jahrhunderts ist Geschichte und kann nicht die Fragen und Probleme des 21. Jahrhunderts lösen. Wir müssen uns den Herausforderungen der Bürgerrechte und -freiheiten stellen. Doch ist deswegen, wie es einst Arthur M. Schlesinger formulierte, die Spaltung der Gesellschaft unvermeidlich?515 Nicht erst die Erfahrungen einer Pandemie haben erneut die Bedeutung von sozialer, aber auch politischer Solidarität offengelegt, wohingegen eine strikt individualistische Perspektive auch im übertragenen Sinn, die Zahl der Opfer in die Höhe schnellen lässt. Dabei hatten schon zuvor alle großen Themen von Flüchtlingsströmen, Rassismus, Migration, ethnischen Minderheiten, wachsender sozialer Ungleichheit, Klimaschutz, Ökologie und Ökonomie und weitere Themen deutlich gemacht, dass sie alle nicht mit einer rein individualistischen Zugehensweise gelöst werden können. So wie uns der Nationalismus des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts längst als Irrweg erscheint, mag es heute an der Zeit sein, über das Verhältnis von sozialen und individuellen Rechten neu nachzudenken.

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554 U.S. ___, ___, no. 07 – 290, abweichende Meinung von Richter Stevens, 1. Ebd., ___, no. 07 – 290, abweichenden Meinung von Richter Breyer, 43. 515 Vgl. Arthur M. Schlesinger, Jr., The Disuniting of America, New York und London: W. W. Norton, 1992. 514

VI. Deutschland Dieser Teil stellt keine deutsche Verfassungsgeschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert dar. Er setzt jedoch einige Leuchtmarken für das, was eine neue deutsche Verfassungsgeschichte sein könnte. Diese erscheint umso gebotener, als der moderne Konstitutionalismus als heuristisches Modell in transnationaler Perspektive in unserer heutigen Welt mehr denn je geboten ist, um Deutschlands Platz innerhalb der europäischen Verfassungsentwicklung der letzten Jahrhunderte angemessen erfassen zu können. Erst ein derartiger Perspektivwechsel wird es erlauben, der deutschen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert den ihr angemessenen Platz innerhalb des europäischen Zusammenhangs zuzuweisen und nationale Fehlentwicklungen als solche erkennen zu können, um auf diese Weise zugleich Kontinuitäten und Sinnzusammenhänge im 20. Jahrhundert jenseits aller katastrophalen Brüche offenzulegen. Die deutsche Entwicklung basiert auf dem in den vorauf gegangenen Teilen entwickelten Konzept des modernen Konstitutionalismus, mit dem Verfassung gegenüber frühmodernen und weiter zurück liegenden Vorstellungen eine neue Qualität erlangt hatte, so dass die Betrachtung zwangsläufig im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzt, indem hier zunächst die von den Ursprungsländern des modernen Konstitutionalismus, Amerika und Frankreich, ausgehenden Einflüsse untersucht werden (Kap. VI. 1. und 2.). In drei weiteren Kapiteln wird die Analyse dieser Einflüsse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortgeführt, indem weitere Rückwirkungen, insbesondere der der Verfassung von Cadiz von 1812 untersucht und der führende liberal-demokratische Theoretiker dieser Epoche, Carl von Rotteck, besonders beleuchtet werden, um an diesen Beispiel das Dilemma der „politischen Professoren“ und damit das der progressiven Liberalen deutlich zu machen, die, selbst als Kammerabgeordnete, überzeugt waren, das „Richtige“ und „Vernünftige“ – und das sahen sie im modernen Konstitutionalismus – erfasst zu haben und zu lehren, sich jedoch nicht in der Lage sahen, daraus politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen, um für die Umsetzung des Erkannten in die Praxis konkret tätig zu werden. Das galt auch für das mehr Gestalt annehmende amerikanische Beispiel, für das sich zumal gemäßigte Liberale zwar in der Theorie begeistern mochten, dessen praktische Bedeutung für Deutschland sie jedoch in der Regel verneinten. Diese praktische Ebene hatte daher mitunter nur begrenzte Bezüge zur theoretischen Reflexion. Dennoch war, zumal in theoretischer Hinsicht, die napoleonische Musterverfassung des Königreichs Westphalen (Kap. VI. 6.), mit der einerseits die Ergebnisse der Französischen Revolution in Deutschland eingeführt werden sollten, die aber andererseits unter der herrschaftsbedingten Abkehr vom modernen Kon-

VI. Deutschland

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stitutionalismus stand, ein bemerkenswerter Neuansatz, selbst wenn dieser in der Praxis aufgrund der Machtansprüche Napoleons und der anhaltenden napoleonischen Kriege sich nicht zu entfalten in der Lage war. Die erste nachnapoleonische Dekade stellt sich daher in der deutschen Verfassungsgebung als Meilenstein dar, mit dem es gelang, in einer Reihe deutscher Staaten Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus einzuführen, die die bedeutendsten dieser Verfassungen zusammen mit der Verfassung von Cadiz zur Avantgarde liberaler Verfassungsgebung in Europa in dieser Zeit machten (Kap. VI. 7.). Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Verfassung von Hessen-Kassel von 1831 (Kap. VI. 8.), für viele die liberalste deutsche Verfassung der Zeit, eben deshalb, weil in ihr mehr als bislang in jeder anderen deutschen Verfassung Prinzipien des modernen Konstitutionalismus umgesetzt worden waren. Die Paulskirche findet in diesem Kontext nur insoweit Beachtung, als hier (Kap. VI. 9.) der Finger auf die bislang vielfach ausgeklammerte Frage nach ihren Grundlagen gestellt wird. In der Diskussion zwischen konstituierender Nationalversammlung und Nationalkonvent – offensichtlich bildeten die französischen Revolutionsbeispiele den zumeist unausgesprochenen Hintergrund – erscheint als entscheidendes Defizit des Paulskirchenparlaments, dass seiner Zusammenkunft weder ein allseits akzeptiertes Mandat zugrunde lag, noch dass es, anders als die französische Nationalversammlung von 1789, in der Lage war, sich selbst durch einen revolutionären Akt in dessen Besitz zu bringen. Damit erscheint ihr Scheitern vorprogrammiert. Daran an schließt sich ein Kapitel (Kap. VI. 10.) über die Entwicklung des Bundesstaats in Deutschland von der Paulskirche bis zum Grundgesetz in dem Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation. Die beiden abschließenden Kapitel sind der deutschen Verfassungsgeschichte seit 1871 gewidmet. Zunächst geht es darum aufzuzeigen, dass die Verfassung von 1871 grundsätzlich mit der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts brach und stattdessen ein Reich mit einer Verfassung gegen die „Ideen von 1789“, also gegen den modernen Konstitutionalismus zu errichten bemüht gewesen war. Keine Prinzipien des modernen Konstitutionalismus fanden Eingang in dieses Verfassungswerk, so dass eine Anknüpfung an das im 19. Jahrhundert in Deutschland Erreichte erst 1919 mit der Verfassung von Weimar stattfinden konnte. Diese stellte ohne Frage eine gewaltige Weiterentwicklung unter den Vorzeichen von Demokratie und Freiheit dar, blieb aber insgesamt unvollständig und defizitär, so dass erst mit dem Grundgesetz von 1949 der volle Durchbruch zum modernen Konstitutionalismus in Deutschland erreicht wurde. Wenn damit auch zwangsläufig die katastrophalen Jahre von 1933 – 1945 ausgeblendet bleiben müssen und die Sonderentwicklung der Jahre des Kaiserreichs eine bleibende Hypothek darstellen, weisen dennoch die groben Linien der Übernahme des modernen Konstitutionalismus in Deutschland zahlreiche Parallelen mit anderen europäischen Ländern auf. Das letzte Kapitel beleuchtet noch einmal speziell die Weimarer Verfassung und versucht darzulegen, wie sie historisch, politisch und kulturell dazu kam, sich der

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VI. Deutschland

französischen Variante des modernen Konstitutionalismus anzuschließen, diese jedoch noch überzeichnete und dabei die eine oder andere falsche Stellschraube anzog, so dass diese demokratisch-freiheitliche Verfassung mit ihren vielen Vorzügen insgesamt unausgeglichen blieb und über keine eingebauten Mechanismen verfügte, die heraufziehende Katastrophe abzuwenden.

1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Nordamerika und Frankreich in der deutschen Wahrnehmung des ausgehenden 18. Jahrhunderts1 Auf die Frage, wann eine Verfassung „eine gute und dauerhafte“ sei, antwortete Lassalle 1862, nur „wenn sie der wirklichen Verfassung, den realen, im Lande bestehenden Machtverhältnissen entspricht“.2 Im ausgehenden 18. Jahrhundert war die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation das Ergebnis einer jahrhundertealten Tradition. Gleiches galt vielfach für das Leben auf dem Lande. Doch in den Städten hatte die Aufklärung und die von ihr ausgehenden geistigen Impulse verbreitet Spuren hinterlassen. Zeitungen und Lesegesellschaften hatten den öffentlichen Raum erobert. Die Diskrepanzen zwischen der überkommenen politischen Ordnung, auch auf dem Gebiet der Einzelstaaten, und einem sich weitenden Blick traten vielerorts mit zunehmender Deutlichkeit zutage. Dabei war die Aufklärung in Deutschland in ihrem Ansatz keine politische Bewegung gewesen,3 und die revolutionären Veränderungen in der Welt am Ende des Jahrhunderts hatten die Deutschen unvorbereitet gefunden – politisch ebenso wie intellektuell. 1776 wusste man in Deutschland wenig von dem, was sich in Amerika abspielte. Angesichts des Fehlens tieferer Einblicke in den Konflikt zwischen Großbritannien und seinen amerikanischen Kolonien ebenso wie dann der amerikanischen Revolution griff man auf allgemeine Begriffe zurück, die die Aufklärung bereithielt. Statt die amerikanische Situation und die dort zum Tragen kommenden 1

Überarbeitete Version meines Beitrags „Les idées constitutionnelles américaines et françaises en Allemagne à la fin du XVIIIe siècle“, in: Constitution & Révolution aux EtatsUnis d’Amérique et en Europe (1776/1815), hrg. v. Roberto Martucci, Macerata: Laboratorio di storia costituzionale, 1995, 557 – 571. 2 Ferdinand Lassalle, „Über Verfassungswesen“, in: ders.: Reden und Schriften. Aus der Arbeiteragitation 1862 – 1864, hrg. v. Friedrich Jenaczek, München: dtv, 1970, 80. 3 Wenn etwa Frederick C. Beiser, Enlightenment, Revolution, and Romanticism. The Genesis of Modern German Political Thought, 1790 – 1800, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992, 9, schreibt: „Die Aufklärung [in Deutschland] war im Wesentlichen praktisch und in einem weiteren Sinne eine politische Bewegung“, erscheint diese Feststellung übertrieben. Sicherlich war die Aufklärung mehr als Kant, Fichte, Herder und andere „große Denker“. In ihrer Breite wurde sie getragen von Hunderten Schriftstellern, Lehrern, Pfarrern u. a. Zwar wird man seiner Feststellung von „der Politisierung des deutschen Denkens in den 1790er Jahren“ (ebd., 1) zustimmen können, doch die Ursache für diese Entwicklung lag nicht in der Aufklärung, sondern der Französischen Revolution.

1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in der deutschen Wahrnehmung 479

Ideen widerzugeben, verbreitete man deutsche Vorstellungen über amerikanisches Geschehen. Anstelle einer Erklärung der dortigen Ereignisse lieferten die gegebenen Deutungen eher Einblicke in die Mentalität und politische Kultur Deutschlands jener Epoche. Viele Deutsche waren voller Begeisterung für die amerikanischen Parolen von Freiheit und Gleichheit, schienen sie darin doch ihre eigenen Ideen wiederzufinden.4 Ganz in diesem Sinne hat Friedrich Gottlieb Klopstock seine Ode auf den amerikanischen Krieg gedichtet: „Ein hoher Genius der Menschlichkeit Begeistert dich! Du bist die Morgenröte Eines nahenden großen Tags!“5 In ähnlicher Weise, doch mit etwas schlichterer Sprache begrüßte der Historiker Matthias Christian Sprengel die Ereignisse und feierte das amerikanische Volk, das „plötzlich seine Pflugscharen verläßt, und für etwas edleres, als warum die Fürsten einander bekriegen, aus Ruhmsucht nicht, nicht aus Eroberungsgeist, sondern für die heiligsten Rechte der Menschheit, für Freiheit und Sicherheit des Eigentums zu fechten beginnt“.6 Selbst wenn die Begeisterung unter den aufgeklärten Zeitgenossen verbreitet war, konnte es nicht an Gegenstimmen fehlen, die sich über das Freiheitsgeschrei mokierten: „Der Poebel in Nordamerika schreyet nichts, als Freyheit. – Der Poebel in Europa ist vom Widerhall entzückt. Was ist Freyheit? Ein Ding, das niemals in der Welt war, das niemals in der Welt seyn kan, ein Phantom.“7 Der Autor, Wilhelm Ludwig Wekhrlin, ein bekannter Schriftsteller, hat stets die Gedanken von politischer Freiheit und Widerstandsrecht zurückgewiesen.8 Doch in seinem politischen Konservatismus hatte er klarer als viele seiner liberaler eingestellten deutschen Zeitgenossen erkannt, dass die amerikanische Revolution eine radikale Veränderung der traditionellen politischen Ordnung darstellte. Eine schlichte Begeisterung für die amerikanische Freiheit reichte nicht, doch waren es hauptsächlich zwei Gründe, die einem vertieften Eindringen in die Problematik entgegenstanden: 1) das deutsche Bürgertum war noch weit davon entfernt, eine kritische Masse erreicht zu haben und war zudem ohne geistiges Zentrum auf Dutzende Staaten zersplittert, und 2) es fehlte an einem Amerika oder England vergleichbaren bürgerlichen Freiheitsstreben, das allein durch seine Existenz eine intensive politische Debatte provoziert hätte.

4

Bezüglich der Details, vgl. mein Germany and the American Revolution. A Sociohistorical Investigation of Late Eighteenth-Century Political Thinking, Chapel Hill, N.C.: University of North Carolina Press, 1977 (ebenfalls als Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 90, Wiesbaden: Steiner, 1978), 3 – 70. 5 Friedrich Gottlieb Klopstock, Sämmtliche Werke, 12 Bde., Karlsruhe; Bureau der deutschen Classiker, 1818 – 1822, VI, 33. 6 Matthias Christian Sprengel, Allgemeines historisches Taschenbuch oder Abriß der merkwürdigsten neuen Welt-Begebenheiten enthaltend für 1784 die Geschichte der Revolution von Nord-America, Berlin: Haude & Spener, [1783], 28. 7 Chronologen, hrg. v. Wilhelm Ludwig Wekhrlin, I (1779), 166. 8 Vgl. Rudolf Vierhaus, Deutschland vor der Französischen Revolution, Ms. Habilschrift Münster 1961, 412 – 413.

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VI. Deutschland

Diese soziale wie geistige Situation Deutschlands war nicht nur wesentlich von der Englands oder Frankreichs unterschieden, sondern auch weitgehend verantwortlich für das Fehlen einer umfassenden Diskussion über die politischen wie verfassungsrechtlichen Auswirkungen der amerikanischen Revolution. Der weitgehend oberflächliche Charakter der Berufungen auf die Freiheit zulasten einer eindringenden Würdigung der amerikanischen Parolen lässt sich an Mehrerem festmachen. Die Diskussion um die Menschenrechte ist ein bedeutungsvoller Indikator. So war zwar das Naturrecht dank des umfangreichen Werks von Christian Wolf aus den vierziger Jahren weit verbreitet.9 Doch selbst wenn Wolf durchweg ein Widerstandrecht zugeschrieben wird,10 blieb das Naturrecht für die breitere deutsche Öffentlichkeit eher ein allgemeiner und letztlich philosophischer Terminus, der sich nicht zur Ableitung politischer Forderungen eignete. Sein Inhalt und dessen Weiterungen blieben vage, so dass auch die Menschenrechte kaum mit ihm in einer politischen Verbindung zu stehen schienen. Die Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 177611 hat daran, was die deutsche Öffentlichkeit angeht, nichts geändert. Auch in den nachfolgenden Jahren wurde das Thema Menschenrechte im Zusammenhang mit den Ereignissen in Amerika selten aufgegriffen, und nichts deutet dabei darauf hin, dass das Verständnis des Begriffes in dieser Zeit signifikant zugenommen hätte.12 In der ersten Hälfte der 1780er Jahre wurden zumindest drei Werke über die Rechte der Menschen oder der Menschheit publiziert, doch keines von ihnen erwähnte die amerikanischen Rechteerklärungen oder fand zu einer modernen Erklärung im Sinne der amerikanischen Dokumente.13 Statt von einem „politischen Schlagwort“ Gebrauch zu machen,14 ergibt sich eher, dass die deutsche Öffentlichkeit vor 1789 kaum in der Lage war, Menschenrechten einen modernen politischen Sinn beizumessen und ihre Rolle in dem sich in Amerika herausbildenden modernen Konstitutionalismus zu erkennen, geschweige denn, daraus eine politische Forderung für eine Verfassungsreform in Deutschland zu entwickeln.

9 Christian Wolff, Ius naturae methodo scientifica pertractatum, hrg. v. Marcel Thomann, 8 Bde., Halle: Renger, 1740 – 1748. 10 Ebd., VIII, 827 (§ 1054): „Si Principes, qui sub populo sunt, in leges fundamentales et Remp. peccant; populus iisdem vi resistere potest.“ 11 Zur Bedeutung dieses Gründungsdokuments des modernen Konstitutionalismus, vgl. oben Kap. I. 1. 12 Vgl. mein Germany and the American Revolution, 163 – 167. 13 Vgl. Gottfried Heinrich Mauchart, Über die Rechte des Menschen vor seiner Geburt, Frankfurt – Leipzig: o. N., 1782; Julius Friedrich Knüppeln, Die Rechte der Natur und Menschheit, entweiht durch Menschen. Szenen aus der heutigen Welt, für den Menschen, Bürger und Richter, Berlin: Maurer, 1784; Johann August Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, Gießen: Krieger, 1784. 14 Wolfgang Stammler, „Politische Schlagworte in der Zeit der Aufklärung“, in: Lebenskräfte der abendländischen Geistesgeschichte. Dank- und Erinnerungsgabe an Walter Goetz zum 80. Geburtstag, Marburg: Simons-Verlag, 1948, 247 – 252.

1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in der deutschen Wahrnehmung 481

Diese Einschätzung lässt sich insgesamt auf die Wahrnehmung des aus der amerikanischen Revolution hervorgehenden modernen Konstitutionalismus im Deutschland der 1770er und 1780er Jahre übertragen. Das Verfassungswerk der amerikanischen Revolution fand hier in dieser Zeit kaum Interesse. Die Unabhängigkeitserklärung erschien in einigen Zeitungen, jedoch durchweg in gekürzter Form,15 während wohl erstmals die in Basel erscheinenden Ephemeriden der Menschheit von Isaak Iselin den vollständigen Text in deutscher Übersetzung zwei Monate später abdruckten.16 Offensichtlich war das Interesse begrenzt, da im darauf folgenden Jahr Matthias Christian Sprengel seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, keine einzige vollständige deutsche Übersetzung gefunden zu haben. Doch statt nun seinerseits diese zu veröffentlichen, beschränkte er sich auf die Wiedergabe des Anklagekatalogs, nach seiner Überzeugung der wesentliche Teil des Dokuments.17 Darüber hinaus verfälschte er das Dokument. Jefferson hatte seine Anklagen bewusst direkt an den König gerichtet; bei Sprengel saß nun die britische Regierung auf der Anklagebank. Das war zwar gemäß der bestehenden britischen Verfassung korrekt. Doch aus amerikanischer Perspektive musste in Anknüpfung an das englische 17. Jahrhundert der König als Tyrann erscheinen, um ihren Widerstand historisch einzuordnen und nach den Grundsätzen des Naturrechts zu rechtfertigen.18 Angesichts des vergleichsweise geringen deutschen Interesses an der Unabhängigkeitserklärung wie an Verfassungsfragen überhaupt verwundert es nicht, wenn in der Leipziger Zeitung gegen Ende des Jahres 1781 in einer Übersicht über die wesentlichsten Ereignisse in Amerika seit Ausbruch der Unruhen weder die Unabhängigkeitserklärung noch die Konföderationsartikel noch die Verfassungen der einzelnen Staaten Erwähnung fanden.19 Nicht allein der Leipziger Zeitung waren die amerikanischen Verfassungen entgangen, sondern der deutschen Öffentlichkeit ebenso. Während in Frankreich die ersten Übersetzungen der amerikanischen Verfassungen 1777 erschienen waren,20 wurde eine erste deutsche Übersetzung erst 1785 veröffentlicht.21 Hatte es in Frankreich in der Folge der Übersetzungen eine lebhafte 15 So etwa in der Frankfurter Kayserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung, 23. August 1776 und der Staats- und gelehrten Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, 24. August 1776. 16 Ephemeriden der Menschheit, hrg. v. Isaak Iselin, Oktober 1776, 96 – 106. 17 Matthias Christian Sprengel, Briefe den gegenwärtigen Zustand von Nord America betreffend, Göttingen: Dieterich, 1777, 47 – 54. 18 Vgl. dazu auch die Argumentation von Erich Angermann, „Ständische Rechtstraditionen in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung“, in: Historische Zeitschrift, 200 (1965), 65 – 66, 76 – 80. 19 Leipziger Zeitung, 28. November 1781. 20 Vgl. Bernard Fay, Bibliographie critique des ouvrages français relatifs aux Etats-Unis 1770 – 1800, Paris: Champion, 1925, 10; Brief von Louis-Alexandre Duc de La Rochefoucauld, Februar (?) 1777, in: The Papers of Benjamin Franklin, hrg. v. Leonard W. Labaree u. a., Bd. 1 ff., New Haven: Yale University Press, 1959 ff. (zuletzt Bd. 43, 2018), XXIII, 375 – 376. 21 Staatsgesetze der dreyzehn vereinigten amerikanischen Staaten, A. d. Franz., Dessau – Leipzig: Buchhandlung der Gelehrten,1785.

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VI. Deutschland

Diskussion um die amerikanischen Verfassungen gegeben, wie oben in den Kap. IV. 1. und V. 4. dargelegt, ist in Deutschland keine Resonanz auf die Publikation von 1785 nachweisbar. Auch die amerikanische Bundesverfassung von 1787 gab lediglich zu wenigen und vagen Kommentaren Anlass.22 Ungeachtet aller Begeisterung für die aus Amerika herüberschallenden Ideen von Freiheit und Gleichheit stellten die ersten modernen Verfassungen eine Materie dar, die für die deutsche Öffentlichkeit zu abstrakt war, um einen Platz in ihrer eigenen Vorstellungswelt finden zu können. Angesichts dieser verbreiteten Unkenntnis ist es immerhin bemerkenswert, wenn die Göttingischen gelehrten Anzeigen Mitte des Jahres 1788 feststellten: „Die innere Staatsverfassung der einzelnen Staaten des nordamerikanischen Freystaats hat bisher noch manche Dunkelheiten gehabt“.23 Mehr als „manche Dunkelheiten“ war es eine recht vollständige Unkenntnis, die den aufkommenden modernen Konstitutionalismus in Deutschland in den 1780er Jahren umgab, und daran hat sich bis zur ersten französischen Revolutionsverfassung vom September 1791 nichts Wesentliches geändert. Mit einem Mal war nun eine moderne geschriebene Verfassung keine abstrakte Angelegenheit ohne reale Bedeutung mehr, sondern etwas, was unmittelbar in ihre eigene Vorstellungswelt eingriff. Weder die amerikanischen Verfassungen noch die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 noch die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 als erste geschriebene Verfassung in Europa haben in Deutschland einen ähnlichen Eindruck hinterlassen wie die französische Verfassung von 1791, die sogleich eine heftige Diskussion auslöste. Gewiss hatte es Veröffentlichungen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Herbst 1789 gegeben. Doch tieferen Eindruck scheinen sie nicht gemacht zu haben. Kommentare blieben 1789 und 1790 selten, und zumeist waren sie abweisend.24 In seiner Geschichte der großen Revolution in Frankreich druckte Friedrich Schulz alle 17 Artikel der Erklärung ab,25 doch in Girtanners umfangreichen Historischen Nachrichten und politische Betrachtungen über die französische

22 Vgl. als ein Beispiel die Vaterländische Chronik, hrg. v. Christian Friedrich Daniel Schubart, November 1787, 328. 23 Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 14. Juli 1788, 1125. 24 Vgl. Franz Dumont, „La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen en Allemagne“, in: Annales Historiques de la Révolution française, 50 (1978), bes. 231 – 245. Allgemeiner Hans Erich Bödecker, „1789 dans la presse allemande, une analyse statistique des reportages dans les journaux allemands“, in: L’Image de la Révolution française, hrg. v. Michel Vovelle, 4 Bde., Paris: Pergamon, 1989 – 1990, I, 385 – 389. 25 Friedrich Schulz, Geschichte der großen Revolution in Frankreich, 1790 – 1793, m. zeitgen. Abb., hrg. u. m. e. Nachw. v. Gerard Koziełek, Frankfurt: Insel, 1989, 198 – 200.

1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in der deutschen Wahrnehmung 483

Revolution taucht das Datum des 26. August 1789 nicht auf.26 Andere behandelten das Werk der Nationalversammlung lediglich in eher allgemeiner Weise.27 Sehr ähnlich war es um die polnische Verfassung bestellt. Einige Übersetzungen wurden rasch publiziert,28 begleitet von dem einen oder anderen wohlmeinenden Kommentar.29 Doch eine eingehende Diskussion fand nicht statt. Die entscheidende Änderung trat mit der französischen Verfassung vom September 1791 ein. Provoziert durch diese Verfassung setzte nun eine Diskussion um moderne Verfassungen generell ein. War es überhaupt möglich und gerechtfertigt, eine Verfassung „nach dem Plane der bloßen Vernunft“ zu konzipieren? Wilhelm von Humboldt warf diese Frage Ende des Jahres auf und war überzeugt, dass ein derartiger Versuch jeder menschlichen Vernunft ebenso wie jeder historischen Erfahrung widerspräche.30 Humboldt ist ein Beispiel für den in Deutschland in den folgenden Monaten beginnenden Wandel hin zu einem modernen Verständnis von Verfassung.31 Die Diskussion mündete rasch in eine Polarisierung zwischen Anhängern und Gegnern des modernen Konstitutionalismus, wobei die Anhänger sehr viel vorsichtiger in ihrem Eintreten für den Repräsentationsgedanken waren. Dennoch ging Johann Benjamin Erhard die konservativen Gegner des modernen Verfassungsbegriffs öffentlich an und wies mit Nachdruck auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte hin: „Eine Verkehrtheit der Begriffe ist es die Aufklärung oder den freyen Gebrauch der Vernunft, vor der Staatsverfassung zu rechtfertigen, denn diese muß sich vor der Vernunft 26 Vgl. Christoph Girtanner, Historische Nachrichten und politische Betrachtungen über die französische Revolution, 10 Bde. [bis zur Hinrichtung Ludwigs XVI.], Berlin: Johann Friedrich Unger, 21792 – 1795, II, 243 – 254. 27 Vgl. dazu die Auffassungen von Campe, Brandes u. Halem, abgedruckt in: La Révolution française vue par les allemands, hrg. v. Joël Lefebvre, Lyon: Presses Universitaires de Lyon, 1987, 24 – 30, 39 – 42. 28 Vgl. Historisch-politisches Magazin, hrg. v. Albrecht Wittenberg, IX (Juni 1791), 668 – 689; Stats-Anzeigen, hrg. v. August Ludwig Schlözer, XVI, Nr. 63 (August 1791), 328 – 349 (mit leichten Abweichungen). 29 Vgl. Hermann Vahle, „Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 im zeitgenössischen deutschen Urteil“, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, 19 (1971), 347 – 370; GeorgChristoph von Unruh, „Die polnische Konstitution vom 3. Mai 1791 im Rahmen der Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten“, in: Der Staat, 13 (1974), 185 – 186, 204 – 206. 30 Wilhelm von Humboldt, „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt“, Ende 1791 in einem Brief an Friedrich Gentz, geschrieben und im Januar 1792 veröffentlicht in der Berlinische Monatsschrift, erneut abgedruckt in: Die Französische Revolution in Deutschland. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren, hrg. v. Friedrich Eberle u. Theo Stammen, Stuttgart: Reclam, 1989, 327, vgl. auch den vollständigen Text, ebd., 323 – 332. Dazu auch Heinz Wismann, „Raison et contingence: Humboldt sur la constitution de 1791“, in: The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, III, hrg. v. François Furet u. Mona Ozouf, Oxford: Pergamon, 1989, 273 – 279. 31 Vgl. dazu Heinz Monhaupt/Dieter Grimm, „Verfassung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, VI, Stuttgart: Ernst Klett, 1990, 868 – 870.

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VI. Deutschland

rechtfertigen. Man kann nicht fragen: verträgt sich Weisheit und Tugend mit der Staatsverfassung? sondern: verträgt sich die Staatsverfassung mit Weisheit und Tugend? nicht: ist die Aufklärung dem Staate nützlich? sondern: schadet die Staatsverfassung der Aufklärung nicht?“32

Erhard begründete seine Auffassungen auf dem Naturrecht und der Volkssouveränität und kam zu einer bemerkenswerten Einsicht hinsichtlich der Ziele einer Verfassung: „Die Staatsverfassung soll nicht Glückseeligkeit, sondern Gerechtigkeit hervorbringen.“ Denn die Würde des Menschen gründet sich auf die Achtung der Gesetze wie der Gerechtigkeit auf der Grundlage der universellen Menschenrechte und nicht auf das eifersüchtige Schielen nach materiellen Gütern.33 Mit der Begründung des Ursprungs und Ziels moderner Verfassungen auf dem universellen Prinzip der Gerechtigkeit setzte sich Erhard ebenso scharf ab von den Ideen der Aufklärung und des aufgeklärten Absolutismus auf der einen Seite wie von Saint-Just und der Jakobinern auf der anderen Seite. Er widersprach jenen, die glaubten, mit kleineren Reformen die bestehende Ordnung aufrecht erhalten zu können,34 wie auch jenen, die die Menschen auch gegen ihren eigenen Willen glücklich machen wollten.35 Erhard sprach nur für eine Minderheit, während die Mehrheit zweifelnd bis ablehnend blieb, wie der Blick in die öffentliche Diskussion in Deutschland in den 1790er Jahren ergibt, eine Einstellung, die sich bis in Doktorarbeiten nachverfolgen lässt.36 Selbst wenn es um die neuen Verfassungsvorstellungen ging, blieben die Auffassungen über Staat, Regierung, Demokratie und Ochlokratie meist traditionell und orientierten sich an den rechtlichen Traditionen des Reiches und dem althergebrachten Recht. In dieser distanzierten Einstellung werden die Grenzen des Einflusses des aus Amerika kommenden und sich nunmehr in Frankreich manifestierenden modernen Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert erkennbar. „In Deutschland sind die Regierungen wohlthätiger, und die Unterthanen weiser [als in Frankreich]. Sie lieben die bürgerliche Ordnung, weil sie 32

Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution, Jena u. Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1795, 32. 33 Ebd., 192, vgl. auch ii, 1 – 64, 142 – 178. 34 Vgl. z. B. Karl von Dalberg, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, Erfurt: Keyser, 1795; Johann Georg Ludwig Brackebusch, Vorschläge zur Sicherung der izt bestehenden Landesverfassungen teutscher Reichsländer gegen innerliche Unruhen, Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1797. 35 Vgl. dazu die Schriften von Saint-Just, zumal seine „Fragments d’Institutions républicaines“, in: Louis-Antoine de Saint-Just, Œuvres complètes, hrg. v. Michèle Duval, Paris: Lebovici, 1984, 966 – 970. 36 Vgl. Gustav Sjöborg, Dissertatio historico-politica de despostismo populi, Diss. phil. Universität Greifswald 1792 (eine deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Ueber Volksdepotismus. Aus dem Lateinischen, nebst Anmerkungen und angehängten Betrachtungen des Ue[be]rsetzers, Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1793); Christian Friedrich Eisenlohr, De ratione aestimandi libertatem et aequalitatem politicam, Diss. phil. Universität Tübingen 1794.

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ihr Wohl und ihre Erhaltung darin finden.“ Daher bedürften sie nicht der „so sehr gemißbrauchten Ideen von Freyheit, Gleichheit, Souveränität“.37 Selbst wenn angesichts der herrschenden Zensur die veröffentlichte Meinung über Staatsprinzipien häufig nahezu einer offiziösen Meinung gleichkam, zumal wenn sie unter dem Namen eines Autors und/oder Verlegers in Deutschland erschien, wird man sie nicht rundheraus abtun können. Die Mehrheit des gebildeten Bürgertums war in einem modernen Sinn bislang politisch wenig sensibilisiert, selbst wenn die Diskussion um Staatsprinzipien in den 1790er Jahren intensiver als in dem voraufgegangenen Jahrzehnt geführt wurde. Dennoch provozierten die französischen Verfassungsbeispiele einen vergleichsweise ausgedehnteren deutschen Radikalismus, während die radikalen Stimmen in Deutschland in den Jahren der amerikanischen Revolution hier noch selten geblieben waren – Johann Christian Schmohl war eine der bekanntesten Ausnahmen38 –, und die Beispiele der Französischen Revolution waren für den einen oder anderen Anlass genug, sich erstmals auch mit den amerikanischen Verfassungen zu beschäftigen. Das erste und einzige deutsche Werk über die amerikanischen Verfassungen am Ende des 18. Jahrhunderts wurde 1795 von Günther Karl Friedrich Seidel als Anhang zu seiner Übersetzung der Geschichte der Amerikanischen Revolution von David Ramsay veröffentlicht. Obwohl „die Zeitumstände das Interesse für die amerikanische Konstituzion verdoppelt“ hätten – die französischen Bemühungen um eine republikanische Verfassung und deren Verhältnis zu den amerikanischen (vgl. oben Kap. V. 4.) werden angedeutet –, leide es daran, dass diese bislang „ohne deutliche Begriffe“ geblieben sei.39 Mit bemerkenswerter Klarheit legte Seidel den Kern der Bundesverfassung offen: „Es ist ein fundamental Grundsatz der amerikanischen Staatsverfassung, daß alle Gewalt ursprünglich in dem Volke ruhet, und nur von ihm abgeleitet ist; und daß die verschiedenen Beamten der Regierung, welche die gesetzgebende, ausübende und richterliche Gewalt besitzen, nur die Stellvertreter des Volkes, und demselben jedesmal verantwortlich sind.“

Selbst wenn man Seidel entgegenhalten will, dass er damit letztlich nichts anderes als den entsprechenden Passus aus der Rechteerklärung von Virginia zitiert habe, fügte er doch eine wesentliche Beobachtung hinzu: „Dieser Grundsatz erklärt das Medium, wodurch das Volk die schwere Kunst selber zu gebieten und selber zu gehorchen zu erreichen gedenkt; es ist die Uebertragung seiner Gewalt an verant37 Johann August Eberhard, Ueber Staatsverfassungen und ihre Verbesserungen. Ein Handbuch für deutsche Bürger und Bürgerinnen aus den gebildeten Ständen, Berlin: Vossische Buchhandlung, 1793 [Ndr. Kronberg/Ts.: Scriptor, 1977], 5. 38 Vgl. seine anonyme Schrift Ueber Nordamerika und Demokratie. Ein Brief aus England, Kopenhagen [i. e. Königsberg] 1782, nhrg. v. Reiner Wild, St. Ingbert: Röhrig, 1992. 39 Günther Karl Friedrich Seidel, Die Staatsverfassung der vereinigten Staaten und historische Beiträge und Belege zu der Geschichte ihrer Revolution (= David Ramsay, Geschichte der Amerikanischen Revolution aus den Acten des Congresses der vereinigten Staaten, T. 4), Berlin: Vossische Buchhandlung, 1795, iv.

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VI. Deutschland

wortliche Stellvertreter derselben.“40 Laut Seidel war „[d]ie Freiheit und das Glück“ Amerikas auf seiner Verfassung begründet. Um beides dauerhaft zu sichern, sei eine strikte Gewaltentrennung eingeführt und der Legislative das Recht entzogen, nach Gutdünken die Verfassung zu ändern.41 Ohne Frage werden die verankerte politische und bürgerliche Freiheit und nicht zuletzt die „unbeschränkte“ Pressefreiheit „das Aufblühen aller nützlichen und angenehmen Künste und Wissenschaften“ in den Vereinigten Staaten nachhaltig beflügeln.42 Seidel hatte jenen, die über den in Amerika und Frankreich sich entfaltenden modernen Konstitutionalismus nachzudenken bereit waren, eine fundierte Grundlage an die Hand geben wollen. Aber es war zugleich eine Betrachtung über ein weit entferntes Land ohne Berührungspunkte zur eigenen Lebenswelt – das hätte viel eher Frankreich sein können, einer Perspektive, der er bewusst ausgewichen war. Insofern war es mehr Traum als Realität, und in der Tat hat auch Seidel damit keine vertiefte Beschäftigung mit den amerikanischen Verfassungen in Deutschland in dieser Zeit anstoßen können. Der Blick blieb – aus nachvollziehbaren Gründen – auf Frankreich fixiert, und die ersten deutschen – privaten – Verfassungsprojekte in den 1790er Jahren sind eindeutig von Frankreich angeregt und beeinflusst, wie im nachfolgenden Kapitel näher dargelegt werden wird. Wenn wir uns an dieser Stelle auf die Migration der modernen Verfassungsideen beschränken, so lässt sich mehreres festhalten. Die Jahrzehnte des ausklingenden 18. Jahrhunderts stellten in Deutschland einen letzten Höhepunkt der Reichspublizistik dar. Doch während in Frankreich mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aufgrund der an der Seite der aufständischen Amerikaner kämpfenden französischen Truppen ein unmittelbarer Bezug auf nationaler Ebene politisch unterlegt war – in ungleich größerem Umfang kamen dort ebenfalls deutsche Truppen zum Einsatz, allerdings in ganz überwiegendem Maße auf Seiten der Briten gegen die Amerikaner –, blieb das deutsche Engagement eher eine lokale Angelegenheit, weitgehend beschränkt auf jene sechs kleineren und Kleinststaaten mit Subsidienverträgen mit Großbritannien, die in Kreisen des aufgeklärten Bürgertums heftig kritisiert wurden. Das Auftreten Franklins als Abgesandter der amerikanischen Staaten ab Ende 1776 und die von ihm mitgebrachten und rasch ins Französische übersetzten amerikanischen Verfassungen lösten umgehend eine Verfassungsdebatte in Frankreich aus. Diese stand in direktem Bezug zu der innerfranzösischen politischen Reformdebatte der Zeit. Alles dieses fehlte in Deutschland in den 1770er und 1780er Jahren. Hier gab es keine breitangelegte bürgerliche Reformdebatte, die die neuen Verfassungsideen begierig aufsaugen und für die eigene Situation fruchtbar machen konnte. Zwar fehlte es nicht an bemerkenswerten Versuchen, darunter die 40 41 42

Ebd., 27 – 28. Ebd., 30 – 32. Ebd., 50 – 51, 56.

1. Die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in der deutschen Wahrnehmung 487

amerikanische Verfassungspublikation 1785 und die fundierte Analyse von Seidel 1795. Doch sie verpufften und blieben letztlich folgenlos. Die entscheidende Wende kam mit der ersten französischen Verfassung von 1791. Frankreich stand nunmehr ganz im Fokus, die Auswirkungen der Französischen Revolution auf Deutschland wuchsen ständig an und wurden aus der Perspektive eines aufgeschreckten Bürgertums zunehmend bedrohlicher. Der bald hinzukommende Krieg tat das Seine. Das alles bot nicht die Folie für eine intensive Verfassungsdebatte in Deutschland. Doch dass die in Frankreich entwickelten Verfassungsideen mit den unterschiedlichen Revolutionsverfassungen nach Deutschland hinüberschallten, war nicht zu verhindern. Vieles davon blieb beim liberalen Bürgertum hängen, um zu einem späteren Zeitpunkt nützlich werden zu können. Doch etliche radikalere Zeitgenossen versuchten bereits in den 1790er Jahren diese Ideen für Deutschland fruchtbar zu machen und hier die längst überfällige Verfassungsdiskussion anzustoßen, um jene von Lassalle angesprochene Diskrepanz zwischen der bestehenden Verfassung und den realen Lebensverhältnissen zu überwinden. Die Häufung der zitierten Beispiele für fehlendes Interesse sollte dabei nicht den Blick für ihre eigentliche Aussage verstellen. Dass es den amerikanischen Verfassungsvorstellungen im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht gelang, in Deutschland breitere Resonanz zu finden, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Im ersten Jahrzehnt der nachnapoleonischen Verfassungsgebung in Deutschland spielten die amerikanischen Verfassungen nur in Ausnahmefällen punktuell eine Rolle.43 Das gemäßigt liberale deutsche Bürgertum tat sich das gesamte 19. Jahrhundert und darüber hinaus schwer mit den amerikanischen republikanischen Verfassungen.44 Lediglich bei den demokratischen Liberalen und einigen radikalen Gruppierungen fanden die amerikanischen Verfassungen zumal während und nach den Revolutionen von 1848 Interesse.45 Damit unterschied sich die deutsche Rezeption der amerikanischen Verfassungen in dieser Zeit deutlich sowohl von der französischen als auch der schweizerischen. Anders hingegen stand es im Gegensatz zur amerikanischen Revolution laut Carl von Rotteck, dem die hier angesprochenen Zusammenhänge wohl bewusst waren, um die „für Europa unmittelbar wirksam[e]“ Französische Revolution.46 Das hatte auch Auswirkungen auf das Interesse an den französischen Verfassungen in 43

Ausführlich dazu unten Kap. VI. 7. Vgl. dazu unten Kap. VI. 5. und VI. 10. sowie mein Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip, 1994. 45 Vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, bes. I, 104 – 136. 46 Carl von Rotteck, „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Princip und System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Carl von Rotteck u. Carl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, III, 522. 44

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VI. Deutschland

Deutschland, wobei ab den 1790er Jahren zumal die Verfassungen von 1791 und 1795 im Vordergrund standen, während ab 1814 die Charte constitutionnelle dominierte, ohne die voraufgegangenen Verfassungen völlig zu verdrängen. Noch bei der Verfassung der Weimarer Republik sind französische Einflüsse allgegenwärtig.47 Aus dieser Migration der Verfassungsideen und der deutschen Rezeptionsgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist damit eine weitere Konsequenz ableitbar. Die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus sind in Deutschland bis in das 20. Jahrhundert hinein ganz wesentlich über ihre französische Variante rezipiert worden. Dass sich gegenüber dieser die amerikanische Version nachhaltig durchsetzte, erfolgte in Deutschland – wie übrigens ebenfalls in Frankreich, wenn auch dort zeitversetzt und entscheidend 2008, und in anderen Teilen Europas und der Welt – mit großer Wirkungsmacht erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

2. Das erste Aufgreifen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Deutschland in den 1790er Jahren48 Während die traditionelle deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung davon ausgeht, dass die in einer Reihe deutscher Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kraft getretenen Verfassungen für die spätere Verfassungsentwicklung in Deutschland nur eher von untergeordneter Bedeutung sind49 und letztlich die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 als jenes Initialereignis angesehen werden muss, das „eine liberaldemokratische Verfassungstradition in Deutschland eigentlich erst begründet“ hat,50 geht dieser Teil von der diametral entgegengesetzten Auffassung in der Absicht aus, die Geschichte des modernen Konstitutionalismus in Deutschland neu zu begründen.51 Hatte das voraufgegangene Kapitel dargelegt, wie in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert im Gegensatz zu Frankreich die ersten Auseinandersetzungen mit den neuartigen geschriebenen 47

Vgl. dazu unten Kap. VI. 11. und VI. 12. Überarbeitete Fassung meiner Einleitung „Der Verfassungsdiskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert und die Grundlegung einer liberaldemokratischen Verfassungstradition in Deutschland“, in: Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, hrg. u. m. e. Einl. v. Horst Dippel, Frankfurt: Keip, 1991, 7 – 44. 49 So etwa auch Hans Boldt in seiner Einleitung zu: Reich und Länder. Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrg. v. Hans Boldt, München: dtv, 1987, 11, 14. Vgl. dazu auch allgemein Gerhard Dilcher, „Zum Verhältnis von Verfassung und Verfassungstheorie im frühen Konstitutionalismus“, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, hrg. v. Gerd Kleinheyer u. Paul Mikat, Paderborn: Schöningh, 1979, 65 – 84, wo jedoch die globalen historischen Zusammenhänge völlig unberücksichtigt erscheinen. 50 Boldt, Reich und Länder, 388. 51 Es wird im Folgenden darauf verzichtet, auf einzelne Kapitel dieses Teils gesondert hinzuweisen. 48

2. Das erste Aufgreifen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus

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Verfassungen nicht von Amerika, sondern von den französischen Revolutionsverfassungen ausging, so soll in diesem Kapitel der Versuch unternommen werden aufzuzeigen, zu welchen inhaltlichen Positionen diese Beschäftigung mit den französischen Verfassungen in Deutschland in den 1790er Jahren führte und wie auf diese Weise die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus hier erstmals aufgegriffen wurden. Blickt man einige Jahrzehnte zurück, so mochte aus der Sicht der Jahre unmittelbar nach 1945 ein grundlegender Neuanfang durchaus geboten erscheinen, und Rudolf Stadelmann und mit ihm etliche andere Historiker haben aus dieser Überzeugung 1948 für eine Rückkehr Deutschlands zur politisch-rechtlichen wie geistigen Gemeinsamkeit mit Westeuropa plädiert, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgrund einer angeblich deutschen Sonderentwicklung zum seinerzeit zwar vergleichsweise fortschrittlichen, aber schließlich in einer Sackgasse endenden „aufgeklärten Absolutismus“ verloren gegangen sei.52 Stadelmanns These reicht als Erklärungsmodell nicht aus – aufgeklärten Absolutismus gab es auch in Portugal und anderen europäischen Staaten, während der weitgehend apolitische Charakter der deutschen Aufklärung hier ungleich stärker in die Betrachtung einbezogen werden müsste –, obwohl 1949 mit dem Grundgesetz erstmals der moderne Konstitutionalismus in vollem Umfang in Deutschland in dem Bestreben verwirklicht wurde, nach der Katastrophe der Jahre 1933 – 1945 die Macht des Staates und seiner Organe wirksamer zu begrenzen und die Rechte und Freiheiten der Bürger effektiver vor staatlichen Übergriffen zu schützen. In beiden entscheidenden Punkten war die Weimarer Verfassung sowohl ein Opfer der Zeitumstände als auch ihrer eigenen Konstruktionsmängel geworden. Doch Stadelmann, der wie viele Liberale der Weimarer Republik von der Notwendigkeit einer politisch-ideellen Gemeinsamkeit mit Westeuropa im Sinne der Ziele des modernen Konstitutionalismus überzeugt war, griff mit seiner Analyse angesichts einer Konzentration auf die politische Entwicklung zu kurz. Dass Verfassung mehr als lediglich einen politisch-rechtlichen Rahmen meint und es letztlich erst die soziale Dimension ist, die dieser Leben verleiht, ist heute jenseits rein formal-juristischer Kompendien unbestritten. In diesem Sinn hat Dieter Grimm in seiner Deutschen Verfassungsgeschichte hinsichtlich der „Konstitutionalisierungschancen“ in Deutschland um 1800 nach den sozialen Trägerschichten und speziell nach dem Bürgertum gefragt und hier im Vergleich zu Frankreich und den Vereinigten Staaten grundlegende Defizite festgestellt.53 Nicht allein seine zahlenmäßige Schwäche, auch seine Zersplitterung auf wenige Großstädte und hunderte kleiner Subzentren, seine häufig unmittelbare beruflich-materielle Abhängigkeit von 52 Rudolf Stadelmann, „Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen“, in: ders., Deutschland und Westeuropa, Schloss Laupheim: Steiner, 1948, 11 – 33. 53 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, 9, 45 u. ö.

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der Vielzahl der Fürstenhöfe, die den Zeitgenossen durchaus bewusst war,54 sowie schließlich auch das Fehlen eines nationalen Macht-, Kommunikations- und Agitationszentrums haben über die realen „Konstitutionalisierungschancen“ entschieden. Daraus jedoch den Schluss ziehen wollen, dass es in dieser Zeit folglich keine Diskussionen über Verfassungen allgemein und den modernen Konstitutionalismus im Besonderen gegeben habe, wäre unzulässig und übereilt, da er Gedanken und damit zugleich Traditionen verschüttet, statt Wurzeln freizulegen. Auch der sozialgeschichtliche Ansatz reicht mithin zur Erklärung der Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Deutschland nicht aus, denn er reduziert Verfassungsdenken allein auf die realen Möglichkeiten seiner politisch-rechtlichen Durchsetzbarkeit.55 Gerade die ersten Anfänge eines Konstitutionalismus können aber zunächst gar nichts anderes als Theorie sein, die zwar nach Umsetzung in die Praxis strebt, jedoch ihre ursächliche Bedeutung als theoretisches Modell und als diskursives Ereignis findet, die Nachweise von dem Gewicht und der Intensität des Nachdenkens liefern. Zeugnisse dieser Art sind daher ungleich wichtiger als die ersten konkreten, napoleonischen Verfassungen in Deutschland nach 1806, die gemeinhin betrachtet werden, wenn von dem französischen Einfluss auf die deutsche Verfassungsentwicklung dieser Epoche die Rede ist.56 Entgegen der herrschenden Lehrmeinung existieren eine ganze Reihe von Nachweisen und Dokumenten über die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Deutschland in den 1790er Jahren, die allerdings bislang von der Forschung kaum beachtet, geschweige denn je als Corpus analysiert worden sind.57 Die Gründe für 54

Vgl. Schleswigsches Journal, Juli 1793, bes. 284. Dieser rein formale Aspekt wird von Grimm noch weiter mit der Behauptung gesteigert, dass „die moderne Verfassung die Herausbildung einer einheitlichen Staatsgewalt voraussetzt, auf die sie dann regelnd Zugriff nehmen kann“ (Grimm, Verfassungsgeschichte, 45). Diese Vorstellung widerspricht sowohl historisch der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika als auch theoretisch der Lehre vom pouvoir constituant des Volkes. Vgl. dazu immer noch Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen: Mohr, 1909. 56 Vgl. Harry Siegmund, Der französische Einfluß auf die deutsche Verfassungsentwicklung 1789 – 1815, Jur. Diss. Freiburg 1987; Grimm, Verfassungsgeschichte, 59 – 62. 57 Vgl. u. a. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, bearb. v. Karl Zeumer, Tübingen: Mohr, 21913; Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart [1914], Stuttgart: Koehler, 9 1969; Hans Helfritz, Volk und Staat. Verfassungsgeschichte der Neuzeit [1924], Berlin: Heymann, 41944; Aloys Schulte, Der deutsche Staat: Verfassung, Macht und Grenzen 919 – 1914, Stuttgart – Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1933; Conrad Bornhak, Deutsche Verfassungsgeschichte vom westfälischen Frieden an, Stuttgart: Enke, 1934; Hans Erich Feine, Das Werden des deutschen Staates seit dem Ausgang des Heiligen Römischen Reiches 1800 bis 1933. Eine verfassungsgeschichtliche Darstellung, Stuttgart: Kohlhammer, 1936; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit [1937], Tübingen: Mohr, 31943; Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Ein Abriß [1940], Stuttgart: 41972; Erich Molitor, Grundzüge der neueren Verfassungsgeschichte, Karlsruhe: C.F. Müller, 1948; Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, I: Deutsches Verfassungsrecht im Zeitalter des Konstitutionalismus 55

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diese Versäumnisse sind vielfältiger Art. Einer ist darin zu erblicken, dass die verfassungsrechtliche Entwicklung im Reich in den Jahrzehnten vor 1806 in der Vergangenheit nahezu ausschließlich unter dem Aspekt der bestehenden Reichsverfassung, ihrer Entwicklung und Funktionsfähigkeit betrachtet worden ist.58 Eine weitere Ursache liegt in jener von Stadelmann angesprochenen und ungezählte Male belegten Abschottung vielfältiger Art Deutschlands von Westeuropa und zumal von Frankreich, wie sie im 19. Jahrhundert zumal von den Vertretern der historischen Rechtsschule mit ihrer organischen, gegen die „Ideen von 1789“ gerichteten Staatsauffassung sowie insbesondere nach 1848 im Sinne konservativ-nationaler Politik systematisch betrieben und wissenschaftlich von den Universitätshistorikern nahezu einhellig bis 1918 und mehrheitlich bis 1945 und darüber hinaus propagiert wurde,59 eine Haltung, die in Teilen der deutschen Öffentlichkeit auf dem rechten wie (1806 – 1918), bearb. v. Ernst Rudolf Huber, Tübingen: Matthiesen, 1949; Josef Wiefels, Deutsche Verfassungsgeschichte, Stuttgart – Düsseldorf: Kohlhammer, 1949; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, I, Stuttgart: Kohlhammer, 1961; ders. (Hrg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, I, Stuttgart: Kohlhammer, 1961 (das einzige vor 1803 hier abgedruckte Dokument ist das preußische Vereins-Edikt vom 20. 10. 1798!); Robert Scheyhing, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Köln: Heymann, 1968; Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M.: Athenäum, 1970; Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Einleitung“, zu: ders. (Hrg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), Königstein/Ts.: Athenäum usw., 21981, 13 – 23; Dieter Grimm, „Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Privatrechtsgesetzgebung“, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hrg. v. Helmut Coing, III/1, München: Beck, 1982, 17 – 173; Christian-Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Eine Einführung in die Grundlagen, Heidelberg: C.F. Müller, 51986; Boldt (Hrg.), Reich und Länder; Grimm, Verfassungsgeschichte; Klaus Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806 – 1933). Ein Grundriß ihrer Entwicklungslinien, München: Beck, 1988. In allen diesen Werken werden die deutschen Verfassungsprojekte der 1790er Jahre mit keinem Wort erwähnt. Kröger, der 1806 einsetzt, ist darüber hinaus der Überzeugung, dass eine Betrachtung der voraufgegangenen Zeit „eher den Blick für die neuere Verfassungsentwicklung verstellen“ könnte (ebd., viii). 58 So etwa Karl Otmar Frhr. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776 – 1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., Wiesbaden: Steiner, 1967; ders., Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980. Bei Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, München – Wien: Oldenbourg, 1981, 60, heißt es zwar – nicht ganz zutreffend: „Auf der rechten Seite des Oberrheins wurden Verfassungspläne für eine süddeutsche Republik ausgearbeitet“, doch damit ist das Thema auch bereits wieder erschöpft. Vgl. auch die beiden Texteditionen von Hanns Hubert Hofmann (Hrg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1495 – 1806, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, und dass. in der NBearb. v. Heinz Duchhardt, ebd., 1983. 59 Vgl. dazu u. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert“, in: Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, hrg. v. Werner Conze, Stuttgart: Klett, 1967, bes. 70 – 73; ferner meine Aufsätze „La Révolution française et l’historiographie allemande, XIXème et XXème siècles“, in: Michel Vovelle (Hrg.), L’Image de la Révolution française, 4 Bde., Paris – Oxford: Pergamon, 1989 – 90, II, 1249 – 1259; „Universalismus gegen ,nationale Beschränktheit’: Französische Revolution und deutsches Geschichtsverständnis im 19. und 20. Jahrhundert“, in:

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dem linken Rand des politischen Spektrums unverändert ihre Nachwirkungen zeigt.60 Sie hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und ihren Rückwirkungen auf Deutschland viel zu lange erheblich erschwert, ja vielfach geradezu unmöglich gemacht. Obwohl in allgemeiner Hinsicht Heinrich Scheel das Verdienst gebührt, das Tor zur Erforschung dieser Problematik weit aufgestoßen zu haben,61 bleibt dennoch dieser Zeitraum in den einschlägigen Untersuchungen zur deutschen Verfassungsgeschichte bis heute unverändert ausgeklammert.62 Ein weiterer Grund mag schließlich im derzeitigen Stand der Disziplin der Verfassungsgeschichte liegen, die bislang in der Regel noch nicht wieder an ihre großen wissenschaftlichen Leistungen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre angeknüpft hat und einer vergleichenden Betrachtung mitunter zu wenig Beachtung schenkt sowie in ihrem methodischen Zugriff vielfach zu verengt vorgeht.63 Lendemains, 55/56 (1989), 157 – 168; „1871 v. 1789: German Historians and the Ideological Foundations of the Deutsche Reich“, in: History of European Ideas, 15 (1992), 829 – 837. 60 Vgl. dazu etwa die aufschlussreichen Betrachtungen von Gordon A. Craig, The Germans, New York: Putnam, 1982, Ndr. Harmondsworth: Penguin, 1984, 299 – 300. 61 Insbesondere durch seine wegweisende Monographie: Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin: Akademie-Verlag, 1962, sowie durch den ergänzenden Band: Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden Ende des 18. Jahrhunderts, eingel. u. hrg. v. Heinrich Scheel, Berlin: Akademie-Verlag, 1965. 62 Ausnahmen bilden u. a. Scheel, Süddeutsche Jakobiner, 486 – 495 (Analyse der Republikanischen Verfassungsurkunde); Claus Träger (Hrg.), Mainz zwischen rot und schwarz. Die Mainzer Revolution 1792 – 1793 in Schriften, Reden und Briefen, Berlin: Rütten & Loening, 1963, 205 – 209 (Teilabdruck der Constitutions-Vorschläge des Handelsstandes zu Mainz); Scheel (Hrg.), Jakobinische Flugschriften, 107 – 122, 130 – 182 (Abdruck der Texte von Rendler und der Republikanischen Verfassungsurkunde); Walter Grab, Leben und Werke norddeutscher Jakobiner, Stuttgart: Metzler, 1973, 29 (Kurzanalyse der Republikanischen Verfassungsurkunde); Jörn Garber (Hrg.), Revolutionäre Vernunft. Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionsrezeption in Deutschland 1789 – 1810, Kronberg/Ts.: Scriptor, 1974, bes. 25 – 66 (Texte zu den Bereichen „Menschenrechte“ und „Widerstandsrecht“, jedoch keine Verfassungstexte im engeren Sinn); Axel Kuhn, Jakobiner im Rheinland. Der Kölner konstitutionelle Zirkel von 1798, Stuttgart: Klett, 1976, 125 – 129, 187 (Analyse des Projekts von Sommer); Franz Dumont, Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz, Alzey: Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte, 1982, 219 – 223 (Analyse der Mainzer Vorschläge); Grab, Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner, Frankfurt/M. – Wien: Büchergilde Gutenberg, 1984, 62 (Kurzanalyse der Republikanischen Verfassungsurkunde); Scheel, Die Mainzer Republik, III: Die erste bürgerlich-demokratische Republik auf deutschem Boden, Berlin: Akademie-Verlag, 1989, 98 – 99 (Analyse der Mainzer Vorschläge). Als einen ersten Versuch einer Würdigung des Gesamtcorpus (ohne die Mainzer Vorschläge) vgl. meinen Beitrag „Die Französische Revolution und die ersten deutschen Verfassungsprojekte“, in: „Sie, und nicht Wir“: Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland und das Reich, hrg. v. Arno Herzig u. a., 2 Bde., Hamburg: Dölling und Galitz, 1989, II, 671 – 690. 63 Vgl. dazu etwa die anregenden Gedanken von Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte, Düsseldorf; Droste, 1984, der allerdings weder Verfassungsdenken als diskursiven Prozess begreift, noch dem

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Sicherlich ließen sich weitere Gründe für unsere mangelnde Kenntnis über die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert anführen, und sie alle tragen dazu bei, dass heute nur noch wenigen Kennern bewusst ist, dass der Beginn der liberaldemokratischen Verfassungstradition in Deutschland nicht 1848/49 zu suchen, sondern tatsächlich bereits ein halbes Jahrhundert früher anzusetzen ist und in die 1790er Jahre fällt. Die Ursachen für diese Vordatierung liegen auf der Hand und sind in der Entwicklung und den Diskussionen in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert begründet. Fragen von Naturrecht und Verfassung, von Freiheit und Gleichheit, von Menschenrechten, Demokratie und Republik waren Themen der gemeineuropäischen Aufklärung, und ihre diskursive Entfaltung war nicht auf ein Land oder eine Gruppe von Ländern beschränkt. Wohl mochte Breite und Intensität dieser Auseinandersetzung von Land zu Land verschieden sein. Doch in Deutschland wie in Frankreich und anderen europäischen Ländern standen diese Themen spätestens seit der angespannt verfolgten amerikanischen Revolution auf der politischen Tagesordnung. Die Zeitungen berichteten täglich über dieses Ereignis, die Zeitschriften waren voll davon, und es erschienen hunderte von Büchern, einschließlich Übersetzungen der amerikanischen Verfassungstexte, so dass sich dem interessierten Zeitgenossen in Deutschland hinreichende Möglichkeiten boten, die Diskussionen über die neuartigen Grundlagen staatlicher Ordnung, politischer Legitimität und bürgerlicher Rechte zu verfolgen.64 Dennoch blieben Unterschiede bestehen, und die Beschäftigung mit den Problemen von Freiheit, Menschenrechten, Verfassung und Republik erreichten in Deutschland in den späten 1770er und in den 1780er Jahren nicht jene Tiefe wie in Frankreich, wo angesichts der wachsenden politischen Krise des Systems die Auseinandersetzung mit Fragen politischer Ordnung und der Legitimation von Herrschaft ungleich drängender erschienen als östlich des Rheins. Breiteres Interesse an und Verständnis für Verfassungsfragen rief hier erst die Französische Revolution hervor, die zumindest einer interessierten Öffentlichkeit in Deutschland deutlich zu machen wusste, dass sie Fragen behandelte und zu beantworten suchte, deren unmittelbare Bedeutung für das eigene Leben unabweisbar war.65 komparatistischen Aspekt, auch im Sinne der realen Alternativen, hinreichende Beachtung schenkt. 64 Zu diesem und dem folgenden vgl. mein Germany and the American Revolution, 1770 – 1800. A Sociohistorical Investigation of Late Eighteenth-Century Political Thinking, Wiesbaden: Steiner, 1978, bes. 19 – 45, 131 – 180, 279 – 306; als Nachweis für publizierte Schriften, Übersetzungen u. a. ders., Americana Germanica 1770 – 1800. Bibliographie deutscher Amerikaliteratur, Stuttgart: Metzler, 1976; vgl. auch Helmut Steinberger, „American Constitutionalism and German Constitutional Development“, in: Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution abroad, hrg. v. Louis Henkin u. Albert J. Rosenthal, New York: Columbia University Press, 1990, 199 – 200. 65 Eine der besten Quellen in Deutschland für die französischen Verfassungstexte war das von Albrecht Wittenberg herausgegebene Historisch-politische Magazin, vgl. X (1791), 172 – 214, 329 – 356 [Verfassung von 1791]; XIII (1793), 287 – 306, 352 – 378, 484 – 521 [Rede

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Konkreter Ausgangspunkt dieser Verfassungsdiskussionen war die bereits in der amerikanischen Revolution praktizierte und nunmehr von Sieyès theoretisierte Vorstellung vom pouvoir constituant des Volkes. Von kaum einer zweiten Losung der Französischen Revolution ist in der Folge eine größere revolutionäre Wirkung ausgegangen, und sie hat dem Begriff der Verfassung in Europa einen neuen, revolutionären Sinn gegeben, der in seinem Kern bis heute erhalten geblieben ist und den Thomas Jefferson 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in die pathetischen Worte gekleidet hatte: „Wann immer eine Staatsform sich anschickt, diese Ziele zu zerstören [nämlich die Rechte und Freiheiten eines Volkes], ist es das Recht des Volkes, sie zu verändern oder abzuschaffen und eine neue staatliche Ordnung einzusetzen, deren Grundlagen auf solchen Prinzipien beruhen und deren Macht in der Weise geregelt ist, wie es ihm zur Bewirkung seiner Sicherheit und seines Glücks am angemessensten erscheint.“66

Während Jefferson dies formulierte und der amerikanische Kongress es einer „wohlmeinenden Welt“ verkündete, herrschte in Europa immer noch jener traditionelle Verfassungsbegriff vor, wie er in den zurückliegenden Jahrzehnten von so unangefochtenen Autoritäten wie Montesquieu oder der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert erneut bekräftigt worden war. Gemäß dieser tradierten Überzeugung hatte Verfassung im staatlichen Bereich eine ausschließlich historisch-legitimatorische Funktion als die Summe der allgemeinen Gesetze, die der Verwaltung eines Reiches als Regeln dienten, und als der allgemeine, historisch gewachsene Zustand einer vorgegebenen politischen Ordnung verstanden wurden.67 Genau aus diesem Condorcets in der Nationalversammlung vom 15./16. Febr. 1793 zur Vorstellung des girondistischen Verfassungsprojekts und Erklärung der Menschenrechte aus dem girondistischen Verfassungsprojekt], 521 – 525, 648 – 668 [jakobinische Verfassung]; XVIII (1795), 59 – 91, 113 – 170, 244 – 306 [Rede Boissy d’Anglas’ im Konvent vom 5. Messidor des Jahres III (23. Juni 1795) und Verfassung des Jahres III]. August Ludwig von Schlözer verdankte seine Kenntnisse der französischen Konstitutionen und der Verfassungsdiskussion in der Revolution weitgehend Wittenberg, vgl. Schlözers Exemplar der Constitution de la République française, o. O. 1795, in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen [88 H. Gall. un. IV, 1252] mit seinen entsprechenden handschriftlichen Vermerken. 66 Henry Steele Commager (Hrg.), Documents of American History, 2 Bde., New York: Appleton-Century-Crofts, 71963, I, 100. Zum Wandel des Verfassungsbegriffes in England und in Amerika, insbesondere zur Zeit der amerikanischen Revolution, vgl. Dieter Grimm, „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, in: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt am Main, 22. bis 26. September 1986, hrg. v. Dieter Simon (Ius Commune, Sonderheft 30), Frankfurt/M.: Klostermann, 1987, 45 – 76; Gerald Stourzh, „Constitution: Changing Meanings of the Term from the Early Seventeenth to the Late Eighteenth Century“, in: Conceptual Change and the Constitution, hrg. v. Terence Ball u. J. G. A. Pocock, Lawrence, Ks.: University of Kansas Press, 1988, 35 – 54. Allgemeiner: ErnstWolfgang Böckenförde, „Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung“, in: Festschrift für Rudolf Gmür zum 70. Geburtstag 28. Juli 1983, hrg. v. Arno Buschmann u. a., Bielefeld: Gieseking, 1983, 7 – 19. 67 Vgl. Montesquieu, De l’Esprit des lois (1748), XI, 5 – 6, in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Roger Caillois, 2 Bde., Paris: Gallimard, 1949 – 1951, II, 396 – 407; Art. „Constitution“, in:

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traditionellen Verständnis von Verfassung heraus hatte Edmund Burke dann sein Verdammungsurteil gegen die Französische Revolution geschleudert, da sie die Verfassung als die kostbare Summe des „unveräußerlichen Erbes (entailed inheritance)“ zerschlagen habe und statt dessen den wahnwitzigen Plan verfolge, eine völlig neue Verfassung künstlich erschaffen zu wollen. „Narren brausen herein, wo Engel nur zitternd herannahn“, lautete sein vernichtender, von Alexander Pope entliehener Aphorismus.68 Damit waren die Positionen markiert, und die Verteidiger der bestehenden Ordnung lehnten die revolutionäre Umdeutung des Verfassungsbegriffes ebenso kategorisch ab wie die umstürzlerische Vorstellung von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Doch der Diskurs um Verfassung und Legitimation von Herrschaft war damit voll entbrannt und wurde durch die konstitutionellen Wegmarken der Französischen Revolution, darunter die Menschenrechtserklärung von 1789 und die Verfassungen von 1791, 1793 und 1795, mit zusätzlichem Inhalt gefüllt. Immer deutlicher erwies sich mit ihnen Verfassung als innovatorischer Kodex zur Organisation, Begrenzung und Verteilung von Macht im Staat auf verschiedene, voneinander getrennte Institutionen, die ihre Legitimation allein aus dem Volk und seiner Souveränität ableiten. Der berühmte Art. 16 der Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 brachte dieses neue, revolutionäre Verständnis von Verfassung zum Ausdruck: „Jede Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“69 Angesichts der unterschiedlichen Voraussetzungen fand der moderne Konstitutionalismus mit diesem neuartigen Verfassungsverständnis in Deutschland nicht sogleich offene Ohren, geschweige denn Versuche der Nachahmung. Trotz vielfachem, zumal anfänglichem Enthusiasmus für die Französische Revolution waren damit recht bald die Grenzen erreicht, die erst durch eine revolutionäre Situation im eigenen Land hätten überschritten werden können, zumal der traditionelle Verfassungsbegriff nach Überzeugung vieler Zeitgenossen den eigenen realen Bedingungen weit mehr entsprach. Die voraufgegangene amerikanische Revolution hatte ungeachtet aller Begeisterung und mancher Übersetzungen gerade auf dem Gebiet des entstehenden modernen Konstitutionalismus keine Denkanstöße zu geben vermocht. Ebenso wenig

Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hrg. v. Denis Diderot u. Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, 35 Bde., Paris: Briasson, 1751 – 1780, IV, 62 – 63. 68 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), hrg. v. Connor Cruise O’Brien, Harmondsworth: Penguin, 1969, 119, 134. Wiedergegeben nach der deutschen Übersetzung von Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, a. d. Engl. übertr. v. Friedrich Gentz, hrg. v. Ulrich Frank-Planitz, Zürich: Manesse, 1987, 106. 69 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 30; vgl. auch Michel Troper in: Etat de la France pendant la Révolution, hrg. v. Michel Vovelle, Paris: Éd. La Découverte, 1988, 183 – 184.

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waren die Rechtskodifikationen in Preußen und Österreich,70 die rechtlich und politisch andere Maßnahmen darstellten und wesentlich dem aufklärerischen Streben nach Justizreform entsprangen, von den Zeitgenossen in der Regel in einem Zusammenhang mit dem modernen Konstitutionalismus gesehen worden.71 Doch selbst die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 – die erste geschriebene Verfassung in Europa – fand in diesem Kontext in Deutschland zwar eine vielfach freundliche Aufnahme, doch letztlich nur eine flüchtige Würdigung.72 Da schließlich auch die französische Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 angesichts der Fremdartigkeit ihrer konkreten Materie in Deutschland im Strudel der Revolutionsereignisse weitgehend untergegangen war oder doch zumindest ohne konkrete Auswirkungen auf das Verfassungsdenken blieb, begann der Verfassungsdiskurs über die Französische Revolution und ihre Auswirkungen hier erst mit der Veröffentlichung der ersten französischen Revolutionsverfassung vom 3. September 1791. Es ist bezeichnend, dass in einer der ersten signifikanten Stellungnahmen Wilhelm von Humboldt Ende 1791 in einem Brief an Friedrich Gentz, der im Januar 1792 in der Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht wurde, die Frage aufwarf – obwohl es seit fünfzehn Jahren Verfassungen des modernen Konstitutionalismus gab und über sie nicht allein in Frankreich seither intensiv diskutiert wurde –, ob es überhaupt möglich sei, eine Staatsverfassung – er begriff sie immer noch weitgehend in traditionellen Kategorien – „nach dem Plane der bloßen Vernunft“ zu konzipieren. Nach seiner Überzeugung widersprach dieser Versuch eindeutig der menschlichen Natur und jeder geschichtlichen Erfahrung.73

70 Über Zusammenhänge mit und Auswirkungen der Französischen Revolution auf beide Kodifikationen vgl. auch Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 50 – 53. 71 Verfassungscharakter haben ihnen insbes. Hermann Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, Köln – Opladen: Westdeutscher Verlag, 1961, 47; ders., Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, Berlin: de Gruyter, 1965, 3, 14, 20 u. ö. und – wenn auch mit Einschränkungen – Günter Birtsch, „Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794“, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder zum 60. Geburtstag, hrg. v. Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mommsen, München – Wien: Oldenbourg, 1968, 97 – 115, zugesprochen. Dagegen überzeugend Grimm, „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, 51 – 52. 72 Vgl. jedoch die Übersetzung in Albrecht Wittenbergs Historisch-politischem Magazin, IX ([Juni] 1791), 668 – 689; mit geringfügigen Abweichungen erneut in August Ludwig Schlözers Stats-Anzeigen, XVI, H. 63 (August 1791), 328 – 349. Vgl. Hermann Vahle, „Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 im zeitgenössischen deutschen Urteil“, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, 19 (1971), 347 – 370; Georg-Christoph von Unruh, „Die polnische Konstitution vom 3. Mai 1791 im Rahmen der Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten“, in: Der Staat, 13 (1974), bes. 185 – 186, 204 – 206. 73 Wilhelm von Humboldt, „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt“ [1792], in: Die Französische Revolution in Deutschland. Zeitgenössische Texte deutscher Autoren, hrg. v. Friedrich Eberle u. Theo Stammen, Stuttgart: Reclam, 1989, 327, vgl. den ganzen Text, ebd., 323 – 332.

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Die folgenden Monate brachten mit wachsender Klarheit über den modernen Verfassungsbegriff und den Sinn und Zweck einer modernen Verfassung auch eine zunehmend sich verschärfende Polarisierung zwischen Anhängern und Gegnern, wobei die Anhänger zwar ihr Publikum fanden, dieses sich jedoch angesichts der erdrückenden staatlichen Übermacht mit Sympathiekundgebungen außerordentlich zurückhielt.74 Dennoch antwortete Johann Benjamin Erhard öffentlich den konservativen Gegnern des modernen Verfassungsbegriffs und machte dabei zugleich in aller Schärfe die konträren Ausgangspositionen deutlich: „Eine Verkehrtheit der Begriffe ist es die Aufklärung oder den freyen Gebrauch der Vernunft, vor der Staatsverfassung zu rechtfertigen, denn diese muß sich vor der Vernunft rechtfertigen. Man kann nicht fragen: verträgt sich Weisheit und Tugend mit der Staatsverfassung? sondern: verträgt sich die Staatsverfassung mit Weisheit und Tugend? nicht: ist Aufklärung dem Staate nützlich? sondern: schadet die Staatsverfassung der Aufklärung nicht?“75

Er begründete diese Überzeugung mit den Menschenrechten und der Souveränität des Volkes und fand damit zu der bemerkenswerten Einsicht in die Ziele einer Verfassung: „Die Staatsverfassung soll nicht Glückseeligkeit, sondern Gerechtigkeit hervorbringen.“ Denn die Würde des Menschen beruhe auf der Achtung von Recht und Gesetz auf der Grundlage der allgemeingültigen Menschenrechte und nicht auf dem neidvollen Schielen nach materiellen Glücksgütern.76 Mit dieser Verankerung von Ursprung und Ziel der Verfassungen des modernen Konstitutionalismus auf dem universalen Gerechtigkeitsprinzip hatte Erhard eine scharfe Trennungslinie zur Aufklärung und dem aufgeklärten Absolutismus einerseits wie zu St-Just und den Jakobinern andererseits gezogen, indem er sich sowohl von jenen abgrenzte, die glaubten, bei allfälligen partiellen Reformen die bestehende Ordnung letztlich aufrechterhalten zu können,77 als auch von jenen, die bereit waren, die Menschen notfalls selbst gegen ihren Willen glücklich zu machen.78

74 Selbst Georg Forster gestand im Herbst 1792 in privaten Briefen ein, schon immer ein Anhänger der Freiheit gewesen zu sein, diese Überzeugung früher „freilich des Despotismus wegen behutsam“ nur geäußert zu haben. Vgl. insbes. seinen Brief an Christian Friedrich Voß, 21. Nov. 1792, in: Georg Forster, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hrg. v. d. Akad. d. Wiss., XVII, Berlin: Akademie-Verlag, 1989, 248 – 254. 75 Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution, Jena – Leipzig: Gabler, 1795, 32. 76 Ebd., 192, vgl. auch ii, 1 – 64, 142 – 178. 77 In der weitergehenden Verfassungsdiskussion in Deutschland wurde diese Position vertreten von Karl von Dalberg, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, Erfurt: Keyser, 1795; Johann Georg Ludwig Brackebusch, Vorschläge zur Sicherung der izt bestehenden Landesverfassungen teutscher Reichsländer gegen innerliche Unruhen, Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1797, u. a. 78 Vgl. dazu etwa die Schriften St-Justs, insbes. seine Fragments d’Institutions républicaines, in: ders., Œuvres complètes, hrg. v. Michèle Duval, Paris: Lebovici, 1984, bes. 966 – 970.

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VI. Deutschland

Die von Erhard bezogene Position wurde nur von einer Minderheit geteilt. Eindeutig überwogen Skepsis und Ablehnung in der sich ausweitenden Verfassungsdiskussion der 1790er Jahre in Deutschland, die ihren Niederschlag bis in philosophische Dissertationen fand,79 wobei offensichtlich der moderne Verfassungsbegriff selbst weit weniger ausschlaggebend war als die traditionelle, aus der Antike abgeleitete Vorstellung von Demokratie und Volksherrschaft, die von vielen Zeitgenossen unverändert rasch mit Pöbelherrschaft gleichgesetzt wurde.80 Gerade der Wandel zur repräsentativen Demokratie und der modernen Repräsentationslehre wurde vielfach angesichts der fortdauernden traditionellen altständischen Repräsentationslehre nicht nachvollzogen.81 „Demokratie durch Repräsentanten war in allen alten Republiken ganz unbekannt und noch weniger kannten sie die neu erfundene Methode, Deputirten durch das Mittelding der Wahlherren zu ernennen. Ein solcher Stuffengang von Wählern ist selbst in England, Schweden und Pohlen nicht eingeführt […] Die französische Einrichtung höret auf Demokratie zu seyn, in dem Augenblicke da Repräsentanten gewählet sind. Sie steht in Widerspruch mit ihren eigenen theoretischen Prinzipien. Das Volk soll souverain seyn, und weiß nichts davon, wenn seine Deputirten Auflagen ausschreiben, Krieg erklären, Frieden schließen, seinen König guillotiniren lassen. Sie ist wahre Aristokratie, nur daß sie nicht erblich ist. Gleichwohl hat die Beredsamkeit der heutigen Volksverführer das Glück gehabt, eine ganze Nation durch dieses Hirngespinnst von Freyheit zu täuschen.“82

79

Vgl. Gustav Sjöborg, Dissertatio historico-politica de despotismo populi, Phil. Diss. Greifswald 1792 (dt. Übers. u. d. T.: Ueber Volksdespotismus. Ein Versuch, Leipzig: Heinsius, 1793); Christian Friedrich Eisenlohr, De ratione aestimandi libertatem et aequalitatem politicam, Phil. Diss. Tübingen 1794. 80 Vgl. dazu die Ausführungen von Reinhart Koselleck und Hans Maier in dem Art. „Demokratie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrg. v. Otto Brunner u. a., I, Stuttgart: Klett, 1972, bes. 847 – 861. 81 Vgl. dazu Rudolf Vierhaus, „Von der altständischen zur Repräsentativverfassung. Zum Problem institutioneller und personeller Kontinuität vom 18. und 19. Jahrhundert“, in: Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, hrg. v. Karl Bosl, Berlin: Duncker & Humblot, 1977, 177 – 194. Vgl. auch Hegel, der noch um 1802 in seiner Kritik an der Verfassung Deutschlands schrieb: „Die Repräsentation ist so tief in das Wesen der sich fortbildenden Lehensverfassung zusammen mit der Entstehung eines Bürgerstands verwebt, daß es die albernste Einbildung genannt werden kann, wenn sie für eine Erfindung der neuesten Zeiten gehalten worden ist“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hrg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, 20 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1971, I, 536). 82 [Christoph Friedrich Derschau,] Ueber Gleichheit, Freyheit und Demokratie, Aurich: Hermann Heinrich Tapper, 1799, 85 – 86. Vgl. auch [Schack Hermann Ewald,] Von dem Staate und den wesentlichen Rechten der höchsten Gewalt, Göttingen: Dieterich, 1794, bes. 49 – 54. Sjöborg sah zwar keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen Demokratie und Repräsentation, wohl aber die Gefahr, dass sich die Repräsentanten nicht an Recht und Gesetze halten und sprach dann von einem „Demokraten-Repräsentanten-Despotismus“, Sjöborg, Ueber Volksdespotismus, 30 – 34.

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Dagegen galt manchen die noch ganz traditionell begriffene Reichsverfassung nicht nur als weit besser als ihr Ruf, sondern auch als wahrer Garant gegen jede Revolution und für die Freiheit und Rechte des Bürgers. „Ihm bieten die Gesetze ihre Hülfe an, und die höchsten Gerichte des Reichs sprechen Recht, ohne Ansehen der Person. Bey diesen findet der teutsche Bürger Hülfe gegen allen Despotismus, gegen gesetzwidrige Urtheile, gegen Verweigerung oder Verzögerung der Iustiz, gegen ungerechte Gesetze, gegen verfassungswidrige Eingriffe in seine Freyheiten, gegen willkührliche Auflagen, gegen jeden Misbrauch der Regierungsrechte.“83

Die in diesen Formulierungen ausgedrückte Hochachtung vor dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat entsprach in der Endphase des Reiches zwar einer verbreiteten Einstellung,84 weit bemerkenswerter ist jedoch, dass ihr Autor, ein Göttinger Rechtsprofessor, trotz vermeintlicher Beharrung auf dem Bewährten sie mit dem durchaus modernen Gedanken der Verfassungswidrigkeit verband, gegen die angeblich diese Gerichte Abhilfe zu schaffen in der Lage waren. Diese geradezu revolutionäre Auffassung von einem richterlichen Überprüfungsrecht von Gesetzen, vormals zwar in England und in den letzten Jahren in Amerika vereinzelt diskutiert, war bislang weder in Amerika noch in Frankreich akzeptierter Grundsatz des modernen Konstitutionalismus.85 Indem Berg diesen Gedanken aufgriff und ein verfassungsmäßig garantiertes Richterrecht in Deutschland konstatierte, brachte er wie mit ihm etliche andere zum Ausdruck, wie stark das Verfassungsdenken in dieser Zeit selbst dort bereits in Bewegung geraten war, wo ihre Wortführer sich als Verteidiger der bestehenden Ordnung zu erkennen gaben. Kein Wunder, dass vielfach die Einsicht in die politischen Mechanismen langsam zu wachsen begann und zu zaghaften Hinweisen führte, ob es denn nicht vielleicht klüger sei, „durch weises Nachgeben zu rechter Zeit, oder vielmehr durch Aufopferung unbilliger und ungerechter Privilegien“ möglichen Revolutionen zuvorzukommen. Eine Verbindung der bestehenden Ordnung mit einer die Staatsgewalt 83 Günther Heinrich von Berg, Ueber Teutschlands Verfassung und die Erhaltung der öffentlichen Ruhe in Teutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1795, 61, vgl. auch 60, 63. 84 Vgl. dazu Ulrich Scheuner, „Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, hrg. v. Christian Starck, 2 Bde., Tübingen: Mohr, 1976, I, 13 – 14. 85 Vgl. allgemein dazu Gerald Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, Graz: Styria, 1974. Im 19. Jahrhundert gehörte Robert von Mohl zu den wenigen Befürwortern eines am amerikanischen Beispiel orientierten richterlichen Überprüfungsrechts, wie es in der württembergischen Verfassung von 1819 angelegt war (vgl. dazu unten Kap. VI. 7.) und in umfassender Weise erst durch das Grundgesetz der Bundesrepublik (Art. 93, 100) geregelt worden ist, vgl. dazu u. a. Scheuner, „Deutsche Staatsgerichtsbarkeit“, 39 – 41; Rainer Wahl – Frank Rottmann, „Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik – im Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar“, in: Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, hrg. v. Werner Conze u. M. Rainer Lepsius, Stuttgart: Klett-Cotta, 1983, bes. 349 – 359.

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einschränkenden Verfassung sei allerdings ein wesentlich probateres Mittel, Unmut erst gar nicht aufkommen zu lassen. „In eingeschränkten Staaten sind nicht nur die Fälle, wo Widerstand rechtmäßig ist, bestimmter, sondern die Widersetzung gegen den Souverän geschieht auch viel leichter, weil Stände da sind, welche einen Vereinigungspunkt ausmachen, und Grundgesetze, welche der Gewalt das Ziel bestimmen.“86 Wenn auch in diesen Gedanken über eine zeitgemäße „Konstitution“ der moderne Verfassungsbegriff noch keineswegs hinreichend entwickelt ist und der Ständestaatsgedanke unverändert neben einem wenig präzisem Widerstandsbegriff steht, wird doch das Prinzip staatlicher Rechtsbegrenzung durchaus aktuell gefasst und neu formuliert. In einer konsequenteren Weiterentwicklung dieser Auffassungen ergab sich daraus, verbunden mit den Aufgaben und Zielen staatlicher Gewalt, „erstens, daß die Regierung zum Wohle des Volkes nichts anders thun dürfe und thun könne, als die gesellschaftliche Ordnung, den rechtlichen Zustand, die Sicherheit, die Freyheit (wie Sie es nennen wollen, denn alle diese Wörter sind synonym) erhalten, d. h. die Rechte der Bürger gegen innere und äussere Gewaltthätigkeit beschirmen; zweytens, daß eine Nazion, die wahrhaft frey seyn will, nichts nothwendigeres und angelegentlicheres zu thun habe, als durch einen Hauptartikel der Constitution die Staatsgewalt ausdrücklich auf diesen Wirkungskreis zu beschränken“.

Damit sei zugleich sichergestellt, „daß eine solche negative Verfassung, einmal eingeführt, das Prinzip ihrer Fortdauer in sich selbst tragen und gegen jede erneuerte Anmaßung der Regierenden sich selbst beschützen würde“.87 In diesen Gedanken einer modernen, die Staatsgewalt zur Sicherung der Rechte und Freiheiten des Bürgers auf Dauer beschränkenden Verfassung88 ist jener Ausgangspunkt für die Erstellung von Verfassungen auf Grundlage der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus markiert, wie er in den 1770er Jahren in Amerika und vor Ausbruch der Französischen Revolution in Frankreich festgeschrieben und 1948 erneut von Carlo Schmidt während der Entstehung des Grundgesetzes beschworen wurde.89 Damit ist zugleich der Stellenwert der im Folgenden näher zu untersuchenden Verfassungstexte pauschal umrissen, die über diese in groben Linien skizzierte Diskursentwicklung hin zu einem modernen Verständnis von Verfassung deutlich hinausweisen und damit das erste Aufgreifen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Deutschland erkennen lassen, das sie von den bislang zitierten Texten abhebt. 86

[Ludwig Heinrich von Jakob,] Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams, Halle: Renger, 1794, 159. 87 [Theobald Wilhelm Broxtermann,] Demophilos an Eukrates: Ueber die Gränzen der Staatsgewalt und ein gewisses, in der Constitution vom Jahr 3 nicht enthaltenes Mittel, die Freyheit der Beherrschten gegen die Anmaßung der Beherrscher zu sichern, Germanien [Leipzig: Andrä,] 1799, 76 – 77. 88 Vgl. dazu u. a. auch die bei Garber (Hrg.), Revolutionäre Vernunft, bes. 25 – 66, abgedruckten Texte. 89 Vgl. dazu unten Kap. VI. 11.

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Bei der Bestimmung dieser Gruppe vorwärtsweisender Verfassungsprojekte der 1790er Jahre gemäß den durch die amerikanische wie Französische Revolution geprägten modernen Konstitutionalismus scheiden zwei frühe Beispiele an dieser Stelle aus, weil sie letztlich nicht von diesem innovatorischen, revolutionär begründeten Verfassungsverständnis ausgehen. Zum einen handelt es sich dabei um Christian Wilhelm von Dohms Entwurf einer verbesserten Constitution der Kaiserl. freyen Reichsstadt Aachen, der aus dem ganz anderen Zusammenhang der Aachener Unruhen von 1786 entstanden und daher von seinem Ausgangspunkt ohne jeden Bezug zur Französischen Revolution und dem modernen Konstitutionalismus ist. Dohm verfolgte denn auch keine revolutionär-innovatorischen Absichten, sondern wollte lediglich „dasjenige, was schon vor ihnen durch Umstände und Situation geschaffen war, besser geordnet, ihm mehr Bestimmtheit und Vollkommenheit gegeben“ sehen.90 Es fehlt daher nicht nur jeder revolutionäre Bezug in dem Entwurf, sondern auch die Prinzipien der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes oder der Menschenrechte. Stattdessen bleibt seine im Kern unverändert traditionell verstandene Verfassung im vorgegebenen Rahmen der Zunftordnung, wenngleich ihr aufgeklärter Autor eine Reihe bemerkenswerter reformerischer Gedanken einfließen ließ. Im zweiten Fall handelt es sich um das bekannte Verfassungsprojekt von Andreas Riedel von Mitte 1791, das an dieser Stelle ebenfalls unberücksichtigt bleiben kann, nicht nur weil es hinreichend publiziert und analysiert ist,91 sondern insbesondere weil es nicht das Ergebnis bürgerlichem Emanzipationsstrebens, sondern das des leopoldinischen Hofes ist. Zwar hatte Leopold II. bereits als Großherzog in der Toskana Interesse an Verfassungsfragen bekundet, dessen Ergebnis das auch Riedel hinreichend bekannte toskanische Verfassungsprojekt von 1779/82 war.92 Aber obwohl sich Leopold als Kaiser nachweislich erneut für Verfassungsfragen interes-

90 Christian Wilhelm von Dohm, Entwurf einer verbesserten Constitution der Kaiserl. freyen Reichsstadt Aachen, Frankfurt und Leipzig: o. N., 1790, ix. 91 Die einschlägigen Schriftstücke befinden sich im Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Vertrauliche Akten 41, Nr. 19 und 20, fol. 382 – 437. Der „Versuch einer Ankündigung“ (fol. 399 – 408) und der „Entwurf einer Wahlordnung“ (fol. 409 – 437) sind vollständig abgedruckt bei Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 – 1815, München: Oldenbourg, 1951, 455 – 490, sowie bei Alfred Körner, Wiener Jakobiner, Stuttgart: Metzler, 1972, 19 – 30 (dort die „Wahlordnung“ allerdings nur in einem knappen Auszug). Für eine Analyse des Projektes vgl. u. a. Alfred Körner, Andreas Riedel. Ein politisches Schicksal im Zeitalter der Französischen Revolution, Phil. Diss. Köln 1969, bes. 45 – 74; ders., „Andreas Riedel (1748 – 1837). Zur Lebensgeschichte eines Wiener Demokraten“, in: Jakobiner in Mitteleuropa, hrg. v. Helmut Reinalter, Innsbruck: Inn-Verlag, 1977, 323 – 325; Helmut Reinalter, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte des Jakobinertums und der frühdemokratischen Bestrebungen in der Habsburgermonarchie, Wien u. a.: Böhlau, 1980, 385 – 390; Siegmund, Französische Einfluß, 69 – 72; Dippel, „Erste deutsche Verfassungsprojekte“, 673 – 676. 92 Vgl. dazu Joachim Zimmermann, Das Verfassungsprojekt des Großherzogs Peter Leopold von Toscana, Heidelberg: Winter, 1901, bes. 29 – 89.

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sierte,93 sind dank neuerer Forschungen ernst zu nehmende Zweifel an seiner tatsächlichen Reformfreudigkeit als Kaiser aufgetaucht,94 die die Folgenlosigkeit des Riedelschen Projektes erklären helfen. Wenngleich sich Riedel bezüglich der Ausarbeitung seines Projektes ausdrücklich auf Leopold berief,95 musste dieses damit letztlich als reines Sandkastenspiel zur – ergebnislosen – Beschäftigung durch die Revolution unruhig gewordener Geister in seiner engeren Umgebung erscheinen. Damit ergibt sich zugleich ein weiterer Umstand, durch den das Riedelsche Projekt aus dem Kreis der hier näher behandelten Verfassungsprojekte herausfällt: Es blieb ein internes Papier, das über den engen Kreis der am Wiener Hof damit Befassten nie publik und der Forschung erst nach Ende der Habsburger Monarchie bekannt wurde, als die streng geheimen „Vertraulichen Akten“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Einen besonderen Stellenwert innerhalb des deutschen Verfassungsdenkens kommt diesem Projekt schließlich auch deshalb nicht zu, weil es inhaltlich weitgehend dem Staatsdenken des aufgeklärten Absolutismus verhaftet blieb und Ausdruck eines Reformstrebens als Revolution von oben war, woran auch die Rekurse in Art. 22 und 25 der „Ankündigung“ auf eine Mitwirkung des Volkes an Gesetzgebung und Regierung nichts Grundlegendes ändern.96 Wenn wir hingegen feststellen wollen, wann und in welcher Weise der von Amerika ausgehende und durch die Französische Revolution potenzierte moderne Konstitutionalismus auf der Grundlage der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes auf Deutschland übergegriffen und zu welchen Ergebnissen er hier in den 1790er Jahren geführt hat, wird sich die Betrachtung auf sechs private Projekte aus den Jahren 1792 bis 1799 konzentrieren: Constitutions-Vorschläge des Handelsstandes zu Mainz beantwortet von K. Boost, Mainz 1792; Joseph Rendler, Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen, zur Gründung des bürgerlichen Glücksstandes, o. O. u. J. [1793/4 (?)]; Christian Sommer, Konstitution für die Stadt Köln, Köln 1797; Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, AltonaWien 1797; Teutschlands neue Konstituzion, hrg. v. Erdmann Weber, FrankfurtLeipzig 1797, und Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, wie sie in Deutschland taugen möchte, Basel 1799.97 93 Adam Wandruszka, Leopold II., Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toscana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, 2 Bde., Wien – München: Herold-Verlag, 1963 – 65, II, 373 – 374. 94 Vgl. dazu jetzt Gerda Lettner, Das Rückzugsgefecht der Aufklärung in Wien 1790 – 1792, Frankfurt – New York: Campus-Verlag, 1988, vor allem 35 – 116. 95 HHStA Wien, Vertrauliche Akten 41, Nr. 20, fol. 389. 96 Körner, Wiener Jakobiner, 22 – 23. 97 Der Freistaat unter jedem Himmelsstrich oder die Constitution des Menschengeschlechts, Berlin: Maurer, 1795, Ndr. Kronberg/Ts.: Scriptor-Verlag, 1977 wurde nicht nur wegen seines erheblichen Umfangs (über 250 S.) und des vorhandenen modernen Nachdrucks hier nicht berücksichtigt, sondern insbesondere, weil es sich letztlich um eine philosophische Abhandlung statt um konkrete Verfassungsbestimmungen handelt. Der Autor fühlt sich einem aufgeklärten Absolutismus à la Leopold verbunden und seine Ausführungen erinnern partiell an

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Gemeinsam ist diesen sechs Texten, dass sie auf die von der Französischen Revolution ausgehende Herausforderung mit ihrem modernen Verfassungsbegriff und ihrer Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes reagieren und damit die Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus, wenn auch in inhaltlich unterschiedlicher Weise auf Deutschland oder einen enger begrenzten Raum zu übertragen versuchen, um das bestehende System revolutionär neu zu gestalten. Wenn in diesem Zusammenhang der Begriff „jakobinische Verfassungen“ bewusst vermieden wird, dann, weil er als wissenschaftliches Kriterium unbrauchbar ist. In der Französischen Revolution ist allein eine der insgesamt vier Revolutionsverfassungen die jakobinische Verfassung, nämlich jene vom 24. Juni 1793, während von den sechs deutschen Projekten keines unmittelbar an diese anknüpft und damit weder nach Inhalt noch nach Autor als „jakobinisch“, d. h. radikaldemokratisch einzustufen ist.98 Angesichts dieses Fehlens bedeutungsträchtiger Parallelen bliebe mithin eine Bezeichnung der deutschen Verfassungsprojekte als „jakobinische Verfassungen“ inhaltsleer und wäre bestenfalls geeignet, falsche Assoziationen bezüglich ihrer Aussagen und Zielsetzungen hervorzurufen. Hingegen verdienen diese sechs Texte, mit denen möglicherweise nicht einmal alle in den 1790er Jahren konzipierten Verfassungsprojekte in Deutschland erfasst sind, gemeinsam betrachtet und als Corpus behandelt zu werden, da sie wesentliche Grundelemente des modernen Konstitutionalismus enthalten, die auch heute noch als verbindlich gelten und durch die sie sich von voraufgegangenen politischen Ordnungsmodellen unterscheiden. Für ihre Berücksichtigung an dieser Stelle spielt hingegen keine Rolle, ob es sich dabei um durchkonstruierte und ausformulierte Verfassungsentwürfe handelt – was bei drei Texten der Fall ist – oder ob, wie bei den drei verbleibenden Texten, lediglich die Grundprinzipien im Rahmen einer erläuternden Darlegung zum Ausdruck gebracht sind. Trotz ihrer revolutionären Thematik sind alle sechs Texte als zeitgenössische Drucke erschienen, jedoch nur im direkten Einzugsbereich der Französischen Revolution, also in Mainz, dem Elsass und Köln, unter Nennung des Autors. Die verbleibenden drei Texte sind anonym und teilweise mit fingiertem Druckort veröffentlicht worden. Über die unmittelbaren Anlässe ihrer Entstehung wissen wir, soweit nicht aus äußeren historischen Vorgängen ersichtlich – wie etwa die Abden Grundtenor des Riedelschen Projektes. Entsprechend vage bleibt daher auch sein Verfassungsbegriff, und die eindeutige Ablehnung jeder Form von Volkssouveränität (S. 120) macht deutlich, dass die Schrift nicht dem Kreis des entstehenden modernen Konstitutionalismus zuzurechnen ist. 98 Lediglich der von Rendler verfasste Text lässt in Bezug auf die Suprematie der Legislative Anklänge an die jakobinische Verfassung erkennen, die die Vermutung nahelegen, dass sein Text erst 1793/94 entstanden ist – er tauchte zudem im September/Oktober 1794 erstmals auf – und nicht bereits 1792, wie Scheel, Jakobinische Flugschriften, 14, und nach ihm Helmut Reinalter, „Der Jakobinerpriester Joseph Rendler. Versuch einer Biographie“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 82 (1974), 400, vermuten. In seinen übrigen Teilen ist der Rendlersche Text jedoch keineswegs als „jakobinisch“ oder radikaldemokratisch einzustufen.

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trennung von Mainz und Köln vom Reich aufgrund der Anwesenheit französischer Truppen und die sich daraus ergebenden Fragen nach einer verfassungsrechtlichen Neuordnung – ebenso wenig wie über einige ihre Autoren. So wurden die Constitutions-Vorschläge des Mainzer Handelsstandes in mehreren Sitzungen der Kaufmannschaft vom 27. Oktober bis 6. November 1792 formuliert und mit 81 von insgesamt 97 Stimmen angenommen – dreizehn plädierten für eine direkte Übernahme der französischen Verfassung von 1791 – und von ihrem Vorsteher Daniel Dumont öffentlich vorgetragen.99 Joseph Rendler stammte aus Blumegg im Amt St. Blasien im südlichen Schwarzwald, wo er bis 1785 als weltlicher Priester tätig war. Als radikaler Josephiner 1790 aus Österreich ausgewiesen, ging er ins Oberelsass und betätigte sich erneut als Priester. Zwischen 1792 und 1795 trat er u. a. von der Gegend um Schaffhausen aus in Bregenz und in Bayern für die Revolution ein, um dann angesichts der Verfolgungen ins Elsass zurückzukehren, wo er erneut als Priester tätig war und nach 1816 verstorben sein dürfte.100 Christian Sommer schließlich war Advokat und in den 1790er Jahren in Köln einige Zeit lang Sekretär von Rethel sowie in der Cisrhenanenbewegung aktiv. Als eifriger Publizist geriet er auch nach 1798 immer wieder in Konflikt mit den Behörden, so dass er einmal vorübergehend verhaftet und seine Schriften verboten wurden. Nach 1815 zog er sich in seine engere Heimat bei Jülich zurück und lebte dort, völlig in Vergessenheit geraten, noch zwei Jahrzehnte.101 Was die anonymen Schriften angeht, so werden die Grundlinien dem Adjunkten der philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg und nachmaligen Professor und Rektor der Universität Leipzig sowie sächsischem Landtagsabgeordneten, Wilhelm Traugott Krug, zugeschrieben.102 Praktisch nichts ist dagegen über Erd99

Vgl. dazu und zur Rolle Dumonts u. a. Justus Hashagen, Das Rheinland und die französische Herrschaft. Beiträge zur Charakteristik ihres Gegensatzes, Bonn: Hanstein, 1908, 385 – 392; Adam Jäger, Daniel Dumont. Ein Beitrag zur Geschichte des mittelrheinischen Liberalismus, Phil. Diss. Frankfurt 1920; Dumont, Mainzer Republik, 219 – 222; Scheel, Die Mainzer Republik, III, 98 – 99 (dort auch die einschlägigen Hinweise auf die beiden vorausgegangenen und von Scheel herausgegebenen Dokumentenbände zur Mainzer Republik). 100 Zu Rendler vgl. Arthur Allgeier, „Joseph Rendler, ein schwankender Priester aus der letzten Zeit von St. Blasien“, in: Freiburger Diözesan-Archiv, 3. Folge, 2 (1950), 5 – 20, 259; Scheel, Süddeutsche Jakobiner, 91 – 92; ders., Jakobinische Flugschriften, 15 – 16; Reinalter, „Joseph Rendler“, 377 – 402. 101 Vgl. Joseph Hansen (Hrg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes, 4 Bde., Bonn: Hanstein, 1931 – 1938, III, 539 – 541, IV, 358 – 362; Günter Bers – Waltraut Trilsbach, „Der Kölner Demokrat Christian Sommer (1767 – 1835)“, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins, 45 (1974), 63 – 108; Kuhn, Jakobiner im Rheinland, 122 – 129; ferner Franz Theodor Biergans über Christian Sommer (1800), in: Axel Kuhn, Linksrheinische deutsche Jakobiner. Aufrufe, Reden, Protokolle, Briefe und Schriften 1794 – 1801, Stuttgart: Metzler, 1978, 305 – 306. 102 Walter Grab, Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein zur Zeit der Ersten Französischen Republik, Hamburg: Christians, 1966, 168, behauptet, dass Krug der Autor ist; vgl. auch Deutschland und die Französische Revolution 1789 – 1806, hrg. v. Theo Stammen u. Friedrich Eberle, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988, 393, 547.

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mann Weber bekannt, und vieles spricht dafür, dass es sich bei dem Namen um ein Pseudonym handelt, was wiederum die Vermutung bestärken dürfte, dass sich hinter dem fingierten Herausgebernamen ebenfalls der tatsächliche Autor des Textes verbirgt.103 Bedauerlicherweise ist die Autorschaft der Republikanischen Verfassungsurkunde nach wie vor ungeklärt. Gewisse Indizien scheinen darauf hinzudeuten, dass der Autor aus Württemberg stammte, doch gab es ebenso Stimmen, die ins Badische bzw. Mainzische verweisen.104 Diese sechs, insgesamt sehr unterschiedlichen Verfassungsprojekte stellen gemeinsam das herausragendste Zeugnis der sich entfachenden und vertiefenden Verfassungsdiskussion um die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Deutschland in den 1790er Jahren dar. Auch wenn es sich im Einzelfall dabei primär um den Ausdruck revolutionärer Propaganda handeln mag, überwiegt eindeutig der Wunsch nach Veränderung. Obgleich sich dieser zunächst nur individuell zu artikulieren vermochte, erreichte er über die Publikation die Öffentlichkeit und bezog auf diese Weise einen erheblich größeren Kreis zumindest indirekt in den um sich greifenden Verfassungsdiskurs in Deutschland ein. Als Beleg für seine Breite und Intensität und die Art und Weise, wie diese Texte auf ihn eingewirkt haben, mag der Ferner Alfred Fiedler, Die staatswissenschaftlichen Anschauungen und die politisch-publizistische Tätigkeit des Nachkantianers Wilhelm Traugott Krug, Phil. Diss. Leipzig 1933, der sich jedoch zu den Grundlinien nicht äußert. 103 Bereits Valjavec, Entstehung der politischen Strömungen, 191, hat den Verdacht geäußert, dass Herausgeber und Autor in Wirklichkeit identisch sind. Da sich Weber als „Profess. der Philosophie V. Z. E.“ ausweist, jedoch der Name in keinem einschlägigen bio-bibliographischen Verzeichnis – außer im Zusammenhang mit dieser Schrift – auftaucht, dürfte es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um ein Pseudonym handeln, vgl. Deutscher biographischer Index, hrg. v. Willi Gorzny, IV, München: Saur, 1986, 2155. Die Angabe im Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV) 1700 – 1910, bearb. v. Hilmar Schmuck u. Willi Gorzny, CLIV, München: Saur, 1986, 198, dass das Buch in Nürnberg und Sulzbach erschienen sei, könnte die Vermutung nahelegen, dass der Autor/Herausgeber aus dem mittelfränkisch-oberpfälzischen Raum stammte und Professor in Erlangen war. Georg Wolfgang Augustin Fikenscher, Vollständige academische Gelehrten Geschichte der königlich preußischen FriedrichAlexanders Universität zu Erlangen von ihrer Stiftung bis auf gegenwärtige Zeit, 3 Tle., Nürnberg: o. N., 1806; Personalstand der Friedrich-Alexanders Universität Erlangen in ihrem ersten Jahrhundert, Erlangen: o. N., 1843; [Johann Georg Veit Engelhardt,] Die Universität Erlangen von 1743 bis 1843. Zum Jubiläum der Universität 1843, Erlangen: Barfus, 1843, geben allerdings keinerlei Hinweise zur Stützung dieser Vermutung. 104 Vgl. die Angaben bei Scheel, Süddeutsche Jakobiner, 486 – 499; sowie ders., Jakobinische Flugschriften, 21. In älteren Darstellungen, so z. B. bei Albrecht List, „Zur Geschichte der revolutionären Bewegung in Schwaben im Frühjahr 1799“, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, N.F. XXV (1916), 523 – 531, oder bei Erwin Hölzle, Das Alte Recht und die Revolution. Eine politische Geschichte Württembergs in der Revolutionszeit 1798 – 1805, München – Berlin: Oldenbourg, 1931, 206 – 274, ist zwar viel von republikanischrevolutionären Bestrebungen und einer verbreiteten Verfassungsdiskussion innerhalb wie außerhalb der Landschaft in dieser Zeit die Rede, doch die Republikanische Verfassungsurkunde findet sich nicht erwähnt. Vgl. auch Erwin Dittler, „Ernst Alexander Jägerschmid (1754 – 1833)“, in: Badische Heimat, 57 (1977), 117, der keinen Beleg für eine Autorschaft Jägerschmids zu finden vermochte.

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Tübinger Rechtsprofessor Johann Christian Majer gelten, der seine zweibändige Teutsche Staatskonstitution nicht zuletzt als Antwort auf den „in unserm Schwabenlande zum Vorschein“ gekommenen Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde verstanden sehen wollte.105 Die Entwicklung dieser Diskussion ist nicht allein an den unterschiedlichen Bezugspunkten der sechs Projekte ablesbar, indem die beiden frühen Texte zeitlich an die französische Verfassung von 1791 bzw. die Menschenrechtserklärung von 1789 anknüpften, während die vier Texte aus der zweiten Hälfte der neunziger Jahre durchweg die französische Verfassung des Jahres III (1795) zum Ausgangspunkt nahmen. Mit dieser Verschiebung ging auch der Umschwung von der Monarchie zur Republik einher, wenngleich sich der Mainzer Handelsstand selbst nach dem Sturz der französischen Monarchie mit seinen Vorschlägen vom November 1792 für die konstitutionelle Monarchie aussprach und damit den vehementen Protest der in der Mainzer „Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit“ zusammengeschlossenen Revolutionäre heraufbeschwor.106 Dieses Bekenntnis zur Republik, das der politischen und Verfassungsentwicklung Deutschlands um rund 120 Jahre vorauseilte, lässt sich nicht allein mit einer schlichten Adaption französischer Vorbilder erklären. In den Fällen von Mainz und Köln sowie bei Rendler mag ein derartiger Gesichtspunkt zwar naheliegend erscheinen – tatsächlich hat es auch hier eine deutliche Mischung von Übernahme und originärem Beitrag gegeben –, doch die übrigen Texte gehen mehr oder weniger direkt von der Vorstellung aus, dass durch die Friedensschlüsse von Basel und Campo Formio 1795 und 1797, mit denen der preußische König wie nach ihm der Kaiser auf die linksrheinischen Reichsgebiete u. a. mit ihren vier Kurfürstentümern zugunsten Frankreichs verzichtet hatten, die Reichsverfassung und damit das Hl. Römische Reich de facto zusammengebrochen war. Der unmittelbare Anlass ihrer Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Neuordnung Deutschlands war daher alles andere als revolutionär, und im Eintreten für eine Republik vermischten sich die Auffassung, dass die beiden führenden deutschen Monarchien selbst den Untergang der alten Verfassung herbeigeführt hatten, mit dem antimonarchischen Despotismusvorwurf und der Überzeugung, dass eine Republik „den angebohrnen Menschenrechten am angemessensten“ sei.107 105 Johann Christian Majer, Teutsche Staatskonstitution, 2 Bde., Hamburg: Bohn, 1800, I, 6. Weitere Beispiele für die erhebliche Resonanz des Projekts im Badischen und Württembergischen, Scheel, Süddeutsche Jakobiner, 496. 106 Vgl. die Antwort von Karl Boost auf die Constitutions-Vorschläge des Handelsstandes zu Mainz, Mainz: o. N., 1792, 10 – 16; ebenso Andreas Joseph Hofmann, Ueber Fürstenregiment und Landstände, bei Gelegenheit der Bittschrift des Mainzer-Handelsstands an den Frankengeneral Cüstine, gesprochen vor dem Volke den 16. und 18. November, Mainz: o. N., [1792]. 107 [Wilhelm Traugott Krug,] Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, Altona – Wien: o. N., 1797, 12. Der Autor von Teutschlands neue Konstituzion, Frankfurt – Leipzig: o. N., 1797, ließ die Frage der Staatsform offen, scheint jedoch eine Entwicklung in Richtung Republik für wahrscheinlich gehalten zu haben, vgl. ebd., 4, 66 u. ö.

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In anderen Punkten verlief der Zugriff auf die französischen Verfassungsbeispiele unmittelbarer, so bei der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und bei den Menschenrechten. Sieht man von den Mainzer und Kölner Vorschlägen ab – in den ersteren fehlt der Hinweis auf die Menschenrechte, im letzteren bezeichnenderweise die Übernahme der Artikel der Verfassung des Jahres III, die das Prinzip der Volkssouveränität zum Ausdruck brachten –, wurden jene beiden Grundgedanken als anerkanntes Fundament des modernen Konstitutionalismus wahrgenommen, das modernen Verfassungen erst ihre Legitimation verlieh.108 Ungeachtet des allgemeinen Aufgreifens dieses Prinzips unveräußerlicher Menschenrechte unterscheiden sich die verbleibenden fünf Texte in ihren inhaltlichen Bestimmungen erheblich voneinander. Am verbreitetsten dürfte noch die Auffassung gewesen sein, dass der Mensch neben Rechten auch Pflichten habe – der Gedanke war bereits in der Französischen Menschenrechtserklärung von 1789 angeklungen und dann erstmals in der Verfassung des Jahres III ausformuliert worden109 – sowie die Zustimmung zum Kanon der fundamentalen Menschenrechte der Verfassung des Jahres III: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum,110 obwohl eine derartig präzise Aufzählung in den deutschen Texten fehlt. So sind diese Grundrechte bei Rendler, abgesehen von dem breiteren Raum einnehmenden Gedanken der Rechtsgleichheit, nur eher implizit enthalten, während bei Sommer und dem von Weber edierten Text die Sicherheit fehlt. Bei Krug tauchen alle vier, wenn auch in eigener Reihung auf, wohingegen die Republikanische Verfassungsurkunde von 1799 keine formale Aufzählung kennt, aber inhaltlich teilweise erheblich über eine bloß intentionale Deklarierung hinausgeht. So findet sich in ihr ein verbrieftes Jagd- und Fischrecht, Gewerbefreiheit, Meinungsfreiheit – auch Krug hatte sie ausdrücklich postuliert –, Staatshaftung, Unverletzlichkeit der Person u. a. Bezeichnenderweise ist von Religionsfreiheit wenig die Rede, und nicht einmal Rendler in seinem, in diesen Punkten wenig profilierten und die Prinzipien von 1789 nur marginal rezipierenden Text trat für sie ein. Hingegen taucht wiederholt der Grundsatz auf, dass das Volk, direkt oder durch Repräsentanten, an der Gesetzgebung mitzuwirken berechtigt sei bis hin zum Recht auf Widerstand gegen unrechtmäßige Herrschaft, wie es nicht der Sache nach, wohl aber inhaltlich am präzisesten in dem von Weber herausgegebenen Text formuliert war:

108 So auch Georg Wedekind in: Die Rechte des Menschen und des Bürgers, wie sie die französische konstituierende Nationalversammlung 1791 proklamirte, mit Erläuterungen von Georg Wedekind, Mainz: o. N., 1793, Ndr. Mainz: Presse- und Informationsamt der Stadt, 1989, bes. 13 – 14. 109 Vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 29, 105 – 106. 110 Ebd., 105. In der Menschenrechtserklärung von 1789 hatte die Reihenfolge gelautet: Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung (ebd., 29). In dem girondistischen Verfassungsprojekt vom Februar 1793 hieß es: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit, Eigentum, „garantie sociale“ und Widerstand gegen Unterdrückung (ebd., 61) und in der jakobinischen Verfassung von 1793: Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum (ebd., 95).

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„Unveräußerlich ist das Theilnehmungsrecht des Menschen an der Gesezgebung; denn der Zwang, Gesezen zu gehorchen, an denen man keinen Theil hat, die bloß die Willkühr eines einzelnen diktirte, ist baarer Unsinn.– Unveräußerlich ist das Recht des Menschen, nur diesen von ihm anerkannten Gesezen zu gehorchen. Also das Recht, aller Gewalt zu widerstehen, die nicht auf das Gesez sich gründet. Also, die Geseze allein, als seinen Beherrscher, anzuerkennen.“111

In diesen bemerkenswerten Formulierungen, die sich in dieser Prägnanz weder 1849 noch 1919 noch 1949 wiederholt finden, wird der gesamte europäische revolutionäre Verfassungsdiskurs von James Harringtons „Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen“ bis hin zum berühmten Widerstandsartikel (Art. 35) der jakobinischen Erklärung der Menschenrechte von 1793 lebendig.112 Gerade die Behandlung der Menschenrechte durch diese deutschen Verfassungstexte lässt eine zunehmende Reife des Verfassungsdenkens erkennen. Während noch der erste Text von Rendler den verfassungsrechtlich ungeschulten Autor verrät, legen die drei letzten Projekte von 1797/99 Zeugnis von einer vertieften Einsicht in die bestehenden Probleme und die Möglichkeiten ihrer verfassungsrechtlichen Lösung ab. Selbst mitunter ungeschickte Formulierungen oder mangelnde Rechtssystematik oder das Fehlen grundlegender Rechte, wie Unverletzlichkeit der Wohnung, Versammlungsfreiheit, Petitionsrecht u. a. – gegenüber denen sich aber auch so weit in Zukunft vorgreifende Forderungen wie die rechtliche Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern oder bei Ablehnung des elterlichen Verbotsrechts die nahezu völlige Liberalisierung des Eheschließungsrechts finden113 – können den Gesamteindruck nicht mindern, dass mit diesen Texten die Auseinandersetzung um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland Ende der 1790er Jahre ein bemerkenswertes Niveau erreicht hatte. Dieser Eindruck wird durch die Analyse der in diesen Texten niedergelegten grundlegenden Verfassungsprinzipien erhärtet, darunter den Grundsatz der Gewaltentrennung und damit zum Teil verbunden das Problem der verfassungstechnischen Regelung der Volkssouveränität, das Wahlrecht, die Organisation der Legislative und 111 Teutschlands neue Konstituzion, hrg. v. Weber, 65, vgl. insges. 63 – 68; ferner Rendler, Erklär- und Erläuterung der Rechte und Pflichten des Menschen, bes. 4 – 6, 12 – 16; Sommer, Konstitution für die Stadt Köln, 7 – 12; Krug, Grundlinien, bes. 29 – 31; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, bes. 3 – 20. 112 Vgl. James Harrington, The Commonwealth of Oceana [1656], in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 171; Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 97. 113 Vgl. Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 14, 15. Auch wenn es in Württemberg um 1800 vielfach Diskussionen um die Liberalisierung des Eheschließungsrechts gab und die bestehenden Gebräuche der Zeit ohnehin als vergleichsweise liberal galten, hat das Gebot elterlicher Zustimmung zur Heirat in Württemberg bis 1875 gegolten, vgl. Gustav Schöck, „,… dass die Freiheit zu heiraten ungehindert gestattet werde.’ Überlegungen zu den Auswirkungen liberaler Ehegesetzgebung unter Friedrich I. in Württemberg“, in: Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons, hrg. v. Württembergischen Landesmuseum Stuttgart, 3 Bde., Stuttgart: Württembergisches Landesmuseum, 1987, II, 691 – 696.

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des Gesetzgebungsverfahrens, die Bestimmungen über die Exekutive, die Zielsetzungen und eventuell weiterführenden Aufgabenbereiche des Staates, die Rolle der Justiz, die Definition des Staatsgebietes sowie schließlich die Regelung der Probleme der Verfassungsverletzung und der Verfassungsänderung. Die Gewaltentrennung, von Montesquieu wirkungsvoll postuliert, in einigen amerikanischen Einzelstaatsverfassungen bereits eingeführt und in der Bundesverfassung von 1787 dann rigoros verankert und von der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 zur unverzichtbaren Basis jeder modernen Verfassung erklärt, ist in den nachfolgenden französischen Revolutionsverfassungen sehr unterschiedlich behandelt worden. Während die Verfassungen von 1791 und 1795 eine vergleichsweise strikte Trennung zwischen Exekutive und Legislative durchgeführt hatten, war der Gedanke der Gewaltentrennung in der jakobinischen Verfassung von 1793 zugunsten des Prinzips der Volkssouveränität und einer weitgehenden Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative erheblich zurückgedrängt worden.114 Bereits der Mainzer Kaufmannschaft war es unverzichtbar erschienen, ein „Gleichgewicht“ zwischen Legislative und Exekutive herzustellen, wobei letztere der Kontrolle der Legislative unterstehen sollte, die wiederum zur Verhinderung von Machtmissbrauch lediglich auf zwei Jahre gewählt werden sollte, während der Krugsche Entwurf in Analogie zu Art. 16 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 die Trennung zwischen beiden Gewalten postulierte, ohne sich näher über Einzelheiten auszulassen und im Anklang an die Verfassung des Jahres III für ein generelles Rotationssystem nach vier bis fünf Jahren eintrat.115 Hatte sich der von Weber herausgegebene, als „Bruchstück“ deklarierte Entwurf zu den Problemen der inneren Ordnung praktisch nicht geäußert, so lehnte sich der Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde in der Anordnung von Exekutive und Legislative und ihrer Beziehungen zueinander sehr eng an die Verfassung des Jahres III an und übernahm weitgehend deren Bestimmungen zu den beiden Parlamentskammern und zur Exekutive mit einem fünfköpfigen Direktorium und den Ministern. Wo es Abweichungen gab, deuten diese eher auf eine Stärkung der Legislative im Vergleich zum französischen Vorbild, ohne allerdings radikaldemokratische Züge nach Art der jakobinischen Verfassung anzunehmen.116 Diesen sich an die Verfassungen von 1791 und 1795 anlehnenden Gedanken einer vergleichsweise strikten Trennung zwischen Exekutive und Legislative standen radikalere Auffassungen gegenüber, wie sie von Rendler geäußert wurden und die an die jakobinische Verfassung erinnern und das Prinzip der Volkssouveränität als 114 Vgl. dazu die in Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 29 – 132, abgedruckten Verfassungstexte sowie Gerald Stourzh, „The Declarations of Rights, Popular Sovereignty and the Supremacy of the Constitution: Divergencies between the American and the French Revolutions“, in: La Révolution américaine et l’Europe (Colloques internationaux du Centre National de la Recherche scientifique, N8 577), hrg. v. Claude Fohlen, Paris: Éditions du CNRS, 1979, 347 – 364; ferner oben Kap. V. 2. 115 Constitutions-Vorschläge, 7 – 8; Krug, Grundlinien, 30 – 33. 116 Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 8, 27 – 72.

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übergeordneten Verfassungsgrundsatz verwirklicht sehen wollten mit der Konsequenz einer weitgehenden Abhängigkeit der ausführenden von der gesetzgebenden Gewalt.117 Dieser Gedanke der Volkssouveränität wird in drei Texten explizit geäußert. So hatte Rendler verkündet, „daß das Majestätsrecht des Volkes ganz unveräußerlich seie“ und „daß, weil zum ganzen Volke jedes Mitglied gehöret, auch jedes bei der Gesetzgebung mitzuwirken befugt“ sei.118 Krug hingegen definierte Bürger schlicht als „gleiche Theilnehmer an der Souveränität“.119 Am ausführlichsten, wenn auch in seiner eigenen, Fremdworte möglichst vermeidenden Sprache widmet sich die Republikanische Verfassungsurkunde dem Problem: „Die deutsche Völkerschaft ist ihr einziger Oberherr. Sie verfasset und vollziehet ihre Gesetze und strafet die Übertreter derselben.“ In den ausführenden Bestimmungen stößt man dann immer wieder auf Formulierungen wie „Das Volk sorgt dafür“, „Das Volk untersucht“, „Das Volk bestimmt“ usw.120 Eine wohl singuläre Position nahm Christian Sommer mit seinem Kölner Entwurf ein, in die die beiden Artikel der Verfassung des Jahres III über die Volkssouveränität keinen Eingang gefunden hatten. Zwar ging auch Sommer von einer grundlegenden Trennung zwischen Exekutive und Legislative ähnlich der Verfassung des Jahres III aus, bei der keine Gewalt in den Bereich der anderen korrigierend eingreifen konnte. Die Kontrolle der auf unbestimmte Zeit, praktisch also lebenslang amtierenden Regierung war daher dem Volk selbst übertragen, jedoch in einer derart restriktiven Weise – der Kläger hatte sogleich die enorme Summe von 2000 Talern als Kaution zu hinterlegen; wurde seine Klage von dem dazu bestellten fünfzigköpfigen Bürgerkomitee abgewiesen, wanderte er automatisch für sieben Jahre ins Zuchthaus –, dass sie eher dazu angetan war, einem Usurpator an die Macht zu verhelfen, als eine wirklich basisdemokratische Kontrolle zu gewährleisten. Um eine etwaige Anarchie zu verhindern, griff Sommer damit zu vermeintlichen Lösungen, die bereits deutliche Anklänge an nachfolgende napoleonische, den modernen Konstitutionalismus abwehrende Verfassungskonstruktionen erkennen lassen.121 Sehr eng verknüpft mit diesen Aspekten waren das Wahlrecht sowie die Fragen der Organisation der Legislative und des Gesetzgebungsverfahrens. Zum Wahlrecht äußerten sich die meisten Texte nicht. Doch wird man unterstellen können, dass die Mainzer Kaufleute und Rendler von einem allgemeinen Bürgerwahlrecht ausgingen, ohne dass der Begriff des Bürgers exakt definiert wurde. Rendler lässt erkennen, dass er davon alle, die das 24. Lebensjahr nicht vollendet hatten, ausschloss, aber auch Sittenlosigkeit und Bedürftigkeit sowie Korruption bei den Beamten sind näher 117 118 119 120 121

Rendler, Rechte und Pflichten des Menschen, bes. 7 – 8, 18 – 27. Ebd., 8, 9. Krug, Grundlinien, 28. Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 5, 17. Sommer, Konstitution, 12 – 16, 18 – 26.

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behandelte Ausschlusskriterien. Doch ob daraus abgeleitet werden kann, dass mithin alle übrigen Männer das Wahlrecht besaßen, erscheint zweifelhaft.122 Hingegen stellte Krug in seinen Grundlinien zum Bürger- und Wahlrecht fest: „Bürger ist jeder, der irgend ein Interesse an der Wahl haben kann. Dieses erfordert eine nähere Bestimmung, wozu hier der Ort nicht seyn kann. Man hat nur darauf zu sehen, daß nicht bloß ein gewisses Eigenthum die Freiheit der Wahl begründe. Denn Talent und Tugend mit Armuth vereinigt, darf davon nicht ausgeschlossen werden. Der Pöbel aber muß davon entfernt bleiben.“123

Ohne dass diese Formulierungen letzte Klarheit geben, scheint Sommers Position restriktiver gewesen zu sein, der zwar den einschlägigen Art. 8 der Verfassung des Jahres III praktisch wörtlich übernahm, jedoch dessen Definition des Bürgers und damit das darin festgeschriebene Steuerzahlerwahlrecht dahingegen modifizierte, dass nur derjenige Bürger war und das Wahlrecht besaß, der sechs Reichstaler in die Bürgerkasse seiner Gemeinde eingezahlt hatte sowie über ein polizeiliches Führungszeugnis als Unbedenklichkeitsbescheinigung verfügte.124 Mit diesen Maßnahmen sollte zweifellos das riesige Heer der Kölner Bettler vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Präziser und deutlich demokratischer war der Republikanische Verfassungsentwurf: „Stimmfähig ist der deutsche Bürger, der schreiben und lesen kann, seine Bürgerrechte und die Ausübung derselben hat, geheiratet ist oder einundzwanzig Jahr und eigenes Vermögen hat und nie ein größeres und entehrendes Verbrechen begangen hat.“125 Nicht nur ist damit Bürgerrecht und Wahlrecht voneinander getrennt, sondern auch das Wahlrecht gegenüber der Verfassung des Jahres III ausgeweitet und nicht an einen Zensus gebunden. Zwar ist damit nicht das allgemeine Männerwahlrecht der jakobinischen Verfassung wiederhergestellt, doch indem jeder verheiratete Mann bzw. jeder 21jährige und Ältere, der materiell nicht von seinen Eltern abhängig war, wählen konnte, kam der Entwurf diesem Ziel sehr nahe.126 Nahezu alle Verfassungsprojekte, sofern sie sich zum Procedere der Wahlen äußerten, folgten dem französischen Beispiel und gingen vom Prinzip der indirekten Wahlen aus; allein Krug machte eine bemerkenswerte Ausnahme, indem er im

122 Vgl. Constitutions-Vorschläge, 7; Rendler, Rechte und Pflichten des Menschen, 4 – 8, 9 – 10, 18 – 27. 123 Krug, Grundlinien, 31, vgl. auch 28. 124 Sommer, Konstitution, 1; vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 107. 125 Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 25 – 26. 126 Dem Ausschluss der Analphabeten vom Wahlrecht kam angesichts der eingeführten allgemeinen Schulpflicht lediglich vorübergehende Bedeutung zu. Das gilt auch für die Wählbarkeit, die zusätzlich daran gebunden war, dass der Bürger rechnen konnte, zumal letztere Bestimmung für die erste Wahl und jene des Ausschlusses der Analphabeten für die ersten zehn Jahre ausgesetzt werden sollte, vgl. ebd., 26, 105.

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Gegensatz zu sämtlichen französischen Revolutionsverfassungen eine direkte Wahl der Mitglieder der Nationalversammlung durch die Bürger vorsah.127 Auch wenn sich zu den detaillierteren Aspekten der Organisation der Legislative und des Gesetzgebungsverfahrens nur vereinzelt Regelungen finden, dürfte in zwei Punkten weitgehend Konsens geherrscht haben, nämlich dass die Legislaturperiode begrenzt ist – die Mainzer Kaufleute schlugen zwei Jahre vor, 1799 war getreu dem französischen Vorbild von drei Jahren die Rede – und dass die Gesetzesinitiative bei der Legislative lag. Die Parlamentssitzungen waren öffentlich, und die Abgeordneten legten selbst die Dauer der Sitzungsperiode fest. Ein von Parlament beschlossenes Gesetz war von der Exekutive auszuführen, ohne dass dieser ein Vetorecht zugestanden wurde. Allein der 1799er Entwurf ging getreu der Verfassung des Jahres III von einem Zweikammernparlament aus, während ansonsten die aus einer Kammer bestehende Nationalversammlung wohl als der Normalfall angesehen wurde. Immunität der Abgeordneten und Ablehnung jeder Form von imperativem Mandat erscheinen als unstrittig.128 Aus diesem liberaldemokratischen Grundkonsens, der sich deutlich von den radikaldemokratischen Vorstellungen der jakobinischen Verfassung von 1793 abgrenzte, scherte wiederum Sommer mit seinen Vorstellungen aus. Während auch er von indirekter Wahl sowie einer zweijährigen Legislaturperiode seines aus einer Kammer bestehenden Parlaments und von der Öffentlichkeit der Sitzungen ausging, hat er doch die Rechte seiner Legislative deutlich beschnitten. So durfte diese allein auf Aufforderung der Regierung tagen, bei der zudem das ausschließliche Recht der Gesetzesinitiative lag. Sommer, der die Verfassung des Jahres III bestens kannte und sie in vielen Punkten wörtlich übernommen hatte, wich nicht nur mit diesen antidemokratischen Beschränkungen der Legislative von dem Vorbild ab, sondern legte dem Prinzip der Volkssouveränität noch zusätzliche Begrenzungen auf, indem er in Art. 57 eigenmächtig formulierte: „Das Gesetz ist unwiderruflich, und keiner der Mitglieder [der gesetzgebenden Versammlung] soll nach abgefaßtem Gesetze Einwendungen gegen dasselbe vorbringen, noch über einen andern Gegenstand, wozu er nicht [von der Regierung] aufgefordert ist, Berathschlagungen im öffentlichen Sitzungssaale vornehmen.“129

Erneut fühlt man sich an die Praxis späterer napoleonischer Legislativen mit der Ausschaltung jeder Opposition erinnert, wohingegen das demokratische Gedan127 Vgl. Sommer, Konstitution, 12; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 8. Lediglich bei Krug, Grundlinien, 31, heißt es: „Die Nation, oder bestimmter, die Bürger des Staats wählen zwar unmittelbar ihre Repräsentanten zur Nationalversammlung; allein die höhern Stellen werden durch die Nationalrepräsentanten besetzt, weil diese mehr Einsichten in die Fähigkeiten solcher Personen haben können, als das Volk.“ 128 Vgl. Constitutions-Vorschläge, 8; Rendler, Rechte und Pflichten des Menschen, 7 – 8, 9 – 11, 18 – 22; Krug, Grundlinien, 31 – 39; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 6, 27 – 47. 129 Sommer, Konstitution, 12 – 16.

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kengut der Revolution, ohnehin in der Verfassung des Jahres III schon weitgehend zurückgedrängt, bewusst negiert wurde. Bezüglich der Organisation und Rolle der Exekutive standen die Mainzer Kaufleute mit ihrem Vorschlag allein, diese einem Fürsten zu übertragen, auch wenn sie dessen Rechte begrenzt sehen und keine Nicht-Mainzer zu den wichtigsten Staatsämtern zulassen wollten.130 Bereits Rendler hatte sich sehr viel demokratischer geäußert. Für ihn war ein Amt lediglich Verantwortung auf Zeit, dessen Amtsinhaber jederzeit vom Volk gewählt werde und von diesem abhängig sei. „Das Recht, über die Bewachung und Vollziehung der Gesetze Beamte aufzustellen, kann niemanden zukommen als der gesetzgebenden Gewalt; diese Gewalt hat aber nur das gesamte Volk.“ Niemand, selbst kein König, könne daraus einen besonderen, ihn über andere erhebenden Rang beanspruchen.131 Während der Staatsrat im Republikanischen Verfassungsentwurf getreu dem französischen Direktorium strikt aus fünf Mitgliedern bestand, setzte Sommer für seine Regierung einen Präsidenten und sechs Mitglieder sowie zwei Sekretäre fest. Der Staatsrat sollte vom Parlament, Sommers Regierung von den Wahlmännern gewählt werden. In beiden Gremien herrschte ein konsequentes Rotationsprinzip, wobei jedes Mitglied des Staatsrates wie im Falle des französischen Direktoriums fünf Jahre lang im Amt blieb, während Sommers Regierungsmitglieder bis zu ihrem Tod, Rücktritt oder ihrer Entlassung amtierten. Der Staatsrat ernannte vier bis acht Minister mit konkreten Aufgabenzuweisungen, die ihm verantwortlich waren, ohne selbst einen Rat oder Kabinett zu bilden. Der Staatsrat war dem Parlament verantwortlich, musste diesem Auskunft geben und konnte von diesem zur Rechenschaft gezogen werden. In allen Finanzangelegenheiten hatte das Parlament das letzte Wort, während der Staatsrat die bewaffnete Macht befehligte und Ernennungen vornahm. Gesetze des Parlaments hatte der Staatsrat ebenso wie Sommers Regierung ohne Einschränkung auszuführen, wohingegen diese ansonsten sehr viel unabhängiger von der Legislative als der Staatsrat war. Verglichen mit dem französischen Vorbild neigte sich mithin im Fall der Republikanischen Verfassungsurkunde die Waagschale eher zugunsten der Legislative, während in Sommers Kölner Konstitution die Regierung weitgehend parlamentarischer Kontrolle und Einwirkungsmöglichkeiten entzogen war.132 Auch Krug legte die Exekutivgewalt in die Hände von Direktoren, für die wie für jeden Amtsinhaber galt: „In einer republikanischen Staatsverfassung darf Niemand über vier bis fünf Jahre in einem und demselben Amte bleiben.“ Diese Direktoren wurden vom Parlament gewählt.133 Detailliertere Angaben fehlen, doch kann aufgrund des demokratisch-republikanischen Gesamtcharakters seiner Grundlinien 130

Constitutions-Vorschläge, 7 – 8. Rendler, Rechte und Pflichten des Menschen, 21, vgl. insges. 21 – 27. 132 Sommer, Konstitution, 18 – 22; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 6, 49 – 51, 62 – 72. 133 Krug, Grundlinien, 32 – 33. 131

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angenommen werden, dass Krug in seinen diesbezüglichen Vorstellungen näher der Republikanischen Verfassungsurkunde als Sommers Ansichten gestanden haben dürfte. Welche Zielsetzungen und gegebenenfalls weitere Aufgabenbereiche sollte ein auf diesen radikal-, liberal- bzw. scheindemokratischen Prinzipien beruhender, monarchisch oder republikanisch organisierter Staat haben? Die Aufklärung hatte in diesem Punkt eine theoretische Basis gelegt, die weit über das Selbstverständnis des Staates des Ancien Régime hinausgewiesen hatte, und die Revolution hatte vieles davon aktiv aufgegriffen. Doch die Formulierung verfassungsrechtlich konkret definierbarer Ziele war ungleich schwieriger und blieb, wenn sie denn überhaupt erfolgte, in der Regel vage und allgemeingehalten. So drangen die Mainzer Kaufleute in unzweideutigem Einklang mit ihren kommerziellen Interessen auf eine völkerrechtliche Absicherung ihres Vorschlags, „daß unsere so neue Konstitution zur Bestättigung in die Friedensartikel kommen, damit wir so von Frankreich geschützt, auch vom Kaiser und deutschen Reiche anerkannt, und niemal in Gefahr kommen, erschüttert zu werden“.134 Andere ließen es mit allgemeineren Formulierungen bewenden, die sich pauschal auf das Wohl und Glück der Gesellschaft und ihrer Bürger bezogen. Vielfache Beachtung hatte jedoch gefunden, dass mit der Verfassung des Jahres III erstmals in einer französischen Revolutionsverfassung von der Verpflichtung des Staates zur Errichtung eines öffentlichen Schulsystems die Rede war.135 Sommer ging über das französische Vorbild noch hinaus und forderte ausdrücklich die Errichtung von Elementarschulen auch für Mädchen, wobei er festlegte, dass im Falle von Unvermögen der Unterricht unentgeltlich sein solle,136 während Krug das Problem der weiblichen Erziehung unbehandelt ließ, aber im Interesse des Staates an gebildeten Bürgern generell die Unentgeltlichkeit der Erziehung postulierte.137 Analog ihrem französischen Vorbild hatten weder Sommer noch Krug von einer Schulpflicht gesprochen. Umso bemerkenswerter ist die weit über die Zeit wie auch über die Reichsverfassung von 1849 hinausweisende Forderung in dem Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde: „Kein Kind darf die Schulen versäumen, die Gemeinden sind dafür verantwortlich.“ Erstmals wird damit eine allge134

Constitutions-Vorschläge, 8. Vgl. die sechs Artikel (296 – 301) des Titels X („Instruction publique“) der Verfassung, Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 127. Die girondistische wie die jakobinische Verfassung von 1793 hatten sich in ihren jeweiligen Menschenrechtserklärungen mit einem allgemeinen Postulat begnügt: „Der Elementarunterricht ist das Bedürfnis aller, und die Gesellschaft schuldet ihn in gleicher Weise allen ihren Mitgliedern“ (Art. 23 des girondistischen Verfassungsprojekts, ebd., 62); „Der Unterricht ist das Bedürfnis aller. Die Gesellschaft muss mit aller ihrer Macht den Fortschritt der öffentlichen Vernunft fördern und den Unterricht für alle Bürger ermöglichen“ (Art. 22 der Menschenrechtserklärung der jakobinischen Verfassung, ebd., 96). 136 Sommer, Konstitution, 49 – 50. 137 Krug, Grundlinien, 56 – 59. 135

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meine Grundschulpflicht für Jungen und Mädchen gefordert bei gleichzeitiger Schulgeldfreiheit in den Gemeindeschulen – „Die Pfarrgüter sind Gemeindeeigentum mit der Bestimmung für den öffentlichen Unterricht unter der Aufsicht des Staates“ – und zusätzlicher Lernmittelfreiheit für „die Kinder der armen Bürgerklasse“.138 Diese weit in die Zukunft weisenden Gedanken können als weiteres Indiz für das am Ende des 18. Jahrhunderts erreichte Niveau in der Auseinandersetzung mit den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus angesehen werden wie auch für die Einsicht in die modernen und vorwärtsweisenden Aufgaben des republikanisch-demokratischen Staates. Gleiches gilt für die Regelung des Gerichtswesens in demselben Entwurf insofern, als mit ihm erstmals ein Armenrecht („Der Arme wird auf Kosten des Staates verteidigt“) eingeführt werden sollte.139 Über diese Aufgaben im Bereich der Erziehung hinausgehend, sah insbesondere Sommer eine weitgefasste Handlungskompetenz des Staates. „In jedem Distrikt ist ein Polizeibeamter angestellt, der für die Sicherheit des Eigenthums, für die Reinlichkeit der Stadt, für die Gesundheit, für die Bequemlichkeit, für den Wohlstand, für die Sittlichkeit der Bürger, für das Aufkommen des Nahrungsstandes, des Handels, der Handwerke, der Manufakturen, der Fabriken, der Künste, und der Wissenschaften zu sorgen hat.“140

Von einem traditionellen Polizeibegriff ausgehend, sollte damit der Staat eine Globalkompetenz haben, die sich von der Straßenreinigung und -beleuchtung über Bereiche der moralischen Ökonomie, darunter regelmäßige Kontrollen des Brotgewichtes und Festsetzung der Bier- und Fleischpreise, bis hin zu staatlichen Fördermaßnahmen im Bereich von Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst erstreckte.141 Aus Vorstellungen der Aufklärung heraus war damit ein allumfassender Staat konzipiert, dessen Politikkompetenz sich auf praktisch alle Bereiche menschlichen Lebens und Handelns erstreckte. Ganz so weit zu gehen war Krug offensichtlich nicht bereit, aber auch er war davon überzeugt, dass dem Staat im Bereich von Wirtschaft, Handel und Kunst zum Wohle der Bürger weitreichende Aufgaben zukamen.142 Getreu der Verfassung des Jahres III wie auch der übrigen französischen Revolutionsverfassungen wurde in keinem der deutschen Projekte die Judikative als gleichrangige und gleichgewichtige dritte Gewalt neben der Legislative und Exekutive begriffen. Am ehesten mag noch der von Weber herausgegebene Text diesem Prinzip nahegekommen zu sein, der als unveräußerliches Recht forderte, „die Gerichtliche Gewalt, niemand als einer, von jedem Einfluß irgend eines einzelnen Glieds der Gesellschaft, nur vom bestimmten Gesez allein abhängigen, Macht anzuvertrauen“.143 Präziser äußerte sich zwar Sommer, doch sind seine Bestimmungen 138 139 140 141 142 143

Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 99, 111, vgl. insges. 98 – 103. Ebd., 84, vgl. insges. 83 – 92. Sommer, Konstitution, 40. Vgl. ebd., 40 – 48. Krug, Grundlinien, 49 – 52. Teutschlands neue Konstituzion, hrg. v. Weber, 66.

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über die Trennung der Judikative von Legislative und Exekutive, bei der zugleich der Judikative jede Einmischung in die Bereiche der beiden anderen Gewalten und damit jede Feststellung von Verfassungswidrigkeit untersagt wurde, wörtliche Übernahmen der betreffenden Artikel der Verfassung des Jahres III.144 Diese Form der Gewaltentrennung findet sich nicht in vergleichbarer Weise bei Krug und in der Republikanischen Verfassungsurkunde, obgleich beide auf die Verfassung des Jahres III zurückgreifen, ersterer mit seinem Vorschlag eines „Nationalgerichtshofs“ als Kassationsgericht, letztere mit einem „Obergericht“ in Analogie zur Haute Cour de Justice des französischen Vorbilds.145 Im Sinne einer volksnahen Justiz sollten ähnlich wie in Frankreich die Richter vom Volk gewählt werden, wobei das Projekt von 1799 im Gegensatz zu Sommer eher für eine befristete Wahl zu plädieren schien. Jedoch sollten Richter nicht einfach von der Regierung von ihrem Amt suspendiert werden können.146 Die so konzipierten Verfassungen sollten für jeweils ganz unterschiedliche Staatsgebiete gelten. Im Falle der Mainzer Vorschläge sprachen schon die äußeren Umstände gegen einen Geltungsbereich, der mit dem alten Kurfürstentum identisch war. Eher ist an ein Gebiet ähnlich der nachfolgenden Mainzer Republik zu denken, wohingegen bei Sommer die in Mainz fehlende reichsstädtische Tradition fortlebte und sein Projekt allein für die Stadt Köln gelten sollte, ohne Teile des ebenfalls unter französischer Kontrolle stehenden Umlandes oder im weiteren Sinn den Wirkungsbereich der Cisrhenanen einzubeziehen.147 Wesentlich weiter gingen die Vorstellungen von Rendler, der sein Projekt als Vorstufe für eine „folgende Reichsverfassung“ verstanden sehen wollte, ohne erkennen zu lassen, inwieweit dieses Reich mit dem Gebiet des Hl. Römischen Reichs gleichzusetzen war. Auch in der Republikanischen Verfassungsurkunde könnte an ein derartiges Staatsgebiet gedacht sein, allerdings äußert sich der Verfasser dazu nicht. Ungleich präziser war er jedoch bezüglich der inneren Verwaltungsgliederung seiner Republik mit Munizipalitäten, Kantonen und Departements in strikter Analogie zum zentralistischen französischen Vorbild.148 Erheblich interessanter sind die von Krug sowie die in dem von Weber herausgegebenen Text geäußerten Vorstellungen, die letztlich von der Triasidee eines

144

Sommer, Konstitution, 26 – 27; vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 120 – 121 (Art. 202, 203). 145 Krug, Grundlinien, 42 – 43; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 90 – 91; vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 124 – 125 (Art. 254 – 273). 146 Sommer, Konstitution, 28 – 29; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 6 – 7, 81, 83, 90. 147 Vgl. Constitutions-Vorschläge, 7 – 9; Sommer, Konstitution, Vorrede sowie insbes. 4. 148 Rendler, Rechte und Pflichten des Menschen, 31; Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 21, 73 – 80.

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dritten, von Österreich und Preußen getrennten Deutschland ausgingen.149 So sollte laut Krug die deutsche Republik, verbunden „durch einen Friedensbund mit der französischen Nation“, das Königreich Böhmen und das Erzherzogtum Österreich ebenso ausgrenzen wie die preußischen Gebiete östlich der Elbe, jedoch das linksrheinische, soeben Frankreich überlassene Gebiet einschließen. „Deutschland wird folglich aus einem geschlossenen Territorium bestehen, das sich gegen Süd-West an die Republik Frankreich anschließt; gegen Süden von der Schweitz und den Tyroler Gebürgen; gegen Süd-Ost von den Salzburgischen und Böhmischen Gebürgen; gegen Nord-Ost von der Elbe; gegen Nord-West von dem deutschen Meere und einem friedlichen Freistaat eingerundet wird.“

Sitz der Nationalversammlung sollte das zentral gelegene Erfurt werden.150 Nicht gleichermaßen präzise doch letztlich in der Sache wohl sehr ähnlich waren die von Weber publizierten Gedanken. „Nie wird man mich überreden, daß die Bewohner der Küste des Baltischen Meers mit den Bewohnern der Ufer des Bodensees in einem beyden nüzlichen dauernden Bunde stehen, mit ihm zu Einem Interesse sich verflößen können. Thorheit wäre also das Projekt, auch nur alle dermalige gesezliche Glieder des teutschen Staatskörpers wieder zu Einer Nazion zusammen knüpfen zu wollen. Man muß sich also darauf einschränken, aus denjenigen Ruinen des alten Körpers, die einer solchen Verbindung fähig sind, einen neuen zusammen zu fügen.“

Der Name dieses Staates könnte dann möglicherweise „Bunds-Republik“ lauten.151 Die moderne Aufgabe der Judikative, Wächterin der Verfassung zu sein, war zweifellos in den einschlägigen Bestimmungen zur richterlichen Gewalt noch nicht angelegt. Dennoch hatten einige von ihnen Vorkehrung für den Schutz der Verfassung, zumindest ihrer grundlegenden Bestimmungen, sowie für das Verfahren der Änderung oder Ergänzung der Verfassung getroffen. Die Verfassung des Jahres III hatte zu diesem Zweck ein sehr kompliziertes Verfahren vorgesehen, das allein von der Legislativen in Gang gesetzt werden konnte und bei der das Volk lediglich eine indirekte Mitwirkungsmöglichkeit besaß.152 Krug wie auch Sommer griffen diese Gedanken auf, wobei sie der zeitgenössischen revolutionären Überzeugung bei149

Vgl. dazu Peter Burg, Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein, Stuttgart: Steiner, 1989, bes. 8 – 14; ders., „Die Triaspolitik im Deutschen Bund. Das Problem einer partnerschaftlichen Mitwirkung und eigenständigen Entwicklung des Dritten Deutschland“, in: Deutscher Bund und deutsche Frage 1815 – 1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, hrg. v. Helmut Rumpler, Wien – München: Oldenbourg, 1990, bes. 136 – 145. 150 Krug, Grundlinien, 14, 23, vgl. auch 21 – 23, 29. 151 Teutschlands neue Konstituzion, hrg. v. Weber, 72, 4. 152 Vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 130 (Art. 336 – 350).

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pflichteten, dass keine Generation das Recht habe, die nachfolgende durch ihre Gesetze zu binden. Daher müsse eine Verfassung die Möglichkeit ihrer Revision regeln, damit dieser Vorgang ohne innere Unruhen ablaufen könne. Wie weit das Volk dabei allerdings ein direktes Mitwirkungsrecht haben sollte, lassen die allgemein gehaltenen Bemerkungen offen.153 Sommers Gedanken weisen in diesem Punkt größere Eigenständigkeit gegenüber der Verfassung des Jahres III auf. Alle zehn Jahre sollte in indirekten Wahlen eine Kommission gebildet werden, deren Aufgabe die Revision der Verfassung und der übrigen Gesetze unter Berücksichtigung der Eingaben des Volkes sei. Zur Revision der Verfassung war dann die Zustimmung von zwei Dritteln der Wahlmänner erforderlich, so dass auch hier – und damit griff Sommer dann doch auf die Verfassung des Jahres III zurück – eine direkte Mitwirkung des Volkes bei der konkreten Verfassungsrevision nicht vorgesehen war.154 Sehr viel höher waren hingegen die Hürden für Verfassungsänderungen in dem Republikanischen Verfassungsentwurf festgesetzt. Die beiden ersten Teile der Verfassung („Rechte der menschlichen Gesellschaft“ und „Grundartikel der Verfassung des deutschen Freistaates“) wurden in einer deutlich über die Bestimmungen des Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung hinausgehenden und an das Grundgesetz der Bundesrepublik (Art. 79,3) erinnernden Weise für „zu allen Zeiten unabänderlich“ deklariert. Jedoch konnte auf Vorschlag beider Kammern des Parlaments mit Zustimmung von vier Fünftel aller Abgeordneten jeder Kammer wie des Staatsrats Ergänzungen eingefügt werden, die wiederum von vier Fünftel der Wahlmänner gebilligt werden mussten. Alle übrigen Teile der Verfassung konnten verändert oder ergänzt werden, wenn neun Zehntel beider Kammern des Parlaments, vier Fünftel des Staatsrats und neunzehn Zwanzigstel aller Wahlmänner zustimmten,155 in der Praxis unüberwindbare Hürden, doch wie bei den voraufgegangenen Verfassungen keine direkte Mitwirkung des Volkes. Alle drei Verfassungen, obwohl sie selbst auf dem Bekenntnis der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes basierten, standen damit letztlich im Widerspruch zu sich selbst, indem sie dem Volk nach vollzogener Konstitutionalisierung diese souveräne Gewalt im Sinne des Systemerhalts indirekt wieder zu entwenden suchten. Derartig widersprüchliche Bestimmungen hatte es in der einen oder anderen Weise in allen französischen wie auch in den amerikanischen Revolutionsverfassungen gegeben. Selbst die vielfach für ihren demokratischen Gehalt als vorbildlich 153

Krug, Grundlinien, 38 – 39, 73 – 74. Sommer, Konstitution, 57 – 60. Die alle zehn Jahre einzuberufende Revisionskommission erinnert an den zum gleichen Zweck alle sieben Jahre zusammentretenden Zensorenrat der pennsylvanischen Verfassung von 1776, die bereits 1790 wieder aufgehoben worden war. Es gibt jedoch ungeachtet der vielen Parallelen zwischen dieser und der jakobinischen Verfassung keinen Hinweis, dass Sommer die pennsylvanische Verfassung bekannt war. Vgl. auch oben Kap. V. 4. 155 Entwurf einer republikanischen Verfassungsurkunde, 19 – 20. 154

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angesehene jakobinische Verfassung von 1793156 kannte ungeachtet ihres unbestrittenen radikaldemokratischen Charakters lediglich eine indirekte Wahl zur Nationalversammlung, nach heutigem Verständnis ein eindeutiger innerer Widerspruch. Doch erscheint damit nur die Frage wiederholt, ob es denn überhaupt so etwas wie funktionierende prinzipienreine Verfassungen geben kann. Nicht in diesem Punkt wird daher die Bedeutung der Verfassungsprojekte der 1790er Jahre erkennbar, wohl aber im direkten Vergleich mit der allgemeinen Verfassungsdiskussion in dieser Zeit in Deutschland einerseits wie mit den französischen Revolutionsverfassungen andererseits. Verglichen mit dem allgemeinen Verfassungsdiskurs der 1790er Jahre in Deutschland wird deutlich, dass sie jene sich herausbildenden Ansätze des modernen Konstitutionalismus, wie sie zumal von der Französischen Revolution geprägt wurden, aufnahmen und mit Inhalt zu füllen suchten und dabei deutlich sowohl über jene hinauswiesen, die zwar ebenfalls diesen modernen Verfassungsbegriff aufgriffen, aber in ihren Schlussfolgerungen zaghafter und nicht zu radikalen Veränderungen der bestehenden Ordnung bereit waren, als auch über jene, die in der sich ausweitenden Diskussion die bestehende Verfassungsordnung des Reiches bewahrt und gefestigt und bestenfalls geringfügig reformiert sehen wollten. Da aber die Diskussion über die Reichsverfassung mit dem Reich selbst praktisch in wenigen Jahren unterging,157 gehörte die Verfassungsdiskussion des beginnenden 19. Jahrhunderts zwangsläufig der auf Veränderung zielenden Richtung an. Hier aber hätten jene sechs Projekte der 1790er Jahre in Deutschland eine Vorreiterrolle beanspruchen können. Diese wird durch den Vergleich mit den Verfassungen der Französischen Revolution in mehrfacher Hinsicht unterstrichen. Sieht man einmal von den Mainzer Vorschlägen, die sich im Wesentlichen an die Verfassung von 1791 mit ihrer konstitutionellen Monarchie anlehnten, sowie von Rendler ab, so fällt zunächst an den Projekten der zweiten Hälfte der 1790er Jahre auf, dass sie zwar von der Verfassung des Jahres III ausgingen, sich jedoch keines mit einer reinen Kopie begnügte, sondern alle, zwar in unterschiedlicher, doch jeweils signifikanter Weise davon abwichen. So hatte Sommer zwar einige demokratische Elemente eingefügt, zugleich aber die 156 Vgl. dazu aus so verschiedenen Epochen unterschiedliche Autoren wie Alphonse Aulard, „La Constitution de 1793“, in: Révolution française, 37 (1899), 6; Peter Kropotkin, Die Französische Revolution 1789 – 1793, hrg. v. Gustav Landauer, Leipzig: Thomas, o. J., 439; Jacques Ellul, Histoire des Institutions, V, Paris: Presses Universitaires de France, 61969, 89; Jean-Jacques Chevallier, Histoire des Institution et des régimes politiques de la France de 1789 à nos jours, Paris: Dalloz, 71985, 72 u. a. 157 Vgl. dazu Gero Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814/15, Karlsruhe: Müller, 1980, der in Anlehnung an zeitgenössische Verfassungsjuristen wie an die Position von Georg III. von England-Hannover die Verfassungswidrigkeit der Reichsauflösung 1806 betont und zu dem Ergebnis kommt, dass rechtlich erst mit dem Pariser Friedensvertrag vom 30. 5. 1814 das Reich zu existieren aufgehört habe, was nunmehr praktisch auch einhellig von den Rechtswissenschaftlern anerkannt wurde.

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Rolle des Staates und damit der Exekutive in einer Weise gestärkt, dass die Abwehr vermeintlich drohender Anarchie in die Usurpation der Macht durch eine neue Exekutive umzuschlagen drohte. Indem Sommer damit versuchte, Lehren aus der Entwicklung des Direktoriums in Frankreich zumal in den Jahren 1796/97 zu ziehen, hat er zu Antworten gefunden, die der Sache nach den 18. Brumaire vorwegzunehmen in der Lage waren, statt einen Ausgleich in einer Stärkung der demokratischen Komponente zu suchen. Zugleich hat er die Handlungskompetenzen des Staates, und hier spielen Erfahrungen mit der Französischen Revolution aus der Zeit der jakobinischen Republik hinein, deutlich in den Bereich der Wirtschaftsordnung ausgeweitet. Anders hingegen der Kantianer Krug, der sich noch stärker von der Verfassung des Jahres III absetzte und liberal-demokratischen Inhalten größeren Raum zu geben bestrebt war. Weil sich die „Natur der Dinge“ und die politischen Umstände „seit der Einrichtung der nordamerikanischen und neuerlich der französischen Regierung so gewaltig verändert haben“ und die bestehende Reichsverfassung praktisch zusammengebrochen sei, sah er die Gelegenheit gekommen, in Deutschland endlich das zu verwirklichen, „was die Philosophen aller Zeiten als Wahrheit für die ganze Menschheit aufgestellt haben“.158 In diesem Ziel verschmolzen die kosmopolitischen Ideale der Aufklärung mit kantianischen Auffassung von Republik und Vernunft, von Freiheit und Sittlichkeit mit konkreten Verfassungskodifizierungen der Französischen Revolution zu einem durchaus eigenständigen Amalgam, das sich seiner verschiedenen geistigen Wurzeln bewusst blieb und zugleich aber mit seinem Konzept der freiheitlich-demokratischen Republik das Tor weit in die Zukunft aufstieß. Auf seine Art hat dies in ungleich detaillierterer Weise auch der leider unbekannte Autor des Entwurfs einer republikanischen Verfassungsurkunde aus dem Jahr 1799 getan. Gerade weil er wie vor ihm Sommer in einer Fülle von Punkten das konkrete Verfassungsbeispiel der „Mutterrepublik“ übernahm, kommt den Abweichungen und eigenständigen Weiterentwicklungen besonderes Gewicht zu. Mit ihnen ist die freiheitlich-demokratische Komponente gegenüber dem französischen Vorbild deutlich verstärkt. Selbst wenn man an der einen oder anderen Stelle Hinweise auf aktuelle Diskussionen in Württemberg durchscheinen sehen könnte, scheint doch der dezidierte lokale Einfluss oder das Aufgreifen zeitgenössischer Diskurse der eigenen Umwelt hinter einem vertieften Verständnis von Verfassungsrecht und den Möglichkeiten wie Notwendigkeiten verfassungsrechtlicher Regelungen zurückzutreten, die eher an einen Rechtsgelehrten denn einen Philosophen als Autor denken lassen. Mit diesem Entwurf haben die Anfänge des modernen Konstitutionalismus in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht nur zeitlich, sondern insbesondere inhaltlich ihren Höhepunkt erreicht und damit zugleich eine Reife zu erkennen gegeben, die weit in das 19. Jahrhundert, ja letztlich über dieses hinausweist.

158

Krug, Grundlinien, 75 – 76.

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Wenn auch nicht in gleichem Maße wie in Frankreich, so hatten die deutschen Verfassungsprojekte der 1790er Jahre doch eine Reihe von politischen Ordnungen konzipiert, die konstitutionelle Monarchie, die autoritäre Republik, die liberale Republik und die demokratische Republik. Sie haben damit einen erheblichen Teil der deutschen Verfassungswirklichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts vorweggenommen. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass dennoch ihr unmittelbarer Einfluss auf die nachfolgende Zeit eher gering gewesen ist. Die Projekte, zu ihrer Zeit durchaus zur Kenntnis genommen, gerieten umso mehr in Vergessenheit, als sich das deutsche Bürgertum mit den herrschenden Kreisen gegen das napoleonische Frankreich verbündete und der revolutionäre Impuls im Zeichen neuer, restaurativer politischer Zielsetzungen versiegte.159 Damit waren zwar nicht die Liberalen und Demokraten in Deutschland verschwunden, aber in den Reihen des Bürgertums war die Begeisterung für die Republik dem monarchischen Prinzip mit dem wie immer gearteten Ziel einer konstitutionellen Monarchie weitgehend gewichen. Angesichts dieser Entwicklung stieß die überwiegende Zahl der deutschen Projekte der 1790er Jahre mit einem ihrer wesentlichsten Anliegen zunächst zunehmend ins Leere, so dass von einer, über eventuelle Einzelfälle hinausgehenden konkreten Einwirkung auf die deutsche Verfassungsentwicklung ab 1814 nicht gesprochen werden kann. Dennoch sind die Parallelen unübersehbar. In den privaten Projekten der 1790er Jahre wie in den liberalen Verfassungen ab 1814 – hier allerdings eingeengt durch die realpolitischen Gegebenheiten – ist der moderne Konstitutionalismus zumal in seinen französischen Ausprägungen als Ideengeber unübersehbar. Beide sind daher gleichermaßen Ausdruck für das Eindringen der Ideen des modernen Konstitutionalismus in Deutschland, in den 1790er Jahren zunächst vermittelt durch private Initiativen, ab 1814 dann aufgegriffen auf staatlicher Ebene. Dabei spielten die Grundrechte und mit ihnen die revolutionäre Forderung, „daß alle ehemal mit Unrecht erhaltene Privilegien der Geistlichkeit und des Adels aufhören“,160 eine zentrale Rolle. Gerade in Bezug auf diese Grundrechte ist betont worden, dass ihr Ziel „die Verwandlung der ständischen Ordnung in eine bürgerliche Gesellschaft [war], mit Gleichheit vor allem der bürgerlichen privatrechtlichen Ordnung, einheitlichen Rechtsvorschriften für Grundeigentum und Gewerbe und einer staatsbürgerlichen Gleichheit“.161 Unter diesem Aspekt haben fünf Texte aus 159 Erneut und in ungleich größerer Zahl sollten dann private Verfassungsprojekte in Deutschland erst wieder 1848/49 im Zusammenhang mit der Diskussion um die Paulskirchenverfassung auftauchen, vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017. 160 Constitutions-Vorschläge, 8. 161 Ulrich Scheuner, „Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert“, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar am 2./3. April 1979 (Beiheft zu Der Staat, 4), Berlin: Duncker & Humblot, 1980, 107 – 108. Vgl. auch ders., „Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts“, sowie Rainer Wahl, „Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grund-

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den 1790er Jahren mehr oder weniger großen Wert auf eine derartige Menschenrechtserklärung gelegt, nicht zur Sicherung des sozialen Status quo, sondern als Mittel zur revolutionären Umgestaltung der Sozialordnung.162 Sie haben damit nicht nur den Übergang zur modernen Gesellschaft vollziehen wollen und so gesehen den Grundrechtekatalog der Reichsverfassung von 1849 vorweggenommen,163 sondern es ist darüber hinaus auch das Verdienst der Republikanischen Verfassungsurkunde von 1799, über diese wie über die französischen Revolutionsverfassungen deutlich hinausgegangen zu sein, indem sie diese Grundrechte zum unmittelbar geltenden Recht und in diesen Punkten den rechtlichen Vorrang der Verfassung als höhere normative Ordnung deklarierte, die nachfolgende Gesetzgeber nicht zu ändern befugt waren. Derartige, an Vorstellungen im amerikanischen Konstitutionalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert erinnernde Gedanken164 finden sich in Deutschland erst im Grundgesetz von 1949 wieder. Auch die Gedanken von Gewaltentrennung, die Krug prinzipiell formuliert hatte („Eine Staatsverfassung, die nicht repräsentativ ist, ist widerrechtlich. Eine rechtliche Staatsverfassung trennt die gesetzgebende von der ausübenden Gewalt. Beide Arten der Gewalt werden vom Volke durch mittelbare und unmittelbare Wahl gewissen Stellvertretern oder Repräsentanten übertragen“165) und Volkssouveränität als Kernprinzipien des modernen Konstitutionalismus wiesen, bezogen auf Deutschland, weit in die Zukunft. Gleiches lässt sich für das Problem der Kontrolle der Exekutive durch die Legislative sagen, das in Deutschland verfassungsrechtlich eher im 20. als im nachfolgende 19. Jahrhundert umgesetzt wurde. Ähnliches gilt pauschal für viele jener Detailbestimmungen, wie sie insbesondere die Republikanische Verfassungsurkunde beinhaltete. So sie inzwischen Bestandteil des Verfassungsrechts geworden sind, ist dies nahezu ausnahmslos erst im 20. und nicht bereits in den deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts geschehen. Daraus ergibt sich nicht nur der Stellenwert der deutschen Verfassungsentwürfe der 1790er Jahre, auch die Problematik des Gangs des moderenen Konstitutionalismus in Deutschland wird auf diese Weise deutlicher erkennbar. Zugleich ist damit jener Punkt erreicht, der die eingangs erwähnte These von Stadelmann in schärferer rechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts“, beide in: Böckenförde (Hrg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 319 – 345 bzw. 346 – 371. 162 Vgl. dazu die Bemerkungen von Grimm, „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, 72; ders., „Bürgerlichkeit im Recht“, in: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, hrg. v. Jürgen Kocka, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, bes. 178 – 179. 163 Vgl. dazu Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, hrg. v. Heinrich Scholler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21982. 164 Vgl. Scheuner, „Grundrechte“, 108. Zur Entwicklung der Verfassung als höherrangiges Recht in den Vereinigten Staaten im ausgehenden 18. Jahrhundert vgl. meinen Aufsatz „Die Sicherung der Freiheit. Limited Government versus Volkssouveränität in den frühen USA“, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hrg. v. Günter Birtsch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, 147 – 149. 165 Krug, Grundlinien, 30 – 31.

3. Das Beispiel der Verfassung von Cadiz

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Perspektive erscheinen lässt. Nicht so sehr der aufgeklärte Absolutismus, der zumindest in seinen Nachwirkungen in den 1790er Jahren geistig nicht so prägend gewesen ist, als vielmehr die immer radikalere Zurückweisung aller Gedanken der Französischen Revolution bis hin zu ihren intellektuellen Wurzeln in der Aufklärungsphilosophie, deren allgemeingültigen Charakter man wenige Jahre zuvor selbst noch akzeptiert hatte, doch nun als wesensfremd verurteilte, hat im 19. Jahrhundert die konstitutionelle Entwicklung in Deutschland in Bahnen gelenkt, die sie ihre eigenen ersten Regungen zunächst verleugnen und dann vergessen ließ. Die Folge waren Verfassungsentwicklungen im 19. Jahrhundert, zumal nach 1848/49, die schließlich in die konstitutionelle Sackgasse von 1871 mündeten. Erst mit der Rückbesinnung auf die gemeinsamen Ausgangspunkte des modernen Konstitutionalismus im ausgehenden 18. Jahrhundert von Amerika über Frankreich bis hin zu den originären Beiträgen in Deutschland konnte an diese Entwicklung im 20. Jahrhundert wieder angeknüpft werden, wobei das geistige Erbe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Weimarer Reichsverfassung noch erheblich spürbarer als im Grundgesetz der Bundesrepublik ist.166 Selbst wenn diese Entwicklung aus reiner Unkenntnis nicht zum direkten Anknüpfen an die Texte der 1790er Jahre führte, setzte man hier dennoch inhaltlich wieder ein und fand 1919 und insbesondere 1949 zu verfassungsrechtlichen Lösungen in Deutschland, die in den Grundprinzipien der demokratischen Republik, basierend auf der Volkssouveränität, den Menschenrechten und der Gewaltentrennung, ihr Vorbild nicht 1848/49 finden, sondern wenn sie an eine eigenständige Verfassungstradition anzuknüpfen vermögen, auf den Verfassungsdiskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert und damit zu den Anfängen des modernen Konstitutionalismus in Deutschland verweisen, die zu Unrecht so lange verschüttet waren.

3. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland I: Das Beispiel der Verfassung von Cadiz167 In der vergleichenden Verfassungsgeschichte gilt es als hinreichend erwiesen, dass die spanische Verfassung von 1812 einen nachhaltigen Einfluss auf den europäischen Liberalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ausübte.168 Sobald jedoch von dem deutschen Liberalismus in diesen Jahrzehnten die 166

Vgl. Scheuner, „Deutsche Staatsgerichtsbarkeit“, 45. Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Die Bedeutung der spanischen Verfassung von 1812 für den deutschen Frühliberalismus und Frühkonstitutionalismus“, in: Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hrg. v. Martin Kirsch u. Pierangelo Schiera (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 28), Berlin: Duncker & Humblot, 1999, 219 – 237. 168 Vgl. Boris Mirkine-Guetzévitch, „La Constitution espagnole de 1812 et les débuts du libéralisme européen (Esquisse d’histoire constitutionnelle comparée)“, in: Introduction à 167

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Rede ist, sucht man jeden Hinweis auf die Cortes-Verfassung vergeblich.169 Ist der frühe deutsche Liberalismus mithin die Ausnahme der europäischen Regel, und gilt die Feststellung von Gervinus, diese Verfassung sei „lange Zeit das Ideal der Freisinnigen, der Abscheu der Absolutisten in ganz Europa gewesen“,170 nicht für Deutschland? Oder ist die historische Forschung über die frühen deutschen Verfassungsdiskussionen lediglich zu einseitig auf das britische Verfassungsmodell fil’étude du droit comparé. Recueil d’Etudes en l’honneur d’Edouard Lambert, 2 Bde., Paris: Sirey, 1938, II, bes. 211, 216 – 219; Juan Ferrando Badía, „Die spanische Verfassung von 1812 und Europa“, in: Der Staat, 2 (1963), bes. 155 – 158. 169 Zum deutschen Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegen zahlreiche Untersuchen vor, vgl. Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden: Steiner, 1968; Dieter Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, Düsseldorf: Droste, 1974; Lothar Gall, „Liberalismus und ,bürgerliche Gesellschaft’. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland“, in: Historische Zeitschrift, 220 (1975), 324 – 356; Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf: Droste, 1975; Karl-Georg Faber, „Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert“, in: Der Staat, 14 (1975), 201 – 227; Art. „Liberalismus“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, V, Basel und Stuttgart: Schwabe, 1980, Sp. 256 – 272; Hans Fenske, Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden und Württemberg 1790 – 1933, Stuttgart: Kohlhammer, 1981; Ileana Bauer, Anita Liepert, „Zum Differenzierungsprozeß im Liberalismus des deutschen Vormärz“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 30 (1982), 413 – 425; Rudolf Vierhaus, „Liberalismus“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrg. v. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, III, Stuttgart: Klett, 1982, 741 – 785; James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 – 1914, A. d. Engl., München: Beck, 1983; Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, hrg. v. Wolfgang Schieder, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983; Hans Fenske, „Il liberalismo tedesco (1815 – 1848)“, in: Istituzioni e ideologie in Italia e in Germania tra le revoluzioni, hrg. v. Umberto Corsini und Rudolf Lill (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, 23), Bologna: Il Mulino, 1987, 127 – 167; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988; ders. (Hrg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen: Vandenheock & Ruprecht, 1988; Konrad H. Jarausch und Larry Eugene Jones, „German Liberalism Reconsidered: Inevitable Decline, Bourgeois Hegemony, or Partial Achievement?“, in: In Search of a Liberal Germany. Studies in the History of German Liberalism from 1789 to the Present, hrg. v. dens., New York: Berg, 1990, 1 – 23; Helmut Asmus, „Die Verfassung von 1791 als Leitbild im süddeutschen Vormärzliberalismus“, in: Die Französische Revolution, Mitteleuropa und Italien, hrg. v. Helmut Reinalter, Frankfurt: Lang, 1992, 269 – 283; Helmut Asmus, „Liberalismus, Liberale“, in: Lexikon zu Demokratie und Liberalismus, 1750 – 1848/49, hrg. v. Helmut Reinalter, Frankfurt/M.: Fischer, 1993, 200 – 208; Rainer Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz. Studien zu Rotteck, Welcker, Pfizer, Murhard, Baden-Baden: Nomos, 1994; Gilbert Merlio, „Le Romantisme politique et l’idée de nation“, in: Naissance et évolution du libéralisme allemand (1806 – 1849), hrg. v. Françoise Knopper und Gilbert Merlio, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail, 1995, 27 – 48. 170 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, II, Leipzig: Engelmann, 1856, 135. Vgl. auch Paul Pfizer, „Liberal, Liberalismus“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Karl von Rotteck und Karl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 2 1845 – 1848, VIII, 523 – 535, bes. 527, 533.

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xiert171 und hat darüber die spanische Verfassung von 1812 völlig aus den Augen verloren und mithin ihren Einfluss in Deutschland während dieser Zeit überhaupt nicht wahrgenommen? Dabei belegt nur ein flüchtiger Blick auf die eindrucksvolle Zahl einschlägiger Veröffentlichungen bereits den nachhaltigen Einfluss des spanischen Verfassungsmodells auf die deutsche Diskussion um den modernen Konstitutionalismus zumal in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Das nahezu vollständige Versäumnis der modernen Verfassungsgeschichtsschreibung, hierauf einzugehen,172 offenbart daher eine gravierende Forschungslücke, die dieses Kapitel zu schließen helfen soll. Als Ergebnis einer näheren Betrachtung erscheinen die politischen und Verfassungsvorstellungen im Deutschland der 1820er und 1830er Jahren erheblich verzweigter und komplexer als bislang angenommen wurde. Umso zwingender ist es, die hiesige Diskussion um den modernen Konstitutionalismus und seine grundlegenden Prinzipien entschlossen in den Blick zu nehmen. Ungeachtet dieser Feststellungen wird man zunächst konstatieren müssen, dass die Proklamation der Cortes-Verfassung am 19. März 1812 in Deutschland kaum Beachtung gefunden hatte. Auf die napoleonischen Verfassungen in Deutschland, die mit der Verfassung des Königreichs Westfalen 1807 begannen,173 hatte die völlig entgegengesetzte spanische Verfassung naturgemäß keine Einwirkung. Stand schon das politische Klima der Veröffentlichung anti-napoleonischer Verfassungsvorstellungen entgegen, dominierte der Krieg gegen Napoleon von Moskau über Leipzig bis Waterloo vollends die öffentlichen Diskussionen zwischen 1812 und 1814. Erst nach der Abdankung Napoleons 1814 erschienen die ersten Kommentare der Verfassung in Deutschland, zumal inzwischen französische Ausgaben des Textes vorlagen.174 Im August 1814 kam eine fünfzehnseitige Zusammenfassung der Ver171 Vgl. Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Eine Darstellung und Kritik des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Diss. phil. Tübingen, Stuttgart: Kohlhammer, 1928, bes. 2 – 7, 31 – 51. 172 Eine, wenn auch nur eingeschränkte Ausnahme ist Rainer Wohlfeil, „Das Spanienbild der süddeutschen Frühliberalen“, in: Geschichtliche Landeskunde, V (1968), 109 – 150. Eher ungeordnet und oberflächlich ist Hans Juretschke, „Die Anfänge der modernen deutschen Historiographie über Spanien (1750 – 1850). Ein Versuch“, in: Homenaje a Johannes Vincke para el 11 de mayo 1962, hrg. v. d. Consejo Superior de Investigaciones Científicas und der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, 2 Bde., Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, 1962 – 1963, II, 867 – 923. Kein Hinweis auf Deutschland findet sich in dem Aufsatz von Ferrando Badía, „Die spanische Verfassung von 1812 und Europa“, 153 – 180. Wohlfeils Feststellung „Bis heute blieb jedoch die Frage unbeantwortet, welchen Einfluß die Verfassungen von Bayonne und Cádiz auf das politische Denken und Handeln des Liberalismus in Deutschland, insbesondere auf den süddeutschen Frühkonstitutionalismus, ausgeübt haben“, hat auch nach mehr als 30 Jahren nichts von ihrer Berechtigung verloren, vgl. Rainer Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung, 1808 – 1814, Wiesbaden: Steiner, 1965, 266 – 267. 173 Vgl. dazu unten Kap. VI. 6. 174 Vgl. Constitution politique de la monarchie espagnole, promulgée à Cadix, le 19 de mars 1812, A. d. Span. übers. v. Philibert de Lasteyrie, Paris: Dentu, 1814. Karl Ludwig von Haller,

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fassung heraus, mit der erstmals genauere Informationen über sie auf Deutsch vorlagen.175 Die ersten verstreuten Bemerkungen über die Cortes-Verfassung, die in den folgenden Monaten veröffentlicht wurden, basierten hauptsächlich auf diesen Ausgaben, und da Gegner wie Befürworter der Verfassung gleichermaßen das mit ihr zum Ausdruck gebrachte Prinzip der Volkssouveränität als Angelpunkt für ihre Haltung zu dieser Verfassung hervorkehrten, bildeten sich gleich zu Beginn jene Interpretationslinien heraus, die für die folgenden Jahrzehnte bestimmend werden sollten. So ließen sich schon mit den ersten konträren Äußerungen vier Richtungen voneinander abgrenzen. Eine von ihnen war die der Restauration verbundene Auffassung, die jede Verfassung auf der Grundlage des modernen Konstitutionalismus als das verabscheuungswürdige Ergebnis der Revolution verdammte. Eine zweite Einstellung lässt sich als gemäßigt konservativ bezeichnen, die die spanische Verfassung von 1812 grundsätzlich ablehnte, da die mit ihr zum Ausdruck gebrachten Prinzipien des modernen Konstitutionalismus nach ihrer Überzeugung dem spanischen Charakter und der Lebensart des Volkes diametral widersprachen. Eine dritte Richtung verkörperte die gemäßigt liberale Position, die von der Notwendigkeit von Verfassungen überzeugt war, aber den Gedanken der Volkssouveränität verwarf. Schließlich treffen wir auf die uneingeschränkt liberale Haltung, die die Volkssouveränität bereitwillig akzeptierte und folglich die Vorzüge der Cortes-Verfassung herausstrich. Alle diese Richtungen weisen in sich Modifikationen und innere Differenzierungen auf, unterstreichen jedoch insgesamt die Bedeutung der spanischen Verfassung für die prinzipiellen Auseinandersetzungen in der Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland. Die öffentliche Zurückweisung der Cortes-Verfassung durch die Parteigänger der Restauration entwickelte sich nur langsam,176 was zumindest zum Teil darauf zurückzuführen sein dürfte, dass eine ausgedehnte liberale Verteidigung dieser Verfassung zwischen 1814 und 1820 nicht erfolgte,177 als die Verfassung ohnehin nicht in Ueber die Constitution der Spanischen Cortes, o. O. u. N., 1820, 1, bezog seine Kenntnis aus einer offensichtlich weiteren französischen Ausgabe von Nunez de Taboada, ebenfalls veröffentlich in Paris: Firmin Didot, 1814. 175 „Die neue, von den Cortes gegebene, spanische Konstitution, im Auszuge“, in: Die Zeiten oder Archiv für die neueste Staatengeschichte und Politik, hrg. v. Christian Daniel Voss, 39 (1814), 163 – 185 (S. 163 – 170 entfallen auf die Einleitung, die die Verfassung in den Zusammenhang der traditionellen spanischen und speziell aragonesischen Freiheiten stellt, während S. 170 – 185 die zehn Kapitel der Verfassung resümieren). 176 Vgl. Juan Escoiquiz, Neueste spanische Staatsschriften des Don Johann Escoiquiz, Beichtvaters, und des Don Peter von Ceballos, hrg. m. e. Einl. v. Nikolaus Heinrich Julius, Leipzig: Minerva, 1815, bes. 39 – 62. Metternich bezeichnete die Verfassung 1820 als „das Werk der Willkür oder einer unsinnigen Verblendung“: Restauration und Frühliberalismus 1814 – 1840, hrg. v. Hartwig Brandt, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1979, 229. 177 Vgl. den Aufsatz von [Johann Christoph Freiherr von Aretin,] „Was heißt Liberal? Zum Theil mit Benützung eines französischen Aufsatzes in dem Nouvelliste français“, in: Neue Allemannia, I (1816), 163 – 175, der jedoch keinen Hinweis auf die spanischen „liberales“ und ihre Verfassung enthält.

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Kraft war. Die gemäßigt konservative Position mit ihrer Betonung des landfremden Charakters der Cortes-Verfassung, die deshalb auch nicht vom spanischen Volk akzeptiert worden sei, tauchte jedoch spätestens 1815 auf178 und wurde in der Folge beliebig oft wiederholt.179 Ebenfalls aus dem Jahr 1815 stammt die erste bedeutende gemäßigt liberale Kritik, die von Friedrich Christoph Dahlmann veröffentlicht wurde, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen spezifischen Typus des deutschen Verfassungsdenkens vertreten sollte. Er sprach sich gegen den modernen Konstitutionalismus mit seinen abstrakten Prinzipien aus und verkündete stattdessen, dass die Grundlage und das Modell aller Verfassungen, nach dem alle europäischen Staaten strebten, die britische Verfassung sei. Angesichts seines Burke verwandten Ausgangspunktes musste die Cortes-Verfassung, die er in ihrer Begrenzung königlicher Macht für „verwirrend“ und „innerlich unhaltbar“ hielt,180 zwangsläufig versagen. Johann Friedrich Benzenberg hielt den Cortes ebenfalls die Begrenzung königlicher Macht als entscheidenden Irrtum vor.181 Angesichts seiner liberalen Gesinnung lag jedoch das prinzipielle Versäumnis der Cortes-Verfassung in der Missachtung des Harringtonschen Grundsatzes des Zusammenhangs von Herrschaft und Eigentum: „Ueberhaupt war Spanien noch nicht für die Verfassung reif, welche die Kortes ihm geben wollten. In Spanien sind 3/4 aller Ländereyen in den Händen der Krone, des Adels und der Geistlichkeit. Nur 1/4 in den Händen des Bauern. In einem Staate, wo eine solche Vertheilung des Bodens ist, ist keine freye Verfassung möglich, und sie kann nur dann erst entstehen, wenn durch die Zukungen von Revolutionsfiebern der Boden in die Hände seines natürlichen Besitzers zurückgekehrt und die Masse des Volks wieder aus Grundeigenthümern besteht.“182

Da Sebald Brendel kritischer in seiner Einschätzung der britischen Verfassung als Dahlmann war,183 konnte er der spanischen Verfassung durchaus positive Seiten 178 Vgl. Christian Ludwig Albrecht Patje, Geschichte der merkwürdigsten politischen Begebenheiten in den Europäischen Staaten während den Jahren 1789 bis 1814, Hannover: Hahn, 1815, 190. 179 Vgl. Joseph Constantin Bisinger, Vergleichende Darstellung der Staatsverfassung der europäischen Monarchieen und Republiken, zum Gebrauche bey Vorlesungen und zur Selbstbelehrung, Wien: Schaumburg, 1818, 53, 525. 180 Friedrich Christoph Dahlmann, „Ein Wort über Verfassung“, in: Kieler Blätter, 1 (1815), 57 – 58. Zu Dahlmann und den Kieler Blättern, vgl. Klaus A. Vogel, Der Kreis um die Kieler Blätter (1815 – 1821). Politische Positionen einer frühen liberalen Gruppierung in SchleswigHolstein, Frankfurt: Lang, 1989, bes. 6 – 13, 19 – 29. 181 Johann Friedrich Benzenberg, Ueber Verfassung, Dortmund: Mallinckrodt, 1816, 315 – 316. 182 Ebd., 468. 183 Vgl. Sebald Brendel, Die Geschichte, das Wesen und der Werth der National-Repräsentation oder vergleichende historisch-pragmatische Darstellung der Staaten der alten und neuen Welt, besonders der deutschen, in Beziehung auf die Entstehung, Ausbildung, Schicksale und Vorzüge der Volksvertretung oder der öffentlichen Theilnahme an der höchsten Staatsgewalt. Nebst einem Anhange, die merkwürdigsten Verfassungsurkunden seit 1789 enthaltend. Ein Handbuch für wirkliche oder künftige Volksvertreter, 2 Bde., Bamberg und Leipzig: Kunz,

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VI. Deutschland

abgewinnen; sie „enthält viele allgemeinen Wahrheiten, welche in den gebildeten Staaten anerkannt sind, aber dem Stande der spanischen Kultur war sie nicht ganz angemessen“.184 Brendel wandte sich insbesondere gegen die in ihr zum Ausdruck gebrachte Volkssouveränität, weshalb er nicht zu den demokratischen Liberalen gerechnet werden kann, die sich in diesen frühen Jahren ohnehin noch kaum zur spanischen Verfassung zu Wort meldeten. Umso gewichtiger dürfte daher die in den Europäischen Annalen, einer der führenden Zeitschriften der Zeit, zum Ausdruck gebrachte Auffassung sein, mit der sich ihr Autor über Ferdinands unbedachte Zurückweisung der Verfassung entrüstete, sei die Verfassung doch der französischen Verfassung von 1791 aufgrund ihrer Mäßigung, Einsicht und Anpassungsfähigkeit an gewandelte politische Situationen deutlich überlegen.185 Nach diesen vereinzelten Bemerkungen zur Cortes-Verfassung unmittelbar nach Ende der Napoleonischen Ära vollzog sich ein grundlegender Wandel um 1820, als einhergehend mit dem erneuten Inkrafttreten der Verfassung, mindestens fünf verschiedene deutsche Ausgaben der spanischen Verfassung in Buchform oder in Zeitschriften veröffentlicht wurden, wenn auch zwei von ihnen unvollständig,186 ohne auf die zahlreichen Hinweise in Zeitungen, zum Teil verbunden mit mehr oder weniger langen Auszügen aus der Verfassung, in dieser Zeit einzugehen.187 Ungeachtet der Karlsbader Beschlüsse von 1819 mit ihrer drakonischen Pressezensur verbreitete sich die Kenntnis der Cortes-Verfassung in Deutschland derart rasch, dass 1817, bes. I, 67 – 113. Brendel ließ seine ursprüngliche Idee eines Anhangs mit den wichtigsten Verfassungen wieder fallen, nachdem Pölitz 1817 mit der Veröffentlichung seiner Europäischen Constitutionen begonnen hatte, vgl. Brendel, National-Repräsentation, II, v. 184 Brendel, National-Repräsentation, I, 160, vgl. allgemein 160 – 165. 185 „Spanien am Anfang des Jahres 1814, oder: Ferdinand VII. und die Cortes, Aus dem Manuscript eines Spaniers“, in: Europäische Annalen, Juli 1815, 54 – 67. 186 Spaniens Staats-Verfassung durch die Cortes, übers. u. hrg. v. Friedrich von Grunenthal und Karl Gustav Dengel, Berlin: Christiani, 1819. Eine weitere Übersetzung, die mit dem Art. 191 abbrach, erschien in: Europäische Annalen, April 1819, 41 – 81. Offensichtlich verbreiteter war: Die spanische Constitution der Cortes und die provisorische Constitution der Vereinigten Provinzen von Südamerika, Leipzig: Brockhaus, 1820. Pölitz erhielt seine Kenntnis der Verfassung von dieser Ausgabe, vgl. [Karl Heinrich Ludwig Pölitz,] Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, 4 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1817 – 1825, III (1820), 34. Der Verfassungstext folgte, ebd., 35 – 104; Die Zeiten oder Archiv für die neueste Staatengeschichte und Politik, hrg. v. Christian Daniel Voss, 62 (1820), 380 – 404 (Juni), 63 (1820), 66 – 89 (Juli). Der Text brach ebenfalls mit Art. 191 ab, ohne dass der Abdruck gemäß den ursprünglichen Absichten fortgesetzt worden wäre. Die Übersetzung unterscheidet sich geringfügig von der in den Europäische Annalen. Vgl. zu den Editionen der Cadiz-Verfassung in Deutschland in dieser Zeit und ihren deutschen Übersetzungen meinen Beitrag „Can Constitutions be Translated? The Case of the Cadiz Constitution in German“, in: Translations in Times of Disruption. An Interdisciplinary Study in Transnational Contexts, hrg. v. David Hook u. Graciela Inglesias-Rogers, London: Palgrave Macmillan, 2017, 21 – 43. 187 Vgl. Carl Venturini, Spaniens neueste Geschichte. Von der Ausfertigung der neuen Constitution durch die Cortes im Jahre 1812 bis zur feierlichen Bestätigung derselben durch den König im Jahre 1820, Altona: Hammerich, 1821, 32; Wohlfeil, „Spanienbild der Frühliberalen“, 117.

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Murhards Allgemeine politische Annalen, die Nachfolger der Europäische Annalen, Anfang 1821 ihren 170 Seiten langen Beitrag über „Spanien’s Cortes im Jahr 1820“ mit der knappen Feststellung einleiten konnten: „Wir setzen die Verfassungsurkunde der Cortes als bekannt voraus.“188 Angesichts der gemäß zeitgenössischer Auffassung „spanischen Revolution von 1820“ häuften sich die Nachrichten über die Verfassung von 1812 und machten ihren Text derart leicht zugängig, dass die öffentliche Auseinandersetzung um sie in Deutschland für einen kurzen Zeitraum als ausgedehnt bezeichnet werden kann. Wie nicht anders zu erwarten, nahm die Restauration sogleich das Thema auf und fand ihr wichtigstes Sprachrohr in Karl Ludwig von Haller, dessen Schrift u. a. 1823 ins Spanische übersetzt wurde,189 nicht zuletzt um dort als Legitimation für das Eingreifen der Heiligen Allianz dienen zu können. Haller hatte mit seiner Verdammung der Verfassung von Cadiz 1814 begonnen, jedoch die Arbeit an seiner Schmähschrift eingestellt, als er erfahren hatte, dass Ferdinand VII. die Verfassung verworfen hatte. Als er hingegen 1820 zur Kenntnis nehmen musste, dass sie wieder in Kraft gesetzt worden war, machte er sich unverzüglich an die Fertigstellung und Veröffentlichung seiner Schrift.190 Angeblich ging es ihm dabei um eine Analyse der Verfassung, Artikel für Artikel. In Wirklichkeit war er jedoch ausschließlich darauf aus zu verkünden, dass sie Ausdruck reinsten Jakobinismus sei.191 Fixiert auf dieses Schreckgespenst vergangener Zeiten, vermochte Haller weder dieser Verfassung noch Verfassungen überhaupt auch nur die geringsten positiven Aspekte abzugewinnen. So überrascht es nicht, dass er die britische Verfassung mit keinem Wort erwähnte und mithin keinen Vergleich zwischen beiden Verfassungen anstellte. Verdamnis war sein einziges Ziel, nicht Analyse und Interpretation.192 Im allgemeinen interessanter als diese Sichtweise der Restauration waren zumindest einige Argumente von Seiten der gemäßigt Konservativen, darunter zumal jene Auffassungen, die über das Stereotyp hinausgingen, dass die Cortes-Verfassung allein Ausdruck landfremder Ideen sei, die keine Entsprechung im spanischen Charakter fänden. Einige dieser aufgeklärteren Konservativen waren sich der Modernität dieser Verfassung aufgrund einer umfassenderen Betrachtung bewusst, selbst wenn sie diese ablehnten, da „die alles Bestehende zernichtet, die nichts haben will, als eine große Masse vereinzelter Individuen, die in administrative Provinzen, Bezirke und Gemeinden getheilt, jedem Bedürfnisse ihrer Verwaltung schnell entsprechen, und dazu viel Kinder, Früchte und Waaren produciren, und Landstraßen

188

Allgemeine politische Annalen, hrg. v. Friedrich Murhard, I (1821), 35. Vgl. den ganzen Artikel, ebd., 35 – 144 (H. 1 und 2), 392 – 460 (H. 3 und 4). 189 Vgl. Juretschke, „Deutsche Historiographie über Spanien“, 885. 190 Vgl. Haller, Constitution der Spanischen Cortes, iii – iv. 191 Ebd., iv, v, vi, viii, ix, 1, 4, 10, 11, 12, 13 u. ö. 192 So auch der Rezensent in „Ueber die Constitution der spanischen Cortes; vom Herrn v. Haller“, in: Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur, 4 (1820), 287 – 323.

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und Canäle bauen müssen, diese administrative, demokratische Phantasie“.193 Selbst indem sie die Verfassung verächtlich machten, ließen sie noch ein tieferes Verständnis von ihr erkennen, als Haller je zum Ausdruck zu bringen in der Lage war. Schließlich erahnten sie zumindest, dass mit der Zerstörung von Feudalismus und traditionellen Abhängigkeiten sowie der Rationalisierung der Verwaltung der Weg zur Verbesserung von Industrie, Handel und Infrastruktur geebnet war.194 Wenn sie auch diese Gesichtspunkte als „demokratische Phanthasie“ beiseite fegten, befanden sie sich in diesen Fragen nicht allzu entfernt von Positionen des gemäßigten Liberalismus. Dieser stimmte zwar grundsätzlich der Verfassung als Verfassung zu, fand das spanische Beispiel jedoch aus verschiedenen Gründen unzureichend.195 Einige aus diesem Kreis griffen Dahlmanns Argument ihres inneren Ungleichgewichts auf,196 während andere die Rolle des Bürgertums als treibende Kraft der Verfassung betonten, welches nach mehr strebte, als mit ihr erreicht, womit es ohnehin bereits die Verfassung in einen unmittelbaren Widerspruch zu den Prinzipien der Zeit gebracht habe.197 Vermutlich hat Joseph Görres diese Auffassungen am treffendsten zum Ausdruck gebracht, wenngleich seine Betonung der abstrakten Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, die dem spanischen Charakter fremd seien, ihn in deutliche Nähe zu konservativen Positionen brachte.198 Zwar verabscheute er den Despotismus, doch fürchtete er, dass die neue Verfassung und ihre Prinzipien nur mittels eines lang anhaltenden Terrors durchzusetzen sein würden. Die nahezu gesamte Palette gemäßigt liberaler Anschauungen dieser Jahre hinsichtlich der Cortes-Verfassung fasste Görres in einem einzigen, wenn auch langen Satz zusammen: „Diese Constitution der Cortes aber, die den König zur Dienstbarkeit verdammt, ihn zum bloßen Vollzieher dictirter Gesetze macht, die Autorität an eine überkünstlich gebildete, dem Volke entrückte Wahlaristocratie bindet, den Glauben als etwas Aeußerliches nur gewähren läßt, die Kirche blos duldet, und nicht etwa in besserer Vertheilung der Güter reformirt, sondern sie gewaltsam aus ihrem Besitze treibt, die den Adel ignorirt, alle geschichtliche Erinnerung von sich weis’t, und, sich also in Widerspruch mit allem specifisch Eigenthümlichen, Oertlichen, Nationellen, Charakteristischen setzend, ein neues Spanien auf ihre Hand beginnt, kann eben darum im alten Spanien eine so ganz exotische Natur nicht fortdauernd behaupten.“199 193

[Clemens W. von Hügel,] Spanien und die Revolution, Leipzig: Brockhaus, 1821, 113 (Hervorhebung im Original, HD). 194 Vgl. ebd., 215. 195 Venturini, Spaniens neueste Geschichte, 34 – 39. 196 [Pölitz,] Constitutionen der europäischen Staaten, III, 33. 197 Friedrich Saalfeld, Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit, seit dem Anfange der französischen Revolution, 3 Bde. in 4, Leipzig: Brockhaus, 1815 – 1820, III/2 (1820), 367. Er ging auf die Cortes-Verfassung ebenfalls in seinen Vorlesungen ein, vgl. ders., Grundriß zu Vorlesungen über die Geschichte der neuesten Zeit, vom Anfange der französischen Revolution bis jetzt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1821, 119, 145. 198 Joseph Görres, Europa und die Revolution, Stuttgart: Metzler, 1821, 256. 199 Ebd., 257, vgl. allgemein 253 – 259.

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Kaum ein zweiter Autor brachte das Unbehagen des deutschen gemäßigten Liberalismus mit dem modernen Konstitutionalismus exemplifiziert durch die CortesVerfassung in vergleichbarer Weise in den Jahren 1820/21 zum Ausdruck. Die demokratischen Liberalen, für die die Volkssouveränität kein Schreckgespenst darstellte, bekannten sich uneingeschränkt zur spanischen Verfassung. Um zu erfahren, warum sie nach ihrer Meinung für ein deutsches Publikum so interessant sein könnte, genügt es, einige jener Epitheta herauszugreifen, die die Herausgeber der ersten vollständigen deutschen Ausgabe in ihrer Einleitung gesperrt drucken ließen: „Mitherrschaft des Bürgers“, „Bürgertum“, „bürgerliche Rechtspflege“, „Oeffentlichkeit des Verfahrens“, „Gleichheit“, „Tilgung der Staatsschulden aus dem Ertrag der Steuern“, „öffentlichen Unterrichts“, „Keine Zensur“.200 Das war nicht der Katalog der verfassungsrechtlichen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, doch liest er sich wie die Liste der sozialen Konsequenzen, die sich aus ihm als politische Desiderata ziehen ließen.201 Hinzu kam, dass Spanien den Nachweis zu liefern schien, dass eine Verfassung, die auf diesen Prinzipien beruhte, nicht als die „Geburt einer gärenden Umwälzung“, sondern als „ein Werk besonnener, sittlich geläuterter Staatskunst“ eingeführt werden könne.202 Dieser liberale Glaube an die evolutionäre Transformation der autokratischen Regierung mittels der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in eine gewandelte Monarchie, die politisch und sozial dem aufstrebenden Bürgertum offenstand, schien um 1820 das überzeugendste Argument für das Modell der Verfassung von 1812. Ihr demokratischer Grundgedanke fand daher ebenso Zustimmung wie dessen logische Konsequenz, die politische Freiheit der Presse.203 Beredtes Zeugnis für diese liberale Überzeugung lieferten de Pradt and Toreno, deren Bücher in diesen Jahren als Übersetzung erschienen.204 Gerade weil die spanische Verfassung „von den jetzt herrschenden Verfassungs- und Regierungssystemen nicht nur abweicht; sondern mit 200

Spaniens Staats-Verfassung, hrg. v. Grunenthal und Dengel, iv, viii, ix. Zum liberalen „Mittelstandsideal“ und dem Gedanken der bürgerlichen Emanzipation, vgl. Thomas Zunhammer, Zwischen Adel und Pöbel. Bürgertum und Mittelstandsideal im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker. Ein Beitrag zur Theorie des Liberalismus im Vormärz, Baden-Baden: Nomos, 1995. 202 Spaniens Staats-Verfassung, hrg. v. Grunenthal und Dengel, iii. 203 Vgl. „Politische Konstitution der spanischen Monarchie. Einleitung“, in: Die Zeiten, hrg. v. Voss, 62 (1820), bes. 291 (Mai 1820); Heinrich Meisel, Beiträge zur Geschichte der spanischen Revolution; No. 1: Denkschrift über die Revolutionstage in Madrid im Jahr 1820, Leipzig: Brockhaus, 1821 [mehr nicht veröffentlicht], 7 („die hie und da fast auf demokratische Principien gestellte Constitution von 1812“). 204 Dominique G. de Pradt, Die neueste Revolution in Spanien und ihre Folgen, A. d. Franz., Leipzig: Brockhaus, 1820, bes. vi, 176 – 209; José María Graf Toreno, Historische Uebersicht der Staatsveränderungen Spaniens, vom ersten Ausbruche des Aufstandes im Jahre 1808 bis zur Auflösung der Cortes, A. d. Span., Dresden: Hilscher, 1821. Beide Schriften erschienen in einer weiteren Übersetzung in: Europäische Annalen, Juni 1820, 352 – 384, Juli 1820, 21 – 59, August 1820, 199 – 240, September 1820, 257 – 281 (de Pradt); Oktober 1820, 101 – 128, Dezember 1820, 295 – 326 (Toreno). 201

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denselben, in offenbaren Widerspruch tritt“,205 hatten diese Liberalen keinen Zweifel an ihrem vorbildlichen Charakter: „Diese Constitution, welche ein fruchtbringendes Denkmal politischer Vernunft seyn wird für die Völker des Erdballs, scheint den wahren Ruhe- und Berührungspunct getroffen zu haben zwischen den Rechten der Völker und den Vorrechten der Monarchen.“206 Obwohl die Karlsbader Beschlüsse jede offene Auseinandersetzung um diese liberalen Grundsätze im Deutschen Bund verhinderten, spricht alles für die Annahme, dass zur Zeit des Kongresses von Verona im Herbst 1822 die Cortes-Verfassung vom demokratischen Liberalismus in Deutschland als jenes Verfassungsmodell angesehen wurde, das überzeugender als die britische Verfassung mit ihrem immer noch unreformierten Parlament seine Hoffnungen und Wünsche verkörperte. Gerade angesichts dieser Begeisterung des europäischen Liberalismus erschien es der Restauration in Verona zwingend angebracht, kompromisslos gegen diese Verfassung vorzugehen. Der Höhepunkt der deutschen Auseinandersetzung mit der Cortes-Verfassung fiel in diese frühen 1820er Jahre. Die Politik der Heiligen Allianz mit ihren Kongress von Verona und der dort beschlossenen französischen Intervention in Spanien, die zur erneuten Abschaffung der Cortes-Verfassung führte, konnte die deutsche Auseinandersetzung um sie angesichts der herrschenden Zensur nicht weiter beflügeln. Zwar erschien noch auf französisch ein umfangreicher Band mit zahllosen Dokumenten zur Situation in Spanien zwischen 1820 und 1823, einschließlich der Verfassung von 1812,207 doch ungeachtet des neuerlichen Siegs der Restauration über die Cortes-Verfassung blieb es in den Jahren von 1822 bis 1829 bei den generellen Positionen, die sich in Deutschland in der Auseinandersetzung um die Verfassung von 1812 in den voraufgegangenen Jahren herausgebildet hatten. Die Autoren der Restauration und in abgewandelter Form konservative Verfasser überhaupt begrüßten das Ende des spanischen Experiments, da die Verfassung lediglich die verabscheuungswürdigen Prinzipien der Französischen Revolution zum Ausdruck und dem Land Verderbnis gebracht habe.208 Die gemäßigten Liberalen sahen sich in ihrer Begeisterung für die britische Verfassung ebenso bestätigt wie in ihrem Unbehagen an jenen fremdartigen Grundsätzen des modernen Konstitutio205

Politische Konstitution der spanischen Monarchie, 291, vgl. allgemein 264 – 292. Rezension von „Ueber die Constitution der spanischen Cortes“, 323, vgl. auch 290. 207 Archives diplomatiques pour l’histoire du temps et des États, III, Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1823, 1 – 61. Der 557 Seiten umfassende Band ist ausschließlich Spanien gewidmet mit einem Anhang von rund 40 Seiten und Dokumenten zu den europäischen Kongressen über die Heilige Allianz (1815) bis zum Kongreß von Verona. 208 Vgl. Georg Ludwig Jerrer [pseud. f. Johann Heinrich Meynier], Gemälde aus der neuesten Völkergeschichte von der französischen Revolution an bis auf unsere Zeiten für die Jugend, 2 Bde., Leipzig: Fleischer, 1824, II, 382 – 387; Friedrich Buchholz, Geschichte der Europäischen Staaten seit dem Frieden von Wien, XII, Berlin: Wittich, 1825, bes. 132 – 133, 220; Karl Adolf Menzel, Geschichte unserer Zeit seit dem Tode Friedrichs des Zweiten, 3 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 31829, III, bes. 167 – 169. 206

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nalismus, die nicht dem spanischen Charakter entsprächen.209 In ihrer Mehrzahl zogen sie es daher nach ihrem Sturz 1823 vor, sich gar nicht erst zur Cortes-Verfassung zu äußern.210 Umso markiger charakterisiert Karl Heinrich Ludwig Pölitz ihre Position, der die Verfassung von 1812 als „ein höchst unvollkommenes Werk“ empfand.211 Nach seiner Überzeugung befand sie sich von Anbeginn im Widerspruch zu allen europäischen Verfassungen und wies lediglich unbedeutende Anklänge an die Verfassungen von Schweden von 1809 und von Norwegen von 1814 auf. Hingegen erschien es ihm bemerkenswert, dass lediglich in Portugal, Neapel und Piemont, „also durchgehends in völlig katholischen Reichen“, das spanische Modell aufgegriffen worden sei.212 Anders als Hegel, der eine unmittelbare Verbindung zwischen Liberalismus und Protestantismus zu erkennen glaubte,213 argumentierte Pölitz jedoch nicht vorrangig konfessionell.214 Er lehnte die Cortes-Verfassung ab, „weil, nach dem Zeugnisse der Geschichte, keine Verfassung in monarchischen Staaten auf die Dauer sich erhält, welche die königliche Macht stärker beschränkt, als die brittische, und welche alle Stände eines größern Reiches in einer einzigen Kammer versammelt“.215 Demokratie und Volkssouveränität waren gemäß der Überzeugung von Pölitz wie der gemäßigten Liberalen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts überhaupt mit dem monarchischen System unvereinbar, wie die historische Erfahrung über allen Zweifel hinaus offenbart habe. „Alle Versuche, seit dem Jahre 1791, das demokratische Princip in den Mittelpunct der Verfassungen monarchischer Reiche zu stellen, scheiterten innerhalb des europäischen Staatensystems, und doch war diese geschichtliche Warnung, selbst noch am Schlusse des

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Vgl. Heinrich von Brandt, Ueber Spanien, mit besonderer Hinsicht auf einen etwaigen Krieg, Berlin: Schüppel, 1823, bes. 126 – 127. 210 Vgl. Wilhelm Traugott Krug, Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit. Ein historischer Versuch, Leipzig: Brockhaus, 1823, der die Cortes-Verfassung praktisch nicht erwähnt. In seiner neutralen Aufzählung der Verfassungsbestimmen fügte Pölitz als einzigen persönlich gefärbten Satz ein: „Die Verfassung der Cortes vom 19. März 1812 trug allerdings das demokratische Gepräge, obgleich bereits von den Cortes der Name Ferdinand 7 an die Spitze derselben gestellt ward; auch war in derselben die Versammlung der Cortes nur in Einer Kammer ausgesprochen“ (Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 5 Bde., Leipzig: Hinrichs, 21827 – 1828, IV, 668). 211 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, geschichtlich-politisch dargestellt, 3 Bde., Leipzig: Hinrichs, 1826, II, 347. 212 Pölitz, Staatensysteme, III, 252 – 253. 213 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke, hrg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, XII), Frankfurt: Suhrkamp, 1970, 535. 214 Andere hingegen knüpften an das Beispiel von Spanien, Portugal, Neapel und Piemont die Frage, ob der Katholizismus als Beförderer von Revolutionen gelten müsse, vgl. Konstitutionelle Zeitschrift (1823), 441 – 447. 215 Pölitz, Staatensysteme, III, 253.

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zweiten Jahrzehends des neunzehnten Jahrhunderts, für vier europäische Königreiche verloren gegangen!“216

Die Cortes-Verfassung, was immer man ihr zugutehalten möge, könne daher nicht als Vorbild dienen. Angesichts dieses vergleichsweise statischen Weltbildes erschien ihnen eine über die britische Verfassung hinausgehende Beschränkung der königlichen Macht, obgleich sich diese selbst unmittelbar vor einer einschneidenden Veränderung befand, nicht denkbar. Die demokratischen Liberalen, für die das britische Beispiel nicht die Grenze des Möglichen und Erstrebenswerten darstellte, blieben auch weiterhin von dem spanischen Modell grundsätzlich überzeugt. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das zweibändige Werk über die alten und neuen Cortes, das zwischen 1824 und 1826 erschien.217 Sein Autor, ein Schüler, Freund und späterer Biograph von Carl von Rotteck,218 wies sich als Anhänger der Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und verfassungsmäßigen Regierung aus,219 dessen Sympathien eindeutig der spanischen Verfassung galten. Zwar erschien sie ihm nicht makellos, jedoch „Europa freute sich eines Versuches die Ansprüche des Demokratismus mit der Autorität des Königthums zu versöhnen und auszugleichen“.220 Andere übernahmen diese bekannten liberalen Argumente, wie sie von Münch wiederholt worden waren,221 darunter einige aus der Überzeugung, dass die historischen Umstände ihre Fehlerhaftigkeit letztlich entschuldigten,222 anderer, weil sie nichts enthielt, „als was durch alte Verfassungen schon bewährt“.223 Um die Legitimität der Cortes-Verfassung zu unterstreichen, wurde bewusst darauf verzichtet, ihren revolutionären Gehalt herauszustreichen. Wichtiger noch als diese Bücher war für den demokratischen Liberalismus der 1820er Jahre das herausragende Werk von Johann Christoph Freiherr von Aretin über das Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie.224 Aretin behandelte darin die 216

Ebd. Vgl. ähnliche Auffassungen bei Karl Theodor Welcker, Das innere und äußere System der praktischen natürlichen und römisch-christlich-germanischen Rechts-, Staats- und Gesetzgebungs-Lehre, I, Stuttgart: Metzler, 1829, 205, 271 – 286. 217 Ernst Münch, Die Schicksale der alten und neuen Kortes von Spanien, 2 Bde., Stuttgart: Metzler, 1824 – 1826. 218 Vgl. Hermann Kopf, Karl von Rotteck – Zwischen Revolution und Restauration, Freiburg: Rombach, 1980, 55 – 60. 219 Münch, Kortes, I, vi – viii. 220 Ebd., I, 137, 138. 221 Ebd., 137. 222 Alphons Rabbe, Die Geschichte Spaniens. Frei bearbeitet [und bis zum Schlusse des Jahres 1825 fortgesetzt] von Belmont, 3 Bde., Dresden: Hilscher, 1826, III, 47, vgl. auch 57 – 59. 223 Andreas Daniel Berthold von Schepeler, Geschichte der Spanischen Monarchie von 1810 bis 1832, 4 Bde., Aachen und Leipzig: A. Mayer, 1829 – 1834, I, 76. 224 Johann Christoph Freiherr von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studirende Jünglinge, und gebildete Bürger, 2 Bde., Altenburg: Literatur-Comptoir, 1824 – 1827. Eine zweite Auflage, besorgt von Karl von Rotteck, der

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Cortes-Verfassung in dem Abschnitt „Zur Demokratie sich hinneigende konstitutionelle Regierungen“. Ungeachtet des Kongresses von Verona und der inzwischen in Spanien vorrückenden Invasionstruppen stellte Aretin unzweideutig fest, „daß ein Staat von andern völkerrechtlich nicht gezwungen werden könne, seine Verfassung zu ändern“.225 Trotz der prekären Lage des Landes hoffte er bis zum Schluss, dass sich Spanien bereitfinden möge, gewisse Modifikationen an der Machtstellung von König und Cortes vorzunehmen, die einen Ausgleich zumindest mit Großbritannien, wenn nicht sogar mit den kontinentalen Mächten erlauben würden. Würde dies erreicht, wäre Spanien ein Ehrenplatz in der Geschichte des modernen Konstitutionalismus gewiss und das Land in der Lage, „der Welt zu verkünden, daß in den konstitutionellen Staaten nicht mehr, wie ehemals, List und Habsucht, Kastenvortheil und ausweichende Halbheit herrschen sollen, und daß die Gerechtigkeit auch nach außen das Grundgesetz seyn müsse, wie sie es im Innern durch die neuen Verfassungen geworden“.226 Im Gegensatz zur Haltung der gemäßigten Liberalen war sich Aretin gewiss, dass Spanien damit den Nachweis erbringen würde, „daß unser Heil nur in der konstitutionellen Regierung blüht, welche alle drei Prinzipien [d. h. Monarchie, Aristokratie, Demokratie] vereinigt, und eins durch das andere befestigt, aber keins vor dem andern begünstigt“.227 Selbst wenn Aretin damit die Aristokratie in diesem Zusammenhang stärker betont sehen wollte, als die CortesVerfassung vorsah und als andere demokratische Liberale für angebracht hielten, unterstreicht er mit seiner Position, dass sich der moderne Konstitutionalismus mit seinen Prinzipien in den frühen zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts im liberaldemokratischen Lager verfestigt hatte, das diese Verfassungsziele mit Spanien verwirklicht sah, während für die gemäßigten Liberalen weiterhin Großbritannien das Vorbild blieb. Das politische Klima im Deutschland der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts war merklich von dem der zwanziger Jahre verschieden. Die Revolutionen von 1830 hatten eine neue, wenn auch kurze Welle von Verfassungsgebungen hervorgebracht, bevor erneute Maßnahmen staatlicher Repression um 1834 versuchten, der politischen und sozialen Unruhe im Lande Herr zu werden. Dennoch vermochte der moderne Konstitutionalismus in dieser Anfangsphase des Vormärz, seine Ideen weiter als zuvor in Deutschland zu verbreiten.228 Im Gegenzug warnten Konservative unverändert vor der Cortes-Verfassung, darunter die in dieses Lager übergeschwenkte Allgemeine Zeitung aus Augsburg229 bereits den 2. Bd. der 1. Aufl. verfasst hatte, erschien in 3 Bänden in Leipzig: Volckmar, 1838 – 1840. 225 Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie (1. Aufl.), I, 134. Die „Vorrede“ datiert von Oktober 1823 (vgl. S. xii). Unverändert in der 2. Aufl., I, 129. 226 Ebd. (1. Aufl.), 136. Unverändert in der 2. Aufl., I, 130. 227 Ebd. (1. Aufl.), 137. Unverändert in der 2. Aufl., I, 131. 228 Vgl. dazu unten Kap. VI. 8. 229 Zumindest Rotteck beschuldigte die Allgemeine Zeitung „so gar sehr anticonstitutionell, d. h. also so sehr carlistisch und miguelistisch überhaupt absolutistisch gesinnt“ zu sein: Karl

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und Friedrich Wilhelm Schubert, nachfolgend Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, des Erfurter Unionsparlaments wie der preußischen Ersten Kammer. Er geißelte die Verfassung als das Ergebnis „der misslichsten Zeitzustände“, wodurch sie für normale Zeiten völlig untauglich sei. Erneut findet sich hier das Verdikt von der auf katastrophale und unerträgliche Weise reduzierten königlichen Macht. Das Ergebnis dieser antimonarchischen Konstruktion war für ihn – ein recht origineller Gedanke230 –, dass die Verfassung „die Monarchie in eine Republik mit einem erblichen Praesidenten umgewandelt“ hatte.231 Noch radikaler in seiner konservativen Position war der einstige Madrider Korrespondent der Allgemeinen Zeitung, Johann Baptist von Pfeilschifter, der die Verfassung als „das Machwerk einer verrätherischen Versammlung“ abqualifizierte.232 Auch die Liberalen jeglicher politischen Couleur hatten die Verfassung von 1812 nicht vergessen, die für die politischen und verfassungsrechtlichen Zielsetzungen der demokratischen Liberalen in den zwanziger Jahren einen so herausragenden Rang eingenommen hatte. Den gemäßigten Liberalen, deren ausschließliche Sympathie der britischen Verfassung galt, erschien die Cortes-Verfassung auch weiterhin als ein bedauernswürdiger Irrtum.233 Die demokratischen Liberalen hingegen trauerten ihr nach und riefen ihre wichtigsten liberalen Züge erneut ins Gedächtnis.234 Mitunter war die Nostalgie unverkennbar; anderen hingegen lag daran, den Unterschied zu Frankreich zu betonen: „In Spanien war der Liberalismus eine Sache der Humanität

von Rotteck, Spanien und Portugal. Geographische, statistische und historische Schilderung der pyrenäischen Halbinsel, Karlsruhe und Leipzig: Kunstverlag, 1839, vii. Zur Allgemeinen Zeitung und ihrer politischen Haltung in den 1820er und 1830er Jahren, vgl. Werner Funk, Die Verfassungsfrage im Spiegel der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ von 1818 – 1848, Berlin: Schweitzer, 1977, 33 – 109, und noch spezieller Michael von Rintelen, Zwischen Revolution und Restauration. Die Allgemeine Zeitung 1798 – 1823, Frankfurt: Lang, 1994, 352 – 356, 364 – 369. 230 Es ist kaum davon auszugehen, dass Schubert jene Rede Robespierres vom Juli 1791 im Jakobinerklub kannte, in der er die nahezu fertiggestellte Verfassung von 1791 mit den Worten charakterisierte: „Was ist die französische Verfassung? Sie ist eine Republik mit einem Monarchen. Sie ist weder Monarchie noch Republik. Sie ist das eine und das andere“ (zit. n. Roberto Martucci, „1789, la Repubblica dei foglianti. Dal re d’antico regime al primo funzionario dello Stato“, in: Storia Amministrazione Costituzione, Annale ISAP, 1, 1993, 104). Ich danke Roberto Martucci für diesen freundlichen Hinweis. 231 Friedrich Wilhelm Schubert, Handbuch der Allgemeinen Staatskunde von Europa, 6 Bde., Königsberg: Bornträger, 1835 – 1846, I/3 (1836), 122 – 123. 232 Johann Baptist von Pfeilschifter, Betrachtungen über die Revolutionen in Spanien, Portugal, Frankreich und den Niederlanden, Aschaffenburg: Pergay, 1839, 149, vgl. allgemein 144 – 151. In seinen Mittheilungen aus Spanien über Land und Volk, Wissenschaft und Kunst, die jetzige politische Umwälzung und den Krieg, 2 Lfgg., Aschaffenburg: Pergay, 1837, veröffentlichte Pfeilschifter insbesondere Material über den Karlistenkrieg sowie eine Übersetzung der Verfassung von 1837, ebd., I, 58 – 70. 233 Vgl. Franz Baltisch [pseud. f. Franz Hermann Hegewisch], Politische Freiheit, Leipzig: Brockhaus, 1832, 10 u. ö. 234 Friedrich W. C. Menck, Synchronistisches Handbuch der neuesten Zeitgeschichte, II (Von 1811 bis 1816), Hamburg: Eigenverlag des Verfassers, 1834, 28.

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und Aufklärung gewesen.“235 Friedrich Murhard ging jedoch in seiner Verteidigung der spanischen Verfassung darüber hinaus, als er den Nachweis zu führen suchte, dass sich das aufschiebende königliche Veto völlig im Einklang mit der verkündeten Volkssouveränität befinde. Nach seiner Überzeugung unterlag Pölitz einem Irrtum, wenn er behauptete, dass Verfassungen, die Monarchie mit Demokratie zu verbinden versuchten, keinen Bestand haben könnten. In Murhards Augen lieferte die Geschichte keinen derartigen Beweis, denn „[e]s ist gar nicht unwahrscheinlich, daß, ohne die gewaltthätige Einmischung des Auslandes, die neuen Verfassungen sowohl in Spanien als in Neapel zur weitern Ausbildung, Vervollkommnung und Konsistenz gelangt seyn würden“.236 In seinem Kommentar der kurhessischen Verfassung von 1831, die bis heute als die liberalste deutsche Verfassung des Vormärz gilt237 und die insbesondere mit der Einkammerlegislative, dem Gesetzesinitiativrecht der Stände (§ 97) und einigen Grundrechten die Mehrzahl der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus übernommen hatte und somit zumindest partielle Anklänge an die Cortes-Verfassung erkennen ließ, benutzte Murhard mehrfach die spanische Verfassung als Bezugspunkt.238 Der radikale volkstümliche Historiker Heinrich Elsner stimmte grundsätzlich mit Murhard überein und verteidigte den demokratischen Charakter der Cortes-Verfassung als Bollwerk gegen die Rückkehr des monarchischen Despotismus.239 Ähnlich Aretin, ohne ihm jedoch inhaltlich zu folgen, war er von der Notwendigkeit von Modifikationen überzeugt, insbesondere der der Stärkung der Exekutive. „Ob es aber für Spaniens Wohlfahrt erwünscht seyn möchte, daß 235

Ernst Münch, Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit von dem Ende des großen Kampfes der europäischen Mächte wider Napoleon Bonaparte, bis auf unsere Tage, 6 Bde., Leipzig und Stuttgart: Scheible, 1833 – 1835, II (Stuttgart: Literatur-Comptoir, 21838), 347. 236 Friedrich Murhard, Das königliche Veto. Eine wichtige Aufgabe in der Staatslehre der konstitutionellen Monarchie, Kassel: Bohné, 1832, 243, vgl. allgemein 237 – 243. Zu Murhards Verfassungsvorstellungen, vgl. Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus, 262 – 291. 237 Vgl. Karl Marx, „Unruhe in Deutschland“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hrg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, XIII, Berlin: Dietz, 1974, 536; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7 Bde., Stuttgart: Kohlhammer, 2 1960 – 1984, II, 68; Hellmut Seier, „Liberalismus in Kurhessen 1815 – 1866. Stufen und Formen liberaler Willensbildung“, in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hrg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert (Historische Zeitschrift, Beihefte, N.F. Bd. 19). München: Oldenbourg, 1995, 109 – 112; Werner Frotscher, Uwe Volkmann, „Geburtswehen des modernen Verfassungsstaates – Der Kampf um die kurhessische Verfassung als deutscher Präzedenzfall“, in: 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, hrg. v. Hans Eichel und Klaus Peter Möller, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1997, 23. 238 Friedrich Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, erläutert und beleuchtet nach Maßgabe ihrer einzelnen Paragraphen. Ein Handbuch für Landstände, Geschäftsmänner, konstitutionelle Staatsbeamte und Staatsbürger, 2 Bde., Kassel: Bohné, 1834 – 1835, bes. I, 155, 162, 199, 231. 239 Heinrich Elsner, Die politischen Zustände Spaniens seit 1808 bis 1836, 3 Bde., Stuttgart: Karl Erhard, 1836, I, 112 – 114. Vgl. Friedrich Murhard, Die Volkssouveränität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel: Bohné, 1832, 311 – 316.

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der ganze Geist dieser Verfassung durch Einschiebung einer Adelskammer verändert werde, das kann selbst der Billigdenkende bezweifeln.“240 Elsner war nachhaltig von der Französischen Revolution beeinflusst, weshalb ihm die demokratische Mitwirkung des Volkes wichtiger erschien als Aretins ausgeglichene Verfassung dank der Einbeziehung der Aristokratie. Der „liberale Geist“ der Verfassung sollte nicht beeinträchtigt werden, denn „zu bedauern wäre, wenn die Hauptpunkte verloren gingen, welche Volksrechte enthalten, die in keiner guten Verfassung vermißt werden, Freiheit der Person, Sicherheit des Eigenthums, Selbstbesteurung, kräftige Mitwirkung zur Gesetzgebung, Freiheit des Gedanken-Austausches, reelle Verantwortlichkeit der Minister, Gleichheit vor dem Gesetz“.241

Als Spanien 1836 zur konstitutionellen Monarchie zurückkehrte, wuchs erneut das Interesse an der Verfassung von 1812. Wenige Jahre zuvor war der Text in Pölitz’ Sammlung der europäischen Verfassungen erneut erschienen, diesmal allerdings ohne jeglichen Kommentar.242 Dieselbe Übersetzung kam 1836 erneut, anonym und kommentarlos, als Flugschrift auf den Markt,243 und im Jahr darauf wurde eine weitere Übersetzung veröffentlicht, die allerdings nur die ersten 99 Artikel enthielt.244 In seinen knappen Einführungen sprach der Herausgeber von „dem Mittelstande“, „Gleichheit vor Gesetz und Recht“ und erwähnte „constitutionelle Freiheit“ und „eine vernünftige Repräsentation des Volkes“, was deutlich an frühere liberale Deutungen des innovativen bürgerlichen Charakters der Verfassung erinnerte.245 Der herausragendste liberale Interpret der Cortes-Verfassung in den dreißiger Jahren war Carl von Rotteck, der namhafteste Liberale im deutschen Südwesten in dieser Zeit.246 Gleich mehrfach hat er sich zur Verfassung von 1812 geäußert, so in seiner verbreiteten mehrbändigen Weltgeschichte, ferner in einem kurz vor seinem Tod 1840 veröffentlichten Werk über Spanien und Portugal und schließlich als bedeutendster Beitrag in dem Artikel „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“ im Staats-Lexikon, dem, wie Franz Schnabel es genannt hat, „Grundbuch des vormärzlichen Liberalismus“.247 Rotteck begründete sein Interesse an der Cortes-Ver240

Elsner, Die politischen Zustände Spaniens, I, 114 – 115. Ebd., 115, vgl. allgemein 76 – 117. 242 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789, II, Leipzig: Brockhaus, 21833, 263 – 293, vgl. auch seine rein historische Einleitung, 262 – 263. 243 Die Spanische Constitution vom Jahre 1812, Leipzig: Volckmar, 1836, 34. 244 Kurzgefaßte Geschichte des Parteien-Krieges in Spanien von 1833 bis 1836. Nebst der Constitution von 1812, hrg. v. Karl Große, I, Leipzig 1837, 85 – 96. 245 Ebd., 81. 246 Zu Rotteck, vgl. Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor“, Karlsruhe: C. F. Müller, 1964; Kopf, Rotteck, bes. 105 – 131; Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus, 19 – 113. Vgl. dazu auch das nachfolgende Kap. VI. 4. 247 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, NAufl., 8 Bde., Freiburg: Herder, 1964 – 1965, III, 223. Vgl. auch Hartwig Brandt, „Das Rotteck-Welckersche Staats-Lexikon. Einleitung zum Neudruck“, in: Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, 241

3. Das Beispiel der Verfassung von Cadiz

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fassung mit der erheblichen Beachtung, die Spanien seit der napoleonischen Intervention in Europa genieße.248 Bereits in seiner Weltgeschichte hatte er die spanische Verfassung gepriesen als „ein würdiges Denkmal der großen Zeit, worin es entstand“. Sie basiere auf den gleichen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus wie die französische Verfassung von 1791, übernehme allerdings auch ihre beiden Hauptfehler: die zu große Schwäche der exekutiven Gewalt – Rotteck vermied es, ausdrücklich vom König zu sprechen – und die fehlende Kontinuität in der Legislative, da die Volksvertreter nicht wiederwählbar waren.249 Rotteck wiederholte diese Einwände in seinem Buch über Spanien und Portugal, nicht ohne den ersteren merklich abzumildern, denn wahre konstitutionelle Monarchie bedeutete für ihn, anders als noch für Aretin, eine „Theilung der Gewalt bloß zwischen König und Volk, also in der Verbindung bloß der Monarchie und Demokratie“ mit einem starken Monarchen.250 Anders als dieser Vorbehalt erschienen ihm nun die Bestimmungen hinsichtlich der religiösen Intoleranz (Artikel 12) und das viel zu umständliche Wahlverfahren als Hauptirrtümer der Cortes-Verfassung.251 Er zweifelte jedoch nie an dem liberalen Charakter dieser Verfassung und an den wohltuenden Neuerungen, die die Cortes mit ihr dem Land gebracht hatten.252 In seinem zehnseitigen Artikel im Staats-Lexikon wies Rotteck die konservativen Einwände gegen die Cortes-Verfassung zurück. Die vollständige Erneuerung der Cortes alle zwei Jahre erschien ihm allerdings auch hier „[e]ine unglückselige Bestimmung“, und die mit dem Artikel 12 bekundete religiöse Intoleranz „muß […] jeden Verständigen und Wohldenkenden mit Betrübniß erfüllen“.253 Doch obwohl die Verfassung nicht als vollkommen gelten konnte, bot sie selbst die Möglichkeiten zu ihrer Veränderung und Verbesserung, ein wesentlicher Gesichtspunkt in den Augen der deutschen Liberalen, den schon Aretin und Murhard hervorgehoben hatten. Bereits in ihrer ursprünglichen Form stelle sie jedoch ein Denkmal des modernen Konstitutionalismus dar, und die Welt habe davon profitiert, sie beachtet zu haben. Ungeachtet aller Anfeindungen müsse man daher der Nation die geistige und physische Kraft wünschen, ihre Verfassung zu verbessern „entsprechend ihrem selbsteigenen Geist und ihren selbsteigenen Bedürfnissen und Interessen“. Er schloss Bd. I des Nachdrucks (Frankfurt/Main: Keip, 1990), 20 (der Einleitung). Zu dem Nachdruck, vgl. Rainer Schöttle, „Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker – ein frühliberaler Katechismus – Anmerkungen zum Neudruck“, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 4 (1992), 165 – 169. 248 Rotteck, Spanien und Portugal, iii. 249 Carl von Rotteck, Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände von den frühesten Zeiten bis zum Jahre 1831, 4 Bde., Stuttgart: Hoffmann, 1831 – 1833, IV, 223. 250 Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, 4 Bde., Stuttgart: Franckh, 1829 – 1835, II, 233 – 234; ders., Ideen über Landstände, Karlsruhe: C. F. Müller, 1819, 70. 251 Rotteck, Spanien und Portugal, 316 – 319. 252 Ebd., 324, vgl. allgemein 301 – 321. 253 Carl von Rotteck, „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“, in: Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, III (21846), 585, 587, vgl. den ganzen Artikel, 578 – 588.

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VI. Deutschland

seinen Artikel mit dem Ausruf: „Und mögen die zu Vollführung so großen Werkes berufenen Cortes dabei mit gleicher Standhaftigkeit dem etwa von Außen kommenden Machtwort entgegentreten wie den bösen Umtrieben von Innen.“254 Rottecks Hoffnungen und Wünsche lassen damit erneut deutlich werden, wie zentral die Verfassung von 1812 und ihr ersehnter Erfolg für den deutschen Verfechter des modernen Konstitutionalismus in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts waren. Mit Rotteck hatte die liberale Begeisterung in Deutschland für die Cortes-Verfassung auch zeitlich ihren Zenit erreicht. Das endgültige Ende der Cortes-Verfassung mit dem Übergang zu einer neuen Verfassung in Spanien im Jahr 1837 trug ebenso zum Niedergang der Vorbildfunktion der Verfassung von 1812 bei wie das Reformgesetz in Großbritannien von 1832, mit dem der erste Schritt zur Demokratisierung der britischen Verfassung im 19. Jahrhundert vollzogen wurde, wie weitere Entwicklungen Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die demokratischen Liberalen weiterhin die CortesVerfassung als Vorbild wahrer Freiheit und verantwortlicher Regierung hochleben ließen,255 diente sie nicht länger als Quelle der Inspiration und als einziges reales Beispiel für die Verbindung von Monarchie und Demokratie.256 In Jahr 1848 hatte für einige die belgische Verfassung von 1831 diesen Rang eingenommen, während ihn für andere die britische Verfassung beanspruchen konnte, die – so ihre Überzeugung – dank der Reformen von 1832 zu einem neuen Gleichgewicht „ihrer monarchischen und demokratischen Organe“ gefunden hatte. Was die gemäßigten Liberalen über Jahrzehnte kategorisch abgelehnt hatten und weswegen sich die demokratischen Liberalen ebenso lange stets für die spanische Verfassung von 1812 begeistert hatten, erschien nun als das eigentliche Wesen der britischen Verfassung. Indem auf diese Weise Pölitz’ einstiges Argument gegenstandslos geworden war, konnte die britische Verfassung als Verfassungsvorbild für den einen oder anderen aus dem Kreis der

254 Ebd., 588. Bezüglich Rottecks Verfassungsvorstellungen, jedoch ohne Hinweis auf seine Einstellung zur Cortes-Verfassung, vgl. Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus, 40 – 48. 255 Vgl. Karl Heinrich Hermes, Geschichte der letzten fünfundzwanzig Jahre, 5 Bde. (als: Carl von Rotteck, Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniß bis auf unsere Zeiten, X – XIV), Braunschweig: Westermann, 1841 – 1854, I, bes. 87 – 112, 296 – 345; Eduard Burckhardt, Allgemeine Geschichte der neuesten Zeit. Von der Stiftung der heiligen Allianz bis zum Tode Friedrich Wilhelm III. (1815 – 1840), 4 Bde., Leipzig: Weber, 1841 – 1842, I, 280 („ein Bollwerk der Freiheit und des Rechts für künftige Geschlechter“). Rotteck betrachtet Burckhardts Geschichte „eine würdige Fortsetzung“ seiner Weltgeschichte (vgl. den „Prospectus“ des Verlags zu Bd. I). Auch Wilhelm Havemann, Handbuch der neueren Geschichte, 3 Bde. (als: Friedrich Straß, Handbuch der Weltgeschichte, IV – VI), Jena: Frommann, 1841 – 1844, III, 517 – 520, 541; Robert Hase, Geschichte der neusten Zeit. Vom Sturze Napoleons bis auf das Jahr 1846, Jena: Mauke, 1847, 48 – 59, 124 – 135. 256 Vgl. Wilhelm Schulz, „Spanien“, in: Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, XII (21848), 262 – 263, der im Vergleich zu dem Cortes-Artikel von Rotteck letztlich mehr die Differenzen im deutschen Liberalismus als den Wandel der Zeit und der Einstellungen deutlich werden lässt.

3. Das Beispiel der Verfassung von Cadiz

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demokratischen Liberalen die Nachfolge der Cortes-Verfassung antreten,257 während die gemäßigten Liberalen – ausgenommen jene, denen diese Reformen zu weit gingen –, um ihr Leitbild nicht aufgeben zu müssen, bereit waren, die Demokratie als Element der konstitutionellen Monarchie zu akzeptieren. In diesem Sinne konnte Karl Theodor Welcker die liberale Überzeugung auf die Formel bringen: „Ich selbst habe stets die englische Verfassung […] der Hauptsache nach als die weiseste Verfassung der Welt angesehen.“258 Dieser Wandel der Bilder erklärt damit auch, warum die Cortes-Verfassung, ungeachtet zweier neuer Ausgaben im Verlauf der 1848er Revolution,259 in den Beratungen der Paulskirche keine Rolle mehr spielte und kaum erwähnt wurde.260 Die überzeugtesten Konservativen machten auch in den vierziger Jahren kein Hehl aus ihrer Verachtung für die Verfassung von 1812. „Im Grunde siht eine dieser modernen s. g. liberalen Constitutionen in den Hauptzügen aus wie die andere, und alle laufen darauf hinaus, eine geistlose Tyrannei der Mehrzal atomistisch gezälter Köpfe zu gründen.“ Die Cortes-Verfassung als eine Mischung aus französischen Grundsätzen und – auch darin wird die auf konservativ-liberaler Seite erfolgte Neubewertung der britischen Verfassung erkennbar – englischen Verfassungsbestimmungen mache da keine Ausnahme.261 Fasst man die Auseinandersetzungen in Deutschland um die Verfassung von 1812 zusammen, so erscheint eine Einteilung in katholische süddeutsche Liberale, die für diese Verfassung eingetreten wären und in protestantische norddeutsche Liberale, die von der britischen Verfassung begeistert gewesen wären, irreführend und verfehlt. Schon allein die Unterschiede zwischen einem Rotteck und einem Welcker lassen grundsätzliche Zweifel an dem heuristischen Wert des „süddeutschen“ bzw. „süd257

Vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, bes. I, 17 – 21, 85 – 104. 258 Karl Theodor Welcker, „Staatsverfassung“, in: Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, XII, 386. Vgl. Rainer Schöttle, Politische Freiheit für die deutsche Nation: Carl Theodor Welckers politische Theorie. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus, Baden-Baden: Nomos, 1985, 14, 70. 259 Friedrich Wilhelm Schubert, Die Verfassungsurkunden und Grundgesetze der Staaten Europa’s, der Nordamerikanischen Freistaaten und Brasiliens, welche gegenwärtig die Grundlage des öffentlichen Rechtes in diesen Staaten bilden, 2 Bde., Königsberg: Samter, 1848 – 1850, II, 44 – 83; August Arnold, Einleitung in die Staatslehre durch tabellarische und vergleichende Darstellung von sieben neuern Verfassungen: der englischen vor 1787; nordamerikanischen von 1787; französischen von 1791, spanischen von 1812; französischen von 1814; norwegischen von 1814; belgischen von 1831 und Untersuchungen über die wichtigsten Fragen, die bei den neuern Verfassungsentwürfen zur Sprache kommen, Berlin: Mittler, 1849. 260 Vgl. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrg. v. Franz Wigard, 9 Bde. plus Index-Bd., Frankfurt am Main: Sauerländer, 1848 – 1850, V, Sp. 3808b, VII, Sp. 5797a. 261 Heinrich Leo, Lehrbuch der Universalgeschichte zum Gebrauche in höheren Unterrichtsanstalten, 6 Bde., Halle: Eduard Anton, 1839 – 1844, VI, 159.

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westdeutschen Liberalismus“ aufkommen.262 Selbst wenn die Cortes-Verfassung im süddeutschen Raum mehr Anhänger als weiter nördlich gefunden haben mag, ist dies keine Frage der Religionszugehörigkeit, da sich unter ihnen Katholiken wie Protestanten finden. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Durchsetzung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus und damit die Einstellung des Liberalismus zu Demokratie und Volkssouveränität. Daran schieden sich die Geister, und während die einen sie kategorisch ablehnten und sich gegen die weitgehende Übernahme des modernen Konstitutionalismus aussprachen und als gemäßigt liberal zu charakterisierenden politischen Positionen anhingen, deren Verfassungsvorbild England verkörperte, ergab für die anderen erst die Verbindung der Demokratie mit der Monarchie die eigentliche Basis einer Verfassungsordnung, für die die demokratischen Liberalen in den zwanziger und dreißiger Jahren allein in der CortesVerfassung von 1812 ein tragfähiges Modell erblickten. Gerade diese, in ihrer Haltung gegenüber dem modernen Konstitutionalismus begründete grundsätzliche Spaltung des deutschen Liberalismus in zwei Lager, wie sie sich bereits in den 1820er Jahren und keineswegs erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, lässt die entscheidende Rolle erkennen, die die spanische Verfassung von 1812 für die Akzeptanz der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Deutschland gespielt hat. Keine andere Verfassung beeinflusste die demokratischen Liberalen in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nachhaltiger als die CortesVerfassung und keine trug mehr zur Spaltung des deutschen Liberalismus in dieser Zeit bei als sie.263 Was den einen als der Königsweg – ohne revolutionäre Brüche, wenn auch bei erforderlichen Modifikationen im Detail – zur bürgerlichen Emanzipation erschien, überzeugender sowohl als die französische Verfassung von 1791 oder die belgische von 1831 als auch als die britische Verfassung, war für die anderen die unverzeihliche Abirrung vom rechten konstitutionellen Pfad, als dessen Garant ihnen ein starker Monarch unverzichtbar erschien, gegenüber dem die Stände nur eine untergeordnete Rolle zu spielen hatten.264 Keine zweite Verfassung hat diese Grundsatzfrage der Einstellung gegenüber dem modernen Konstitutionalismus in Deutschland mit gleicher Schärfe gestellt wie die spanische Verfassung von 1812. Erst die durch sie bewirkte Polarisierung lässt den politischen Standort oder – wie man eher sagen müsste – die politischen Standorte des deutschen Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennen.

262

Vgl. in diesem Sinne auch unten Kap. VI. 7. Vgl. allgemein zum nachhaltigen Einfluss der Cortes-Verfassung auf den europäischen Liberalismus, Ferrando Badía, „Die spanische Verfassung von 1812“, bes. 154 – 158. 264 Die damit verknüpften Probleme des ständischen Dualismus wie überhaupt des Begriffs des „konstitutionellen“ Systems im Gegensatz zum „repräsentativen“ sind in der wissenschaftlichen Literatur seit der Arbeit von Gerhard Neumann, Geschichte der konstitutionellen Theorie in der deutschen Publizistik von 1815 bis 1848. Ein Grundriß vom politischen Ideengehalt des vormärzlichen Liberalismus, Diss. phil. Berlin 1931, immer wieder behandelt worden. Ihnen wird hier die Geschichte der Durchsetzung des modernen Konstitutionalismus als neuer Forschungsansatz entgegengestellt. 263

4. Das Beispiel Karl von Rotteck

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4. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland II: Das Beispiel Karl von Rotteck265 In seiner klassischen Untersuchung Der lange Weg nach Westen hat Heinrich August Winkler den deutschen Liberalismus des Vormärz und der Revolution als „überfordert“ bezeichnet, indem er mit Freiheit und Einheit zwei Ziele gleichzeitig erreichen wollte, die in den westlichen Nationalstaaten England und Frankreich in einem Jahrhunderte währenden Prozess nur nacheinander verwirklicht worden waren. Zudem habe er sich bei der Verfolgung dieser politischen Ziele mit dem Dilemma konfrontiert gesehen, stets zwischen Wunschbild und Realität entscheiden zu müssen.266 Bereits zuvor hatte Lothar Gall die Realitätsferne als die Problematik zumal der badischen Liberalen vor 1848 herausgestrichen, da sie weder Partei noch Regierung sein wollten, sondern sich damit begnügten, als Oppositionelle die „wahren“ Prinzipien zu verkünden, um auf diese Weise der Vernunft und damit dem Fortschritt zum Sieg zu verhelfen.267 Das Verhältnis des frühen deutschen Liberalismus zur realen politischen Welt und seine Auffassungen darüber, wie diese konkret in seinem Sinne und in Programm und Methode gleichermaßen politisch realistisch verändert werden konnten, waren also, um das wenigste zu sagen, mehr als diffus. Schwärmerische wie rational begründete Forderungen, einschließlich der Vorstellungen einer „guten“ Verfassung, waren selbst bei Kammerabgeordneten – angesichts des fehlenden Initiativrechtes der Ständeversammlungen – in der Regel verknüpft mit einem kompletten Mangel an politischer Erfahrung und völliger Unkenntnis darüber, wie im politischen Prozess zu agieren war, um gesteckte Ziele tatsächlich erreichen zu können. Mehr als nur mangelnder Realitätssinn und fehlende Politikfähigkeit wird diese Untersuchung am Beispiel Karl von Rottecks, der sich als „der ,politische Profes265 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Das Dilemma des deutschen Frühliberalismus. Karl von Rotteck und die Verfassung von Cadiz“, in: Historia Constitucional, 13 (2012), 119 – 142. Für hilfreiche Hinweise und Anregungen danke ich Hans-Peter Becht, Rainer Brüning und Jörg-Detlef Kühne sowie Ursula Binnewies (Esteburg) für ihren Einsatz bei der Beschaffung schwer zugänglicher Literatur. 266 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806 – 1933, München: C. H. Beck, 2000, Nachdruck Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2002, 79 – 130. 267 Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden: Franz Steiner, 1968, bes. 23 – 57. Ähnlich Jacky Hummel, Le Constitutionnalisme allemand (1815 – 1918): Le modèle allemand de la monarchie limitée, Paris: Presses Universitaires de France, 2002, 130, 137. Vgl. die entsprechende Definition von Rotteck: „Stände sind Volksrepräsentanten gegenüber der Regierung“ (Karl von Rotteck, Ideen über Landstände, Karlsruhe: C. F. Müllersche Hofbuchdruckerey, 1819, 3 [Hervorhebung im Original, H. D.]). „Rotteck“ als Autorname meint zukünftig stets Karl von Rotteck.

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VI. Deutschland

sor‘“268 geradezu als Prototyp aufdrängt, darzulegen versuchen, dass dieser Liberalismus ungeachtet seiner politischen Defizite nur zu oft bereit war, weitreichende theoretische Grundsätze und Forderungen auch im Bereich des modernen Konstitutionalismus aufzustellen, dann aber in der Regel aus ideologischen Gründen davor zurückschreckte, die sich aus ihnen ergebenden logischen Konsequenzen zu ziehen und taktische Bündnisse zu ihrer politischen Realisierung einzugehen. Die Ursachen für diese Versäumnisse liegen tiefer als in den Analysen von Gall oder Winkler angelegt. Die Zeit der Aufklärung war von der neuartigen, die moderne Welt definierenden Theorie durchdrungen gewesen, verbunden mit dem meist erfolglosen Streben, diese in die Praxis umzusetzen. Die Französische Revolution bis in ihre jakobinische Phase stellte dann den sich zunehmend radikalisierenden Versuch dar, die Praxis in Übereinstimmung mit der Theorie zu bringen. In der nach-napoleonischen Ära verfolgte die Linke weiterhin die Absicht, Theorie und Praxis in Einklang zu bringen und war damit potentiell revolutionär, während die Restauration die Theorie als Ansatz zur Untergrabung des Bestehenden bekämpfte und prinzipiell antirevolutionär eingestellt war. Die Liberalen in ihren unterschiedlichen Schattierungen bekannten sich hingegen zumeist weiter zu der von der Aufklärung inspirierten Theorie,269 die in der Folge von Anhängern wie Gegnern zunehmend als die „Ideen von 1789“ bezeichnet wurden, standen jedoch ihrer Umsetzung in die Praxis mit Vorbehalten gegenüber und wollten auf keinen Fall als revolutionär gelten. Ihr Dilemma lag in der politischen Konzeptionslosigkeit, wie ihre Vorstellungen zu realisieren waren. Idealerweise sollte diese Umsetzung, die Reform des Bestehenden, durch die Einsicht der Herrschenden erfolgen, wobei die gemäßigten Liberalen in ihren darauf zielenden Appellen rascher zum Einlenken bereit waren als die demokratischen Liberalen.270 Doch eine derartige Aufgeschlossenheit der Herrschenden und damit die Möglichkeiten der Umsetzung liberalen Gedankenguts konnten je nach Herrscherpersönlichkeit und Zeitpunkt erheblichen Schwankungen unterliegen. Rückblickend ließ sich aus badischer Sicht feststellen, dass 1828 weniger möglich war, als es 1819 gewesen war und 1839 weniger als 1831. In diesem Streben nach fürstlichem Einvernehmen unterschieden sich die deutschen Liberalen von den anglo-amerikanischen Liberalen, die in aller Regel nicht nur politisch versierter und erfahrener waren, sondern auch bei aller Skepsis bezüglich der reinen 268

1964.

Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor“, Karlsruhe: C.F. Müller,

269 Vgl. Gerhard Göhler, „Liberalismus im 19. Jahrhundert – eine Einführung“, in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, hrg. v. Bernd Heidenreich, Berlin: Akademie Verlag, 22002, 215. 270 Zu der auch von Rotteck propagierten Politik der gegenseitigen „Befreundung“ und gegen „Übertreibungen“, vgl. Hans Fenske, „Karl von Rotteck und der deutsche Liberalismus“, in: Poeten und Professoren. Eine Literaturgeschichte Freiburgs in Porträts, hrg. v. Achim Aurnhammer u. Hans-Jochen Schwierer, Freiburg – Berlin – Wien: Rombach, 2009, 162 – 163, 165. Ähnlich zuvor bereits Udo Bermbach, „Liberalismus“, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrg. v. Iring Fetscher und Herfried Münkler, 5 Bde., München – Zürich: Piper, 1985 – 1993, IV, 360 – 361.

4. Das Beispiel Karl von Rotteck

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Theorie und ihrer Umsetzung in die Praxis zu derartigen, häufig voreiligen Kompromissen mit den Herrschenden nicht bereit waren und ihre eigene Politik durchzusetzen suchten.271 Selbst wo der Liberalismus, wie im Fall Rottecks,272 nicht vor einer ideellen und verbalen Radikalisierung zurückschreckte, fehlte es ihm angesichts der eigenen Weigerung, konsequent den Weg zur Praxis zu suchen, an Zielstrebigkeit, und er sah sich stattdessen mit dem Dilemma konfrontiert, die bestehenden monarchisch geprägten politischen Grundstrukturen als unveränderlich anerkennen zu müssen, statt von dem Streben gelenkt zu sein, diese von innen heraus in einem schleichenden Prozess zu verändern.273 Dies bestimmte auch ihre Einstellung zu dem theoretisch weitgehend akzeptierten modernen Konstitutionalismus. Es war dieses furchtsame Klammern an das vermeintliche Idealbild einer konstitutionellen Monarchie, das aufgrund des ihr zugrunde liegenden dualistischen Staatskonzepts zur Konsequenz hatte, dass der in den eigenen Prinzipien logisch angelegte und in England wie in Frankreich vorgelebte Schritt zur parlamentarischen Monarchie in Deutschland in 271 Für England ist das klassische Beispiel bekanntlich das 17. Jahrhundert, das aber von Rotteck nicht erfasst wurde, vgl. die Kurzversion in Rotteck, Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, von den frühesten Zeiten bis zum Jahre 1831, 4 Bde., Stuttgart: Carl Hoffmann, 1831 – 1833, III, 179 – 187, 244 – 257. Aber selbst Rottecks eigene Zeit war gekennzeichnet von der Durchsetzung zumal der Außenpolitik Cannings und Palmerstons gegen den teilweise anhaltenden Widerstand der Krone, vgl. dazu oben Kap. II. 3. Analog wäre für Amerika – bei allen Unterschieden der politischen Institutionen und parteipolitischen Konstellationen – auf die amerikanische Revolution zu verweisen (vgl. Horst Dippel, Die Amerikanische Revolution, 1763 – 1787, Frankfurt: Suhrkamp, 1985) bzw. zeitgenössisch auf die Politik des Kongresses unter Führung von Henry Clay gegen die des Präsidenten Andrew Jackson, des „King Andrew“ der politischen Karikatur, kulminierend in dem sog. „bank war“ (vgl. Horst Dippel, Geschichte der USA, München: C. H. Beck, 112021, 40 – 41). 272 Die nachfolgende Untersuchung ist bemüht, den Blick bewusst über den Freiburger Rechtsprofessor und dessen theoretische Abhandlungen hinaus zu lenken und ebenfalls den Historiker wie den Kammerabgeordneten und die damit jeweils in Zusammenhang stehenden Arbeiten einzubeziehen. So auch der allerdings eher enttäuschende Aufsatz von Christian Würtz, „Karl von Rotteck als Autor und Politiker“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 157 (2009), 343 – 356. Umso nachdrücklicher muss daher an dieser Stelle das unverändert gültige Monitum des Fehlens einer wissenschaftlichen Biographie Karl von Rottecks wiederholt werden. 273 Vgl. als Beispiel Rottecks „Motions-Begründung auf Wiederherstellung einigen Rechtszustandes in Sachen der Presse“ vom 24. Juni 1839: „Sollen wir die Regierung wiederholt um Wiederherstellung des Rechtszustandes in Preßsachen bitten, wiederholt sie an die endliche Erfüllung ihrer heiligen Pflicht und ihrer ertheilten Versprechungen mahnen? […] Wollte die Regierung thun, was sie verhieß, und zu thun nach sonnenklarem Recht schuldig ist, sie hätte es längst gethan. Unsere Bitten, unsere Forderungen verhallen, wie die Stimme des Wanderers in der Wüste.“ Nun sollte man daher einen „ernsteren Schritt“ unternehmen, nämlich „in einer ehrfurchtsvollen Adresse“ eine „Beschwerde“ vortragen (Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, hrg. v. Hermann von Rotteck, 5 Bde., Pforzheim: Dennig Finck, 1841 – 1843, III, 148 – 149). Zur oppositionellen Politik der „Mäßigung“ in diesen Debatten, vgl. Hans-Peter Becht, Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution, Düsseldorf: Droste, 2009, bes. 464 – 465.

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diesen Jahrzehnten in der Regel erst gar nicht angestrebt wurde.274 Indem Rottecks jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Verfassung von Cadiz, jenem Leitbild des europäischen Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine eigenen Positionen zu zentralen Fragen staatlicher Ordnung aufgrund des konkreten Beispieles schärfer hervortreten lässt, ist diese in besonderer Weise geeignet, diese sich selbst Schranken auferlegende Haltung des frühen deutschen Liberalismus samt ihrer immanenten Widersprüche, die letztlich zu seinem Scheitern in der Paulskirche führten, zu verdeutlichen. Die Verfassung von Cadiz, „das Ideal der Freisinnigen, der Abscheu der Absolutisten in ganz Europa“,275 hatte in Deutschland ab 1814 bis in die zweite Hälfte der 1830er Jahre erhebliche Aufmerksamkeit gefunden, wie im voraufgegangenen Kapitel dargelegt wurde. Angesichts dieses wachsenden Bekanntheitsgrades und der vielstimmigen Äußerungen zu ihr verdient Rottecks zwanzigjährige Auseinandersetzung mit ihr zum Verständnis der Vielschichtigkeit, aber auch des Dilemmas des deutschen Liberalismus besondere Beachtung. Als Rotteck 1818 von seinem bisherigen historischen Lehrstuhl in der Freiburger Universität auf den für Vernunftrecht und Staatswissenschaft wechselte, gab ihm seine Antrittsvorlesung, in der er sein rechtsphilosophisches Konzept darlegte, Gelegenheit, zumindest indirekt auf die Verfassung von Cadiz zu verweisen. In Anbetracht seines Verständnisses des natürlich begründeten Vernunftrechts, seiner Einstellung zur Französischen Revolution276 und der seit dem Sturz Napoleons grassierenden Restauration, unterlag es für ihn keinem Zweifel, dass „das Recht, das öffentliche zumal, überhaupt die ideale Staatslehre, und die Geschichte als sich feindlich entgegengesetzt erscheinen“. Die Gegenwart sei geprägt von dem „Wi274 Vgl. dazu Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf: Droste, 1975, bes. 156 – 161. Ebenso Rainer Schöttle, „Karl von Rotteck und die Entwicklung des bürgerlichen Parlamentarismus in Deutschland“, in: Karl von Rotteck, Über Landstände und Volksvertretungen. Texte zur Verfassungsdiskussion im Vormärz, hrg. v. Rainer Schöttle, Freiburg – Berlin – München: Haufe, 1997, 195 – 196, der mit dem Verweis auf Mohl ein Umschwenken im deutschen Liberalismus hin zur parlamentarischen Monarchie erst auf 1860 datiert. Vgl. dazu Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographieen, 3 Bde., Freiburg – Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1860 – 1869, I, bes. 392 – 404. Diese Einschätzung übersieht, dass es in der Diskussion um die deutsche Verfassung 1848/49 bereits zahlreiche Verfechter einer parlamentarischen Monarchie gab und auch der Terminus selbst bereits auftauchte, vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands. Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, I, 19 – 22, 85 – 104. 275 Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, 8 Bde., Leipzig: Engelmann, 1853 – 1866, II, 135. Vgl. auch Paul Pfizer, „Liberal, Liberalismus“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Karl von Rotteck und Karl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848 (Ndr. Frankfurt: Keip, 1990), VIII, 523 – 535, bes. 527, 533. 276 Zu Rottecks Bewertung der Französischen Revolution, vgl. Jürgen Voss, „Karl von Rotteck und die Französische Revolution“, in: Revolution und Gegenrevolution 1789 – 1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, hrg. v. Roger Dufraisse, München: Oldenbourg, 1991, 157 – 175.

4. Das Beispiel Karl von Rotteck

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derstreit natürlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik mit historisch begründeten Verhältnissen“.277 So, wie die Dinge lagen, hatte die Restauration über die Revolution gesiegt. Das „Machtwort der Gewaltigen“ fand dabei Unterstützung „durch aufrichtige oder bezahlte Beredtsamkeit der Haller, Adam Müller, Schmalz und Daberlow“ zur Festigung eines Systems, „welches auf dem verlassenen Felde der Revolution siegreich sich aufzustellen scheint“.278 Der Bogen zu der von Ferdinand VII. 1814 aufgehobenen Cortes-Verfassung und somit der Rückkehr zu dem absolutistischen Regime der Zeit vor der Revolution war für die Zuhörer ebenso offenkundig angesprochen wie das deprimierende Fazit nachvollziehbar erschien: „Bei dieser Ansicht der Dinge ist also kein Trost, keine Hoffnung für die Menschheit. Die Nachkommenschaft büßt dann für und für die Schuld, oder die Thorheit, oder das Unglück der Vorfahren; ohne die freiwillige Entsagung der Privilegirten und der Gewaltigen, d. h. ohne ein Wunder, […] ohne ein über die Erde verbreitetes Feuer, wie jenes, das in der unsterblichen Nacht vom 4. August [1789] die Gemüther der Noaille’s durchglühte, bleiben Sinesen und Spanier, was – sie sind.“279

Auch wenn diese Worte in den Hallen einer Universität verhalten, waren sie nichtsdestoweniger radikal, bedeuteten sie doch in ihrer Konsequenz, dass das historisch Gewachsene sich nicht durch seine schiere Existenz zu legitimieren vermochte. Wirkliche Legitimität erlangte ein politisches System allein durch seine Übereinstimmung mit dem zeitlosen natürlichen Recht oder, wie es Rotteck immer wieder nannte, mit dem Vernunftrecht. Selbst wenn man davor zurückschrecken mochte, diese Feststellung als radikale Kritik an der Restauration und den Argumenten der Legitimisten verstehen zu wollen, kam in diesem fundamentalen Konflikt der Verfassung von Cadiz mit ihrer wiederholten Inkraftsetzung und Aufhebung als lebendiger Ausdruck des Widerstreits „natürlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik mit historisch begründeten Verhältnissen“ eine herausragende Bedeutung zu, selbst wenn einige ihrer konkreten Bestimmungen durchaus Rottecks Kritik fanden. Rotteck hat sich im Laufe seines Lebens insgesamt dreimal ausführlich und direkt mit der Verfassung von Cadiz auseinandergesetzt. Die erste kritische Würdigung geschah in seinem ausgedehnten Verriss von Karl Ludwig von Hallers Ueber die Constitution der Spanischen Cortes von 1820.280 Eine zweite Kritik erfolgte 1837 in seinem Artikel „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“ im Staats-Lexikon,281 277 Rotteck, Sammlung kleiner Schriften, meist historischen oder politischen Inhalts, 5 Bde., Stuttgart: Franckh, 1829 – 1837, II, 45. Vgl. dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München: C. H. Beck, 1988 – 2012, II, 161 – 163. Dass Rotteck damit die radikale Gegenposition zur historischen Rechtsschule bezog, kann hier nur am Rande angedeutet werden. Ausführlicher dazu Ursula Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, Diss. phil. U. Heidelberg 1967, 34 – 42. 278 Rotteck, Sammlung kleiner Schriften, II, 50. 279 Ebd., 52. 280 Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, II, 42 – 52. 281 Staats-Lexikon, IV, 51 – 66. Hier benutzt nach dem Wiederabdruck in der 2. Auflage des Staats-Lexikon, III, 578 – 588.

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wobei erwähnt zu werden verdient, ohne an dieser Stelle auf die Entstehungsgeschichte des Staats-Lexikons näher eingehen zu können, dass bereits Friedrich List in seinem Konzept für das Staats-Lexikon von 1833/34 einen Artikel „Cadix“ vorgesehen hatte,282 es jedoch durchaus Rottecks eigener Überzeugung entsprungen sein dürfte, stattdessen den oben genannten Artikel zu schreiben, zumal in der deutschsprachigen Literatur die Verfassung in den zurückliegenden Jahren stärker mit den Cortes als mit Cadiz assoziiert worden war. Eine letzte ausführliche Auseinandersetzung schrieb Rotteck kurz darauf in seinem heute meist in Vergessenheit geratenen Band Spanien und Portugal.283 Auch wenn Rotteck dieses letzte Werk als verunglückt ansah und nie so hatte schreiben wollen,284 danken wir ihm doch seine ausführlichste Auseinandersetzung mit der Verfassung von Cadiz. Knappere Kommentare über die Verfassung streute Rotteck in seinen beiden Weltgeschichten ein.285 Doch angesichts der geistigen Präsenz dieser Verfassung in seinem Denken bis zu seinem Tode lassen sich auch seine übrigen Schriften dieser Jahrzehnte, darunter zumal die Ideen über Landstände und sein Hauptwerk, das Lehrbuch des Vernunftrechts, mitunter als indirekte Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz lesen. Betrachten wir Rottecks direkte Kritik an der Verfassung von Cadiz genauer, wie er sie in seinen Schriften von 1820, 1826, 1833, 1837 und 1839 äußerte, so fällt sogleich mehreres auf.

282

Hans Zehntner, Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Eine Studie zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus, Jena: Gustav Fischer, 1929, 104, vgl. insges. 7 – 26, 103 – 108. 283 Rotteck, Spanien und Portugal. Geographische, statistische und historische Schilderung der pyrenäischen Halbinsel, in Begleitung einer Karte und einer Reihe von Stahlstichen mehrere der merkwürdigsten Ansichten aus beiden Reichen darstellend, Karlsruhe – Leipzig: Kunst-Verlag, 1839, 306 – 321. 284 Vgl. Rotteck an Karl Heinrich Jürgens, 23. 1. 1840, in: Rüdiger von Treskow (Hrg.), „Erlauchter Vertheidiger der Menschenrechte!“ Die Korrespondenz Karl von Rottecks, 2 Bde., Freiburg-Würzburg: Ploetz, 1990 – 1992, II, 229. Ähnlich auch an Karl August Varnhagen von Ense, 21. 11. 1840, in: Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, V, 301 – 302. 285 Rotteck, Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntniss bis auf unsere Zeiten für denkende Geschichtsfreunde, 9 Bde., Freiburg: Herder, 1813 – 1826, IX, 685 – 687; ders., Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, IV, 223 – 224. Angesichts dieser Breite der Rotteckschen Beschäftigung mit der Verfassung von Cadiz ist es umso unverständlicher, dass diese Thematik der Forschung bislang völlig entgangen zu sein scheint. Das gilt letztlich auch für die Arbeit von Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, in der Rottecks Einstellung zur Cortes-Verfassung lediglich ein- oder zweimal knapp, und nicht immer korrekt gestreift wird. Hingegen hatte schon Oskar Klein-Hattingen, Geschichte des deutschen Liberalismus, 2 Bde., Berlin: Buchverlag der „Hilfe“ GmbH, 1911 – 1912, Nachdruck Paderborn: Europäischer Geschichtsverlag, 2012, I, 117, forsch behauptete, Rottecks „Verfassungsideal war die spanische Verfassung von 1812“.

4. Das Beispiel Karl von Rotteck Rottecks Kritikpunkte an der Verfassung von Cadiz

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1820 1826 1833 1837 1839

Zustimmende Kritik: „würdiges Denkmal der großen Zeit, worin es entstand“

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Weitgehende Übereinstimmung mit Grundsätzen von 1791

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Gesamtlob einer volkstümlichen Verfassung

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Ablehnende Kritik: Gleichsetzung mit altem historischen Recht

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Zu schwache vollziehende Macht

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Macht des Königs beschränkter als notwendig Unverantwortliche Machfülle der Cortes

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Striktes Rotationsprinzip in der Volksrepräsentation

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Art. 12 über Staatsreligion Kompliziertes indirektes Wahlverfahren

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Bereits die tabellarische Übersicht lässt erkennen, dass Rottecks Kritik das Ergebnis des zeitgenössischen europäischen und speziell deutschen Diskurses über die Verfassung von 1812 war, und nicht allein die Reaktion auf das Hallersche Pamphlet von 1820 macht deutlich, dass die Restauration ihm wie auch der Mehrheit der frühen deutschen Liberalen diese Diskussion aufgezwungen hatte. Dass diese frühen Liberalen in der Verfassung dann so etwas wie ein politisches Gründungsdokument und den Einstieg in ihre Diskussion des modernen Konstitutionalismus erkannten, brauchte, nicht zuletzt bei Rotteck, seine Zeit. Selbst unter dieser Prämisse bleibt jedoch die Frage, ob ihre schließliche Würdigung in der Sache angemessen ausfiel, oder welche Lücken blieben. Angesichts dieser Ausgangslage verwundert es nicht, dass Rottecks Kritik nicht von inhaltlicher Konstanz geprägt ist, sondern dass sich die Kritikpunkte im Laufe der Zeit wandelten, alte zum Teil durch neue ersetzt wurden, wenngleich ihre Gesamtzahl stets relativ gering blieb. Dass die dezidiert wohlwollende Kritik dabei so verhalten blieb, mag in erheblichem Maß der Zensur geschuldet sein.286 Rottecks generelle Sympathie gegenüber der Verfassung von Cadiz ist zwischen den Zeilen dennoch stets zu erkennen und spricht ebenso aus seiner Feststellung, dass diese Verfassung genau wie die erste französische Revolutionsverfassung „zwey wesentliche Gebrechen“ in sich trug, „[b]eydes jedoch nur Fehler gegen die Klugheit, gegen die aus der Schlechtigkeit der Menschen abzuleitenden Vorsichts-Regeln, keineswegs gegen das Recht.“287 Hatte Rotteck damit bereits das Gewicht seiner Einwände gegen die Verfassung relativiert, wird deren detaillierte Betrachtung zu weiteren Nuancierungen führen. 286 So meinte Rotteck bezüglich des Staats-Lexikons, dass dieses „um der Unterdrückung zu entgehen, sehr leise und sanft, auch zum großen Theil pedantisch und trocken, auftreten muß“ (an Ignaz Heinrich von Wessenberg, 20. 11. 1836, in: Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, V, 231). 287 Rotteck, Allgemeine Geschichte, IX, 685 (Hervorhebung im Original, H. D.).

550

VI. Deutschland

Dabei nimmt Rottecks Auseinandersetzung mit Haller, dem „theils verachtete[n], theils bemitleidete[n] Restaurator der Staatswissenschaft“,288 wie er diesen angesichts seines Hauptwerks289 spöttisch titulierte, unter mehreren Aspekten eine Sonderstellung ein. Schon der mitunter polemische Charakter der Rezension unterstreicht, dass es sich primär um eine Auseinandersetzung mit Haller und erst sekundär um eine Würdigung der Cortes-Verfassung handelt. Doch nicht allein der Sprachduktus unterscheidet diese Arbeit von den anderen hier zu behandelnden. Auch ihre inhaltlichen Kritikpunkte dokumentieren, dass Rotteck bei ihr erst ganz am Anfang seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit ihr stand. Lediglich einen der in der Kontroverse mit Haller erwähnten Einwände sollte er für den Rest seines Lebens aufrechterhalten. Eigentümlich wirkt dabei sein Monitum, dass die Cortes „gegen die historische Wahrheit sündigten, da sie ihr Werk als uraltes, historisches Recht ihrer Nation darstellten“. Zwar hätten viele dieser Rechte in Teilen der späteren Monarchie bestanden, „aber weder hat in irgend einer Epoche, noch in irgend einem Reiche die Gesammtheit jener Rechte oder das System derselben gegolten“. Es sei daher nicht korrekt, sie als „für die ganze Monarchie historisch giltiges Recht darzustellen“.290 Von dem kompromisslosen Vernunftrechtler, der schon in seiner Antrittsvorlesung, wie erwähnt, den „Widerstreit natürlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik mit historisch begründeten Verhältnissen“ beschworen hatte, hätte man durchaus eine andere Argumentation erwarten können, war doch gerade „die große Aufgabe der Zeit“ nicht die Festschreibung historischen Rechts, sondern, wie Rotteck einige Jahre später formulieren sollte, die „Reform des historischen Rechtes durch Unterwerfung unter jenes der Vernunft“.291 Der Versuch der Verfassungsväter, mit dem Rekurs auf das historische Recht die Traditionalisten für die Verfassung zu gewinnen, passte nicht in diese Gedankenwelt. Kein Wunder, dass das ganze Argument in keiner seiner nachfolgenden Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz jemals wieder auftauchen sollte. Das gleiche Schicksal widerfuhr Rottecks Behauptung von 1820, dass die Cortes „fast alle Staatsgewalt“ in ihren Händen konzentriere. Auf diese Weise lasse sie „den Bürgern keine denkbare Garantie für ihr Recht und ihre Freiheit übrig“. Sie sei damit, so sein Fazit, „weit gefährlicher als jede Sultansmacht“.292 Das Argument offenbart 288

Rotteck, Spanien und Portugal, 315 – 316. Karl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands: der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bde., Winterthur: Steiner, 1816 – 1825. 290 Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, II, 45 – 46. Für eine vergleichbare moderne Kritik, vgl. Andreas Timmermann, Die „gemässigte Monarchie“ in der Verfassung von Cadiz (1812) und das frühe liberale Verfassungsdenken in Spanien, Münster: Aschendorff, 2007, bes. 319 – 325. 291 Rotteck, Geschichte des Badischen Landtags von 1831, als Lese- und Lehrbuch für’s Deutsche Volk, Hildburghausen und New-York: Bibliographisches Institut, 1833, 364. 292 Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, II, 46. 289

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in eindrucksvoller Weise Rottecks Dilemma: Der am Beginn einer, bei einer Unterbrechung, bis an sein Lebensende währenden Karriere als badischer Kammerabgeordneter stehende Rotteck wollte auf keinen Fall den Anschein erwecken, er wolle am badischen Verfassungsgefüge rütteln und für das Parlament auf Kosten der Monarchie größere Rechte beanspruchen. Lieber übernahm er ungeprüft den Vorwurf der Restauration, während er sich in den dreißiger Jahren – inzwischen war er nicht mehr Deputierter der Freiburger Universität in der Ersten Kammer, sondern gewählter populärer Oppositioneller in der Zweiten Kammer – intensiv mit den Machtbefugnissen der Cortes beschäftigte und daraufhin zu einem gegenteiligen Ergebnis kam und für das „Gleichgewicht der beiden Gewalten“ eintrat.293 Noch radikaler hatte Rotteck bereits zuvor geschrieben, dass die Exekutive allein über delegierte Macht verfüge, während das Volk, und damit der in seinem Namen handelnde Landtag die originäre Macht besitze: „Was immer für Rechte oder Attribute der Staatsgewalt, nach dem jedesmaligen mit Vernunft anzunehmenden wahren Gesammtwillen, als nicht übertragen an die Regierung, […] sondern als für das Volk selbst vorbehalten zu achten sind, dieselben werden […] vom Landtag, als natürlichem und möglichst lauterem Stellvertreter des Volkes auszuüben seyn.“294

Der Vorwurf einer unverantwortlichen Machtfülle der Cortes hatte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Anschuldigung gestanden, die Verfassung würde die Macht der Exekutive in unvertretbarem Maße einschränken. Auch dieses Argument war von der Restauration erfolgreich lanciert worden und hatte – wie nicht allein Rotteck belegt – bis in liberale Kreise hinein Gehör gefunden. So lehnte Pölitz einige Jahre später die Cortes-Verfassung ab, „weil, nach dem Zeugnisse der Geschichte, keine Verfassung in monarchischen Staaten auf die Dauer sich erhält, welche die königliche Macht stärker beschränkt, als die brittische, und welche alle Stände eines größern Reiches in einer einzigen Kammer versammelt“.295 Auch wenn Rotteck die Einwände gegen eine Einkammerlegislative nicht teilte,296 wiederholte er noch in seiner Weltgeschichte den Vorwurf der zu großen Beschränkung der königlichen Macht, während er ihn 1837 mit gleicher Entschiedenheit zurückwies. 1839 kam er auf diesen Punkt nochmals ausführlich zurück und betonte, dass „die Beschränkung durch Volksrecht“ das entscheidende Kriterium sei, dank dessen sich die konstitutionelle Monarchie von der Despotie unterscheide. Gewiss könne man diese Be293 Rotteck, „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Princip oder System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Staats-Lexikon, 2. Aufl., III, 519 – 543, hier 530. 294 Johann Christoph von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studirende Jünglinge, und gebildete Bürger, Nach des Verfassers Tode fortgesetzt von Karl v. Rotteck, 2 Bde., Altenburg: Literatur-Comptoir, 1824 – 1828, II/2, 156. 295 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, geschichtlich-politisch dargestellt, 3 Bde., Leipzig: J. C. Hinrichssche Buchhandlung, 1826, III, 253. 296 Vgl. dazu Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 164 – 172.

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schränkung auch übertreiben, und er selbst sei der Meinung, „daß die Cortes-Verfassung die Gewalt des Königs etwas zu sehr beschränkte, oder wenigstens, daß auch bei geringerer Beschränkung die Volksfreiheit oder die Herrschaft des wahren Gesammtwillens hätte können hinreichend gewahret werden“. Als Beleg für diese übertriebene Beschränkung nannte er die Bildung des Staatsrates, den der König aus einer Vorschlagsliste der Cortes auszuwählen hatte (Art. 234), eine Vorsichtsmaßnahme, für die er jedoch sogleich wieder den Charakter Ferdinands VII. als Entschuldigung gelten ließ.297 Hatte es 1826 noch gehießen: „Die vollziehende Macht war zu schwach in dieser Verfassung; dem König war durch sie zu viel genommen“,298 so war daraus gut zehn Jahre später eine quantité négligeable geworden. Hinter diesem Sinneswandel verbirgt sich eine größere Revision Rotteckschen Denkens. 1819, in seinen Ideen über Landstände, hatte Rotteck betont, dass eine Regierung „unverantwortlich“ und „in der Sphäre ihrer Wirksamkeit ganz frey und ohne höhere Instanz“ sein müsse. Als solche sei sie ein notwendiges Korrektiv gegenüber den Ständen, und daher müsse sie „mit hinreichender Stärke ausgerüstet“ sein, „den möglichen Verirrungen der Volksrepräsentation hemmend entgegen zu treten“.299 Dieser Haltung entsprach seine Kritik dieser Jahre an der mangelnden Machtbalance zulasten der Exekutive in der Cadiz-Verfassung. Gut zehn Jahre später, in seinem Lehrbuch des Vernunftrechts, hatte Rotteck diese Positionen komplett revidiert. Statt einer patriarchalischen Überwachung der gesetzgebenden Gewalt durch die Exekutive ging es ihm nunmehr umgekehrt um deren eigenmächtiges Handeln, und es war „die Aufgabe der Gesezgebung, die Willkürlichkeit solcher Verfügungen [der Exekutive] nach Thunlichkeit zu beschränken“. „[D]och“, so Rottecks Fazit seiner Erfahrungen aus dem ersten Jahrzehnt der badischen Kammern, „wird sie nur langsam, an Hand der fortschreitenden Wissenschaft und Erfahrung solches Ziel erreichen“. Aber selbst wenn es galt, den „Missbrauch der Regentenmacht“ zu steuern, sollte man diese doch nicht vollends einengen und ihr wenigstens „einigen Spielraum für einiges Ermessen“ lassen, um ihren guten Willen unter Beweis stellen zu können.300 297

Rotteck, Spanien und Portugal, 318 – 319. Rotteck, Allgemeine Geschichte, IX, 685. 299 Rotteck, Ideen über Landstände, 20, 21, 68. 300 Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, 4 Bde., Stuttgart: Gebrüder Franckh, 1829 – 1835, II, 203. In seiner Rede „Ein Wort über Landstände“, mit der Rotteck 1818 die badische Verfassung begrüßte, hatte er noch sehr allgemein „eine wahre Volks-Verfassung, wo ein wahrer und lebenskräftiger Gesammtwille des Volkes in gesetzlich bestimmten Formen […] sich ausspricht“, gepriesen und dabei sehr theoretisch festgestellt: „Solches mag aber nicht blos in rein demokratischen Staaten, sondern auch überall da geschehen, wo neben oder gegenüber einer aristokratischen oder monarchischen oder aus beiden gemischten Regierung ein demokratisches Element, ein natürliches Organ des Volkswillens besteht, die Willkür des künstlichen Organs, d. h. der Regierung, beschränkend, und die dem wahren Gesammtwillen gemäße Ausübung der öffentlichen Gewalt fortwährend verbürgend“ (Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, II, 408 – 409). Obwohl sich Rotteck in 298

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Diese zentralen Fragen des Machtgefüges zwischen Exekutive und Legislative haben den Kammerabgeordneten und liberalen Theoretiker auch weiterhin intensiv beschäftigt, so dass Rotteck diese Überlegungen in seinem langen Artikel „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Princip oder System; constitutionell; anticonstitutionell“ für das Staats-Lexikon noch einmal vertiefte. Einerseits verlangte er nun eine Verfassung, die „der Regierungsgewalt mittelst der für sich selbst oder seine Repräsentanten vorbehaltenen Rechte jene Schranken setzt, welche zur Entkräftung eines dem wahren Gesammtwillen widerstreitenden Einzelwillens der Regierenden nöthig sind“. Doch andererseits seien auch Vorkehrungen zu treffen „gegen die etwa übereilten oder unlautern Beschlüsse einer etwa unvollständigen, oder übel berathenen, oder durch augenblickliche Aufregung oder Verblendung dahingerissenen Volks- oder Repräsentantenversammlung“.301 Man mag dies als das Ergebnis einer Öffnung gegenüber dem englischen und amerikanischen Verfassungsdenken mit ihrem Gedanken der checks and balances interpretieren,302 doch dokumentiert es zugleich, wie sehr sich die Modifikation des Rotteckschen Denkens der 1820er und 1830er Jahren – ungeachtet des Festhaltens an seinem dualistischem Staatsverständnis – in seiner Interpretation der Verfassung von Cadiz niederschlug.303 Ein letzter Punkt seiner Kritik von 1820 an der Cortes-Verfassung betraf ihr kompliziertes indirektes Wahlverfahren sowie den Ausschluss von Ministern, Staatsräten, königlichen Beamten und öffentlichen Angestellten von einem Sitz in den Cortes (Art. 95, 97). Ersteres lehnte er ab, weil auf diese Weise „die wahre, d. h. unmittelbare Volkswahl dem absurden Institut der Wahlmänner, und zwar in gevieler Hinsicht Benjamin Constant verbunden fühlte, hat er dessen Auffassung von dem pouvoir neutre des Monarchen nie geteilt, wohl aber dessen Umgehen des Souveränitätsbegriffes, vgl. bes. Lothar Gall, Benjamin Constant: Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden: Franz Steiner, 1963, 166 – 183. Zur Beziehung zwischen Rotteck und Constant, vgl. Rüdiger von Treskow, „,Réunis dans la même cause’: Benjamin Constant und Karl von Rotteck“, in: Annales Benjamin Constant, 10 (1989), 75 – 92. 301 Rotteck, „Constitution“, 528. Vgl. dazu auch Karl Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus, Diss. phil. U. Basel, Mulhouse: Société Alsacienne d’Edition „Alsatia“, 1927, 19 – 20. 302 Die von Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Eine Darstellung und Kritik des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Stuttgart: Kohlhammer, 1928, 4, konstatierte „oft scharfe und gehässige Kritik [Rottecks] am englischen Staatswesen“ und die damit verbundene Zurückweisung der britischen Verfassung, eine Auffassung, der sich die Literatur zumeist gerne angeschlossen hat, bedarf sicherlich einer differenzierteren Betrachtung. Auch Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 202 – 222, hat hier zu keiner wirklichen Klärung gefunden, wohl aber immer wieder das auch von Rotteck selbst empfundene geringe Ausmaß eigener substantieller Kenntnisse über das englische Verfassungssystem betont. 303 Vgl. auch die sehr allgemeinen Bemerkungen zum Verhältnis von Regierung und Volksvertretung bei Rotteck bei Wolfgang D. Dippel, Wissenschaftsverständnis, Rechtsphilosophie und Vertragslehre im vormärzlichen Konstitutionalismus bei Rotteck und Welcker. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des Liberalismus, Münster – Hamburg: LIT, 1990, bes. 411 – 418.

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doppelter Potenz, aufgeopfert“ würde. Die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat hingegen fand Rottecks Widerspruch, da dadurch „eine Menge verständiger, in Staatsgeschäften bewanderter, und wohl auch großentheils nach Charakter und Grundsätzen des Nationalvertrauens sehr würdiger Männer blos darum ausgeschlossen wird, weil sie vom König ernannte Beamte sind“. Die Konsequenz sei, so Rotteck, einerseits eine Verschlechterung der Beamtenschaft, andererseits ein „erniedrigendes Misstrauen gegen das spanische Volk“, dessen Fähigkeit, „vernünftige Wahlen“ zu treffen, damit in Zweifel gezogen würde.304 Tatsächlich ging es bei dieser Kritik um zwei unterschiedliche Verfassungsfragen, und Rotteck sah sich mit ihnen sowohl theoretisch als Rechtsprofessor als auch praktisch als Kammerabgeordneter konfrontiert. Die Trennung von Amt und Mandat, in England eine verbreitete politische Forderung und zumal im 17. und 18. Jahrhundert heftig umstritten, in den Vereinigten Staaten hingegen gang und gäbe, war in den Restaurationsverfassungen nicht vorgesehen, sollten diese doch gerade dem monarchischen Einfluss offenstehen. Das muss schließlich auch Rotteck bewusst geworden sein, so dass sich das Argument in seinen weiteren Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz nicht mehr findet. Aber für eine Trennung von Amt und Mandat mochte er sich dann doch nicht direkt aussprechen, selbst wenn ihm nunmehr „die Wahl von Staatsdienern zu Abgeordneten bedenklich“ erschien.305 In seinem Lehrbuch des Vernunftrechts begnügte er sich vielmehr damit, eine besondere Vertretung für die „Staatsdiener“ abzulehnen und diese, wie „überhaupt die von der Regierung vermöge besonderer Verpflichtung Abhängigen“, vom aktiven Wahlrecht auszuschließen.306 Eine entsprechende dezidierte Bestimmung im passiven Wahlrecht wies er jedoch zurück.307 Anders verhielt es sich mit dem indirekten Wahlrecht, das auch die badische Verfassung für die Zweite Kammer vorsah (§ 34). Rotteck hat dieses stets abgelehnt und stattdessen die direkte Wahl gefordert, die er jedoch getreu der großen Mehrheit der europäischen Liberalen im 19. Jahrhundert an einen deutlichen Zensus gebunden wissen wollte.308 Für ihn sollten die Landstände „das Volk im Kleinen“ sein.309 Die 304

Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, II, 47. Rotteck, Geschichte der badischen Landtage von der Einführung der Verfassung bis 1832 (Sammlung kleiner Schriften, IV), 235. 306 Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, II, 258. 307 Vgl. dazu die weniger überzeugende Interpretation von Hartwig Brandt, „Karl von Rotteck (1775 – 1840)“, in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, hrg. v. Heidenreich, 377. 308 Vgl. dazu auch Rainer Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz. Studien zu Rotteck, Welcker, Pfizer, Murhard, Baden-Baden: Nomos, 1994, 50 – 55; Franz Xaver Koch, „Rotteck und der Constitutionalismus“, Ms. Diss. phil., U. Freiburg 1919, 69 – 81, und Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, bes. 86 – 87, die betonen, dass Rotteck in den 1830er Jahren für einen niedrigeren Zensus eintrat. Ähnlich auch Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 134 – 135. Vgl. dazu Rotteck, „Abgeordnete“, in: Staats-Lexikon, 2. Aufl., I, bes. 104. Generell zu Rottecks theoretischen Ausführungen über Repräsentation und Wahlrecht, vgl. Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prin305

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damit unterstellte Identität des Willens sah er zerstört, wenn die Repräsentanten nicht direkt, sondern durch die Zwischeninstanz von Wahlmännern gewählt wurden.310 Hingegen war er bereit, diese Wahlform zu akzeptieren, sollte das Volk „als noch unmündig zu achten“ sein, so dass ohnehin „keine wahre Repräsentation“ denkbar sei, oder im Fall eines mehr oder weniger allgemeinen Männerwahlrechts, um die „Aristokratie des Reichthums“ zu hemmen. Doch in diesem Fall waren wiederum besondere Vorsichtsmaßnahmen erforderlich, um die „Pöbelherrschaft“ und die „Sanskulotten“ zu verhindern.311 Gut zehn Jahre später hat sich Rotteck nicht mehr auf diese Überlegungen eingelassen und rundheraus erklärt, dass ein indirektes Wahlsystem, dessen Existenz in den Vereinigten Staaten er irrigerweise abstritt, „den wahren Gesammtwillen wie die ächte Repräsentation“ verhöhne.312 Nachdem Rotteck diesen Punkt in seinen direkten Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz fast zwanzig Jahre nicht erwähnenswert fand, flossen 1839 dann beide Argumentationsrichtungen in einer Feststellung zusammen, die das Reizwort „indirekte Wahl“ vermied und lediglich noch eine verhaltene Kritik an dem vierstufigen Wahlverfahren bot: „Endlich kann wohl – zumal vom Standpunkt des demokratischen Prinzips, welches man der Cortes-Verfassung gewöhnlich zum Vorwurf macht – die ungemeine Complicirung der Wahlform keine Billigung erhalten“.313 Im Zusammenhang mit der Verfassung von Cadiz tauchten mit dem abschließenden Band seiner Allgemeinen Geschichte 1826 zwei neue Argumente auf, die Rotteck in seinem Haller-Verriss nicht benutzt hatte. Das eine war erstmals eine ausdrückliche positive Gesamtwürdigung. Ungeachtet ihrer Mängel sei das Dokument „ein würdiges Denkmal der großen Zeit, worin es entstund“. Nicht nur das, als weiteres Gütesiegel konnte die Verfassung für sich in Anspruch nehmen, dass sie „[i]n den Grundsäzen so ziemlich übereinstimmend mit denjenigen [sei], welche die

zips, Neuwied – Berlin: Luchterhand, 1968, bes. 255 – 266; Udo Bermbach, „Über Landstände. Zur Theorie der Repräsentation im deutschen Vormärz“, in: Sprache und Politik. Festgabe für Dolf Sternberger zum sechzigsten Geburtstag, hrg. v. Carl-Joachim Friedrich und Benno Reifenberg, Heidelberg: Lambert Schneider, 1968, bes. 250 – 261; Volker Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland. Untersuchungen zur Bedeutung und theoretischen Bestimmung der Repräsentation in der liberalen Staatslehre des Vormärz, der Theorie des Rechtspositivismus und der Weimarer Staatslehre, Berlin: Duncker & Humblot, 1979, 64 – 98. 309 Rotteck, Ideen über Landstände, 19. 310 Vgl. ebd., 78. 311 Ebd., 79, 81, 89. Vgl. dazu ähnlich Rotteck, Geschichte des Badischen Landtags von 1831, 137 – 138. 312 Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, II, 259 (Druckfehler stillschweigend korrigiert, H. D.). Vgl. Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 147 – 148. 313 Rotteck, Spanien und Portugal, 317.

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constituirende Nationalversammlung in Frankreich leiteten“.314 Beide Feststellungen sollten auf seine Weltgeschichten beschränkt bleiben. Das gilt nicht für jenen ablehnenden Einwand, der in ihnen ebenfalls erstmals auftauchte: die Rotation der Repräsentation. Die Bestimmung, nach der Deputierte für die nachfolgenden Cortes nicht wieder wählbar waren (Art. 110), beraube die Volksrepräsentation „aller Stätigkeit der Richtung, und die Nation zugleich des fortdauernden Dienstes ihrer edelsten Söhne, der, wenn man sie einmal besizt, nicht leichtsinnig zu entlassenden, tüchtigen und treuen Vertreter“.315 Erinnert dieser Einwand auch unmittelbar an die Regierungsmanipulationen der badischen Kammerwahlen von 1825, mit denen erreicht wurde, dass führende Oppositionelle der nach dem Streit über den Militäretat aufgelösten Kammer von 1823 nicht wiedergewählt wurden,316 widersprach dieser Rotationsgedanke doch grundsätzlich seinem 314 Rotteck, Allgemeine Geschichte, IX, 685. Mit kleineren Abweichungen in der Rechtschreibung ebenso in ders., Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, IV, 223. Schib, der jedoch Rottecks Einstellung zur Cortes-Verfassung nicht behandelt, hätte in dieser positiven Wendung vermutlich den Ausdruck dessen gesehen, was er als Rottecks „Linksschwenkung“ nach 1825 bezeichnete (Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, 79), wobei er sich als Beleg für diese These auf die Schilderungen seines Sohnes in Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, IV (Hermann von Rotteck, Das Leben Karl von Rotteck’s), 338 – 339, berief. Hier ist allerdings nicht von Rottecks gewandelten Anschauungen die Rede, sondern davon, dass er die öffentlichen Diffamierungen als „Demagog“ und „politischer Ketzer“ als „nicht angenehm“ empfand und in diesem Zusammenhang von furchtsamen Zeitgenossen gemieden wurde. Vgl. jedoch Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, IV, 390 – 392. Auch Ernst Hermann Joseph Münch, Karl von Rotteck, geschildert nach seinen Schriften und nach seiner politischen Wirksamkeit; nebst einem Umriß seiner vorzüglichsten Lebensmomente und Andeutungen zur Geschichte des öffentlichen Geistes in Süd-Teutschland, Den Haag: Gebrüder Hartmann, 1831, 197, 201 – 202, charakterisiert Rottecks Reaktion auf die Ereignisse von 1825 als „grell, aber wahr“ und spricht vom „empörten Rechtsgefühl“; vieles, was Rotteck in der Folge geschrieben habe, mochte für manche „allzu demokratisch scheinen“, so dass auch er sich „in mehrern Punkten außer Stande [sehe], alle Ansichten und Aussprüche des Verf. geradezu zu unterschreiben“. Dagegen entgeht Herdt dieses Problem aufgrund ihrer strikten Trennung der parlamentarischen Tätigkeit von Rottecks theoretischen Abhandlungen, vgl. Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 252 – 257. Zu Rottecks Weltgeschichten als „Mittel im Kampf für Recht, Freiheit und öffentliche Meinung“, vgl. Christian Weber, „Universalhistorie als Leitbild im Vormärz. Die Rezeption der Aufklärung in der Wissenschaftsgeschichte bei Karl von Rotteck“, in: Wolfgang Bunzel, Norbert Otto Eke und Florian Vaßen (Hrgg.), Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung, Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2008, 114. Dagegen hat Jörg Echternkamp, „Erinnerung an die Freiheit. Zum Verhältnis von Frühliberalismus und Nationalismus in der Geschichtsschreibung Karl von Rottecks und Heinrich Ludens“, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, 8 (1996), 69 – 88, die „liberalnationale“ Geschichtsschreibung Rottecks als Gegenentwurf zum – so Echternkamp – dank der Französischen Revolution gescheiterten Naturrecht darzustellen versucht, dabei aber übersehen, dass Rotteck der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturrechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. 315 Rotteck, Allgemeine Geschichte, IX, 685 – 686. Ebenso mit marginalen Abweichungen in der Rechtschreibung, ders., Allgemeine Weltgeschichte für alle Stände, IV, 223. 316 Vgl. dazu Becht, Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870, bes. 344 – 367, sowie Rotteck, Geschichte der badischen Landtage, 185 – 234.

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Selbstverständnis als liberaler Wortführer und badischer Oppositioneller. Hinzu kam seine Überzeugung, dass dieses Prinzip einer der schwerwiegendsten Fehler der konstituierenden Nationalversammlung in der Französischen Revolution gewesen war. Nachdem Rotteck diese „unglückselige Bestimmung“ im Staats-Lexikon nur kurz gestreift hatte,317 ging er in seinem letzten Werk noch einmal ausführlich auf sie ein und charakterisierte sie als „eine äußerst unkluge, ja unselige“ Maßnahme, die „ein unaufhörliches Schwanken und Wechseln in die Richtung der Staatsgewalt gebracht“ und „dadurch eine Unsicherheit aller Verhältnisse und Zustände erzeugt“ habe. Wie die konstituierende Nationalversammlung mit der gleichen Bestimmung schon Frankreich ins „Verderben“ gestürzt habe, hätte sie auch in Spanien „zum baldigen Umsturz der Verfassung“ hingereicht, hätten nicht die „sonstige Ungunst der Verhältnisse und zumal die Feindseligkeit der fremden Mächte ihn herbeigeführt“.318 Angesichts dieser kategorischen Zurückweisung sah Rotteck keine Veranlassung, sich in seinen theoretischen Schriften mit dem Rotationsprinzip in der Legislative auseinanderzusetzen. Der Gedanke der Stetigkeit der Gesetzgebung und Regierung hatte für ihn in Badens liberaler Aufbruchphase einen derart hohen Stellenwert, dass schon das Prinzip einer stetigen Integralerneuerung nach jeweils wenigen Jahren ihn ernsthaft gefährdet hätte. Aus diesen Gründen verfocht er den in der badischen Verfassung verankerten Grundsatz der Partialerneuerung bei Wahlen, die zudem der Regierung bei einer Wahl, man denke an das Beispiel von 1825, geringere Möglichkeiten der Wahlmanipulation als im Falle einer Integralerneuerung bieten würde.319 Ein Rotationsprinzip war unter diesen Gesichtspunkten für ihn völlig undenkbar. Der „Cortes“-Artikel im Staats-Lexikon von 1837, Rottecks bekannteste Auseinandersetzung mit der Verfassung von Cadiz, enthielt lediglich zwei Aspekte, die in den vorausgegangenen Jahren in seiner Kritik an ihr so nicht aufgetaucht waren. Nachdem Rotteck seine inhaltliche Vorstellung der Verfassung nahezu abgeschlossen hatte, stellte er anstelle eines bewertenden Fazits, politisch geschickt, eine rhetorische Frage, die einer Suggestivfrage gleichkam: „Welcher Freund der Freiheit und einer volksthümlichen Verfassung wird solche Bestimmungen anders als 317

Rotteck, „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“, 585. Rotteck, Spanien und Portugal, 316. Ähnlich kritisch, wenn auch in der Konsequenz verhaltener, aus der heutigen Literatur Timmermann, Die „gemässigte Monarchie“ in der Verfassung von Cadiz, 333. Hingegen schenkt Jens Späth, Revolution in Europa 1820 – 23. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und SardinienPiemont, Köln: sh Verlag, 2012, 403 – 417, dem Rotationsprinzip keine Beachtung, obwohl er zuvor auf den mit den Wahlen von 1822 vollzogenen Umschwung von den moderados zu den exaltados verwiesen hatte und darauf Stimmen zitierte, die „das Land wieder aus dem Würgegriff der exaltados zu befreien“ suchten (ebd., 409). 319 Vgl. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, II, bes. 265 – 268. Auch Rotteck, Geschichte des Badischen Landtags von 1831, 49 – 50. Unzutreffend dagegen Koch, „Rotteck und der Constitutionalismus“, 91 – 92. 318

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preiswürdig finden?“320 Die Antwort konnte aus seiner Sicht nur in einer Richtung erfolgen und damit die Verfassung von Cadiz als liberales Verfassungsdokument par excellence klassifizieren. Diese positive Gesamtwürdigung konnte aber nicht über „Unvollkommenheiten und Gebrechen“ hinwegtäuschen, die diese Verfassung „wie jedes menschliche Werk“ aufweise, womit er abschließend auf den Artikel 12 über die Staatsreligion hinwies. Doch seine Kritik blieb auch in diesem Fall letztlich verhalten und wohlwollend, da dessen Bestimmung „als Folge der langen Mönchsherrschaft und Inquisitionstyrannei“ zumindest teilweise erklärlich und entschuldbar sei. „Dennoch muß sie jeden Verständigen und Wohldenkenden mit Betrübniß erfüllen.“321 Zwei Jahre später, in seinem letzten Werk, ging Rotteck noch einmal ausführlich auf den Artikel 12 ein, der „nicht nur vom Standpunkt der Politik, sondern auch des allgemeinen Menschenrechts“ zu einem Vorwurf Anlass gebe, selbst wenn nach seiner Überzeugung „der intolerante Geist, der aus diesem Artikel spricht, nicht der der Mehrheit der Cortes“ gewesen sei.322 Für seine tatsächliche Aufnahme in die Verfassung hatte Rotteck eine ebenso einfache wie nachvollziehbare Erklärung: Der „vorherrschenden bigotten, ja fanatischen Gesinnung“ des spanischen Volkes musste geschmeichelt werden, „wenn es nicht der Mönchs- und Pfaffen-Schaar gelingen sollte, die unverständigen Massen gegen die edelsten Häupter und Wohlthäter der Nation aufzuwiegeln und dadurch die politische Wiedergeburt unmöglich zu machen“.323 Indem Rotteck diesen mit der Verfassung von Cadiz verbundenen Mythos aufgriff,324 musste ausgerechnet der im Grunde zurückzuweisende Artikel 12 für die „politische Wiedergeburt“ Spaniens, für den Sieg des natürlichen Rechts im Widerstreit mit den „historisch begründeten Verhältnissen“ herhalten. Ungeachtet der einen oder anderen Kritik im Detail und anders als bei den eingangs zitierten kritischen zeitgenössischen Kommentaren war die Verfassung von Cadiz für Rotteck zum exemplarischen Ausdruck „natürlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik“ geworden. Damit war die Verfassung von Cadiz theoretisch zum Modell geworden. Doch praktische Konsequenzen vermochte Rotteck nicht daraus zu ziehen. 320

Rotteck, „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“, 587. Ebd. 322 Zum Verhältnis von Kirche und Staat bei Rotteck, vgl. Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, 33 – 43. Zu seinen Anschauungen über Religion, vgl. auch Emil Ganter, Karl v. Rotteck als Geschichtschreiber, Diss. phil. U. Freiburg, Freiburg: Preßverein, 1908, 65 – 92; Hermann Kopf, Karl von Rotteck – Zwischen Revolution und Restauration, Freiburg: Rombach, 1980, 120 – 124. 323 Rotteck, Spanien und Portugal, 316 – 317. Tatsächlich war Rottecks Argumentation nicht weit von innerspanischen Diskursen entfernt. So hatte die spanische Regierung 1822 beklagt, dass der Klerus die Unwissenheit des Volkes ausnutze – das Ergebnis „dreier Jahrhunderte der Inquisition und Finsternis“ – und es gegen die Cortes-Verfassung als eine „Feindin der heiligen Religion“ aufhetze, zit. n. Ricardo Gómez Rivero, Die Königliche Sanktion der Gesetze in der Verfassung von Cádiz, Regenstauf: Ed. Rechtskultur in der H. Gietl Verl. & Publ.Service GmbH, 2011, 79. 324 Vgl. dazu Späth, Revolution in Europa 1820 – 23, bes. 335 – 339. 321

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Sein letztes Werk von 1839 hatte in seiner ausführlichen Würdigung der Verfassung von Cadiz diese Bedeutung klar hervorgehoben, ohne dabei wesentliche neue Kritikpunkte hinzuzufügen, sieht man einmal von der oben erwähnten Umwandlung des Vorwurfs der zu schwachen Exekutive in den Vorbehalt ab, die Macht des Königs sei wohl etwas stärker als notwendig beschränkt worden. Die Analyse der Rotteckschen Auseinandersetzung mit der Verfassung von 1812 bliebe unvollständig, würde sie nicht zumindest kurz auf jene Aspekte der Verfassung hinweisen, zu denen er zeitlebens eine eindeutige Stellungnahme vermied bzw. die seiner Gedankenwelt vollends entgingen. Zwei zentrale Punkte mögen dies abschließend und in ihrer Bedeutung über die Auseinandersetzung mit der CortesVerfassung hinausweisend verdeutlichen. Zunächst geht es um den eingangs bereits angesprochenen Gedanken der Volkssouveränität. Hatte die französische Verfassung von 1791 noch die Souveränität in der Nation verankert (Tit. III, Art. 1) und die Nation als Quelle aller Gewalt definiert, die allein durch Delegation ausgeübt werden könne, wobei diese Repräsentation durch die Legislative und den König stattfinde (Art. 2), las sich die Definition in der Cortes-Verfassung ganz anders. Zwar war auch hier die Souveränität in der Nation begründet, die allein das Recht habe, sich ihre grundlegenden Gesetze zu geben (Art. 3). Doch diese Nation bestand aus der Vereinigung aller Spanier in beiden Hemisphären (Art. 1), ohne dem König einen eigenständigen Platz zuzuweisen. Rotteck vermied es in allen seinen Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz auf die auf diese Weise begründete Volkssouveränität einzugehen. Im Staats-Lexikon näherte er sich dieser Frage noch am ehesten mit der Feststellung, der „allgemeine Charakter“ der Verfassung sei „der einer durch Demokratie beschränkten Monarchie oder auch, wenn man lieber will, einer durch Monarchie beschränkten Demokratie“, kurz „einer aus Monarchie und Demokratie gemischten Verfassung“.325 Rotteck und mit ihm viele Liberale in Deutschland taten sich schwer mit dem Begriff Volkssouveränität. Im Staats-Lexikon kam er nicht vor; stattdessen wurde dort auf den von Welcker verfassten Artikel „Staatsverfassung“ verwiesen, in dem jedoch der Begriff ebenfalls nicht auftauchte. An seiner Stelle lieferte Welcker umschreibend eine Definition der „Souveränetät in Beziehung auf das Verfassungsgesetz als die höchste Gewalt, über dasselbe zu bestimmen“. Die darauf folgenden zwei Sätze – eine verklausulierte Annäherung an die Verfassung von 1791 – dokumentieren in kaum zu übertreffender Weise das Dilemma der deutschen Liberalen, sich der praktischen Konsequenzen ihres eigenen theoretischen Ansatzes versagen zu müssen: „In gewisser Weise steht diese höchste Gewalt nach dem Bisherigen Gott oder der sittlichen Vernunft zu, von welcher das sittlich vernünftige Grundprincip der Vereinigung ausgeht. Insofern dabei aber die freie Anerkennung der Gesellschaft hinzukommt, versteht es sich

325

Rotteck, „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“, 582.

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von selbst, daß diese Souveränetät ebenfalls wieder der ganzen Gesellschaft ohne Trennung der Nation und der Regierung zusteht.“326

Den Versuch, die Volkssouveränität zu definieren, ohne den Begriff selbst gebrauchen zu müssen, hatte zuvor bereits Rotteck in seinem Lehrbuch des Vernunftrechts unternommen, wo er ebenfalls vom Gesamtwillen und dem Vereinigungsvertrag ausgegangen war und daraus gefolgert hatte: „[E]s bleibt auch nach aufgestellter Regierung das Volk […] noch immer als Persönlichkeit, und zwar als politische Gesammtpersönlichkeit fortbestehend, daher auch berechtigt zur Behauptung solcher Persönlichkeit durch selbsteigene Vertretung.“ Dem Volk dies zu nehmen, sei das Ende der „Staats-Gesellschaft“.327 Anders als Welcker war Rotteck damit bei der Verfassung von Cadiz und den „Spaniern beider Hemisphären“ gelandet – aber sagen konnte man das weder in Baden noch im Deutschen Bund.328 Während Rotteck, wie die Liberalen überhaupt – nicht nur aufgrund der Zensur, sondern selbst noch in der Paulskirche, wo dieses Argument hinfällig geworden war – aus Furcht vor den Republikanern und „Sanskulotten“ nicht offen für die Volkssouveränität eintreten329 und diese als Prinzip der Verfassung von Cadiz anerkennen konnte, hatte er keine Probleme mit der Demokratie als einem ihrer beiden Pfeiler. Schließlich waren Stände überhaupt „ihrem Begriff und Wesen nach, immer demokratisch, weil sie eben die Volksrechte […] gegenüber der Regierung vertreten müssen“.330 Die Demokratie in der Cortes-Verfassung war mithin nicht das Problem, 326 Karl Theodor Welcker, „Staatsverfassung. Der Staat. Entstehung, Grundbestandtheile, Begriff, Idee und Zweck des Staates. Eintheilung der Staaten. Gesammtwille; Souveränetät des Staats, der Verfassung, der Constitution und der Regierung. Die beste Verfassung“, in: StaatsLexikon, 2. Aufl., XII, 375. 327 Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, II, 96. An diesem Punkt ist Rotteck in der Literatur vielfach missverstanden worden. So sah Hans Jobst, „Die Staatslehre Karl von Rottecks. Ihr Wesen und ihr Zusammenhang mit der Staatsphilosophie des 18. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 103 (1955), 483, eine Rottecks „Staatsbegriff inhärierende Volkssouveränität“ und Rotteck in Bezug auf die Volkssouveränität „unbestreitbar […] im Zusammenhang mit Kant, Rousseau und Locke“ stehend (ebd., 484, ähnlich 485). Auch Manfred Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin: Duncker & Humblot, 1997, 165, spricht von Rottecks „scharfe[m] Ansatz beim Volkssouveränitätsprinzip“. Ähnlich auch Koch, „Rotteck und der Constitutionalismus“, 16 – 29, und Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, 58 – 82, die Rotteck zwar für einen Anhänger der Volkssouveränität halten, aber beide den Begriff bei ihm nicht nachweisen können. Zu Vertrag und Gesamtwillen als Legitimation des Staates, vgl. auch Schöttle, Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz, 30 – 35, der dabei aber dem Theorem der Volkssouveränität ausweicht. 328 Vgl. die ähnliche Argumentation bei Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 234 – 239. Die bündige Feststellung von Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland, 74, „Ein Eintreten Rottecks für die Volkssouveränität läßt sich nicht feststellen“, ist eher verzerrend als erklärend. 329 Eine namhafte Ausnahme ist Friedrich Murhard, Die Volkssouveränität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel: Bohné, 1832. 330 Rotteck, Ideen über Landstände, 6. Ähnlich ders., Lehrbuch des Vernunftrechts, II, 226, 234. Vgl. auch ders., „Constitution“, 534 – 535.

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wohl aber die Volkssouveränität als ihre logische Basis, für die die Liberalen politisch im deutschen Vormärz weder eintreten konnten noch wollten. Ihr Dilemma hätte kaum offenkundiger sein können.331 Der zweite hier anzusprechende Punkt bezieht sich auf die, wie erwähnt, bereits in Art. 1 ausgesprochene Tatsache, dass die Verfassung geographisch nicht auf Spanien begrenzt war, sondern als Staatsnation die „Spanier beider Hemisphären“ umfasste bzw. für die Spanien (im Plural) galt, womit das alle Kontinente umspannende spanische Weltreich gemeint war (Art. 10). Es war der Versuch, die Fehler Großbritanniens, die zum Zerfall seines ersten Weltreiches durch die amerikanische Unabhängigkeit geführt hatten, zu vermeiden und ein alle Teile umspannendes konstitutionelles System auf der Basis formaler, doch letztlich eingeschränkter Gleichberechtigung zu schaffen. Aber es war auch das Bestreben, den in Südamerika bereits begonnenen Zerfallsprozess des spanischen Imperiums aufzuhalten, ohne allerdings den überseeischen Gebieten tatsächlich eine Gleichheit der Repräsentation und damit ein ihrer Bevölkerungszahl entsprechendes politisches Mitspracherecht zuzugestehen. Dass dieser, ähnlich bereits das Statut von Bayonne kennzeichnende Ansatz für das vergleichsweise überschaubare Baden ohne politische Signifikanz war, ist nicht zu bestreiten. In Hinblick auf eine zukünftige deutsche Einheit, zumal unter der für Rotteck unverzichtbaren Einbeziehung Österreichs, hätte dieser Gedanke jedoch durchaus Diskussionsstoff bieten können. Es ist daher bezeichnend, dass Rotteck selbst unter diesem Aspekt dieser Neudefinition der Staatsnation keinerlei Beachtung schenkte, und in allen seinen Auseinandersetzungen mit der Verfassung von Cadiz diese Bestimmungen völlig unberücksichtigt ließ. Karl von Rotteck hatte sich in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten intensiver mit der Verfassung von Cadiz auseinandergesetzt als jeder andere Liberale in Deutschland, aber auch als er selbst mit jeder anderen außerdeutschen Verfassung, ohne dass sich dies in einer systematischen Analyse der Verfassung niedergeschlagen hätte, obgleich er die Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus eindeutig erkannt und in seinem grundlegenden Verfassungsartikel im Staats-Lexikon ausführlich dargelegt hatte.332 Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, diese Prinzipien des modernen Konstitutionalismus am Beispiel der Verfassung von Cadiz durchzubuchstabieren, um Theorie und Praxis gegeneinander am konkreten Beispiel abzuwägen. Er hätte auf diese Weise aufzeigen können, welche Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in die Verfassung von Cadiz Eingang gefunden hatten und wie sich mithin generell die Grundvorstellungen des modernen Konstitutionalismus in 331 Vgl. Heinrich von Gagerns Berufung auf die „Souveränität der Nation“, bei bewusster Vermeidung des Begriffs der Volkssouveränität, in seiner Antrittsrede als Präsident der Paulskirchenversammlung als Grundlage für die Verfassungsberatungen, vgl. dazu unten Kap. VI. 9. Bezüglich der Volkssouveränität in den Paulskirchendebatten und ihrer Verfassung insgesamt, vgl. Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Neuwied: Luchterhand, 21998, 577 – 578. 332 Vgl. dazu oben Kap. I. 1.

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einer zu erstellenden Verfassung verwirklichen ließen. Rotteck verzichtete offensichtlich bewusst auf eine derartige Herangehensweise. Zunehmend gut über die innere Entwicklung des Landes und den innerspanischen Diskurs informiert, beschränkte er sich stattdessen auf eine punktuelle, dabei zumeist verhaltene Kritik, die sich schwerpunktmäßig auf die Bereiche Legislative und Exekutive bezog und der eine deutlich zustimmendere Haltung zu der Verfassung zugrunde lag, als von der Mehrzahl der deutschen Liberalen seiner Zeit eingenommen wurde, deren Positionen vielfach der Kritik der gemäßigten spanischen Liberalen wie Francisco Martínez de la Rosa oder – in ihren ersten Entwürfen – gar der des Aufklärers Jovellanos ähnelten.333 Diese positive Grundeinstellung entsprach seinem Denken, wie es sich auch in seinen theoretischen Schriften niedergeschlagen hatte. Dennoch bleibt die Diskrepanz zwischen seinen Artikeln „Constitution“ und „Cortes“ bestehen, die im gleichen Band des Staats-Lexikons nur einmal gut dreißig Seiten voneinander trennen. Hatte er im ersteren mit großer Zustimmung die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in der Theorie ausgebreitet, findet sich kurz darauf in der Auseinandersetzung mit der Praxis nichts davon. Offensichtlich schreckte selbst ein Rotteck davor zurück, seine Erkenntnis des modernen Konstitutionalismus am Beispiel der Verfassung von Cadiz samt einer damit notwendigen inhaltlichen Kritik konsequent einzusetzen und die eingeschlagene Richtung bis zu Ende zu denken und etwa die in Art. 3 ausgesprochene Volkssouveränität offen anzusprechen und ihre Umsetzung in die Praxis offensiv zu bejahen. Das liberale Dilemma, aus Furcht vor dem Volk und der Republik334 sich nicht zu weit in diese dank seiner ihm durchaus bekannten Entstehungsgeschichte des modernen Konstitutionalismus zu begeben und damit die Vorbehalte vor dem Schritt von der Theorie zur Praxis nicht überwinden zu können, bewog die deutschen Liberalen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder, auf halbem Wege stehen zu bleiben und Kompromisse mit der bestehenden Ordnung einzugehen, deren Positionen sie in ihren theoretischen Konzeptionen längst hinter sich gelassen hat-

333

Vgl. dazu bes. Ulrich Mücke, „Die Verfassung von Cadiz und der spanische Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert“, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 46 (2009), 378 – 382. Vgl. jetzt auch Späth, Revolution in Europa 1820 – 23, bes. 295 – 298, sowie 299 – 311. 334 Vgl. das Zeugnis seines Sohns: „Rotteck erkannte in der Republik das Ideal einer Staatsverfassung, gab sich aber mit der konstitutionellen Monarchie zufrieden, weil er jene im jetzigen Teutschland nicht für möglich hielt; auch war er ein aufrichtiger Verehrer der konstitutionellen Monarchie, so lange er in derselben den republikanischen Geist gerettet sah.“ Er zitierte dazu, ohne Datumsangabe, aus dem Tagebuch seines Vaters: „Ich bin gegen die Republik, und würde sie nach unsern Verhältnissen für ein Unglück achten…Wenn ich keine andere Wahl mehr haben sollte, als ein Republikaner zu werden oder ein Chinese – so würde ich Republikaner“ (Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften, IV, 390, 392, 396 – 397), eine Haltung, die bekanntlich den Spott Börnes und anderer provozierte. Vgl. auch Schib, Die staatsrechtlichen Grundlagen der Politik Karl v. Rottecks, bes. 59 – 65.

4. Das Beispiel Karl von Rotteck

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ten.335 So teilte Rotteck die Überzeugung vieler europäischer Liberaler, dass die Monarchie, um eine Zukunft in Europa zu haben, sich mit der Demokratie verbinden müsse. Doch die Furcht vor den Demokraten, wie sie sich auf dem Hambacher Fest artikuliert hatten, verbot ihm, offen dafür einzutreten. Einerseits stellte daher die Verfassung von Cadiz für ihn ein Modell dar – selbst wenn er sich erst voll dazu bekannte, als die Verfassung nach einer kurzen dritten Phase der Gültigkeit 1836/37 endgültig als real existierende Ordnung ausgeschieden war und viele andere europäische Liberale ihr politisches Vorbild längst in der belgischen Verfassung von 1831 erblickten –, doch vermochte er angesichts der liberalen Weigerung, den Schritt von der Theorie zur Praxis zu vollziehen, andererseits nicht, dieser Einsicht Nachdruck zu verleihen, hätte dies doch den aktiv herbeizuführenden Bruch mit den bestehenden Verhältnissen bedingt. Genau hier lag der Widerspruch, den schon Horst Ehmke thematisiert hat,336 zwischen dem Wissenschaftler, der das Richtige erkennt und erziehen will und dem Politiker, der sich den Zwängen der Praxis unterordnet. Dieser Spagat gelang auch dem „,politischen‘ Professor“ nicht, und selbst ein Rotteck vermochte nicht, die politisch-praktischen Schlussfolgerungen aus den eigenen ra335 Selbst wenn man nicht so weit gehen will wie Rainer Brüning („Karl Friedrich Nebenius [1784 – 1857] als Vertreter der badischen Reformpolitik“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, 157 [2009], 314), mit seiner Feststellung, dass die „Tragik des [badischen] Liberalismus“ darin bestand, „sich nicht rechtzeitig von seinen monarchischen Fesseln“ zu befreien und sich der demokratischen Bewegung anzuschließen statt „schmählich im kleindeutschen Nationalismus“ zu enden (ähnlich auch ders., „Karl Friedrich Nebenius: Badischer Reformer und Innenminister, 1784 – 1857“, in: Lebensbilder aus Baden-Württemberg, XXIII, hrg. v. Gerhard Taddey u. Rainer Brüning, Stuttgart: W. Kohlhammer, 2010, 88 – 113, hier 111) – eine radikale Kurskorrektur, die sich die Liberalen auch in anderen europäischen Ländern scheuten zu vollziehen –, so wäre doch zumindest der Schritt zur parlamentarischen Monarchie mehr als naheliegend gewesen. Allerdings widersprach ein derartiges Zusammengehen von Regierung und Parlament Rottecks Konzept der prinzipiellen Gegensätzlichkeit, dank der es zwischen Nebenius, dem „Vater“ der von Rotteck so gepriesenen badischen Verfassung und dem wohl wichtigsten badischen Reformpolitiker der zweiten Reihe und zeitweiligen Innenminister – dem Prototyp eines, so Rotteck, „in theoretischer Wissenschaft nicht minder als in practischer Ausbildung hoch stehenden, dabei für Recht und Gemeindewohl glühenden, mit der ministeriellen Stellung eine seltene Anhänglichkeit an die constitutionellen Principien verbindenden Mannes“ (Rotteck, Geschichte des Badischen Landtags von 1831, 171) – und Rotteck als führendem liberalem Kammerabgeordneten nie zu einer wirklichen politischen Partnerschaft gekommen ist, auch wenn Münch, Karl von Rotteck, 261, Nebenius zu den Freunden Rottecks zählte und Rotteck in den 1830er Jahren Nebenius um Mitarbeit am StaatsLexikon und die eine oder andere private Gefälligkeit ersuchte, vgl. Treskow (Hrg.), „Erlauchter Vertheidiger der Menschenrechte!“ Die Korrespondenz Karl von Rottecks, II, 361 – 363. Ähnlich hatte Rotteck zuvor schon die Zusammenarbeit mit Winter, Nebenius’ Vorgänger als Innenminister, abgelehnt, vgl. Herdt, „Die Verfassungstheorie Karl v. Rottecks“, 162 – 163. Zu Nebenius als „Vater“ der badischen Verfassung und zu dessen Ablehnung der Volkssouveränität, vgl. Markus J. Prutsch, The Charte constitutionnelle of 1814 and Süddeutscher Frühliberalismus. Transfer and Reception of ,Monarchical Constitutionalism’ in Post-Napoleonic Europe, Ph. D. diss., European University Institute, Florence 2009, 222 – 236, 249 – 257. Veröffentlicht als Making Sense of Constitutional Monarchism in Post-Napoleonic France and Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2013. 336 Ehmke, Rotteck, bes. 18 – 23.

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dikalen theoretischen Ansätzen zu ziehen. Und so arrangierte auch er sich im „Widerstreit natürlicher Rechtsprinzipien oder idealer Politik mit historisch begründeten Verhältnissen“ im Zweifelsfall eher mit den „historisch begründeten Verhältnissen“. Angesichts dieser Einstellung konnte die Verfassung von Cadiz ungeachtet aller Zustimmung nicht zum politischen Ziel proklamiert werden, da man weder Wege und Mittel sah, dies praktisch umzusetzen, noch wusste, wie dieses Wunschbild, selbst wenn es Realität geworden wäre, zu bewahren gewesen wäre und ein Abgleiten in die radikale Revolution à la 1793 hätte verhindert werden können.

5. Die Diskussion um den modernen Konstitutionalismus in Deutschland III: Die Rolle des amerikanischen Beispiels337 Wenn in der Vergangenheit nach dem Einfluss des amerikanischen Verfassungsdenkens auf die deutsche Verfassungsdiskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefragt wurde, unterstellte diese Fragestellung in der Regel ein bipolares Weltbild, das auch dann nicht der historischen Realität entsprach, wenn man von einem westlichen Verfassungsdenken mit drei Wurzeln sprach, nämlich neben der amerikanischen einer britischen und einer französischen.338 Wie in diesem Band bereits hinreichend dargelegt, haben wir es seit 1776 mit dem modernen Konstitutionalismus zu tun, für den das englische Verfassungsdenken zumal seit dem 17. Jahrhundert ein zentraler Ideengeber war und der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert insbesondere in zwei Varianten entfaltete, wobei neben der amerikanischen in Europa die französische Variante zunächst ungleich wirkungsmächtiger wurde, wie für Deutschland in den ersten beiden Kapiteln dieses Teils analysiert wurde. Dabei traten hier im Laufe der Zeit durchaus weitere konkrete Verfassungsbeispiele ins Blickfeld – in den beiden voraufgegangenen Kapiteln wurde konkret auf die Verfassung von Cadiz verwiesen –, aber auch die Entwicklung in weiteren Ländern, darunter der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Norwegen und anderen fand partielle Beachtung.339 Die isolierte Frage nach einem ausschließlich 337 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Vorbild Amerika? Die Diskussion um die amerikanische Verfassung in Deutschland im Vormärz“, in: Winfried Herget (Hrg.), Amerika: Entdeckung, Eroberung, Erfindung, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1995, 179 – 196. Vgl. dazu auch meine Veröffentlichung Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip, 1994, mit umfangreichem Textanhang. 338 George Athan Billias, „Introduction“, in: ders. (Hrg.), American Constitutionalism Abroad. Selected Essays in Comparative Constitutional History, New York: Greenwood Press, 1990, 1. 339 Die bisher zu diesem Thema vorliegenden Betrachtungen lassen vielfach diese Erkenntnis vermissen und sind meist zu einseitig auf den Transfer amerikanischer Vorstellungen nach Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert fixiert. Vgl. Anton Scholl, Einfluß der nordamerikanischen Unionsverfassung auf die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März

5. Die Rolle des amerikanischen Beispiels

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amerikanischen Einfluss erscheint daher wenig zielführend. Vielmehr wird man fragen müssen, wann und mit welchen Fragestellungen in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Diskussion um den sich entwickelnden modernen Konstitutionalismus der Blick auf Amerika ausgeweitet wurde, um dort Bestätigung, Anregungen oder Alternativen zu finden. Damit können die in der Vergangenheit unternommenen Versuche als obsolet gelten, die einseitig einem Einfluss amerikanischen Verfassungsdenkens in Deutschland nachzuspüren suchten, zumal die dabei getroffenen Aussagen weit auseinander drifteten und von Günter Moltmann reichen, der feststellte, dass „die weitgehende und vielschichtige Orientierung des deutschen Liberalismus am Verfassungsbild der Vereinigten Staaten überzeugend nachgewiesen“ sei,340 bis zu Klaus von Beyme, der zu dem Ergebnis kam, dass im 19. Jahrhundert selbst unter deutschen Verfassungsrechtlern die Kenntnis Amerikas 1849, Diss. phil. Tübingen 1912; Robert C. Binkley, „The Holy Roman Empire versus the United States. Patterns for Constitution-Making in Central Europe“, in: Conyers Read (Hrg.), The Constitution Reconsidered, New York: Columbia University Press, 1938, 271 – 284; Thomas E. Ellwein, Der Einfluß des nordamerikanischen Bundesverfassungsrechtes auf die Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung im Jahre 1848/49. Ein Beitrag zur Geschichte der Bundesstaatstheorie, Ms. Diss. iur. Erlangen 1950; Eckhard G. Franz, Das Amerikabild der deutschen Revolution von 1848/49. Zum Problem der Übertragung gewachsener Verfassungsformen, Heidelberg: Winter, 1958; Carl Joachim Friedrich, The Impact of American Constitutionalism Abroad, Boston: Boston University Press, 1967; Günter Moltmann, „Amerikanische Beiträge zur deutschen Verfassungsdiskussion 1848“, in: Jahrbuch für Amerikastudien, 12 (1967), 206 – 226, 252 – 265; ders., Atlantische Blockpolitik im 19. Jahrhundert. Die Vereinigten Staaten und der deutsche Liberalismus während der Revolution von 1848/49, Düsseldorf: Droste, 1973, 208 – 235; Erich Angermann, „Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild“, in: Historische Zeitschrift, 219 (1974), 1 – 32; Georg Christoph von Unruh, „Nordamerikanische Einflüsse auf die deutsche Verfassungsentwicklung“, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 91 (1976). 455 – 464; Ulrich Scheuner, „Constitutional Traditions in the United States and in Germany“, in: Wilhelm A. Kewenig (Hrg.), Deutsch-Amerikanisches Verfassungsrechtssymposium 1976. American-German Bicentennial Symposium on Constitutional Law, Berlin: Duncker & Humblot, 1978, 11 – 36; Klaus von Beyme, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, München: Piper, 1986, engl. Ausg. u. d. T.: America as a Model: The Impact of American Democracy in the World, New York: St. Martin’s, 1987; Helmut Steinberger, 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung. Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung, Berlin: de Gruyter, 1987; Günter Moltmann, „The American Constitutional Model and German Constitutional Politics“, in: R. C. Simmons (Hrg.), The United States Constitution. The First 200 Years, Manchester: Manchester University Press, 1989, 90 – 103; Winfried Steffani, „Das prägende Beispiel der USA“, in: Deutsche Verfassungsgeschichte 1849 – 1919 – 1949, hrg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1989, 141 – 147; George Athan Billias, „American Constitutionalism and Europe, 1776 – 1848“, in: ders., American Constitutionalism, 13 – 39; Helmut Steinberger, „American Constitutionalism and German Constitutional Development“, in: Louis Henkin, Albert J. Rosenthal (Hrg.), Constitutionalism and Rights: The Influence of the United States Constitution Abroad, New York: Columbia University Press, 1990, 199 – 224; Günter Moltmann, „Die USA und die deutsche Einheit 1848/49 und 1870/71“, in: Wolfgang-Uwe Friedrich (Hrg.), Die USA und die Deutsche Frage 1945 – 1990, Frankfurt: Campus Verlag, 1991, 43 – 57. 340 Moltmann, „Amerikanische Beiträge“, 206; ebenso ders., Atlantische Blockpolitik, 208; ähnlich ders., „USA und deutsche Einheit“, 48 – 49.

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gering gewesen sei und dass in allgemeinen Verfassungsdarstellungen der Zeit die Vereinigten Staaten in der Regel bestenfalls als Arabeske auftauchten.341 Stattdessen werden wir fragen müssen, wie der seit dem 1790er Jahren in Deutschland, nicht zuletzt aufgrund der Zeitumstände, primär auf Frankreich ausgerichtete Blick sich nach 1814 weitete und welche Rolle in den nachfolgenden Jahrzehnten bis zur Revolution von 1848/49 dabei die Vereinigten Staaten in dem sich entwickelnden deutschen Verfassungsdiskurs einnehmen konnten, wobei sich zwei große Themenbereiche, in denen die Vereinigten Staaten in dieser Zeit die Meinungsführerschaft beanspruchen konnten, augenscheinlich aufdrängen: Demokratie und bundestaatliche Ordnung. Nachdem die sog. Befreiungskriege entgegen weit verbreiteten Hoffnungen nicht zu einer nationalen Einheit geführt hatten, blieb der Wunsch nach politischer Freiheit auf der Tagesordnung, nicht ohne in den folgenden gut drei Jahrzehnten immer wieder Rückschläge hinnehmen zu müssen In dieser Situation musste „Demokratie“ auf der einen Seite des politischen Spektrums ebenso zum politischen Ziel werden wie auf der anderen Seite zum Sinnbild für Anarchie und Pöbelherrschaft. Neben der Verfassung von Cadiz, wie gesehen, boten sich in dieser Diskussion um die Demokratie zunehmend die Vereinigten Staaten als Beispiel an, die sich dank ihrer Ferne als besonders geeignet zur Instrumentalisierung für die eigenen Zwecke erwiesen. So gesehen mochte das amerikanische Beispiel und das freiheitsichernde politisch-verfassungsrechtliche System des Landes durchaus an Aktualität gewinnen, was Leopold von Henning 1819 dazu veranlasste, eine deutsche Übersetzung von Jeffersons Handbuch des Parlamentarrechts herauszubringen,342 da „die Verwirklichung der Freiheit wesentlich von der Art und Weise abhängt wie die beiden Extreme derselben, die Gesinnung und der Mechanismus der Verfassung mit einander vereinigt werden“.343 Im Zeichen von Heiliger Allianz und Karlsbader Beschlüssen wandelte sich jedoch das geistige Klima rasch, so dass sich bald auch die Restauration dieses Themas annahm und in Johann Georg Hülsemann eines ihrer Sprachrohre fand, der die Prinzipien des von Amerika sich ausbreitenden modernen Konstitutionalismus grundsätzlich verdammte, stünde er doch „in einem schneidenden Widerspruch gegen alles Dasjenige, worauf unsere ganze Civilisation beruhet“. Schon jetzt seien „die Liberalen in Frankreich, die Radicalen in England […] die Vorfechter jener transatlantischen Schlachtordnung“, die es allerdings mit allen Mitteln über den 341

Beyme, America as a Model, 2. Thomas Jefferson, Handbuch des Parlamentarrechts oder Darstellung der Verhandlungsweise und des Geschäftsganges beim englischen Parlament und beim Congreß der vereinigten Staaten von Nordamerika, übers. u. m. Anm. v. Leopold von Henning, Berlin: Dümmler, 1819, bes. das unpaginierte Vorwort des Übersetzers und seine Anmerkungen, 310 – 319. 343 Ebd., Vorrede des Übersetzers (unpaginiert). 342

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Ozean zurückzuwerfen gelte.344 Andere haben sich ähnlich abfällig über die Demokratie geäußert und dabei mitunter auf die Vereinigten Staaten verwiesen. So hatte unmittelbar vor Hülsemann bereits Friedrich Schmidt das amerikanische politische System entschieden abgelehnt und vehement „die demokratische Raserei des Volkes“ anprangert.345 Gerade dieser Vorwurf wurde dann gegen die Vereinigten Staaten verstärkt von Altliberalen und Konservativen spätestens seit der Jackson-Ära erhoben,346 als er sich in Deutschland mit der Ablehnung des Naturrechts und des darauf begründeten modernen Konstitutionalismus amerikanischer Prägung mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung und mit dem konservativen Eintreten für den auf göttlichem Recht begründeten christlichen Staat durch Friedrich Julius Stahl traf,347 der vehement vor dem Nacheifern englischer, französischer und amerikanischer Verfassungsbeispiele warnte. Bezüglich der Vereinigten Staaten war er überzeugt, dass dort „die positive Lenkung und Führung zu den wahrhaftigen Zielen (ich spreche nicht von Förderung materieller Interessen) in der Verfassung fehlt“, so dass auch Wissenschaft und Kunst ein wenig beeindruckendes Bild böten.348 Im Gegensatz zu Schmidt, Hülsemann oder Stahl hoben die liberaler eingestellten Statistiker Hassel und Lips und der Historiker Philippi in ihren ambitionierten, doch mitunter auf höchst lückenhaften Kenntnissen beruhenden Werken die Demokratie und die „unbeschränkte Denk- und Preßfreiheit“ hervor als „ein[en] Grundsatz der Konstitution“. Zumal Lips sah hierin und auf dem Gebiet des Rechts- und Erziehungswesens die Vorbildlichkeit des amerikanischen Systems und seine Lehre für Europa begründet, wobei er interessanterweise noch auf den Gesichtspunkt der „Verbesserung der Verfassung“ als einen ihrer „weisesten Bestimmungen“ verwies, die eine stetige Anpassung an gewandelte Zeitumstände erlaube und damit gewaltsamen Umstürzen vorbeuge.349 344 Johann Georg Hülsemann, Geschichte der Democratie in den Vereinigten Staaten von Nord-America, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1823, viii, xii. 345 Friedrich Schmidt, Versuch über den politischen Zustand der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, 2 Bde., Stuttgart – Tübingen: Cotta, 1822, II, 25 – 28. 346 Vgl. Heinrich von Gagern an Max von Gagern, 26. 11. 1836, in: Deutscher Liberalismus im Vormärz. Heinrich von Gagern: Briefe und Reden 1815 – 1848, hrg. v. Paul Wentzcke u. Wolfgang Klötzer, Göttingen: Musterschmidt, 1959, 169 – 170; Francis J. Grund, Die Aristokratie in Amerika, aus dem Tagebuch eines deutschen Edelmanns, 2 Bde., Stuttgart – Tübingen: Cotta, 1839, der sich zusätzlich noch über die „aristokratischen“ Attitüden der amerikanischen Oberschicht lustig macht; u. a. 347 Vgl. das grundlegende Werk von Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, 3 Bde., Heidelberg: Mohr, 1830 – 37, bes. I, 173 – 208, II, 271 – 293, III, 300 – 316. 348 Ebd., III, 314. 349 Georg Hassel, Vollständige und neueste Erdbeschreibung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit einer Einleitung zur Statistik dieser Länder (= Adam Christian Gaspari u. a., Vollständiges Handbuch der Erdbeschreibung, XVII), Weimar: Verlag des Geographischen Instituts, 1823, 144, 150, vgl. insges. 143 – 153; Alexander Lips, Statistik von Amerika oder Versuch einer historisch-pragmatischen und raisonirenden Darstellung des politischen und

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VI. Deutschland

Ließen diese Gedanken unmittelbare Anklänge an Probleme wie politische Forderungen der eigenen Zeit erkennen, so wies Friedrich Murhard weit darüber hinaus, wenn er, zweifellos im Rückgriff auf den von ihm hoch geschätzten Benjamin Constant,350 sich mit der ansonsten in dieser Zeit nur eher selten thematisierten Volkssouveränität mit Blick auf die amerikanische Verfassung auseinandersetzte und dabei jenes entscheidende Axiom der begrenzten Regierung (limited government) als Grundprinzip der amerikanischen Verfassung ansprach, das man in den deutschen Verfassungskommentaren zur amerikanischen Verfassung so vergeblich sucht und das dennoch für ihr Verständnis unerlässlich ist. Getreu Constant war nach Murhards Überzeugung jener Grundwiderspruch zwischen absoluter Volkssouveränität und dem Absolutheitsanspruch der Verfassung in den Vereinigten Staaten gelöst worden, würde sich das Volk doch „von der souverainen Macht nur soviel verfassungsmäßig vorbehalten, als zur Erhaltung des Wohls des Ganzen zweckmäßig ist“.351 Doch indem Murhard diesen zentralen Gedanken nicht weiter ausführte, blieb er Marginalie, ohne dass dem zeitgenössischen Leser deutlich geworden sein dürfte, wie denn die Lösung dieses zentralen Verfassungsproblems konkret aussah.352 Heinrich Albert bürgerlichen Zustandes der neuen Staaten-Körper von Amerika, Frankfurt/M.: Wilmans, 1828, bes. 125, 133, 149 – 152, 162 – 179; Ferdinand Philippi, Geschichte der vereinigten Freistaaten von Nordamerika, 3 Bde., Dresden: Hilscher, 1826, III, 145 – 149. Zur Bedeutung der Herausbildung der „Herrschaft des Rechts (rule of law)“ in der späten Kolonial- und der Revolutionszeit, vgl. Peter Charles Hoffer, Law and People in Colonial America, Baltimore – London: Johns Hopkins University Press, 1992, bes. 96 – 121. Zur „Amerikanisierung“ des Rechts vgl. überhaupt die grundlegenden Arbeiten von William E. Nelson, Americanization of the Common Law. The Impact of Legal Change on Massachusetts Society, 1760 – 1830, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1975; Morton J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1780 – 1860, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1977, bes. 1 – 30. 350 Vgl. u. a. Benjamin Constant, Collection complète des ouvrages Publiés sur le Gouvernment représentatif et la Constitution actuelle de la France, formant une espèce de Cours de politique constitutionnelle, I, Paris: Plancher, 1818, 173 – 196; ferner das 1. Kapitel (De la souverainité du peuple) seiner Principes de politique, applicables à tous les gouvernements représentatifs et particulièrement à la constitution actuelle de la France von 1815 (Benjamin Constant, De la liberté chez les modernes. Ecrits politiques, hrg. v. Marcel Gauchet, Paris: Le Livre de Poche, 1980, 269 – 278). Dazu Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden: Steiner, 1963, 158 – 165. 351 Friedrich Murhard, Die Volkssouverainität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel: Bohné, 1832, 31 – 32. Murhard wurde wegen dieser Schrift sehr angefeindet, vgl. u. a. Ludwig Thilo, Die Volkssouveränität in ihrer wahren Gestalt. Nebst einem Anhange: Ist Friedrich Murhard ein Kompilator?, Breslau: Hentze, 1833. Thilo geht auf den zitierten Passus und auf die Vereinigten Staaten nicht ein. Zur Volkssouveränität bei Murhard sehr knapp und allgemein, Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied – Berlin: Luchterhand, 1968, 266 – 268. Vgl. auch Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf: Droste, 1975, 162 – 166. 352 Auch an anderen Stellen beschränkt sich Murhard auf die Feststellung, dass die Volkssouveränität Grundlage der politischen Ordnung der Vereinigten Staaten sei, vgl. Murhard, Volkssouverainität, 228 – 229, 301, 308 – 311. Zum Problem der Volkssouveränität in Deutschland in dieser Zeit, wo sich angesichts der gegebenen Situation dieser Gedanke kaum durchsetzen konnte, vgl. Ulrich Scheuner, „Volkssouveränität und Theorie der parlamentari-

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Zachariä kam daher wenig später zu der Überzeugung, dass das Prinzip der Volkssouveränität in der Verfassung der Vereinigten Staaten nicht „folgerichtig durchgeführt werde“, da dies allein mittels einer direkten Demokratie möglich sei.353 Was bei Murhard bezüglich des freiheitlich-demokratischen Charakters der amerikanischen Verfassung mehr Andeutung als Verdeutlichung war, machte der Deutsch-Amerikaner Francis P. Grund zu seinem eigentlichen Thema, indem er die Demokratie als die den Vereinigten Staaten angemessene und in der politischen Kultur des Landes fest verwurzelte Regierungsform pries. „Demokratische Institutionen, wie sie in America vorherrschen, sind ohne Parallelle in der Geschichte,“ verkündete er.354 Mit der nicht immer zutreffenden, doch um Ausgewogenheit bemühten Haltung des anerkannten Wissenschaftlers versuchte schließlich der Historiker Friedrich von Raumer, der die Vereinigten Staaten aus eigener Anschauung kannte und eine interessante Mischung aus Geschichte, Gegenwartsanalyse und Reisebeschreibung der Vereinigten Staaten vorgelegt hatte, mit anderen Beispielen die amerikanische Demokratie deutlicher zu fassen. Zwar fand der föderale Staatsaufbau seine uneingeschränkte Bewunderung – er sprach von dem „Wunderbau des Bundes“355 – doch sein eigentliches Interesse galt der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Landes, zu der das föderale System einen wesentlichen Beitrag leistete und gemeinsam mit anderen Faktoren ihr Absinken in Pöbelherrschaft und Ochlokratie verhinderte. Ganz im Geiste der Gründungsväter verteidigte er daher das präsidiale Veto gegen zeitgenössische Kritiker: „Das Veto ist eine der stärksten Stützen der Freiheit und Ordnung, gegen Einseitigkeit, Leidenschaftlichkeit und Uebereilung der gesetzgebenden Versammlungen.“356 Mit dem Verfassungswerk von 1787 nahm er zugleich die amerikanische Demokratie in Schutz, die „in Europa den Gelehrten unbegreiflich, den Aengstlichen ein Schrecken, den Vornehmen unanständig, den Herrschenden (von Königen bis zu Schreibern) ein Greuel“ war.357 Im Gegensatz zu der in Europa von ihren Gegnern behaupteten Anarchie gebe es allseits nur „allgemeine Zufriedenheit, rastlose Thätigkeit, ununterbrochene[n] Fortschritt“. Die „staatsrechtliche Gleichheit“ bedinge, so sein voreiliger Schluss, „weder eine Pöbelherrschaft der Armen, noch eine Oligarchie der schen Vertretung. Zur Theorie der Volksvertretung in Deutschland 1815 – 1848“, in: Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, hrg. v. Karl Bosl, Berlin: Duncker & Humblot, 1977, 297 – 340. Zur verfassungsrechtlichen Lösung des Problems der Volkssouveränität in Amerika, vgl. oben Kap. V. 2. 353 Heinrich Albert Zachariä, „Constitution der Vereinigten Staaten“, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslands, 8 (1836) 24 – 25. 354 Francis P. Grund, Die Americaner in ihren moralischen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, Stuttgart – Tübingen: Cotta, 1837, 432, vgl. insges. 424 – 433. Vgl. auch Samuel Ludvigh, Licht- und Schattenbilder republikanischer Zustände, Leipzig: Wilhelm Jurany, 1848, bes. 341 – 342. 355 Friedrich von Raumer, Die vereinigten Staaten von Nordamerika, 2 Bde., Leipzig: Brockhaus. 1845, II, 320. 356 Ebd., 286. 357 Ebd., 327.

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Reichen“. Vielmehr werde hier die Frage nach der Legitimität von Herrschaft neu gestellt und mittels der Demokratie durch die Zustimmung aller auch neu beantwortet. Raumer kam daher zu dem Schluss, dass die Vereinigten Staaten staatsrechtlich „etwas wesentlich Neues“ darstellten. „Erst die vereinigten Staaten von Nordamerika gewähren in dieser Beziehung, was Gerechtigkeit und Weisheit gebieten.“358 Hatte die um das amerikanische Beispiel der Demokratie kreisende Diskussion verdeutlicht, dass zumindest in liberalen Zirkeln das freiheitlich-demokratische Verfassungsbeispiel der Vereinigten Staaten immer wieder als Argumentationshilfe herangezogen wurde, um unter Umgehung der Zensur auf Defizite der eigenen politischen Situation hinzuweisen,359 so unterscheidet sich der zweite, im Wesentlichen eher staatsrechtlich orientierte Interpretationsansatz von dem stärker politisch eingefärbten dadurch, dass er kaum oder höchstens am Rande auf den freiheitlichdemokratischen Aspekt der amerikanischen Verfassung einging, vielmehr einzelne herausgegriffene Verfassungsaspekte ganz in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellte. So eröffnete Pölitz seine Sammlung der Europäischen Constitutionen nicht nur mit der amerikanischen Bundesverfassung von 1787, weil diese „auf die Abfassung der ersten Constitution Frankreichs“ erheblich eingewirkt habe, sondern auch weil er hier erstmals „die Trennung der gesetzgebenden, richterlichen und vollziehenden Gewalt practisch realisirt [sah], bevor in der ersten französischen Nationalversammlung diese Gegenstände erörtert wurden“.360 Obwohl auch Eduard Widenmann dieses Prinzip darauf nachdrücklich betonte,361 rückte Pölitz, nachdem Mohl festgestellt hatte, dass die Gewaltentrennung in der amerikanischen Verfassung nicht „ganz folgerecht“ verwirklicht sei,362 kurz darauf wieder von diesem Gedanken ab, indem er feststellte, der Senat leite „mit dem Präsidenten gemeinschaftlich die vollziehende Gewalt“.363 358

Ebd., 328 – 337. So auch u. a. Volker Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland. Untersuchung zur Bedeutung und theoretischen Bestimmung der Repräsentation in der liberalen Staatslehre des Vormärz, der Theorie des Rechtspositivismus und der Weimarer Staatslehre, Berlin: Duncker & Humblot, 1979, 34. 360 [Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hrg.),] Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, 4 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1817 – 1825, I, 31, 56. 361 Eduard Widenmann, Die nordamerikanische Revolution und ihre Folgen. Ein Versuch, Erlangen: Palm und Enke, 1826, 90, 240. 362 Robert von Mohl, Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Stuttgart – Tübingen: Cotta, 1824, 143 – 144. Vgl. auch Nordamerika oder neuestes Gemälde der Nordamerikanischen Freistaaten, Tübingen: Osiander, 1818, 34. 363 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 5 Bde., Leipzig: Hinrichs, 21827 – 28, IV, 188. Die Ergänzungen zu Pölitz durch Gustav Wilhelm Hugo (Chronologisches Verzeichniß der Verfassungsurkunden älterer und neuerer Zeit, Heidelberg: Mohr, 1827, 1 – 9, bzw. Die Grundgesetze und Verfassungsurkunden, Karlsruhe: Müller, 1836, 68 – 74) und Friedrich Bülau (Darstellung der Europäischen Verfassungen in den seit 1828 darin vorgegangenen Veränderungen, Leipzig: Hinrichs, 1841, 9 – 10) sind rein kompilatorischstatistischer Natur. Pölitz, Staatensysteme, I, 473 – 482, beschränkt seine Analyse der Bun359

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Über derartige Unsicherheiten in der Interpretation zentraler Verfassungsprinzipien hinaus herrschten weitere Unklarheiten über den Umfang der Verfassung und die Zahl ihrer Zusatzartikel.364 In Anbetracht dieser offenkundigen Unsicherheiten dürfte umso willkommener gewesen sein, dass Georg Heinrich Engelhard 1834 erstmals in zuverlässiger Übersetzung die Texte der Unabhängigkeitserklärung, Konföderationsartikel, der Bundesverfassung von 1787, einschließlich ihrer zwölf Amendments sowie die derzeit gültigen Verfassungen aller Einzelstaaten veröffentlichte und mit diesen zwei Bänden die umfassendste Edition amerikanischer Verfassungstexte auf Deutsch vorlegte, die es hier im 19. und 20. Jahrhundert gegeben hat.365 Engelhard war sich bewusst, mit dieser Ausgabe nicht nur eine empfindliche Lücke zu schließen, sondern er wollte darüber hinaus Amerikaauswanderern eine zuverlässige Information darüber zur Hand geben, „welche Gesetze und Menschenrechte ihrer unter dem Schutze der Union warten und welche Mängel sie im Lande der Väter lassen müssen“.366 Ungeachtet der Bedeutung dieser Ausgabe verfehlte Engelhard einen erheblichen Teil einer denkbaren Wirkung insofern, als weder diese Übersetzungen Anlass zu umfangreicheren Untersuchungen der amerikanischen Verfassungen in Deutschland wurden, noch die Auswandererliteratur grundsätzlich das politische System der Vereinigten Staaten zuverlässig und positiv darstellte.367 Diese eher staatsrechtlich angelegte Diskussion hatte jedoch bereits von Anbeginn ihren dominierenden Fokus in der bundesstaatlichen Ordnung der Vereinigten Staaten gefunden, einem Gesichtspunkt, dem im Deutschland des Deutschen Bundes desverfassung dagegen dann in enger Anlehnung an Mohl weitgehend auf den Bundesstaatsaspekt. 364 Vgl. [Pölitz,] Constitutionen der europäischen Staaten, I, 32 – 56; Schmidt, Politischer Zustand der Vereinigten Staaten, II, 3 – 25; Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, 3 Bde., Leipzig: Hinrichs, 1826, I, 464 – 465. 365 Die Verfassungen der Vereinigten Staaten Nordamerika’s, A. d. Engl. v. Georg Heinrich Engelhard, 2 Bde., Frankfurt/M.: Sauerländer, 1834. Die Ausgabe umfasst zusammen nahezu 600 Seiten. Es handelt sich um eine Übersetzung von The American’s Guide Comprising the Declaration of Independence, the Articles of Confederation, The Constitution of the United States and the Constitutions of the Several States Composing the Union, Philadelphia: Hogan & Thompson, 1833. Die amerikanische Ausgabe wurde kurz angezeigt von Zachariä, „Constitution der Vereinigten Staaten“, 4 – 5, ohne auf die inzwischen erfolgte deutsche Übersetzung hinzuweisen. 366 Verfassungen der Vereinigten Staaten, I, iv; sehr ähnlich auch Zachariä, „Constitution der Vereinigten Staaten“, 21 – 22. 367 Vgl. u. a. August Witte, Kurze Schilderung der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nach ihren statistischen, politischen und commerciellen Verhältnissen, so wie in Ansehung der Sitten und Lebensweise der Einwohner nebst ausführlichen Vorsichtsregeln für Auswanderer nach eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, Hannover: Hahn, 1833, 7 – 9 u. ö.; Jacob Naumann, Nordamerika, sein Volksthum und seine Institutionen. Nach mehrjährigen Erfahrungen, insbesondere zur Belehrung für Ansiedler geschildert, Leipzig: Hinrichs, 1848, 204 – 205 u. ö. Beide waren durch das Erlebnis der Jacksonian Democracy geprägt und sehr ablehnend gegenüber der amerikanischen Demokratie.

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nicht nur besonderes Interesse entgegengebracht wurde, sondern für den sich auch weder das französische noch das englische Verfassungsbeispiel noch ein anderes anzubieten vermochte. Bereits 1824 nahm sich der junge Robert Mohl mit seiner Fragment gebliebenen Abhandlung über Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika dieses Themas an.368 Er wolle „dieses Wunder unserer Zeit“ dem deutschen Leser nahebringen.369 Für ihn stellte sich dabei dieses „Wunder“ wie folgt dar: „Die einzelnen Bundesglieder sind also in ihren Verhältnissen zum Bunde Unterthanen und zum verfassungsmäßigen Gehorsam verpflichtet, und nur so weit der Bund nicht ins Innere ihrer Verwaltung nach den Gesetzen eingreift, sind sie selbstständig und selbstthätig geblieben. Sie sind keineswegs in dem Verhältnisse freier, blos durch einen völkerrechtlichen Vertrag einander verpflichteter Staaten, sondern mehr in dem, freigebig privilegirter Municipalitäten.“370

Trotz aller Vertrautheit mit den wichtigsten amerikanischen Verfassungskommentaren der Zeit wird damit die ganze Neuartigkeit und Schwierigkeit der Materie offenbar, der sich Mohl nicht zuletzt angesichts der Tatsache gegenübersah, dass in Amerika selbst die bundesstaatliche Ordnung noch weit davon entfernt war, jenseits des dürren Verfassungstextes kraft einschlägiger Entscheidungen des Supreme Court hinreichend mit konkreten Inhalten gefüllt zu sein. Dabei hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts Karl Salomon Zachariä den Unterschied zwischen Bundesstaat und Staatenbund in der Theorie pauschal benannt,371 eine Unterscheidung, die in den nachfolgenden Jahren, oftmals ohne weitere Erwähnung von Beispielen Schule machte,372 so dass Joseph Görres 1819 als 368

Mohl, Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, I: Verfassungs-Recht, Stuttgart – Tübingen: Cotta, 1824. Der geplante 2. Band: Verwaltungs-Recht, ist nie erschienen. Vgl. dazu Robert von Mohl, „Nordamerikanisches Staatsrecht“, in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, 7 (1835), 5 – 6; Erich Angermann, Robert von Mohl 1799 – 1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied: Luchterhand, 1962, 26. 369 Mohl, Bundes-Staatsrecht, vii. 370 Ebd., vi. 371 Karl Salomon Zachariä, Jus publicum civitatum quae Foederi Rhenano adscriptae sunt, Heidelberg: Mohr & Zimmer, 1807, 71, hatte unterschieden „inter civitatem, qua plures civitates continentur, et inter societatem civitatum foederatarum hoc, (Bundes-Staat – Staatenbund,) quod societas dissensu singulorum sociorum dissolvitur“ und ersteren die „respublica Americae septentrionalis, et Helvetia“, letzteren die Rheinbundstaaten zugeordnet. 372 Vgl. u. a. Arnold Hermann Ludwig Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem Europäischen Staatensystem, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1816, 20 – 21; Wilhelm Josef Behr, Von den rechtlichen Grenzen der Einwirkung des deutschen Bundes auf die Verfassung, Gesetzgebung und Rechtspflege seiner Glieder-Staaten, Würzburg: Nitribitt, 1820, 45 – 46; Ernst Ludwig Brauns, Das liberale System, oder das freie Bürgerthum in seiner höchsten Entfaltung; in einem Gemälde des Bundesstaats von Nordamerika, 2 Bde., Potsdam: Vogler, 1831 – 33, I, 106 – 112; Karl Theodor Welcker, Ueber Bundesverfassung und Bundesreform, über Bildung und Gränzen der Bundesgewalt. Zunächst in Beziehung auf den Schweizerbund und die Schriften von Troxler und Zachariä über denselben, Leipzig – Stuttgart:

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einer der wenigen konkret das amerikanische Bundesstaatsmodell für Deutschland empfohlen hatte.373 Ungleich gründlicher arbeitete Robert Mohl das neuartige Verhältnis der Staaten zueinander im „Bundesstaat“ heraus, durch den „das durch die Unmacht des früheren Bündnisses mit völligem Untergange bedrohte Land nach und nach wieder zu seinem Range unter den Nationen“ emporgehoben worden war.374 Man fühlt sich bei diesen Formulierungen, die die Einschätzungen selbst der schärfsten Kritiker der Konföderationsartikel noch in den Schatten zu stellen geeignet sind,375 weit eher an das Deutschland des Deutschen Bundes erinnert, wo sich insbesondere Preußen für einen eher lockeren Zusammenschluss mit starken Einzelstaaten und relativ schwacher Zentralgewalt stark gemacht hatte, während nicht nur die liberale Öffentlichkeit ihre Hoffnungen auf die Schaffung eines nationalen Einheitsstaates gerichtet hatte.376 Mohls zentrales Anliegen war es, in dieser Situation die Vorzüge des Bundesstaates darzulegen,377 und er war überzeugt, dass gerade in seiner eigenen Zeit, „in welcher neubehauptete allgemeine Rechte gegen altherkömmliche Privilegien ankämpfen,“ ein Bundesstaat über Festigkeit und Kraft nach innen und außen verfügen müsse, um Scheible, 1834, 11 – 25; Heinrich Albert Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 2 Tle., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21853 – 54, I, 94 – 95; vgl. auch seine frühere Sammelrezension „Constitution der Vereinigten Staaten“, 1 – 34. Weitere Hinweise auf die Vereinigten Staaten in der staatsrechtlichen Literatur der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts findet sich bei Ellwein, Nordamerikanisches Bundesverfassungsrecht, 70 – 81. 373 Joseph Görres, Teutschland und die Revolution, Koblenz: Hölscher, 1819, 203. 374 Mohl, Bundes-Staatsrecht, iv – vi, 120. 375 Vgl. u. a. Hassel, Erdbeschreibung der Vereinigten Staaten, 11; Widenmann, Nordamerikanische Revolution, bes. 82 – 87; Philippi, Geschichte der vereinigten Freistaaten, III, 64 – 66, die ungeachtet mancher Kritik nicht den Eindruck vermitteln, als wäre die Konföderation in Chaos und Anarchie versunken. Lediglich Pölitz, Staatensysteme, I, 461, der sich in seiner Analyse immer wieder auf Mohl beruft, verwendet den Begriff „Anarchie“, vgl. insgesamt ebd., 128 – 136, 458 – 461. 376 Zum Problem von nationaler Einheit und föderaler Struktur in Deutschland im 19. Jahrhundert, vgl. u. a. die sehr nachdenklichen Ausführungen von Thomas Nipperdey, „Der deutsche Föderalismus zwischen 1815 und 1866 im Rückblick“, in: Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, hrg. v. Andreas Kraus, III, München: Beck, 1984, 1 – 18; auch Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt – Bern: Lang, 1987, der sich jedoch, stark an Brie anlehnend, dabei ganz auf die staatsrechtliche Literatur beschränkt und damit die politische Diskussion der ersten Jahrhunderthälfte völlig aus dem Blick verliert, in der das amerikanische Modell des Bundesstaats als freiheitssichernde Ordnung immer wieder auftaucht. Nur so ist seine Feststellung zu erklären: „Der verbale Bezug auf die USA hat allerdings kaum mehr als bekräftigende Wirkung, die Theorien selbst standen ja weiterhin ganz in der Tradition der deutschen Geistesgeschichte“ (ebd., 157). Spätestens Constantin Frantz hat trotz seiner geringen Kenntnis und entschiedenen Ablehnung der amerikanischen Verfassung immerhin konzediert, dass der bundesstaatliche Aufbau der Vereinigten Staaten im Gegensatz zu den Staaten Lateinamerikas bewirke, dass sich der amerikanische Präsident „nicht zum Diktator aufwerfen kann“ ([Constantin Frantz,] Unsere Verfassung, Berlin: Schneider, 1851, 151). 377 Mohl, Bundes-Staatsrecht, 341.

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Bedrohungen von außen ebenso abwehren, wie Entwicklung und Wohlergehen im Inneren sichern zu können.378 Andere Grundsätze der amerikanischen Verfassung, darunter etwa das Prinzip der Gewaltentrennung und das System der checks and balances, interessierten Mohl nur eher am Rande, und was er zu ihnen zu sagen wusste, war in seinen Einzelheiten mitunter unzutreffend oder, wie im Fall des richterlichen Überprüfungsrechts – Marbury v. Madison lag immerhin bereits über zwanzig Jahre zurück – Ausdruck offensichtlicher Unkenntnis.379 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Mohl später zwar seine Kenntnis des richterlichen Überprüfungsrechts durch die Lektüre von Story verbesserte und es nunmehr „zu den interessantesten und kühnsten Versuchen des neueren Staatsrechts“ zählte. Er blieb aber dennoch ihm gegenüber sehr skeptisch eingestellt und mochte „die positive Nachahmung der amerikanischen Einrichtung keineswegs anrathen“.380 Auch zur Bill of Rights von 1791 äußerte sich Mohl 1824 nur eher beiläufig und mehr in Form von Anmerkungen gegen Ende seiner Ausführungen, statt sie als zentrales Anliegen liberaler Politik herauszustellen.381 Mohl hatte als typischer Altliberaler argumentiert, der in der Nachfolge Montesquieus eine strikte Trennung zwischen Liberalismus und Demokratie vornahm und mit aller Schärfe den „Ultrademokratismus“ der Vereinigten Staaten verwarf.382 Der eigentliche Adressat der Mohlschen Ausführungen wird damit erkennbar, zugleich aber auch der Stellenwert, der der amerikanischen Verfassung in Deutschland in der politischen Diskussion dieser Zeit, in den Jahren des Vormärz und insbe-

378

Ebd., 349 – 350. Vgl. ebd., 141 – 148, 298 – 302. 380 Mohl, „Nordamerikanisches Staatsrecht“, 23. Vgl. dazu auch die württembergische Verfassung von 1819 unten in Kap. VI. 7. 381 Vgl. Mohl, Bundes-Staatsrecht, 385 – 403. Die Einheitlichkeit der Verfassungsprinzipien und des Rechtssystems, die Freiheitsgarantien, Gewaltentrennung, die Autorität der Gerichte und das Prinzip des richterlichen Überprüfungsrechts finden sich dagegen herausgestellt in Karl Theodor Welcker, „Bund, Bundesverfassung“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Karl von Rotteck und Karl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 48 (Ndr. Frankfurt: Keip, 1990), II, 721 – 722. 382 Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographieen, 3 Bde., Tübingen: Laupp, 1860 – 1869, I, 525, vgl. überhaupt ebd., 493 – 535; sehr ähnlich zuvor bereits ders., „Amerikanisches Staatsrecht“ bzw. „Nordamerikanisches Staatsrecht“, beide in: Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, 8 (1836), bes. 369 – 370, 385, bzw. 12 (1840), bes. 182 – 185, und ders., Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monograohieen dargestellt, 3 Bde., Erlangen: Ferdinand Enke, 1855 – 1858, I, bes. 524 – 534. Zu Mohls Einstellung vgl. auch, obgleich nicht erschöpfend, Hartmann, Repräsentation, 102 – 105. Vgl. allgemein zu dieser Problematik etwa Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des Deutschen Liberalismus, Tübingen: Laupp, 1832. Eine andere Argumentation zum Unterschied zwischen Liberalismus und Radikalismus findet sich bei Peter Wende, Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur politischen Theorie der frühen deutschen Demokratie, Wiesbaden: Steiner, 1975, bes. 48 – 84; ferner Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt: Suhrkamp, 1988, 39 – 49. 379

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sondere dann während der deutschen Verfassungsdiskussion 1848/49 zugedacht war.383 Obwohl Mohls Auffassungen keineswegs von allen geteilt wurden und es Stimmen gab, die behaupteten, dass „die vom Auslande allein anerkannte Bundesmacht stets schwächer und kraftloser“ würde,384 hatte Mohl mit seiner Analyse von 1824 für viele die Richtung gewiesen, die sich zumal in der Diskussion um die Paulskirchenverfassung 1848/49 als prägend erweisen sollte.385 Doch ungeachtet seines gewichtigen Einflusses gibt es in den Jahren vor 1848 als dritte Gruppe eine wachsende Zahl von Autoren, die bemüht war, die politische, freiheitlich-demokratische Interpretation mit der staatsrechtlichen, primär bundesstaatlich ausgerichteten zu verbinden. Viele verwiesen in diesen Jahren auf die weitreichende Bedeutung des amerikanischen Verfassungsbeispiels. So betonte Johann Joseph Roßbach in seiner kleinen Schrift über Die Bundes-Verfassungen weniger den föderalen Staatsaufbau der Vereinigten Staaten als das System der checks and balances, durch das sich das Land „wie noch kein Staat der Welt […] mit schützenden Institutionen gegen den Verfall“ gesichert habe. Den „Schwerpunkt der ganzen Verfassung“ bilde dabei der mit dem richterlichen Überprüfungsrecht ausgestattete Oberste Gerichtshof.386

383 Entsprechend geht Scholl, Einfluß der nordamerikanischen Unionsverfassung, v, 47 – 62, davon aus, dass die Paulskirchenverfassung lediglich in Teilen der „Reichsgewalt“ und zu Einzelbestimmungen des „Reichtags“ Anleihen bei der amerikanischen Verfassung vornahm, während ihre anderen Bestimmungen als nicht übertragbar ausschieden bzw. „da die nordamerikanische Unionsverfassung einen eigentlichen Grundrechtskatalog nicht hat“. 384 Nikolaus Heinrich Julius, Nordamerikas Sittliche Zustände. Nach eigenen Anschauungen in den Jahren 1834, 1835 und 1836, 2 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1839, I, 393 – 394. Julius äußerte sich zwar nicht eigentlich zur Bundesverfassung, vertrat diese These aber unter Berufung auf das 11. Amendment von 1794, Cherokee Nation v. Georgia von 1831 (5 Peters 1), die Nullification Crisis von 1832/33 und den vom Kongress nicht gebilligten Vorstoß des Michigan Territory 1836 zur Aufnahme als Staat in die Union. Obwohl als bemerkenswerter Kenner der Vereinigten Staaten ausgewiesen – Friedrich Kapp, „Zur wissenschaftlichen Literatur über die Vereinigten Staaten von Amerika“, in: Historische Zeitschrift, 31 (1874, 251 – 252, hielt ihn (dem im Kern nicht verstandenen) Tocqueville für überlegen – hatte Julius nicht nur die Politik Jacksons, sondern auch die Rechtsprechung des Supreme Court unter Marshall – fälschlich Morskall geschrieben – und Taney offensichtlich völlig missverstanden. Vgl. dazu John V. Orth, The Judicial Power of the United States. The Eleventh Amendment in American History, New York – Oxford: Oxford University Press, 1987, 30 – 42. 385 Als Beispiel aus der Flugschriftenliteratur der Revolution vgl. Robert Graf von der Goltz, Ideen über die Reorganisation des Deutschen Bundes und der deutschen Staats-Verfassungen, nebst einer Skizze zu einer Verfassungs-Urkunde für den Deutschen Bund, Berlin: Decker, 1848, 37, wo er die amerikanische Verfassung als „die vollkommenste Föderativ-Verfassung, welche die Geschichte kennt,“ bezeichnet, zugleich aber feststellt, dass „die vereinigten Staaten nicht ganz frei von einem Pöbel geblieben“ sind, der zu einem spürbaren Niedergang der politischen Kultur geführt habe, vgl. ebd., 38. 386 Johann Joseph Roßbach, Die Bundes-Verfassungen in historisch-politischer Entwicklung, Würzburg: Zürn, 1848, 35.

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Allem Anschein nach hatte Roßbach in starkem Maße auf Murhards Ausführungen im Staats-Lexikon von Rotteck und Welcker zurückgegriffen, ohne allerdings dessen Enthusiasmus voll zu teilen. Denn in dieser umfassendsten Würdigung der amerikanischen Verfassung aus der Zeit des Vormärz hatte Murhard sich zwar eingehend mit dem staatsrechtlichen Prinzip des Bundesstaates beschäftigt, war dann aber zu dem vorgestoßen, das ihm als der eigentliche Kern der amerikanischen Verfassung erschienen war, nämlich die Grundsätze von Demokratie und individueller Freiheit.387 Nach Murhards Überzeugung stellten die Vereinigten Staaten das bislang einzige Land in der Geschichte dar, das „die Demokratie in ihrem ächten Sinne“ verwirklicht und damit alle Gegner dieser Verfassungsordnung herausgefordert hatte. Doch hatte diese Ordnung Amerika nicht nur „blühend und mächtig“ gemacht, sondern auch dazu geführt, dass „allgemein sich bethätigendes Streben bei den Individuen unter allen Classen nach steter Verbesserung ihres Zustandes, bei beständiger Gelegenheit zur Arbeit und zum Gewerbe, ein daraus entspringender allgemein verbreiteter Wohlstand, Sinn für Ordnung, häusliches Glück, Reinlichkeit, Bildung und Kenntnisse“ die Folge waren.388 Murhard hatte das Idealbild, ja letztlich die Utopie einer liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung, basierend auf Volkssouveränität, self-government, Gleichheit und richterlicher Autorität, entworfen, wie es, aus der Ferne betrachtet, allein die Vereinigten Staaten und ihre Verfassung zum Ausdruck brachten. Doch er hatte damit zugleich trotz aller Wertschätzung der Démocratie en Amérique die schon von Mohl vorgezeichneten Grenzen der deutschen Tocqueville-Rezeption deutlich gemacht.389 Denn es ging ihm nicht um realistisches Erfassen und frühzeitiges Einstellen auf eine zukünftige politisch-soziale Ordnung, sondern ungeachtet allen Verständnisses für die amerikanische Verfassung verlor er sich letztlich in den romantischen Träumereien eines deutschen Liberalen. Gerade deshalb vermochte er jedoch die Grenzen des amerikanischen Verfassungseinflusses treffender als manch anderer zu erfassen. „Höchstens kann man sagen, daß in theoretischer Beziehung das Vorbild der Vereinigten Staaten auf Europa von Einfluß gewesen durch Rückwirkung 387

Friedrich Murhard, „Nordamerikanische Verfassung. Ihre Grundideen“, in: Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck und Welcker, IX, 653 – 710, bzgl. des Prinzips des Bundesstaates, 667 – 673. In seinem zweiten Artikel „Nordamerikanische Verfassung. Ihre Hauptbestimmungen“, ebd., 710 – 728, geht Murhard nicht näher auf dieses Prinzip ein. Zur Verfasserfrage und zu Murhards Interpretation, vgl. Horst Dippel, „Konkrete Utopie: Amerika als politisches Modell“, in: Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten – Gegensätze – Europäischer Hintergrund, hrg. v. Wolfgang Reinhard und Peter Waldmann, 2 Bde., Freiburg: Rombach, 1992, II, 1193 – 1198, 1203. 388 Murhard, „Nordamerikanische Verfassung“, 674, 676, 681. Sehr eng an Murhard lehnt sich dann erneut der wesentlich kürzere Artikel „Vereinigte Staaten von Nordamerika“ in: Robert Blum, Volksthümliches Handbuch der Staatswissenschaften und Politik. Ein Staatslexicon für das Volk, 2 Bde., Leipzig: Matthes, 1848 – 1851, II, 368 – 374, an. 389 Vgl. dazu auch den kenntnisreichen Überblick von Theodor Eschenburg, „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“, in: Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, A. d. Franz. v. Hans Zbinden, I, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1959, xvii – lxvii.

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auf die politischen Ansichten.“390 Denn übertragbar war diese amerikanische Verfassung nach Murhards Überzeugung nicht, da sie ihre Segnungen allein unter den besonderen Bedingungen Amerikas zu entfalten vermochte. Damit stimmte Murhard zumindest indirekt der schon älteren Überzeugung Ferdinand Philippis bei, obwohl dessen Begründung für die Nichtübertragbarkeit des amerikanischen Verfassungsbeispiels seinerzeit noch ganz in den Kategorien der traditionellen autokratischen Monarchie verwurzelt gewesen war.391 Der bei Philippi und noch stärker bei Murhard zum Ausdruck kommende innere Zwiespalt zwischen Bewunderung und Resignation muss als symptomatisch für große Teile zumindest der Altliberalen im Jahr 1848 und unmittelbar davor gelten. Trotz aller Begeisterung für die amerikanische Verfassung verblieben sie in ihrem Denken nur zu oft den Kategorien der überkommenen deutschen und europäischen Staatenwelt verhaftet und opferten bereitwillig ein vermeintliches Ideal einer unabänderlich erscheinenden Wirklichkeit. In diesem Sinne verwiesen auch andere alle gedanklichen Spielereien mit der amerikanischen Verfassung in den Bereich jugendlicher Torheit.392 Ganz ähnlich hat sich später noch Robert Mohl geäußert und „die Träume Solcher, welche die Einführung dieser [amerikanischen] Regierungsweise in Europa für möglich und wünschenswerth erachten, lediglich als einen Beweis gänzlichen Mangels an Menschenkenntniss betrachten können,“ denn die Verhältnisse seien nun einmal in Deutschland nicht so.393 Mohl zählte daher gemeinsam mit Welcker – auch er hatte einst die „vortreffliche Nordamerikanische Bundesverfassung“ gerühmt394 – und Murhard zu jener Gruppe Liberaler, die in der Paulskirche nachdrücklich gegen eine pauschale Übernahme des nach ihrer Überzeugung ungeeigneten amerikanischen Verfassungsmodells plädierte.395 Diese Haltung ist umso erklärlicher, als sich in den Verfassungsberatungen 1848 einerseits schon bald die Staatsrechtler mit ihren Positionen durchgesetzt hatten und sich andererseits auf der politischen Rechten und Mitte der Paulskirche sehr rasch ein Konsens bezüglich der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie herausgebildet 390

Murhard, „Nordamerikanische Verfassung“, 659. Philippi, Geschichte der vereinigten Freistaaten, III, 160, 161. 392 Vgl. etwa August Arnold, Einleitung in die Staatslehre durch tabellarische und vergleichende Darstellung von sieben neuern Verfassungen: der englischen vor 1787; nordamerikanischen von 1787; französischen von 1791; spanischen von 1812; französischen von 1814; norwegischen von 1814; belgischen von 1831 und Untersuchungen über die wichtigsten Fragen, die bei den neuern Verfassungsentwürfen zur Sprache kommen, Berlin: Mittler, 1849, 59. 393 Mohl, „Nordamerikanisches Staatsrecht“, 16 – 17. Vgl. Angermann, „Der deutsche Frühkonstitutionalismus“, bes. 28 – 32. 394 Welcker, Ueber Bundesverfassung und Bundesreform, 32. 395 Vgl. Murhard, „Nordamerikanische Verfassung“, 710. Der Sache nach ähnlich auch Waitz, vgl. Die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses der deutschen Nationalversammlung, hrg. v. Johann Gustav Droysen, I, Leipzig: Weidmann, 1849, 74. 391

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hatte.396 Mit der Ablehnung der Republik und ihrer Anhänger, die „nicht lernen daß es ein Unsinn und ein Frevel ist, unsern von monarchischen Ordnungen durchdrungenen Welttheil in Republiken des Alterthums ummodeln zu wollen,“397 schied das amerikanische Verfassungsmodell als politischer Leitfaden von selbst aus. Ein Revolutionär wie der der republikanischen Linken zugehörige Gustav von Struve blieb mit seiner Forderung einer „föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten“ deutlich in der Minderheit.398 Die Vereinigten Staaten auch weiterhin bei jeder Gelegenheit „als ein[en] Musterstaat“ anzupreisen, blieb mithin der kleinen Schar überzeugter Republikaner vorbehalten,399 wobei jedoch bemerkt werden muss, dass selbst in ihren Kreisen die rhetorische Herausstellung der amerikanischen Verfassung als Vorbild nicht mit einer generellen Be396 Zur „Juristendominanz“ in den Verfassungsberatungen der Paulskirche, vgl. die Dissertation von Wolfram Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, Bern – Frankfurt: Lang, 1976, bes. 188 – 270. Zur Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie, vgl. u. a. Dieter Langewiesche, „Republik, Konstitutionelle Monarchie und ,soziale Frage’. Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49“, in: Historische Zeitschrift, 230 (1980), 529 – 548, erneut abgedr. in: Die deutsche Revolution von 1848/49, hrg. v. Dieter Langewiesche, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, 341 – 361. In der raschen Orientierung hin zur konstitutionellen Monarchie und gegen die demokratische Republik drückt sich nicht zuletzt das Nachwirken Montesquieus auf weite Teile des deutschen Liberalismus aus, der Freiheit und Demokratie strikt voneinander getrennt hatte und Freiheit allein in der konstitutionellen Monarchie gesichert sah. Vgl. allgemein auch Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt: Suhrkamp. 1985, 192 – 204. 397 Das Zitat stammt pikanterweise aus Friedrich Christoph Dahlmann, Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik, Leipzig: Weidmann, 1845, 476. Dahlmann, einst einer der Göttinger Sieben, war in der Paulskirche Mitglied des Verfassungsausschusses. Seine politischen Grundforderungen hatte er schon zuvor deutlich gemacht: „Sicherstellung der Verantwortlichkeit der Minister […], Abscheidung des Staatshaushaltes von dem Privathaushalte der königlichen Familie […], Preßfreiheit […], Unabhängigkeit des Gerichtswesens […], [politische] Freiheit“. Dieser Katalog findet sich in seiner Geschichte der englischen Revolution, Leipzig: Weidmann, 21844, 392 – 393. Eine Geschichte der amerikanischen Revolution hat Dahlmann bezeichnenderweise nicht geschrieben. Zu Dahlamnn als Verfechter des liberalen Verfassungsstaats, jedoch auch mit deutlich konservativen Zügen, vgl. Reimer Hansen, „Friedrich Christoph Dahlmann“, in: Deutsche Historiker, hrg. v. Hans-Ulrich Wehler, V, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972, 27 – 53; Boldt, Deutsche Staatslehre, 180 – 186; Hartmann, Repräsentation, 35 – 64. 398 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrg. v. Ernst Rudolf Huber, I, Stuttgart: Kohlhammer, 31978, 334. Vgl. dazu auch Karl von Kaltenborn, Geschichte der Deutschen Bundesverhältnisse und Einheitsbestrebungen von 1806 bis 1856 unter Berücksichtigung der Landesverfassungen, 2 Bde., Berlin: Carl Heymann, 1857, II, 36, 43; Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 – 1850, Düsseldorf: Droste, 1977, 122, 163 – 192. Zu den gescheiterten Versuchen Heckers und Struves in Baden die Republik zu proklamieren, vgl. u. a. Hans Fenske, Der liberale Südwesten. Freiheitliche und demokratische Traditionen in Baden und Württemberg 1790 – 1933, Stuttgart: Kohlhammer, 1981, 93 – 94. 399 So auch die Charakterisierung des Nürnberger Arztes und Abgeordneten Johann Gottfried Eisenmann in: Bericht des Dr. Eisenmann an seine Wähler in Nürnberg und Bayreuth über unsere Zustände und Aufgaben, Erlangen: Ferdinand Enke, 1848, 15.

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reitschaft gleichgesetzt werden kann, ihre einzelnen Bestimmungen tatsächlich weitgehend zu übernehmen.400 Breitere Zustimmung fanden dagegen Positionen, die eindringlich für die konstitutionelle Monarchie plädierten und die Republik bedingungslos als freiheitsfeindlich und zur Despotie neigend ablehnten, ohne dabei ein Wort über die Vereinigten Staaten zu verlieren.401 Selbst jene, die dem amerikanischen Verfassungsbeispiel nicht auswichen, es teilweise gar aus eigener Anschauung kannten, waren meist nicht überzeugt, „daß für Deutschland Glück, Heil, Größe und eine kräftige, nationale Entwicklung unter einer demokratisch republikanischen Regierungsform zu finden sei“,402 wobei als letztlich entscheidender Grund häufig das vermeintliche Fehlen eines Proletariats in den Vereinigten Staaten angeführt wurde,403 womit mehr über die Stimmungslage des deutschen Bürgertums als über die sozialen Verhältnisse in Amerika ausgesagt war. Dennoch entwickelte sich in diesen Monaten eine lebhafte Debatte um den modernen Konstitutionalismus, und immer wieder wurden dabei auch die amerikanischen Verfassungen herangezogen, und zwar sowohl die Bundesverfassung als auch die einiger Einzelstaaten – insbesondere die von New York, Pennsylvania und Texas.404 Diese Verfassungen dienten jedoch keineswegs als alleinige Quelle der 400

Vgl. etwa [Julius von Dieskau,] Entwurf einer demokratisch-republikanischen Verfassung für die vereinigten Staaten von Deutschland, Frankfurt/M.: Meidinger, 1849, der zwar die Vorbildhaftigkeit der amerikanischen Verfassung betont (S. 3), tatsächlich aber lediglich bezüglich der Einrichtung von Präsident und Vizepräsident (Art. XL – XLII), bei Teilen der Judikative (Art. XLIII – XLIV) und in Bezug auf die demokratisch-republikanische Grundordnung der einzelnen Staaten (Art. XLVIII – LII) konkrete Anleihen bei der Verfassung der Vereinigten Staaten erkennen lässt. Demgegenüber haben sich etliche außerhalb der Paulskirche für eine mehr oder weniger weitgehende Übernahme einer Verfassung nach Art der amerikanischen ausgesprochen, vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, bes. I, 104 – 136. 401 Vgl. dazu etwa Johann Gottfried Eisenmann, Ideen zu einer Teutschen Reichsverfassung, Erlangen: Ferdinand Enke, 1848, 16 – 20. 402 Hermann Abeken, Die Republik in Nord-Amerika und der Plan einer demokratischrepublikanischen Verfassung in Deutschland, Berlin: Nicolai, 1848, 34 – 35. Im wesentlichen ebenso Christian Karl Josias Bunsen, Die Deutsche Bundesverfassung und ihr eigenthümliches Verhältniß zu den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten. Zur Prüfung des Entwurfs der Siebenzehn. Sendschreiben an die zum Deutschen Parlamente berufene Versammlung, Frankfurt/M.: Hermann, 1848, bes. 17 – 18; ferner Traugott Bromme, Die Verfassungen der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, der Freistaaten Pennsylvania und Texas, der Königreiche Belgien und Norwegen, die Bundes-Verfassung der Schweiz und die Englische StaatsVerfassung. Zur Beantwortung der Frage: Ob Republik, ob constitutionelle Monarchie?, Stuttgart: Hoffmann, 1848, xii – xiv. 403 Andreas Ziegler, Republikanische Licht- und Schattenseiten oder die Republik in Deutschland und in den vereinigten Staaten von Nordamerika, Dresden – Leipzig: Arnold, 1848, 74 – 75. 404 Vgl. u. a. Bromme, Verfassungen; Die Verfassungen der Vereinigten Staaten von NordAmerika, des Staates New-York, des Königreichs Norwegen und des Königreichs Belgien. Als Anhang der Entwurf der neuen Preußischen Constitution, Berlin: Hempel, 1848; Parlamentarisches Taschenbuch enthaltend die Verfassungen von Nordamerika, Norwegen, Sardinien,

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Anregung und Inspiration, sondern wurden vielfach mit anderen europäischen Verfassungen der Zeit verglichen. Das Ergebnis dieser Gegenüberstellungen fiel dabei aus den genannten Gründen ebenso wie aus dem Blickwinkel zahlreicher Detailfragen keineswegs grundsätzlich oder auch nur mehrheitlich zugunsten der in Amerika verwirklichten Verfassungslösungen aus. Insgesamt wird man vielmehr feststellen müssen, dass zumal auf Seiten der politischen Rechten und Mitte der amerikanischen Verfassung in den Diskussionen innerhalb wie außerhalb der Paulskirche um die deutsche Reichsverfassung von Anbeginn nur eine eher eingeschränkte Rolle zugedacht war, die sich auf einige Bereiche, die vor allem mit der bundesstaatlichen Ordnung im weiteren Sinne zusammenhingen, konzentrierte. Dabei konnten amerikanische Bestimmungen sowohl als Aufforderung in die Debatte eingebracht werden, in Deutschland zu ähnlichen Lösungen zu finden, als auch als Begründung für ein Streben nach andersartigen Regelungen.405 In diese Kategorie gehören ebenso etwa Bassermanns Hinweis auf die vorbildliche bundesstaatliche Ordnung in den Vereinigten Staaten Anfang 1848 in der badischen Ständeversammlung406 als auch die sechsseitige Denkschrift die volkswirtschaftlichen Bestimmungen der nordamerikanischen Bundesverfassung betreffend, die Friedrich von Rönne verfasst hatte, um darzulegen, dass der amerikanische Übergang vom

Rom, Oesterreich, Belgien, der Schweiz, England und den Entwurf einer deutschen Reichsverfassung, hrg. v. A. Rauch, 2 Lfgg., Erlangen: Palm, 1848; Friedrich Wilhelm Schubert, Die Verfassungsurkunden und Grundgesetze der Staaten Europa’s, der Nordamerikanischen Freistaaten und Brasiliens, welche gegenwärtig die Grundlage des öffentlichen Rechtes in diesen Staaten bilden, 2 Bde., Königsberg: Samter, 1848 – 50, bes. I, 261 – 325 (zweisprachiger Abdruck des Texts von 1787); Welche Verfassung ist die beste? Eine Frage, beantwortet durch eine übersichtliche Zusammenstellung der Verfassungen fünf anderer Staaten (Belgien, Norwegen, England, Frankreich, New-York) mit der preußischen, nach den correspondirenden Paragraphen geordnet, Wesel: Bagel, 1849 (dem Exemplar der SuUB Göttingen sind beigebunden: Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31sten Januar 1850, Nordhausen: Büchting, 1850; Die Reichsverfassung für das Kaiserthum Oesterreich, die Grundrechte und das Robot-Patent, Wien: [Manz?], 1849; und Die Verfassung der Vereinigten Staaten Nordamerika’s, wie dieselbe im Jahr 1787 unter G. Washington’s Vorstand abgeändert und verbessert ward, und gegenwärtig in Kraft besteht [o. O. u. J.], bei der jedoch, anders als bei Bromme, Schubert und der Berliner Ausgabe, die ersten zwölf Zusatzartikel fehlen, während die Erläuterungen (S. 24 – 28) der 8. Aufl. (1833 – 37) der Allgemeinen deutschen Real-Encyklopädie (Brockhaus) entnommen sind; Arnold, Einleitung in die Staatslehre. Weitere Nachweise finden sich bei Hildegard Meyer, Nord-Amerika im Urteil des Deutschen Schrifttums bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung über Kürnbergers „Amerika-Müden“, Hamburg: Friederichsen, 1929, 136, und bei Franz, Amerikabild, 104. 405 So auch Siemann, Frankfurter Nationalversammlung, 189; Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben, Frankfurt: Metzner, 1985, bes. 308 – 312. Vgl. zu der Gesamtthematik im 19. und 20. Jahrhundert unten Kap. VI. 10. 406 Friedrich Daniel Bassermann, „Begründung des Antrags auf Volksvertretung am Bunde, 12. Febr. 1848“, abgedr. in: Vormärz und Revolution 1840 – 1849, hrg. v. Hans Fenske, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, 256 – 257.

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Staatenbund zum Bundesstaat „durch die Bedürfnisse des Handels, der Schifffahrt und der Gewerbe“ wesentlich befördert worden war.407 Erheblichen Aufschluss über den Stellenwert der amerikanischen Verfassung geben jedoch die Beratungen der Konstituierenden Nationalversammlung 1848/49. Weit über einhundert Mal wurde von verschiedenen Rednern in den Debatten dieser Monate auf die Verfassung und das politische System der Vereinigten Staaten verwiesen. Das erscheint viel, geschah jedoch deutlich seltener als die Hinweise auf Frankreich und selbst jene auf Großbritannien. In ihrer bei weitem überwiegenden Zahl dienten diese amerikanischen Verweise ausschließlich der Unterstützung oder Erläuterung des eigenen Arguments und können daher weder als Ausdruck einer vertieften Auseinandersetzung mit dem modernen Konstitutionalismus amerikanischer Prägung noch als Indiz dafür genommen werden, dass die eigene Position durch das amerikanische Verfassungsbeispiel in den jeweiligen Punkt nachhaltig beeinflusst worden wäre. So gesehen sind sie ebenso austauschbar wie viele Verweise auf belgische, norwegische, Schweizer o. a. Parallelen und stellen vor allem rhetorische Floskeln dar. Lediglich in etwa zehn Prozent der Fälle kam dem Hinweis auf die amerikanischen Verfassungen substantielle Bedeutung zu. In der Mehrzahl dieser Fälle ging es um die Organisation des Bundesstaates. Vor allem Mittermaier hat mehrfach deutlich gemacht, in wie hohen Maße sich die Mehrheit der Verfassungskommission in diesem Punkt von dem amerikanischen Beispiel hat inspirieren lassen.408 Doch nicht allein von der Mehrheit des Verfassungsausschusses wurde die amerikanische Verfassung in einzelnen Punkten zur Ausgestaltung und zur Untermauerung ihres Entwurfes herangezogen. Auch die Minderheit bezog sich bei zahlreichen Gelegenheiten auf die amerikanische Verfassung, wenngleich in aller Regel lediglich zur Illustration des eigenen Standpunktes.409 Ungeachtet einer gewissen Häufigkeit der Erwähnung wird man insgesamt mithin nicht behaupten können, dass das amerikanische Verfassungsmodell einen prägenden Einfluss auf die Verfassungsberatungen der konstituierenden Nationalversammlung ausübte. Diesem Eindruck entspricht die letztlich kaum zu bestreitende Feststellung, dass nahezu keiner der zentralen Grundsätze des amerikanischen Verfassungsdenkens angemessenen Eingang in die Reichsverfassung von 1849 gefunden hat. Trotz dieser Relativierung bleibt allerdings festzuhalten, dass mit der 407

Friedrich von Rönne, Denkschrift die volkswirthschaftlichen Bestimmungen der nordamerikanischen Bundesconstitution betreffend, Frankfurt, 3. Juni 1848, 1. 408 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrg. v. Franz Wigard, 9 Bde., Frankfurt: Sauerländer, 1848 – 49, IV, 2724. Vgl. auch Johann Gustav Droysen, Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung, aus dem Nachlaß hrg. v. Rudolf Hübner, Berlin – Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt, 1924, 487. 409 Vgl. Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 508 – 509, 773, II, 1100 – 1101, III, 2353, 2358 – 2359, IV, 2726, 3451, V, 3812, VI, 4089 – 4090, VII, 5305 – 5306, VIII, 5690 u. a.; Droysen, Aktenstücke und Aufzeichnungen, hrg. v. Hübner, 164, 202.

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Revolution von 1848/49 der von Teilen der Liberalen und der Linken unternommene Versuch, die amerikanische Verfassung im Sinne von Reform und Veränderung zu instrumentalisieren, in Deutschland im 19. Jahrhundert seinen – vergleichsweise niedrigen – Höhepunkt erreicht hatte,410 so dass die deutsche Diskussion dieser Jahre deutlich hinter dem amerikanischen Einfluss auf die neue Schweizer Verfassung zurückblieb. In den Diskussionen und Debatten der Revolution kulminiert daher die Entwicklung des Vormärz, in der der moderne Konstitutionalismus in seiner amerikanischen Variante keine eigenständige Rolle gespielt hat, sondern vor allem der Ausschmückung der eigenen Argumentation diente, mitunter um auf diese Weise unter Umgehung der Zensur politische Reformvorstellungen zu artikulieren. Wirklich auseinandergesetzt hat sich mit den amerikanischen Verfassungen weder auf politischer noch auf staatsrechtlicher Seite kaum jemand in Deutschland. Umso höher ragt die Leistung des jungen Mohl ungeachtet ihrer engen Grenzen heraus. Doch trotz vielfältiger, von Amerika inspirierter Freiheitsbegeisterung bzw. aller staatsrechtlichen Gelehrsamkeit stellte die Diskrepanz zwischen der zeitgenössischen amerikanischen und deutschen politischen Kultur noch einen zu breiten Graben dar, als dass er leichthin hätte überwunden werden können – und ein Mittler zwischen beiden Kulturen war anders als am Jahrhundertende im Vormärz in Deutschland nicht hervorgetreten. Daher kann es nicht überraschen, wenn Murhard seine Lobeshymne auf die amerikanische Verfassung, in der er nicht allein die Rotteckschen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus verkörpert fand, mit dem jede Übertragbarkeit dieser Verfassung ausschließenden Satz beschloss: „Setzet an die Stelle der Nordamerikaner eine Nation von einem anderen Charakter, mit anderen Sitten, mit anderer Denkart und Gesinnung, und ihr würdet die Verfassung der Vereinigten Staaten bald zu einem todten Buchstaben herabsinken sehen, aus dem alles Leben entflohen wäre.“411

Bei aller theoretischen Begeisterung für die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus standen sich die Liberalen, wenn es an die Umsetzung in die Praxis ging, nur zu oft selbst im Weg. 410 Vgl. dazu u. a. die Arbeiten von Scholl, Einfluß der nordamerikanischen Unionsverfassung, 3, 32, 47 – 62; Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848 – 49, 2 Bde., Berlin: Ullstein, 1930 – 31, bes. II, 570 – 573; Ellwein, Nordamerikanisches Bundesverfassungsrecht, 129 – 329; Franz, Amerikabild, 98 – 133. Die von Franz behauptete und in der Forschung seither vielfach akzeptierte breite Beeinflussung der Paulskirche durch das amerikanische Verfassungsmodell beruht weitgehend auf einem methodischen Kurzschluss, der mit großem Fleiß alle Belege gesammelt hat, die einen Bezug zu Amerika haben, zugleich jedoch alle übrigen und letztlich noch zahlreicheren Schriften, in denen dieser Bezug fehlt, außer Acht gelassen hat. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um eine Frage reiner Quantität, sondern um ein inhaltliches Problem. Vgl. auch die sehr lückenhaften und nicht hinreichend gewichteten Hinweise auf die Paulskirchenberatungen bei Steinberger, „America and German Constitutional Development“, 201 – 205. 411 Murhard, „Nordamerikanische Verfassung“, 710.

6. Napoleonische Verfassungen gegen modernen Konstitutionalismus

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6. Napoleonische Verfassungen gegen modernen Konstitutionalismus – Die Verfassung von Westphalen als Beispiel412 In einer an Kaiser Napoleon gerichteten Eingabe ersuchten die Bittsteller um eine Verfassung. „Wir würden glücklich sein, eine Verfassung zu erhalten, die im allgemeinen jener ähnelt, die Eure Kaiserliche und Königliche Majestät dem Großherzogtum Warschau gewährt haben. […] Sie sollte ein eigenes Ministerium für die Leitung und Überwachung des öffentlichen Unterrichts beinhalten. Die Presse sollte frei sein, denn Unwissenheit und Irrtum haben unseren Niedergang verursacht. Die exekutive Gewalt sollte durch die Weisheit eines Staatsrates unterstützt werden, der durch verantwortliche Minister handelt. Zwei Kammern sollten die gesetzgebende Gewalt in Zusammenwirken mit der Exekutive ausüben. Unabhängigkeit sollte die höchste Auszeichnung der richterlichen Gewalt sein.“

Des Weiteren ersuchte man um Einführung des Code Napoléon, Erbteilung und ein gerechtes Steuersystem ohne Adels- oder andere Privilegierungen, gleichen Zugang zu Ämtern bei angemessener Vergütung und eine dem französischen System entsprechende Rationalisierung der Verwaltung bei gleichzeitiger Verminderung der vormals unverhältnismäßigen Zahl öffentlicher Amtsträger. Die Eingabe stammte nicht aus Kassel, sondern wurde Junot am 23. Mai 1808, nachdem in Lissabon die Einladung Napoleons an eine spanische Delegation nach Bayonne zwecks Verfassungsberatungen bekannt geworden war, von portugiesischen Bittstellern übergeben,413 blieb aufgrund der Umstände jedoch folgenlos: Am 2. Mai 1808 war der Aufstand in Madrid ausgebrochen, und drei Monate später, am 1. August 1808 begann mit der Landung Wellingtons jener Krieg, der in die englische Historiographie als der „Halbinselkrieg“ (Peninsular War) eingegangen ist, der militärisch mit der Vertreibung der napoleonischen Armeen von der iberischen Halbinsel endete. Im Juli 1808 war es gerade noch zu der erwähnten spanischen Verfassung, dem Estatuto de Bayona gekommen. Deutlich tiefere Spuren haben die Umbrüche auf der iberischen Halbinsel in der Verfassungsgeschichte lediglich dank 412

Überarbeitete Fassung meines Beitrags „,Modellstaat’? Die Verfassung des Königreichs Westphalen im Kontext der napoleonischen Verfassungen“, in: Fremdherrschaft und Freiheit. Das Königreich Westphalen als Napoleonischer Modellstaat, hrg. v. Jens Flemming u. Dietfried Krause-Vilmar, Kassel: Kassel University Press, 2009, 84 – 99. 413 Pedido de uma constituição para Portugal, in: Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España 1808 – 1845, hrg. v. António Pedro Barbas Homem, Jorge Silva Santos und Clara Álvarez Alonso, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 27 – 28. Zu dieser in Opposition zu den Vorstellungen der „Junta der drei Stände“ von einer Gruppierung um Francisco Duarte Coelho, Simão de Cordes Brandão und Ricardo Raimundo Nogueira von G. J. de Seixas verfassten Eingabe, vgl. António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direitos, Estado e Lei no Liberalismo Monárquico Português, Coimbra: Almedina, 2004, 55 – 59. Der Text der Eingabe findet sich ebenfalls in José Joaquim Lopes Praça, Colecção de leis e subsídios para o estudo do direito constitucional portuguez, II, Coimbra: Imprensa da Universidade, 1894, ix – x.

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der Verfassung von Cadiz von 1812 hinterlassen, über Jahrzehnte in weiten Teilen Europas und Lateinamerikas das leuchtende Vorbild einer liberal-demokratischen Verfassung und der sprichwörtliche Schrecken der Restauration.414 Doch kehren wir zu unseren offensichtlich so folgenlosen portugiesischen Supplikanten zurück. Auch die erste portugiesische Verfassung von 1822 war nicht die Adaption der Warschauer Verfassung, sondern eine Auseinandersetzung mit der von Cadiz und somit eher mit den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus. Aber selbst 1808 war der Rekurs auf das vermeintliche Vorbild so eindeutig nicht gewesen. Denn wenn wir genau hinsehen, hatten sich die Bittsteller zwar auf die Warschauer Verfassung berufen, aber was sie forderten, entsprach ihr bestenfalls partiell. Die unterstellte Gewaltentrennung, selbst bei Mitwirkung der Exekutive an der Gesetzgebung, die Verantwortlichkeit der Minister, Pressefreiheit und schließlich das Erziehungsministerium waren weder Teil der Warschauer Verfassung noch kennzeichneten diese Bestimmungen, bei gewissen Modifikationen und Abweichungen, auf die noch einzugehen sein wird, generell die napoleonischen Verfassungen. Worin liegt aber dann die Bedeutung der portugiesischen Forderungen, und was haben sie in der Tat mit der Westphälischen Verfassung zu tun? Die portugiesischen Bittsteller waren gewiss alles andere als Revolutionäre, vielmehr standen sie zu ihrem angestammten Herrscherhaus und der überkommenen Religion. Aber sie verschlossen ihre Augen auch nicht vor dem Niedergang des Landes, und sie nannten Gründe für diesen. Um ihn zu überwinden, nicht um sich den Besatzern willfährig zu zeigen, forderten sie eine Verfassung, und diese Verfassung sollte das Vehikel zu einer durchgreifenden Erneuerung und Modernisierung des Landes werden. Die Verfassung, die ihnen dabei vorschwebte, war jenseits aller diplomatischen Floskeln weder eine simple Kopie der napoleonischen, ob nun à la Frankreich oder Warschau, noch – für Portugal schon aus historischen Gründen keineswegs abwegig – eine der englischen Verfassung. Ihre Vorstellungen gingen eindeutig in Richtung einer Verfassung des modernen Konstitutionalismus, wie sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Reformkräfte in Amerika wie Europa inspiriert hatte.415 Die portugiesischen Wünsche nach Gewaltentrennung, verantwortlicher Regierung, unabhängiger Justiz und Ansätzen von repräsentativer Regierung und Menschenrechten sollten den Weg weisen und in Verbindung mit dem napoleonischen Impuls das Tor zur einer grundlegenden Modernisierung des Landes aufstoßen, ohne dabei, wie es vielen erschienen war, durch die Schrecken erregenden Tiefen der Französischen Revolution gehen zu müssen. Auf dieser Ebene war die Ausgangslage in Kassel 1807 identisch mit der in Lissabon. Die Frage ist nur, ob sie hier gleichermaßen wahrgenommen wurde und wie es um die verfassungsrechtliche Umsetzung, die in Lissabon selbst angesichts 414 415

Vgl. dazu oben die Kap. VI. 3. und VI. 4. Vgl. dazu oben Kap. I. 1.

6. Napoleonische Verfassungen gegen modernen Konstitutionalismus

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napoleonischen Wohlwollens den Umständen entsprechend ausbleiben musste, in Kassel bestellt war. Ungeachtet des theoretischen Gleichklangs der Ausgangslage überwogen die Unterschiede in der Sache. In Kassel ging es nicht um die Neuorganisation eines bestehenden Staates. Das Königreich Westphalen war eine jener strategischen Neuschöpfungen Napoleons, mit der seine führende Stellung im Rheinbund untermauert und zugleich ein von Frankreich kontrollierter Pufferstaat zwischen Frankreich und dem in Tilsit drastisch verkleinerten Preußen geschaffen wurde, der zugleich Teile von Englands deutscher Erbmasse und der Säkularisation von 1803 (Osnabrück, Paderborn und Hildesheim) aufnehmen sollte. Dass Kassel die Hauptstadt des neugeschaffenen Königreichs sein sollte, hatte sich bereits in Tilsit herauskristallisiert.416 Doch während im Falle des Großherzogtums Warschau, jener anderen antipreußischen Neugründung in Tilsit, ein angestammtes Herrscherhaus, nämlich das sächsische, wieder eingesetzt und die Verfassung in wenigen Tagen niedergeschrieben wurde,417 erforderte die ebenso in Tilsit beschlossene Staatsgründung von Westphalen mehr Zeit, obgleich Napoleon dort bereits seinen jüngsten Bruder Jérôme als König von Westphalen durchgesetzt hatte.418 Noch aus Tilsit ließ er Jérôme dabei wissen: „Meine Absicht ist es übrigens, indem wir Euch in Euer Königreich einsetzen, Euch eine ordentliche Verfassung zu geben, die in allen Klassen Eurer Völker die eitlen und lächerlichen Auszeichnungen ausmerzt.“419 Erst anderthalb Monate später war diese Verfassung im Wesentlichen fertig, wie er seinen Bruder mitteilte: „Mein Bruder, hier ist das Verfassungsprojekt, das mir geeignet erscheint, Eurem Königreich zu geben.“420 Zweierlei lässt sich aus diesen knappen Stellungnahmen Napoleons herauslesen. Offensichtlich waren mehrere Personen an der Erstellung der Verfassung beteiligt, und allem Anschein nach war es keine Verfassung „von der Stange“,421

416 An General Clarke, 8. Juli 1807 (No. 12881) (Correspondance de Napoléon Ier, publiée par ordre de l’empereur Napoléon III., XV, Paris: Plon, 1864, 399). 417 Napoleon war, aus Tilsit kommend am 18. Juli 1807 in Dresden eingetroffen, wo die Verfassung des Großherzogtums Warschau am 22. Juli von ihm unterzeichnet wurde. Das handschriftliche Original befindet sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden. 418 Vgl. an Prinz Jérôme, 7. Juli 1807 (No. 12873) (Correspondance de Napoléon Ier, XV, 395). 419 Ebd. 420 An Prinz Jérôme, 19. August 1807 (No. 13050) (Correspondance de Napoléon Ier, XV, 509). 421 Die Literatur ist sich weitgehend einig darüber, dass die westphälische Verfassung der Warschauer nachempfunden sei. Soweit ich sehe, ist Michael Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot, 2005, 50, der erste, der diese These – mit Recht – in Zweifel zieht, ohne allerdings im Einzelnen die Unterschiede zwischen beiden Verfassungen herauszuarbeiten. Allerdings hatte Helene Wegener, Die Relationen Napoléons I. zum Königreich Westfalen, im besonderen durch die Mission des kaiserlch. Gesandten, Grafen Reinhards am Kasseler Hof, 1807 – 1813, Diss. phil. Bern 1905, Breslau:

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sondern eine, die den besonderen Bedingungen und Umständen des neu zu schaffenden Königreichs Rechnung tragen sollte, „mit Sorgfalt ausgearbeitet“, wie Jérôme später feststellen sollte,422 ohne dass Napoleons Wortwahl („ordentlich“, „geeignet“) dabei besondere Ekstase oder auch nur gesteigerten Enthusiasmus zum Ausdruck brachte, auch wenn er das Gesamtwerk in seinem bekannten Brief an Jérôme vom 15. November 1807 für wichtiger als seine größten militärischen Siege hielt und mit dem viel zitierten Aufruf beschloss: „Seien Sie ein verfassungsgerechter König.“423 Betrachten wir zunächst die Frage der Mitwirkung, die uns schließlich auch zu der eingangs gestellten Frage zurückführen wird. Eine Mitwirkung, das machen die erwähnten Briefstellen überdeutlich, lässt sich sofort ausschließen, die von Jérôme. Der Rat und die Mitarbeit des nicht einmal Dreiundzwanzigjährigen schienen dem älteren Bruder verzichtbar, obgleich er ihn schon bei dem ersten Hinweis auf sein zukünftiges Amt angewiesen hatte: „Es ist erforderlich, dass Ihr Euch einen Sekretär verschafft, der sehr gut Deutsch kann und Euch bereits damit beschäftigt, mir einige Elsässer mit ausgezeichneten Verdiensten vorzuschlagen, die Euch bei Eurer Verwaltung unterstützen.“424 Ob Jérôme darauf das Mitglied des Tribunats und Straßburger Professors für Rechtsgeschichte Christian Wilhelm Koch ins Spiel gebracht hat, mag dahin gestellt sein. Jedoch werden ihm, insbesondere aber den beiden Staatsräten Jean Jacques Régis de Cambacérès425 und Michel Louis Etienne Regnaud de Saint-Jean-d’Angely, mitunter auch dem Außenminister und Fürst von Benevent Charles-Maurice de Talleyrand wesentliche Mitwirkung bei der Konzipierung der Verfassung eingeräumt,426 wobei die grundlegenden Weisungen, wie das erste Schreiben an Jérôme nahe legt, fraglos von Napoléon selbst gegeben worden sein dürften. Ungeachtet dieser Autorschaft verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. Am 4. August 1807 wies Napoléon General Clarke an: „Es ist erforderlich, dass M. Daru an die Provinzgouverneure Westphalens schreibt, Deputationen nach Paris zu entH. Fleischmann, 1905, 7, bereits von einer Sonderstellung der westphälischen Verfassung innerhalb der napoleonischen Verfassungen gesprochen. 422 Mémoires et correspondance du Roi Jérôme et de la Reine Catherine, III, Paris: E. Dentu, 1862, 38. 423 Ebd., 73. 424 An Prinz Jérôme, 7. Juli 1807 (No. 12873) (Correspondance de Napoléon Ier, XV, 395). 425 Cambacérès äußerte sich weder in seinen Briefen noch in seinen Memoiren zu seiner Mitwirkung. In den letzteren bemerkte er jedoch, dass die Ernennung der drei Staatsräte Siméon, Beugnot und Jollivet auf seinen Rat zurückging, Jean Jacques Régis de Cambacérès, Mémoires inédits, hrg. v. Laurence Chatel de Brancion, 2 Bde., Paris: Perrin, 1999, II, 166 – 167. 426 Vgl. dazu u. a. Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, 49 – 50; Helmut Berding, „Westphalie“, in: Dictionnaire Napoléon, hrg. v. Jean Tulard, Paris: Fayard, 1987, 1747; Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreform in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln – Berlin: Grote, 1970, 61; André Martinet, Jérôme Napoléon, Roi de Westphalie, Paris: Société d’éditions littéraires et artistiques, 1902, 17.

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senden, um ihren König zu beglückwünschen.“427 Es war eine der von Napoléon immer wieder inszenierten Maßnahmen der Scheinmitwirkung, die den Beteiligten mittels Teilhabe am Glanz des Kaisers das Gefühl ihrer eigenen Bedeutung vermitteln sollte – für deren Kosten sie allerdings in aller Regel selbst aufzukommen hatten – und durch ihre kalkulierte Binnenwirkung Eliten einbinden und herrschaftsstabilisierend wirken sollten. In dem bereits erwähnten Schreiben an Jérôme vom 19. August, inzwischen waren die Deputierten in Paris eingetroffen, wurde Napoléon deutlicher: „Lassen Sie die Verfassung den Deputierten Eurer Staaten bekanntgeben, die hier sind, damit wir ihre Beobachtungen gemäß der Kenntnisse haben, die sie von den Örtlichkeiten haben.“428 Mithin waren die westphälischen Delegierten nicht nach Paris gerufen worden, um ihre Wünsche und Ratschläge für die Verfassung zu übergeben, und diese unterließen es in der Folge auch nicht, wiederholt darauf hinzuweisen, dass sie nicht bevollmächtigt seien, „über die Constitution zu unterhandeln“.429 Doch in höchst nebulöser Weise hatte am 21. August Oberst Morio sie offiziell aufgefordert, sich zu beraten, „um mündlich S. M. die Auskünfte zu erteilen, um die er ersuchen könnte“.430 Die westphälischen Deputierten verstanden dies, kaum verwunderlich, als Aufforderung, sich Artikel für Artikel mit der Verfassung auseinander zu setzen, 427 An General Clarke, Saint-Cloud, 4. August 1807 (No. 12989) (Correspondance de Napoléon Ier, XV, 474). 428 An Prinz Jérôme, Paris, 19. August 1807 (No. 13050) (Correspondance de Napoléon Ier, XV, 509). 429 Urkundliche Beiträge zur Staatengeschichte Deutschland’s, in der napoleonischen Zeit. Wortgetreu aus dem Manuscripten-Nachlaß von dem Kurfürstlich Hessischen Geheimen Regierungs-Rath, Vicekanzler der Universität Marburg, Dr. und Professor der Rechte, Commandeur des Kurhessischen Hausordens vom goldenen Löwen, Georg Friedrich Carl Robert, Deputirten der Prälaten von Hessen, Kiel: Schwers’sche Buchhandlung, 1857, 35, vgl. ähnlich 5. 430 Ebd., 18. Die Behauptungen von Bettina Severin-Barboutie, „Varianten napoleonischer Modellstaatspolitik: Die Reichsstände des Königreichs Westfalen und das Kollegium des Großherzogtums Berg“, in: Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, hrg. v. Veit Veltzke, Köln – Weimar – Wien: Böhlau, 2007, 149 („fanden sich im Sommer 1807 westfälische Delegierte über die Verfassungsfrage in Paris ein“) und von Rüdiger Ham, „Die Constitution für das Königreich Westphalen von 1807. Zur Funktion und Funktionsweise der ersten modernen Verfassung in Deutschland“, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 26 (2004), 229 (der Verfassungsentwurf sei den Deputierten „zur Begutachtung vorgelegt“ worden) entsprechen ebenso wenig den Tatsachen wie die ältere Behauptung, die westphälischen Deputierten seien „zur Beratung der neuen Verfassung hinzugezogen“ worden, so erneut Volker Knöppel, „Verfassung und Rechtswesen im Königreich Westphalen“, in: König Jérôme und der Reformstaat Westphalen. Ein junger Monarch und seine Zeit im Spannungsfeld von Begeisterung und Ablehnung, hrg. v. Helmut Burmeister u. Mitarb. v. Veronika Jäger, Hofgeismar: Verein für hessische Geschichte und Landeskunde, 2006, 22. In sich widersprüchlich dagegen Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreform in Deutschland, 61 – 62, der einerseits feststellt, dass Napoleon den Deputierten die Verfassung „diktierte“, andererseits aber behauptet, dass diese „zu einer Reihe von Verfassungsbestimmungen ihre Anmerkungen dem König und Napoleon vorgetragen“ hätten.

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um, wie sie es nannten, ihre „Privatgedanken“431 darüber zum Ausdruck zu bringen. Da diese Bemühungen bekanntlich fruchtlos blieben, Jérôme sollte sie später mit keinem Wort erwähnen,432 haben sie in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden. Tatsächlich war es aber nach einigen protokollarischen Scharmützeln am 30. August zur Übergabe der Bemerkungen der westphälischen Deputierten durch einen fünfköpfigen Ausschuss an Jérôme gekommen. Insgesamt wurden zu 18 der 55 Artikel gemeinsam beschlossene knappe Bemerkungen vorgelegt, auf die der König zum Teil gar nicht, zum Teil abweisend, in wenigen Fällen beschwichtigend und kaum einmal wohlwollend einging. Generell ließ er zudem die Bittsteller wissen, dass „gegenwärtig schon eine Organisations-Commission von 3 Staats-Räthen zu Cassel [sei], an welche man sich wenden müsse“. Der etwas ernüchternde Bericht des Ausschusses über die königliche Audienz schloss dann mit den Worten: „Zuletzt fügte der König noch bei, es freue ihn, daß wir im wesentlichen einverstanden wären, und unsere Bemerkungen nichts ganz abweichendes enthielten; die berührten Gegenstände schienen ihm schon durch die gegebenen Antworten größtentheils gehoben; wir würden indessen noch näher beschieden werden. (Dieser letzte Zusatz wurde jedoch nur von einigen Mitgliedern vernommen).“433

Das Missverständnis war komplett, und der gesamte Vorgang war die Offenbarung der unterschiedlichen Erwartungshaltungen, mit denen die Vertreter des altständischen Europa den Ideen und Repräsentanten der neuen Zeit gegenüber getreten waren.434 Doch gravierender noch als die westphälischen Fehleinschätzungen war 431

Urkundliche Beiträge, 5, 35. Vgl. ähnlich Landessyndikus Rhamm, „Eine Gesandtschaft der braunschweigischen Stände am Hofe Napoleons I.“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen, 50 (1885), 159. 432 Vgl. Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 38. 433 Urkundliche Beiträge, 65, 66, vgl. den ganzen Bericht vom 31. 8. 1807, ebd., 62 – 88. Vgl. ferner Rhamm, „Eine Gesandtschaft der braunschweigischen Stände“, 164 – 165. 434 Der in der Literatur vielfach verwandte Ausdruck „Scheinverhandlungen“ ist jedoch abwegig, da die französische Seite nie zu „Verhandlungen“ eingeladen hatte und die westphälische Seite von Anbeginn die französischen Intentionen missverstanden hatte. Vgl. Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft im Herzen Deutschlands, 1807 – 1813, vollendet u. hrg. v. Theodor Ilgen, Düsseldorf: L. Voß & Cie., 1888, 42; Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westphälischen Herrschaft, 1806 – 1813, II, Hannover – Leipzig: Hahn, 1895, 5 – 6; Wegener, Die Relationen Napoléons I. zum Königreich Westfalen, 11; Rudolf Oeschey, Die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818 und die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814. Ein Beitrag zur Lehre vom monarchischen Prinzip. Unter Berücksichtigung der bayerischen Konstitution vom 1. Mai 1808 und deren Vorbildes, der westfälischen Verfassung vom 15. November 1807, München: C. H. Beck, 1914, 11; Dorothea Puhle, Das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel im Königreich Westphalen und seine Restitution, 1806 – 1815, [Braunschweig:] Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsvereins, 1989, 43 – 44. Sehr viel verhaltener, aber auch vager dagegen Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807 – 1813, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973, 19. Dagegen attestiert Hecker, Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, 51 den westphälischen Deputierten „kontraproduktives Agieren“, indem sie „ein

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das Versäumnis Jérômes, die Gelegenheit offensiv zu nutzen, um die Deputierten über den eigentlichen Kern der Verfassung und ihr ungeheures Modernisierungspotential ins Bild zu setzen, wie er es dann ein gutes halbes Jahrhundert später tun sollte und was Napoléon in seiner Audienz am 16. August 1807 zuvor zumindest hatte anklingen lassen und den Helmstädter Abt Heinrich Philipp Conrad Henke zu der Bemerkung veranlasst hatte: „Alles wird anders werden, gewaltige Orkane und Erschütterungen sind noch zu erwarten.“435 Ungeachtet dieser folgenreichen politischen Versäumnisse, eröffnet uns diese Konfrontation die Möglichkeit, die Auffassungen der westphälischen Deputierten nicht nur im einzelnen mit der Verfassung zu kontrastieren, sondern darüber hinaus auch mit jener, in der Forschung bislang ebenfalls nicht beachteten ausführlichen, wenn auch rückblickenden Analyse der Verfassung, die Jérôme in seinen Memoiren gegeben hat.436 Jérôme legte Wert auf die Feststellung, dass angesichts der Tatsache, dass die Legislative in der westphälischen Verfassung lediglich aus einer Kammer bestand (Art. 29), sich jeder Vergleich mit der britischen Verfassung wie mit der Verfassung des Jahres VIII und ihren Modifikationen in den Jahren X und XII verbot. Weder war in ihr ein Ausgleich zwischen Aristokratie und Demokratie entsprechend der britischen Theorie vorgesehen, noch wachte ein erhaltender Senat über die Einhaltung der Verfassung und der Wahlgesetze. Die Gründe für diese Abweichungen führten laut Jérôme zum Kern der Verfassung. „Es ist offensichtlich, dass der Kaiser dem neuen Königreich eine einfache, sparsame Verfassung hat geben wollen der Art, die Einführung der egalitären Prinzipien der Französischen Revolution in das feudale Deutschland zu erlauben und zu erleichtern.“437 Jérôme war jedoch kritisch genug einzugestehen, dass aufgrund dieser Verschlankung der Verfassung der Staatsrat zugleich die Funktionen eines Kassationsgerichtes einnahm (Art. 21) und damit jenen Grundwiderspruch der Verfassung zum Ausdruck brachte, den er verharmlosend „eine offenbare Inkonsequenz“ und „diese Anomalien“ nannte, die sich zu der zugleich dekretierten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 49) ergaben.438 Angesichts des Fehlens einer konsequent durchgeführten Gewaltentrennung war diese proklamierte richterliche Unabhängigkeit zusätzlich dadurch unterlaufen, dass die vom König zu ernennenden Richter ihr Anstellung auf Lebenszeit erst nach einer fünfjährigen Bewährungszeit erhielten (Art. 50). Selbst danach blieb noch eine Amtsentsetzung durch den König bei „Pflichtverletzung“ möglich (Art. 51). Im Falle des Staatsrats galt zudem, dass der König seine Mitglieder nach Gutdünken ernennen und entlassen konnte (Art. 21) und dass der Staatsrat in seinen Funktionen, wie auch klassisches Dokument alt-ständischer Interessensvertretung und feudaler Beharrungsbemühungen“ vorlegten. 435 Zit. n. Rhamm, „Eine Gesandtschaft der braunschweigischen Stände“, 162. Dagegen die wenig aussagekräftigen Erinnerungen von Cambacérès, Mémoires inédits, II, 162. 436 Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 58 – 73. 437 Ebd., 59. 438 Ebd.

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Jérôme nicht verschwieg, lediglich eine beratende Stimme hatte (Art. 28), d. h. allein bei Zustimmung des Königs handlungsfähig war. Die richterliche Unabhängigkeit hatte mit anderen Worten nur solange Bestand, wie sie nicht mit den Zielen des Staates oder den Vorstellungen des Königs bzw. Kaisers in Konflikt geriet.439 Obgleich diese Bestimmung in eindeutigem Widerspruch zu den Vorstellungen des modernen Konstitutionalismus steht, erscheint es vorschnell, die richterliche Unabhängigkeit damit als praktisch nicht existent zu erklären. Die Bedeutung der westphälischen Verfassung lag darin, dass sie die richterliche Unabhängigkeit zum Verfassungsprinzip erhoben und damit anerkannt hatte, genau wie es dann die portugiesischen Supplikanten fordern sollten. Anders als in den Verfassungen Frankreichs, von denen erstmals die von der Repräsentantenkammer (Chambre des Représentants) am 5. Juli 1815 verabschiedete, aber nicht rechtskräftig gewordene „Erklärung der Rechte der Franzosen“ (Déclaration des droits des français) in ihrem Artikel 10 eine Klausel zur richterlichen Unabhängigkeit enthielt, die sich dann tatsächlich erst in den französischen Verfassungen seit 1946 verankert findet, fand sich die Formulierung „Der gerichtliche Stand ist unabhängig“ (L’ordre judiciaire est indépendant)440 in lediglich zwei weiteren napoleonischen Verfassungen der Jahre 1807/08.441 Dabei muss eingeräumt werden, dass in keiner der beiden übrigen Verfassungen das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit derart ausgehöhlt war wie in der westphälischen.442 Dennoch blieb sie auch hier als Verfassungsprinzip erhalten, dessen normales Funktionieren in späterer Zeit oftmals vermisst wurde, hatte es doch weder in die sich vielfach an ihr orientierenden bayrischen Verfassung von 1808443 noch in die hessen-kasselsche Verfassung von 1831 noch in andere deutsche Verfassungen vor 1848 Eingang gefunden. Der zweite Verfassungskomplex, mit dem sich Jérôme ausführlich auseinander setzte, betraf die Stände, ihre Funktion und Wahl.444 In seinen Augen stellte letztere einen „interessanten Teil“ der Verfassung dar, zumal sie nach seiner Überzeugung Sieyès und das Prinzip „das Vertrauen kommt von unten und die Macht von oben“ 439 Vgl. dazu die sehr positive Würdigung bei Christian Hattenhauer, „Das Königreich Westphalen (1807 – 1813)“, in: Westfälische Jurisprudenz. Beiträge zur deutschen und europäischen Rechtskultur. Festschrift aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der Juristischen Studiengesellschaft Münster, hrg. v. Bernhard Großfeld u. a., Münster: Waxmann, 2000, 81 – 82. 440 Art. 49 der offiziellen deutschen und französischen Fassung der Verfassung von Westphalen, in: Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, VI, 248. 441 Vgl. Verfassung des Großherzogtums Warschau, Art. 74 (Polskie dokumenty konstytucyjne 1790 – 1848, hrg. v. Anna Tarnowska, München: Saur, 2008, 47) und Estatuto de Bayona, Art. 97 (Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, hrg. v. Homem, Santos und Álvarez, 212). 442 Vgl. dagegen, ohne Berücksichtigung der Defizite, Ham, „Die Constitution für das Königreich Westphalen von 1807“, 232. 443 Vgl. dazu Oeschey, Die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818, 11, 29 – 45. 444 Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 59 – 62.

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umkehrte.445 Anders als in den französischen Verfassungen der Jahre VIII bis XII wurden die Mitglieder der Departements-Kollegien nach vorausgegangener Wahl aus den entsprechenden Listen letztlich vom König bestimmt (Art. 41). Doch hatten dann diese Departements-Kollegien und nicht der König das Recht, die hundert Mitglieder der Stände nach dem Schlüssel 70:15:15 (Großgrundbesitzer, Kaufleute/ Fabrikanten, Gelehrte/verdienstvolle Bürger) zu bestimmen (Art. 29). „Das ist die einfache und liberale Anordnung des Systems, die selbst, wie man sieht, der analogen Anordnung der französischen Verfassung überlegen ist.“446 Diese Charakterisierung mag durch die indirekte Wahl der Stände gerechtfertigt erscheinen, jedoch hatte der Repräsentativgedanke durch die königliche Ernennung der Mitglieder der Departements-Kollegien eine erhebliche Einschränkung erfahren, die mit den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus nicht vereinbar war. Die Beschränkung der Rechte der Stände folgte hingegen im Wesentlichen der des Corps législatif in der Verfassung des Kaiserreichs. Sie besaßen kein Initiativrecht, und ihr Mitspracherecht beschränkte sich auf Abgaben und Finanzen, Zivil- und Strafrecht, wobei ihre Mitwirkungsmöglichkeiten an den Gesetzesinhalten letztlich vom Wohlwollen des Königs abhing (Art. 21 – 25), Aspekte, die für Jérôme keiner weiteren Kommentierung bedurften. „Im Grunde genommen sind die Hauptprinzipien der Verfassung, die bis zu einem gewissen Grad sowohl die Eroberung als auch die Begründung des neuen Königreichs legitimierten, deren Konsequenz sie war, in ihrem Titel IV enthalten. Dieser Titel bestätigt die absolute Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Aufhebung aller Adels- und feudalen Privilegien, die Abschaffung der Leibeigenschaft, welcher Art und Bezeichnung sie auch gewesen sein mag, die der Rechte, besonderen Privilegien aller städtischen oder provinziellen Gebietskörperschaften.“447

Jérôme fasste hier die zentralen Bestimmungen der Art. 10 – 15 der Verfassung zusammen, die den radikalen Bruch mit der altständischen Ordnung des vorrevolutionären Europas markierten, mit jenen „eitlen und lächerlichen Auszeichnungen“, wie Napoléon sie bereits in Tilsit genannt und als den eigentlichen Kern seines Anliegens bezeichnet und es in der Audienz der westphälischen Deputierten am 16. August 1807 wiederholt hatte.448 Diese Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes der Französischen Revolution wog für Jérôme noch ein halbes Jahrhundert später so schwer, dass sie militärische Eroberung und Staatsgründung rechtfertigte. Es war das Recht der Revolution, ihre Wohltaten anderen Völkern zuteilwerden zu lassen. Zugleich sprach aus diesen Äußerungen der Modernisierer, der auf den Trümmern der alten Ordnung die neue Zeit errichtete, genau wie es sich die portugiesischen 445

Ebd., 60. Ebd., 61. Vgl. dazu auch Ernst von Meier, Französische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preussens im XIX. Jahrhundert, 2 Bde., Leipzig: Duncker & Humblot, 1907 – 1908, I, 214 – 215. 447 Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 62. 448 Vgl. dazu Rhamm, „Eine Gesandtschaft der braunschweigischen Stände“, 156 – 157. 446

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Supplikanten erwünscht hatten. Und es hatte mehr als symbolischen Charakter, wenn in demselben Verfassungstitel dabei zugleich das moderne Dezimalsystem in Westphalen eingeführt wurde (Art. 17). Es spricht für die Bedeutung der westphälischen Verfassung, dass keine der übrigen napoleonischen Verfassungen einen vergleichbaren Titel IV enthielt. Fragt man nach den Gründen für diese Radikalität des napoleonischen Ansatzes,449 so scheinen diese in den Erfahrungen von Tilsit und in Napoléons kompromissloser Gegnerschaft zu Preußen begründet. Sein bereits erwähnter Brief an Jérôme vom 15. November 1807 spricht eine klare Sprache: „Eure Völker sollen eine den Völkern Germaniens unbekannte Freiheit, Gleichheit und Wohlergehen genießen und diese liberale Regierung soll in der einen oder anderen Weise die wohltuendsten Veränderungen im System der Konföderation und der Stärke Eurer Monarchie bewirken. Diese Art zu regieren wird eine mächtigere Barriere sein, die uns von Preußen trennt, als die Elbe, als die Festungen und als der Schutz Frankreichs.“450

Westphalen als die Keimzelle des modernen Deutschlands, das kraft seines Beispiels unangreifbar und die Mächte der Vergangenheit im Zaume halten würde: in keiner Verfassung hat sich der Kaiser in vergleichbarere Weise zu den Grundgedanken der Französischen Revolution bekannt, und die Art. 10 – 15 der westphälischen Verfassung finden ihre Entsprechung erst wieder in den Art. 59 – 63 der Ergänzungsakte zu den Verfassungen des Kaiserreichs (Acte additionel aux Constitutions de l’Empire) vom 22. April 1815. Nach Jérômes Überzeugung bedingte diese Absicht einschneidender sozialer Reformen den Verzicht sowohl auf eine zweite Parlamentskammer, die der Adel zur Opposition hätte nutzen können, als auch die eines Obersten Gerichtshofes, der sich ähnlich hätte instrumentalisieren lassen können. Das Ziel, „in Deutschland eine Standarte aufzurichten, die die der modernen Gleichheit im Gegensatz zu jener des Feudalismus des Mittelalters gewesen wäre“,451 rechtfertigte diese Maßnahmen und habe trotz des ephemeren Charakters des westphälischen Königreichs bleibende Spuren in der Geschichte des 19. Jahrhunderts hinterlassen.452 Umso mehr verbitterte ihn die Undankbarkeit, dieses um den Preis einer vorübergehenden Eroberung gemachte Geschenk zurückgewiesen zu haben, für dessen Erhalt Frankreich 25 Jahre schrecklicher und blutiger Revolutionen, heroischer Großtaten wie Katastrophen durchlitten habe, die ohne Beispiel in der Geschichte seien. 449 Bereits vor einem Jahrhundert hatte Wegener, Die Relationen Napoléons I. zum Königreich Westfalen, 7, wenn auch mit anderer Begründung, von der „Sonderstellung“ der westphälischen Verfassung innerhalb der napoleonischen Verfassungen gesprochen. 450 Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 72 – 73. 451 Ebd., 63. Bezüglich der Umsetzung und realen Bedeutung dieser Bestimmungen, vgl. Ham, „Die Constitution für das Königreich Westphalen von 1807“, 237 – 240. 452 Ähnlich auch Goecke, Das Königreich Westphalen, 57: „Einzelne Ideen in dieser Konstitution gehen auf Sieyes zurück. Unter diesem Gesichtspunkt nimmt das Königreich Westphalen, so vorübergehend und so bewegt seine Existenz gewesen ist, einen bedeutenden Platz in der Geschichte dieses Jahrhunderts ein.“

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Es fällt auf, dass Jérôme weder in diesem noch in anderem Zusammenhang auf die Art. 45 und 46 der Verfassung einging, hatte doch Napoléon in seinem Schreiben an ihn vom 15. November ausdrücklich herausgestrichen: „Die Wohltaten des Code Napoléon, die Öffentlichkeit der Verfahren, die Einrichtung von Geschworenen sind ebenso besondere Merkmale Eurer Monarchie.“453 Damit war das gesamte Zivilrecht und der Zivilprozess auf dem Gebiet des Königreichs auf eine radikal neue Grundlage gestellt, was zugleich in Verbindung mit dem Titel IV die Abschaffung aller bestehenden Patrimonial- und Partikulargerichtsbarkeit bedeutete und für die angestrebte Modernisierung eine unverzichtbare komplementäre Maßnahme darstellte.454 Auch wenn sich vergleichbare Bestimmungen mit Ausnahme der Geschworenengerichte bereits in der Warschauer Verfassung gefunden hatten,455 erhalten sie im Kontext der Revolutionierung der westphälischen Gesellschaftsordnung erst ihren besonderen Stellenwert. Man hat dieser ersten Verfassung auf deutschem Boden vieles zum Vorwurf gemacht, und dass sie gravierende Defizite aufwies und mit etlichen der grundlegenden Prinzipien des modernen Konstitutionalismus nicht vereinbar war, steht außer Frage. Doch scheint es geboten, zwischen dem Text selbst und den ihn tragenden Überzeugungen auf der einen Seite und der Politik, einschließlich der Verfassungspolitik, der kommenden Jahre auf der anderen Seite zu unterscheiden. Ohne Frage bleibt der Text hinter den Erwartungen des modernen Konstitutionalismus deutlich zurück. Aber dennoch enthält er mehr Elemente dieses modernen Konstitutionalismus als alle voraufgegangenen napoleonischen Verfassungen innerhalb wie außerhalb Frankreichs, ja stellt er die modernste dieser Verfassungen überhaupt dar. Es ist diese Modernität, verbunden mit der durch sie verordneten Revolutionierung der bestehenden Gesellschaftsordnung, mit der die westphälischen Deputierten im August 1807 in Paris konfrontiert wurden, und ihre Reaktionen sind in vieler Hinsicht bezeichnend. Zunächst richteten sich die hessischen Einwände, die wesentlich auf den Marburger Rechtsprofessor Georg Friedrich Carl Robert456 zurückgehen dürften und die die ausführlichsten und prinzipiellsten aus dem Kreis der westphälischen Deputierten sind, gegen die Domänen und Kriegskontributionen (Art. 2, 3), um sodann gegen die Bestimmung des Art. 5 Beschwerde zu führen, dass das westphälische Kontingent von 25.000 Soldaten zunächst nur zur Hälfte aufgestellt werden solle,

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Mémoires et correspondance du Roi Jérôme, III, 72. Laut Hattenhauer, „Das Königreich Westphalen (1807 – 1813)“, 78, wurde im Bereich von Recht und Rechtspflege „Vorbildliches geleistet. […] Das Königreich erhielt das modernste Gesetzbuch Europas.“ Vgl. dazu ergänzend Meier, Französische Einflüsse, I, 227 – 231. 455 Verfassung des Großherzogtums Warschau, Art. 69 und 70, in: Polskie dokumenty konstytucyjne, hrg. v. Tarnowska, 46. 456 Zu Robert vgl. Jochen Lengemann, Parlamente in Hessen 1808 – 1813. Biographisches Handbuch der Reichsstände des Königreichs Westphalen und der Ständeversammlung des Großherzogtums Frankfurt, Frankfurt/M.: Insel, 1991, 178. 454

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was „eine Menge von Officieren außer Brod, und daher viele Familien unglücklich“ machen würde.457 In ihren auf die einzelnen Artikel des Verfassungsentwurfs bezogenen Stellungnahme unterblieb zwar die Auseinandersetzung mit dem Gesamtcharakter der Verfassung, doch das Aufeinanderprallen der beiden Welten, der modernen und der altständischen, wird in den Bemerkungen zum zentralen Art. 13 über die Aufhebung der Leibeigenschaft deutlich: „Bei diesem Artikel dürfte es wohl am zweckmäßigsten sein, geradezu anzunehmen, daß der Ausdruck: servage nur auf die Leibeigenschaft gehen solle, und zugleich auf eine billige Entschädigung der, unter deren Abschaffung leidenden, Gutsherrn anzutragen.“458 Diese Einstellung, dass das Neue zwar offensichtlich nicht zu verhindern sei, aber es in seinen Wirkungen abgemildert und möglichst zeitlich hinausgeschoben werden sollte, kommt gleichermaßen in den Einwänden gegen die Einführung des neuen Steuer- und Dezimalsystems zum Ausdruck (Art. 16, 17). Diese antimodernistische Grundeinstellung gegenüber den radikalen Veränderungen der Gesellschaftsordnung stand im Gegensatz zu den über die Verfassung hinausgehenden Forderungen im politischen Bereich, als es um die Rolle und Macht der Stände und den Gedanken der repräsentativen Regierung ging. Hier wurde eindeutig das Recht der Stände gefordert, eine Gesetzesinitiative seitens des Staatsrates zurückweisen zu können: „Dies veto wäre deshalb ausdrücklich anzuerkennen, denn es scheint doch dem Sinne der Constitution gemäß zu sein; wenigstens würden die Repräsentanten des Volkes aufhören wahre Stände zu sein, wenn es ihnen versagt würde.“459 Es mag dahingestellt sein, ob sich unter der Federführung Roberts in dieser Forderung die Interessen des bürgerlichen Gelehrtenstandes artikulierten. Jedenfalls ließen sich darunter ebenfalls die Forderungen nach materieller Absicherung entlassener Staatsräte (Art. 21), der Modifizierung der Sitzverteilung in den Ständen bei Reduzierung des Anteils der Grundeigentümer auf 50 % und gleicher Verteilung der verbleibenden 50 % auf Kaufleute und Gelehrte und der Einführung von Tagegeldern, damit nicht „nur sehr reiche Personen“ Mitglieder der Stände sein könnten (Art. 29), sowie eines Vorschlagrechtes der Departements für die Stelle des Präsidenten der Ständeversammlung (Art. 31) verstehen.460 Ebenso ließen sich die For457

Urkundliche Beiträge, 36. Ebd., 37. Vgl. dazu Rhamm, „Eine Gesandtschaft der braunschweigischen Stände“, 162 – 164. 459 Ebd., 38. Zu der in der Tat begrenzten Umsetzung u. a. durch das Dekret vom 23. Januar 1808, vgl. Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik, 24 – 25; Hattenhauer, „Das Königreich Westphalen (1807 – 1813)“, 79 – 81. 460 Urkundliche Beiträge, 38. Reisekosten und Tagegelder wurden in der Tat durch königliches Dekret vom 10. Mai 1808 eingeführt, vgl. Verfassungen in Hessen 1807 – 1946. Verfassungstexte der Staaten des 19. Jahrhunderts, des Volksstaats und des heutigen Bundeslandes Hessen, hrg. v. Eckhart G. Franz u. Karl Murk, Darmstadt: Hessische Historische Kommission, 1998, 27. 458

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derung nach Einstellung der Präfekten, Unterpräfekten und Maires auf Lebenszeit (Art. 35 – 37), der Wiederwählbarkeit der Departementsräte (Art. 38) und die Reduzierung des Anteils der Höchstbesteuerten in den Departementskollegien auf 50 % (Art. 41) interpretieren. Im Einklang mit diesem bürgerlichen Interesse an Stellen und Ämtern bei entsprechender materieller Absicherung und politischen Mitspracherechten, sollte die bestehende hierarchisierte Gesellschaftsordnung möglichst gewahrt werden, die durch die Einführung des Code Napoléon (Art. 45) als gefährdet galt. „Bei diesem äußerst wichtigen Artikel ist es nothwendig, auf folgende Bestimmungen anzutragen: 1.) daß der Code Napoléon nur das gemeine Recht des Königreichs ausmache, und also particulare Normen dadurch nicht ausgeschlossen würden.“ Ferner sollte es zunächst eine autorisierte deutsche Übersetzung von ihm geben, und ihm dürfte keine rückwirkende Kraft zukommen. Da erst entsprechende Juristen ausgebildet werden müssten, sollte das Gesetzbuch frühestens in drei Jahren in Kraft treten.461 Fassen wir die hessische Kritik an der Verfassung zusammen, so ist sie einerseits gekennzeichnet von der generellen Unerfahrenheit mit modernen Verfassungen, denen man bislang bestenfalls theoretisch in vereinzelten Publikationen begegnet war. Es muss daher nicht unbedingt verwundern, wenn zentrale Kritikpunkte oder Defizite der Verfassung nicht entsprechend thematisiert wurden, so dass selbst die wenigen hessischen Bemerkungen in Sachen Gesetzgebung und Repräsentation von den anderen Delegationen nicht aufgegriffen wurden und mithin nicht in die gemeinsame Stellungnahme eingeflossen waren. Umso leichter wurden die zentralen Artikel zur Revolutionierung der überkommenen Gesellschaftsordnung identifiziert und von allen Delegationen wie auch in den gemeinsamen Bemerkungen, wenn auch verhaltener und weniger weitgehend als in den hessischen Einwänden, vorgebracht. Während der König bei der Vorlage der Eingaben daraufhin in Sachen Code Napoléon zu beschwichtigen suchte, hieß es bezüglich der königlichen Reaktion zur Frage der Leibeigenschaft knapp: „Dieser Artikel wurde ganz mit Stillschweigen übergangen.“462 Es bedarf keiner vertieften Kenntnisse, der westphälischen Verfassung Defizite und Versäumnisse vorzuhalten. In der Vergangenheit ist des Öfteren, mitunter mit einem nationalistischen Unterton, von einem „Schein-Konstitutionalismus“ ge-

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Urkundliche Beiträge, 39. Bezüglich der westphälischen Verfassungspolitik in Sachen Leibeigenschaft und ihrer Abschaffung, Frohnden, Lehen, Ablösungen, des Code Napoléon usw., vgl. Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807 – 1813, bearb. v. Klaus Rob (Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, II), München: Oldenbourg, 1992, bes. 89 – 278. Vgl. dazu auch Charles Schmidt, Das Großherzogtum Berg 1806 – 1813. Eine Studie zur französischen Vorherrschaft in Deutschland unter Napoleon I., A. d. Franz. v. Lothar Kellermann, hrg. v. Burkhard Dietz u. Jörg Engelbrecht, Neustadt/Aisch: Schmidt, 1999, 148 – 149, 160 – 162. 462 Urkundliche Beiträge, 63, vgl. auch 64.

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sprochen worden.463 Erst jüngst hat Rüdiger Ham festgestellt, dass, verglichen mit den amerikanischen und französischen Revolutionsverfassungen, bei der ersten Verfassung auf deutschem Boden von einer „wirklich ,modernen‘ Verfassung […] keine Rede sein“ könne.464 Um zu einer abschließenden Bewertung zu kommen, empfiehlt sich jedoch, mehrere Dinge klar voneinander zu unterscheiden. Gemessen an den Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus ist die westphälische Verfassung eindeutig defizitär, ebenso wie alle napoleonischen Verfassungen in und außerhalb Frankreichs und im Übrigen wie alle Restaurationsverfassungen in Europa. Die herausragende Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831 begründet sich gerade darin, dass sie diese Gegnerschaft zum modernen Konstitutionalismus überwand und die überwiegende Zahl seiner Prinzipien in die Verfassung aufnahm.465 Dass dieses gerade in Kurhessen geschehen konnte, hängt, und hier manifestiert sich die weiterwirkende Bedeutung der westphälischen Verfassung, nicht zuletzt mit dieser zusammen, die liberaler war und mehr Anklänge an den modernen Konstitutionalismus erkennen ließ, als alle anderen napoleonischen Verfassungen.466 Wenn der kurhessische Verfassungsentwurf von 1816 eine „fortschrittliche, in vieler Hinsicht zukunftweisende Verfassung“ hätte bedeuten können, dann nicht zuletzt, weil er in etlichen Punkten zumindest indirekt an die westphälische Verfassung anknüpfte, was u. a. darin begründet war, dass der Verfasser des Erstentwurfs der kurhessischen Verfassung von 1816, Heinrich Otto Aemilius Friedrich von Porbeck, wie zumindest drei weitere Mitglieder der Landstände von 1815/16, unter ihnen der Marburger Rechtsprofessor Robert, Mitglieder der westphälischen Reichsstände gewesen waren.467 Zu dieser Bedeutung der Verfassung Westphalens hat ihr Bekenntnis zu dem Gleichheitsgrundsatz der Französischen Revolution und einem allgemeinen Liberalismus beigetragen, mit dem sie weiter als alle anderen Verfassungen Napoléons vor der Ergänzungsakte von 1815 gegangen war und mit dem sie das Tor zu einer grundlegenden sozialen Modernisierung des Landes weit aufstoßen und die Gesellschaftsordnung revolutionieren wollte. Dass unter den Zwängen der napoleonischen Politik der folgenden Jahre dann in der Realität vieles ganz anders aussah und von ihr konterkariert wurde, steht auf einem anderen Blatt. Aber diese Defizite 463 So u. a. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, I, Stuttgart: Kohlhammer, 21967, 88. Zuvor schon hatte Johannes Weidemann, Neubau eines Staates. Staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchung des Königreichs Westphalen, Leipzig: Felix Meiner, 1936, 18, von dem „liberale[n] Mantel der Scheinverfassungsmäßigkeit“ gesprochen. Dagegen u. a. Hattenhauer, „Das Königreich Westphalen (1807 – 1813)“, 76 – 77. 464 Ham, „Die Constitution für das Königreich Westphalen von 1807“, 232. 465 Vgl. dazu unten Kap. VI. 8. 466 In der Sache eher als in der Wortwahl ähnlich Wegener, Die Relationen Napoléons I. zum Königreich Westfalen, 5. 467 Werner Frotscher, „Verfassungsdiskussion und Verfassungskonflikt. Zur Entwicklung freiheitlich-parlamentarischer Verfassungsstrukturen in Kurhessen (1813 – 1866)“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte, 107 (2002), 209; Lengemann, Parlamente in Hessen, 175, 178 u. ö.

6. Napoleonische Verfassungen gegen modernen Konstitutionalismus

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fanden ihre Entsprechung auch auf westphälischer Seite. Die westphälischen Deputierten waren nicht mit den eingangs zitierten portugiesischen Supplikanten vergleichbar. Zwar gab es auch in Deutschland Stimmen, die mahnten, jenseits von „Nationalvorurtheilen“, die Vorzüge der neuen Ordnung zu erkennen und zu nutzen, die in Westphalen durch „eine friedliche Revolution“ herbeigeführt worden seien.468 Gewiss seien hier verschiedene Territorien zu einem neuen Staat zusammengeformt worden, doch das sei auch in Frankreich geschehen, „aber alle verbindet [dort] die Constitution als Franzosen. Wie ganz anders verhält sich dieß mit den größeren Staaten, an deren Spitze deutsche Fürsten stehen!“469 Auch für andere hatte die westphälische Verfassung „unläugbare Vorzüge“.470 Friedrich Karl von Strombeck schrieb bekanntlich noch 1833, dass das Königreich Westphalen Joseph Jérôme Siméon eine Justizverfassung verdankte, „die noch jetzt als meisterhaft erscheinet“.471 Es sind Einzelstimmen, die das Potential der Verfassung erkannten und mit diesem Instrumentarium auf eine durchgreifende Modernisierung ähnlich den portugiesischen Bittstellern hofften. An Zahl standen sie diesen vermutlich kaum nach, aber sie waren zersplittert über ihre historischen Territorien, kannten sich kaum untereinander und waren in absoluten Zahlen viel zu schwach, um sich effektiv zu vernetzen und, ungeachtet der widrigen Umstände, gemeinsam als Repräsentanten einer politischen Bewegung hätten wirken zu können.472 Wenn die Geschichte anders 468 Vergleichende Schilderung der Organisation der französischen Staatsverwaltung in Beziehung auf das Königreich Westphalen und andere deutsche Staaten, Frankfurt und Leipzig 1808, 10, 55. Ähnlich dann auch Friedrich Murhard, vgl. Jörg Westerburg, „,…Geburt zu einem neuen Leben.’ Die Brüder Murhard und der Reformstaat Westfalen, in: Die Brüder Murhard. Leben für Menschenrechte und Bürgerfreiheit. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Kassel in Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek Kassel, Kassel: Kassel University Press, 2003, 79. 469 Vergleichende Schilderung der Organisation der französischen Staatsverwaltung, 59. 470 August Ernst Zinserling, Westphälische Denkwürdigkeiten, Berlin: Friedrich Metzger, 1814, 70, vgl. insges. 67 – 71. So auch Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, II, 11 – 12, der hinzufügte: „Dies sah auch ein grosser Teil der nunmehrigen westfälischen Unterthanen ein“. Ähnlich Meier, Französische Einflüsse, I, 232. 471 Friedrich Karl von Strombeck, Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit, 2 Tle., Braunschweig: Friedrich Vieweg, 1833, II, 50, vgl. auch ebd., 49. Zu Siméon, vgl. Jean Tulard, „Siméon et l’organisation du royaume de Westphalie (1807 – 1813)“, in: Francia, 1 (1973), 556 – 568. Vgl. auch Gerhard Deter, „Die Realisierung der Sozial- und Wirtschaftsordnung des ALR in Westfalen“, in: 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Wirkungsgeschichte und internationaler Kontext, hrg. v. Barbara Dölemeyer u. Heinz Mohnhaupt, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 1995, 300 – 303, der auf den Widerstand in Westfalen hinweist, als dort nach 1813 mit dem preußischen Recht die alten Standesunterschiede wieder eingeführt wurden. 472 Vgl. Helmut Berding, „Das Königreich Westphalen als napoleonischer Modellstaat (1807 – 1813)“, 11 – 12 (https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2 00603177735/1/ra0001_UB.pdf). Gerade für die Landbevölkerung in Hessen wird dagegen die Anhänglichkeit an den geflohenen Kurfürsten betont, vgl. Karl Lynker, Geschichte der Insurrectionen wider das westphälische Gouvernement. Beitrag zur Geschichte des deutschen

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VI. Deutschland

verlaufen wäre, hätte sich das ändern können – und dann wäre der Weg über die westphälische Verfassung zum modernen Konstitutionalismus in Deutschland möglicherweise ein anderer gewesen.

7. Der moderne Konstitutionalismus und die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland, 1814 – 1824473 Seit 1789 verkörperte Frankreich das Modell, Staat und Gesellschaft zu revolutionieren, um darauf das Ergebnis in einer Verfassung festzuschreiben.474 Als Abwehr dagegen hatte die britische Politik bereits in den 1790er Jahren das Konzept entwickelt, dass man, wo immer möglich, Verfassungen einführen müsse, um eine Revolution nach französischem Muster zu verhindern.475 Dass beiden Konzepten diametral unterschiedliche Sozial- und Herrschaftsvorstellungen zugrunde lagen, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. In den Staaten des Deutschen Bundes ebenso wie in einigen anderen Ländern setzte sich eine andere Auffassung in der nach-napoleonischen Ära durch. Gewiss sollten Verfassungen herrschaftsstabilisierend wirken. Darüber hinaus sollten sie dringend notwendige Reformen ermöglichen – insbesondere im Bereich der öffentlichen Finanzen und/oder zur Reorganisation der Verwaltung, wo erforderlich zur Integration jüngst erworbener Territorien – und damit, über die vormalige altständische Ordnung hinausgehend, soweit es geboten und möglich war, weitere Bevölkerungskreise einbinden. Gerade an diesem letzteren Punkt prallten ab 1814 die konträren Positionen zwischen den Verteidigern der überkommenen Ordnung und liberalen Kräften aufeinander, und die Ergebnisse dieses Konflikts spiegeln sich in den Verfassungen der folgenden Jahrzehnts wider. Keine Verfassung dieser zehn Jahre war das Ergebnis einer Revolution oder unerlässlich geworden, um dem monarchischen System eine etwa in Zweifel geFreiheitskrieges, Kassel: Oswald Bertram, 1857, 57. Über die mit der Rückkehr der alten Ordnung verbreiteten Illusionen, vgl. Heinz Heister, Insurrectionen zwischen Weser und Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806 – 1813), Berlin: Rütten & Loening, 1959, 296 – 299 u. ö. 473 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Eine ,auf Grundsätzen beruhende Verfassung des Staates’. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland, 1814 – 1824“, in: Der Staat, 59 (2020), 599 – 625. 474 Schon während der Revolution wurde wiederholt postuliert, dass die Revolution zur Konstitution führen müsse, die damit die Revolution beende, so etwa Pougeard Dulimberts eingängige Formel im August 1791: „[E]s ist Zeit, vom Zustand der Revolution in den Zustand der Verfassung überzugehen“ (Archives parlementaires, 1ère sér., XXIX, 724). Zum Hintergrund oben Kap. IV. 2. 475 Vgl. Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschlandund Italienpolitik 1815 – 1848, Göttingen – Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995; sowie oben Kap. II. 3.

7. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland 1814 – 1824

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zogene Legitimation zu verschaffen.476 Hingegen wirkten vielfach eine aufgeklärte Bürokratie, aber auch die Stände, wo sie noch bestanden, auf die Einführung einer Verfassung, um die anstehenden fiskalischen wie administrativen Probleme zu lösen und das Land zu modernisieren. Für das liberale Bürgertum waren moderne Verfassungen das Gebot der Stunde. Bereits in den 1790er Jahren hatten mehrere deutsche Autoren ihre Vorstellungen einer künftigen Verfassung Deutschlands publiziert.477 1815 verkündete der junge Friedrich Christoph Dahlmann, dass „alle diejenigen, welche überhaupt den Werth einer zweckmäßigen Gliederung des Staates anerkennen, darin einig [sind], daß in England die Grundlagen der Verfassung, zu welcher alle neu-europäischen Staaten streben, am reinsten ausgebildet und aufbewahrt sind“.478 Wenige Jahre später, 1819, erschien dann auch die erste deutsche Übersetzung von de Lolmes Constitution de l’Angleterre durch eben jenen Dahlmann, ohne dass sich dieser bewusst schien, wie sehr sich die britische Verfassungspraxis seit der Ausgabe letzter Hand von 1784 verändert hatte, zumal sich Dahlmann in seiner Vorrede auf die Lebensbeschreibung de Lolmes beschränkte.479 Nicht alle dürften Dahlmanns Auffassung geteilt haben, hatten doch die von Karl Heinrich Ludwig Pölitz gesammelten und ab 1817 auf Deutsch publizierten Verfassungen der europäischen Staaten seit 1789, einschließlich der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787, den Zugang zu anderen Modellen erheblich erleichtert.480 Es waren zugleich die Jahre des Wiener Kongresses von 1814/15 und seiner Folgen, allen voran die Deutsche Bundes-Acte vom 8. Juni 1815 mit ihrem ominösen Art. 13: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung Statt finden“.481 Mehr noch als die Syntax warf die Semantik Fragen auf, wobei Dieter Grimm inzwischen etwas Licht auf die Entstehung des Satzes geworfen hat.482 Doch was war mit einer „landständischen Verfassung“ tatsächlich gemeint? Waren es 476 Der in Baden anstehende Erbfall der Hochbergschen Nebenlinie kann hier unberücksichtigt bleiben, zumal es darüber zu keinen ernsthaften innen- wie außenpolitischen Verwicklungen kam. 477 Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, hrg. m. e. Einl. v. Horst Dippel, Frankfurt: Keip, 1991. Vgl. dazu oben Kap. VI. 2. 478 Friedrich Christoph Dahlmann, „Ein Wort über Verfassung“, in: Kieler Blätter, I (1815), 57. 479 Jean Louis de Lolme, Die Verfassung von England, dargestellt und mit der republicanischen Form und mit andern europäischen Monarchieen verglichen. Nach der Ausgabe letzter Hand zum ersten Mahle ins Deutsche übersetzt. Mit einer Vorrede begleitet von F. C. Dahlmann, Altona: Johann Friedrich Hammerich, 1819, iii – xvi. 480 Die Constitutionen der Europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, [hrg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz,] 4 Teile in 3 Bde., Leipzig und Altenburg: Brockhaus, 1817 – 1825. 481 Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, I, 31. 482 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, 68 – 71.

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VI. Deutschland

Verfassungen, basierend auf dem Prinzip der Repräsentation des Volkes mit einer gewählten Versammlung? Oder meinte „landständisch“ eher jene altständischen Körperschaften mit ihren privilegierten erblichen und ernannten Mitgliedern, die die Masse der Bevölkerung unberücksichtigt ließ? Sollten „landständische Verfassungen“ mithin entsprechend den Wünschen des liberalen Bürgertums auf die Zukunft gerichtet sein? Oder waren sie eher an der Vergangenheit orientiert und sollten den Versuch darstellen, mit dem Sieg über Napoleon das revolutionäre Gedankengut zu tilgen und die vorrevolutionäre Welt wieder aufleben zu lassen?483 Was immer gemeint war, was würde der Deutsche Bundestag tun, wenn diese Frage, wie 1816/17 geschehen, auf seine Tagesordnung kommen würde? Weitere Ereignisse prägten das Verfassungsleben dieser Jahre. Am 23. März 1819 war der Schriftsteller und russische Diplomat August von Kotzebue, der liberales Gedankengut ebenso wie das deutsche Einheitsstreben heftig kritisiert hatte, von dem radikalen Jenaer Burschenschafter Karl Ludwig Sand ermordet worden, für alle Konservativen und Rückwärtsgewandten ein willkommener Anlass, Universitäten und Burschenschaften als Brutstätten der Revolution zu brandmarken. Metternich lud darauf umgehend die Vertreter der deutschen Regierungen nach Karlsbad ein, wo sie im August 1819 die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse fassten, die in der Folge der Bundestag einmütig in vier Gesetze formte zur Unterdrückung der Pressefreiheit und der Universitäten. Burschenschaften und Turnvereine wurden verboten, liberale Professoren entlassen. In der offiziellen Lesart wurde Liberalismus zum Synonym für Umsturz und Anarchie. Konservative Autoren wie der Schweizer Carl Ludwig von Haller, dessen seit 1816 erscheinendes sechsbändiges Werke Die Restauration der Staatswissenschaften der Epoche ihren Namen gab, wurden zu Verkündern der neuen Heilslehre, und Friedrich von Gentz legte auf Anregung von Metternich die offiziöse Interpretation des Art. 13 vor als Ausdruck der altständischen Privilegienordnung.484 Den vorläufigen Schlusspunkt dieser Entwicklung setzte die Wiener Schlussakte vom 15. Mai 1820, durch die die Verfassung des Deutschen Bundes, so Huber, „ihre vollkommene Gestalt“ erhielt.485 Wie schon die Bundes-Acte war es ein von den deutschen Regierungen oktroyierter Verfassungsakt, bei dem man den Bundestag bewusst ausgeschlossen hatte, der lediglich im Nachhinein seine Zustimmung erklären durfte. Metternich war es gelungen, Bayern, Baden und Württemberg auf seine Seite zu ziehen, indem er ihnen in Art. 56 ihre Verfassungen garantierte: „Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen können nur auf 483 Vgl. dazu Wolfgang Mager, „Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15“, in: Historische Zeitschrift, 217 (1973), 296 – 346. 484 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München: Beck, 1988 – 2012, II, 145 – 146. Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1968, 51 – 58. 485 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7 Bde., Stuttgart usw.: Kohlhammer, 1960 – 1984, I (21975), 754.

7. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland 1814 – 1824

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verfassungsmäsigem Wege wieder abgeändert werden.“ Damit war der Weg für das Kernprinzip der Schlussakte, das monarchische Prinzip, in Art. 57 frei: „Da der deutsche Bund, mit Ausnahme der freien Städte, aus souverainen Fürsten besteht, so muß, dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben, und der Souverain kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden.“486

Für annähernd dreißig Jahre symbolisierte Art. 57, wie eng die Grenzen für liberale Reformen in Deutschland gesteckt waren.487 Dennoch kennt das Bild der Jahre um 1820 eine weitere Seite, die bislang wenig Beachtung gefunden hat. In den Jahren von 1814 bis 1836 erschienen in Deutschland insgesamt elf vollständige oder Teilübersetzungen der Verfassung von Cadiz von 1812, bis auf zwei alle in den Jahren von 1819 bis 1824. Die beiden einflussreichsten kamen 1819 auf den Markt.488 Diese Fülle von Übersetzungen und Beiträgen über die Verfassung von Cadiz von 1819 bis in die frühen 1820er Jahre unterstreicht das ungewöhnliche Interesse und die verbreitete Diskussion in Deutschland über diese Verfassung während dieser Jahre, in denen sie zugleich die europäische Politik beherrschte, zumal die beiden 1819 erschienene Bücher, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Verfassung als Vorbild für in Deutschland zu erstellende Verfassungen präsentierten.489 Wenig überraschend, dass Friedrich Murhard seinen ausführlichen Beitrag „Spanien’s Cortes im Jahr 1820“ mit den Worten einleitete: „Wir setzen die Verfassungsurkunde der Cortes als bekannt voraus.“490 Wir werden mithin zu prüfen haben, ob und bis zu welchem Grad sich diese Diskussion in den deutschen Verfassungen dieses Jahrzehnts niederschlug. Bevor wir in die Analyse dieser Verfassungen eintreten, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Ernst Rudolf Huber die heutige Forschungsrichtung nachhaltig geprägt hat, indem er diese Periode inhaltlich in zwei Kapitel fasste, das erste und bei weitem umfangreichere über die preußischen Reformen und das zweite, wesentlich

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Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, I, 46. Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, 646 – 656. 488 Vgl. Horst Dippel, „Can Constitutions be translated? The Case of the Cadiz Constitution in German“, in: Translations in Times of Disruption. An Interdisciplinary Study in Transnational Contexts, hrg. v. David Hook und Graciela Iglesias-Rogers, London: Palgrave Macmillan, 2017, 21 – 43. Vgl. dazu auch oben Kap. VI. 3. und VI. 4. 489 Spaniens Staats-Verfassung durch die Cortes, aus der Urschrift übertragen, übers. v. Friedrich von Grunenthal und Karl Gustav Dengel, Berlin: Ernst Heinrich Georg Christiani, 1819; Die spanische Constitution der Cortes und die provisorische Constitution der Vereinigten Provinzen von Südamerika; aus den Urkunden übersetzt mit historisch-statistischen Einleitungen, [übers. v. Karl Friedrich August Hartmann,] Leipzig: F. A. Brockhaus, 1820. Das Buch war tatsächlich bereits Ende 1819 erschienen. 490 Friedrich Murhard, „Spanien’s Cortes im Jahr 1820“, in: Allgemeine politische Annalen, I (1821), 35. Vgl. Dippel, „Can Constitutions be translated?“, 31. 487

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knappere, über den süddeutschen Konstitutionalismus.491 Es ist nicht der quantitative Aspekt, der an dieser Stelle Beachtung verdient, sondern der materielle Zugriff auf die Thematik. Hubers übergeordnetes Interesse, und damit steht er in einer langen Reihe von Autoren vor ihm und nach ihm,492 gilt nicht den Verfassungen, ihren zugrunde liegenden Ideen und Grundsätzen und wie sich diese über Deutschland verbreiteten. Im Kern seines Blickfeldes steht der Staat, und es ist diese etatistische Perspektive, die tief in der traditionellen deutschen Staatsrechtslehre verwurzelt ist und damit die Prämissen ihrer Verfassungsbetrachtungen bestimmt.493 Eng verknüpft mit diesem methodischen Zugriff ist bei Huber der Blick auf die Staaten, die interessieren – Preußen und die vier süddeutschen Staaten. Dadurch geraten die kleineren, „unbedeutenderen“ Staaten nicht nur in dieser Periode aus dem Blick. Das Gewicht, gegebenenfalls auch die Originalität einer Verfassung lässt sich jedoch nicht aus der Größe eines Staates deduzieren, und daher ist dieser dogmatische Zugriff für eine Verfassungsgeschichte im eigentlichen Sinne ungeeignet, hat er doch erheblich zur Verzerrung und Ideologisierung der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung beigetragen. Am Ende dieses Kapitels wird darauf noch einmal zurückzukommen sein. Mithin ist ein neuer Zugriff auf die Anfänge der deutschen Verfassungsentwicklung erforderlich, der nicht von den einzelnen Staaten ausgeht,494 sondern von ihren Verfassungen, ihrem Aufbau, ihrer Anordnung, ihrem Inhalt. Dieser Zugriff wird bemüht sein, die Entwicklung von Verfassungsideen und -prinzipien nachzuzeichnen – und auch ihre Rückschläge. Allein durch dieses Vorgehen erscheint es möglich, das in diesen Verfassungen Erreichte für die nach-napoleonische Dekade festzuhalten und dieses zugleich in den Kontext der europäischen Verfassungsentwicklung dieses Jahrzehnts einzuordnen. Indem dabei alle deutschen Verfassungen 491

Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, 95 – 313, 314 – 386. Vgl. Werner Frotscher und Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, München: Beck, 5 2005, bes. 131 – 142; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Studienbuch, München: Beck, 31997, bes. 219 – 221; Reinhold Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Beck, 1994, bes. 102 – 104; Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Eine Einführung in die Grundlagen, Heidelberg: C. F. Müller, 51986, bes. 122 – 124; Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt/ M.: Athenäum, 1970, bes. 327 – 342; Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Stuttgart: Kohlhammer, 21961, bes. 105 – 110. Eine bedeutende Ausnahme ist Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, sowie, in geringerem Maße und aus der Hand eines Politikwissenschaftlers, Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Struktur und ihr Wandel, 2 Bde., München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 21990, II, bes. 78 – 80. 493 Vgl. dazu die kritischen Reflexionen von Christoph Schönberger, Der „German Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, mit Beiträgen von Atsushi Takada und András Jakab, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015. 494 Als klassisches Einzelbeispiel der etatistischen Perspektive, ohne zur eigentlichen Verfassungsanalyse überhaupt vorzudringen, vgl. Karl Otmar von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714 – 1818, München: Beck, 1976, bes. 237 – 245. 492

7. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland 1814 – 1824

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dieser Epoche in den Blick genommen werden, wird zugleich jenseits des immer wieder angeführten Einflusses der Charte constitutionnelle von 1814495 nach weiteren außerdeutschen Verfassungen zu suchen sein, die als Ideengeber fungiert haben mochten, um damit die grenzüberschreitende Wanderung konstitutioneller Ideen und jenen Horizont aufzuzeigen, der das liberale Verfassungsdenken der Zeit prägte. Dieser Methoden- und Perspektivwechsel erlaubt zugleich, jenseits aller restaurativen politischen Bestrebungen darlegen zu können, bis zu welchem Grad es den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus496 in dieser Zeit gelang, in Deutschland Fuß zu fassen, um auf diese Weise der deutschen Verfassungsentwicklung ihren Platz innerhalb des größeren europäischen Rahmens zuzuweisen. Die Verfassung von Nassau vom 1./2. September 1814, die erste im nach-napoleonischen Deutschland, war eine oktroyierte Verfassung, die in diesem Punkt wie etwa die Hälfte der hier zu behandelnden Verfassung dem Beispiel der Charte constitutionnelle folgte. Ungeachtet des wesentlichen, wenn auch ambivalenten Einflusses des Reichsfreiherrn vom und zum Stein handelt es sich um eine liberale Verfassung. Im Gegensatz zur Charte constitutionnelle beschränkte sie sich auf zwei Bereiche: eine vergleichsweise umfangreiche Aufführung von Grundrechten, die mehrheitlich seit 1806 eingeführt worden waren und nunmehr konstitutionalisiert wurden, und die Einrichtung der Landstände. Sie wurden nicht als „Repräsentation des Volkes“ bezeichnet, obgleich die zweite Kammer indirekt vom Volk gewählt wurde, womit jedoch, wie weithin üblich, lediglich der überschaubare Kreis der bedeutenderen männlichen Steuerzahler gemeint war. Die Landstände besaßen die verbreiteten liberalen Rechte der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und dem Haushalt und konnten Vorschläge und Beschwerden vorbringen. Zusätzlich und recht ungewöhnlich stellte die Verfassung „die Sicherheit des Eigenthums und der persönlichen Freiheit unter die mitwirkende Gewährleistung unserer Landstände“. Diese wurden auf sieben Jahre gewählt und sollten jährlich tagen, wobei der Landesherr das Recht der Einberufung, Schließung und Auflösung besaß.497 495 Als jüngeres Beispiel, vgl. Markus J. Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism in Post-Napoleonic France and Germany, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2013. 496 Vgl. dazu oben Kap. I. 1. 497 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, V, 7 – 14. Vgl. Winfried Schüler, Das Herzogtum Nassau 1806 – 1866. Deutsche Geschichte im Kleinformat, Wiesbaden: Historische Kommission für Nassau, 2006, 54 – 57; Winfried Schüler, „Die nassauische Verfassung vom 1./ 2. September 1814. Schrittmacher der konstitutionellen Bewegung in Deutschland“, in: Hessen: Verfassung und Politik, hrg. v. Bernd Heidenreich und Klaus Böhme, Stuttgart – Berlin – Köln: Kohlhammer, 1997, 59 – 85; Winfried Schüler, „Die Nassauische Verfassung vom 1./ 2. September 1814: Entstehung, leitende Ideen, historische Bedeutung“, in: 175 Jahre Nassauische Verfassung. Eine Ausstellung des Hessischen Landtags und des Hessischen Hauptstaatsarchivs zur Erinnerung an den Erlaß der Nassauischen Landständischen Verfassung am 1./2. September 1814. Hessischer Landtag, Wiesbaden, 19. September bis 13. Oktober 1989 [Ausstellungskatalog], hrg. v. Hessischer Landtag, Wiesbaden: Hessischer Landtag, 1989, 9 – 26; Helmut Berding, „Die Verfassung des Herzogtums Nassau vom 1./2. September 1814“, in: 175 Jahre Nassauische Verfassung. Eine Ausstellung des Hessischen Landtags und des Hessischen Hauptstaatsarchivs zur Erinnerung an den Erlaß der Nassauischen Landständischen

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VI. Deutschland

Die Verfassung von Waldeck vom 30. April 1816, chronologisch gesehen die vierte Verfassung nach der nassauischen und zwei weiteren, noch zu behandelnden Verfassungen vom Januar 1816, verdient Beachtung, weil es sich bei ihr um die erste deutsche paktierte Verfassung handelt, ein Rang, den die Historiographie im allgemeinen erst der Verfassung von Württemberg von 1819 zubilligt.498 Nach massiven Protesten gegen die Verordnung von 1814, dank der das Fürstentum zum Absolutismus zurückkehren sollte,499 berief der Fürst eine Versammlung von Adeligen und Bürgern, um die Verfassung von 1816 „in Einverständniß“ mit ihnen aufzusetzen.500 Einhergehend mit einer Verwaltungsreform wurden neue Landstände errichtet, ergänzt um indirekt auf Lebenszeit gewählte „Repräsentanten des Bauernstandes“, wodurch die traditionellen privilegierten Stände eine begrenzte Anpassung an den modernen Gedanken der Volksrepräsentation erhalten sollten. Doch für den tatsächlichen liberalen Aufbruch in die Moderne mussten die Waldecker noch bis 1848 warten. Am Beginn der Ära der deutschen Verfassungsentwicklung verkörperten Nassau und Waldeck die beiden gegensätzlichen Modelle der oktroyierten und der paktierten Verfassung. Dabei wird hier der Begriff der paktierten oder vereinbarten Verfassung nicht, wie mitunter der Fall, auf jene Verfassungen, wie etwa die Badens, angewandt, die, obgleich einseitig vom Monarchen oktroyiert, im Nachhinein durch Wahlen „anerkannt“ wurden. Wohl aber gilt eine Verfassung auch dann als vereinbart, wenn sie das Ergebnis von Beratungen zwischen Monarch und Ständen war, daraufhin aber einseitig vom Monarchen verkündet wurde.501

Verfassung am 1./2. September 1814. Hessischer Landtag, Wiesbaden, 19. September 1989, hrg. v. Hessischer Landtag, Wiesbaden: Hessischer Landtag, 1991, 15 – 48; Verfassungen in Hessen 1807 – 1946. Verfassungstexte der Staaten des 19. Jahrhunderts, des Volksstaats und des heutigen Bundeslandes Hessen, hrg. v. Eckhart G. Franz und Karl Murk, Darmstadt: Hessische Historische Kommission, 1998, 44 – 46. 498 So etwa Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, 334; Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, 74; Carola Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, Baden-Baden: Nomos, 2002, 78; Frotscher und Pieroth, Verfassungsgeschichte, 134. 499 Vgl. Verfassungen in Hessen 1807 – 1946, hrg. v. Franz und Murk, 84 – 86. 500 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 207. Vgl. Thomas Seibel, Die Waldeckischen Landstände im Vormärz, Frankfurt: Peter Lang, 1997, 38 – 53; Gerhard Menk, „Staat und Stände in Waldeck“, in: Hessen: Verfassung und Politik, hrg. v. Heidenreich und Böhme, bes. 126 – 142; Eckhart Werner Budach, Das Fürstentum Waldeck in der Zeit des Deutschen Bundes. Studien zur Verfassungsgeschichte der Kleinstaaten 1815 bis 1866. Die Beziehungen des Fürstentums Waldeck zum Deutschen Bund und seinen einzelnen Mitgliedern, insbesondere Preußen, sowie die innere Verfassungsgeschichte des Staates, Diss. iur. Universität Kiel 1973, bes. 9 – 15; Dieter Weigel, Fürst, Stände und Verfassung im frühen 19. Jahrhundert. Studien zur Entstehung der Verfassungsurkunden von 1814 und 1816 des Fürstentums Waldeck, Korbach: o. N., 1964. 501 Vgl. dazu auch Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, I, 318 – 319.

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Die Verfassung von Schwarzburg-Rudolstadt vom 8. Januar 1816,502 im Grunde eine Verordnung zur Errichtung der Landstände, begründete eine „Repräsentation des Volks“ (Art. 1) „durch freie Wahl“. Zu ihr gehörten „6 Ritterguts-Besitzer; 6 Einwohner von Städten; 6 mit Land-Eigenthum angesessene Unterthanen“, die nicht den zuvor genannten Kurien angehörten (Art. 2). Während die beiden ersteren direkt gewählt werden sollten (Art. 3 und 4), galt für die „Landeigenthums-Besitzer“ eine indirekte Wahl (Art. 5). Damit sollte eine Vertretung gebildet werden, „deren Wirksamkeit sich auf die Berathung über alle Gegenstände der Gesetzgebung, welche die persönliche und Eigenthums-Rechte der Staatsbürger mit Einschluß der Besteuerung betreffen, erstrecket“ (Art. 1).503 Es war ein bemerkenswerter erster Schritt zu einer Verfassungsordnung, selbst wenn die Landstände erstmals im April 1821 einberufen wurden.504 Die eine Woche später verkündete Verfassung von Schaumburg-Lippe begnügte sich mit einer deutlich traditionsgebundeneren Ordnung. Die Landstände sollten die „wirklichen Besitzer adelicher Güter“, „Deputirte der Städte und Flecken“ und „Deputirte der Amts-Unterthanen“ umfassen. Während jeder adelige Rittergutsbesitzer Sitz- und Stimmrecht im Landtag hatte (Art. 5), wählten die Magistrate der vier Städte und Flecken jeweils nur einen Vertreter „aus ihrer Mitte oder aus der Bürgerschaft“ (Art. 6), während die sechs Vertreter der Ämter „aus den wirklichen Besitzern von Bauerngütern“ indirekt gewählt werden sollten (Art. 7 und 9). Allein für letztere galt, dass der zu Wählende mindestens 30 Jahre alt war, seiner „Militairpflicht Genüge gethan“ und „allezeit einen unbescholtenen Lebenswandel geführt“ habe (Art. 8). Statt einer Volksrepräsentation war somit die fortdauernde Vorherrschaft des Adels gesichert. Ähnlich konservativ waren die Kompetenzen der Landstände. Sie durften „prüfen“, den Haushalt und gemeinsam mit dem Fürsten zusätzliche Steuern „verwilligen“. Sie hatten das Recht „Gutachten zu geben“ und durften bei Gesetzen mit einem „wesentlichen Einfluß“ auf die Verfassung ihre „Einwilligung […] ertheilen“. Schließlich durften sie noch „Vorschläge“ und „Beschwerden“ vorbringen (Art. 2).505 Die Macht des seit 1807 regierenden Fürsten war ungebrochen, zumal dieser stets um das Wohlwollen Metternichs bemüht war, um die Mediatisierung seines kleinen Fürstentums zu verhindern. 502 Zu den Verfassungen der kleineren Staaten, vgl. generell Günther Engelbert, „Der Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten“, in: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, hrg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Berlin: Duncker & Humblot, 1975, bes. 103 – 115. 503 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 139. 504 Reinhard Jonscher, „Thüringische Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert – Ein Abriß“, in: Thüringische Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrg. v. Thüringer Landtag Erfurt (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 3), Jena: Wartburg Verlag, 1993, 7. 505 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 113. Vgl. Stefan Meyer, GeorgWilhelm Fürst zu Schaumburg-Lippe (1784 – 1860). Absolutistischer Monarch und Großunternehmer an der Schwelle zum Industriezeitalter, Diss. phil. Universität Hannover 2005, 112 – 113.

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Damit stehen die beiden Verfassungen vom 8. und 15. Januar 1816 für zwei konträre Interpretationen des Art. 13 der Deutschen Bundes-Acte. Beide symbolisieren daher die in den nachfolgenden Jahren breite Palette der Ausgestaltung der Landstände und der ihnen zugebilligten bzw. der von ihnen in den Vereinbarungen erkämpften Rechte. Bevor diese Fragen an Hand der Verfassungen aus den Jahren des Höhepunkts der frühen deutschen Verfassungsentwicklung von der Verfassung Bayerns vom 26. Mai 1818 bis zum Ende des Jahres 1821 im Detail untersucht werden, muss hier zumindest auf jene drei weiteren Verfassungen verwiesen werden, die ihnen chronologisch vorausgehen. Es sind dies die Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach vom 5. Mai 1816, für deren Erarbeitung der Großherzog Anfang des Jahres Deputierte und Abgeordnete aus allen Landesteilen berief. „Durch diese angeordnete Berathungs-Versammlung ist mit Thätigkeit und einmüthigem Vaterlandssinn ein, Unsern wohlgemeinten Absichten angemessener, Entwurf einer Landständischen Verfassungsurkunde ausgearbeitet, und zu Unserer Landesfürstlichen Bestätigung eingesendet worden, und Wir nehmen keinen Anstand, solchen nur mit wenigen – keine wesentliche Bestimmungen abändernden – Modifikationen zu bestätigen“ (Präambel).506 Entsprechend diesem vereinbarten Charakter hatte die Verfassung einen liberalen Zuschnitt, der dazu führte, dass sie von allen bislang behandelten Verfassungen deutschlandweit die meiste Aufmerksamkeit erregte und daher auch zu einem großen Teil als Vorbild für die Verfassung von Sachsen-Hildburghausen vom 19. März 1818 diente.507 Auch hier handelt es sich um eine paktierte Verfassung, hervorgegangen aus einem Diskussionsprozess zwischen Landständen und Regierung, der von dem Fürsten „in nur wenigen Punkten“ modifiziert wurde. Nachdem die Landstände diese Version „acceptirt“ hatten, erhielt die Verfassung ihre endgültige fürstliche Bestätigung.508 Damit war auch hier ein liberaler Grundton erreicht, so dass wir uns darauf beschränken können, auf besonders markante Bestimmungen beider Verfassungen zumal im Zusammenhang mit der Behandlung der Verfassung von Coburg-Saalfeld näher einzugehen. Chronologisch zwischen den Verfassungen der beiden ernestinischen Staaten liegt die Verfassung von Frankfurt, die am 19. Juli 1816 verkündet wurde. Ihr an die 506 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 93. Vgl. Hans Blesken, „Der Landtag im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach vom Erlaß des Grundgesetzes (1816) bis zum Vorabend der Revolution von 1848“, in: Konstitutioneller Parlamentarismus in SachsenWeimar-Eisenach (1. Hälfte des 19. Jahrhunderts), hrg. v. Thüringer Landtag Erfurt (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 2), Jena: Wartburg Verlag, 1992, bes. 9 – 11. 507 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, V, 359 – 373. Vgl. auch Reiner Groß, „Verfassungen deutscher Territorialstaaten zwischen 1816 und 1831: Ernestinische Staaten und Königreich Sachsen im Vergleich“, und Gerhard Müller, „Ernst August Freiherr von Gersdorff und der frühe Konstitutionalismus im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach“, beide in: Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, hrg. v. Jürgen John, Weimar – Köln – Wien: Böhlau, 1994, 395 – 406. 407 – 424. 508 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, V, 359 – 360 (Präambel).

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napoleonische Ergänzungsakte (Acte additionnel aux Constitutions de l’Empire) von 1815 erinnernder Titel lautete Constitutions-Ergänzungs-Acte zu der alten StadtVerfassung der freien Stadt Frankfurt, die schließlich am 18. Oktober 1816 von Senat und Bürgerschaft beschworen wurde. Indem diese Ergänzungs-Acte, nachdem Verfassungsversuche 1814 gescheitert waren, an die alte Frankfurt Stadtverfassung anknüpfen und sie aktualisieren sollte, begnügte sie sich weitgehend mit der Sicherung der Macht der alten Eliten und erlaubte nur wenige liberale Einsprengsel.509 Während die bislang behandelten Verfassungen, mit der Ausnahme von Frankfurt, sich im Wesentlichen darauf beschränkten, Landstände in ihren Staaten einzurichten und die übrigen Bereiche der Staatsgewalt, aber auch die Rechte der Bürger, mit der Ausnahme von Nassau, weitgehend unbeachtet ließen, handelt es sich bei den vier süddeutschen Verfassungen durchweg um deutlich umfassendere Dokumente. Schon bei den beiden in der Chronologie nun anstehenden Verfassungen von 1818 von Bayern und Baden ergab sich diese Notwendigkeit einerseits aus der komplexen Begründungslage für beide Verfassungen – auch wenn diese in Bayern deutlich anders ausfiel als in Baden –, andererseits aber auch aus dem hier erstmals greifbaren Einfluss der Charte constitutionnelle. Ob nun vermittelt über diese fanden darüber hinaus Aspekte der britischen Verfassung Interesse, während Karl Friedrich Nebenius, der „Vater“ der badischen Verfassung zusätzlich auf die polnische Verfassung von 1815 verwies.510 Dennoch hieße es, über das Ziel hinausschießen, würde man weitreichende Übernahmen oder Parallelen zwischen der Charte und der bayerischen oder badischen Verfassung erwarten wollen. Der Aufbau der bayerischen Verfassung legt in einigen Fällen eine Inspiration durch die Anordnung der Charte nahe,511 während die badische Verfassung mitunter eine größere inhaltliche Nähe erkennen lässt. Zugleich ist sie jedoch weniger umfassend als die beiden anderen Verfassungen. Der bayerische Verfassungstitel VIII „Von der Rechtspflege“ verweist auf den Titel De l’Ordre Judiciaire der Charte, und seine Bestimmung über die Unabhängigkeit der Gerichte (§ 3) mag durch den Art. 58 der Charte beeinflusst sein, wohingegen § 14 der badischen Verfassung über die Unabhängigkeit der Gerichte die Stellung der Richter nicht eigens erwähnt.512 Der gesamte Titel war aber 509

Ebd., III, 49 – 75. Vgl. Barbara Dölemeyer, „Die Verfassung der Freien Stadt Frankfurt am Main 1816 – 1866“, in: Hessen: Verfassung und Politik, hrg. v. Heidenreich und Böhme, bes. 151 – 159; Verfassungen in Hessen 1807 – 1946, hrg. v. Franz und Murk, 334 – 338. 510 Vgl, dazu Constitution du Royaume de Pologne von 1815: Polska dokumenty konstytucyjne/Polish Constitutional documents, 1790 – 1848, hrg. v. Anna Tarnowska, München: Saur, 2008, 71 – 96. 511 Vgl. Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism, 103 – 107; Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1800 – 1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einleitungen, 4 Bde. (bislang), Berlin und Heidelberg: Springer, 2006, II, 138 – 238; Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche (Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern, hrg. v. Karl Bosl, III/1), München: Beck, 1979, 238 – 281. 512 Die Texte der badischen Verfassung von 1818 und der bayerischen Verfassungen von 1808 und 1818 finden sich in Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, I, 193 – 202, II, 7 –

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auch bereits Teil der bayerischen Verfassung von 1808, allerdings ohne die Bestimmung über die Unabhängigkeit der Gerichte, und als Titel XI der Westphälischen Verfassung von 1807 mit ihrem vagen Art. 49: „Der gerichtliche Stand ist unabhängig.“513 Dass Gerichtsverfahren öffentlich sein sollten, wie es die Westphälische Verfassung (Art. 46) und die Charte (Art. 64) vorsahen, fand allerdings weder in die bayerische noch die badische Verfassung Eingang. Hingegen wird man allgemein feststellen können, dass die sieben Artikel über die Rechtspflege der bayerischen Verfassung von 1818, mit Ausnahme der Bestimmung über die Unabhängigkeit der Gerichte, sich eng an die entsprechenden sieben Artikel der Verfassung von 1808 anlehnen. Auf den ersten Blick mag der Titel IX der bayerischen Verfassung von 1818 als Adaption des Artikels VI der Verfassung von 1808 erscheinen. Doch lauteten bereits die Überschriften bewusst unterschiedlich. Was 1808 „Von dem Militär-Stande“ hieß, wurde 1818 „Von der Militaire-Verfassung“. Der Inhalt war daher auch ein völlig anderer. Die Charte enthielt keine entsprechenden Bestimmungen. Unter den französischen Verfassungen bietet sich als mögliches Vorbild lediglich die Verfassung von 1791 an mit ihrem Titel De la force publique und deren Gliederung in Landund Seestreitkräfte, Spezialtruppen für den Inlandsdienst und Nationalgarde (armée de terre et de mer, troupe spécialement destinée au service intérieure, und gardes nationales).514 Jedoch ließen sich diese drei Klassen nicht einfach mit den drei bayerischen gleichsetzen: „stehende Armee“, „Reserve-Bataillons“ und „Landwehr“, die das Ergebnis der 1809 nach französischem Vorbild errichteten Nationalgarde war. 1818 begann der Titel mit der Bestimmung „Jeder Baier ist verpflichtet, zur Vertheidigung seines Vaterlandes, nach den hierüber bestehenden Gesetzen mitzuwirken.“515 Es mag überraschen, doch diese Bestimmung, für die es weder in deutschen noch in französischen Verfassungen ein Vorbild gab, liest sich wie eine Übersetzung von Art. 9 der Verfassung von Cadiz: „Ebenso ist jeder Spanier verpflichtet, das Vaterland mit Waffen zu verteidigen, wenn er durch das Gesetz aufgerufen wird (Está asimismo obligado todo Español á defender la patria con las armas quando sea llamado par la ley). “516

13, 15 – 29. Der Text der Charte constitutionnelle in Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther, und Olivier Vernier, Berlin und New York: De Gruyter, 2010, 177 – 182. 513 Der Text der Westphälischen Verfassung (französisch und deutsch) findet sich in Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 239 – 251, hier 248. Vgl. auch speziell hierzu, das voraufgehende Kap. VI. 6. 514 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Caporal, Luther, und Vernier, 55. 515 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 27. 516 Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, 1808 – 1845, hrg. v. António Pedro Barbas Homem, Jorge Silva Santos und Clara Álvarez Alonso, Berlin und New York: De Gruyter, 2010, 345.

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Weniger eine Übernahme von anderen Verfassungen war Titel III „Von dem Staatsgute“ mit seiner rigiden Bestimmung „Sämmtliche Bestandtheile des Staatsguts sind […] auf ewig unveräußerlich“ (§ 3) vielmehr die Konstitutionalisierung der bayerischen Domanial-Fideikomißpragmatik von 1804.517 Darüber hinaus war er Ausdruck der in diesen Jahren in Deutschland weit verbreiteten Diskussion über die horrenden Staatsschulden, unter denen viele Staaten aufgrund der vorausgegangenen Kriege und jahrelangen Misswirtschaft litten, die immer wieder die Frage aufwarfen, wie weit zum Abbau der Schulden auf die Staatsdomänen zurückgegriffen werden konnte. Im Gegensatz zu Bayern sah die Verfassung von Württemberg von 1819 in ihren Paragraphen 102 – 109 in dem Kapitel „Von dem Finanzwesen“ diese Lösung vor.518 Die Verfassung von Hessen-Darmstadt von 1820, die ebenfalls einen Titel „Von den Domänen“ (Titel II) kannte, verfügte rundheraus, dass der Großherzog ein Drittel seiner Domänen dem Staat zu übertragen habe, „um, mittels allmäligen Verkaufs, zur Schuldentilgung verwendet zu werden“ (Art. 6).519 Die badische Verfassung war weniger rigide, verfügte jedoch, dass der „Ertrag“ aus dem „Patrimonial-Eigenthum des Regenten und seiner Familie“ zur „Herstellung der Finanzen“ des Staates herangezogen werden sollten (§ 59).520 Gerade diese außerordentliche Schuldenlast und die daraus folgende Notwendigkeit, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, sind ein wesentlicher Grund, warum, zumal in den süddeutschen Staaten, die aufgeklärte, liberale Bürokratie eine treibende Kraft für die Einführung liberaler Verfassungen war. Den nachfolgenden bayerischen Titel IV mag man als Äquivalent des Titels „Öffentliche Rechte der Franzosen“ (Droits publics des Français) der Charte verstehen, obgleich die Überschrift „Von allgemeinen Rechten und Pflichten“ auf die französische Verfassung des Jahres III (1795) verweist, in der erstmals von „Rechten und Pflichten“ (des droits et des devoirs) die Rede war.521 Obgleich die 19 Artikel des prominenter platzierten Titels II der badischen Verfassung mit der Überschrift „Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener, und besondere Zusicherungen“ einen liberaleren Geist als die 14 Artikel der bayerischen Verfassung verspüren lassen, fallen beide hinter die Bestimmungen der Charte zurück. Deren Bestimmung „Die Franzosen sind vor dem Gesetz gleich (Les Français sont égaux devant la loi)“ (Art. 1) wurde in der badischen Verfassung zu „Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht“ (§ 7), während das Gleichheitsprinzip in der bayerischen Verfassung lediglich in Verbindung mit Pflichten auftauchte: „Alle Baiern haben gleiche Pflichtigkeit zu dem Kriegsdienste und zur Landwehr nach den dießfalls bestehenden Gesetzen“ (§ 12), eine andere Version des bereits bekannten 517

Die Verordnung findet sich in Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1800 – 1918, II, 417 – 426, vgl. auch ebd., 146 – 147. 518 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 287 – 288. 519 Ebd., III, 224. 520 Ebd., I, 198. 521 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Caporal, Luther, und Vernier, 105 – 106.

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Paragraphen 1, Titel IX. Die Charte garantierte die Pressefreiheit gemäß den bestehenden Gesetzen (Art. 8), während Baden, und im Prinzip ähnlich auch Württemberg und Hessen-Darmstadt,522 verfügten, dass die Pressefreiheit gemäß den zukünftigen Bestimmungen des Bundestags gehandhabt werden solle (§ 17). Die bayerische Verfassung verwies zur „Freyheit der Presse“ in § 11, Titel IV, auf ein ihr zugehöriges Edikt, in dem es hieß: „Ausgenommen von dieser Freyheit sind alle politischen Zeitungen und periodischen Schriften politischen oder statistischen Inhalts. Dieselben unterliegen der dafür angeordneten Censur.“523 Die Unterschiede zwischen der bayerischen und der badischen Verfassung erstreckten sich ebenso auf andere Bereiche und bestärken den allgemeinen Eindruck, die bayerische Verfassung sei „nicht mehr als das Ergebnis eines Vermittlungsversuchs zwischen der Sicherung des Status quo und den für unvermeidbar gehaltenen Modernisierungen“ gewesen.524 Die bayerischen und badischen Landstände bestanden jeweils aus zwei Kammern. Die bayerische Zweite Kammer hatte einen deutlich konservativen Zuschnitt, der die traditionellen sozialen Klassen widerspiegelte: die Klasse der adeligen Grundbesitzer verfügte über ein Achtel der Sitze, wie ebenso die der katholischen und protestantischen Geistlichen, während die Vertreter der Städte und Märkte das zweite Viertel einnahmen. Die Hälfte der Sitze ging an die Landeigentümer, die keiner der zuvor angeführten Klassen angehörten. Hinzu kam je einen Sitz für die drei Landesuniversitäten.525 Die Zusammensetzung der badischen Zweiten Kammer war dagegen ungleich moderner: Sie bestand aus 63 Abgeordneten der Städte und Ämter, während Adel, Geistlichkeit und die beiden Vertreter der Universitäten in der Ersten Kammer saßen.526 Wurden die bayerischen Abgeordneten auf sechs Jahre gewählt, waren es in Baden acht Jahre mit einer Teilerneuerung in jedem zweiten Jahr. Wahlen fanden mithin in Baden deutlich öfter statt und wurden zu einem regulären Teil des politischen Lebens, wobei rund 17 % der Bevölkerung über das Wahlrecht verfügten,527 mehr als in jedem anderen deutschen Staat der Zeit.528 Kein Wunder, dass Carl von Rotteck die Verfassung und

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Vgl. Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 280 (Art. 28), III, 226 (Art. 35). Edict über die Freyheit der Presse und des Buchhandels (1818), § 2 (Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 46). 524 Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1800 – 1918, II, 206 – 216, 228 – 230, hier 230. 525 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 23, vgl. ebd., 100 – 116 (Edict über die Stände-Versammlung). Bezüglich der Diskussion innerhalb der bayerischen Regierung über den Art. 13 der Bundes-Acte und die außenpolitischen Rückwirkungen Anfang 1818, vgl. von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat, bes. 254 – 259. 526 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, I, 195 – 197. 527 Manfred Hörner, Die Wahlen zur badischen zweiten Kammer im Vormärz (1819 – 1847), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, 131. 528 Vgl. dazu Mijndert Bertram, Staatseinheit und Landesvertretung – Die erste oder provisorische Allgemeine Ständeversammlung des Königreiches Hannover und ihre definitive Organisation (1814 – 1819), Diss. phil. Universität Hannover 1986, 359. 523

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ihre Landstände enthusiastisch feierte.529 Dieser liberale Grundcharakter wurde unterstrichen durch die Bestimmung, dass im Fall der Uneinigkeit beider Kammern ihre Stimmen zusammengezählt und nach der sich daraus ergebenden Mehrheit entschieden wurden (§ 61), was die zahlenmäßig größere Zweite Kammer bevorzugte. In Bayern blieb hingegen bei Uneinigkeit der Kammern der Fall unentschieden (Titel VII, § 28), so dass die Erste Kammer nicht überstimmt werden konnte. Während in Bayern die Beschlussfähigkeit der Zweiten Kammer die Anwesenheit von wenigstens zwei Drittel der gewählten Abgeordneten erforderte (Titel VI, § 15), reichten in Baden 35 der 63 Abgeordneten (§ 74). Schließlich hieß es in § 78 der badischen Verfassung: „Die Sitzungen beider Kammern sind öffentlich“, was wiederum die Charte lediglich für die Chambre des Députés vorgesehen hatte (Art. 44, vgl. Art. 32). Die bayerische Verfassung kannte keine entsprechende allgemeine Bestimmung.530 Die Verfassungen von Württemberg vom 25. September 1819 und von HessenDarmstadt vom 17. Dezember 1820 wiesen neben zahlreichen Analogien auch beachtenswerte Abweichungen gegenüber den Verfassungen von Bayern und Baden auf. Die württembergische Verfassung war, wie hinreichend bekannt, das Ergebnis von sich seit 1815 hinziehenden Auseinandersetzungen zwischen König und Ständen, die schließlich mit dieser vereinbarten Verfassung ihr Ende fanden. Die hessendarmstädtische Verfassung ersetzte die am 18. März 1820 durch den Großherzog oktroyierte Verfassung, nachdem sich Großherzog und Stände auf den neuen Text geeinigt hatten. Während letztere vergleichsweise kurz war – wenn auch mit 110 Artikeln etwas umfangreicher als die badische Verfassung mit ihren 83 Artikeln –, war die württembergische Verfassung nahezu doppelt so lang (205 Artikel). Jedoch schien sich die hessen-darmstädtische Verfassung mit der Anordnung ihrer ersten vier Titel eher an der bayerischen Verfassung zu orientieren, während inhaltlich eine größere Nähe zu Württemberg vorliegt, insbesondere im Fall der Bürgerrechte. In Analogie zu Baden lautete § 21 der württembergischen Verfassung „Alle Würt-

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Karl von Rotteck, „Ein Wort über Landstände“ [1818], in: ders., Über Landstände und Volksvertretungen. Texte zur Verfassungsdiskussion im Vormärz, hrg. v. Rainer Schöttle, Freiburg, Berlin und München: Haufe, 1997, 6 – 14. Vgl. auch Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism, 108 – 112; Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1800 – 1918, I, 393 – 407; Elisabeth Fehrenbach, „Bürokratische Reform und gesellschaftlicher Wandel. Die badische Verfassung von 1818“, in: Die Badische Verfassung von 1818. Südwestdeutschland auf dem Weg zur Demokratie, hrg. v. d. Haus der Geschichte Baden-Württemberg und Stadtarchiv Karlsruhe durch Ernst Otto Bräunche und Thomas Schnabel, Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur, 1996, 13 – 24; Hans Fenske, 175 Jahre badische Verfassung, hrg. v. d. Stadt Karlsruhe – Stadtarchiv, Karlsruhe: Badenia Verlag, 1993,10 – 28; Hörner, Die Wahlen zur badischen zweiten Kammer im Vormärz, 35 – 45. 530 Vgl. das Edict über die Stände-Versammlung von 1818, in dessen zweitem Teil es in Kap. 1, § 7 hieß: „Keinem Fremden ist erlaubt, während der Sitzung in den Sitzungs-Saal einzutreten, sondern nur bey den öffentlichen Sitzungen der zweyten Kammer wird einer angemessenen Zahl von Zuhörern der Zutritt zu den Gallerien gestattet“ (Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 110).

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temberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte“.531 Hessen-Darmstadt ging einen entscheidenden Schritt weiter und verkündete damit erstmals in Deutschland die Gleichheit vor dem Gesetz: „Alle Hessen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 18),532 eine Bestimmung, die sich die Verfassung von Coburg-Saalfeld (§ 10) zu eigen machte und die wörtlich von der Eingangsklausel der Charte übernommen worden war. Einzigartig war die württembergische Verfassung hingegen insofern, als sie erstmals in Deutschland das Staatsbürgerrecht auch den unehelich Geborenen übertrug: „Das Staatsbürgerrecht wird theils durch Geburt, wenn bei ehelich Geborenen der Vater, oder bei Unehelichen die Mutter das Staatsbürgerrecht hat, […] erworben“ (§ 19). Doch während Württemberg vor der Einführung der völligen Gewerbefreiheit zurückschreckte (§ 31), verkündete die hessen-darmstädtische Verfassung: „Jedem steht die Wahl seines Berufes und Gewerbs, nach eigener Neigung, frey“ Art. 36). Auch diese Bestimmung sollte sich wörtlich in der Verfassung von Coburg-Saalfeld (§ 24) wiederfinden. Was den weiteren Aufbau der Verfassung Hessen-Darmstadts mit ihren Titeln V – VIII angeht, so scheint dieser stärker von der Verfassung Württembergs und ihren Kapiteln IV – XI angeregt zu sein, wenn auch mit der einen oder anderen Neuanordnung und Auslassung. Das singuläre württembergische Kapitel IV mit seinen Bestimmungen über die richterliche Unabhängigkeit (§ 46) und der Verantwortung von Ministern und Staatsdienern (§§ 52, 53) im allgemeinen Teil und dem Geheimen Rat im zweiten Teil mit den fünf klassischen Ministerien (Justiz, Auswärtiges, Inneres, Krieg und Finanzen), das hier zum ersten Mal seit 1814 in einer deutschen Verfassung erschien (§ 56), fand keine Entsprechung im hessen-darmstädtischen Titel VII „Von dem Staats-Dienste“, selbst wenn Art. 50 vage an die württembergischen §§ 52 und 53 erinnern mochte. Mit § 91 betrat die württembergische Verfassung erneut Neuland in Deutschland, fehlte doch nicht wenig, dass sie die Suprematie der Verfassung verkündete: „Alle Gesetze und Verordnungen, welche mit einer ausdrücklichen Bestimmung der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde im Widerspruche stehen, sind hierdurch aufgehoben.“ Ganz offensichtlich wurde die Verfassung als höherrangiges Gesetz angesehen, der einfache Gesetze und Verordnungen zu entsprechen hatten, ganz wie es

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Ebd., VI, 277 – 301, hier 280. Vgl. Georg Eckert, Zeitgeist auf Ordnungssuche. Die Begründung des Königreichs Württemberg 1797 – 1819, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, 356 – 421; Joachim Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen (1815 – 1819), Stuttgart: Kohlhammer, 1989, bes. 494 – 500; Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819 – 1870. Anatomie eines deutschen Landtags, Düsseldorf: Droste, 1987, 24 – 32. 532 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, III, 223 – 236, hier 225. Vgl. Peter Fleck, „Die Verfassung des Großherzogtums Hessen, 1820 – 1918“, in: Hessen: Verfassung und Politik, hrg. v. Heidenreich und Böhme, bes. 86 – 100; Erich Zimmermann, Für Freiheit und Recht! Der Kampf der Darmstädter Demokraten im Vormärz (1815 – 1848), Darmstadt: Hessische Historische Kommission, 1987, bes. 63 – 69.

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Robert von Mohl wenige Jahrzehnte später theoretisch entwickeln sollte.533 Auf der Suche nach einem Verfassungsvorbild, das die württembergische Klausel inspiriert haben könnte, geben weder die württembergische Verfassung von 1806 noch der Entwurf von 1815 entscheidende Hinweise.534 Bleibt allein die leicht zugängliche Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 mit ihrem Art. VI, der die Verfassung zum „höchsten Gesetz des Landes (supreme Law of the Land)“ erklärte.535 Die Verfassung von Hessen-Darmstadt verfügte weder über einen ähnlichen Artikel noch über die darauf folgenden Bestimmungen bezüglich des Rechtswesens. Das ganze württembergische Kapitel „Von Ausübung der Staatsgewalt“ fehlte ebenso wie das anschließende Kapitel „Von dem Finanzwesen“, wenn auch ein Teil des Inhalts des letzteren Eingang in den hessen-darmstädtischen Titel II „Von den Domänen“ fand. Es war erneut die Verfassung von Württemberg, die die Rechte der Landstände mit eindrucksvollem Pathos hervorhob: „Die Stände sind berufen, die Rechte des Landes in dem durch die Verfassung bestimmten Verhältnisse zum Regenten geltend zu machen. Vermöge dieses Berufes haben sie bei Ausübung der Gesetzgebungs-Gewalt durch ihre Einwilligung mitzuwirken, in Beziehung auf Mängel oder Mißbräuche, die sich bei der Staats-Verwaltung ergeben, ihre Wünsche, Vorstellungen und Beschwerden dem Könige vorzutragen, auch wegen verfassungswidriger Handlungen Klagen anzustellen, die nach gewissenhafter Prüfung für nothwendig erkannten Steuern zu verwilligen, und überhaupt das unzertrennliche Wohl des Königs und des Vaterlandes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsätze der Verfassung zu befördern“ (§ 124).

Während die Landstände in Württemberg gemäß der Verfassung mit originären Rechten ausgestattet waren, schienen sie in Hessen-Darmstadt lediglich über gnädigst vom Großherzog delegierte Rechte zu verfügen. Folglich hieß es in den jeweiligen Verfassungen, dass der König von Württemberg (§ 4), ebenso wie der Großherzog von Baden (§ 5) seine Rechte „unter den von der Verfassung festgesetzten Bestimmungen“ ausübte, während der Großherzog von Hessen-Darmstadt (§ 4), wie auch der König von Bayern (Titel II, Art. 1) und der Herzog von CoburgSaalfeld (§ 3) diese „unter den von Ihm gegebenen, in dieser Verfassungsurkunde festgelegten Bestimmungen“ wahrnahm. Bezüglich der Zusammensetzung beider Kammern der Landstände von Württemberg und Hessen-Darmstadt und der Wahlperiode der Zweiten Kammern lehnten sich beide Verfassungen an das bayerische Modell an, abgesehen von den in HessenDarmstadt der Ersten Kammer zugewiesenen Geistlichen. Vergleichbar der Charte gewährte keine der vier süddeutschen Verfassungen den Landständen das Recht der 533 Robert von Mohl, „Über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze“ [1852], in: ders., Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien, 3 Bde., Tübingen: Laupp, 1860 – 1869, I, 82. 534 Vgl. Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 259 – 264, 265 – 176. 535 Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin und Boston: De Gruyter, 2006 – 2011, I, 62.

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Gesetzesinitiative. Was die Beschlussfähigkeit betraf, folgte die württembergische Verfassung mit der Zweidrittelmehrheit für die Zweite Kammer (§ 160) dem bayerischen Beispiel, ebenso wie nachfolgend auch die Verfassungen von CoburgSaalfeld (§ 86) und Sachsen-Meiningen (§ 56), während die Anforderungen in Hessen-Darmstadt niedriger waren (Art. 93) und eher denen der badischen Verfassung ähnelten. Abweichend von den beiden voraufgegangenen Verfassungen, doch vergleichbar der Charte, waren die Sitzungen der württembergischen Zweiten Kammer öffentlich (§ 167), während in Hessen-Darmstadt beiden Kammern grundsätzlich über das Recht verfügten, eine gewisse Zahl von Zuhörern zu ihren Sitzungen zuzulassen (Art. 100). Das abschließende X. Kapitel der württembergischen Verfassung, erneut ein Unikat, war dem „Staats-Gerichtshof“ gewidmet: „Zum gerichtlichen Schutze der Verfassung wird ein Staats-Gerichtshof eingerichtet. Diese Behörde erkennt über Unternehmungen, welche auf den Umsturz der Verfassung gerichtet sind, und über Verletzung einzelner Punkte der Verfassung“ (§ 195). Es war das erste Verfassungsgericht, das in Europa errichtet wurde, und das konstitutionelle Vorbild war wiederum die amerikanische Verfassung von 1787, obgleich dessen Kompetenz sich gemäß Art. III lediglich auf „alle Fälle […], die sich unter dieser Verfassung ergeben (all cases […] arising under this Constitution)“ erstreckte,536 was jedoch zunehmend interpretiert wurde, als das Recht, Gesetze auf ihre Verfassungsgemäßheit überprüfen zu können, einzuschließen.537 Der „Präsident“ des Gerichtshofes wurde vom König „aus den ersten Vorständen der höheren Gerichte“ ernannt, während seine zwölf Richter je zur Hälfte vom König und den Landständen bestimmt wurden (§ 196). Sie konnten allein durch Gerichtsbeschluss ihren Sitz verlieren (§ 197). Regierung und Stände hatten das Recht, Minister wie Mitglieder der Landstände vor ihm anzuklagen (§ 199). Obgleich schon Waldeck (§ 25 g), aber auch die Verfassungen von Bayern (Titel X, § 6) und Baden (§ 67) die Ministeranklage kannten, war ihnen ein besonderes Gericht zur Verteidigung der Verfassung unbekannt. Wohl als Konsequenz der württembergischen Bestimmungen kannte die Verfassung, vergleichbar der Charte, keine Bestimmung zur Amendierung der Verfassung. Während die Verfassungen von Württemberg und Hessen-Darmstadt unterschiedliche Versionen eines Kompromisses zwischen monarchischen Auffassungen und liberalen Forderungen darstellten, ist rein chronologisch zwischen beiden die Verfassung von Hannover vom 7. Dezember 1819 einzuordnen, die jedoch einen vollständig anderen Geist atmet, obgleich Huber in ihr ebenfalls einen „Kompromiß zwischen dem überlieferten Ständestaat und dem modernen Repräsentativprinzip“

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Ebd., I, 59. Entscheidende Schritte auf diesem Weg waren The Federalist no. 78 (1788) und Marbury v. Madison, 1 Cranch 137 (1803). Der Federalist war in Europa in einer französischen Übersetzung von 1792 verfügbar, die in einigen deutschen Bibliotheken zugänglich war, darunter in Göttingen, Leipzig, und München. 537

7. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland 1814 – 1824

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zu erkennen glaubte.538 In ihrem Zuschnitt ähnelte die Verfassung mehr jenen von 1816, als sie sich ausschließlich mit der allgemeinen Ständeversammlung des Königreichs beschäftigt.539 Diese bestand aus zwei Kammern, die im Wesentlichen aus dem höheren Adel und den Vertretern der privilegierten Stände bestanden – wobei die Erste Kammer allein aus hohem Adel, Ritterschaft und hoher Prälatur bestand und jeden Beschluss der Zweiten Kammer torpedieren konnte –, ergänzt um von „dem Magistrate und den Repräsentanten der Bürgerschaft“ zu wählenden Deputierten (§ 5). Zusätzlich sollte die Zweite Kammer Deputierte der „freien Grundbesitzer“ enthalten (§ 3). Da dies jedoch ein entsprechendes Tätigwerden der hannoverschen Provinzialversammlungen voraussetzte, fand ihre Repräsentation für die nächsten zehn Jahre praktisch nicht statt.540 Bezeichnend war § 6, der die Bedeutung der „Provinzial-Landschaften“ bestimmte, die sich mit den Angelegenheiten der jeweiligen Provinz befassten. „Und gleichwie es überhaupt keineswegs Unsere Absicht ist, eine neue auf Grundsätzen, welche durch die Erfahrung noch nicht bewährt sind, gebaute ständische Verfassung einzuführen“, sollten sich auch die neuen allgemeinen Landstände auf jene Angelegenheiten beschränken: „namentlich das Recht der Verwilligung der, behuf der Bedürfnisse des Staats erforderlichen Steuern und der Mitverwaltung derselben unter verfassungsmäßiger Concurrenz und Aufsicht der Landes-Herrschaft, das Recht auf Zuratheziehung bei neu zu erlassenden allgemeinen Landes-Gesetzen und das Recht, über die zu ihrer Berathung gehörigen Gegenstände Vorstellungen Uns zu bringen“. Von den seit 1814 in Deutschland errichteten Landständen dürften nur wenige gewesen sein, falls überhaupt, die über weniger Rechte als jene in Hannover verfügten und stets von der Zustimmung des Adels abhängig waren.541 Selbst die berüchtigte Maitland-Verfassung der Ionischen Inseln von 1817, die in diesen Jahren wütend aus den Reihen der Whigs im britischen Parlament bekämpft wurde, was Graf Münster und der Deutschen Kanzlei in London kaum entgangen sein dürfte, übertrug dem Parlament mehr Rechte. Doch die konservative britische Überzeugung, dass geschriebene Verfassungen dazu da waren, Revolutionen zu verhindern und nicht, liberales Gedankengut zu verbreiten,542 fügte sich gut in die Hannoveraner Pläne, die 538 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, II, 86. Dagegen werden die konservativen und reaktionären Tendenzen der Verfassung von Hannover ebenfalls betont von Karlheinz Kolb und Jürgen Telwes, Beiträge zur politischen, Sozial- und Rechtsgeschichte der Hannoverschen Ständeversammlung von 1814 – 1833 und 1837 – 1849, Hildesheim: Lax, 1977, bes. 32 – 42. Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 208. Zweideutiger dagegen Wolf-Rüdiger Reinicke, Landstände im Verfassungsstaat. Verfassungsgeschichte und gegenwärtige Rechtsstellung der Landschaften und Ritterschaften in Niedersachsen, Göttingen: Otto Schwartz, 1975, bes. 138 – 141. 539 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, III, 111 – 116. 540 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, II, 87. 541 Vgl. Susanne Schilling, Ernst Graf von Münster (1766 – 1839). Ein hannoverscher Staatsmann im Spannungsfeld von Reform und Restauration (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 141), Hannover: Wehrhahn, 2018, 199. 542 Vgl. oben Kap. II. 3.

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ohnehin von dem Verdacht genährt waren, dass einige Mitglieder der Regierung in Hannover einer „umwälzungssüchtigen Partei“ angehörten.543 Im Gegensatz zur Verfassung von Hannover war die ebenfalls von der Deutschen Kanzlei in London ausgefertigte Verfassung von Braunschweig vom 25. April 1820 eine vereinbarte Verfassung, die sich ausgab als aktualisierte Version der Privilegia und Befugnisse gesamter Landschaft vom 9. April 1770.544 Sie hatte der gleiche George unterschrieben wie das Hannoveraner Dokument, doch diesmal nicht als Prince Regent, sondern als König Georg IV. von Großbritannien und Hannover, und zwar in seiner Eigenschaft als Vormund für den minderjährigen Herzog Karl II. von Braunschweig. Die Braunschweiger Verfassung war ungleich moderner als ihr Hannoveraner Gegenstück: „Die vereinten Stände des Herzogthums BraunschweigWolfenbüttel und des Fürstenthums Blankenburg repräsentiren die Gesammtheit der Einwohner beider Länder ohne besondere Beziehung auf die verschiedenen Classen, denen sie angehören“ (§ 1).545 Die Erste Kammer, hier Sektion genannt, umfasste die Besitzer der Rittergüter, selbst wenn diese bürgerlich waren, und die Hälfte der Prälaten (tatsächlich meist Juristen),546 während die andere Hälfte in der zweiten Sektion saß, gemeinsam mit den Deputierten der Städte und den „Abgeordneten der Besitzer ländlicher freier Güter“ (§ 2). Die Abgeordneten der Städte mussten aus der Bürgerschaft gewählt werden, wobei jedoch bei den drei Städten mit mehreren Abgeordneten, der erste Platz dem ersten Stadtrat oder Bürgermeister vorbehalten war (§ 11). „Die Deputirten der zur zweiten Sektion gehörigen Besitzer freier, bisher nicht landtagsfähiger, Güter werden durch freie Wahl von den Besitzern selbiger Güter ernannt“ (§ 12). Die Landstände hatten ausschließlich „für die Wohlfahrt und das Beste des Vaterlandes und ihrer Mitbürger“ zu wirken (§ 14). Wie in der badischen Verfassung (§ 53) konnten neue „Abgaben“ und „Leistungen“ allein mit der Zustimmung der Landstände auferlegt werden (§ 15). „Das ständische Steuerverwilligungs-Recht erstreckt sich übrigens bei seiner Ausübung nicht blos auf die Art und den Betrag der öffentlichen Abgaben und Leistungen, sondern 543

Bertram, Staatseinheit und Landesvertretung, 349, vgl. insgesamt 348 – 363. Vgl. Gerd van der Heuvel, „Das Herzogtum Braunschweig“, in: Geschichte Niedersachsens, IV: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Tl. 1, hrg. v. Stefan Brüdermann, Göttingen: Wallstein, 2016, 138; Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht, III, 64 – 66; Reinicke, Landstände im Verfassungsstaat, 50 – 51, 120 – 123; Die Verfassungsgesetze des Herzogtums Braunschweig, hrg. v. Albert Rhamm, Braunschweig: Vieweg, 21907, 28. Schilling, Ernst Graf von Münster, 202 – 203, ohne besondere Beachtung der braunschweigischen Verfassung, ebenso wie offensichtlich Münster selbst jenseits seiner allgemeinen Instruktionen und der Überprüfung, dass diese befolgt worden waren. Vgl. auch Bernhard Kiekenap, Karl und Wilhelm. Die Söhne des Schwarzen Herzogs, 2 Bde., Braunschweig: Appelhans, 2000, I, 161 – 162. 545 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 193 – 211. 546 Ernst-Hermann Grefe, Gefährdung monarchischer Autorität im Zeitalter der Restauration. Der braunschweigische Umsturz von 1830 und die zeitgenössische Publizistik, [Braunschweig:] Braunschweigischer Geschichtsverein, 1987, 26. 544

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auch auf die Grundsätze und Verhältnisse, nach welchen selbige auf Gegenstände oder Personen zu legen und zu vertheilen sind, so wie auf die Dauer, Erhebungsweise und Verwendung der aufzulegenden Steuer“ (§ 17),

was weitgehend dem württembergischen Recht, den Haushalt zu genehmigen (§ 112), entsprach. Dazu gehörte auch das Recht, Anleihen zu kontrahieren und Staatseigentum zu verpfänden oder zu veräußern (§ 25), wie das ähnlich auch die badische Verfassung bestimmt hatte (§ 57). Die Befugnisse des Landtags waren dementsprechend ungewöhnlich breit. Im Allgemeinen berief der Herzog den Landtag ein, doch „[d]ergleichen Zusammentretungen können auch von den Mitgliedern der Landschaft selbst eingeleitet werden“, sofern dazu aus ihrer Sicht „besondere Veranlassung“ bestand und sie dieses der Landesherrschaft „zeitig“ angezeigt hatten (§ 39).547 Jede Sektion hatte das Recht, „über alle zur Ueberlegung und Entscheidung kommenden Angelegenheiten“ zu beraten und mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder zu entscheiden (§§ 45, 64). Diese Bestimmung, die in der Verfassung von 1832 nicht mehr enthalten war, übertrug der Landschaft indirekt das Recht zur Gesetzesinitiative, was jede andere deutsche Verfassung seit 1814 in der Nachfolge der Charte den Landständen verwehrt hatte. Allein die Verfassung von Sachsen-Meiningen von 1824 kannte mit § 66 ein ähnliches Recht, wenn dort die Rede von Gesetzesentwürfen die Rede ist, die dem Fürst „vom Landtage vorgelegt“ werden.548 In Braunschweig mochten sich, wie im Fall der Selbstkonvokation, die Verfassungsgeber durch die verbreitet diskutierte Verfassung von Cadiz dazu beflügelt gesehen haben.549 Ferner hieß es in § 56, „jedes Mitglied der Versammlung, ist befugt, über Gegenstände, welche der Landesherrschaft zur Berücksichtigung zu empfehlen, Anträge zu machen“, über die, wenn sie eine Mehrheit fanden, debattiert werden musste, eine Bestimmung, die wiederum an die Verfassungen von Baden (§ 67) und Württemberg (§ 124) erinnerte. Konnten sich beide Sektionen nicht einigen, konnte der gleiche Gegenstand nicht auf demselben Landtag erneut beraten werden (§ 69), wie es ebenso die Verfassungen von Bayern (Titel VII, § 28) und Württemberg (§ 183) vorsahen. Der Landtag schloss mit einem „Landtagsabschied oder Receß“, den auch die Verfassungen von Hessen-Darmstadt (Art. 101), CoburgSaalfeld (§ 83) und Sachsen-Meiningen (§ 10) kannten. Dieser enthielt die Beschlüsse des Landtags, die anschließend vom Landesherrn, den Präsidenten beider Sektionen und dem Land-Syndikus zu unterzeichnen waren (§ 77), während in Hessen-Darmstadt und Coburg-Saalfeld der Landtagsabschied den Ständen mitgeteilt und vom Landesherrn unterzeichnet wurde. Die Verfassung von SachsenMeiningen äußerte sich zu dem Verfahren nicht. 547 Die Stände hatten auf diesem alten, bis 1770 zurückreichenden Recht bestanden, das, wenn auch in schärfer gezogenen Grenzen Eingang in die Verfassung von 1832 fand (§§ 113, 129), vgl. Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 260, 262. Vgl. auch Grefe, Gefährdung monarchischer Autorität, 31. 548 Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 9 – 20, hier 17. 549 Vgl. dazu die Art. 104, 131 der Verfassung von Cadiz (Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, hrg. v. Homem, Santos und Álvarez Alonso, 354, 356).

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Sieht man sich diese, für ihre Zeit zum Teil singulären Bestimmungen der Braunschweiger Verfassung von 1820 an,550 wird man kaum Kotullas Feststellung zustimmen können, dass die Braunschweiger Verfassung an Modernität nicht mit den süddeutschen Verfassungen mithalten konnte.551 Ganz im Gegenteil kannten die Braunschweiger Verfassungsgeber die süddeutschen Verfassung sehr wohl und übernahmen, wo immer es ihnen passend erschien, zahlreiche ihrer Bestimmungen. Daneben gab es jedoch auch Regelungen, mit denen man in Braunschweig entscheidend über die süddeutschen Vorbilder hinausging, insbesondere im Selbstversammlungsrecht und bei der ständischen Gesetzesinitiative, womit sie deutlich machten, dass liberale Verfassungen kein Privileg von vier süddeutschen Staaten waren. Dabei war es ihnen zugleich gelungen, diese Bestimmungen so zu verpacken, dass Georg IV. und die Deutsche Kanzlei im fernen London daran keinen Anstoß nahmen, sahen sie doch ihre allgemeinen Instruktionen als befolgt an, so dass sie die Verfassung mit nur einer kleineren, in unserem Zusammenhang zu vernachlässigenden Korrektur passieren ließen.552 Dabei ist es wichtig, diese in so mancher Hinsicht ihre süddeutschen Vorbilder übertreffende Braunschweiger Verfassung richtig einzuschätzen, um die sich ab 1826 entwickelnde Braunschweiger Verfassungskrise zu verstehen, als Herzog Karl die Regierungsgeschäfte übernahm und, ohne damit die berechtigten Zweifel an seiner Person und seiner Regierungsfähigkeit ignorieren zu wollen, sich konstant weigerte, die Verfassung und ihre „unerhörten inhaltlichen Bestimmungen“ anzuerkennen,553 wozu nicht zuletzt das Selbstversammlungsrecht beitrug, von dem die Stände gegen den massiven Protest des Herzogs 1829 Gebrauch machten.554 Der Verfassungskonflikt eskalierte weiter und führte bekanntlich 1830 zu der einzigen deutschen Revolution, die mit der Vertreibung eines regierenden Fürsten endete.555

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Vgl. dazu auch van der Heuvel, „Das Herzogtum Braunschweig“, 138. Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht, III, 70. Wenig später hat er sich diesbezüglich selbst etwas korrigiert, ebd., 108. Ähnlich unzutreffend auch die Einschätzung von Reinicke, Landstände im Verfassungsstaat, bes. 123. 552 Vgl. Grefe, Gefährdung monarchischer Autorität, 25. 553 Ebd. Vgl. auch Kiekenap, Karl und Wilhelm, I, 163 – 165; Die Verfassungsgesetze des Herzogtums Braunschweig, hrg. v. Rhamm, 30. Vgl. Carl Venturini, Das Herzogthum Braunschweig in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit, Helmstedt: C. G. Fleckeisensche Buchhandlung, 1826, 43 – 46, dass., 21829, 51 – 54, der sich in diesen krisenhaften Jahren jeder persönlichen Bewertung in seiner außerordentlich populären Schrift enthielt, während er in der 3. Aufl. (Das Herzogthum Braunschweig in seiner vormaligen und gegenwärtigen Beschaffenheit), 1847, 96 – 99, den beispiellosen liberalen Charakter der Braunschweiger Verfassung von 1832, ungeachtet ihrer Abstriche gegenüber 1820, überschwänglich pries. 554 Vgl. van der Heuvel, „Das Herzogtum Braunschweig“, 143. 555 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, II, 46 – 60; Kiekenap, Karl und Wilhelm, I, 165 – 173, 189 – 225; Klaus Erich Pollmann, Die Braunschweigische Verfassung von 1832, Hannover: Niedersächsisches Landesamt für politische Bildung, 1982, 10 – 13; Reinicke, Landstände im Verfassungsstaat, 124 – 130; Die Verfassungsgesetze des Herzogtums Braunschweig, hrg. v. Rhamm, 30 – 35. 551

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Bleibt aus dem Zenit der hier zu behandelnden Verfassungsdekade die Verfassung von Sachsen-Coburg-Saalfeld vom 8. August 1821.556 In ihrem Aufbau zumal ihrer ersten fünf Titel lehnte sie sich eng an die Verfassung von Hessen-Darmstadt an, wenn auch mit Auslassung des Titels über die Domänen und zwei weiteren kleinen Titeln. Titel VI „Von den Befugnissen der Landstände“ verwies auf die Titel VII der bayerischen und Titel IV der badischen Verfassung, während der Coburger Titel VII „Von der Geschäftsordnung bei den Landtägen“ keine Entsprechung in den voraufgegangenen Verfassungen fand, jedoch Teil des Vierten Abschnitts der Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach war, wie auch der Titel VIII „Von dem ständischen Ausschuß“ zumindest theoretisch auf voraufgegangene deutsche Verfassungen verweisen konnte. Gleiches gilt für den vorletzten Coburger Titel IX „Von dem Rechnungswesen bei der Landescasse“, der an das Kap. VIII der württembergischen Verfassung, aber auch an verstreute Bestimmungen in anderen Verfassungen erinnern konnte. Hatten alle Verfassungen seit der bayerischen Verfassung ein Zweikammernsystem eingeführt, begnügte man sich in Coburg-Saalfeld mit einer Kammer, was sicherlich weniger der Verfassung von Cadiz geschuldet war als der geringen Größe des Herzogtums. Auch die thüringischen Kleinstaaten der unmittelbaren Nachbarschaft (Schwarzburg-Rudolstadt, Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Hildburghausen und Sachsen-Meiningen) begnügten sich jeweils mit einer Kammer. Die Zahl und Verteilung ihrer Abgeordneten – sechs Rittergutsbesitzer, fünf von den Städten und sechs aus den ländlichen Gemeinden (§ 35) – entsprach der von Hildburghausen, allerdings ohne deren zusätzlichen Vertreter der Geistlichkeit, während in Schwarzburg-Rudolstadt jede Klasse mit sechs und in Sachsen-Meinigen mit sieben Abgeordneten vertreten war. Die Coburger Landstände besaßen die üblichen Rechte der Mitwirkung bei Gesetzgebung, Steuern und Haushalt und konnten „gemeinschaftliche Anträge und Beschwerden“ vorbringen (§ 63). Eine Besonderheit der Verfassung von Coburg-Saalfeld, auch wenn es eine teilweise Parallele in § 30 der Verfassung von Sachsen-Hildburghausen gab, war Titel VIII „Von dem ständischen Ausschuß“. Etwas Ähnliches hatte es bereits in der württembergischen Verfassung (§§ 187 – 192) gegeben. Dort war es, wie etwa auch in Baden (§ 51) „ein Ausschuß für diejenigen Geschäfte, deren Besorgung von einem Landtage zum andern zur ununterbrochenen Wirksamkeit der Repräsentation des Landes nothwendig ist“ (§ 187).557 In Coburg hatte man etwas anderes im Sinn. Hier 556 Vgl. Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, V, 283 – 301. Dazu Carl-Christian Dressel, Die Entwicklung von Verfassung und Verwaltung in Sachsen-Coburg von 1800 – 1826 im Vergleich, Berlin: Duncker & Humblot, 2007, bes. 363 – 469; Karl Bohley, Die Entwicklung der Verfassungsfrage in Sachsen-Coburg-Saalfeld von 1800 bis 1821 [1933], m. e. Nachbemerkung v. Gerhard Müller (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 21), Weimar und Jena: Hain, 2003, bes. 78 – 175; Detlef Sandern, Parlamentarismus in SachsenCoburg-Gotha 1821/26 – 1849/52 (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen, 7), Weimar und Jena: Wartburg, 1996, 22 – 26. 557 Die württembergische Bestimmung muss vor dem Hintergrund der voraufgegangenen oligarchischen Institution gesehen werden, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

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bestand der Ausschuss aus dem „Landschafts-Director“ und vier weiteren Mitgliedern der Stände und wurde eingesetzt als „fortwährende Vertretung der Stände“ (§ 105), so dass gleichsam „ständisch“ zu „ständig“ mutierte. Dies wiederum bringt den Coburger Titel VIII in unmittelbare Nachbarschaft zu Titel III, Kap. 10 der Verfassung von Cadiz „Über die permanente Deputation der Cortes (De la diputacion permanente de Cortes)“.558 In der in Leipzig erschienen deutschen Übersetzung hieß das „Von der beständigen Deputation der Cortes“.559 Über die ähnliche Wortwahl hinaus, hier „fortwährende Vertretung“, dort „beständigen Deputation“, waren die zugewiesenen Kompetenzen bemerkenswert ähnlich. Die erste Aufgabe der spanischen diputacion war – in der Hartmann Übersetzung – „[a]uf die Beachtung der Constitution und der Gesetze zu sehen“. In Coburg war die erste Aufgabe „die fortwährende Aufsicht […] über die Aufrechterhaltung der Verfassung und Vollziehung der von dem Landesherrn genehmigten Beschlüsse“ (§ 105,3a). Die nächste Verpflichtung war, „[i]n den in der Constitution vorgeschriebenen Fällen außerordentliche Cortes zusammenzuberufen“, was in Coburg zum „Antrag auf Zusammenberufung außerordentlicher Landes-Versammlungen“ wurde (§ 105,3c). Man ist versucht, in diesen Fällen in der Cadiz Verfassung das Modell für die Coburger Bestimmungen zu sehen, doch hieße das ignorieren, dass diese wörtlich mit den entsprechenden Klauseln der Verfassung von Hildburghausen übereinstimmen, was jedoch das Problem einer inhaltlichen Beeinflussung lediglich von Coburg nach Hildburghausen verlagert. Denn nach meiner Kenntnis gab es zu diesem Zeitpunkt lediglich drei Verfassungen mit diesen Bestimmungen: Cadiz, Hildburghausen und Coburg. Doch während in Hildburghausen die Befugnisse des „landschaftlichen Ausschusses“ lediglich im § 30 („Geschäftskreis des Ausschusses“) behandelt werden, werden diese allein in den Verfassungen von Cadiz und Coburg-Saalfeld zu einem eigenen Kapitel bzw. Titel aufgewertet, beide Male mit mehreren Artikeln bzw. Paragraphen versehen. Die Verfassung von Sachsen-Meiningen hat diesen Ausschuss nicht übernommen.560 Die Verfassung von Coburg-Saalfeld ging mit dieser Einsetzung einer ständigen Versammlung in nuce deutlich über die süddeutschen Verfassungen, aber auch über die vormoderne württembergische Verfassung des 18. Jahrhunderts hinaus, mit der sie den Landesherrn unter die beständige Kontrolle eines Repräsentativorgans brachte, während bislang lediglich Ausschüsse zur Abwicklung meist von Formalia zwischen den Sitzungsperioden bestanden hatten. Die Annahme, dass den Verfassungsgebern in Coburg-Saalfeld die Verfassung von Cadiz bekannt war, erscheint weitgehend ein Eigenleben geführt hatte, vgl. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819 – 1870, 21 – 23. 558 Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, hrg. v. Homem, Santos und Álvarez Alonso, 359. 559 Die spanische Constitution der Cortes, 134. Der Übersetzer war der Hamburger Geschichtsprofessor und Journalist Karl Friedrich August Hartmann, vgl. Dippel, „Can Constitutions be translated?“, 29 – 30. 560 Vgl. ihren VI. Abschnitt (Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, VI, 18 – 20).

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daher mehr als naheliegend, zumal die Verfassung von Hildburghausen nur einen Teil der Erklärung für die Coburger Bestimmungen zu liefern in der Lage ist. Damit wären wir gemäß der Chronologie bei der letzten Verfassung dieses Jahrzehnts angekommen, der Verfassung von Sachsen-Meiningen vom 24. September 1824.561 Da hier jedoch die wichtigsten Bestimmungen dieser oktroyierten Verfassung bereits im Zusammenhang mit anderen Verfassungen behandelt worden sind, wäre eine erneute Erwähnung an dieser Stelle redundant. Daher sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Verfassung, um die mit der kürzesten Geltungsdauer aller hier behandelten Verfassungen handelt, da sie bereits nach fünf Jahren durch die Verfassung von Sachsen-Meiningen vom 12. September 1829 abgelöst wurde. In der Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels erscheint es angebracht, vor voreiligen Schlüssen zu warnen. Dass die Mehrheit der Verfassungen dieses Jahrzehnts als liberal einzustufen ist, bedeutet keineswegs, dass die auf sie folgende Politik im Zeitalter Metternichs, des monarchischen Prinzips und der Karlsbader Beschlüsse auch entsprechend liberal war. Oftmals war eher das Gegenteil der Fall. Doch selbst ein zahlenmäßiges Übergewicht der liberalen Verfassung zwischen 1814 und 1824 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Ende dieses Jahrzehnts die Mehrheit der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes ungeachtet der Bestimmung des Art. 13 der Bundes-Acte über keine landständische Verfassung verfügte, weil diese letztlich an der konservativen Opposition gegen den modernen Konstitutionalismus und seine Verfassungen scheiterten. Insofern könnte man in Anlehnung an Huber die rückwärtsgewandte Verfassung von Hannover von 1819 tatsächlich als Kompromiss bezeichnen: liberal, was die Form angeht und eine Verfassung erlassen worden war; konservativ, was ihren Inhalt betrifft. Dennoch müssen die aufgrund ihres Inhalts bedeutenderen liberalen Verfassungen dieser Epoche als Meilensteine im Kontext deutscher wie europäischer Verfassungsgebung der Zeit gelten. Am Beginn stand die Charte constitutionnelle als eine Art Modell, wenngleich ihre eigenen liberalen Referenzen eher bescheidener Natur und ihre Distanz zu den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus unübersehbar sind. Doch stärker als in Frankreich 1814 tobte in Deutschland in diesen Jahren und über 1824 hinaus der Kampf zwischen den Verfechtern des alten, in Frankreich längst untergegangenen Privilegienstaates einer überkommenen Zeit und den Anhängern einer offeneren, moderneren Welt. Daraus, wie Huber es unternommen hat,562 die vermeintliche Sonderform eines „deutschen Konstitutionalis561 Ulrich Heß, Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Herzogtums Sachsen-Coburg-Meiningen [1954], 3 Bde., [Jena: Friedrich-Schiller-Universität,] 2010, I, 79. 562 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, III, 3 – 26; dazu auch Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970, München: Oldenbourg, 2005, bes. 366 – 384. Letztlich handelt es sich hierbei um eine ideologische Sonderform des deutschen Nationalismus, die noch durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland waberte, vgl. Hans Gangl, „Der deutsche Weg zum Verfas-

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mus“ als Gegenposition zum Liberalismus ableiten zu wollen, ist absurd. Als Pölitz 1817 mit der Veröffentlichung seiner mehrbändigen Verfassungssammlung begann, die ab 1832 in zweiter Auflage erscheinen sollte, lagen damit verlässliche und leicht zugängliche Texte auf Deutsch vor, die den modernen Konstitutionalismus und das liberale Verfassungsdenken entscheidend beflügeln konnten, so dass liberale Verfassungsgeber zunehmend auf andere Verfassungen intra et extra muros auf der Suche nach Inspiration und passenden Bestimmungen zurückgreifen konnten.563 Hinzu kamen weitere Beispiele, darunter zumal ab 1819 die in Deutschland intensiv diskutierte Verfassung von Cadiz, deren Spuren sich in der einen oder anderen deutschen Verfassung dieses Jahrzehnts nachzeichnen lassen. Damit war jene Wanderung von Verfassungsideen sichtbar geworden, die es ebenso vor 1814 wie nach 1824 gegeben hat, und die Rotteck 1830 zu der Feststellung führte: „Es ist heute ganz eigens das Zeitalter der Constitutionen“, wobei er unter „Constitution“ eine „rechtmäßige und auf Grundsätzen beruhende Verfassung des Staates“ verstand.564 Es waren diese, in den behandelten Verfassungen vielfach angesprochenen „Grundsätze“ oder Kernprinzipien des modernen Konstitutionalismus, die nunmehr in Deutschland zunehmend bekannt wurden. Gewiss war es nicht die Zeit, in der die Gedanken der Volkssouveränität und universeller Prinzipien in deutschen Verfassungen Wurzeln schlagen konnten. Daran ändert nichts, wenn es heißt, bereits Bodin habe die Volkssouveränität in der begrenzten Monarchie eingebettet gesehen und der württembergische Graf Wintzingerode habe 1819 in Karlsbad erklärt, die bayerische und württembergische Verfassung hätten das Prinzip der Volkssouveränität anerkannt.565 Generell versteht man unter Volkssouveränität, entweder dass das Volk das alleinige Recht der Verfassungsgebung besitzt, oder dass das Volk einen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung hat, wie es in dieser Zeit in einer zunehmenden Zahl Schweizer Kantone und zuvor bereits in der pennsylvanischen Verfassung von 1776 und in ihrer Folge der jakobinische Verfassung von 1793 vorgesehen war.566 Bleiben wir beim Recht der Verfassungsgebung, so mag man fragen, ob die vereinbarten Verfassungen aufgrund der Mitwirkung der Stände sungsstaat im 19. Jahrhundert“, in: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, hrg. v. Böckenförde, 23 – 58. 563 Ein zeittypisches Beispiel für das Aufspüren der Wanderung von Verfassungsideen ist Herbert Heinrich, „Über den Einfluß des Westens auf die Badische Verfassung von 1818“, in: Baden im 19. und 20. Jahrhundert, hrg. v. Karl S. Bader, Karlsruhe: C. F. Müller, 1948, 23 – 80, der den Einfluss der Charte auf die badische Verfassung herausstrich, aber auch auf englische Verfassungsvorstellung verwies und zusätzlich den Blick auf Bayern und Württemberg richtete. 564 Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, 4 Bde., Stuttgart: Franckh, 1829 – 1835, II, 172. Vgl. zur näheren Bestimmung dieser Grundsätze seinen Artikel „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Princip und System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften, hrg. v. Carl von Rotteck und Carl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, III, 519 – 543. 565 Vgl. Möckl, Der moderne bayerische Staat, 252. 566 Vgl. dazu oben Kap. V. 4.

7. Die Anfänge der Verfassungsentwicklung in Deutschland 1814 – 1824

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tatsächlich als Ausdruck der Volkssouveränität gelten können? Man wird diese Frage nur bejahen können, falls diese Stände tatsächlich vom Volk mit der ausdrücklichen Befugnis berufen wurden, mit dem Monarchen eine Verfassung auszuhandeln. Der Rückgriff auf das traditionelle deutsche Staatsrecht, demzufolge eine Verfassung allein als Vertrag zwischen Monarch und Landständen geschaffen werden konnte, reicht nicht.567 Schließlich waren traditionelle Landstände eine Versammlung von privilegierten Ständen kraft Geburt, Stand oder Amt und keine gewählten Vertreter des Volkes. Zudem ist Waldeck nur ein Beispiel dafür, dass das Volk 1816 nicht in den Prozess der Verfassungsgebung eingebunden war, obwohl es sich um eine vereinbarte Verfassung handelte, weil die Stände keinen repräsentativen Charakter besaßen und das Volk nachweislich keinerlei Interesse an der Verfassungsgebung nahm.568 Da ferner eine moderne Repräsentation des Volkes bestenfalls erst das Ergebnis einer vereinbarten Verfassung war, ist schwer zu erkennen, mit welchem Recht die in diesem Prozess in diesen Jahren beteiligten Stände beanspruchen konnten, das souveräne Volk zu repräsentieren.569 Selbst wenn dieser Anspruch hätte erhoben werden sollen, stand diesen die Feststellung eines liberalen Autors wie Nebenius entgegen: „Mit der Monarchie ist die Volkssouveränität unvertr[ä]glich“,570 womit dieser zugleich die französische Verfassung von 1791 und die Verfassung von Cadiz von 1812 zurückwies. Was weitere Grundsätze oder Prinzipien des modernen Konstitutionalismus angeht, lässt sich feststellen, dass in einigen Verfassungen Rechte auftauchten, keine Menschenrechte, aber Rechte der Staatsbürger als ein erster Schritt. Mehr ließen Restauration und Karlsbader Beschlüsse nicht zu. Von einer repräsentativen Regierung kann nicht die Rede sein, da der Monarch der Exekutive vorstand. Aber eine wachsende Zahl von Verfassungen basierte auf der Repräsentation des Volkes in der Legislative, die erstmals in der Verfassung von Sachsen-Weimar-Eisenach als „Volksvertreter“ tituliert werden (3. Abschn. „Anzahl und Wahl der Volksvertreter aus den drei Landständen“). Begrenzte Regierung und Verantwortlichkeit waren der Sache nach in der einen oder anderen Verfassung eingeführt, indem diese feststellten, dass die Befugnisse von Exekutive und Legislative gemäß den Bestimmungen der Verfassung eingeschränkt seien, so dass Anklagen wegen Überschreitung dieser Grenzen zulässig waren. Eine unabhängige Justiz trat in ihren Anfängen ebenso in diesen Verfassungen hervor wie eine Gewaltentrennung, selbst wenn letztere in diametralem Widerspruch zu Art. 57 der Wiener Schlussakte stand, jenem Tot567 So die entsprechende Begründung von Günther Heinrich von Berg in seinem Gutachten von 1815 für die Regierung von Waldeck, vgl. Weigel, Fürst, Stände und Verfassung, 99. 568 Vgl. ebd., 117. 569 Vgl. auch Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf: Droste, 1975, 85 – 91. 570 Zit. n. Markus J. Prutsch, The Charte constitutionnelle of 1814 and Süddeutscher Frühkonstitutionalismus. Transfer and Reception of ,Monarchical Constitutionalism’ in PostNapoleonic Europe, PhD diss., European University Institute Florenz, 2009, 235. In der gedruckten Version Prutsch, Making Sense of Constitutional Monarchism, 100, findet sich das Zitat lediglich in englischer Übersetzung.

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schlagartikel gegen alle weiteren liberalen Bemühungen.571 Dennoch hatten praktisch nahezu alle Verfassungen personell wie sachlich getrennte Exekutiven und Legislativen eingesetzt, und in Württemberg sah man die Anfänge einer dritten richterlichen Gewalt entstehen. Diese Verfassung stellte ebenso den ersten Versuch in Deutschland dar, die Verfassung zum höherrangigen Recht zu erklären. Schließlich hatte eine Vielzahl von Verfassungen im Gegensatz zur Charte Bestimmungen eingefügt, wie die Verfassung unter Mitwirkung der Landstände verändert werden konnte. Die sechs bedeutendsten liberalen Verfassungen zwischen 1818 und 1821 mit ihren durchaus unterschiedlichen Gewichtungen und Graden an Liberalität heben sich damit deutlich von den voraufgegangenen Verfassungen von Nassau bis Sachsen-Hildburghausen sowie der nachfolgenden Verfassung von Sachsen-Meiningen ab. Ungleich schärfer noch ist der Kontrast etwa zu den Verfassungen von Schaumburg-Lippe oder Hannover mit ihren rückwärtsgewandten Bestimmungen und zu allen jenen deutschen Bundesstaaten, die überhaupt keine landständische Verfassung vorweisen konnten. Die sechs herausragenden liberalen Verfassungen, ausgerichtet auf die Zukunft, hatten erste Schritte unternommen, einige mehr, andere weniger, je nach politischer Situation und landesspezifischen Umständen, sich den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus zu öffnen und eine, wie Rotteck es formulierte, „auf Grundsätzen beruhende Verfassung des Staates“ einzuführen. Dabei waren die meisten von ihnen deutlich über die Charte, aber auch über andere europäische Verfassungen hinaus gegangen. Statt hinterherzuhinken, waren sie gemeinsam mit der Verfassung von Cadiz Teil einer europäischen Verfassungsavantgarde dieses Jahrzehnts geworden. Auf dieser Basis aufzubauen, war die Vision vieler Revolutionäre von 1848 gewesen. Dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts anders verlaufen sollte und auf die nächste Stufe bis 1919 gewartet werden musste, unterstreicht, dass auch Verfassungsentwicklungen nicht immer linear verlaufen.

571

Vgl. dagegen Fenske, 175 Jahre badische Verfassung, 27.

8. Der moderne Konstitutionalismus und die kurhessische Verfassung von 1831

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8. Der moderne Konstitutionalismus auf seinem Höhepunkt im vormärzlichen Deutschland: Die kurhessische Verfassung von 1831572 In seiner „Constitutions-Predigt“ am 16. Januar 1831 mochte der Kasseler Hofund Garnisonsprediger Lorenz Friedrich Lange die neue Verfassung des Kurfürstentums Hessen nicht als „Goldregen“ bezeichnen, aber die Metapher der „Goldgrube“ schien ihm sehr wohl angebracht, verhieß die Verfassung doch nach Wochen und Monaten der Unruhe und Ungewissheit eine lichtvolle Zukunft.573 Es dürfte für unseren Zusammenhang unerheblich sein, was die persönlichen Motive des Hofpredigers für diese Einschätzung gewesen sein mögen, aber die Frage, aufgrund welcher Eigenschaften die gerade einmal zehn Tage alte Verfassung zu einer derart enthusiastischen Zustimmung Anlass geben konnte, verdient in höchstem Maße unsere Aufmerksamkeit. Hellmut Seier schloss sich in seiner grundlegenden Untersuchung zur Entstehung und Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831 der seit Anbeginn bestehenden Auffassung an, dass das hessen-kasselsche Dokument als die liberalste, ja radikalste deutsche Verfassung des Vormärz zu gelten habe.574 Doch wie in den 572 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Die kurhessische Verfassung von 1831 im internationalen Vergleich“, in: Historische Zeitschrift, 282 (2006), 619 – 644. 573 Lorenz Friedrich Lange, Constitutions-Predigt über 1 Timoth. 1. V. 8. „Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist, so sein jemand recht gebrauchet.“ Am 16. Januar 1831 in der hiesigen Hof- und Garnisons-Kirche gehalten, Kassel: Estienne, 1831, 19. Vgl. auch die einleitenden Bemerkungen zum Abdruck der Verfassung in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 13, 14. Januar 1831, Sp. 177. Zur Reaktion innerhalb Hessens auf die Verfassung, vgl. Günter Kleinknecht, Sylvester Jordan (1792 – 1861). Ein deutscher Liberaler im Vormärz, Marburg: Presseamt der Stadt Marburg, 1983, 70 – 78. Zu den Unruhen und der Vorgeschichte zur Einberufung des Landtags, vgl. Akten und Briefe aus den Anfängen der kurhessischen Verfassungszeit 1830 – 1837, hrg. v. Ewald Grothe u. Hellmut Seier, Marburg: Elwert, 1992, 1 – 27. 574 Hellmut Seier, „Zur Entstehung und Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831“, in: Walter Heinemeyer (Hrsg.), Der Verfassungsstaat als Bürge des Rechtsfriedens. Reden im Hessischen Landtag zur 150-Jahr-Feier der kurhessischen Verfassung (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 46: Kleine Schriften, 1). Marburg: Historische Kommission für Hessen, 1982, 5 – 71, hier bes. 45. Ähnlich auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 7 Bde., Stuttgart: Kohlhammer, 21960 – 84, II, 68. In der Sache ähnlich Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, 160; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München; Beck, 1988 – 2012, II, 203; Werner Frotscher u. Uwe Volkmann, „Geburtswehen des modernen Verfassungsstaates – Der Kampf um die kurhessische Verfassung als deutscher Präzedenzfall“, in: Hans Eichel u. Klaus Peter Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1997, 23. Ebenso die allerdings insgesamt unbefriedigende Darstellung von Reinhard Dietrich u. Wolfgang Birkenstock, „Die kurhessische Verfassung von 1831“, in: Hanauer Geschichtsblätter, 29 (1985), 431 – 462, hier 458.

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voraufgegangenen 150 Jahren sucht man, über die mitunter unterschiedlichen Verweise auf die eine oder andere Verfassungsbestimmung hinausgehend, vergeblich nach einer fundierten Begründung für diese Einstufung. Seier begnügte sich mit dem offensichtlich unzureichenden Hinweis auf ihren Kompromisscharakter zwischen dem Liberalismus in seinen verschiedenen Schattierungen und „dem prokonstitutionellen Gouvernementalismus“, der die Errichtung eines Einkammersystems, eine Beschränkung des Monarchischen Prinzips und die Sicherung von Grundrechten bewirkt habe. Orientiert hätten sich die Verfassungsväter dabei an den süddeutschen Verfassungen aus dem Beginn der Restaurationszeit, insbesondere an der Württembergs von 1819 und der Hessen-Darmstadts von 1820.575 Überzeugender klingt da schon ein anonymer zeitgenössischer Kommentar, in dem es hieß: „Unter allen seit 1814 auf deutschem Boden ins öffentliche Staatsleben eingetretenen neuen Verfassungen ist keine mit so allgemeiner Theilnahme aufgenommen und so freudig begrüßt worden, als die für den Kurstaat Hessen am 5. Januar 1831. Diese allgemeine Theilnahme erregte aber nicht bloß ihr liberaler Geist und ihre völlig zeitgemäße Gestaltung, sondern auch der wichtige Umstand, daß diese Urkunde in ihrer gegenwärtigen Gestalt einen ganz anderen Character an sich trägt, als der ihr am 7. Oct. 1830 vorausgegangene, und den kurhessischen Ständen vorgelegte, Entwurf zu derselben.“

Dadurch sei erreicht, dass die Verfassung „in vielen Bestimmungen die ältern süddeutschen Verfassungen“ übertreffe.576 Doch die Frage nach den Orientierungsmarken für den vermeintlichen Radikalismus der kurhessischen Verfassung blieb damit letztlich genauso unbeantwortet wie bei Friedrich Murhard, der ebenfalls auf die Parallelen zu den Verfassungen Württembergs und Hessen-Darmstadts hingewiesen hatte.577 An der Entstehung der Verfassung hatte er keinen Anteil gehabt und schließlich einen Sitz in der Ständeversammlung abgelehnt.578 Dabei hätte Friedrich Murhard, der sich im Laufe seines Lebens über mehr Verfassungen äußern 575 Seier, „Zur Entstehung und Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831“, 45. Zur Einordnung auch Kleinknecht, Sylvester Jordan, 30 – 68; Werner Frotscher, „Verfassungsdiskussion und Verfassungskonflikt. Zur Entwicklung freiheitlich-parlamentarischer Verfassungsstrukturen in Kurhessen (1813 – 1866)“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte, 107 (2002), 203 – 221; Ewald Grothe, „Wunsch und Wirklichkeit. Die rheinische und die kurhessische Verfassungsbewegung im Vormärz. Eine vergleichende Studie“, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 137 (2001), 135 – 159. Vgl. auch das voraufgegangenen Kap. VI. 7. 576 „Die kurhessische Verfassung vom 5. Jan. 1831“, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 54, 24. Februar 1831, Sp. 767. Auf die Unterschiede zwischen dem Oktoberentwurf und der definitiven Verfassung hatte die Zeitung bereits bei der Veröffentlichung des Verfassungstextes hingewiesen, ebd., Nr. 13, 14. Januar 1831, Sp. 177. 577 Friedrich Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, erläutert und beleuchtet nach Maßgabe ihrer einzelnen Paragraphen. Ein Handbuch für Landstände, Geschäftsmänner, konstitutionelle Staatsbeamte und Staatsbürger, 2 Tle., Kassel: Bohné, 1834 – 35, I, 93 – 94. 578 Vgl. dazu Herbert Schäfer, „Friedrich Murhard (1778 – 1853): Zur Geschichte einer politischen Verfolgung“, in: Hartmut Broszinski u. a., Friedrich und Karl Murhard, gelehrte Schriftsteller und Stifter in Kassel, Kassel: Weber & Weidemeyer, [1988], 23.

8. Der moderne Konstitutionalismus und die kurhessische Verfassung von 1831

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sollte als irgendein an der Konzipierung der kurhessischen Verfassung aktiv Beteiligter,579 durchaus als kompetenter Mitautor gelten können. Doch gerade dank seiner physischen Distanz zur Ausarbeitung der Verfassung vom 5. Januar 1831 vermochte Friedrich Murhard umso leichter im Kreise der liberalen Intellektuellen die Meinungsführerschaft über die Interpretation dieser Verfassung zu übernehmen, die, wie wir eingangs feststellen konnten, zum Teil bis heute anhält. Diese Interpretation lieferte er bereits nach wenigen Jahren, 1834 – 35, in einem über tausendseitigen Kommentar der Verfassung, der sich weniger auf die aktuelle Politik und offiziellen Stellungnahmen stützte, als vielmehr, von den Grundpositionen des politischen Liberalismus ausgehend, die spezielle wie die allgemeine politische und zumal staatsrechtliche Literatur heranzog und dabei immer wieder den vergleichenden Blick auf deutsche wie außerdeutsche Verfassungen schweifen ließ. Wenn Murhard in seinem umfangreichen Kommentar nicht nur die – bestenfalls vereinzelten – Auswirkungen der hessen-kasselschen Verfassung insbesondere auf die Verfassungen von Sachsen von 1831580 und von Hannover von 1833581 herausstrich – andere Beispiele wären mitunter passender gewesen582 – und immer wieder vergleichend auf die Verfassungen von Bayern und Baden von 1818, von SachsenWeimar von 1816 und die weiterer sächsischer Herzogtümer bis 1831583 blickte und 579 Vgl. Regina Saul, „Bibliographie Friedrich Murhards“, in: Broszinski u. a., Friedrich und Karl Murhard, 76 – 82. 580 Vgl. dazu auch Justus Freimund, Kritische Bemerkungen über die churhessische Verfassungsurkunde vom 5ten Januar 1831. Nebst dem Abdrucke derselben und Betrachtungen über das Königreich Sachsen und den Entwurf der neuen Staatsverfassung, Leipzig: Glück, 1831, bes. vii – viii, 45, 64 – 72. Diese Hinweise wurden jedoch nicht aufgegriffen von Cäsar Dietrich von Witzleben, Die Entstehung der constitutionellen Verfassung des Königreichs Sachsen. Zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Verfassungsurkunde vom 4. September 1831, Leipzig: B. G. Teubner, 1881. 581 Vgl. „Entwurf der Verfassungs-Urkunde“, in: Vorschläge zu einer Verfassungs-Urkunde für das Königreich Hannover, Rinteln: Osterwald, 1831, 16 – 32, in der zentrale Passagen, z. B. Art. 6 und 9, teilweise bis in die Wortwahl hinein aus der kurhessischen Verfassung übernommen sind. Der offizielle Entwurf von November 1831 unterschied sich laut Pölitz jedoch „in vielfacher Hinsicht sehr wesentlich von den Hauptbestimmungen der […] churhessischen Verfassung“ (Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Beleuchtung des Entwurfes eines Staatsgrundgesetzes für das Königreich Hannover, wie solcher der niedergesetzten Commission von Seiten der landesherrlichen Commissarien im November 1831 vorgelegt worden ist, Leipzig: Hahn, 1831, 12). Bezüglich einiger Parallelen oder Abgrenzungen im Detail, vgl. ebd., 31, 42, 62 – 63. Zumindest in dieser generellen Einschätzung scheint Struve Pölitz’ Auffassung geteilt zu haben, vgl. Gustav von Struve, Commentar zu dem Entwurfe eines Staatsgrundgesetzes für das Königreich Hannover, wie solcher der niedergesetzten Commission von Seiten der landesherrlichen Commissarien zu vorläufiger Berathung vorgelegt worden ist, 7 H., Rinteln: Osterwald, 1832, V, 46. 582 So der Hinweis auf Braunschweig, vgl. dazu Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Votum über den Entwurf der revidirten Landschaftsordnung des Herzogthums Braunschweig, Leipzig: Hinrichs, 1831, 15, 24 – 25, 74, 75, 78; aber auch auf Waldeck, vgl. Thomas Seibel, Die Waldeckischen Landstände im Vormärz, Frankfurt/M.: Lang, 1997, 462 – 463. 583 Vgl. dazu Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Andeutungen über den staatsrechtlichen und politischen Charakter des Grundgesetzes für das Herzogthum Sachsen-Altenburg vom 29. April

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jenseits des Deutschen Bundes insbesondere die Verfassungen Frankreichs, Englands und der Vereinigten Staaten, aber auch die spanische Cadiz-Verfassung von 1812, die niederländische Verfassung von 1815 und die belgische Verfassung von 1831 einbezog, dann markierte er damit jenen geistigen Horizont, in dem sich Verfassungsdenken in diesem Teil Europas nach der Juli-Revolution von 1830 und zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts im, gemäß Rottecks berühmt gewordener Charakterisierung, „Zeitalter der Constitutionen“ bewegte.584 Dieses Panorama entsprach dem politischen Bildungsstand der Zeit, zu dem als Pionierwerke insbesondere die beiden großen Sammlungen von Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, veröffentlicht zwischen 1817 und 1825585 und 1832/33 in erweiterter Neuauflage erschienen,586 und von Dufau, Duvergier und Guadet, Collection des Constitutions, Chartes et Lois fondamentales des peuples de l’Europe et de deux Amériques, zu dessen sechs Bänden 1830 noch ein Supplementband nachgefolgt war,587 beigetragen hatten. Der Verfassungsvergleich war dank dieser sowie einiger weiterer begrenzterer Sammlungen588 nunmehr möglich und in den 1820er und 1830er Jahren geradezu 1831; mit vergleichender Rücksicht auf die Verfassungen von Schwarzburg-Sondershausen, Churhessen, Hannover und Braunschweig etc., Leipzig: Hahn, 1831, in der er „die trefflichste aller neuen Verfassungen, die churhessische“ (S. 93) als Maßstab anlegte und daran immer wieder die Verfassung Altenburgs maß (S. 65, 75, 87, 93, 96,104 – 105). 584 Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, 4 Bde. Stuttgart: Franckh, 1829 – 1835, II, 172. Vgl. auch Pölitz: „Man darf nur die Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten der im Jahre 1831 erschienenen neuen Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Churhessen, im Herzogthume Sachsen-Altenburg, im Königreiche Sachsen, im Herzogthume Braunschweig und im Königreiche Hannover mit einander vergleichen, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß die Theorie und Praxis des constitutionellen Systems theilweise auf einem ganz andern Standpuncte steht, als z. B. in den Jahren 1818 – 1820, wo mehrere der neuen Verfassungen in den wichtigern südteutschen Staaten entstanden“ (Pölitz, Beleuchtung des Entwurfes eines Staatsgrundgesetzes für das Königreich Hannover, v). Konservativer eingestellte Zeitgenossen wurden dagegen nicht müde, vor dem Vergleich mit Verfassungen anderer Staaten zu warnen, da nicht selten daran „der Zunder des Mistrauens zwischen Fürst und Volk sich entzündet hat, und davon die anstößigsten Discussionen eine fast unvermeidliche Folge gewesen sind“ (Burkhard Wilhelm Pfeiffer, Einige Worte über den Entwurf einer Verfassungs-Urkunde für Kurhessen vom 7. October 1830, Kassel: Hof- und Waisenhaus-Buchdruckerei, [1830], 15). 585 [Karl Heinrich Ludwig Pölitz,] Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, 4 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1817 – 1825. 586 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, 4 Bde., Leipzig: Brockhaus, 21832 – 1833. 587 Pierre-Armand Dufau, Jean-Baptiste Duvergier u. Joseph Guadet (Hrsg.), Collection des Constitutions, Chartes et Lois fondamentales, des peuples de l’Europe et des deux Amériques, 7 Bde., Paris: Béchet ainé, 1821 – 1830. 588 Als erste Sammlung überhaupt von Verfassungen war erschienen Recueil des Loix constitutives des Colonies angloises confédérées sous la Dénomination d’Etats-Unis de l’Amérique-septentrionale. Auquel on a joint les Actes d’Indépendance, de Confédération & autres Actes du Congrès général, traduit de l’Anglois. Dédié à M. le Docteur Franklin, Philadelphia – Paris; Cellot & Jombert, 1778. Eine weitere französische Ausgabe u. d. T. Consti-

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populär geworden.589 Er konnte daher, mehr noch als dies bei der ersten Verfassungswelle in den Jahren ab 1814 im Deutschen Bund der Fall sein konnte, auf die Verfassungen der zweiten Welle zwischen 1830 und 1833 einwirken und trug damit wesentlich zum Unterschied der deutschen Verfassungen der zweiten Welle von denen der ersten Welle bei.590 Im Gegensatz zu diesem vorläufigen Befund geht die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung unisono von dem „Konstitutionalismus des Vormärz“ als einem „Sonderweg deutscher verfassungsrechtlicher Entwicklung im 19. Jh.“ aus, der, so Thomas Würtenberger, „nicht allein ein besonderer Typ verfassungsrechtlicher Ordnung“ sei, sondern als „bürgerliche […] konstitutionelle Bewegung“ verstanden werden müsse, die „sozialpsychologisch und mentalitätsgeschichtlich betrachtet von Respekt und Vertrauen gegenüber einem eigenständigen monarchischen Regiment tutions des Treize États-Unis de l’Amérique, Paris: Ph.-D. Pierres & Pissot, 1783, erschien in deutscher Übersetzung als Staatsgesetze der dreyzehn vereinigten amerikanischen Staaten, Dessau – Leipzig: Buchhandlung der Gelehrten, 1785. Die erste verfassungsgeschichtliche Sammlung überhaupt publizierte Friedrich Saalfeld (Hrsg.), Recueil historique des lois constitutionnelles et des réglemens généraux d’administration, publiés en France depuis le commencement de la révolution jusqu’à présent, 2 Bde., Göttingen: Roewer, 1809 – 1810. Der erste Band enthielt die lois constitutionnelles von der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen vom 26. August 1789 bis zu den Statuts de Noblesse vom 1. März 1808 und der zweite Band die réglemens d’administration. Die erste Sammlung Schweizer Verfassungen stammt von [Paul Usteri,] Handbuch des Schweizerischen Staatsrechts. Enthaltend die Urkunden des Bundesvertrags und die Verfassungen der zweiundzwanzig souverainen Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft, 2 Bde. Aarau: Sauerländer, 1815 – 1816, 21821, und die erste umfassende Wiedergabe deutscher Verfassungen erfolgte durch Georg Leopold von Zangen, Die Verfassungs-Gesetze deutscher Staaten in systematischer Zusammenstellung. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, 3 Bde., Darmstadt/Leipzig: Carl Wilhelm Leske, 1828 – 1836. Übersichtlicher, aber auch knapper: Deutschlands Constitutionen, enthaltend: die beiden Hauptgrundverträge des deutschen Bundes und die seit dem Jahre 1814 in einzelnen Bundesstaaten eingeführten Verfassungsurkunden und Gesetze über landständische Verfassung, Rinteln: Osterwald, 1833. Der Absicht Pölitz’ eines eigenständigen Bandes mit den amerikanischen Verfassungen (Pölitz, Die europäischen Verfassungen, III, iii) kam die Ausgabe u. d. T. zuvor Die Verfassungen der Vereinigten Staaten Nordamerika’s, Aus dem Englischen übersetzt von Georg Heinrich Engelhard, 2 Bde., Frankfurt/M.: Sauerländer, 1834, die mit rund 600 S. die im 19. und 20. Jahrhundert umfangreichste Edition amerikanischer Verfassungstexte in deutscher Übersetzung. Nützlich ist auch Lüders diplomatisches Archiv u. d. T. Diplomatisches Archiv für Europa. Eine Urkunden-Sammlung mit historischen Einleitungen, hrg. v. Ludwig Lüders [und fortgesetzt von Karl Heinrich Ludwig Pölitz], 3 Bde., Leipzig: Baumgärtner, 1819 – 1823. 589 So auch der Rat von Sylvester Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik vorgetragen, Marburg: Christian Garthe, 1828, 175 – 176. Vgl. als Beispiel Karl Heinrich Ludwig Pölitz, „Einige Andeutungen über die verschiedenen Schattirungen des constitutionellen Systems in der Wirklichkeit“, in: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, hrg. v. dems., Jg. 1831, II, Leipzig: Hinrichs, [1831], 506 – 533. Als Beispiel generell auch die seit 1821 erscheinenden und zunächst von Friedrich Murhard, später von Carl von Rotteck herausgegebenen Allgemeinen politischen Annalen. 590 Vgl. auch Werner Näf, „Staatsverfassungen und Staatstypen 1830/31“, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, 3 (1945), 179 – 204.

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erfüllt“ gewesen wäre und „verfassungsrechtlich die moderne Idee des Verfassungsstaates mit der monarchischen Idee zu verbinden“ gesucht hätte.591 Ich möchte dieser Auffassung die These entgegenstellen, dass aufgrund der Auseinandersetzung mit bestehenden, insbesondere außerdeutschen Verfassungen von Amerika über Frankreich und Cadiz 1812 bis Belgien 1831 ab 1814 die Ideen des modernen Konstitutionalismus nach Deutschland eindrangen und zumal in Kreisen der Liberalen trotz des starren von der Bundesakte des Wiener Kongresses von 1815 und der Wiener Schlussakte von 1820 auferlegten verfassungsrechtlichen Korsetts und der in der Folge damit einhergehenden massiven politischen Pressionen auf die deutschen Mittel- und Kleinstaaten durch Österreich und Preußen592 die Bemühungen beflügelten, Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus allen Widerständen zum Trotz in den Verfassungen dieser Jahre, wo immer es ging, zu verankern. Diese Prinzipien des modernen Konstitutionalismus waren das, was Carl von Rotteck als das „constitutionelle System“ verstand, „so wie es sich seit dem Anbeginn der nordamerikanischen und – für Europa unmittelbar wirksam – der französischen Revolution ausgebildet hat, [und] – in der Theorie vollständig, in der Praxis wenigstens annähernd – übereinstimmend [ist] mit dem System eines rein vernünftigen Staatsrechtes“.593 Es sind diese politischen Rahmenbedingungen, die eine Zeit charakterisieren, in der nach tumultuarischen Unruhen im Tessin im dritten Anlauf im Dezember 1814 die Verabschiedung einer Verfassung gelang, erst nachdem der Vertreter Metternichs dieser Fassung seine Zustimmung gegeben hatte;594 in der bekanntlich 1823 in Spanien die drei Jahre zuvor wieder eingesetzte Cadiz-Verfassung von 1812 der gezielten militärischen Intervention der Heiligen Allianz zum Opfer fiel; in der es im Oktober 1848 erstmals in Deutschland im 19. Jahrhundert eine Verfassung wagte,

591 So Thomas Würtenberger, „Der Konstitutionalismus des Vormärz als Verfassungsbewegung“, in: Der Staat, 37 (1998), 165 – 166. Dort auch weitere Nachweise. 592 Vgl. dazu bezüglich der Zeit der Verfassungsberatungen in Kassel Seier, „Zur Entstehung und Bedeutung der kurhessischen Verfassung von 1831“, 17 – 19, 26 – 31. 593 Carl von Rotteck, „Constitution; Constitutionen; constitutionelles Prinzip und System; constitutionell; anticonstitutionell“, in: Carl von Rotteck u. Carl Welcker (Hrsg.), Das StaatsLexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, III, 519 – 543, hier 522. Als Prinzipien führte Rotteck u. a. auf Menschenrechte, Gewaltentrennung, Repräsentativsystem, Machtbegrenzung, Verantwortlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz (S. 522 – 524). Ebenso bereits in der 1. Aufl. III (1836), 766 – 768. Zöpfl übernahm davon für die konstitutionelle Monarchie Repräsentativsystem, Machtbegrenzung, Verantwortlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz, Heinrich Zöpfl, Grundsaetze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, mit besonderer Rücksicht auf das gemeingültige Recht in Deutschland, nebst einem kurzen Abrisse des deutschen Bundesrechtes und den Grundgesetzen des Deutschen Bundes als Anhang, Heidelberg: C. F. Winter, 31846, 248 – 252. 594 Vgl. Eduard His, Geschichte des neuern Schweizerischen Staatsrechts, 4 Bde., Basel: Helbing & Lichtenhahn, 1920 – 1938, II, 66 – 68.

8. Der moderne Konstitutionalismus und die kurhessische Verfassung von 1831

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sich offen zum Prinzip der Volkssouveränität zu bekennen;595 und in der wenig später eine wohl nicht von ungefähr preisgekrönte Schrift das „Wesen und Unwesen des modernen Constitutionalismus“ anprangerte und Preußen vehement davor warnte, sich seinen Prinzipien zu öffnen.596 Wie bereits im voraufgegangenen Kapitel der Kampf um die Verfassungen der Jahre 1814 – 1824 gezeigt hatte, war die Auseinandersetzung um die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus weder mentalitätsgeschichtlich noch sozialpsychologisch begründet gewesen, sondern vorrangig eine politische Machtfrage, bei dem Bundesakte und Wiener Schlussakte den für alle Mitglieder des Deutschen Bundes verbindlichen Rahmen gesteckt hatten.597 Wie waren angesichts dieser Kneblungen durch die institutionalisierte Restauration jedwede Reform und ein Aufgreifen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus über das bis 1821 erreichte Maß hinaus überhaupt möglich? Eine sorgfältige Lektüre der kurhessischen Verfassung von 1831 offenbart, dass dies, teils auf verschlungenen Wegen, teils verdeckt oder indirekt, sicher mitunter unbefriedigend, aber dennoch tendenziell vorhanden, durchaus geschehen konnte. Von den zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus lassen sich auf diese Weise in der kurhessischen Verfassung ansatzweise bis eindeutig acht nachweisen, mehr als in jeder anderen deutschen Verfassung der Zeit und zweifelsfrei mehr als in dem nicht

595 Verfassungsurkunde für das Herzogtum Anhalt-Köthen vom 28. Oktober 1848, in: Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, I, 175: „§ 4: Die Regierungsform ist die demokratisch-monarchische. § 5: Alle Gewalten gehen vom Volke aus.“ Ebenso in der gleichlautenden Verfassung von Anhalt-Dessau vom 29. Oktober 1848. Mit der Verfassungsrevision vom 15. März 1850 wurde § 4 geändert in: „Die Regierungsform beruhet auf dem Grundsatze der verfassungsmäßigen Theilung der Gewalten zwischen Fürst und Volk.“ § 5 wurde ersatzlos gestrichen. Mit dem Hinweis, dass die Verfassung mit dem Art. 57 der Wiener Schlussakte „insofern in Widerspruch steht, als nach derselben die Regierungsform auf dem Prinzip der Theilung der Gewalten zwischen Fürst und Volk beruht,“ wurde die Verfassung am 8. November 1851 aufgehoben (Gesetzsammlung für das Herzogthum Anhalt-Dessau, V (1850), 1665, VII (1853), 2029). Vgl. dazu auch Heinrich Gräfe, Die Verfassungs-Urkunde des Kurfürstenthums Hessen. Mit geschichtlichen Erläuterungen, so wie mit Hinweisung auf nothwendige oder wünschenswerthe Abänderungen, Kassel: Krieger, 1848, 137: „Die Verfassung Kurhessens galt bisher als die freieste in Deutschland. Gegenwärtig scheint sie aber in wesentlichen Puncten übertroffen werden zu sollen durch die Verfassung, welche im Herzogthum Anhalt-Dessau von der Staatsregierung selbst in Vorschlag gebracht worden.“ Ein zweites Mal findet sich dann das Bekenntnis zur Volkssouveränität im Kremsierer Grundrechtsentwurf vom 23. Dezember 1848, § 1 (Verfassungsdokumente Österreichs, Ungarns und Liechtensteins 1791 – 1849, hrg. v. Ilse Reiter, András Cieger und Paul Vogt, München: Saur, 2005, 41). 596 [Johann Friedrich Christian Budy,] Wesen und Unwesen des modernen Constitutionalismus, seine Untauglichkeit für Preussen, nebst Vorschlägen zur Abänderung der Verfassung. Ein Buch für Fürsten und Volk, Stettin: Schneider, 31852. Dazu oben ausführlich Kap. I. 1. 597 „Für die deutschen Staaten ist die Untheilbarkeit der Staatsgewalt durch Art. 57 der W. S. A. positiv sanctionirt“ (Zöpfl, Grundsaetze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 192).

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zum Tragen gekommenen Verfassungsentwurf von 1816, in dem sich kein einziges findet. Offensichtlich, nach dem vorher Gesagten, wird man in einer deutschen Verfassung dieser Zeit nicht nach einem Bekenntnis zur Volkssouveränität suchen,598 ebenso wenig nach einem legitimierenden Rekurs auf universelle Prinzipien, sei es des Naturrechts, der Philosophie oder des Universalismus späterer Zeiten. Obwohl sich Menschenrechte durchaus verankert finden,599 ähnlich wie in der belgischen Verfassung von 1831, aber im Unterschied zur französischen Charte von 1830 und auch zur Cadiz-Verfassung von 1812, bedeutet dies in der Konsequenz, dass diese Rechte nicht als angeboren und unveräußerlich, sondern als verliehen, also staatlich gewährt galten.600 Folglich wurden sie in der Regel nicht als Menschenrechte, sondern als Staatsbürgerrechte bezeichnet oder, so der Abschnitt III der kurhessischen Verfassung, „Von den Rechten und Pflichten der Unterthanen“ gesprochen.601 Ein derartiger Abschnitt rangierte üblicherweise an einer prominenten Stelle, hier 598

Vgl. jedoch Freimund, Kritische Bemerkungen über die churhessische Verfassungsurkunde, 64: „[Eine Staatsverfassung] muß aus dem Volke selbst hervorgehen und dieses muß an seiner Ausarbeitung Antheil haben.“ 599 Vgl. dazu Sylvester Jordan, „Ueber die Grundsätze, von welchen bei der Abfassung der churhessischen Verfassungsurkunde ausgegangen ward“, in: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, hrg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Jg. 1832, I, Leipzig: Hinrichs, [1832], 200 – 202. Dazu auch Hellmut Seier, Sylvester Jordan und die Kurhessische Verfassung von 1831. Festschrift anlässlich der Gedenkfeier für Sylvester Jordan am 31. Oktober 1981, Marburg: Presseamt der Stadt Marburg, 1981, bes. 15 – 18. 600 Vgl. dazu etwa Johann Ludwig Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt/M.: Andreä, 31831, 638 – 639; Wilhelm Traugott Krug, Dikäopolitik oder neue Restaurazion der Staatswissenschaft mittels des Rechtsgesetzes, Leipzig: Hartmann, 1824, 140 – 161; Zöpfl, Grundsaetze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 210 – 213. Bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, 5 Bde., Leipzig: Hinrichs, 21827 – 1828, I, 94 – 95, 378, kommen die „ursprünglichen Rechte des Menschen“ noch vor, obwohl er auch formuliert: „Das angewandte Naturrecht enthält die wissenschaftliche Darstellung der erworbenen Rechte des Menschen.“ Die eigentliche wissenschaftliche Auseinandersetzung um „erworbene“ und „ererbte“ Rechte des Menschen fällt in Deutschland im Zeichen des Rechtspositivismus erst in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, vgl. Horst Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip. 1994, 72 – 73. Dort mit weiteren Literaturnachweisen. 601 In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich in der Tat um staatsbürgerliche Rechte, jedoch finden sich in der kurhessischen Verfassung auch eindeutige Menschenrechtsbestimmungen, z. B.: „Jedem Einwohner stehet vollkommene Freiheit des Gewissens und der Religions-Uebung zu“ (§ 30); „Die Freiheit der Person und des Eigenthums unterliegt keiner anderen Beschränkung, als welche das Recht und die Gesetze bestimmen“ (§ 31); „Niemand kann wegen der freien Aeuserung bloser Meinungen zur Verantwortung gezogen werden“ (§ 39); ferner die Bestimmungen über Pressefreiheit, Briefgeheimnis, Auswanderung (§ 37, 38, 41), Klagerecht, Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Hausdurchsuchung, Recht auf Freilassung gegen Stellung einer Kaution und auf Verteidigung (§§ 113 – 118) u. a. (Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 32 – 34, 44 – 45). Zumal die Formulierungen der zuletzt erwähnten Paragraphen entsprechen durchaus jenen in den Menschenrechtserklärungen amerikanischer Bundesstaaten.

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nach Staatsgebiet und Landesfürst, und war mit 23 Artikeln nach dem Abschnitt über die Landstände der umfangreichste der kurhessischen Verfassung.602 Zusätzlich wurde er noch durch weitere Artikel ergänzt, die sich im Abschnitt über die Rechtspflege fanden mit Bestimmungen, die in anderen Verfassungen, wenn sie denn dort überhaupt auftauchten, dann im allgemeinen unter den Menschenrechten subsumiert wurden. Noch bemerkenswerter erscheint, dass der dritte Abschnitt zwar rhetorisch den üblichen konservativen Vorbehalt aufgriff und wie die französische Verfassung des Jahres III (1795), die dies erstmals getan hatte, von den „Rechten und Pflichten“ sprach, anders als in dieser hier aber Pflichten kaum aufgelistet wurden, sieht man einmal von dem Huldigungseid (§ 21) und der Verpflichtung zur Landesverteidigung im Kriegsfall (§ 40) ab, die zuvor bereits die bayrische Verfassung von 1818 und die Cadiz-Verfassung kannten. Über die württembergische und hessen-darmstädtische Verfassung hinausgehend waren hingegen das Briefgeheimnis (§ 38) und die Freiheit der Meinungsäußerung (§ 39) verankert. In den §§ 112 – 131 wurden zusätzlich weitere grundlegende Rechte in Haft Genommener festgehalten, die sich größtenteils in dieser Form in keiner der beiden anderen Verfassungen fanden. Insgesamt kann also der Menschenrechtskatalog der hessen-kasselschen Verfassung als durchaus beachtlich eingestuft werden,603 selbst wenn einschränkend festgestellt werden muss, dass mit ihm die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden nicht erreicht wurde (§ 29).604 Ungleich schwieriger als verbreitet akzeptierte Menschenrechtsgrundsätze waren jedoch die Prinzipien der Machtbegrenzung und der Gewaltentrennung zu verwirklichen gewesen. Der Art. 57 der Wiener Schlussakte, der „die gesammte StaatsGewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt“ und lediglich „in der Ausübung bestimmter Rechte […] die Mitwirkung der Stände“ zugelassen hatte, erschien hier als nahezu unüberwindliches Bollwerk.605 Was für Konservative wie gemäßigte Liberale damit als unverrückbare Doktrin erschien, hatte für demokratische Liberale, 602 Als Fallstudie vgl. dazu Roger Mann, Die Garantie der Pressefreiheit unter der Kurhessischen Verfassung von 1831, Frankfurt/M.: Lang, 1993. 603 Vgl. dazu: „Indessen gewährt die Beschaffenheit der Freiheit und Sicherheit der Person und des Eigenthumes einen vorzüglich sichern Maaßstab zur Beurtheilung der Vollkommenheit eines wirklichen Staates“ (Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 94). 604 Dahingehende Vorstöße, u. a. die Bittschrift der Israeliten an die Landstände vom 2. 12. 1830 (Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 17, 18. Januar 1831, Sp. 243 – 245) und das Schreiben von Baron Amschel Mayer von Rothschild vom 21. 12. 1830 (Akten und Briefe aus den Anfängen der kurhessischen Verfassungszeit 1830 – 1837, hrg. v. Grothe u. Seier, 95 – 96) wurden im Landtag unterstützt, fanden aber keine Mehrheit. 605 Vgl. dazu das von Klüber zitierte Protokoll der Bundesversammlung vom 16. August 1824, wonach „in allen Bundesstaaten, wo landständische Verfassungen bestehen, darüber gewacht werden solle, damit in der Ausübung der den Ständen durch die landständischen Verfassungen zugestandenen Rechte, das monarchische Princip unverletzt erhalten bleibe“ (Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 378, auch 101 – 103, 377). Die kurhessische Verfassung war die erste, in der der Art. 57 der Wiener Schlussakte nachhaltig relevant wurde. Bei Klüber spielte der Artikel 1831 praktisch noch keine Rolle.

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vielfach inspiriert durch entsprechende außerdeutsche Entwicklungen und Argumentationen, längst seine Bedeutung verloren. So hatte Carl von Rotteck 1830 in seinem Lehrbuch des allgemeinen Staatsrechts geschrieben: „Nach dem Prinzip der Repräsentativ-Verfassung“ – und als solche galten ihm „Landstände im Sinne eines geläuterten, vernünftigen Staatsrechts“ – „theilen sich König und Landtag in die allgemeine Staatsgewalt und derselben verschiedene Zweige […] und eine Vereinigung aller Staatsgewalt in der Person des Monarchen ist hiernach nur in dem Sinne noch anzuerkennen, daß alle übertragene Gewalt, nicht aber daß alle Gewalt überhaupt dem Monarchen zustehe.“606 Diese Fundamentalauseinandersetzung des Vormärz um das sog. Monarchische Prinzip oszillierte in der kurhessischen Verfassung von 1831. Im Kern ging es um jene „Mitwirkung der Stände“ bei „der Ausübung bestimmter Rechte“, die die Wiener Schlussakte ausschließlich zugelassen hatte. Anders als einige frühe Ordnungen, die sich auf die Regelung der Landstände und ihrer Befugnisse beschränkt hatten, waren Württemberg und Hessen-Darmstadt dem Beispiel Bayerns und Badens gefolgt und hatten die Position bezogen, dass die Verfassung die „Bestimmungen“ definiert hatte, laut denen der Fürst die Staatsgewalt ausübte.607 So lange kein Verfassungsbruch vorlag, über den etwa die hessen-darmstädtischen Landstände zwar eine Beschwerde vorbringen, aber nicht rechtsgültig befinden konnten,608 war das Handeln des Fürsten per definitionem legitimiert. Von dieser auf den Fürsten fixierten Rechtsposition wich die Verfassung Coburg-Saalfelds inhaltlich nicht ab, wenn sie feststellte, dass es ohnehin die vom Fürsten selbst gegebenen Bestimmungen waren, nach denen er die Staatsgewalt ausübte.609 Der § 10 der hessen-kasselschen Verfassung hatte radikal mit diesen Regelungen gebrochen. Zwar hieß es getreu der Wiener Schlussakte auch hier, dass der Kurfürst alle Rechte der Staatsgewalt in sich vereinige, fuhr aber danach fort, „und übt sie auf verfassungsmäsige Weise aus“.610 Diese deutlich über die süddeutschen Verfassungen hinausgehende Formulierung ist in vieler Hinsicht bemerkenswert und für den Gesamtcharakter der Verfassung entscheidend. Indem sie auf den Rekurs auf 606

Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, II, 225, 233. Vgl. Bayerische Verfassungsurkunde vom 26. 5. 1818, Tl. II, § 1, Badische Verfassungsurkunde vom 22.8. 1818, § 5, Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. 9. 1819, § 4, und Verfassungsurkunde des Großherzogtums Hessen vom 17. 12. 1820, Art. 4, alle in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, II, 16, I, 193, VI, 278, III, 223. Auch in dem Konstitutionsentwurf des landständischen Verfassungsausschusses vom 25. 11. 1830 hatte es noch in § 9 gehießen „[…] und übt sie unter den durch die Verfassung festgesetzten Bestimmungen aus“ (Akten und Briefe aus den Anfängen der kurhessischen Verfassungszeit 1830 – 1837, hrg. v. Grothe u. Seier, 75). 608 Vgl. Verfassungsurkunde des Großherzogtums Hessen vom 17. 12. 1820, Art. 66, 72, 73, 76, 79, 80, in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, III, 230 – 231. 609 Verfassung des Herzogtums Coburg-Saalfeld vom 8. 8. 1821, § 3, ebd., V, 283. 610 Verfassungs-Urkunde vom 5ten Januar 1831, ebd., IV, 31. Nachfolgend ebenso in Neue Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig vom 12. Oktober 1832, § 3, ebd., II, 245. 607

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normative Bestimmungen, wie immer diese zustande gekommen sein mochten, verzichtete und als legitimatorische Basis für fürstliches Handeln allein die Verfassungsgemäßheit postulierte, wurde diese Verfassungsgemäßheit und damit die Verfassung selbst zur obersten Richtschnur staatlichen Handelns, wobei zugleich die Interpretationshoheit über die Auslegung der Verfassung den bestehenden Gewalten entzogen und einem eigens dafür eingerichteten „Kompromiß-Gericht“ übertragen worden war (§ 154), das zu gleichen Teilen von Landständen und Kurfürst beschickt und dessen Vorsitz durch Los bestimmt wurde.611 Stärker noch als in Württemberg mit seinem „Staats-Gerichtshof“ vermochte mithin allein die Verfassung staatliches Handeln zu legitimieren, über oder außerhalb der keine weitere Norm anerkannt wurde. Der damit vom Prinzip her eingeführte moderne Grundsatz der Suprematie der Verfassung – auch wenn die Verfassungswidrigkeit und ihre Konsequenzen noch nicht thematisiert wurden – hatte sich zuvor bereits in dem kaum weniger singulären § 6 niedergeschlagen. Dass der Erbnachfolger des regierenden Fürsten bei Regierungsantritt die Befolgung der Verfassung geloben musste, hatte zwar bereits die württembergische Verfassung vorgesehen (§ 10), doch hieß es in der kurhessischen Verfassung ungleich stringenter, dass die versammelten Landstände erst dem neuen Fürsten huldigen würden, nachdem dieser sich gegenüber den Landständen schriftlich verpflichtet hatte, gemäß der Verfassung zu regieren. Zur Legitimation der Monarchie durch Erbfolge war damit gleichberechtigt die Anerkennung der Verfassung als höchster Rechtssatzung des Staates getreten.612 Noch zwei weitere Grundsätze des modernen Konstitutionalismus waren in dem unscheinbaren § 10 verankert. Bereits Friedrich Murhard hatte in Abwandlung der Auffassung Rottecks auf den inneren Widerspruch zwischen den durch den in Art. 13 der Bundesakte angeordneten Landständen einerseits und dem Art. 57 der Wiener Schlussakte andererseits hingewiesen, da doch durch die Gewährung verfassungsmäßiger Rechte an die Landstände automatisch der fürstlichen Allgewalt Grenzen gesetzt seien.613 Dieses Prinzip der im modernen Konstitutionalismus durch die Verfassung immanent bedingten Machtbegrenzung war für Murhard gerade aufgrund der logischen Widersinnigkeit der Schlussakte klar in § 10 verankert: „Ist 611

Vgl. die Begründung dazu in Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 110. Vgl. ergänzend § 90 der Verfassungs-Urkunde und ausführlich dazu Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, I, 153 – 171. Auch Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 306 – 311. Vgl. ansatzweise Frotscher u. Volkmann, „Geburtswehen des modernen Verfassungsstaates“, 27. 613 Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, I, 308 – 234. Es erscheint fraglich, ob Jordan dieser Formulierung zugestimmt hätte, vgl. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 147 – 150; ders., Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts, Kassel: Krieger, 1831, I, 388. Vgl. auch Werner Kaiser, Sylvester Jordan – seine Staatsauffassung und sein Einfluß auf die kurhessische Verfassungsurkunde vom 5. Januar 1831, Diss. phil. U. Leipzig, Dresden: Dittert, 1936, 30. Zöpfl hingegen argumentierte später, dass „die höchste Gewalt im Staate“ keine „schrankenlose Gewalt“ sei, da „ihr Umfang durch ihren Begriff als rechtliche Gewalt selbst begränzt“ sei (Zöpfl, Grundsaetze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 92, vgl. auch ebd., 246). 612

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jedoch der Regent in Ausübung der Hoheitsrechte durch die Reichsgrundgesetze beschränkt, so kann seine Souverainität nur eine beschränkte seyn, eben weil seine Gewalt in konstitutionelle Gränzen eingewiesen ist.“614 Folglich waren auch Klagen Einzelner, von Körperschaften oder den Landständen gegen den Staat zulässig.615 Der dritte, in nuce in § 10 enthaltene Grundsatz des modernen Konstitutionalismus ist der der Gewaltentrennung. Wenn die in Art. 57 der Wiener Schlussakte enthaltene Bestimmung der Vereinigung aller Staatsgewalt in der Hand des Fürsten aufgrund der mit verfassungsmäßigen Rechten ausgestatteten Landstände absurd und das daran geknüpfte sog. Monarchische Prinzip laut Rotteck eine „unhaltbare“ Doktrin war,616 dann musste dieser § 10 in Einklang mit der Verfassungsrealität, so Heinrich Gräfe 1848, eigentlich wie folgt heißen: „Der Kurfürst ist das Oberhaupt des Staates. Er übt in verfassungsmäßiger Weise die gesetzgebende Gewalt nur im Einverständniß mit den Ständen, die vollziehende Gewalt aber allein durch die Minister und Staatsbehörden nach den Gesetzen des Landes aus.“617 Die Verfassung 614

Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, I, 210. Ähnlich zuvor schon in ders., Die Initiative bei der Gesetzgebung. Beleuchtung der Frage: „Wer soll die Gesetze vorschlagen in der Staatsgesellschaft?“. Nebst einem Anhange: Von der Uebung des Petitionsrechts durch öffentliche Volksversammlungen und freie Vereine, Kassel: Bohné, 1833, 3 – 4. Noch grundsätzlicher zuvor bereits Struve, Commentar zu dem Entwurfe eines Staatsgrundgesetzes für das Königreich Hannover, II, 3 – 7. Der Sache nach ansatzweise ähnlich heute, doch ohne die kurhessische Verfassung, Struve oder Murhard zu erwähnen, Stefan Korioth, „ ,Monarchisches Prinzip’ und Gewaltenteilung – unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus“, in: Der Staat, 37, 1998, 27 – 55. Zur Diskussion um den Art. 57 und das Monarchische Prinzip, vgl. Andreas Wasielewski, Der Kurhessische Verfassungskonflikt von 1850 in der Bewertung des Deutschen Konstitutionalismus, Kassel: Verein für Hesssiche Geschichte und Landeskunde, 1990, 152 – 156. Zur Widersprüchlichkeit des Art. 57 der Wiener Schlussakte, vgl. auch Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, Frankfurt/M.: Lang, 1979, 229 – 238. 615 Vgl. „Niemand kann an der Betretung und Verfolgung des Rechtsweges vor den Landesgerichten gehindert werden“ (§ 113); „Gemeinden und Körperschaften bedürfen zu einer Klage gegen den Staats-Anwalt […] nicht der Ermächtigung einer Verwaltungs-Behörde“ (§ 125); „Eine gerichtliche Untersuchung, welche wegen Dienstvergehungen von den Landständen oder deren Ausschusse veranlasst, oder von der dem angeschuldigten Staatsdiener vorgesetzten Behörde oder dem oberen Gerichte eingeleitet oder angemessen befunden wird, wird niemals im Wege der Gnade niedergeschlagen werden“ (§ 126) (Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 44 – 46). 616 Carl von Rotteck, „Monarchie; monarchisches System; monarchisches Prinzip; Monarchismus“, in: ders. u. Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon, IX, 173, insges. 161 – 174. 617 Gräfe, Verfassungs-Urkunde, 71. Sylvester Jordan hätte dem kaum widersprochen, betonte er doch die Trennung und notwendige Unabhängigkeit der drei Gewalten voneinander, um zugleich festzustellen, dass sie jedoch Ausdruck der inneren Einheit des Staates als Verwirklichung des Gesetzes seien und damit ihren Ausgangspunkt von der „regierenden Gewalt“ nähmen, die das „zuerst und zulezt wirksame Princip im Staate“ verkörpere, Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 220 – 221, insges. 213 – 234. Auch ders., Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts, I, 53 – 54. Jordan folgte in dieser Auffassung im wesentlichen Krug, Dikäopolitik, 199 – 216.

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selbst hatte der mit dieser Feststellung zum Ausdruck gebrachten Gewaltentrennung durchaus mit den Abschnitten VII, VIII und IX entsprochen, die, deutlich voneinander getrennt, von den legislativen, exekutiven und judikativen Funktionen des Staates handelten, statt sie im Sinne des rhetorischen Postulats von § 10 als Ausdruck ein und derselben Obergewalt zu behandeln. Mochte dabei auch die Legislative an den englischen Grundsatz vom King in Parliament erinnern, war doch für eine strikte Trennung zwischen Exekutive und Judikative gesorgt (§ 112) und dem Landesherrn lediglich ein eingeschränktes Gnadenrecht gewährt (§ 126).618 Selbst wenn die Begriffe nicht auftauchten, können mithin zumindest im Ansatz Suprematie der Verfassung, Machtbegrenzung und Gewaltentrennung als Prinzipien der kurhessischen Verfassung gelten. Ähnliches lässt sich von dem Grundsatz der „repräsentativen Regierungsform“ sagen, die für Sylvester Jordan „relativ beste Staatsform“ in der konstitutionellen Monarchie.619 Justus Freimund, der von dem Modellcharakter der kurhessischen Verfassung für Sachsen überzeugt war, plädierte vehement gegen ein Zweikammernsystem mit einer ersten Kammer, die „das aristokratische Princip“ verkörpere, „das sich gegen den Zeitgeist d. h. gegen die Vervollkommnung der Staatseinrichtungen“ stemme und damit verhindere, „daß das Recht unter Gesetzen zur durchgängigen Herrschaft erhoben werde“. Vorzuziehen sei dagegen die in dem hessen-kasselschen Einkammersystem erreichte „Verschmelzung der Stände, der Ansichten und Interessen“.620 Tatsächlich war, nicht nur nach der berühmten Definition von Friedrich Gentz,621 die raison d’être der landständischen Verfassung die Negation des Repräsentativsystems gewesen, indem eben nicht ein als Gesamtheit verstandenes „Volk“ „in letzter Instanz auf dem verkehrten Begriff von einer obersten Souveränetät des Volks“ repräsentiert werden sollte, sondern die traditionell bestehenden unterschiedlichen Stände gemäß ihrer Bedeutung, will sagen mit einem Übergewicht des Adels und gemäß der Bundesakte unter Berücksichtigung des mediatisierten vormaligen Reichsadels, aufgrund „der unvertilgbaren, von Gott selbst gestifteten Standes- und Rechtsunterschiede“ vertreten sein sollten.622 Die kurhessische Ver618

Vgl. dazu Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, II, 475 – 478, unter anderem mit dem Hinweis auf den Entwurf von 1816, und Gräfe, Verfassungs-Urkunde, 126, der es weder für notwendig noch für angebracht hielt, Erläuterungen oder Änderungsvorschläge zu § 112 anzubringen. 619 Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, 177, vgl. insges. 176 – 193; ders., Lehrbuch des allgemeinen und deutschen Staatsrechts, I, 49. 620 Freimund, Kritische Bemerkungen über die churhessische Verfassungsurkunde, 65, 66. Vgl. dazu auch Jordan, „Ueber die Grundsätze bei der Abfassung der churhessischen Verfassungsurkunde“, 213 – 215. 621 Friedrich von Gentz, „Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen“ [1819], in: Johann Ludwig Klüber u. Carl Welcker, Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, Mannheim: Bassermann, 1844, 220 – 229. 622 Ebd., 222. Vgl. ausführlich dazu Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflussfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied – Berlin: Luchterhand, 1968; Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf:

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fassung übernahm hingegen zumindest indirekt von der Cadiz-Verfassung den revolutionären Gedanken der Nationalrepräsentation623 und folgte dieser in der Einrichtung nur einer einzigen Kammer, der zehn bis elf geborene Mitglieder und 42 gewählte Abgeordnete angehörten, von denen laut Weitzel und mit ihm Murhard die 32 Abgeordneten von Stadt und Land „die eigentliche Volksvertretung“ ausmachten.624 Indem die Abgeordneten „nicht an Vorschriften eines Auftrages gebunden“ waren, sondern ihr Abstimmungsverhalten allein danach ausrichteten, „wie sie es vor Gott und ihrem Gewissen zu verantworten gedenken“,625 konnten sie als frei gewählte Repräsentanten der Nation gelten, die nicht an das Partikularinteresse ihres Standes gebunden waren. Murhard war daher zu den Ergebnis gekommen, dass „Kurhessen den Charakter eines Repräsentativstaates erhalten“ hatte,626 ein Charakter, der noch dadurch unterstrichen wurde, dass, anders als in fast allen voraufgegangenen Verfassungen anderer deutscher Staaten, die Landstände nicht nur das Recht der Gesetzesinitiative hatten (§ 97), sondern eindeutig festgestellt wurde: „Ohne ihre [d. h. der Landstände] Beistimmung kann kein Gesetz gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden. Im Eingange eines jeden Gesetzes ist der landständischen Zustimmung ausdrücklich zu erwähnen.“627 Droste, 1975; Volker Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland. Untersuchung zur Bedeutung und theoretischen Bestimmung der Repräsentation in der liberalen Staatslehre des Vormärz, der Theorie des Rechtspositivismus und der Weimarer Staatslehre, Berlin: Duncker & Humblot, 1979; Jacky Hummel, Le Constitutionnalisme allemand (1815 – 1918): Le modèle allemand de la monarchie limitée, Paris: Presses Universitaires de France, 2002; Kersten Krüger, Die Landständische Verfassung, München: Oldenbourg, 2003, bes. 36 – 39. Vgl. dazu auch Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 337. 623 Die Cadiz-Verfassung war im liberalen Europa der 1820er und 1830er Jahre das berühmteste, auch von Murhard mehrfach angesprochene Beispiel für ein Einkammerparlament in einem größeren Staat, vgl. dazu oben Kap. VI. 3. und VI. 4. Rotteck setzte die „Landstände im Sinne eines geläuterten, vernünftigen Staatsrechts“ mit Begriffen wie „Versammlung der VolksDeputirten“, „Parlament“ und „National-Repräsentation“ gleich (Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, II, 225, 226). 624 Johann Weitzel, „Ueber die churhessische Verfassung von 1831“, in: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst, hrg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Jg. 1831, I, Leipzig: Hinrichs, [1831], 391; Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, II, 168 – 169. 625 Verfassungs-Urkunde vom 5ten Januar 1831, § 73, in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 39. 626 Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, II, 162, vgl. auch 316 – 324. Auch Zöpfl sprach von einer „Repräsentativ-Verfassung“, Heinrich Zöpfl, „Uebersicht der landständischen Verhandlungen in Kurhessen während der Jahre 1830 – 1832“, in: Allgemeine politische Annalen, NF. 11 (1832), 12. Vgl. dazu auch Brandt, Landständische Repräsentation, 266 – 268. Dass dieser „Repräsentativstaat“ für Murhard Ausdruck der „Volkssouveränität“ war, ja wollte er „Rechtsstaat“ sein, auch sein musste, war für ihn unabweisbar, vgl. Friedrich Murhard, Die Volkssouverainität im Gegensatz der sogenannten Legitimität, Kassel; Bohné, 1832, 40. Ähnlich auch in ders., Das königliche Veto. Eine wichtige Aufgabe in der Staatslehre der konstitutionellen Monarchie, Kassel: Bohné, 1832, vii – viii. 627 Verfassungs-Urkunde vom 5ten Januar 1831, § 95, in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 41 – 42. Die württembergische Verfassung von 1819, § 88, kannte nur den

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Ein weiteres der zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus war die Verantwortlichkeit der Regierenden. Eine der am meisten zitierten Bestimmungen der Rechteerklärung von Virginia von 1776 lautete: „Dass alle Gewalt dem Volk verliehen ist und folglich von ihm ausgeht; dass Amtsträger seine Treuhänder und Diener sind und ihm zu allen Zeiten verantwortlich sind.“628 In der kurhessischen Verfassung hieß der zweite Teil des Satzes ebenso schlicht wie singulär: „Ein jeder Staatsdiener bleibt hinsichtlich seiner Amtsverrichtungen verantwortlich.“629 Zeitgenossen erschien diese Bestimmung über die Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht der in Regierung und Verwaltung Tätigen eines der Glanzlichter der Verfassung. Murhard kommentierte den Paragraphen ausführlich unter mehrfachem Verweis auf Amerika,630 Paulus war voll des Lobes,631 und Gräfe wusste ihm auch 1848 nichts hinzuzufügen. Der Verfassung war diese Verantwortlichkeit derart wichtig, dass sie in anderen Zusammenhängen insgesamt noch dreimal auf sie zurückkam (§§ 100, 102, 108) und dabei in einer ungewöhnlichen Formulierung festhielt, dass die Landstände „befugt, aber auch verpflichtet“ seien, Minister und ihre Stellvertreter, die „sich einer Verletzung der Verfassung schuldig gemacht“ hatten, vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen,632 eine Bestimmung, die in der Folgezeit zu sich häufenden Anklagen und politischen Krisen führen sollte. Angesichts dieser bemerkenswerten Häufung in der Übernahme der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus überrascht es nicht, in der kurhessischen Verfassung auch den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz (§ 123) und der Revision der Verfassung durch die Landstände (§ 153) verankert zu finden.633 Auch in diesem Fall muss wiederum betont werden, dass beide Prinzipien in den voraufgegangenen deutschen Verfassungen, wenn überhaupt, dann meist nur mit Einschränkungen und ohne die Klarheit des hessen-kasselschen Dokuments ausgedrückt waren.634 Diese ersten Satz, ebd., VI, 286. Vgl. ergänzend zu § 95 der kurhessischen Verfassung ihren § 108: „Der Vorstand eines jeden Ministerial-Departements hat die, vom Regenten in Bezug auf die Regierung und Verwaltung des Staates ausgehenden, Anordnungen und Verfügungen, welche in sein Departement einschlagen, zum Zeichen, daß die betreffende Angelegenheit auf verfassungsmäsige Weise behandelt worden sey, zu kontrasigniren, und ist für die Verfassungs- und Gesetzmäsigkeit ihres Inhalts persönlich verantwortlich“ (ebd., IV, 43). 628 Rechteerklärung von Virginia von 1776, Abs. 2, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153. 629 Verfassungs-Urkunde vom 5ten Januar 1831, § 61, in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 36. 630 Murhard, Die kurhessische Verfassungs-Urkunde, II, 134 – 153. 631 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus, „Denkwürdige Sätze aus der Hessencasselischen Verfassungs-Urkunde vom 5. Januar 1831“, in: Sophronizon, 13/2 (1831), 33. 632 Verfassungs-Urkunde vom 5ten Januar 1831, § 100, in: Deutsche Verfassungsdokumente, hrg. v. Heun, IV, 42. 633 Zum letzteren, vgl. Jordan, „Ueber die Grundsätze bei der Abfassung der churhessischen Verfassungsurkunde“, 219 – 220. 634 Vgl. dazu Karl Heinrich Ludwig Pölitz, „Geschichtlich-politische Andeutungen über die neue Verfassung des Churstaates Hessen vom 5. Januar 1831“, in: Jahrbücher der Geschichte

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hinderte einen zeitgenössischen Kritiker gleichwohl nicht an dem Hinweis, dass „die Verfassung der spanischen Cortes eine empfehlenswerthere Bestimmung“ zur Revision der Verfassung enthalten habe.635 Es mag dahingestellt sein, ob Pölitz, der bekanntlich eine Vorliebe für die britische Verfassung hatte und als gemäßigter Liberaler nicht zu der von Rotteck und Murhard vertretenen Linie eines demokratischen Liberalismus zählte,636 wirklich diese Übernahme der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus meinte, als er von den „höchst zeitgemäßen und echt constitutionellen Hauptbestimmungen“ der kurhessischen Verfassung sprach.637 Auch Weitzel hatte diese wohl nicht konkret vor Augen, als er in einer durchaus europäischen Perspektive zu dem Ergebnis kam, dass die kurhessische Verfassung „ein bedeutender Fortschritt auf der constitutionellen Bahn“ sei.638 Dass es aber genau diese waren, die im Zeichen der Reaktion am 27. März 1852 zu dem Beschluss der Bundesversammlung führten, dass die kurhessische Verfassung von 1831 mit den Grundgesetzen des Deutschen Bundes unvereinbar sei, kann angesichts der Tatsache, dass es sich bei den im besonderen inkriminierten Paragraphen der Verfassung durchweg genau um jene handelte, die hier behandelt worden sind, auch ohne ihre ausdrückliche Erwähnung keinem ernsthaften Zweifel unterliegen.639 Selbst wenn ihre Anhänger im Kreise des liberalen Bürgertums, nicht zuletzt wohl auch ein wenig geblendet von dem Anblick ihrer „Goldgrube“,640 entweder nicht so recht zu benennen vermochten, was denn jenseits individueller Bestimmungen das und Staatskunst, hrg. v. dems., Jg. 1831, I, Leipzig: Hinrichs, [1831], 243, der ausdrücklich die Klarheit der Sprache der Verfassung rühmt. 635 „Ueber die kurhessische Verfassungsurkunde“, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 40, 10. Februar 1831, Sp. 566. 636 Vgl. dazu oben Kap. VI. 3. 637 Pölitz, „Geschichtlich-politische Andeutungen über die neue Verfassung des Churstaates Hessen“, 245. Vgl. ähnlich „Die kurhessische Verfassung vom 5. Jan. 1831“, in: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen, Nr. 54, 24. Februar 1831, Sp. 767. 638 Weitzel, „Ueber die churhessische Verfassung von 1831“, 411. 639 Vgl. dazu Herr Uhden und die kurhessische Verfassung. Eine Appellation an die Hohe Deutsche Bundesversammlung, 2. Abdruck, Leipzig: Veit & Comp., 1859. Zu dem Verfassungskonflikt von 1850 und 1852 und den Folgen, vgl. Ulrich von Nathusius, Kurfürst, Regierung und Landtag im Dauerkonflikt. Studien zur Verfassungsgeschichte Kurhessens in der Reaktionszeit (1850 – 1859), Kassel: Verein für hessische Geschichte und Landeskunde, 1996, 450 – 451; Wasielewski, Der Kurhessische Verfassungskonflikt, 41 – 67. 640 Vgl. u. a. Siegmund Martin, Ueber die Verfassungs-Urkunde Kurhessens. Einige Worte an meine Mitbürger, Kassel: Bohné, 1831, 3, 11; Kurzgefaßter Inhalt der Kurhessischen Landesverfassung für den Bürger und Bauer, wie er es leicht verstehen kann, Hanau: Friedrich König, 1831, in: Rainer Polley, Die Kurhessische Verfassung von 1831, Marburg: Trautvetter & Fischer, 1981, 9 – 24; etwas kritischer Drei Worte zur kurhessischen Verfassungs-Urkunde vom 5. Januar 1831; allen Kurhessen und allen Katholiken der oberrheinischen Kirchenprovinz gewidmet von einem kurhessischen Staatsbürger zu Fulda (einem Laien), Würzburg: Etlinger, 1831, 3; Pölitz, Andeutungen über den Charakter des Grundgesetzes für das Herzogthum Sachsen-Altenburg, 133.

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Herausragende der kurhessischen Verfassung sei, oder sie es wie der kurhessische Oberappellationsgerichtsrat Pfeiffer vehement bestritten, dass die Verfassung „nach ihrer materiellen Ausbildung nur das Erzeugniß der neueren Staatsrechts-Theorieen“ sei,641 war ihren Gegnern, auch wenn diese durchweg kaum sicherer in der Terminologie waren, nur zu bewusst, dass es genau diese „neueren Staatsrechts-Theorieen“, sprich die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus waren, die hier auf breiter Front in eine deutsche Verfassung Eingang gefunden hatten. Mit der Umsetzung eben dieser Prinzipien in der kurhessischen Verfassung von 1831 hatte der moderne Konstitutionalismus in Deutschland vor der Revolution von 1848 seinen singulären Höhepunkt erreicht. Erst mit dem Kremsierer Grundrechte- und Verfassungsentwurf vom 12. Dezember 1848 bzw. 4. März1849 und der Verfassung der Römischen Republik vom 1. Juli 1849 sollten die kurhessische Verfassung in dieser Hinsicht noch übertroffen werden und alle zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in europäischen Verfassungsdokumenten Eingang finden.

9. Das Paulskirchenparlament 1848/49 auf der Suche nach einem Mandat: Verfassungsgebung ohne pouvoir constituant642 Dass die Ereignisse im März 1848 sehr rasch zur Einberufung des Paulskirchenparlaments führten, hat die Geschichtsschreibung hinreichend dargelegt. Doch wenn wir fragen, mit welchem Mandat diese Versammlung ausgestattet war, müssen wir feststellen, dass darüber weder auf dem Weg ihrer Einberufung hinreichende Klarheit herrschte, noch dass die Versammlung, einmal zusammengetreten, sich selbst ein in den eigenen Reihen allseits akzeptiertes Mandat zuschrieb, sondern dies erst im Laufe der kommenden Wochen schrittweise entwickelte, wobei diese Selbstzuschreibung in der Folge innerhalb wie außerhalb der Paulskirche höchst umstritten blieb. Das Unvermögen, über ihr Mandat einen allseits akzeptierten Konsens herzustellen, trug damit den Keim des letztlichen Scheiterns der Paulskirche von Anbeginn in sich. Bevor wir in die Untersuchung der Entwicklung der Mandatsproblematik im Frühjahr 1848 eintreten, wird es hilfreich sein, sich über die theoretisch zur Verfügung stehenden institutionellen Möglichkeiten Klarheit zu schaffen. Dabei mag die Frage, ob die Paulskirche eher ein Verfassungskonvent oder eine konstituierende Nationalversammlung gewesen sei, ungewöhnlich klingen, doch impliziert sie drei Fragestellungen von weitreichender verfassungsgeschichtlicher Bedeutung. Die 641

Burkhard Wilhelm Pfeiffer, Geschichte der landständischen Verfassung in Kurhessen. Ein Beitrag zur Würdigung der neueren teutschen Verfassungen überhaupt, Kassel: Krieger, 1834, iii. 642 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Das Paulskirchenparlament 1848/49: Verfassungskonvent oder Konstituierende Nationalversammlung?“, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N.F. 48 (2000), 1 – 23.

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VI. Deutschland

voraufgegangenen Kapitel dieses Teils sind den Problemen nachgegangen, auf welchen Wegen und über welche Stationen die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Deutschland Eingang gefunden hatten und auf welche Akzeptanz bzw. Ablehnung sie dabei gestoßen waren. In einem sehr weit gefassten Sinne geht es nun zunächst um die Unterschiede zwischen der amerikanischen und französischen Variante des modernen Konstitutionalismus, ein Problemfeld, dem sich die Forschung bislang kaum zugewandt hat.643 Dennoch erweist es sich in diesem Zusammenhang als von zentraler Bedeutung, um die von Anbeginn bestehenden wesentlichen Unterschiede über die Inhalte des modernen Begriffs von Verfassung in Europa im Gegensatz zu Amerika erfassen zu können.644 Bedingt durch die Grenzen der Thematik dieses Kapitels werden wir uns in der Folge auf die in unserem Zusammenhang relevanten Aspekte beschränken.645 Eine zweite Fragestellung ergibt sich konsequenterweise daraus und wird darauf gerichtet sein, wie amerikanische Verfassungskonzepte in Europa aufgegriffen, umgeformt oder auch verworfen wurden. Der Gedanke des Verfassungskonvents ist in diesem Kontext ein naheliegendes Beispiel. In unmittelbarem Zusammenhang mit ihm steht die dritte Frage, obwohl sie als solche bislang gar nicht wahrgenommen wurde, was nicht zuletzt angesichts des eher geringen Interesses, das zumal die verfassungsgeschichtliche Forschung durchweg der Paulskirche entgegengebracht hat,646 kaum verwunderlich erscheint. Hatte das Paulskirchenparlament 643 Vgl. u. a. Anna Gianna Manca, „El constitucionalismo europeo y el caso prusiano: especificidad y concomitancias“, in: José María Iñurritegui u. José María Portillo (Hrgg.), Constitución en España: orígenes y destinos, Madrid: Centro de estudios políticos y constitucionales, 1998, 309 – 322. 644 Vgl. Rett R. Ludwikowski u. William F. Fox, Jr., The Beginning of the Constitutional Era. A Bicentennial Comparative Analysis of the First Modern Constitutions, Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1993, die ungeachtet ihres komparatistischen Ansatzes sich nicht zu diesen Problemen äußern. Das gleiche gilt für Hans Vorländer, Die Verfassung: Idee und Geschichte, München: C. H. Beck, 1999. 645 Für eine breitere Diskussion vgl. oben Kap. V. 1. 646 Vgl. die praktisch ausschließlich historischen Arbeiten zur Paulskirche v. Veit Valentin, Die erste deutsche Nationalversammlung. Eine geschichtliche Studie über die Frankfurter Paulskirche, München – Berlin: Oldenbourg, 1919; ders., Geschichte der deutschen Revolution von 1848 – 49, 2 Bde., Berlin: Ullstein, 1930 – 31, bes. Bd. II; Wilhelm Appens, Die Nationalversammlung zu Frankfurt a. M. 1848/49, Jena: Eugen Diederichs, 1920; Peter Rassow, Deutschland und Europa 1848 und Das Werk der Paulskirche. Zwei akademische Festreden, gehalten am 2. und 16. Juni 1948 (Kölner Universitätsreden 5), Krefeld: Scherpe, o. J.; Paul Wentzcke, Ideale und Irrtümer des ersten deutschen Parlaments (1848 – 1849). Abgeordnete und Beobachter, Kurzbiographien und Literaturnachweise v. Wolfgang Klötzer, Heidelberg: Carl Winter, 1959; Frank Eyck, The Frankfurt Parliament 1848 – 1849, London: Macmillan, 1968; Werner Boldt, Die Anfänge des deutschen Parteiwesens. Fraktionen, politische Vereine und Parteien in der Revolution 1848. Darstellung und Dokumentation, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1971; Wolfram Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, Frankfurt/M.: Lang, 1976; Gunther Hildebrandt, Parlamentsopposition auf Linkskurs. Die kleinbürgerlich-demokratische Fraktion Donnersberg in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Berlin: Akademie-

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von 1848/49 sich nicht selbst als „Konstituierende Nationalversammlung“ bezeichnet? Welchen Sinn ergibt aber dann die Frage, ob es nicht eventuell, zumindest zeitweise, ein Verfassungskonvent gewesen sei? In ihrer Beantwortung kann es nicht allein um die Deutung von Begriffen gehen, vielmehr wird nach dem Selbstverständnis der Paulskirche zu fragen sein und damit unmittelbar nach der eingangs aufgeworfenen Frage der rechtlichen Basis ihrer Konstituierung und ihres Mandats. Worauf erstreckte sich ihre Legitimation, und war sie bereit, sich danach zu richten? Die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Paulskirche, aber auch die Parlamentsdebatten der ersten Wochen, im Wesentlichen also die Zeit von Anfang März bis Anfang Juli 1848, werden wesentliche Aufschlüsse über diese Fragen bringen und damit zugleich die Ergebnisse und das Schicksal der Paulskirche verständlicher erscheinen lassen. In seinem klassischen Werk The Constitutional Convention bezeichnete John Alexander Jameson vor rund 150 Jahren Verfassungskonvente als „eine der bedeutendsten und charakteristischsten politischen Einrichtungen der Vereinigten Staaten“.647 Der Verfassungskonvent wurde und wird gewählt zu dem ausschließlichen Zweck, eine Verfassung zu entwerfen, zu verändern oder zu ergänzen. Er nimmt nie Regierungsfunktionen wahr, noch erlässt er Gesetze. „Falls“, so die SchlussfolgeVerlag, 1975; ders. (Hrg.), Opposition in der Paulskirche. Reden, Briefe und Berichte kleinbürgerlich-demokratischer Parlamentarier 1848/49, Berlin: Akademie-Verlag, 1981; ders., Die Paulskirche. Parlament in der Revolution 1848/49, Berlin: Verlag der Nation, 1986; ders., Politik und Taktik der Gagern-Liberalen in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849, Berlin: Akademie-Verlag, 1989; Die erste deutsche Nationalversammlung 1848/49. Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, hrg. u. erl. v. Wilfried Fiedler, Königstein/Ts.: Athenäum, 1980; Günter Mick, Die Paulskirche. Streiten für Einigkeit und Recht und Freiheit, Frankfurt a. M.: Waldemar Kramer, 1988; Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Ein Handlexikon der Abgeordneten der deutschen verfassungsgebenden Reichs-Versammlung, hrg. v. Rainer Koch, Kelkheim: H. Kunz, 1989; Heinrich Best u. Wilhelm Weege, Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf: Droste, 1996; Wilhelm Ribhegge, „Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B3 – 4/98 (16. Januar 1998), 11 – 27; Wilhelm Bleek, „Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands“, ebd., 28 – 39; Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf: Droste, 1998; Ulrich Speck, „Das Parlament“, in: 1848. Revolution in Deutschland, hrg. v. Christof Dipper u. Ulrich Speck, Frankfurt: Insel, 1998, 196 – 209; Gelehrte in der Revolution. Heidelberger Abgeordnete in der deutschen Nationalversammlung 1848/49: Georg Gottfried Gervinus – Robert von Mohl – Gustav Höfken – Karl Mittermaier – Karl Theodor Welcker – Karl Hagen – Christian Kapp, hrg. v. Frank Engehausen u. Armin Kohnle, Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur, 1998. Das verfassungsgeschichtliche Interesse an der Paulskirche hat sich dagegen bislang fast ausnahmslos auf die Reichsverfassung konzentriert, wobei herausragt: Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben [1985], Neuwied: Luchterhand, 21998. Ferner Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017. 647 John Alexander Jameson, The Constitutional Convention; Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Callaghan, 31873, 1.

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rung von Jameson, „falls ein Verfassungskonvent diesen Rechtsrahmen überschreitet, hört er auf, ein Verfassungskonvent zu sein, sondern wird damit das, dessen Befugnisse und Methoden er annimmt – ein revolutionärer Konvent.“648 Jamesons revolutionäre Konvente beschränkten sich nicht auf den Entwurf einer Verfassungsordnung, sondern setzten sich über bestehende Institutionen hinweg und nahmen an ihrer Stelle zusätzlich legislative oder exekutive Funktionen oder beides, direkt oder indirekt, wahr. Hier handelte das souveräne Volk durch seine Repräsentanten, während in Verfassungskonventen der Wille des souveränen Volkes kanalisiert und Regeln unterworfen war, die es in der Konzipierung oder Revidierung der Verfassung nicht überschreiten sollte mit dem Ergebnis, dass die auf diese Weise entworfene Verfassung, wenn sie denn angenommen wird, wiederum dem normalen Zugriff des souveränen Volkes entzogen ist. Anders als diese Verfassungskonvente haben revolutionäre Konvente im amerikanischen Verfassungsleben lediglich eine marginale Rolle gespielt und sind nur in jeweils wenigen Kolonien bzw. Staaten zu bestimmten Zeitpunkten, nämlich 1689, 1776 und 1861 kurzfristig in Erscheinung getreten, als im Verlauf von revolutionären Situationen neben den Konventen etwa bestehende legale Regierungen ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Diese amerikanische Institution der Konvente war nachdrücklich von der puritanischen Idee des göttlichen Bundes mit seiner Praxis der Kirchenkonvente beeinflusst, wenngleich auch William Blackstones Interpretation der englischen Verfassung eine gewisse Rolle spielte. Zweimal, 1660 und 1688/89, hatte England in seiner Geschichte Konvente oder Konventsparlamente erlebt. Sie waren einberufen worden, um in einer Zeit die verfassungsrechtliche Ordnung sicherzustellen, als es keinen König gab, der ein Parlament hätte einberufen können. „[I]n einem derartigen Fall der offensichtlichen Thronvakanz folgt ex necessitate rei, dass die Form der königlichen Verfügungen beiseitegelegt werden muss, da anderenfalls kein Parlament je wieder einberufen werden könnte […] So dass ungeachtet dieser beiden kapitalen Ausnahmen, die ausschließlich durch das Prinzip der Notwendigkeit gerechtfertigt sind, (und die beide im übrigen eine Revolution in der Regierung herbeiführten) die bestehende Regel grundsätzlich sicher ist, dass allein der König ein Parlament einberufen kann.“649

Blackstones „revolutionäre“ Konvente traten an die Stelle von rechtlich nicht existierenden Parlamenten und nahmen die Aufgaben legaler gesetzgebender Körperschaften wahr, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen. Dieser Gedanke wurde in Amerika 1776 aufgegriffen, wo nach dem Zusammenbruch der britischen Herrschaft „die Repräsentanten des guten Volkes von Virginia, versammelt in einem vollen und freien Konvent“, im Juni 1776 ihre Menschenrechtser648

Ebd., 11. Vgl. auch Thomas M. Cooley, A Treatise on the Constitutional Limitations which Rest Upon the Legislative Power of the States of the American Union, Boston: Little, Brown, and Company, 51883, 41 – 43, 79 – 81. 649 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 101 – 102. Vgl. dazu oben Kap. III. 2.

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klärung entwarfen und verkündeten.650 Sie waren damit dem einige Monate älteren Beispiel von New Hampshire gefolgt, das, entsprechend der Entschließung des Kontinentalkongresses vom November 1775, „eine volle und freie Repräsentation des Volkes einzuberufen, um eine solche Regierungsform zu errichten, die gemäß ihrer Überzeugung am besten das Glück des Volkes bewirken wird“,651 einen Konvent für ein Jahr gewählt hatte, um die Regierungsgeschäfte auszuführen und eine Verfassung zu bilden.652 Derart revolutionäre Konvente machten im Laufe der folgenden Jahre Konventen Platz, deren Aufgaben auf Verfassungsangelegenheiten im eigentlichen Sinne beschränkt waren. Allein in den 1770er Jahren mochte diese genuin amerikanische Erfindung Anklänge an Blackstones Interpretation suggerieren. Tatsächlich überwogen jedoch auch jetzt die Anleihen an puritanische Vorstellungen, wie sie sich insbesondere in dem sich herausbildenden amerikanischen Verständnis von Verfassung ausdrückten. Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet in Massachusetts war, wo sich diese Gedanken zuerst mit denen des göttlichen Bundes verbanden und damit zum Ausdruck brachten, dass eine von der normalen Legislative getrennte Einrichtung unerlässlich sei, um eine dem raschen Zugriff des Volkes entrückte, den Bund festigende Verfassung zu bilden, so wie es die Einwohner von Concord, Massachusetts in ihrem Beschluss vom 22. Oktober 1776 dargelegt hatten, „dass die höchste Legislative sowohl in ihrer eigentlichen Funktion als auch als gemeinsamer Ausschuss auf keinen Fall der richtige Körper ist, einen Verfassung zu bilden und einzuführen oder eine Regierung zu bilden aus den folgenden Gründen. Erstens weil wir denken, dass eine Verfassung in ihrem eigentlichen Sinn ein System von Prinzipien sein soll, um den Untertanen im Besitz und Genuss seiner Rechte und Privilegien gegen jeden Eingriff der Regierungsseite zu schützen. – 2. Weil derselbe Körper, der eine Verfassung bildet, folglich auch die Macht hat, sie zu ändern. 3. Weil eine von der höchsten Legislative veränderbare Verfassung dem Untertanen überhaupt keine Sicherheit gegen Eingriff seitens der Regierung in irgendeines oder alle seine Rechte und Privilegien bietet. Beschlossen 3., dass es dieser Stadt höchst notwendig und angebracht erscheint, dass ein Konvent oder Kongress sogleich von den Einwohnern der entsprechenden Städte dieses Staates, die frei und 21 Jahre und älter sind, in dem Verhältnis wie früher die Repräsentanten dieses Staates gewählt wurden, gewählt wird, eine Verfassung zu bilden und einzuführen; der Konvent oder Kongress soll nicht aus einer größeren Zahl als das Repräsentantenhaus dieses Staates bestehen, außer dass jede Stadt und Distrikt die Freiheit haben soll, einen Repräsentanten zu senden oder was den Einwohnern dieses Staates im allgemeinen geziemt. – Beschlossen 4., dass, wenn der Konvent oder Kongress eine Verfassung gebildet hat, er sich für kurze Zeit

650 Präambel der Rechteerklärung von Virginia von 1776, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, VIII, 153. 651 3. November 1775, in: Journals of the Continental Congress, 1774 – 1789, hrg. v. Worthington Chauncey Ford, III, Washington: Government Printing Office, 1905, 319. 652 Vgl. Jameson, The Constitutional Convention, 118 – 125.

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vertagt und seine vorgeschlagene Verfassung für die Begutachtung und Anmerkungen der Einwohner dieses Staats veröffentlicht.“653

Die strikte Trennung von gesetzgebenden und verfassungsgebenden Befugnissen entrückte die Verfassung dem einfachen Zugriff des souveränen Volkes und gab der Verfassung entsprechend der dem Puritanismus entlehnten Vorstellung den Rang eines feierlichen, unverletzlichen Bundes, der sie zum obersten Gesetz jenseits der gewöhnlichen Kontrolle des Volkes machte. Dank dieser Verfassungsvorstellung vermochte sich die Konventsidee in den Vereinigten Staaten schließlich durchzusetzen. Die Verfassung von Massachusetts von 1780 war die erste, die von einem Konvent, der ausdrücklich zu diesem Zweck gewählt worden war, entworfen und anschließend in einer Volksabstimmung angenommen worden war. Wie wenig jedoch diese Konventsidee bereits verfestigt war, zeigte sich wenige Jahre darauf, als in Philadelphia 1787 ein Konvent zusammentrat, „um über die Situation der Vereinigten Staaten zu beraten und jene weiteren Bestimmungen auszuarbeiten, die ihnen notwendig erscheinen, um die Bundesverfassung an die Erfordernisse der Union anzupassen“.654 Bekanntlich verselbständigte sich der Konvent in Philadelphia und überschritt seine Befugnisse,655 indem er die Bundesverfassung entwarf, die anschließend von Staatskonventen ratifiziert wurde, die ausschließlich zu diesem Zweck gewählt worden waren.656 Es bedurfte jedoch noch mehrerer Jahrzehnte, bis sich der amerikanische Verfassungskonvent in seiner zeitgültigen Form als gewählte Institution mit dem ausschließlichen Zweck, eine Verfassung zu entwerfen oder zu revidieren, die darauf dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird, herausgebildet hatte, so dass, als Richter Jameson die dritte Auflage seiner Constitutional Convention vorbereitete, die Verfassungen von zwei Dritteln aller amerikanischen Staaten über entsprechende Bestimmungen zur Durchführung von Verfassungskonventen verfügten.657

653 The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar u. Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 152 – 153. 654 Resolution der Annapolis Convention vom 14. September 1786, in: Documents of American History, hrg. v. Henry Steele Commager, 2 Bde., New York: Appleton-CenturyCrofts, 71963, I, 133. 655 Vgl. dazu Paul J. Weber u. Barbara A. Perry, Unfounded Fears: Myths and Realities of a Constitutional Convention, New York: Greenwood Press, 1989, bes. 13 – 30. 656 Vgl. dazu unten Kap. VII. 3. 657 Vgl. American Constitutions: Comprising the Constitution of Each State in the Union, and of the United States, With the Declaration of Independence and Articles of Confederation; Each Accompanied by a Historical Introduction and Notes, Together With a Classified Analysis of the Constitutions, hrg. v. Franklin B. Hough, 2 Bde., Albany, N.Y.: Weed, Parsons & Company, 1872, II, 844 – 845. Vgl. James Bryce, The American Commonwealth, 2 Bde., NAufl., London: Macmillan, 1913, I, 681 – 683, u. Wilbur Edel, A Constitutional Convention: Threat or Challenge, New York: Praeger, 1981, 1 – 10; Weber u. Perry, Unfounded Fears, 81 – 104.

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Die zwischen 1776 und 1788 in Amerika praktizierten Konvente wurden zumal von den Zeitgenossen in Frankreich wahrgenommen. Nicht von ungefähr wurde daher der Name während der Französischen Revolution aufgegriffen, so dass sich die 1792 gewählte Nationalversammlung demonstrativ Convention nannte. Doch was mit Konvent gemeint war, war nicht nur in Amerika noch keineswegs eindeutig geklärt, sondern sah sich darüber hinaus in Frankreich dem Widerstreit mit dem entgegenstehenden Gedanken der konstituierenden Nationalversammlung ausgesetzt.658 Die Verfassung des 3. September 1791 war weder das Werk eines Verfassungskonvents, noch verstand sie sich diesem Gedanken grundsätzlich verpflichtet. Sie war von der Konstituierenden Nationalversammlung konzipiert, doch ihre Bestimmungen über die Revision der Verfassung machten deutlich, dass der Konventsgedanke nicht völlig unbekannt geblieben war. Wenn drei aufeinander folgende Legislativen sich einmütig für dieselbe Verfassungsänderung aussprachen, sollte eine „Revisionsversammlung (Assemblée de révision)“ einberufen werden, um über die vorgeschlagene Änderung zu entscheiden.659 Diese Assemblée de révision ist eine höchst interessante Körperschaft, erlaubte sie doch zumindest partiell den ersten Nachweis des Konventsgedankens im französischen Verfassungsleben. Sie bestand aus den 745 Mitgliedern der Nationalversammlung zuzüglich von weiteren 249 Mitgliedern, die zu dem alleinigen Zweck gewählt wurden, diese Assemblée de révision zu bilden, um die vorgeschlagenen Veränderungen zu behandeln. So wie dieses geschehen war, „ziehen sich die 249 zusätzlich nominierten Mitglieder zurück, ohne in irgendeinem Fall an den legislativen Handlungen teilnehmen zu können“.660 Der amerikanische Verfassungskonvent war nicht nur nicht unbemerkt in Frankreich geblieben, sondern hatte im Gegenteil eine ausführliche Debatte in der Nationalversammlung hervorgerufen, in der Jérôme Pétion de Villeneuve am 29. August 1791 in einer Grundsatzerklärung klar zwischen einer normalen Legislative und einem Konvent unterschied, dessen Aufgabe es sei, eine Verfassung zu entwerfen oder zu verändern. Indem er dabei wie die Einwohner von Concord von der Definition der Verfassung ausging – „Das ist der Akt der Teilung der Gewalt; das ist der Akt, der die Begrenzung der legislativen Gewalt, der exekutiven Gewalt und der sekundären Gewalten festlegt“ – gelangte Pétion zu einer vergleichbaren Schlussfolgerung: „Denn nichts würde im Prinzip absurder, monströser und gefährlicher sein als eine Körperschaft, die ihre Existenz sich selbst verdankt, die nur sich selbst Rechenschaft gibt und 658 Vgl. grundlegend Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant. Ein Beitrag zum Staatsrecht der französischen Revolution, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1909, 330 – 331. 659 Titel VII der Verfassung von 1791, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 57 – 58. 660 Titel VII, Art. 8 der Verfassung von 1791, ebd., 58.

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die alleine beauftragt ist, den von ihr selbst hervorgebrachten Missbrauch zu korrigieren. Eine derartige Körperschaft würde bald die schrecklichste und ungeheuerlichste Bedrohung für die Freiheit werden; sie würde sich über die Nation stellen, von der alle Körperschaften abhängig sein müssen, und sie als Despot beherrschen.“

Nicht eine Legislative konnte mithin mit der Aufgabe, die Verfassung zu revidieren, betraut werden, sondern allein ein Konvent, und zwar zu festgesetzten und regelmäßigen Zeitpunkten, wie er hinzufügte.661 Condorcet ist ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Konventsidee in Frankreich. Drei Wochen vor Pétions ausführlicher Stellungnahme in der Nationalversammlung hielt Condorcet eine Rede über Nationalkonvente vor den „Freunden der Verfassung (Amis de la Constitution)“. Ähnlich Pétion nach ihm unterschied er klar zwischen gesetzgebender und verfassungsgebender Gewalt. „Man fürchtet die Vermengung der beiden Gewalten, obgleich delegiert an zwei unterschiedliche Versammlungen: doch zunächst muss man mit der Form der Konvente, mit der Zahl ihrer Mitglieder, mit der Unvereinbarkeiten ihrer öffentlichen Funktionen die Unterschiede klarstellen, die nicht erlauben, sie mit Legislativen zu verwechseln“.662

Nachdrücklich warnte er davor, gesetzgebenden Körperschaften die Befugnis einzuräumen, die Verfassung zu ändern, was nur dazu führen könne, „sie durch häufig unpassende Veränderungen zu verschlechtern“.663 Es überrascht nicht, dass der Titel über die Nationalkonvente in dem girondistischen Verfassungsprojekt vom Februar 1793 mit 16 Artikel ausführlich ausfiel. Konvente sollten nicht nur für jede Verfassungsänderung einberufen werden, sie sollten auch jeweils in deutlicher geographischer Distanz zur Legislativen tagen, um die nach Mitgliedern und Funktion vollständige Trennung zwischen beiden Versammlungen über jeden Zweifel erhaben zum Ausdruck zu bringen.664 Bezeichnenderweise wies der Abschnitt der jakobinischen Verfassung über die Nationalkonvente mit lediglich drei Artikeln stärkere Parallelen zur pennsylvanischen Verfassung von 1776 als zum Projekt der Gironde auf und enthielt keine ihrer zentralen Bestimmungen.665 So wurde nicht ausdrücklich festgehalten, dass ein Konvent allein die Verfassung verändern oder ergänzen könne, im Gegenteil konnte, Pétions einstiger Warnung zum Trotz, ein Konvent eigenmächtig auch weitere Funktionen 661

Archives parlementaires de 1787 à 1860, 1ère sér., XXX (1888), 45, vgl. 44 – 54 bzgl. der ganzen Rede sowie oben Kap. IV. 2. 662 Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet, „Discours sur les Convention nationales, prononcé à l’assemblée des Amis de la Constitution, séante aux Jacobins, le 7 août 1791“, in: Œuvres de Condorcet, hrg. v. A. Condorcet O’Connor u. F. Arago, 12 Bde., Paris: Firmin Didot, 1847 – 1849, X, 214. 663 Ebd., 218 – 219. 664 Plan de Constitution présentée à la Convention nationale les 15 et 16 février 1793, Titel IX, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 82 – 83. 665 Jakobinische Verfassung von 1793, Art. 115 – 117, ebd., 103. Vgl. dazu auch oben Kap. V. 4.

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ausüben: „Der Nationalkonvent wird in der gleichen Weise wie die Legislativen gebildet und vereint in sich die Gewalten.“666 Nicht allein der puritanische Gedanke des göttlichen Bundes entsprach nicht dem so andersartigen revolutionären Denken in Frankreich. Hinzu kam, dass die Auffassung, eine von einem Konvent entworfene Verfassung müsse dem Volk zur Annahme vorgelegt werden, in Frankreich bislang kaum Resonanz gefunden hatte. Nur wenige Revolutionäre hatten sie sich seit 1789 zu eigen gemacht,667 und sowohl Condorcets Projekt als auch die wesentlich nachdrücklicher von der pennsylvanischen Verfassung von 1776 als der von Massachusetts von 1780 beeinflussten jakobinischen Verfassung schwiegen sich in diesem Punkt aus. Der Gedanke einer Volksabstimmung über die neue Verfassung war daher weder verfassungsrechtlich begründet noch Ergebnis der Konventsidee. Er war vielmehr ausschließlich politisch motiviert668 und die Folge einer von Danton veranlassten Resolution, die die Convention bereits in ihrer ersten Sitzung am 21. September 1792 angenommen hatte.669 Es kann nicht verwundern, dass angesichts dieser Situation die 1792 gewählte Convention nationale alles andere als ein Verfassungskonvent war, da sie verfassungsgebende und gesetzgebende Befugnisse in sich vereinte, statt sie voneinander zu trennen. Im Unterschied zur Assemblée Nationale Constituante, aber auch zu einigen anderen revolutionären Konventen regierte sie zudem direkt durch ihre Ausschüsse. Dennoch war damit die sich in Amerika herausbildende Konventsidee in Frankreich nicht endgültig zu Grabe getragen worden. Vielmehr lebte sie mit der Verfassung des Jahres III nochmals auf. Zwar konnte, diskreditiert durch die Terreur, nach dem Thermidor der Ausdruck Convention nicht weiter verwandt werden. Umso bereitwilliger griff man daher auf die Bezeichnung Assemblée de révision der Verfassung von 1791 zurück, während man sie inhaltlich unter starker Anlehnung an das Condorcetsche Projekt von 1793 in einen tatsächlichen Verfassungskonvent umzuformen suchte. Die Bestimmungen über die Wahl und die strikte räumliche Trennung von der Legislativen waren eindeutig von diesem beeinflusst. In der Festsetzung ihrer Aufgaben gingen die Thermidorianer jedoch noch deutlich restriktiver vor: „Die Revisionsversammlung übt weder gesetzgeberische Funktionen aus noch die der Regierung; sie beschränkt sich allein auf die Revision der Verfassungsartikel, die ihm

666

Jakobinische Verfassung von 1793, Art. 116, ebd. Vgl. als ein frühes Beispiel, „Aux Auteurs du Patriote François“, in: Le Patriote françois (Nr. 5, 1. August 1789), 3. 668 Vgl. Serge Aberdam, „Soumettre la constitution au peuple“, in: La Constitution du 24 juin 1793. L’utopie dans le droit public français?, Actes du colloque de Dijon, 16 et 17 septembre 1993, hrg. v. Jean Bart u. a., Dijon: Editions de l’Université de Dijon, 1997, 139 – 154. 669 „Der Nationalkonvent erklärt, dass es allein eine Verfassung geben kann, die durch das Volk angenommen worden ist“ (Faustin-Adolphe Hélie, Hrsg., Les Constitutions de la France. Ouvrage contenant outre les constitutions, les principales lois relatives au culte, à la magistrature, aux élections, à la liberté de la presse, de réunion et d’association, à l’organisation des départements et des communes. Avec un commentaire, Paris: A. Marescq ainé, 1880, 341). 667

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vom gesetzgebenden Körper bezeichnet wurden.“670 In keiner französischen Verfassung wurde das konstituierende Prinzip des Verfassungskonvents je in ähnlich rigoroser Weise zum Ausdruck gebracht wie in diesem Artikel von 1795. Doch seine Rigorosität hatte auch, und sei es nur indirekt, dokumentiert, dass für die amerikanische Konventsidee letztlich kein Platz im französischen Verfassungsdenken war. Der Konvent oder, wie es richtiger heißen muss, die assemblée de révision der Verfassung des Jahres III verfügte lediglich über untergeordnete, gleichsam redaktionelle Funktionen und hatte, anders als noch bei Condorcet oder Pétion, weder einen eigenen Willen noch konnte sie eigenmächtig tagen und beraten, wohingegen amerikanische Verfassungskonvente im allgemeinen in ihren Vorgehensweisen mehr oder weniger frei und selbstbestimmt waren (ein „Konvent tagt […] zum Zweck, diese Verfassung zu revidieren, zu ändern oder zu verbessern“, wenn die Legislative und das Volk „es für notwendig erachten, die Verfassung zu ändern oder zu verbessern“, wie die gängigen Formulierungen lauteten).671 Die französische Variante des modernen Konstitutionalismus bestand dagegen auf der Suprematie des souveränen Volkes, das sich mittels seiner Repräsentanten in der Nationalversammlung äußerte. Eine konstituierende Nationalversammlung mit verfassungsgebenden wie gesetzgebenden Vollmachten und dem Recht, eine Regierung einzusetzen, die ihren Willen notfalls auch bereits existierenden nationalen Institutionen aufzwingt, schien sich sehr viel mehr im Einklang mit derartigen Vorstellungen zu befinden. Ihre Legitimation bezog sie allein aus der Revolution, die damit auch ihre radikalste Form rechtfertigte, nämlich die Convention, die zusätzlich die Regierungsgewalt mittels Ausschüsse direkt ausübte, ohne eine weitere politische Autorität unabhängig von ihr und jenseits ihrer unmittelbaren Kontrolle anzuerkennen.672 Trotz oder eher wegen der Bestimmungen von 1795 vermochte der Verfassungskonvent sich nicht im französischen Verfassungsleben dauerhaft zu etablieren. Das nächste und zugleich letzte Mal taucht er, wiederum unter der Bezeichnung Assemblée de révision, in der Verfassung von 1848 auf. Doch von den fünfzehn Artikeln der Verfassung des Jahres III war lediglich ein einziger übriggeblieben, der bewusst vage gehalten war und völlig offenließ, wie weit die Mitglieder der Assemblée de révision mit denen der Nationalversammlung identisch waren,673 womit 670 Verfassung des Jahres III (1795), Art. 342, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 130. 671 Verfassung von Illinois von 1818, Art. VII, Abs. 1, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 129 – 130 mit ihren durchaus gängigen Formulierungen. Zur amerikanischen Diskussion über eingeschränkte (limited) oder uneingeschränkte (unlimited) Konvente, vgl. Weber u. Perry, Unfounded Fears, 95 – 100. 672 Vgl. dazu oben Kap. V. 1. und V. 2. 673 Verfassung von 1848, Art. 111 („de la révision de la Constitution“); vgl. auch Art. 29, wonach die Beschränkungen der Mitgliedschaft in der Nationalversammlung nicht für die Assemblées de révision galten, sowie die Art. 21 u. 22 (750 Mitglieder der Nationalversammlung – fünf mehr als 1791 – und 900 Mitglieder in den Assemblées de révision – 94 weniger als 1791; die Parallelen sind bezeichnend), in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 222, 215. Bzgl. weiterer

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der zentrale Gedanke ihrer strikten Trennung aufgegeben war. Die Gründe für den Fehlschlag der amerikanischen Konventsidee in Frankreich lagen in den zunehmenden Unterschieden im Verständnis von Verfassung in beiden Ländern, in denen das Verhältnis von Verfassung und Volkssouveränität zu konträren konstitutionellen Lösungen geführt und sich dabei in der französischen Ausprägung des modernen Konstitutionalismus die Auffassung durchgesetzt hatte, dass eine Verfassung stets den sich wandelnden Grundanschauungen des souveränen Volkes Platz zu machen habe.674 Diese französischen Anschauungen des souveränen Volks schienen ihren sehr viel angemesseneren Ausdruck in der Nationalversammlung zu finden, und es ist daher gewiss kein Zufall, dass die erste revolutionäre Einrichtung, die von der Französischen Revolution 1789 geschaffen wurde, die Konstituierende Nationalversammlung war. Sie symbolisierte das Volk und seinen pouvoir constituant, und es lag gleichsam in der Logik ihrer Macht, dass das erste, am 14. Juli 1789 eingerichtete Verfassungskomitee nach nahezu zwei Monaten scheiterte, weil es vorgeschlagen hatte, die Macht der Nationalversammlung durch die Einrichtung einer zweiten Kammer und die Einführung eines absoluten königlichen Vetos zu beschneiden.675 Die Nationalversammlung war vielmehr der Ort, der die versammelte Nation vereinte, die allein befugt war, der Nation eine Verfassung zu geben. Dass Mirabeau am 23. Juni dem königlichen Emissär entgegenschleuderte, dass sie im Namen des Volkes tagten und allein der Gewalt der Bajonette weichen würden,676 war nur die Bestätigung des auf Sieyès zurückgehenden Beschlusses vom 17. Juni, mit dem sich die Generalstände revolutionär in die Nationalversammlung umgewandelt hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte Sieyès zugleich bereits erste Elemente einer Theorie der Nationalversammlung geliefert: Sie bezog ihre Legitimation aus der allgemeinen Wahl durch das Volk. Sie allein war legitimiert, für die Nation zu sprechen, weil ihre Mitglieder als die Repräsentanten des Volkes öffentlich und rechtlich anerkannt waren. Niemand außerhalb der Nationalversammlung, was immer die Besonderheiten seiner Wahl oder seines Status auch sein mochten, hatte das Recht, für sich zu beanspruchen, für die Nation zu sprechen. Da die Nationalversammlung den Willen Aspekte, vgl. François Luchaire, Naissance d’une constitution: 1848, Paris: Fayard, 1998, 161 – 163. 674 Vgl. Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789. Ihre Grundlagen in der Staatslehre der Aufklärungszeit und in den englischen und amerikanischen Verfassungsgedanken, Leipzig: von Veit, 1912, bes. 154 – 172; ferner oben Kap. V. 2. 675 Vgl. Roger Delagrange, Le Premier comité de constitution de la Constituante (1789), ses vues et ses projets. Un moment d’éclat du Parti royaliste libéral en 1789, Paris: Arthur Rousseau, 1900, bes. 176 – 205; Pierre-Yves Rudelle, „Le Premier comité de constitution ou l’échec du projet monarchien“, in: 1791: La Première constitution française. Actes du colloque de Dijon, 26 et 27 septembre 1991, hrg. v. Jean Bart u. a., Paris: Economica, 1993, 87 – 105; Pasquale Pasquino, Sieyes et l’invention de la constitution en France, Paris: Odile Jacob, 1998, bes. 15 – 29. 676 Archives parlementaires, 1ère sér., VIII, 146.

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der Nation repräsentierte und interpretierte, gab es keinen Willen über ihr. Folglich konnte der Krone weder das Recht eines Eingriffs in ihre laufenden Beratungen noch die Entscheidungsbefugnis über das Abhalten von Sitzungen zustehen.677 Als drei Tage später der Ballhausschwur abgelegt wurde, der die Nationalversammlung in die Konstituierende Nationalversammlung verwandelte, wurden weitere Elemente dem hinzugefügte, was als Mandat dieser Körperschaft zu verstehen sei: Entwurf einer Verfassung für das Königreich, Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Bewahrung der wahren Grundsätze der Monarchie.678 Mithin verstand sich die Versammlung als mit der verfassungsgebenden wie gesetzgebenden Gewalt ausgestattet, wobei zugleich eine, in den Einzelheiten offengelassene Beziehung zur Exekutive unter dem König angedeutet wurde. Das Widersprüchliche an diesem Verständnis – eine Paradoxie, die dann von der Convention politisch aufgelöst wurde, die aber 1848/49 in Frankfurt noch sehr viel schärfer durchschlug, als dies in Paris 1789/91 bereits der Fall gewesen war – lag in der Tatsache, dass alle diese Befugnisse als Ausfluss des pouvoir constituant des Volkes und der Anspruch, allein legitimiert zu sein, den Willen der Nation zu interpretieren, als Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität verstanden wurde, dass aber zugleich, so der allgemeine Konsens, nicht das Volk, sondern letztlich der König die Verfassung anzunehmen hätte.679 Das klingt nach der Paulskirche 1848/49, und im Unterschied zur Weimarer Nationalversammlung von 1919 sollte die Mehrzahl dieser Ideen um die französische Nationalversammlung von 1789 in Frankfurt 1848 wieder aufgegriffen werden, jedoch nicht ohne gravierende Abweichungen, auf die im weiteren Verlauf näher einzugehen sein wird. Angesichts der Aufnahme und schließlichen Verwerfung der Konventsidee im Kontext des französischen Verfassungsdenkens plus des Erlebnisses der Convention nationale kann es nicht verwundern, dass der Gedanke des Verfassungskonvents in Deutschland keine größere Resonanz fand, zumal, ungeachtet einer verbreiteten Beunruhigung über die französische Politik und der Furcht vor einer französischen Invasion im Zuge der neuerlichen Revolution,680 das deutsche Verfassungsdenken seit den 1790er Jahren, wie in den voraufgegangenen Kapiteln dieses Teils gezeigt, 677

Réimpression de l’ancien Moniteur, I (1858), 82 – 83. Ebd., 89. 679 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 224 – 229; Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, 58 – 66; Karl Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789. Studien zur Dogmengeschichte der unmittelbaren Volksgesetzgebung, München: Drei Masken Verlag, 1922 (Ndr. Aalen: Scientia, 1990), 12 – 13. 680 Vgl. Friedrich Siegmund Jucho, „Geschichtliche Einleitung über die Entstehung der Vertretung des ganzen deutschen Volkes“, in: Verhandlungen des Deutschen Parlaments. Officielle Ausgabe, 2 Lfgg., Frankfurt/M.: J. D. Sauerländer, 1848, I, vi; Eyck, The Frankfurt Parliament, 30 – 32; Hans Fenske, „Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849. Entstehung, Inhalt, Wirkung“, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 90 (1984/85), bes. 258. 678

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nachhaltig von seinem französischen Pendant beeinflusst war, zumindest in Fragen der Struktur und Form.681 Schon das Wort Konvent wurde unverändert vorrangig mit der Convention von 1792 assoziiert und galt damit hier wie in Frankreich für die Mehrzahl der Zeitgenossen als diskreditiert. Wenn daher der Name Konstituierende Nationalversammlung, nicht zuletzt angesichts des französischen Beispiels von 1789 als die offensichtliche Wahl zur Bezeichnung der Paulskirche erscheint, bleibt dennoch danach zu fragen, was mit dieser Wortwahl gemeint war, durch was sich die Paulskirche legitimiert sah, welches Mandat sie zu besitzen glaubte und welche Rolle sie in dem Prozess der Verfassungsgebung zu spielen und gegebenenfalls mit wem zu teilen gedachte? Am 29. Februar 1848 hatte die Bundesversammlung des Deutschen Bundes in Frankfurt erstmals von der Revolution in Frankreich offiziell Notiz genommen und in den folgenden Tagen zunehmend ihre Besorgnis über die möglichen Konsequenzen für Deutschland zum Ausdruck gebracht. Man musste zur Kenntnis nehmen, dass am 5. März in Heidelberg die Forderung „der Wahl und der Errichtung einer angemessenen Nationalvertretung“ erhoben worden war,682 was die Bundesversammlung nur entschlossener machte, denn: „Allein hinter den gemäßigten Männern des Fortschritts steht die Partei der Ultraradikalen und Republikaner, die nach einer allgemeinen deutschen Republik strebt.“ Um diese Gefahr abzuwenden und die sich verbreitende Unruhe aufzufangen, beschloss die Bundesversammlung, sich für „die Revision der Bundesverfassung […] auf breiter nationaler Grundlage“ einzusetzen.683 Zwei Tage darauf, am 10. März, folgte der Beschluss, dass, um diese Revision vorzubereiten, siebzehn „Männer des allgemeinen Vertrauens“, einer für jeden Bundesstaat oder Gruppe von Staaten, bis zum Ende des Monats als beratendes Gremium nach Frankfurt entsandt werden sollten.684 Erst nachdem die Regierungen der deutschen Staaten und insbesondere Österreich und Preußen, aufgrund der Re-

681 Die am 29. Mai 1848 angenommene Geschäftsordnung der Paulskirche war deutlich von französischen Vorbildern beeinflusst, vgl. Gilbert Ziebura, „Anfänge des deutschen Parlamentarismus. Geschäftsverfahren und Entscheidungsprozeß in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49“, in: Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag, Berlin: Walter de Gruyter, 1963, bes. 196 – 197; Speck, Das Parlament, 200. Im Gegensatz zu der verabschiedeten Geschäftsordnung war der von Robert von Mohl u. a. am Vorabend der Eröffnung der Paulskirche vorgelegte Entwurf einer GeschäftsOrdnung für den verfassungsgebenden Reichstag, Frankfurt a. M.: August Osterrieth, 1848, weitgehend nach der englischen parlamentarischen Praxis ausgerichtet, vgl. ebd., 12 – 37. 682 „Erklärung der Heidelberger Versammlung vom 5. März 1848“, in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrg. v. Ernst Rudolf Huber, 3 Bde., Stuttgart: Kohlhammer, 2 1961 – 1966, I, 265. 683 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, Jahrgang 1848, 1. – 70. Sitzung, Frankfurt o. J., 230 – 231 (15. Sitzung, 8. März 1848). Zur Geschichte der Bundesversammlung vom 29. Februar bis zum 12. Juli 1848, vgl. Ludwig Bentfeldt, Der Deutsche Bund als nationales Band, 1815 – 1866, Göttingen: Musterschmidt, 1985, 248 – 277. 684 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 238 (17. Sitzung, 10. März 1848).

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volutionen in Wien und Berlin mit einiger Verspätung, ihre Zustimmung gegeben hatten, konnte der Beschluss umgesetzt werden.685 Was nun folgte, ist eine der interessantesten Kuriositäten der Verfassungsgeschichte und dabei zugleich Reflex des französischen Umgangs mit der Konventsidee in den 1790er Jahren.686 Angesichts der revolutionären Unruhen in Deutschland und des allgemeinen Misstrauens gegenüber den Repräsentanten der alten Ordnung beschloss die inzwischen selbst aufgrund der Revolution teilweise neu besetzte Bundesversammlung, dass die in Kürze eintreffenden siebzehn Männer des allgemeinen Vertrauens, statt nur zu beraten, selbst die Verfassungsrevision zu Wege bringen sollten, wobei ihnen der Revisionsausschuss der Bundesversammlung, falls gewünscht, zur Seite stehen würde.687 Aus einem beratenden Gremium war somit unversehens nichts geringeres als ein Verfassungskonvent geworden, auch wenn dieser Begriff nicht benutzt und die Mitglieder dieses „Konvents“ nicht gewählt, sondern ernannt worden waren, einberufen und einzig mit der Aufgabe betraut, die Verfassung zu revidieren. Folglich setzten die Siebzehn einen Ausschuss ein, um einen Entwurf vorzubereiten.688 Noch nicht beantwortet war jedoch die Frage, wer der neuen Verfassung die Legitimation erteilen und damit die revolutionäre Unruhe beenden sollte. Dass die neue Verfassung nicht lediglich verordnet, oktroyiert werden konnte, stand ebenso außer Zweifel wie im Gegenzug die Notwendigkeit, eine Art Konsens zwischen den Regierungen auf der einen und dem Volk auf der anderen Seite herbeizuführen, zumal eine Volksabstimmung mangels der Kenntnis amerikanischer Praktiken stets mit dem Odium der jakobinischen Revolution behaftet war und daher ausschied. Es wurde daher vorgeschlagen, dass der „Entwurf einer neuen Bundesverfassung einer aus allen Bundesstaaten gewählten constituirenden Volksversammlung zur Annahme vorgelegt werde“. Diese Versammlung, gewählt auf der Basis der gleichen Repräsentation, jedoch ohne die Details des Wahlrechts festzulegen, hätte dann wohl so etwas wie ein ratifizierender Konvent sein können, doch der Revisionsausschuss hatte seine Einwände, denn: „[A]uch wird die Annahme der neuen Verfassung nicht von dieser constituirenden Versammlung allein abhängen können, vielmehr werden die Regierungen durch die Bundesversammlung oder durch andere Organe immer den zweiten contrahirenden Theil bilden.“689 Beide Gremien hatten sorgfältig darauf geachtet, den revolutionsgeladenen Begriff der „konstituierenden Nationalversammlung“ zu vermeiden, auch wenn der 685

Ebd., 278 – 279 (23. Sitzung, 25. März 1848). Bzgl. der Einzelheiten vgl. Werner Boldt, „Konstitutionelle Monarchie oder parlamentarische Demokratie. Die Auseinandersetzung um die deutsche Nationalversammlung in der Revolution von 1848“, in: Historische Zeitschrift, 216 (1973), 553 – 622. 687 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 312 (26. Sitzung, 30. März 1848). 688 2. Sitzung, 5. April 1848, in: Quellensammlung zum deutschen öffentlichen Recht seit 1848, hrg. v. Paul Roth u. Heinrich Merck, 2 Bde., Erlangen: J. J. Palm u. Ernst Enke, 1850 – 1852, I, 215. 689 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 313 – 316 (26. Sitzung, 30. März 1848). 686

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Revisionsausschuss es offengelassen hatte, ob die vorgeschlagene Versammlung das Recht haben werde, Veränderungen an dem ihr vorzulegenden Text anzubringen, so dass angesichts fehlender Vertrautheit mit der amerikanischen Institution der Ratifizierungskonvente Bundesversammlung wie Ausschuss sich außerstande sahen, dem von ihnen befürworteten Gremium einen angemessenen Namen mit eindeutiger Mandatsbeschreibung zu geben, was sie schließlich in gefährliche Nähe zu jenem Namen brachte, den sie doch gerade vermeiden wollten. In jedem Fall sollten die Befugnisse dies Gremiums dadurch begrenzt sein, dass die Zustimmung der deutschen Regierungen zur Bedingung der Annahme gemacht wurde. Damit war festgelegt, dass es sich ihrem Charakter nach um eine „vereinbarte Verfassung“ handeln sollte und die Versammlung, wie immer ihr Name, keinen pouvoir constituant und damit keine originären, sondern lediglich abgeleitete Rechte besaß.690 In Übereinstimmung mit ihren Revisionsausschuss beschloss daher die Bundesversammlung, dass „Wahlen von Nationalvertretern“ in der erklärten Absicht stattfinden sollten, „um zwischen den Regierungen und dem Volke das deutsche Verfassungswerk zu Stande zu bringen“.691 Während die Bundesversammlung vorsichtig agierte und ein Gremium bereit war zu akzeptieren, das als eine Art Verfassungskonvent bezeichnet werden könnte, in jedem Fall aber eine konstituierende Nationalversammlung zu vermeiden suchte, hatte in Frankfurt das Vorparlament getagt und seinen Fünfzigerausschuss ins Leben gerufen, um „die konstituirende Nationalversammlung“ vorzubereiten. Bevor die Arbeit an diesen Ausschuss übergeben worden war, hatte es eine hitzige Debatte über den Vorstoß Alexander von Soirons gegeben, „daß die Beschlußfassung über die künftige Verfassung Deutschlands einzig und allein der vom Volke zu wählenden Nationalversammlung zu überlassen sei“.692 Eine Reihe von Angehörigen des Vorparlaments begrüßte den Antrag als unzweideutiges Bekenntnis zur Volkssouveränität, während andere glaubten, er würde die zukünftige Nationalversammlung zu sehr einschränken. Letztlich ging es um die Frage, ob diese im Besitz des pouvoir 690 Vgl. Eberhard Barth, Unitarismus und Föderalismus in der Organisation der Deutschen Reichsverfassung vom 28. März 1849 mit besonderer Berücksichtigung von deren Grundlagen und Entstehungsgeschichte sowie der Grundlagen der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Ms. Diss. iur. Göttingen 1922, bes. 11 – 15. Weniger präzise dagegen Karl Binding, Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Akademische Rede, Leipzig: Duncker & Humblot, 1892, 12 – 19. 691 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 317 (26. Sitzung, 30. März 1848). Es illustriert die revolutionäre Einstellungsveränderung aufgrund der „Märzereignisse“, dass die konservative Seite sich nunmehr für den in den voraufgegangenen Jahrzehnten von Liberalen propagierten Gedanken der vereinbarten Verfassung einsetzten – vgl. dazu oben Kap. VI. 7. –, während die Liberalen sich nunmehr mehrheitlich für das alleinige Entscheidungsrecht der Nationalversammlung stark machen sollten. 692 Verhandlungen des Deutschen Parlaments, I, 132; die Beschlüsse des Vorparlaments vom 31. März und 1. – 4. April, in: Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 194. Vgl. Ulrich Freyer, Das Vorparlament zu Frankfurt a. M. im Jahre 1848, Diss. phil. Greifswald 1913, 126; Nanette G. Katzenstein, Das Vorparlament. Liberalismus und Demokratismus 1848, Diss. phil. Bern 1921, 81.

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constituant war oder ob die Verfassung eine vereinbarte Verfassung sein und welche Rolle dann die konstituierende Nationalversammlung spielen sollte. Erst nachdem Soiron klar gemacht hatte, „daß die künftige constituirende Nationalversammlung auch wirklich eine constituirende Nationalversammlung sein soll. Denn wenn sie die Sache nicht vor allen Dingen in die Hand nimmt und darüber berathet und beschließt, ohne andere Personen darüber zu befragen, so ist sie keine constituirende Nationalversammlung“, ohne jedoch im geringsten ihre Freiheit zu beeinträchtigen, „nachdem sie mit ihrem Geschäfte fertig geworden ist, darüber Verträge mit den Fürsten abzuschließen oder nicht“, wurde der Antrag angenommen, ohne eine Entscheidung über die Kernfrage der Volkssouveränität treffen zu müssen.693 Schon am Vortag hatte das Vorparlament mit seinem Präsident Mittermaier die Bundesversammlung aufgefordert, die Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung zu beschleunigen, was auch zugesagt wurde.694 Auf Vorschlag der Siebzehn forderte die Bundesversammlung am 7. April auf der Grundlage eines nicht ganz so allgemeinen Männerwahlrechts, wie es die Liberalen im Nachhinein gerne behaupteten, zu Wahlen „zu der constituirenden deutschen Nationalversammlung“ auf, die am 1. Mai zusammentreten sollte, ohne dass sie allerdings deren Aufgaben und Verantwortlichkeiten näher darlegte.695 Der Aufruf des Fünfzigerausschusses vom Folgetag war im Vergleich dazu präziser: „[D]iese Versammlung muß die Freiheitsrechte des Volks aussprechen und feststellen, über die Verfassung beschließen und diejenigen Gewährleistungen auffinden, welche den Bestand der neuen Schöpfung sichern.“696 Mochte diese Formulierung auch Anklänge an den Ballhausschwur erkennen lassen, so blieb es doch bei einer politischen Erklärung 693

140.

Verhandlungen des Deutschen Parlaments, I, 140, vgl. die ganze Debatte, ebd., 132 –

694 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 327 – 329 (27. Sitzung, 2. April 1848). Vgl. auch Katzenstein, Das Vorparlament, 65 – 80. 695 „Zweite gemeinschaftliche Sitzung der siebzehn Vertrauensmänner und des Revisionsausschusses, 7. April 1848“, in: Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 234; Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 353 (29. Sitzung, 7. April 1848). Aus organisatorischen Gründen bestanden Preußen und weitere Staaten auf der Verschiebung der Eröffnungssitzung auf den 18. Mai (ebd., 433 – 434). Am 14. April bestimmte die Bundesversammlung die Paulskirche als Tagungsort der Nationalversammlung (ebd., 401 – 402). Zum Wahlrecht, vgl. Konrad Repgen, Märzbewegung und Maiwahlen des Revolutionsjahres 1848 im Rheinland, Bonn: Ludwig Röhrscheid, 1955; Theodore S. Hamerow, „The Elections to the Frankfurt Parliament“, in: Journal of Modern History, 33 (1961), 15 – 32 (wieder abgedruckt als: „Die Wahlen zum Frankfurter Parlament“, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), hrg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Königstein/Ts.: Athenäum, 21981, 252 – 273); Eyck, The Frankfurt Parliament, 57 – 101. Der Liberale Karl Mathy ist ein Beispiel für den Mythos um dieses Wahlrecht: „Dies ist doch wohl das demokratischste Wahlrecht, nur die französische Konstitution von 1793 beruht auf einer so freien Grundlage“ (zit. n.: Freyer, Vorparlament, 74). Tatsächlich waren die Beschränkungen je nach Staat teilweise erheblich. Im Gegensatz zu Eyck übersehen Repgen und Hamerow jedoch, dass die rechtliche Grundlage der Wahlen der Beschluss der Bundesversammlung mit seinen Formulierungen und nicht das Vorparlament war. 696 Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 39.

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ohne rechtlich bindenden Charakter, die die Regierungen in der Regel beschlossen, nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen. Angesichts des bewusst vage gehaltenen Beschlusses der Bundesversammlung und ihres Verzichtes, der zu wählenden Versammlung ein konkretes Mandat zu übertragen, wichen die Wahlgesetze der einzelnen Staaten erheblich voneinander ab. Sie waren damit Ausdruck der gravierenden Divergenzen unter den Regierungen über den Charakter und die Rolle der zu wählenden Versammlung. So veröffentlichte die sächsische Regierung am 10. April ihre Verordnung „die Wahl deutscher National-Vertreter für das zwischen den Regierungen und dem Volke zu Stande zu bringende deutsche Verfassungswerk betreffend“.697 Die preußische Regierung rief am 11. April mit einer Verordnung zur indirekten Wahl zu „einer deutschen Nationalversammlung“ auf, während das bayerische Gesetz vom 15. April ebenfalls eine indirekte Wahl vorsah, diesmal jedoch „zur Volksvertretung bei dem deutschen Bunde“.698 Am selben Tag erfolgte die Anweisung der österreichischen Regierung an die „Länderchefs der zum deutschen Bunde gehörenden Provinzen der Monarchie […] die Wahlen der Vertreter des Volkes zu der konstituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main unverzüglich ganz in Gemäßheit der Wünsche des am 31ten März zu Frankfurt versammelten Vorparlaments und des in Konformität gefaßten Bundesbeschlusses vom 7ten d. Mts., einzuleiten“,699 ein Wortlaut, der keineswegs bedeutete, dass die österreichische Regierung, wie sie umgehend klarstellte, sich bedingungslos allen etwaigen Anordnungen, Gesetzen oder der Verfassung der Nationalversammlung zu unterwerfen gedachte. Der Name, und das hieß auch das Mandat der zu wählenden repräsentativen Körperschaft war offensichtlich alles andere als klar. Folglich gingen die Erwartungen zumal der Regierungen an die zukünftige Versammlung und ihre Aufgaben weit auseinander, nicht zuletzt in der Frage der „vereinbarten“ Verfassung, und der Paulskirchenversammlung blieb mithin nichts anderes übrig, als auszutarieren, wo ihr eigentliches Mandat lag, für das sowohl der Verfassungskonvent auf der einen als auch die konstituierende Natio697 Zit. n. Karl Obermann, Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848, Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1987, 122. Das Wahlgesetz von Hessen-Kassel vom 10. April lautete ähnlich, ebd., 164. Allgemein bzgl. der Wahlen auch Valentin, Die erste deutsche Nationalversammlung, 4 – 6. 698 Archiv für die neueste Gesetzgebung in den deutschen Bundes-Staaten. Eine vollständige Sammlung der in den deutschen Bundes-Staaten seit dem März 1848 bereits erschienenen und künftig erscheinenden Gesetze, hrg. v. A. Rauch, Jahrgang 1848 u. 1849, Bd. I, Erlangen: Palm, 1850, 369, 588; Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 267, 278. Am 16. März hatte die preußische Regierung noch die Formulierung „Vertretung der deutschen Nation am Bundestage durch ein s. g. Deutsches Parlament“ benutzt (Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 143). Sehr ähnlich hieß es bei Karl Biedermann, Das deutsche Parlament. Ein Entwurf, der am 30. März in Frankfurt a. M. zusammentretenden Versammlung deutscher Männer gewidmet, Leipzig: Biedermann, 1848, 3: „Die Idee einer Vertretung der deutschen Völker beim Bundestage, eines deutschen Parlaments, und einer demgemäß vorzunehmenden Reform der Bundesverfassung, ist die Losung geworden, welche durch alle deutsche Länder widerhallt.“ 699 Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 271.

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nalversammlung auf der anderen Seite keine weitere Optionen ausschließende Lösung waren. Wie sehr die Entwicklung in diesen Apriltagen noch im Fluss war, drückte indirekt auch das Verhalten der Bundesversammlung aus, als sie von den Siebzehn mit der Frage konfrontiert wurde, was mit dem „Grundgesetz für die künftige Verfassung Deutschlands“ geschehen solle, dessen Entwurf soeben fertiggestellt worden war. Da die Bundesversammlung dazu bislang keine Instruktionen der Regierungen erhalten hatte, sah sie sich nicht in der Lage, die Frage zu beantworten.700 Inmitten der Revolution war der Entwurf der Siebzehn genauso wenig revolutionär, wie es die Beratungen der Bundesversammlung waren. Er war nicht das Ergebnis des pouvoir constituant des Volkes, sondern das Werk eines gemäßigt liberalen Konvents im Auftrag einer Legislative. In dem Entwurf wurden die deutschen Fürsten anerkannt und ihre Throne garantiert, wenngleich ihre Macht so weit gemindert war, wie es die nationale Einheit unter einem erblichen Kaiser erforderte. Nicht die leiseste Andeutung in Richtung Volkssouveränität fand sich in ihm, und die Grundrechte der Bürger sollten durch das Reich gesichert werden, was bedeutet, dass sie politisch, nicht aber verfassungsrechtlich garantiert waren. Jede Veränderung oder Ergänzung der Verfassung bedurfte der Zustimmung des Kaisers.701 Die Mehrheit der Regierungen schien mit den Grundzügen des Entwurfs einverstanden.702 Dennoch ist es bezeichnend für die Bedenken, die zumal die wichtigsten Regierungen mit der Bezeichnung „Konstituierende Nationalversammlung“ hatten, wie auch für den von ihnen propagierten Gedanken der vereinbarten Ver700 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 455 (40. Sitzung, 25. April 1848). Vgl. Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 332. Der hannoveranische Bundestagsgesandte Friedrich Hermann von Wangenheim nannte als Gründe für dieses Versäumnis „[…, dass] keine einzige Deutsche Regierung endlich aber meines Wissens seit dem 30. März ihren BundestagsGesandten von ihren Ansichten über die Gestaltung der Deutschen Verfassungs-Verhältnisse unterrichtet hat. Nimmt man dazu einige Rücksicht darauf, wie die hiesigen Tagesereignisse seit dem 30. März die Stellung der Siebzehner dem Bundestage gegenüber verschoben haben, welche moralische Gewalt und öffentliche Autorität der Funfziger-Ausschuß inmittelst hier usurpiert hat, so kann es wohl kein Wunder nehmen, daß in der Bundesversammlung eine Ansicht über dasjenige Verfahren nicht feststeht, welches hinsichtlich des von den Siebzehnern vorgelegten Entwurfs bei der desfallsigen Verhandlung mit der constituirenden Versammlung zu beobachten sein wird“ [Actenstücke zur neuesten Geschichte Deutschlands (mit besonderer Beziehung auf Hannover), Hannover: Helwingsche Hof-Buchhandlung, 1848, 159 – 160]. 701 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 485 – 493 (Beilage zur 42. Sitzung, 27. April 1848). Vgl. den Bericht v. Heinrich Albert Zachariä sowie den anonymen Kommentar in: Actenstücke zur neuesten Geschichte Deutschlands, 122 – 157. Vgl. auch Rudolf Hübner, „Der Verfassungsentwurf der siebzehn Vertrauensmänner. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Frankfurter Verfassungswerkes“, in: Festschrift für Eduard Rosenthal zum siebzigsten Geburtstag, hrg. v. d. juristischen Fakultät der Universität Jena, Jena: Gustav Fischer, 1923, 109 – 168; Fenske, „Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849“, 266 – 269. 702 In den Augen der hannoveranischen Regierung „hat allhier der Entwurf […] für befriedigend im Allgemeinen nicht anerkannt werden können“ (Actenstücke zur neuesten Geschichte Deutschlands, 161). Bayern stimmte nicht zu und schlug einen eigenen Entwurf vor, vgl. Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 385 – 421.

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fassung, dass sie ihre Vorstellungen über weitergehende Veränderungen an das „deutsche Parlament“ – wie die Bundesversammlung nunmehr die Nationalversammlung nannte703 – zu richten gedachten. Das Abrücken von dem Gebrauch des Namens „Konstituierende Nationalversammlung“, der sich doch im Laufe des April schon weitgehend durchgesetzt zu haben schien, dürfte in unmittelbarem Zusammenhang mit den Äußerungen des hessen-darmstädtischen Bundestagsgesandten von Lepel vom 4. Mai stehen. Lepel hatte den Finger auf die Bezeichnung der Konstituierenden Nationalversammlung gelegt und erklärt, „es ist zu erwarten, daß die Versammlung, selbst wenn sie in einer großen Mehrzahl aus Angehörigen der constitutionellen Monarchie besteht, das ihr nun einmal eingeräumte und fortwährend zu gefährlichen Consequenzen ausgebeutet werdende Prädikat ,constituirende‘ wird realisiren und folgeweise in eine förmliche Verhandlung und vertragsweise Vereinbarung mit den Regierungen nicht sich wird einlassen wollen“.704 Lepel hatte es, zumindest in geheimer Sitzung, gewagt, das fehlende klare Mandat und damit das Kernproblem der Legitimation der Paulskirche anzusprechen und das Unbehagen der Konservativen und aller jenen, die skeptisch gegenüber der Revolution und ihrem Verlauf blieben, mit einer konstituierenden Nationalversammlung zum Ausdruck zu bringen, die nur zu leicht Zuflucht zu revolutionärem Recht und zur Volkssouveränität nehmen könne. Er regte deshalb an, die Nationalversammlung nicht sich selbst zu überlassen und riet den Regierungen, nach Wegen zu suchen, um auf ihre Beratungen und Beschlüsse Einfluss nehmen zu können.705 Als das geheime Separatprotokoll wenige Tage später in Deutschland publik wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los. 500 Frankfurter Bürger unterzeichneten eiligst eine Protestresolution, die sie dem Fünfzigerausschuss übergaben, während Tausende in anderen Städten in meist ähnlichen Formen ihrer Empörung Ausdruck verliehen.706 Für Radikale wie etwa Heinrich Simon aus Breslau hatte Lepels Promemoria die wahren Ziele der Reaktion offenbart, nämlich dass „die constituirende 703 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 611 – 614 (54. Sitzung, 17. Mai 1848). Vgl. das „Pro memoria an das Kollegium der siebzehn Vertrauensmänner über die Stellung des Bundestags zu der konstituirenden Nationalversammlung“, in: Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 285 – 289, mit seinen detaillierten Vorschlägen, wie sich die Regierungen mit der Nationalversammlung verständigen sollten, bevor diese an die Errichtung einer Zentralgewalt ginge. Vgl. auch ebd., 422 – 458. 704 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 546d (47. Sitzung, 4. Mai 1848). 705 Vgl. das ganze „Promemoria“, ebd., 546c – 546g. 706 Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 351, 368, 369, 370; Manfred Köhler, Die nationale Petitionsbewegung zu Beginn der Revolution 1848 in Hessen. Eingaben an das Vorparlament und an den Fünfzigerausschuß aus Hessen (März bis Mai 1848) (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 56), Darmstadt – Marburg: Hessische Historische Kommission Darmstadt/Historische Kommission für Hessen, 1985, 258 – 261. Noch in den ersten vier Wochen der Paulskirche wurden mindestens 10 Protestresolutionen gegen Lepels Promemoria an sie gesandt, vgl. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrg. v. Franz Wigard, 9 Bde., Frankfurt: Johann David Sauerländer, 1848 – 49, I, 15, 84, 92, 192, 193, 230, 244, 304, 320.

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Nationalversammlung keine wirklich constituirende sein, vielmehr nur im Wege des Vertrags mit den Regierungen eine Verfassung bilden, mithin eine bloß berathende Versammlung […] sein solle“,707 während seine gemäßigteren Kollegen weniger insistierten. Mit schon nahezu fahrlässiger Leichtgläubigkeit betonten sie den Gedanken der konstituierenden Nationalversammlung und gaben sich trotz fehlenden klaren Mandats zuversichtlich, dass die Regierungen es nicht wagen würden, sich deren Beschlüssen entgegenzustellen. Zumindest indirekt mochten sie sich in ihrer beschwichtigenden Einstellung durch den hessen-darmstädtischen leitenden Minister Heinrich von Gagern bestätigt fühlen. In einem Schreiben an den Vorsitzenden des Fünfzigerausschusses, jenen Alexander von Soiron, der für die Resolution des Vorparlaments verantwortlich gewesen war, dass allein die Nationalversammlung über die zukünftige deutsche Verfassung zu entscheiden habe, drückte der frisch in die Nationalversammlung gewählte Gagern, der in wenigen Tagen seine neue Aufgabe als ihr erster Präsident übernehmen sollte, die scharfe Missbilligung seines Gesandten aus. In der Tat hatte ihn dessen Promemoria in eine unangenehme Situation gebracht, die den eigenen weiteren Aufstieg, für den er im Vorparlament den Boden bereitet hatte, gefährden konnte. Er reagierte daher mit ungewöhnlicher Schärfe: „Die darin ausgesprochenen Ansichten, sowohl über den Beruf und die Kompetenz der konstituirenden Nationalversammlung, als über die Stellung der Regierungen zu derselben, sind keineswegs die Ansichten der Hessischen Regierung, welche sie vielmehr mißbilligt, und von welcher eine offizielle Erklärung darüber ohne Zweifel sofort erfolgen wird.“708

Im rechtlichen Sinne war die Situation keineswegs so eindeutig, wie Gagern behauptete, denn tatsächlich war die Paulskirchenversammlung von der Bundesversammlung und den deutschen Staaten einberufen worden und, als sie am 18. Mai 1848 ihre Beratungen aufnahm, eher so etwas wie ein Verfassungskonvent mit abgeleiteten Rechten.709 Wenn auch nicht begrifflich, so aber doch rechtlich kam daher 707

Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 352, also 474. Das Protokoll der Debatte vom 12. Mai des Fünfzigerausschusses findet sich, ebd., 350 – 360, der stenographische Bericht, ebd., 465 – 503; Gagerns Brief ist abgedruckt in: Quellensammlung, hrg. v. Roth u. Merck, I, 520. Vgl. auch die Rede des nassauischen Ministers August Hergenhahn vom 12. Mai im Fünfzigerausschuss, in: Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 364 – 365. Ferner die Eintragung Droysens in seinem Tagebuch, in: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, hrg. v. Rudolf Hübner (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 14), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1924, 806 – 807. 709 Vgl. auch Droysens kritische Bemerkungen vom 6. April 1848 in: Walter Fenske, Johann Gustav Droysen und das deutsche Nationalstaatsproblem. Ein Beitrag zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49, Erlangen: Palm & Enke, 1930, 74 – 75. Am 28. April schrieb Droysen in sein Tagebuch, dass er unsicher sei, „ob man die Versammlung noch als eine konstituierende ansehe oder gemeint sei, wie namentlich in der österreichischen Erklärung vorliege, daß man ihre Beschlüsse allenfalls auch verwerfen könne“ (Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung, 803). Hingegen scheint Heinrich Henkel weniger mit der Situation vertraut zu sein, wenn er schreibt: „Wir sind 708

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Karl Wippermann der Situation näher, als er die Paulskirche als konstituierende Nationalversammlung bezeichnet und ihr die „rein constituirende Versammlung“ gegenüberstellte als Versammlung, „welche mit förmlichem Ausschluß der Regierungen die Bundesverfassung feststellen soll“.710 Rechtlich war die Paulskirche über die Verfassungsfrage in einer Situation zustande gekommen, als die überkommene Verfassungsordnung mit dem Deutschen Bund und der Bundesversammlung noch in vollem Umfang bestanden. Daher konnte Gagern, wollte er zum Parlamentspräsidenten gewählt werden, keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er kein Repräsentant der alten Ordnung war. Genau in diesem Sinn konstruierte Gagern am 19. Mai in seiner Antrittsrede als Präsident der Versammlung ihr Mandat: „Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesammte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation. […] Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes, unter der Mitwirkung aller seiner Gliederungen; diese Mitwirkung auch den Staaten-Regierungen zu erwirken, liegt mit in dem Beruf dieser Versammlung.“711

Was immer Gagern und die Führer der gemäßigten Liberalen mit der „Souveränität der Nation“ gemeint haben mochten – sicherlich etwas anderes als die Franzosen, als sie diesen Begriff 1791 in ihrer Verfassung verwandten –, hatte Gagern doch seine Aufgabe erfüllt und dem Gedanken der Volkssouveränität und des pouvoir constituant des Volkes eine klare Absage erteilt,712 während die gemäßigte liberale Reform und der Hinweis auf eine Art vereinbarter Verfassung eine Programmatik verhießen, die von der Mitte bis zur gemäßigten Rechten auf breite Zustimmung stieß.713 nicht hierher gekommen, um zu regieren oder Gesetze im engeren Sinne zu machen, sondern einzig und allein, um zu constituiren, um ein deutsches Grundgesetz zu schaffen“ (Heinrich Henkel, Ansichten über die Aufgaben der deutschen Nationalversammlung, Frankfurt am Main: ohne Verlag, 1848, 4). Henkel war ein Anhänger der Volkssouveränität und sah keinen Grund für eine vereinbarte Verfassung, schlug jedoch vor, „daß wir das Verfassungswerk […] der Bundesversammlung als Vertreterin der Regierungen vorlegen, mit dem Ersuchen, solches als einen zwischen der deutschen Nation und deren Regierungen zu Stande gekommenen Grundvertrag mit uns zu unterzeichnen“ (ebd., 8). 710 Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 472 (12. Mai 1848). 711 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 17 (2. Sitzung, 19. Mai 1848). 712 Bzgl. der Vorbereitung der Wahl und von Gagerns Rede am 17. April, vgl. die Tagebucheintragung von Droysen, in: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung, 809 („Souveränität der Nation, nicht Volkssouveränität, nicht Souveränität der Teile“). Generell zu Droysen und Gagern auch Wolfgang Hock, Liberales Denken im Zeitalter der Paulskirche. Droysen und die Frankfurter Mitte, Münster: Aschendorff, 1957, bes. 81 – 86. Zu dem Problem der Volkssouveränität in der Paulskirche, vgl. auch den etwas erratischen und an mangelnder Begriffsschärfe leidenden, auf seiner Hamburger philosophischen Dissertation von 1923 fußenden Aufsatz von Andrea Frahm, „Paulskirche und Volkssouveränität“, in: Historische Zeitschrift, 130 (1924), 210 – 255. 713 Bis zum Schluss bestanden die Regierungen auf ihrem Recht, an dem Entwurf einer Verfassung für Deutschland mitzuwirken, vgl. Jörg-Detlef Kühne, „Eine Verfassung für Deutschland“, in: 1848. Revolution in Deutschland, hrg. v. Dipper u. Speck, 356 – 357. Vgl. auch Jörg-Detlef Kühne, „Die Revolution von 1848/49 als Umbruch für Recht und Juristen“, in:

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Der Übergang von einer Körperschaft, die nach Entstehung, Aufgabe und Selbstverständnis als eine Art Verfassungskonvent bezeichnet werden könnte, hin zu einer konstituierenden Nationalversammlung vollzog sich schrittweise zwischen Ende Mai und Anfang Juli. Legitimiert durch die Volkswahl, weigerte sich die Paulskirche rasch, ein reiner Ratifizierungskonvent zu sein, der lediglich über den Entwurf der siebzehn Vertrauensmänner zu befinden habe. Vielmehr wolle man als Verfassungskonvent seine eigene Verfassung entwerfen, zumal man sich angesichts der konstituierenden Nationalversammlung in Berlin und möglichen ähnlichen Bestrebungen an anderen Orten in seiner Legitimation, für Deutschland zu sprechen, bedroht sah.714 Doch nach wie vor ungelöst war die Mandatsfrage und ob die zukünftige Verfassung eine vereinbarte Verfassung sein solle, ein Problem, bei dem es im Kern um das Selbstverständnis der Paulskirche ging, deren Ursprung angesichts der Rechtslage keineswegs revolutionär war. Die Mehrheit der Paulskirche schreckte daher vor der Anerkennung von Volkssouveränität und der Revolution als Legitimationsgrundlage zurück. Hermann von Beckerath deutete für sie einen Weg an, wie man, ohne auf beide Prinzipien zurückgreifen zu müssen, seine Aufgabe verstehen und durchführen könne: „Wir sind aus dem Gesammtwillen des deutschen Volkes hervorgegangen. Die Regierungen haben die Wahlen angeordnet, das Volk hat gewählt, und durch dieses Zusammenwirken von Volk und Regierung hat sich der legale Gesammtwille des deutschen Volkes kund gegeben. Dieser Gesammtwille hat uns einen hohen Auftrag ertheilt […] Und in dieser Erkenntniß liegt es, daß die deutsche Nationalversammlung sich die Endbeschlußnahme über die allgemeine deutsche Verfassung unter allen Umständen vorbehalten muß.“715 Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 18 (1996), bes. 255 – 256. Bezeichnenderweise begründete die preußische Regierung ihre Ablehnung der Verfassung zwar mit darauf Bezug nehmenden Erwägungen, indem sie feststellte: „Die in Frankfurt zusammengetretene NationalVersammlung hat, als sie die von ihr berathene Reichsverfassung als abgeschlossen und weiterer Verhandlung unzugänglich verkündigte, sich selbst außer Stand gesetzt, ihr Mandat ferner zu erfüllen; ihre weiteren Beschlüsse entbehren daher schon deswegen jeder rechtlichen Gültigkeit und können nur als Uebergriffe betrachtet werden, denen keinerlei Folge zu geben ist.“ Doch letztlich war ihre Ablehnung der behaupteten Machtüberschreitung nicht rechtlich, sondern ausschließlich politisch begründet: „Sie [d. h. die Regierungen von Preußen, Sachsen und Hannover] haben die von der National-Versammlung entworfene Reichs-Verfassung nicht anerkannt, weil sie über die wahren und heilsamen Anforderungen eines kräftigen Bundesstaates hinausgriff, und in ihrer aus den Kämpfen und Zugeständnissen der politischen Parteien hervorgegangenen Gestalt die wesentlichsten Bürgschaften entbehrte, auf welchen der rechtliche und geordnete Bestand jedes Staatswesens beruht“ (Entwurf der Verfassung des deutschen Reichs und des Gesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause nebst dem Schreiben vom 28. Mai 1849, mit welchem sie von Preußen, Sachsen und Hannover den deutschen Regierungen vorgelegt worden sind, Hannover: Helwing, 1849, 2. Das einleitende Schreiben ist von dem preußischen Ministerpräsidenten Graf von Brandenburg unterzeichnet). Zum Gedanken der Volkssouveränität in Deutschland im 19. Jahrhundert und speziell in der Paulskirche, vgl. jetzt Dieter Wyduckel, „La soberanía en la historia de la dogmatica alemana“, in: Fundamentos, 1 (1998), bes. 246 – 249. 714 Vgl. Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 34 – 38, 49, 134. 715 Ebd., 134 (27. Mai 1848).

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Es war die Absicht, den pouvoir constituant des Volkes ohne Berufung auf die Volkssouveränität zur Geltung zu bringen. Trotz dieses Versuchs einer Quadratur des Kreises war die Ablehnung auf der äußersten Rechten grundsätzlich. Die Wahl habe die Nationalversammlung nicht mit dem ausschließlichen Mandat versehen, über die Verfassung zu entscheiden,716 eine Position, die selbst Liberale wie Karl von Welcker zunächst nicht vollständig zurückwiesen: „Die Regierungen haben aber zum Voraus thatsächlich ihre Nachgiebigkeit erklärt, indem sie eine Nationalversammlung berufen haben, um einen Bundesstaat zu machen, wobei nicht mehr jede einzelne Regierung entscheidet, sondern wobei die Gesammtheit der Regierungen und ihre Mehrheit mitwirken müsse.“717

Denn, so Welcker, die rechtliche Basis der Paulskirche sei eben nicht die Revolution: „Die Facta, wodurch diese Versammlung entstanden ist, haben auch nicht einen revolutionären Charakter. Zweierlei verschiedene Thatsachen sind es, die diese Versammlung in die Paulskirche gebracht haben; allein ich wiederhole: nichts davon war revolutionär.“718 Welckers Betonung des nicht-revolutionären Charakters der Einberufung, der Wahl und des Zusammentritts der Paulskirche war kennzeichnend für die Mehrheit aus gemäßigten Liberalen und Konservativen, markierte aber auch den grundlegenden Unterschied zur französischen Konstituierenden Nationalversammlung von 1789, die ihre Legitimation aus dem revolutionären Akt des 17. Juni 1789 bezog. Solange es die Mehrheit der Paulskirche aufgrund ihrer Zurückweisung von Volkssouveränität und revolutionärem Recht nicht vermochte, ihrem Handeln eine eigene Rechtsgrundlage zu geben, sich zumindest formal in den Besitz originären Rechts zu setzen, hatte sie trotz ihres Namens mehr mit einem Verfassungskonvent gemein, statt konstituierende Nationalversammlung, gar nach dem heimlichen Vorbild von 1789 zu sein.719 Welckers Auffassung verlor jedoch in den anschließenden Wochen zusehends an Gewicht, indem das Streben nach Errichtung einer Zentralgewalt ursächlich für einen 716

Vgl. ebd., 136, 439. Ebd., 142 (27. Mai 1848). 718 Ebd., 140 (27. Mai 1848), vgl. ähnlich 109, 410. Kühne ist fraglos zuzustimmen, wenn er feststellt, dass die Mehrheit der Paulskirche „Recht und Revolution“ als gegensätzlich begriff (Kühne, „Die Revolution von 1848/49“, 256). Doch seine Schlussfolgerungen gehen am Kern vorbei. Weil sie das „Recht“ anstelle von „Revolution“ als Legitimationsgrundlage propagierte, konnte sie kein Widerstandsrecht akzeptieren. Die von Kühne konstatierte „eigentümliche Verhaltenheit, ja Amodernität“ (ebd.) war daher die logische Folge dieses Zurückschreckens vor der Revolution. 719 Bemerkenswerterweise hatten bereits am 23. Mai zwei Abgeordnete in unverkennbarer Analogie zum Ballhausschwur den Antrag gestellt, „daß die constituirende Versammlung feierlich erkläre, so lange sich nicht aufzulösen, bis das Werk der Verfassung Deutschlands vollendet ist“ bzw.: „Die constituirende Nationalversammlung wolle sich bis zu dem Zeitpunkt für permanent erklären, wo sie die Grundrechte des deutschen Volkes und die Gesammtverfassung Deutschlands festgestellt habe und letztere wirklich in das Leben getreten sein wird“ (Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 49). Beide Anträge fanden keine weitere Beratung. 717

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grundlegenden Wandel der Selbsteinschätzung der Paulskirche wurde. Der Gedanke, eine Bundeszentralgewalt einzusetzen, beschäftigte schon lange vor dem Zusammentritt der Paulskirche die Gemüter,720 und Heinrich Zachariä hatte deutlich gemacht, wie die Fragen von Verfassung, konstituierenden Nationalversammlung und Zentralgewalt miteinander verwoben waren: Sollte Deutschland fortfahren, ein Staatenbund zu sein, erfordere dies eine Verfassung auf dem Wege des Vertrags. Man habe es jedoch mit einer gewandelten Situation zu tun, weil „durch die gesetzliche Wahl und das Vertrauen des Volks“ ein „Bundesstaat“ geschaffen worden sei, der – wiederum ohne Rekurs auf die Volkssouveränität und den pouvoir constituant des Volkes – nicht von der Zustimmung seiner Mitgliedsstaaten abhänge und der eine gemeinsame Exekutive benötige.721 Die Frage der Zentralgewalt wurde an einen Ausschuss verwiesen, und dessen linke Minderheit erblickte, „vermöge des Grundsatzes der Volkssouveränetät, in der Nationalversammlung die erste und alleinige Quelle der Executivgewalt. Es verlangt eine Vollziehungsgewalt, von der Nationalversammlung allein ernannt und aus ihrem Schooße entspringend; ihre Aufgabe ist, die Beschlüsse der Nationalversammlung zu vollziehen. Dieses System nimmt keine Rücksicht auf die Rechte der deutschen Regierungen, keine auf ihr Organ, die Bundesversammlung.“722

Die gemäßigte Mehrheit hingegen unterbreitete den Vorschlag eines provisorischen Bundesdirektoriums „und greift somit weder in die Befugnisse der einzelnen Regierungen, noch in die Rechte ein, welche der Nationalversammlung als einer constituirenden in Hinsicht auf das deutsche Verfassungswerk zustehen“.723 Die extreme Rechte, beharrend auf dem Gedanken der vereinbarten Verfassung, stimmte zwar einer Zentralgewalt im Prinzip zu, betonte jedoch, dass diese von den regierenden Fürsten gebildet werden müsse.724 Damit gingen die Meinungen weit auseinander von einem Vollziehungsrat über ein Direktorium von drei Männern oder nur einem, vielleicht einem „Reichsverweser“, der, ohne selbst verantwortlich zu sein, eine Regierung einsetze, die der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich sei, bis zu einer von den regierenden Fürsten gebildeten Exekutive. Allein die radikale Linke plädierte für eine Republik, doch ob Volkssouveränität und Revolution die rechtliche Grundlage für die Einsetzung einer Exekutivgewalt bilden sollten oder die Nationalversammlung das alleinige Mandat für diesen Schritt besaß oder aber die Regierungen darin einbezogen werden müssten, blieb zutiefst umstritten. Der Durchbruch erfolgte, als Gagern seinen Kompromissvorschlag einbrachte, der geschickt einige Gedanken der Linken aufgriff, sie jedoch ihrer radikalen Be720

Der Fünfzigerausschuss beschäftigte sich spätestens seit dem 18. April mit der „Errichtung einer definitiven Bundesexecutivgewalt“, Verhandlungen des Deutschen Parlaments, II, 117. Vgl. Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 38, 50, 123, 194, 215, 237, u. ö. 721 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 148 (27. Mai 1848). Vgl. ähnlich ebd., 373, 405. 722 Ebd., 356 (19. Juni 1848). 723 Ebd., 357, vgl. auch 358. 724 Vgl. ebd., 439 (21. Juni 1848).

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gründung entkleidete und für eine Exekutivgewalt mit verantwortlichen Ministern und das gleichzeitige Ende der Bundesversammlung eintrat. In der zentralen Frage, wer zur Einsetzung dieser Bundesgewalt legitimiert sei, wollte er die Mitwirkung der Regierungen nicht grundsätzlich ausschließen. Aber: „Ich thue einen kühnen Griff, und ich sage Ihnen: wir müssen die provisorische Centralgewalt selbst schaffen.“725 Gagerns „kühner Griff“, der in der Literatur oft missverstanden wurde,726 war der Versuch, eine Art staatlichen Notstand zu unterstellen, der eine besondere Rechtssituation schaffe, in der unmittelbares, eigenmächtiges Handeln zur Einrichtung einer Exekutivgewalt geboten sei, da keine Zeit verbleibe, die Regierungen zu Rate zu ziehen, mit anderen Worten die Begründung einer Bundesgewalt nicht durch eine behauptete Volkssouveränität – was Gagern nach wie vor ablehnte –, sondern kraft reklamiertem Notstandsrechts.727 Dieser geniale Schachzug verfehlte seine Wirkung nicht, die Linke stimmte zu, weil die Nationalversammlung von sich aus gehandelt hatte, und die Gemäßigten waren beruhigt, weil das Prinzip der Volkssouveränität erneut abgewiesen worden war. Lediglich 31 Mitglieder der Paulskirche – eine überproportionale Zahl von ihnen aus Bayern – beharrten auf der Zustimmung der Regierungen für die Einsetzung der Zentralgewalt, während 577 diesen Vorbehalt zurückwiesen.728 Damit war der Weg für die Einrichtung einer Bundesgewalt frei. Ohne auf revolutionäres Recht zu rekurrieren, war die Paulskirche damit endlich bereit, ihre Rolle als Konstituierende Nationalversammlung, wenn auch mit wesentlichen Einschränkungen anzunehmen. Doch selbst die Linke war in dieser Situation nicht willens, über das französische Beispiel von 1789 hinauszugehen und nach weiterer demokratischer Legitimation zu streben. Kaum ein anderer als Robert Blum war geeigneter, diese Auffassung über jeden Zweifel deutlich zu machen, ohne dass sich angesichts der weitgehenden Unkenntnis der amerikanischen Version des modernen Konstitutionalismus729 Widerspruch regte: „Allerdings hat man heute Morgen gesagt, die Nationalversammlung sei gewissermaßen nur ein Geschwornengericht, das Volk aber ein Appellhof, welcher in letzter Instanz entscheidet. Ich gehöre zwar der Linken an, aber bekennen muß ich, wir haben uns vor diesen ultrarevolutionären Ansichten entsetzt. Nur einmal in der Geschichte ist es dagewesen, daß man das Volk direct entscheiden ließ über die Verfassung. Das war 1793, und diese Verfassung war wegen ihres ultra-revolutionären Charakters nicht lebensfähig.“730

725

Ebd., 521 (24. Juni 1848). So z. B. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, II, 37; Hildebrandt, Politik und Taktik der Gagern-Liberalen, 58 – 66; Ribhegge, Das Parlament als Nation, 40 – 41. 727 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 521 – 522. Vgl. Boldt, „Konstitutionelle Monarchie oder parlamentarische Demokratie“, 604 – 606; Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 – 1850, Düsseldorf: Droste, 1977, 173 – 176; Fenske, „Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849“, 270. 728 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 576 – 581 (27. Juni 1848). 729 Vgl. dazu oben Kap. VI. 5. 730 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, I, 151 (27. Mai 1848). 726

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Blum hatte deutlich gemacht, dass er nicht bereit war, die von der französischen Nationalversammlung von 1789 gezogene Linie zu überschreiten, und sich damit von radikaleren Ideen abgegrenzt, aber er hatte indirekt damit auch unterstrichen, dass im Kontext dieser europäischen Gedankenwelt für den modernen Konstitutionalismus in seiner amerikanischen Ausprägung mit seinen Verfassungskonventen letztlich kein Platz war. Angesichts dieser scharfen Blumschen Abgrenzung nach links, verfehlte die Feststellung, dass, „wenn wir neben unserer gesetzgebenden Gewalt auch noch die Regierungsgewalt in die Hände nehmen, wir nichts mehr und nichts weniger sind, als der Convent“,731 zwangsläufig ihre Wirkung. Die französische Convention war zu keiner Zeit ein Leitbild, dem die Paulskirche nachzustreben bereit gewesen war.732 Dass Blum mit seinen Bemerkungen, und sei es auch nur unbewusst, zugleich die Prinzipien der Volkssouveränität und des pouvoir constituant des Volkes geopfert hatte, steht auf einem anderen Blatt. Der Schlussakkord war erreicht, als die Nationalversammlung die provisorische Zentralgewalt einsetzte und den Habsburger Erzherzog Johann zum Reichsverweser wählte. Damit war jeder auch noch so vage Gedanke an die Convention endgültig gestorben, und die Paulskirche hatte sich von einer Art Verfassungskonvent, dessen alleinige Aufgabe es ist, eine Verfassung zu entwerfen, zu einer Konstituierenden Nationalversammlung gewandelt, die auch die gesetzgebende Gewalt für sich reklamierte. Doch stellte dies weder einen revolutionären Wandel dar, noch begründete die Paulskirche damit einen neuen Legitimationsanspruch noch ein auf der Volkssouveränität begründetes Mandat. Es lag daher in der Natur der Sache, dass die Bundesversammlung beide Maßnahmen anerkannte und „ihre bisherige Thätigkeit als beendet“ erklärte.733 Zusammenfassend wird man feststellen können, dass das Paulskirchenparlament ohne ein eindeutiges Mandat zusammengerufen worden war, um so etwas wie einen Verfassungskonvent abzugeben – obwohl man über nahezu keine Kenntnisse des amerikanischen Modells verfügte –, der über die Verfassung beraten sollte, während die bestehenden Verfassungsorgane weiter ihrer Tätigkeit nachgingen. Aber innerhalb nur weniger Wochen wandelte sich die Paulskirche zu einer Konstituierenden Nationalversammlung und reagierte damit auf die revolutionäre Situation in Deutschland. Es war jedoch ein eigentümlicher Umschwung, der, nachdem er einmal erfolgt war, sich nur begrenzt an das französische Beispiel von 1789/91 anlehnte – Einrichtung einer Regierung unter gleichzeitiger weitgehender Berücksichtigung bestehender politischer Institutionen, Erklärung der Rechte, Verfassung und Suche nach Zustimmung durch den (die) Monarchen – unter gleichzeitiger Zurückweisung radikalerer Vorbilder. Der grundlegende Unterschied zu 1789 und einer der ent731

Ebd., 509 (Friedrich Wilhelm Albert Kosmann am 24. Juni 1848). Vgl. Manfred Botzenhart, „Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien 1848/ 49“, in: Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, hrg. v. Gerhard A. Ritter, Düsseldorf: Droste, 1974, 127. 733 Protokolle der deutschen Bundesversammlung, 757 (12. Juli 1848). 732

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scheidenden Gründe für das letztliche Scheitern der Paulskirche war jedoch ihr Versuch, eine Konstituierende Nationalversammlung zu errichten und gleichzeitig ihr konstituierendes Prinzip, nämlich den pouvoir constituant des Volkes und die Volkssouveränität zurückzuweisen. Dieser Versuch der Quadratur des Zirkels barg von Anbeginn an dem Keim des Scheiterns in sich. Die Paulskirche ist damit auch ein Beleg für die beiden anderen eingangs aufgeworfenen Fragen. Sie unterstreicht erneut, dass die amerikanische Idee des Verfassungskonvents im modernen Konstitutionalismus europäischer, sprich französischer Machart keine Wurzeln geschlagen hatte und daher in der Situation von 1848 genauso wenig wie später – von wenigen Ausnahmen abgesehen – eine wirkliche Alternative darstellen konnte.734 Das Interesse an den amerikanischen Verfassungen war nicht nur unterentwickelt geblieben, so dass der französische Einfluss, zumindest in den großen Linien, tonangebend bleiben konnte. Das europäische Verfassungsdenken hatte sich zudem anders entwickelt. Doch gerade in diesem Punkt zögerte die Paulskirche, dem französischen Beispiel zu folgen, indem sie sich anders als die Nationalversammlung von 1919 zwischen etablierte Macht und revolutionäres Volk stellte, nur um dann zwischen beiden zerrieben zu werden. Sie wollte die moderne Verfassung, war aber nicht bereit, die Legitimationsfrage eindeutig und im Sinne des modernen Konstitutionalismus, weder in seiner amerikanischen noch der näherliegenden französischen Variante zu beantworten. Damit werden Defizite im deutschen Verfassungsdiskurs der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennbar, der anders als in Amerika oder Frankreich bislang der Sinnfrage von Verfassung ausgewichen war. Doch selbst in ihrem Fehlschlag bleibt die Paulskirche ein Beispiel für die Unterschiede zwischen der amerikanischen Version des modernen Konstitutionalismus auf der einen und der europäischen mit allen seinen Varianten auf der anderen Seite sowie für die Defizite, die ungeachtet aller Fortschritte der zurückliegenden Jahrhunderthälfte in der Adaption des modernen Konstitutionalismus in Deutschland in der Revolution von 1848, nicht allein in Kreisen der gemäßigten Liberalen, immer noch bestanden.

10. Die Konstitutionalisierung des Bundesstaats in Deutschland 1849 – 1949: Zwischen Tradition und Innovation735 „Gern weilt dagegen der Blick Desjenigen, dem die Form eines wahren Bundesstaats am Herzen liegt, bei der Verfassung der nordamerikanischen Staaten. In jenem Land ist die Aufgabe gelöst, die Macht einer Centralregierung – dem Zwecke der amerikanischen 734

Vgl. dazu unten Kap. VII. 2. Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Die Konstitutionalisierung des Bundesstaats in Deutschland 1849 – 1949 und die Rolle des amerikanischen Modells“, in: Der Staat, 38 (1999), 221 – 239. 735

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Verfassung treu: einen vollkommenen Verein zu bilden, Gerechtigkeit zu begründen, innere Ruhe zu sichern, für gemeinsame Vertheidigung zu sorgen, und den Segen der Freiheit zu bewahren, – mit der vollsten Möglichkeit einer wohlthätigen Entwickelung der Einzelstaaten in Harmonie zu bringen. Eine lange Reihe von Jahren hat dem ehrwürdigen Gebäude Festigkeit gegeben, und gezeigt, daß die dort gewählte Form, wie Mohl in seinem Werke über Amerika mit Recht sagt, als ein Wunder unserer Zeit, vor Allem des Nachdenkens des Staatsmannes würdig ist.“736

Mit diesen Worten begründete der Heidelberger Strafrechtler Mittermaier namens der Mehrheit des Verfassungsausschusses die im Entwurf der Paulskirchenverfassung vorgesehene bundesstaatliche Ordnung für das künftige Deutsche Reich nicht ohne hinzuzufügen, dass die besonderen Umstände der Vereinigten Staaten „zur vorsichtigen Prüfung bei Nachahmung amerikanischer Einrichtungen in Deutschland, unter Verhältnissen eines Bundes von Monarchieen, auffordern“.737 Anders als in der Schweiz, wo die Revisionskommission zur Ausarbeitung einer Bundesverfassung am 23. März 1848 die Einführung des Zweikammernsystems nach amerikanischem Vorbild beschlossen hatte,738 sahen sich Mittermaier – und mit ihm zahlreiche Liberale der Paulskirche – in dem Dilemma zwischen ehrfurchtsvoller Bewunderung für die Verfassung des fernen Amerika einerseits und der unerschütterlichen Bereitschaft andererseits, die staatsrechtliche Realität der deutschen Staaten als gegeben anzuerkennen.739 Auch die im Verfassungsausschuss durch Robert Blum und Franz Wigard vertretene linke Minderheit votierte für eine bundesstaatliche Ordnung, deren Grundzüge ungeachtet ihrer deutlichen Abweichung von der Mehrheitsposition immer noch die Beeinflussung durch die amerikanische Verfassung erkennen lassen, selbst wenn manches Detail dabei zunächst unklar bleiben sollte: „Nur durch eine […] den Einzelregierungen gegenüber stark und kräftig gemachte Centralgewalt, bei welcher alle deutschen Volksstämme nach Maßgabe ihrer Bevölkerung in gleichem Verhältnisse vertreten sind, kann eine auf der Freiheit und auf gleicher Berechtigung Aller beruhende Einheit Deutschlands hergestellt werden; bleiben aber die deutschen

736 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrg. v. Franz Wigard, 9 Bde., Frankfurt/M.: Sauerländer, 1848 – 49, IV, 2724. 737 Ebd. Der Sache nach ähnlich auch Georg Waitz in: Die Verhandlungen des VerfassungsAusschusses der deutschen Nationalversammlung, hrg. v. Johann Gustav Droysen, Leipzig: Weidmann, 1849, 74 – 75. 738 Vgl. dazu Simon Netzle, „Die USA als Vorbild für einen schweizerischen Bundesstaat“, in: Andreas Ernst/Albert Tanner/Matthias Weishaupt (Hrsg.), Revolution und Innovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848 (Die Schweiz 1798 – 1998: Staat – Gesellschaft – Politik, I), Zürich: Chronos,1998, 49 – 60. 4 Vgl. dazu ausführlicher mein Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip,1994, 32 – 46.

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Einzelstaaten Mächte, so ist nur eine auf Suprematie, auf die Herrschaft der Einen und die Dienstbarkeit der Andern gegründete Einheit denkbar.“740

An keiner anderen Stelle erwiesen sich die Verfassungsberatungen der Paulskirche derart von dem amerikanischen Beispiel beeinflusst wie bei den Auseinandersetzungen über die zukünftige bundesstaatliche Ordnung Deutschlands.741 Auch der in diesem Zusammenhang mitunter anzutreffende Hinweis auf die Schweiz kann diesen Eindruck nicht ernsthaft entkräften. Dennoch gilt in der Literatur der amerikanische Einfluss in der Frage des Bundesstaates in der Regel als nicht erwähnenswert,742 da angeblich eine bundesstaatliche Ordnung nicht nur 1848/49 für Deutschland offenkundig gewesen sei, sondern auch allein diese der politischen Ordnung in Deutschland geradezu natürlicherweise entspräche.743 Diese anhaltende Einschätzung744 entspricht weder den historischen Gegebenheiten noch ist sie in der 740 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, IV, 2744, vgl. 2742 – 2743 (Hervorhebung im Original, HD). 741 Vgl. dazu auch John A. Hawgood, Politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der deutschen provisorischen Central-Regierung zu Frankfurt am Main 1848 – 49, Diss. phil. Heidelberg 1928, 22 – 37, der sich allerdings weitgehend auf den für die Beratungen der Paulskirche nicht repräsentativen Rönne stützte. 742 Eine der wenigen Ausnahmen ist der, wenn auch etwas überzeichnete Beitrag von Hans Boldt, „Der Föderalismus in den Reichsverfassungen von 1849 und 1871“, in: Die Amerikanische Verfassung und Deutsch-Amerikanisches Verfassungsdenken. Ein Rückblick über 200 Jahre (Krefelder Historische Symposien, II), hrg. v. Hermann Wellenreuther u. Claudia Schnurmann, New York – Oxford: Berg, 1991, 297 – 333. 743 So u. a. Hans Venator, Unitarismus und Föderalismus im deutschen Verfassungsleben mit besonderer Berücksichtigung der Verfassung von 1919, Berlin – Leipzig: Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, 1921, 10 – 11; Bodo Dennewitz, Der Föderalismus. Sein Wesen und seine Geschichte, Hamburg: Drei-Türme-Verlag, 1947, 7; Otto Kimminich, „Historische Grundlagen und Entwicklung des Föderalismus in Deutschland“, in: Probleme des Föderalismus. Referate auf dem Symposium „Föderalismus in der SFR Jugoslawien und in der Bundesrepublik Deutschland – ein Vergleich“, Tübingen: Mohr, 1985, 15; ders., „Der Bundesstaat“, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrg. v. Josef Isensee u. Paul Kirchhof, I, Heidelberg: Müller, 1987, 1131; Thomas Nipperdey, „Der Föderalismus in der deutschen Geschichte“, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München: Beck, 21986, 60 – 109; Michael Dreyer, Föderalismus als ordnungspolitisches und normatives Prinzip. Das föderative Denken der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Lang,1987, bes. 550 – 551, 562; Hans Maier, „Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen“, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 115 (1990), 223. Überzeugend argumentiert gegen die Auffassung, „daß eine Verbreiterung der unitarischen Basis der deutschen Reichsverfassung an sich etwas Widernatürliches gewesen sei“, Heinrich Triepel, „Der Föderalismus und die Revision der Weimarer Reichsverfassung“, in: Zeitschrift für Politik, 14 (1925), 199. 744 Als Beispiel sei auf den Beitrag von Elmar Wadle über die föderalen Strukturen in der deutschen Verfassungsgeschichte zwischen 1815 und 1866 verwiesen, der, was die theoretischen Grundlagen angeht, den einzigen real existierenden Bundesstaat der Zeit, die Vereinigten Staaten, kein einziges Mal erwähnt, obwohl er sich dabei auf Autoren beruft, die ihr Bundesstaatskonzept in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Amerika entwickelt hatten: Elmar Wadle, „Staatenbund oder Bundesstaat? Ein Versuch über die alte Frage nach den föderalen Strukturen in der deutschen Verfassungsgeschichte zwischen 1815 und 1866“, in: Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der

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Lage, die spezifischen Ausprägungen des deutschen Bundesstaates in seinen Differenzen zu vergleichbaren Modellen hinreichend zu erklären. Um die deutschen Bundesstaatskonzepte seit der Paulskirche angemessen deuten zu können, wird es mithin angebracht sein, weiter auszuholen. Nachdem sich radikalere Vorstellungen innerhalb der 1848er Revolution als nicht durchsetzbar erwiesen hatten und die Revolution vor dem Austausch der politischen Eliten zurückgeschreckt war – übrigens sehr im Unterschied zu den so bewunderten Amerikanern, die doch zunächst die englischen Herrschaftsträger aus dem Land gejagt hatten, um dann in den Einzelstaaten ihre eigene Macht zu etablieren, bevor sie zu einer übergeordneten Vereinigung schritten –, gab es in der Tat kaum eine andere Möglichkeit, als von den bestehenden deutschen Staaten auszugehen. Doch diese Zwangsläufigkeit rückblickend zur nationalen Tugend erheben zu wollen, dient der Sanktionierung des Bestehenden und verstellt den Blick für historische Alternativen. Was immer deren konkretes Gewicht in dieser Situation gewesen sein mag, so ist weder zu verkennen, dass in einem voraufgegangenen Revolutionszeitalter, den 1790er Jahren, als erstmals in Deutschland allerdings noch private Projekte für eine deutsche Verfassung veröffentlicht wurden, keine von ihnen eine bundesstaatliche Lösung vorsah, sondern alle von der einheitlichen Republik ausgingen745 – ein Gedanke, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machtvoll wieder auflebte – und dass in der 1848er Revolution der von Frankreich wie übrigens auch der von England ausgehende Verfassungseinfluss746 groß und insgesamt stärker als die sehr punktuellen amerikanischen Einwirkungen gewesen ist.747 Desto höher ist mithin der unbestreitbare amerikanische Einfluss gerade in dem Grundsatz einer bundesstaatlichen Ordnung anzusehen, der umso gewichtiger zu Buche schlägt, als sich ihm offensichtlich weder die Mitte und Rechte noch die Linke zu entziehen vermochten, einschließlich der radikalen Linken,748 man denke nur an Struves Eintreten für eine föderale Republik nach amerikanischem Vorbild, der damit eine bereits vier Jahre zuvor öffentlich erhobene Forderung aufgriff: „Die Föderativ-Republik ist Deutschlands Zukunft mit nordamerikanischer Verfassung“,749 wie ihr anonymer Autor apodiktisch feststellte. Mittermaier wie Blum Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.3. – 15. 3. 1995, hrg. v. Wilhelm Brauneder (Der Staat, Beiheft 12, 1998), bes. 141 – 146. In analoger Weise spielt bei der Darlegung der historischen Entwicklung des Föderalismus in Deutschland das amerikanische Beispiel keine Rolle bei Heinz Laufer u. Ursula Münch, „Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland“, ebd., bes. 41 – 92. 745 Vgl. dazu oben Kap. VI. 2. 746 Vgl. dazu auch Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Eine Darstellung und Kritik des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Diss. phil. Tübingen, Stuttgart: Kohlhammer, 1927. 747 Vgl. dazu oben Kap. VI. 5. 748 Vgl. dazu auch Dreyer, Föderalismus, 552 – 553. 749 Die modernen Constitutionen Deutschlands, Den geheimen Wiener Conferenz-Beschlüssen gegenüber, Mühlhausen: Baret, 1844, 63.

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haben dabei in der Paulskirche die Palette der damit verknüpften Vorstellungen deutlich gemacht: ein fester politischer Zusammenschluss auf der Basis einer gemeinsamen Rechtsordnung und allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte, weitgehende Eigenständigkeit der Bundesstaaten nach innen und gemeinsame Verteidigung nach außen auf der einen Seite und eine auch nach innen dominante Zentralgewalt auf der Basis der Freiheit und Gleichheit der Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Damit standen zwei alternative Modelle im Raum, die unter den Bedingungen der historischen Situation von 1848/49 letztlich beide, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, ein Scheitern, das für den weiteren Gang der deutschen Geschichte weitreichende Folgen haben sollte. Die äußeren Gründe dieses Scheiterns sind hinreichend bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Wichtiger sind in diesem Zusammenhang die inneren Faktoren. Wenn Mittermaier an dieser zentralen Stelle das Beispiel der Vereinigten Staaten herausstrich und sich dabei auf das schon nahezu ein Vierteljahrhundert alte Jugendwerk Robert von Mohls berief, so konnte er doch auf eine vielfältige deutsche Literatur in dieser Frage blicken, die von Gagern, Pfizer und Raumer ebenso einbezog wie das Rotteck-Welckersche Staatslexikon und die reichhaltige Flugschriftenliteratur der 1848er Revolution, in der Bunsen, Baader, Roßbach, Goltz, Lieber, Rönne u. a. immer wieder auf den amerikanischen Bundesstaat verwiesen hatten.750 Zusätzlich hatte Mittermaier die amerikanischen Kommentare insbesondere von Kent und Story zumindest partiell zu Rate gezogen. Dennoch waren seine Kenntnisse wie etwa auch die Blums von der wahren Natur dieses staatsrechtlich immer noch neuartigen Gebildes eines Bundesstaates nicht wesentlich über die unzureichende Erfassung des Phänomens durch Mohl oder Murhard hinausgegangen. Das grundlegende Werk dazu, den Federalist, hatte keiner gelesen – es sollte auch noch einhundert Jahre später bei den Beratungen des Par750

Vgl. dazu Robert Mohl, Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von NordAmerika, I: Verfassungs-Recht, Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1824; Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des Deutschen Liberalismus, Tübingen: Laupp, 1832; Friedrich von Raumer, Die vereinigten Staaten von Nordamerika, 2 Bde., Leipzig: Brockhaus, 1845; Friedrich Murhard, „Nordamerikanischer Verfassung“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrsg. v. Karl v. Rotteck u. Karl Welcker, 12 Bde., Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21845 – 1848, IX, 653 – 728; Christian Karl Josias Bunsen, Die Deutsche Bundesverfassung und ihr eigenthümliches Verhältniß zu den Verfassungen Englands und der Vereinigten Staaten. Zur Prüfung des Entwurfs der Siebenzehn. Sendschreiben an die zum Deutschen Parlamente berufene Versammlung, Frankfurt/M.: Hermann, 1848; Friedrich Baader, Die Bundes-Verfassung der Vereinigten Staaten von NordAmerika. Ein Beitrag zur Lösung der deutschen Verfassungsfrage, Berlin: Sittenfeld, 1848; Johann Joseph Roßbach, Die Bundes-Verfassungen in historisch-politischer Entwicklung, Würzburg: Zürn, 1848; Robert Graf von der Goltz, Ideen über die Reorganisation des Deutschen Bundes und der deutschen Staats-Verfassungen, nebst einer Skizze zu einer VerfassungsUrkunde für den Deutschen Bund, Berlin: Decker, 1848; Franz Lieber, Über die Unabhängigkeit der Justiz oder die Freiheit des Rechtes in England und den Vereinigten Staaten, in einem Brief aus Amerika, Heidelberg: Mohr, 1848; Friedrich von Rönne, Denkschrift die volkswirthschaftlichen Bestimmungen der nordamerikanischen Bundesconstitution betreffend, Frankfurt/M.: o. N., 1848; u. a.

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lamentarischen Rats 1948/49 keine deutsche Übersetzung dieser „Bibel“ des Föderalismus existieren – und die einschlägige Rechtsprechung des amerikanischen Obersten Bundesgerichtes zur föderalen Ordnung des Landes war ebenso wenig bekannt wie irgend ein anderes Urteil dieses Gerichts, und die Lektüre Tocquevilles war oberflächlich geblieben.751 Wenn Liberale wie Linke in der Paulskirche auf das amerikanische Bundesstaatsmodell verwiesen und seine Vorbildhaftigkeit rühmten, was wussten sie dann tatsächlich über dieses Objekt ihrer Bewunderung? Schließlich handelte es sich um ein verfassungsrechtlich recht kompliziertes und keineswegs in allen Punkten, schon gar nicht durch die Bundesverfassung, eindeutig definiertes Gebilde, das zur Sicherung der nationalen Interessen zwar über die – allerdings nicht ausschließliche – Steuer- und Militärhoheit verfügte, darüber hinaus aber lediglich bestimmte Rechte und Kompetenzen besaß, während alle übrigen Rechte bei den Einzelstaaten verblieben waren. Die Antwort auf diese Frage kann nicht sehr ermutigend ausfallen, wie sich gleich mehrfach belegen lässt. Zum einen fehlte es in der Paulskirche an einer profunden Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Föderalismus. An den wenigen Stellen, an denen es um Details ging, erscheinen diese eher unverstanden, etwa wenn Mittermaier unter Berufung auf Story sagt: „Warnend sind hier die Erfahrungen Amerika’s, in welchem wegen einer zu unbestimmten, zu allgemeinen Fassung des Rechts des Congresses nicht selten die Gouverneurs einzelner Staaten die Stellung der Truppen verweigern und Streitigkeiten vor dem Bundesgerichte entstehen“,752 oder wenn Dahlmann die Einrichtung einer Zweikammernlegislative als Ausdruck der Prinzipien von Einheit – verkörpert durch das Volkshaus – und Mannigfaltigkeit – gemeint ist damit das Staatenhaus – versteht und resümiert: „In dieser Beziehung befinden wir uns nun auf dem Wege von Nord-Amerika“.753 Dieser Mangel an tieferer Einsicht in das Wesen des Föderalismus allgemein wie des amerikanischen im Besonderen wird zum anderen an einer Reihe von Stellen der Reichsverfassung deutlich, wobei einerseits der Komplex der militärischen Gewalt, die nicht auf originären Reichstruppen beruhte und sich damit in Abhängigkeit von den Bundesstaaten befand (bes. §§ 11 – 13), wie Mittermaier fälschlicherweise die amerikanische Situation verstanden hatte, ebenso auffällt wie andererseits die Bestimmungen zum Besteuerungswesen, die den Bundesstaaten jede Eigenständigkeit 751 In Sachen deutscher Tocqueville-Rezeption dieser Zeit ist das eklatanteste Gegenbeispiel Georg Gottfried Gervinus, der Tocquevilles Démocratie en Amérique, einschließlich des zweiten, erstmals 1962 auf Deutsch erschienenen Bandes auf insgesamt 44 eng beschriebenen Seiten exzerpierte (das Manuskript befindet sich in der Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Gervinus, Heid. Hs. 2534) und daraus wesentlich für seine Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts schöpfte, was ihm 1853 in Baden seinen berüchtigten Hochverratsprozess und das Lehrverbot einbrachte, vgl. dazu meinen Aufsatz „,Ein natürlicher Verfechter des Fortschritts’: Georg Gottfried Gervinus oder der Historiker als Deuter seiner Zeit. Zur Rezeption von Georg Forster und Alexis de Tocqueville“, in: Georg-Forster-Studien, VI (2001), 117 – 153. 752 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, IV, 3024. 753 Ebd., V, 3812.

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nahm und ihnen nicht einmal abgeleitete Rechte einräumte (§§ 34 – 36). Schwer wiegt ferner – in deutlicher Abweichung von den Bestimmungen der Deutschen Bundesakte – die fehlende Gleichheit unter den Staaten (§§ 86, 87) sowie die personelle Verknüpfung von Reichsoberhaupt und Oberhaupt des größten Bundesstaates (bes. §§ 68, 69) und das Fehlen der Beteiligung der Bundesstaaten an Verfassungsänderungen (§ 196). Hingegen hat bei der Einrichtung des Staatenhauses, der zweiten Kammer des Reichstags – und hier hatte Dahlmann zumindest teilweise Recht –, der amerikanische Senat trotz der im Staatenhaus vorgesehenen Ungleichheit zumindest partiell Pate gestanden, indem dessen Mitglieder zur Hälfte von den Legislativen der Bundesstaaten gewählt wurden – diese indirekte Wahl sah auch die amerikanische Verfassung bis zur Einführung der Volkswahl der Senatoren im Jahre 1913 (17. Zusatzartikel) vor –, während die andere Hälfte von den Regierungen der Staaten ernannt werden sollte (§§ 88, 89) und indem die Mitglieder des Staatenhauses wie die des amerikanischen Senats auf sechs Jahre, statt der drei Jahre beim Volkshaus, bestimmt wurden mit einer Halberneuerung nach drei Jahren (§ 92), ein ebenfalls von Amerika übernommener und leicht modifizierter Gedanke. Dieses Staatenhaus war wie der amerikanische Senat in vollem Umfang und mit gleichen Rechten wie das Volkshaus am Gesetzgebungsprozess beteiligt (§ 100). Nach Bildung, Dauer und Funktion ist damit ungeachtet aller übrigen Abweichungen eine zweite deutsche Parlamentskammer dem amerikanischen Senat nie ähnlicher gewesen als in der Paulskirchenverfassung.754 Trotz dieser Anleihen wirkt die ganze Verfassung nicht wie eine Ordnung, die sich die beteiligten Staaten in der Absicht gaben, einige Rechte an eine übergeordnete Union zum Nutzen aller abzutreten, um die verbleibenden, die nicht gemeinschaftlich geregelt werden mussten, für sich zu bewahren, sondern eher wie ein nach Einheit strebender Staat, der sich gezwungen sah, der Existenz intermediärer Institutionen Rechnung zu tragen und sie einzubinden suchte, ohne sie jedoch als unverrückbare Grundlage seines eigenen Bestehens zu begreifen – statt einer Liebesangelegenheit also eher eine mariage de convenance.755 Der auffallende Kontrast zwischen der tatsächlichen deutschen Verfassung und dem so bewunderten amerikanischen Modell erklärt sich mithin keineswegs allein aus den andersartigen Umständen in Deutschland, sondern gerade auch aus dem eigentümlichen Selbstverständnis der Paulskirchenmehrheit, die den Bundesstaat nicht zur Sicherung von Freiheit und Eigenständigkeit wollte, sondern die ihn brauchte, weil, wie es schien, nur auf diese Weise die demokratische Republik der radikalen Linken verhindert und die bisherigen Ergebnisse der Revolution gesichert

754 Vgl. dazu auch Eberhard Barth, Unitarismus und Föderalismus in der deutschen Reichsverfassung vom 28. März 1849 mit besonderer Berücksichtigung ihrer Entstehungsgeschichte und derjenigen der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Diss. iur. Göttingen 1922. 755 So auch generell für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Laufer/ Münch, „Das föderative System der Bundesrepublik“, 41.

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werden konnten.756 Selbst angesichts konkurrierender französischer, englischer und anderer Verfassungseinflüsse dürfte es dabei nicht übertrieben sein zu behaupten, dass sich die Mehrheit der Paulskirche von der gemäßigten Rechten bis zur gemäßigten Linken zur Erreichung dieses Ziels in der Frage des Bundesstaates tatsächlich in der Nachfolge der Vereinigten Staaten verstand und sich angesichts der eigenen, traditionsgebundenen politischen Zielsetzungen der Tiefe der Differenzen jedoch nur unzureichend, wenn überhaupt bewusst war. Ein vergleichsweise unverdächtiger Zeuge für diese Einschätzung ist Georg Waitz, einst selbst Mitglied des Verfassungsausschusses der Paulskirche, der jedoch erst zu Beginn der fünfziger Jahre im Zuge seiner Verfassungsstudien Tocqueville gelesen hatte. Allein diese Lektüre hatte ihn erkennen lassen, wie unzureichend die Paulskirchenvorstellungen über das Wesen des Bundesstaates gewesen waren757 – eine Bewertung, der Mohl hinsichtlich seines Jugendwerkes rückblickend voll und ganz beipflichtete758 – und wie stattdessen ein wahrer Bundesstaat zu organisieren gewesen wäre. Ungeachtet der von Waitz aufgezeigten Defizite bleibt die Tatsache von grundlegender Bedeutung, dass all dieser Unzulänglichkeiten zum Trotz mit der Paulskirche in Deutschland erstmals der Bundesstaat zu konstitutionalisieren versucht wurde und dass dies mit dem bewussten Blick auf den Modellcharakter des amerikanischen Beispiels geschah. Es war mit anderen Worten der erstmals unternommene Versuch, die staatsrechtliche Realität Deutschlands mit dem von Amerika vorgegebenen Beispiel zu verknüpfen und in eine konstitutionelle Form zu gießen.759 Dazu gehörte ebenfalls die deutliche Anklänge an Amerika aufweisende Bestimmung: „Die einzelnen deutschen Staaten behalten ihre Selbständigkeit, soweit dieselbe nicht durch die Reichsverfassung beschränkt ist; sie haben alle staatlichen Hoheiten und Rechte, soweit diese nicht der Reichsgewalt ausdrücklich übertragen 756 Vgl. dazu Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses, hrg. v. Droysen, 95 – 96. Ferner die Belege bei Karl Binding, Der Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849. Akademische Rede, Leipzig: Duncker & Humblot, 1892, 11 – 12. Teilweise ähnlich Thomas Nipperdey, „Der deutsche Föderalismus zwischen 1815 und 1866 im Rückblick“, in: Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, hrg. v. Andreas Kraus, III, München: Beck, 1984, 8 – 12; Nipperdey, „Föderalismus in der deutschen Geschichte“, 73 – 74. 757 Georg Waitz, „Das Wesen des Bundesstaates“, in: [Kieler] Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur, Jg. 1853, 494 – 530. 758 Robert von Mohl, Lebenserinnerungen, 1799 – 1875, hrg. v. Dietrich Kerler, 2 Bde., Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1902, I, 261. Zu Mohls Lobeshymnen von 1855 über den Federalist, vgl. Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München: List, 1972, 59 – 60. 759 Vgl. dagegen das sehr viel oberflächlichere Urteil bei Dreyer, Föderalismus, 561. Für einen Teilaspekt auch Kurt Nieding, Das Prinzip der Homogenität in den Verfassungen des Deutschen Reiches von 1849, 1871 und 1919 unter besonderer Berücksichtigung des Artikels 17 der geltenden Reichsverfassung, Diss. iur. Jena 1926, 38 – 52.

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sind“ (§ 5).760 Eine bewusste verfassungsrechtliche Begründung für diese bundesstaatliche Ordnung und damit die konkrete Verknüpfung von Föderalismus mit Freiheit und Eigenständigkeit, jener tragende Gedanke der amerikanischen Verfassung, war jedoch unterblieben, ein den Fortgang des Bundesstaatsgedankens in Deutschland nachhaltig bestimmender Verzicht. Dass die Paulskirchenverfassung scheiterte und damit auch der Bundesstaatsgedanke eigentlich zu dem Zeitpunkt, als Waitz seine fundierten Gedanken dazu veröffentlichte, bereits wieder weitgehend aus der öffentlichen Diskussion verschwunden war,761 erweist sich daher letztlich als weniger ausschlaggebend, als dass mit diesem ersten Konstitutionalisierungsversuch von 1849 das deutsche Bundesstaatskonzept wesentliche Differenzen zum amerikanischen aufwies, indem dieses im Konflikt zwischen Tradition und Innovation einerseits primär im staatserhaltenden und nicht im revolutionär-freiheitlichen Sinne begriffen wurde und indem es andererseits unübersehbare unitarische Tendenzen in sich aufgenommen hatte.762 Diese Ausrichtung war kein Zufall gewesen, entsprach sie doch, über die deutsche politische Wirklichkeit der Zeit hinausgehend, verbreiteten politischen wie staatsrechtlichen Überzeugungen, hinter denen immer wieder der französische Verfassungseinfluss durchschimmert. Bei allem Bekenntnis zum Bundesstaat hatten Blum und Wigard in ihrem bereits erwähnten Minderheitenvotum in der Paulskirche ein deutliches Unbehagen an der theoretischen Position des Bundesstaates erkennen lassen, der eine Art Zwitterstellung zwischen „dem Staatenbunde auf der einen, dem einheitlichen, centralisirten Reiche auf der anderen Seite“ einnehme und statt fest verankert zu sein, „sich […] bald dem einen, bald dem andern nähern kann, je nachdem das ihn umschlingende Band ein mehr oder weniger lockeres, die Centralgewalt eine schwächere oder eine stärkere ist“.763 Man mag versucht sein, diese weder der amerikanischen Verfassungstheorie der Zeit noch dem heutigen Verständnis entsprechende theoretische Ortsbestimmung des Bundesstaates764 psychologisch auszudeuten. In jedem Fall ist es von ihr nicht weit zu der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zum Teil darüber hinaus zumal unter deutschen Staatsrechtlern verbreiteten Auffassung vom reinen Übergangscharakter eines jeden Bundesstaates, sei doch das natürliche Ziel jeder staatlichen Entwicklung der Einheitsstaat, was der eine oder andere selbst an der amerikanischen Verfassungsentwicklung in der Nachfolge des Bürgerkriegs belegen zu können 760 Vgl. die von Mittermaier dazu angesprochenen amerikanischen Parallelen in Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses, hrg. v. Droysen, 348. 761 Vgl. dazu Helmut Rumpler, „Föderalismus als Problem der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts (1815 – 1871)“, in: Der Staat, 16 (1977), bes. 221 – 224. 762 Lediglich auf letzteres weisen auch Heiderose Kilper/Roland Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Opladen: Leske + Budrich, 1996, 46, hin. 763 Stenographischer Bericht, hrg. v. Wigard, IV, 2742. 764 Vgl. dazu die Überlegungen von Kimminich, „Der Bundesstaat“, 1114 – 1129; Maier, „Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen“, bes. 229 – 230, u. a.

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glaubte.765 Angesichts dieser Überzeugungen wird deutlich, was Hugo Preuß meinte, als er in der Verfassungskrise von 1923/24 eindringlich vor dem Versuch einer „,föderalistische[n]‘ Rückwärtsrevidierung der Reichsverfassung“ warnte.766 Doch zurück zur Situation um 1870. Die herrschende staatsrechtliche Lehrmeinung war mithin nicht in der Lage, als Korrektiv gegenüber einer übermächtigen preußischen Politik zu fungieren, die unter Bismarcks Führung entschlossen war, die deutsche Einheit unter preußischen Vorzeichen zu verwirklichen. Konkret bedeutete das, dass das 1871 gegründete Deutsche Reich wie schon der 1867 ins Leben gerufene Norddeutsche Bund formal den Bundesstaatsgedanken der Paulskirche als konstitutionelles Prinzip wieder aufgriff,767 sich tatsächlich aber auch innerlich bewusst von dem amerikanischen Modell verabschiedet hatte, das denn auch in den Verfassungsberatungen praktisch keine Rolle mehr spielte,768 und die unitarischen Züge in der Reichsverfassung von 1871, noch deutlich über 1849 hinausgehend, ungeachtet einiger bayerischer Reservatsrechte weiter verstärkte.769 765 Vgl. dazu [Caspar Friedrich Bluntschli,] Bemerkungen über die neuesten Vorschläge zur deutschen Verfassung. Eine Stimme aus Bayern, München: Kaiser, 1848, 10; Heinrich von Treitschke, „Bundesstaat und Einheitsstaat“ (1864), in: ders., Historische und politische Aufsätze, II, Leipzig: Hirzel, 51886, 77 – 241; Joseph von Held, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom staatsrechtlichen Standpunkt aus betrachtet. Ein Beitrag zu deren Kritik, Leipzig: Brockhaus,1872, 29; Eugen Schlief, Die Verfassung der Nordamerikanischen Union, Leipzig: Brockhaus,1880, 429 – 431. Anklänge dazu auch bei Hermann Raster, „Vereinigten Staaten von Amerika: Staatsrecht“, in: Das Staats-Lexikon, hrg. v. Karl Welcker, xiv, Leipzig: Brockhaus, 3 1866, 524, 526; Georg Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien: Hölder, 1882, 281 – 282. Ähnlich auch sehr viel später aus der Weimarer Unitarismus-Föderalismus-Diskussion Wilhelm Mommsen, „Unitarismus und Föderalismus in Deutschland“, in: Zeitschrift für Politik, 14 (1925), 412 – 424. 766 Hugo Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, Berlin: Mosse, 1924, 21. Ähnlich auch Gerhard Anschütz, „Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, in: ders. u. a., Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten. Verhandlungen der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Jena am 14. und 15. April 1924 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, I), Berlin: de Gruyter, 1924, 24 – 25. 767 Vgl. dazu Walter Hirschberg, Haben die Abweichungen der Reichsverfassung von der Verfassung des Norddeutschen Bundes das föderative oder das unitarische Element gestärkt?, Diss. iur. Greifswald 1912, der das föderative Element 1871 gestärkt sah. Ferner Deuerlein, Föderalismus, 116 – 148. 768 Vgl. Dippel, Amerikanische Verfassung, 59 – 60. Ausführlicher, doch im Ergebnis ähnlich Rudolf Ullmer, Die Idee des Föderalismus im Jahrzehnt der deutschen Einigungskriege, dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Modells der amerikanischen Verfassung für das deutsche politische Denken (Historische Studien, H. 393), Lübeck – Hamburg: Matthiesen, 1965. Generell zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung in dieser Zeit Reinhart Koselleck, „Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrg. v. Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Koselleck, I, Stuttgart: Klett, 1972, bes. 649 – 670. 769 Ein Schlaglicht auf die Situation wirft die nur wenige Jahre zurückliegende Kontroverse zwischen Peter Wilhelm Forchhammer (Bundesstaat und Einheitsstaat, Kiel: Akademische Buchhandlung, 1866), der als Anhänger der politischen Freiheit für den Bundesstaat eintrat, und

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So wurde die Gesetzgebungskompetenz des Reiches gegenüber der Paulskirchenverfassung ausgeweitet (Art. 6, 11, 12, 15, 16). Alle Bestimmungen über das Militär- und Steuerwesen konnten nicht ohne Zustimmung Preußens verändert werden (Art. 5, 37), wie grundsätzlich ohne Preußen keine Verfassungsänderung möglich war, selbst wenn ihr der Reichstag mit einfacher Mehrheit zugestimmt hatte (Art. 78). Der Bundesrat, jenes eigentümliche, der Deutschen Bundesakte von 1815 entlehnte Verfassungsgebilde, das eher Regierung als Parlamentskammer sein und mit dem der föderale Charakter des Reiches zum Ausdruck kommen sollte, wurde trotz seiner bundesstaatlichen Funktionen zumindest im Konfliktfall eindeutig von Preußen dominiert, statt als Organ eigenständiger Länderinteressen fungieren zu können (Art. 7, 8, 12, 13, 15, vgl. auch Art. 76, 77),770 wobei den Bundesstaaten zusätzlich noch die Reichsexekution bei mangelnder Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen Bundespflichten angedroht wurde (Art. 19). Weder die von Mittermaier 1848 postulierte verfassungsmäßig garantierte weitgehende Eigenständigkeit der einzelnen Bundesstaaten noch Blums und Wigards Forderung nach Freiheit und Gleichheit der Staaten fand sich in der 1871er Verfassung wieder, deren föderaler Charakter sich letztlich auf die Bestandsgarantie der regierenden Fürstenhäuser beschränkte, denn schließlich waren es diese Fürsten, die laut Präambel „einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ geschlossen hatten. Garantiert die amerikanische Verfassung, wie der Paulskirche durchaus bekannt, die „Segnungen der Freiheit“ und den Bundesstaaten ihre republikanische Staatsform, so garantierte die Bismarcksche Verfassung den Fürsten ihren Thron, während das Wort „Freiheit“ selbst in abgewandelter Form in der ganzen Verfassung nicht vorkommt. Eine verfassungsrechtliche Begründung für die bundesstaatliche Struktur wird man daher in dieser Verfassung vergebens suchen.771 Vergeblich hatte auch der einen Monat vor Inkrafttreten der Reichsverfassung verstorbene Georg Gottfried Gervinus, einer der Demokraten der Paulskirche, noch im allgemeinen Taumel nationaler Begeisterung die Hoffnung ausgedrückt, Deutschland möge sich dereinst zu einem wahren Bundesstaat entwickeln.772 Heinrich Triepel hingegen, der sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wie kaum ein zweiter deutscher Staatsrechtler der Zeit mit dem Wesen des amerikanischen Föderalismus beschäftigt hatte, blieb nur die Feststellung, dass sich statt Alfred Lüntzel (Einheitsstaat oder Bundesstaat?, Hannover: Cruse, 1867), der als Verfechter des Machtstaatsgedankens für den Einheitsstaat plädierte. 770 Vgl. dazu Udo Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung. Reichsverfassung von 1871 und Grundgesetz, Berlin: Duncker & Humblot, 1982, 24 – 28. 771 Zur Verfassung von 1871 unter der Perspektive des modernen Konstitutionalismus das nachfolgende Kap. VI. 11. 772 Vgl. Hans Rosenberg, „Gervinus und die deutsche Republik. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Demokratie“ [1929], erneut in: ders., Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1972, 127.

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ausgeprägter bundesstaatlicher Strukturen „schon zu Beginn unseres Verfassungslebens die Waagschale tief zu Gunsten des Unitarismus“ geneigt hatte.773 Obwohl die Paulskirche gerade in der Frage der föderalen Struktur bei allen rhetorischen Rückgriffen auf das amerikanische Modell selbst den Weg in Richtung 1871 gewiesen hatte, hatte sich die Bismarcksche Verfassung auch in diesem Punkt weit von der Verfassung von 1849 und damit zugleich grundsätzlich vom modernen Konstitutionalismus entfernt, weil, so die Theorie, nur ein sogenannter „hegemonialer“ Föderalismus in der Lage sei, dem deutschen Partikularismus wirksam entgegenzutreten.774 Bezeichnenderweise wogen beim Untergang des Kaiserreiches der fehlende liberal-demokratische Charakter der Verfassung von 1871 und ihre legitimatorischen Defizite letztlich schwerer als der Mangel an bundesstaatlichen Strukturen. Als das wilhelminische Reich zusammenbrach und der Republik von Weimar Platz machte, war der politische und verfassungsrechtliche Nachholbedarf groß, um Anschluss an die moderne Welt zu finden und die 1871 gekappten Annäherungen an den modernen Konstitutionalismus wieder rückgängig zu machen, um auf dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Erreichten aufbauen zu können. Ihre Gegner wurden fortan nicht müde, sich zu entrüsten, dass damit der Geist von 1789 in Deutschland Einzug gehalten habe,775 und in der Tat war der geistige wie auch der verfassungsrechtliche Einfluss des französischen Verfassungsdenkens unübersehbar. Was in der Paulskirche zuletzt auf Kosten eines nach 1848 ohnehin mehr und mehr in den Hintergrund getretenen Interesses am amerikanischen Verfassungsmodell vielerorts unterschwellig greifbar gewesen war, brach nun nicht zuletzt als Forderung gleich mehrerer politischer Parteien zumal der Linken vollends an die Oberfläche. Angesichts dieser Dominanz des französischen Verfassungsvorbildes sucht man mithin einen verfassungsrechtlichen Neuansatz in der Frage der bundesstaatlichen Struktur in der Weimarer Verfassung vergebens.

773 Heinrich Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen: Mohr, 1907, 43. Vgl. auch ders., „Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung“, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktor-Promotion, II, Tübingen: Mohr, 1908, 247 – 335. So auch Anschütz, „Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, 13 – 16; Hans Kluge, Föderalismus und Reichsverfassung, Dresden: Heinrich, [ca. 1926], 10. Weniger überzeugend dagegen Hermann Rehm, Unitarismus und Föderalismus in der Deutschen Reichsverfassung. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 8. Oktober 1898, Dresden: von Zahn & Jaensch, 1898. 774 Zum „hegemonialen“ Föderalismus Karl Bilfinger, „Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, in: Gerhard Anschütz u. a., Der deutsche Föderalismus, 35 – 57. 775 Adalbert Wahl, „Die Ideen von 1789 in ihren Wirkungen auf Deutschland“, in: Zeitwende, 11/1 (1925), 125 – 126. Vgl. dagegen auch Preuß, Um die Reichsverfassung von Weimar, 131 – 141; Hedwig Hintze, „Einleitung“, in: Hugo Preuß, Verfassungspolitische Entwicklungen in Deutschland und Westeuropa. Historische Grundlegung zu einem Staatsrecht der Deutschen Republik, a. d. Nachlaß hrg. v. Hedwig Hintze, Berlin: Heymann, 1927, vii.

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Dabei hatte es zunächst durchaus anders ausgesehen. So ließ zumal der 1. Regierungsentwurf der künftigen Reichsverfassung vom 3. Januar 1919776 gerade in Bezug auf die zukünftige bundesstaatliche Ordnung in Erwartung der Auflösung Preußens zumindest indirekt auf weniger große Diskrepanzen in der Größe der Gliedstaaten untereinander hoffen (§ 11). Der Grundsatz der Gleichheit unter ihnen wurde jedoch auch jetzt nicht verankert (vgl. § 33), wohl aber ihre republikanischdemokratische Grundordnung (§ 12, Abs. 1 u. 2), was der amerikanischen Garantieklausel recht nahekam. Wie 1849 war eine vollwertige und gleichberechtigte zweite Parlamentskammer als Staatenhaus und dessen Mitwirkung bei der Gesetzgebung vorgesehen (§ 30, 50, 51), wobei in Abwandlung der Paulskirchenverfassung alle Mitglieder des Staatenhauses von den Landtagen der Gliedstaaten jeweils auf drei Jahre gewählt werden sollten (§ 32), so dass die Mandatsträger beider Häuser über die gleiche Wahlperiode verfügten (§ 37). Selbst diese nur sehr partiellen Anklänge an die „amerikanischen“ Ideen von 1848/49 in einem allgemein als betont unitarisch geltenden Entwurf währten nicht lange. Bereits in dem sieben Wochen später veröffentlichten 2. Regierungsentwurf war von ihnen kaum noch etwas zu finden, und das Staatenhaus war zugunsten eines unikameralen Reichstags ganz verschwunden (Art. 41). Angesichts dieser Zurückweisung des amerikanischen Vorbildes verwundert es nicht, dass mit der schließlich verabschiedeten Weimarer Verfassung die unitarischen Tendenzen ein weiteres Mal verstärkt wurden,777 indem sie die Gesetzgebungskompetenz des Reiches erneut auf Kosten der Länder ausweitete (Art. 6 – 11), denen statt verfassungsrechtlich garantierter Hoheitsbefugnisse lediglich eine Art negativer Gesetzgebungskompetenz dort zugebilligt wurde, wo das Reich von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch machte (Art. 12).778 Ferner konnte der Reichstag per Gesetz die bewusst nicht Staaten genannten Länder und Ländergrenzen selbst gegen den Willen der betroffenen Länder verändern, im Extremfall gar die Gliederung in Länder abschaffen (Art. 18), deren Gebietshoheit damit aufgehoben war. Die seit 1849 festgelegte Ungleichheit der Länder wurde im Reichsrat – jenem Organ, in dem laut Anschütz zusammengefasst erscheint, „was an föderalistischen, bundesstaatlichen Gedanken im Deut-

776 Abgedruckt in: Moderne Staatsverfassungen: ihr Wortlaut und ihr Wesen, hrg. v. Karl Zuchardt, Leipzig: Koehler, 1919, 103 – 111. Dort auch der 2. Regierungsentwurf vom 22. Februar 1919, 111 – 127. 777 So auch Anschütz, „Der deutsche Föderalismus“, 17. Bismarck- und Preußennostalgiker haben der Weimarer Verfassung genau das im Nachhinein mit einem völlig verzerrten Föderalismusbegriff zum Vorwurf gemacht, vgl. Johannes Haller, Bundesstaat oder Einheitsstaat. Das Problem der deutschen Reichsverfassung in geschichtlicher Beleuchtung. Vortrag auf der Führertagung des Reichslandbunds am 8. November 1927, Tübingen: Osiander, 1928. 778 Im Gegensatz zu anderen Autoren war Anschütz der Auffassung, dass die Länder in gewissen Punkten durchaus über originäre Gewalt und nicht nur über abgeleitete Gewalt verfügten, vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin: Stilke, 141933, 40, vgl. auch 96 – 97.

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schen Reich noch lebendig ist“779 – nochmals verstärkt (Art. 61), der aber im Gegensatz zum Staatenhaus des 1. Regierungsentwurfs bei der Gesetzgebung lediglich eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu dem entscheidenden Reichstag spielte (Art. 68, 69, 74),780 so dass Verfassungsänderungen praktisch ohne Mitwirkung der Länder durchgeführt werden konnten (Art. 76), wogegen sich angesichts fortschreitender unitarischer Tendenzen nicht zuletzt die bayerische Staatsregierung in ihrer Denkschrift von 1926 unter Berufung auf die amerikanische Verfassung wandte.781 Angesichts dieser Bestimmungen war die bundesstaatliche Ordnung ungeachtet des Widerstandes zumal der süddeutschen Föderalisten nachhaltig ausgehöhlt,782 während zugleich die Verfechter des zentralistischen Einheitsstaats stärker als je zuvor ihre Handschrift in der Verfassung deutlich gemacht hatten,783 so 779 Ebd., 335. Ähnlich Ottmar Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919. Mit Einleitung, Erläuterungen und Gesamtbeurteilung, Leipzig: Teubner, 1922, 61. Zum Reichsrat auch Deuerlein, Föderalismus, 173 – 174. 780 Zur Umwandlung des Staatenhauses in den Reichsrat, vgl. Dreyer, Föderalismus, 585 – 586. Vgl. auch Erich Bockler, Vergleichende Darstellung der Kompetenzen des Bundesrats der Bismarck’schen Reichsverfassung und des Reichsrats nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. VIII. 1919, Diss. iur. Göttingen 1921; Erhard Zaske, Der föderative Gedanke in der Weimarer Reichsverfassung und deren Revision nach föderalistischen Gesichtspunkten, Diss. iur. Jena 1925, 25 – 26. 781 Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung über die fortschreitende Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder unter der Weimarer Verfassung, [München: Bayerischer Staatszeitungs-Verlag, 1926,] 15 – 16. Vgl. auch Konrad Beyerle, „Föderalismus“, in: Festschrift Felix Porsch zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von der Görres-Gesellschaft, Paderborn: Schöningh, 1923, 128 – 149; Konrad Beyerle, Föderalistische Reichspolitik, München: Pfeiffer, 1924, bes. 98 – 100, 139 – 151; Wilhelm Kahl, „Entspannung des Unitarismus“, und Hans Nawiasky, „Weg und Ziele einer föderalistischen Ausgestaltung der Reichsverfassung“, beide in: Deutsche Juristen-Zeitung, 28 (1923), Sp. 701 – 706, 706 – 710. Zur bayerischen Forderung mit der Denkschrift von 1924 nach teilweiser Wiedereinsetzung des Reichsrats in die Rechte des alten Bundesrats, vgl. Erich Koch, „Die Bayerische Denkschrift und der Unitarismus“, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 29 (1924), Sp. 73 – 81; Josef Held, Der Reichsrat, seine Geschichte, seine Rechte und seine Stellung nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919. Dargestellt unter Berücksichtigung der Reformvorschläge der Denkschrift der bayer. Staatsregierung, Diss. iur. Erlangen 1926, Regensburg: Habbel, 1926, bes. 63 – 69. Auch in der badischen Denkschrift von 1923 war die Gleichberechtigung von Reichsrat und Reichstag gefordert worden: Eugen Baumgartner, Das Reich und die Länder. Denkschrift über den Ausgleich der Zuständigkeiten zwischen dem Reich und seinen Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung, Karlsruhe: Badenia, 1923, 20 – 21. Baumgartner war Ministerialrat und Präsident des Badischen Landtags. Zu der „unitarische[n] klein- und Einzelarbeit fortgesetzter Verkürzung der politischen Rechte der Länder in Gesetzgebung und Verwaltung“ in den zwanziger Jahren: Karl Sommer, Bundesstaat, Einheitsstaat und die Höhe der öffentlichen Ausgaben. Unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Preußen, Bayern und Sachsen. Ein Beitrag zur Verfassungsfrage, München: Oldenbourg, 1928, 2, vgl. insges. 1 – 33. 782 Vgl. dazu etwa Walter Otto, Die deutsche Frage. Bundesstaat oder Einheitsstaat?, Berlin: Voss, 1921, bes. 28 – 36, mit seiner Forderung nach der Wiedererrichtung eines modifizierten Bismarckschen Kaiserreichs mit einem starken Preußen. 783 Vgl. dazu u. a. die Schrift von Erwin Jacobi, Einheitsstaat oder Bundesstaat, Leipzig: Meiner, 1919; Walter Jellinek, „Die Weimarer Reichsverfassung verglichen mit der Verfassung Nordamerikas und der Schweizerischen Eidgenossenschaft“, in: Handbuch der Politik, hrg. v.

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dass Hugo Preuß, einer der Väter der Weimarer Verfassung, die Frage als müßig bezeichnen konnte, „[o]b das Reich nach der neuen Verfassung ,noch‘ ein Bundesstaat oder ,schon‘ ein dezentralisierter Einheitsstaat sei“.784 Dieser Charakter der Verfassung von 1919 ist umso auffälliger, als die Weimarer Verfassung in vielen Bereichen durchaus die Fehlentwicklungen von 1871 zu korrigieren und an die Paulskirchenverfassung wieder anzuknüpfen suchte, was schon der nunmehr im Unterschied zu den Regierungsentwürfen bei gewissen Modifikationen im wesentlichen parallele Aufbau beider Verfassungen zum Ausdruck bringt. Doch obwohl man 1919 auf 1849 zurückgriff, dabei an die Stelle der Monarchie die Republik setzte und den freiheitlich-demokratischen Charakter der Verfassung und die Übernahme von Prinzipien des modernen Konstitutionalismus deutlich verstärkte, schlug man in der Frage der bundesstaatlichen Ordnung die entgegengesetzte Richtung ein, indem man sich ungeachtet anderslautender Stimmen nicht wie in der Paulskirche auf Amerika zurückbesann,785 sondern mit den aus dem französischen Verfassungsdenken übernommenen Elementen der direkten Demokratie im Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Volkssouveränität letzterem wie in Frankreich das Übergewicht gab.786 Das Schicksal der Weimarer Verfassung ist bekannt. Sie erlag kampflos ihren Gegnern, die sich nicht einmal die Mühe machen mussten, sie formal abzuschaffen. Gerhard Anschütz u. a., III, Berlin: Rothschild, 31921, 13; ferner Sigrid Vestring, Die Mehrheitssozialdemokratie und die Entstehung der Reichsverfassung von Weimar 1918/1919, Münster: LIT, 1987, bes. 77 – 153; Christian Sima, Österreichs Bundesverfassung und die Weimarer Reichsverfassung. Der Einfluß der Weimarer Reichsverfassung auf die österreichische Verfassung 1920 bis 1929, Frankfurt/M.: Lang, 1993, 14 – 15. 784 Hugo Preuß, Deutschlands Staatsumwälzung. Die verfassungsmäßigen Grundlagen der deutschen Republik, Berlin: Central-Verlag, [1920], 6. Dazu ausführlicher ders., Deutschlands republikanische Reichsverfassung, Berlin: Demokratischer Verlag, [1920], 8 – 17. Vgl. dazu auch Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen: Mohr, 1922, bes. 110 – 154; Joachim von Albert, Das Fortschreiten der neuen Reichsverfassung auf dem Wege zum Einheitsstaat, Diss. iur. Breslau 1922; Friedrich Giese, „Reichsverfassung“, in: Politisches Handwörterbuch, hrg. v. Paul Herre, II, Leipzig: Koehler, 1923, 461 – 462. Eindeutig als Bundesstaat: Hermann Lampe, Reich und Länder. Die Entwicklung des Problems seit der Weimarer Reichsverfassung, Diss. iur. Breslau 1926; Walter Berckholtz, Der Staatscharakter der deutschen Länder nach der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Diss. iur. Erlangen 1927; Joseph Wenninger, Das Verhältnis zwischen Reich und Ländern in der alten und neuen Reichsverfassung. Eine staatsrechtlich vergleichende Studie unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, Diss. iur. Erlangen 1928; Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, München: Beck. 21964, 172 – 175. 785 Vgl. dazu Eberhard Kurtze, Die Nachwirkungen der Paulskirche und ihrer Verfassung in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung und in der Verfassung von 1919, Berlin: Ebering, 1931, 32 – 36, 39 – 50, 100 – 101. 786 Ohne konkrete Aussage bleibt leider die rein narrative Abhandlung von Hans Christoph Freiherr von Tucher, Vergleichende Darstellung der rechtlichen Erscheinungsformen des Föderalismus in den gegenwärtigen Verfassungen der vier Bundesstaaten: Verein. Staaten v. Nordamerika, Schweizerische Eidgenossenschaft, Deutsches Reich und Republik Österreich, Diss. iur. Erlangen 1927. Vgl. dazu auch die beiden nachfolgenden Kap. VI. 11. und VI. 12. Vgl. dazu oben Kap. V. 2.

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Doch wie leicht es ihnen gemacht wurde, sie innerhalb weniger Wochen inhaltlich völlig zu pervertieren, muss nachfolgenden Generationen stets ein erschreckendes Menetekel bleiben. Dazu gehört auch der Federstrich, mit dem der Bundesstaat beseitigt und die Länder abgeschafft wurden.787 Gewiss hatten in der Vergangenheit das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Begründung des Bundesstaates zur Sicherung von Freiheit und Eigenständigkeit und die an seiner Stelle bemühten politischen Legitimierungsversuche immer weiter vom amerikanischen Modell weggeführt bis hin zu dessen bewusster Negierung und damit zumindest unbewusst dazu den Boden bereitet. Umso erschreckender ist es daher zu erleben, wenn heutzutage mitunter Politiker und andere von der angeblichen Notwendigkeit einer „Länderneuordnung“ reden – die ja dank der Änderungen des Art. 29 GG seit 1976 nur noch eine mit hohen Hürden versehene Kann-Bestimmung ist – und dabei erneut genau jene verfassungsrechtliche Begründung des Föderalismus vermissen und in der Ersetzung des freiheitlichen Grundgedankens durch ein ökonomisch-administratives Effizienzpostulat788 nur zu leicht den an Weimar erinnernden Eindruck aufkommen lassen, als sei dieser ausschließlich auf der Basis einer volkswirtschaftlichen Kosten-NutzenAnalyse zu bewerten.789 Dabei war das doch genau die fatale Begründung von Weimar gewesen, die das Ende des Bundesstaates eingeläutet hatte: „Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen. Die Änderung des Gebiets von Ländern und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reichs erfolgen durch verfassungsänderndes Reichsgesetz“ (Art. 18).790

Es verdient mehr als nur eine flüchtige Erwähnung, dass in jenen düsteren Jahren, als der Bundesstaat in Deutschland praktisch zu existieren aufgehört hatte, der Staatsrechtler Hermann von Mangoldt den Mut fand, erneut mit Nachdruck auf die amerikanische Verfassung zu verweisen. Zwar ging es ihm dabei nicht vorrangig um 787

Vgl. Uwe Bachnick, Die Verfassungsreformvorstellungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich und ihre Verwirklichung, Berlin: Duncker & Humblot, 1995, 29 – 70. 788 Vgl. die Auflistung gängiger Rechtfertigungsmuster bei Kilper/Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 58 – 61, bzw. die verschiedenen Bedeutungen bei Bernd Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee. Zur Herausbildung der Föderalismusidee als Element des modernen deutschen Staatsrechts, Berlin: Duncker & Humblot, 1996, 24 – 28. 789 Vgl. dazu u. a. den den Wert staatsrechtlicher Kontinuität und föderaler Vielgestaltigkeit betonenden Artikel von Matthias Herdegen, „Neugliederung des Bundesgebietes im Spannungsfeld zwischen staatsrechtlicher Kontinuität und Effizienzerwartung, sowie für die Zukunft der Bundesstaaten und gegen technokratische Neugliederung“, und Josef Isensee, „Einheit in Ungleichheit: der Bundesstaat. Vielfalt der Länder als Legitimationsbasis des deutschen Föderalismus“, beide in: Föderalismus. Demokratische Struktur für Deutschland und Europa, hrg. v. Kurt Bohr, München: Beck, 1992, 123 – 137, 139 – 162. 790 Noch schärfer hatte Anschütz in der Verfassungskrise von 1923/24 diese letztliche Absage an den Föderalismus formuliert: „Was wir brauchen, ist nicht Lockerung, sondern strengste Geschlossenheit des Reichs nach außen und innen, straffste Zusammenfassung aller nationalen Kräfte, wie sie nur der Unitarismus, sei es der demokratische, sei es der hegemonische, nicht aber der Föderalismus zustande bringen kann“ (Anschütz, „Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, 25).

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die bundesstaatliche Ordnung der Vereinigten Staaten, sondern allgemein um die Probleme von geschriebener Verfassung, Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit.791 Doch damit war generell das in den zurückliegenden Jahrzehnten vielfach verdrängte amerikanische Verfassungsmodell und damit der moderne Konstitutionalismus wieder ins Bewusstsein gerückt. Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist dabei, dass dann Hermann von Mangoldt dem Parlamentarischen Rat angehörte und dort dem Ausschuss für Grundsatzfragen vorsaß, der sich insbesondere mit der bundesstaatlichen Ordnung in dem zu bildenden Grundgesetz befasste. Es ist hier nicht der Ort, im Detail auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes einzugehen. Wichtig ist jedoch hervorzuheben, dass angesichts der eigenen Erfahrungen mit der Weimarer Republik, der ganzen Breite vorhandener wie historischer Verfassungsmodelle, der Neugründungen deutscher Länder mit mehrheitlich bereits in Kraft getretenen Verfassungen792 und dem zumal von der amerikanischen Besatzungsmacht vorgegebenen Rahmen einer föderativen und demokratischen Verfassung nach den Grundsätzen des modernen Konstitutionalismus unter bewusstem Verzicht weiterer inhaltlicher, sprich amerikanischer Verfassungsvorgaben,793 der Rückgriff auf das amerikanische Bundesstaatsmodell besondere Beachtung verdient. Obwohl im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee wie dann auch im Parlamentarischen Rat in Bonn die Paulskirchenverfassung eine insgesamt nur marginale Rolle spielte, erlebte nun, was 1848/49 in der Paulskirche unternommen worden und 1919 gescheitert war, der Sache nach seine Renaissance. Indem es nun endlich gelang, jenen vormals so unauflöslich erschienenen gordischen Knoten zwischen Partikularismus und Föderalismus zu zerschlagen, konnte jener erste durch die Paulskirche unternommene Versuch der Konstitutionalisierung eines deutschen Bundesstaates in der Orientierung am amerikanischen Beispiel erfolgreich verwirklicht werden. Nun wurde der Mittermaiersche, von dem amerikanischen Modell übernommene Gedanke, „die Macht einer Centralregierung […] mit der vollsten Möglichkeit einer wohlthätigen Entwickelung der Einzelstaaten in Harmonie zu bringen“, umgesetzt, und auch der § 5 der Paulskirchenverfassung mit der Selbständigkeit und der eigenen Rechtsgrundlage der Länder findet sich in abgewandelter Form in Art. 30 GG wieder und ist dann in Art. 70 GG ausgeführt, der in 791 Vgl. insbesondere Hermann von Mangoldt, Geschriebene Verfassung und Rechtssicherheit in den Vereinigten Staaten von Amerika (Abhandlungen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Königsberg, H. 6), Breslau: Kurtze, 1934; ders., Rechtsstaatsgedanke und Regierungsformen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Verfassungsrechts, Essen: Essener Verlags-Anstalt, 1938. 792 Vgl. dazu etwa die Sammlung von Bodo Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten. Eine Dokumentensammlung, 4 Bde., Hamburg: Hanseatischer Gildenverlag, 1947 – 1949, und seine Schrift Der Föderalismus, bes. 154 – 155. 793 Vgl. dazu Peter Krüger, „Einflüsse der Verfassung der Vereinigten Staaten auf die deutsche Verfassungsentwicklung“, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 3/4 (1996), 244 – 245; Kilper/Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 80 – 81, 85 – 92.

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Analogie zur amerikanischen Verfassung das originäre Gesetzgebungsrecht der Länder anerkennt, gegenüber dem der Bund nur übertragene Rechte besitzt, eine Verfassungstheorie, der in der Praxis in der Bundesrepublik wie in den Vereinigten Staaten die ständige Ausweitung des Bundesgesetzgebung und die Unterhöhlung der Länderkompetenzen nicht zuletzt durch den Einsatz von Bundesmitteln und Mischfinanzierungen gegenübersteht.794 Dank dieser Prinzipien gelang es, mit dem Grundgesetz die in der Reaktion auf die Paulskirche eingeschlagene Richtung weg vom Bundesstaat und hin zu einem immer stärker ausgeprägten unitarischen Staat nicht nur zu korrigieren, sondern darüber hinaus auf den Ansatz von 1848 zurückzuführen. Das zeigt sich insbesondere in jenen Teilen, in denen die Paulskirche bereits von dem amerikanischen Vorbild abgewichen war, im Verhältnis der Länder untereinander und in der Konstituierung der zweiten Kammer. Auch das Grundgesetz vermochte sich jedoch trotz der endlich erfolgten Auflösung Preußens und eines entsprechenden Votums der SPD795 nicht zum Grundsatz der Gleichheit der Bundesstaaten zu bekennen, selbst wenn die Ungleichheit politisch etwas reduziert wurde (Art. 51, Abs. 2 GG),796 und wiederum konnte man sich, was Bildung und Funktion angeht, nicht für das amerikanische Senatsmodell entscheiden (vgl. Art. 50, 51, Abs.1 GG), sondern für eine Lösung, die eher zwischen der Paulskirchen- und der Weimarer Verfassung anzusiedeln ist, eine Entscheidung, die erst im Parlamentarischen Rat fiel, nachdem der Herrenchiemseer Verfassungskonvent darüber lange und kontrovers diskutiert hatte, ohne sich zwischen dem von der Mehrheit der CDU/CSU favorisierten Bundesrat und dem von der Mehrheit der SPD befürworteten Senat entscheiden zu können.797 Dass in diesem Abwägen zwischen Tradition und Innovation die Entscheidung für den Bundesrat dabei nicht zuletzt mit den vermeintlich guten Erfahrungen mit dem Weimarer Reichsrat und dem Bismarckschen Bundesrat begründet798 und das amerikanische, kaum ernsthaft diskutierte Senatsmodell vor allem deshalb verworfen wurde, weil es angeblich den Einfluss der Parteien stärken

794 Auf diese Situation in der Bundesrepublik weist u. a. hin Helmut Albert, „Die Föderalismusdiskussion im Zuge der deutschen Einheit“, in: Föderalismus, hrg. v. Bohr, 3 – 4. 795 Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn: Bonner Universitätsdruckerei, 1948 – 1949, 123 – 124. 796 Vgl. dazu die kritische Betrachtung der Förderalismusdiskussion in Deutschland im Zuge der Entstehung des Einigungsvertrags, Albert, „Föderalismusdiskussion“, bes. 4 – 22. 797 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949: Akten und Protokolle, II: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. Peter Bucher, Boppard am Rhein: Boldt, 1981, 83 – 85, 128 – 135, 136 – 156, 284 – 292, 337 – 340, 369 – 371, 539 – 546, 592 – 594, 601 – 604; ferner XI: Interfraktionelle Besprechungen, bearb. v. Michael F. Feldkamp, Boppard am Rhein: Boldt, 1997, xxi – xxv, 8 – 12, 32 – 37, 47 – 54, 61, 151 – 153, 160 – 161, 236 – 237. 798 Zu den Verbindungslinien vgl. Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung.

10. Die Konstitutionalisierung des Bundesstaats in Deutschland 1849 – 1949

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würde,799 ist ebenso bezeichnend wie aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, bedeutete aber erneut die aus der monarchischen Tradition kommende Verschränkung anstelle einer demokratisch legitimierten vertikalen Trennung der Gewalten.800 Bemerkenswert ist dabei ferner, dass sich die politischen Fronten für wie gegen stärker föderalistische Regelungen im Vergleich zur Weimarer Republik völlig umgekehrt und damit denen der Paulskirche wieder genähert hatten. Wiederum fehlte jedoch wie schon in der Paulskirchenverfassung trotz der Garantieklausel des Art. 79, Abs. 3 GG801 eine verfassungsrechtliche Begründung des Bundesstaates zwecks „Erhalt und Beförderung der Vielfalt, der Demokratie und des Rechtsstaats“802 und eine direkte Beteiligung der Länder an Verfassungsänderungen, die über ihre indirekte Mitwirkung durch den Bundesrat hinausgeht. Im Gegenzug ist mit der Feststellung der Verpflichtung des Bundes zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (Art. 72, Abs. 2 GG) potentiell das Tor zum Unitarismus weit aufgestoßen worden. In diesen Bestimmungen liegen die Gründe für die Differenzen zwischen der deutschen bundesstaatlichen Ordnung auf der einen Seite und der amerikanischen wie übrigens auch der schweizerischen auf der anderen Seite. Die verfassungsrechtliche Stellung der deutschen Länder ist deutlich schwächer als die der amerikanischen Einzelstaaten wie die der schweizerischen Kantone. Doch dieses Ergebnis war bereits in der Paulskirche politisch gewollt. 1848/49 wie 1948/49 mochte man zwar vorgeben, sich am amerikanischen Modell zu orientieren. Dass dabei die Kenntnisse des Verfassungssystems der Vereinigten Staaten allgemein und die ihres Föderalismus im besonderen beide Male erhebliche Lücken aufwiesen, wurde nicht als Versäumnis empfunden, bestärkte vielmehr eine Haltung, die sich stets lieber an dem vermeintlich Bewährten orientierte, statt offen nach neuen Lösungen Ausschau zu halten. Nicht die angebliche Unübertragbarkeit des amerikanischen Bundesstaatsmodells hat den so sehr viel stärker unitaristisch ausgerichteten deutschen Föderalismus bedingt, sondern der in der Auseinandersetzung mit Amerika seit 1848 799 Vgl. auch Parlamentarischer Rat. Stenographischer Bericht, I [mehr nicht erschienen], Bonn: Bonner Universitätsdruckerei, 1948 – 1949, 23 – 24, 36 – 37, 42 – 43, 85 – 97; Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses, 123 – 129. 800 Vgl. dazu auch Deuerlein, Föderalismus, 258 – 259; Kilper/Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 92 – 96. 801 Bei ihr handelt es sich um kein ursprüngliches Ziel der Beratungen. Im Gegenteil findet sie sich erstmals in modifizierter Form in dem vereinfachten SPD-Entwurf vom April 1949. Bis dahin zog sich durch die Entwürfe, Fassungen und Vorschläge stets die Möglichkeit, den „bundesstaatlichen Aufbau“ oder – wie es ab Februar hieß – „die Gliederung des Bundes in Länder“ durch eine, wenn auch besonders hohe qualifizierte Mehrheit im Bundesrat zu verändern, vgl. Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949: Akten und Protokolle, VII: Entwürfe zum Grundgesetz, bearb. v. Michael Hollmann, Boppard am Rhein: Boldt, 1995, 65, 115, 172, 253, 303, 327, 371, 427. 802 So auch die Kritik von Manfred Zeller, „Föderalismus ohne Föderalisten“, in: Bernd Guggenberger u. Andreas Meier (Hrsg.), Der Souverän auf der Nebenbühne. Essays und Zwischenrufe zur deutschen Verfassungsdiskussion, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 1994, 147 – 154. Der zitierte Passus findet sich auf S. 149.

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immer wieder betonte, als unerlässlich hypostasierte oder zwanghaft empfundene Rekurs auf vermeintliche wie tatsächliche deutsche Spezifika. Er hat letztlich die politische und verfassungsrechtliche Richtschnur bestimmt, die dem deutschen Föderalismus seine eigentümliche etatistische statt prinzipiell freiheitliche Ausrichtung gewiesen hat.803 Auch in diesem Punkt hat die Paulskirche die Grundlage gelegt, die einhundert Jahre später erneut zur Basis einer dann jedoch erfolgreicheren Ordnung wurde. Allerdings hatte die vielfach aufgeheizte Diskussion der Weimarer Republik zwischen Unitarismus und Föderalismus vergessen lassen, dass diese Bipolarität der Paulskirche fremd gewesen war und dass ihr Bundesstaatskonzept vielmehr genau wie jenes in Amerika sechzig Jahre zuvor nicht in Abgrenzung zum Einheitsstaat, sondern in der Weiterentwicklung eines real bestehenden Staatenbundes entstanden war. Nicht zuletzt deshalb war 1949 nicht in der Lage, den Grundsatz von 1871 und 1919: so viel Unitarismus wie möglich und so wenig Föderalismus wie nötig, zu revidieren, sondern vermochte ihn lediglich zu korrigieren, weshalb dem deutschen Verfassungsmodell mit Blick auf ein vereintes Europa und seiner Betonung von Regionalität und Subsidiarität deutliche Grenzen gesetzt bleiben werden.804

11. Die Verfassungsentwicklung seit 1871 als die Geschichte der Durchsetzung des modernen Konstitutionalismus in Deutschland805 Drei Verfassungen haben Deutschland seit 1871 ihren Stempel aufgedrückt: die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, die Weimarer Reichsverfassung von 11. August 1919 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949. Diese drei Verfassungen konstituierten drei Staaten, die sich in territorialer, institutioneller, politischer, kultureller, wirtschaftlicher, sozialer und ethnischer Hinsicht markant voneinander unterscheiden. Die Entwicklung führte von einem autokratisch-militaristischen Kaiserreich mit einem Parlament mit begrenzten, wenn auch im Laufe der Jahre zunehmenden Funktionen (Beschränkungen zumal hinsichtlich des Militärhaushalts mit dem Löwenanteil der Staatsausgaben,

803 Es geht also nicht allein um den verfassungsrechtlich-institutionellen Wandel, den Nipperdey konstatiert, vgl. Nipperdey, „Föderalismus in der deutschen Geschichte“, 101 – 106. 804 Vgl. dazu unten die Kap. VII. 3. und VII. 4. 805 Überarbeitete Fassung meines Artikels „Constitutional History as the History of Modern Constitutionalism: Germany since 1871“, in: Giornale di storia costituzionale, 37 (2019), 27 – 52. Mein besonderer Dank geht an Horst Dreier, Thomas Duve, Dieter Grimm, Jörg-Detlef Kühne und Michael Stolleis (†), die vorausgegangene Fassungen kommentierten und mir halfen, meine Argumentation zu verbessern.

11. Die Verfassungsentwicklung seit 1871

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der weitgehend parlamentarischem Zugriff entzogen war806) über eine radikale Republik mit starken plebiszitären Elementen und einem Reichspräsidenten, dessen politisches Gewicht in seiner direkten Volkswahl begründet lag – von ihren zeitgenössischen Anhängern als „wohlgelungenes Gesetzgebungswerk gepriesen807 – bis schließlich zu der Bonner, später Berliner Republik, die darauf bedacht war, aus den „Fehlern“ von Weimar zu lernen, indem sie die Macht des Parlaments, die Bundesregierung zu stürzen, durch das konstruktive Misstrauensvotum begrenzte, alle plebiszitären Elemente aus der Verfassung verbannte und keine direkte Wahl noch Notstandsbefugnisse des Bundespräsidenten vorsah. Die bundesstaatliche Struktur wurde in der Form beibehalten, doch die Rolle und Bedeutung der Staaten bzw. Länder wurde in allen drei Verfassungen neu definiert. Am schwächsten war sie in der Weimarer Republik ausgeprägt, der man das Oxymoron „unitarischer Bundesstaat“ anheftete.808 Diese drei Verfassungen – und das trifft im Allgemeinen auf alle nationalen Verfassungen zu – sind bislang in der Regel isoliert betrachtet und eher selten miteinander verglichen worden. Woran es in allen diesen Analysen fehlt, ist die Überwindung des national, mitunter auch nationalistisch, geprägten Zugriffs. Gewiss hat es in der Vergangenheit vergleichende Verfassungsuntersuchungen mit transnationaler Perspektive gegeben. Um nur wenige Beispiele herauszugreifen, sei auf Armin von Bogdandys „vergleichendes Verfassungsrecht“ unter dem Blickwinkel der Europäischen Union verwiesen.809 Chris Thornhill hat eine „antiformalistische Theorie des Verfassungsrechts“ auf soziologischer Grundlage vorgeschlagen,810 während Uwe Kischel für eine Typisierung von Rechtssystemen und die Einteilung in „Rechtskreise“ plädierte.811 Erst vor wenigen Jahren hat Peter Häberle sieben Thesen zum „universalen Konstitutionalismus“ vorgelegt, in dem die ein-

806 Vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, München: Beck, 31997, 267 – 268; Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 41980, 150 – 151. 807 So Friedrich Giese, Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Taschenausgabe für Studium und Praxis, Berlin: Carl Heymanns, 71926, 31. Vgl. auch die ausgewogene Darstellung von Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, III, München: C. H. Beck, 2002, 83 – 86, 95. 808 So Heiko Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867 – 1933), Berlin: Duncker & Humblot, 2002, bes. 533 – 535, ebenso Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Berlin: Stilke, 3/41926, 29, dass die Weimarer Länder „von den autonomen Gliederungen eines dezentralisierten Einheitsstaates nicht mehr sehr verschieden“ waren. Vgl. dazu auch das voraufgegangene Kap. VI. 10. 809 Armin von Bogdandy, „Comparative Constitutional Law: A Contested Domain. A Continental Perspective“, in: The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, hrg. v. Michel Rosenfeld und András Sajó, Oxford: Oxford University Press, 2012, 25 – 37. 810 Chris Thornhill, A Sociology of Constitutions. Constitutions and State Legitimacy in Historical-Sociological Perspective, Cambridge: Cambridge University Press, 2013. 811 Uwe Kischel, Rechtsvergleichung, München: C. H. Beck, 2015.

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zelnen Staaten mit „nationalen Teilverfassungen“ fungieren.812 Ran Hirschl schließlich wählte einen grundsätzlicheren Weg, indem er nach der methodologischen Unterfütterung und Rechtfertigung von komparatistischen Zugriffen in einer Welt fragte, in der Verfassungen zunehmend vergleichbar erscheinen.813 Dieses Kapitel unternimmt keinen Vergleich der drei deutschen Verfassungen, der angesichts ihrer großen Heterogenität ohnehin auf eine eher überschaubare Zahl von Fragen begrenzt bleiben müsste. Vielmehr geht es hier, wie in dem ganzen Band, um die „Wanderung von Verfassungsideen“814 und ganz konkret um die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, der, wie in den voraufgegangenen Kapiteln dieses Teils dargelegt, in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmende Resonanz fand, aber zumal auf konservativer Seite auf ebenso grundsätzliche wie anhaltende Ablehnung stieß. Damit ist die offensichtliche These dieses Kapitels, dass die letzten 150 Jahre in Deutschland von der zunehmenden Durchsetzung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus geprägt sind, bei der heftige Gegenwehr und vielfache Widerstände Schritt für Schritt zu überwinden waren, wobei das jeweilige Scheitern der voraufgegangenen Verfassung stets einen wesentlichen Anstoß zur Verwirklichung dieser Prinzipien darstellte. Zugleich erklärt sich damit, weshalb hier die Jahre von 1933 – 1945 in der verfassungsrechtlichen Analyse ebenso ausgeblendet bleiben wie die Verfassungen der DDR, da sie außerhalb dieser Entwicklung stehen und bestenfalls ad negativum auf diese eingewirkt haben, ohne selbst Teil dieses historischen Prozesses zu sein. Diese Durchsetzung des modernen Konstitutionalismus in Deutschland soll daher mittels der Analyse des Eindringens seiner zehn Prinzipien815 in die Verfassungen von 1871, 1919 und 1949 aufgedeckt werden. Beginnen wir mit der Volkssouveränität, die bereits die Paulskirchenmehrheit sich geweigert hatte, als Legitimationsgrundlage für ihr Verfassungswerk zu akzeptieren.816 Es kann folglich kaum überraschen, dass wir dieses Prinzip in der Reichsverfassung von 1871 ebenso wenig antreffen. Statt „Wir das Volk“ wie in der amerikanischen Bundesverfassung hieß es hier in der Präambel, der preußische König im Namen des Norddeutschen Bundes und die vier süddeutschen Monarchen „schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur

812

Peter Häberle, „Universaler Konstitutionalismus aus nationalen und völkerrechtlichen Teilverfassungen – sieben Thesen“, in: ders., Vergleichende Verfassungstheorie und Verfassungspraxis. Letzte Schriften und Gespräche, Berlin: Duncker & Humblot, 2016, 34 – 36. Diese Thesen erschienen zuerst 2014. 813 Ran Hirschl, Comparative Matters. The Renaissance of Comparative Constitutional Law, Oxford: Oxford University Press, 2014. 814 Vgl. dazu The Migration of Constitutional Ideas, hrg. v. Sujit Choudry. Cambridge: Cambridge University Press, 2006. 815 Zu diesen vgl. oben Kap. I. 1. 816 Vgl. dazu oben Kap. VI. 9.

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Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes“.817 Mithin hatten die Fürsten einen Bund zum Schutz ihrer Throne geschlossen, während vom Volk und dessen Rechten keine Rede war. Obgleich der Reichstag am 14. April 1871 der Verfassung nachträglich zustimmte, fungierte das Volk weder theoretisch noch praktisch als Autor oder als legitimierende konstituierende Basis der Verfassung. Im Gegenteil war es bewusst von der Gründung dieses Deutschen Reiches ausgeschlossen, da allein die Fürsten diesen Bund geschlossen hatten und der Reichstag sich ausdrücklich geweigert hatte, inhaltlich in den ihm vorgelegten Text einzugreifen.818 Eine stärkere Zurückweisung des Prinzips der Volkssouveränität ist schwer vorstellbar. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 und ihrem Zustandekommen war dieser Widerstand offensichtlich überwunden. Die Verfassungspräambel verkündete: „Das Deutsche Volk […] hat sich diese Verfassung gegeben“, und Art. 1 fügte sogleich hinzu: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“.819 Über diese legitimatorische Basis hinausgehend, wurde die Volkssouveränität zu einem operative Element der Weimarer Verfassung, das vom Gesetzgebungsprozess bis zu Verfassungsänderungen zum Tragen kam, bei denen Reichstag, Reichsrat oder Reichspräsident Volksabstimmungen herbeiführen konnten (Art. 73 – 77).820 Das Bekenntnis zur Volkssouveränität erscheint derart unumstritten, dass es nicht für geboten angesehen wurde, in die Verfassung Verfahrensvorgaben für die Durchführung von Volksentscheiden und ihre Gültigkeit einzufügen, sondern dies der nachfolgenden gesetzlichen Regelung überließ.821 Dank des Durchbruchs von 1919 hinsichtlich der Volkssouveränität als legitimatorischer Basis einer Verfassung war der Weg für die entsprechende Bestimmung im Grundgesetz von 1949 bereitet: „[K]raft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben. Jedoch wurde der oben zitierte zweite Satz aus Art. 1 der Weimarer Verfassung nunmehr im zweiten Absatz von Art. 20 GG um die Bestimmung seiner Ausübung ergänzt: „Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzge817 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrg. v. Ernst Rudolf Huber, II, Stuttgart: Kohlhammer, 1964, 290. 818 Ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, Stuttgart: Kohlhammer, 1966, 756 – 758. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Reichstag bei der Schaffung der Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 eine aktivere Rolle gespielt hatte. 819 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrg. v. Huber, III, 129. Vgl. Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 84 – 86; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 37. 820 Dass das Volk in diesen Fällen nicht als Souverän im rechtlichen Sinn auftritt, sondern als autorisierte Personen, erscheint sekundär, da das Volk politisch direkt als letzter Entscheidungsträger handelt und damit im politischen Prozess jenseits der bestehenden verfassungsmäßigen Institutionen in Erscheinung tritt. 821 Gesetz über den Volksentscheid vom 27. Juni 1921 (http://www.documentarchiv.de/wr/1 921/volksentscheid_ges.html, Zugriff 19. 11. 2020). Vgl. grundsätzlich zu diesem Thema, Peter C. Caldwell, Popular Sovereignty and the Crisis of German Constitutional Law. The Theory & Practice of Weimar Constitutionalism, Durham, NC und London: Duke University Press, 1997.

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bung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“822 Dieser Zusatz erschien notwendig, um das operative Prinzip der Volkssouveränität mittels der Weimarer Volksentscheide auf Bundesebene auszuschließen – obgleich seither diskutiert wird, was eigentlich mit „Abstimmungen“ gemeint ist. Zugleich sollte damit ein Riegel Ostberliner Intentionen vorgeschoben werden, in Westdeutschland mit der Karte der direkten Demokratie punkten zu wollen.823 Mit den Menschenrechten kommen wir zu dem nächsten Prinzip des modernen Konstitutionalismus. Um es kurz zu machen: In der Reichsverfassung von 1871 tauchen weder Bürger- noch Menschenrechte auf.824 Die fehlende Konstitutionalisierung von Rechten führte in den 1870er Jahren dazu, dass einige Bürgerrechte auf dem Weg einfacher Gesetzgebung eingeführt wurden, die allerdings durchweg unter einem Gesetzesvorbehalt standen.825 Auch in diesem Fall verkörperte die Weimarer Verfassung einen neuen Zugang, selbst wenn mit ihr der Durchbruch zur generellen Anerkennung von Menschenrechten nicht erreicht wurde. In Anlehnung an das Beispiel der Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 brachte die Weimarer Verfassung mit ihrem umfangreichen zweiten Teil einen besonderen Kompromiss zum Ausdruck, indem die „Grundrechte des deutschen Volkes“ erstmals von „Grundpflichten der Deutschen“ begleitet wurden.826 Diese Rechte waren als Staatsbürgerrechte formuliert,827 auch wenn Gerhard Anschütz sie als Menschen822 Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum Verfassungsrecht, hrg. v. Horst Dreier und Fabian Wittreck, Tübingen, Mohr Siebeck, 2006, 14, 27. 823 Zum letzteren vgl. Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1984. Walter Georg Leisners Kommentar und zumal seine Ausführungen zur Präambel und zu Art. 20 mit der Volkssouveränität als Verfassungsprinzip, in: Grundgesetz, hrg. v. Helge Sodan, München: Beck, 32015, 2, 239 – 240, gehen kaum auf diese Problematik ein. Ausführlicher ist dagegen Horst Dreier, in: Grundgesetz. Kommentar, I: Artikel 1 – 19, hrg. v. dems., Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, 26 – 29 (Präambel). Hinsichtlich des Wortes „Abstimmungen“ scheint jedoch inzwischen unstrittig, dass damit keine generelle Ermächtigung zur direkten Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung gemeint ist, vgl. Dreier, in: Grundgesetz. Kommentar, II: Artikel 20 – 82, hrg. v. dems., Tübingen: Mohr Siebeck, 22006, 90 – 93. 824 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 371 – 376. 825 Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 – 1934), Berlin und Heidelberg: Springer, 2008, 532 – 533; Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, 54 – 55. Der Hinweis auf die Rechtekataloge in den Einzelstaatsverfassungen ist insofern verfehlt, da dort aufgeführte Rechte ihrer Natur nach lediglich vor Rechtsübergriffen des jeweiligen Staates, doch in keinem Fall vor denen der Bundesorgane zu schützen vermochten. 826 Vgl. Michael Dreyer, „Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung“, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung (1919 – 1999), Red. Harald Mitteldorf, Weimar: Wartburg-Verlag, 1998, 55 – 57. 827 Vgl. auch Michael Stolleis, „Weimarer Kultur und Bürgerrechte“, in: Weimar und die deutsche Verfassung. Zur Geschichte und Aktualität von 1919, hrg. v. Andreas Rödder, Stuttgart, Klett-Cotta, 1999, bes. 91 – 99. Dreier findet dagegen eine allgemeinere Bedeutung in ihnen, vgl. Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, 55 – 56. Dagegen war

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rechte verstanden sehen wollte.828 Ungeachtet ihrer bewussten sprachlichen Begrenzung, die durch Formulierungen wie „Jeder Deutsche“ oder „Alle Deutschen“ eindeutig zum Ausdruck gebracht war, sahen Zeitgenossen dennoch in ihnen einen immanenten moralischen Appell, derartige Bestimmungen in Zweifelsfällen so breit wie möglich auszulegen.829 Dennoch wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Weimarer Rechtsgarantien – in den Worten von Hugo Preuß – eher „[p]rogrammatische Richtlinien“ darstellten,830 die letztlich der staatsbürgerlichen Erziehung statt der Begrenzung der Staatsmacht dienen sollten. Auf keinen Fall waren sie gedacht, gegen den Staat durchgesetzt zu werden.831 Daher ordnete Art. 107 der Verfassung Verwaltungsgerichte an „zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden“.832 Doch fehlte ein Verfassungsgericht, um dem Einzelnen einen effektiven Schutz gegen die Verletzung seiner fundamentalen Rechte durch den Gesetzgeber zu bieten. An keiner Stelle der Weimarer Verfassung werden Menschenrechte konkret erwähnt – selbst wenn einige der aufgeführten Rechte so verstanden werden können – und obwohl es genau jene Jahre waren, in denen die Pariser Vorortverträge und der Völkerbund ausdrücklich zum Schutz von Minderheitenrechten zumal in den neuen Staaten Mittel- und Südosteuropas aufgerufen hatten.833 Erst mit dem Grundgesetz von 1949 vollzog sich die entscheidende Wende unter dem erschütternden Eindruck der Nazi-Barbarei und aus der Verpflichtung, mittels geeigneter Verfassungsbarrieren den Rechtsstaat wirkungsvoller zu schützen. Im Zuge der Beratungen über das Grundgesetz traf Carlo Schmid in der zweiten PleOthmar Bühler generell skeptisch gegenüber Grundrechten, Othmar Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, Leipzig und Berlin: Teubner, 21927, 103 – 104. 828 Zu den unterschiedlichen Interpretationen, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, III, 109 – 114. 829 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 145 – 154; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 300 – 301; Horst Dreier, „Die Zwischenkriegszeit“, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrg. v. Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, I, Heidelberg: C. F. Müller, 2004, 159. Vgl. auch Richard Thoma, Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Ausgewählte Abhandlungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. 830 Hugo Preuß, „Politik und Verfassung in der Weimarer Republik“, in: ders., Gesammelte Schriften, IV, hrg. v. Detlef Lehnert, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 112. Preuß war überzeugt, dass die „programmatischen Richtlinien“ der Entwicklung von Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit dienten als „die drei Grundgedanken, auf denen die Reichsverfassung der deutschen Republik aufgebaut ist“. 831 Vgl. allgemein, Friedhelm Köster, Entstehungsgeschichte der Grundrechtsbestimmungen des zweiten Hauptteils der Weimarer Reichsverfassung in den Vorarbeiten der Reichsregierung und den Beratungen der Nationalversammlung, Göttingen: Cuvillier, 2003. Eine ausgewogenere Betrachtung bei Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, bes. 280 – 286. Vgl. auch Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Berlin: Duncker & Humblot, 2000, 135 – 137. 832 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 145. 833 Vgl. dazu unten Kap. VII. 6.

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narversammlung des Parlamentarischen Rats am 8. September 1948 genau jenen Punkt, der in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre in Amerika ebenso wie dann wiederum Anfang 1789 in Frankreich die Begründung des modernen Konstitutionalismus abgegeben hatte: die Rechtfertigung der Verfassung aus dem Schutz der Rechte und Freiheiten ihrer Bürger: „Die Grundrechte müssen das Grundgesetz regieren.“834 Folglich beginnt das Grundgesetz mit den Grundrechten, das damit zugleich jenen Terminus wieder aufnahm, der sich 1848 in der Paulskirche durchgesetzt hatte und setzt damit zugleich inhaltlich jenes Postulat um. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1),835 steht geradezu stellvertretend für den Geist dieser neuen Verfassung, den der zweite Absatz des gleichen Artikels bekräftigt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Selbst wenn dieser Satz Juristen Kopfzerbrechen bereiten mag, bleibt er von grundlegender Bedeutung, da er die nicht weiter zu hinterfragende Position der Bundesrepublik in Menschenrechtsfragen definiert, die weit über das hinausgeht, was ein Jahrhundert zuvor in der Paulskirche erreicht oder angestrebt worden war.836 Was dann folgt, sind allgemeine Menschenrechte, ergänzt um einige Bürgerrechte. Folglich beginnen die Artikel, anders als noch in Weimar, mit „Jeder“, „Alle Menschen“, „Niemand“ oder vergleichbaren Formulierungen. Alle diese Rechte sind daher gemäß Art. 1, Abs. 3 „unmittelbar geltendes Recht“.837 Diese Grundeinstellung, untermauert durch das Bundesverfassungsgericht und seine Entscheidungen, hat siebzig Jahren Bundesrepublik ihren Stempel aufgedrückt. Anders als bei der Volkssouveränität hatte Deutschland bis 1949 warten müssen, bis die Menschenrechte ohne Abstriche konstitutionalisiert wurden. Das gleiche lässt sich von universellen Prinzipien sagen, die an die Stelle vormals anzutreffender lokaler oder nationaler Besonderheiten den geistigen Bezugspunkt einer Verfassung abgaben und damit das Partikulare in den Vordergrund stellten, wo der moderne Konstitutionalismus das allgemein Verbindliche als eigentliche Legitimation erblickt. Der Reichsverfassung von 1871, die sich bewusst gegenüber Frankreich abgrenzen wollte, war ein derartiger Ansatz völlig fremd. Die Präambel von Weimar teilte auch in diesem Punkt nicht den Ansatz von 1871, sondern sah das deutsche Volk 834 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, IX: Plenum, hrg. v. Wolfram Weber, München: Boldt, 1996, 37. Ergänzend Christian Bommarius, Das Grundgesetz. Eine Biographie, Berlin: Rowohlt, 2009, 174. 835 Alexander Somek, The Cosmopolitan Constitution, Oxford: Oxford University Press, 2014, 9, erkennt in der zentralen Position der menschlichen Würde im Grundgesetz das Erreichen eines neuen Niveaus des Konstitutionalismus. 836 Vgl. Sodan, in: Grundgesetz, hrg. v. dems., 37. Ausgewogener Dreier, in: Grundgesetz. Kommentar, hrg. v. dems., I, 131 – 139. Ebenso Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, 57 – 61. 837 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 15, und allgemein Art. 1 – 19 der Grundrechte, ebd., 15 – 27. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 351, dem jedoch angesichts seiner Behauptung, dass die Weimarer Grundrechte weitgehend auf das Grundgesetz übertragen worden seien, die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden entgangen zu sein scheinen.

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„von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem innern und dem äußern Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern“.838 Das klang sehr selbstreflektierend und ließ das notwendige Pathos vermissen, um Deutschlands Platz in der internationalen Gemeinschaft mit Selbstvertrauen und dem Willen, seinen Teil an Verantwortung zu übernehmen, auszufüllen. Der Vergleich mit 1949 lässt diese Unterschiede und damit den Durchbruch zum Niveau des modernen Konstitutionalismus deutlich werden. Der einleitende Passus der Präambel des Grundgesetzes erklärt klar: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt […] als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen […].“ Im gleichen Tenor bekräftigt der Bezug auf die Menschenrechte „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ die Verpflichtung des Grundgesetzes auf universell gültige Prinzipien. Einige Artikel später wird „das friedliche Zusammenleben der Völker“ zur Grundlage deutscher Außenpolitik erklärt, und über allem thront die Verankerung auf dem Grundsatz der Menschenwürde.839 Ein weiteres Prinzip des modernen Konstitutionalismus ist die Begrenzung staatlicher Macht. In England ist dieser Grundsatz der „begrenzten Monarchie“ seit Jahrhunderten verankert und in besonderem Maße mit Sir John Fortescues De Laudibus legum Angliae verbunden, das um 1470 das Konzept des dominium politicum et regale aufstellte, das seither als „begrenzte Monarchie“ übersetzt wird.840 Die Glorreiche Revolution von 1688/89 griff diesen Begriff auf und gab ihm mit seiner Bill of Rights seinen seither gültigen Ausdruck, mit der bestimmte Rechte dem König genommen oder abgesprochen und dem Parlament übertragen wurden. Da jede Verfassung auf der Grundlage des modernen Konstitutionalismus angelegt ist, die Rechte und Freiheiten des Bürgers gegen Übergriffe des Staates zu sichern, ist jede dieser Verfassungen diesem Machttransfer verpflichtet und begrenzt auf diese Weise grundsätzlich staatliche Machtausübung. Der entscheidende Punkt ist daher nicht, dass der Monarch oder ein republikanisches Staatsoberhaupt sich die Befugnisse der Gesetzgebung und Besteuerung mit einem Parlament teilt. Begrenzte Monarchie oder begrenzte Regierung meint vielmehr konkrete rechtliche Beschränkungen exekutiver wie legislativer Macht zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger und zum Machtausgleich unter den zentralen staatlichen Organen. Es ist daher irreführend, das Deutsche Reich von 1871 als „eingeschränkte Mon-

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Dokumente, hrg. v. Huber, III, 129. Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 14 – 15, 31. 840 Vgl. John Fortescue, The Governance of England: Otherwise Called The Difference between an Absolute and a Limited Monarchy. A Revised Text, London: Oxford University Press, 1885. 839

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archie“ zu bezeichnen,841 da die Verfassung weder ein so definiertes Prinzip kannte noch über eine Erklärung von Rechten verfügte, die es zu schützen galt. Vielmehr sollte das Reich mächtig und der Kaiser die Verkörperung dieser imperialen Macht sein. Daher verfügte er zu jeder Zeit über das persönliche Recht, „dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb des Deutschen Heeres alle Truppentheile vollzählig und kriegstüchtig vorhanden sind“ (Art. 63).842 Dagegen erschiene eine begrenzte Regierungsgewalt als Synonym für einen schwachen Staat, das offensichtliche Gegenteil von dem, was das Reich sein wollte und beanspruchte zu sein. Der Gedanke der begrenzten Regierung war der Weimarer Verfassung ebenfalls fremd. Obwohl die Verfassung Grundrechte deklariert hatte, gab es angesichts des Fehlens eines Verfassungsgerichts keine Möglichkeit, sie gegen den Staat einzuklagen.843 Ebenso wenig enthielt die Weimarer Verfassung eine ausdrückliche Aufforderung an die staatlichen Handlungsträger, die Grundrechte zu respektieren, so das gegebenenfalls das Parlament hätte intervenieren können. Hingegen gab es konkrete Bürgerpflichten, darunter solche, die eher anachronistisch klingen wie die Aufforderungen „zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten“ (Art. 132) oder „persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten“ (Art. 133),844 selbst wenn es sich dabei um ein „bloßen Merkposten“ statt verbindliches Recht handelte.845 Letztlich charakterisierte die Verfassung jedoch, wie oben erwähnt, die Volkssouveränität als operatives Prinzip, was seiner eigenen Natur nach jedem Gedanken einer Beschränkung widersprach. Das Grundgesetz enthält keine klare Bestimmung zur Begrenzung staatlicher Gewalt. Dennoch lässt sich der Grundsatz der begrenzten Regierung ohne größere Schwierigkeit in ihm finden. Angesichts der gegenüber Weimar ungleich gesteigerten Bedeutung der Grundrechte hieß es bereits in Art. 1, Abs. 3: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Bereits wenige Jahre nach Inkrafttreten des Grund841 Werner Frotscher und Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, München: Beck, 52005, 218, unter Abwandlung eines bekannten und hier weiter unten diskutierten Ausspruches von Laband. 842 Dokumente, hrg. v. Huber, II, 303. 843 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, III, 117 – 118. Vgl. Horst Dreier, „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik“, in: Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 12. bis 14. März 2012 (Der Staat, Beiheft 22), hrg. v. Thomas Simon und Johannes Kalwoda, Berlin: Duncker & Humblot, 2014, 317 – 372. 844 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 147. 845 Hans Schneider, „Die Reichsverfassung vom 11. August 1919“, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, I, hrg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof, Heidelberg: Müller, 32003, 197. Ähnlich, Martina Haedrich, „Die Grundpflichten in der Weimarer Reichsverfassung, Möglichkeiten ihrer Fortschreibung heute“, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung – Was ist geblieben?, hrg. v. Eberhard Eichenhofer, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999, bes. 185 – 193; vgl. auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 348 – 349.

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gesetzes wurde das Wort „Verwaltung“ durch den adäquateren Begriff „vollziehende Gewalt“ ersetzt, der seither gilt.846 Darüber hinaus wurde im Gegensatz zu 1919 als kraftvolles Gericht 1951 das Bundesverfassungsgericht geschaffen, das seither den Schutz der Grundrechte gegen staatliche Übergriffe als eine seiner vordringlichsten Aufgaben versteht. Schließlich zeichnet das Grundgesetz seine berühmte Ewigkeitsklausel aus: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“ (Art. 79 Abs. 3).847 Ohne es ausdrücklich zu formulieren, kann daher das Prinzip der begrenzten Regierung als fest im Grundgesetz verankert angesehen werden. Der begrenzten Regierung vergleichbar kann die Entwicklung des Prinzips der Suprematie der Verfassung in den drei deutschen Verfassungen gelesen werden. Ihr locus classicus ist bekanntlich die amerikanische Bundesverfassung von 1787, in deren Art. VI, Abs. 2 es heißt: „Diese Verfassung […] ist das höchste Gesetz des Landes.“848 Eine vergleichbare Bestimmung sucht man in deutschen Verfassungen vor wie nach 1919 vergebens. Dabei hatte der württembergische Verfassungsrechtler Robert von Mohl bereits 1852 festgestellt, dass „überhaupt die Verfassungsurkunden nur in dem Zwecke abgefasst worden, um durch ihre Satzungen eine festere, unantastbarere und über die Veränderlichkeit und Laune der gewöhnlichen gesetzgebenden Gewalt erhobene Grundlage für das Staatsleben zu erhalten“.849 Doch Paul Laband, der das Staatsrecht des Kaiserreichs dominierte, widersprach heftig: „Die in der Verfassung enthaltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kömmt ihnen nicht zu.“850 Obgleich sich die Verfassungswirklichkeit in der Wilhelminischen Epoche und während des Ersten Weltkriegs dramatisch veränderte, brachte der vorherrschende Rechtspositivismus die Verfassungsrechtler nicht zu der Erkenntnis, dass es angebracht sein könnte, den veränderten politischen Praktiken und ihren Institutionen durch eine ihnen entsprechende Verfassungsänderung verfassungsrechtliche Legitimität zu verschaffen.851 Der vergleichsweise untergeordneten Stellung der Verfassung entsprach die Tatsache, dass der Text von 1871 – entgegen allen Verfassungskämpfen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – fest846 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 15. Dazu auch Dreiers Kommentar in: Grundgesetz. Kommentar, hrg. v. dems., I, 141 – 163. 847 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 69. 848 Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, I, 62. 849 Robert von Mohl, „Über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze“ [1852], in: ders., Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien, 3 Bde., Tübingen: Laupp, 1860 – 1869, I, 82. 850 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde., Tübingen, Laupp, 1876 – 1882, II, 38. Zu Laband, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 341 – 348. 851 Vgl. Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, bes. 261 – 264, 544.

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legte, dass das Militär nicht auf die Verfassung vereidigt wurde, sondern auf den Kaiser, und dass es seinen Befehlen „unbedingte Folge zu leisten“ hatte (Art. 64).852 Ohne einen Kaiser an der Spitze versuchte die Weimarer Verfassung, diese Bestimmungen zu korrigieren und dekretierte in Art. 176: „Alle öffentlichen Beamte und Angehörigen der Wehrmacht sind auf diese Verfassung zu vereidigen.“853 Zur gleichen Zeit dokumentierte jedoch die Weimarer Praxis der „verfassungsdurchbrechende[n] Gesetze“,854 dass das Prinzip der Verfassungssuprematie Politik und Staatsrecht in Deutschland unverändert fremd war.855 Formal gesehen macht das Grundgesetz hier 1949 keine Ausnahme. Es enthält keine Bestimmung, die ausdrücklich die Verfassung zum höchsten Gesetz der Bundesrepublik erklärt. Selbst wenn dieses Fehlen 1949 der Auffassung traditionell eingestellter deutscher Staatsrechtler entsprochen haben mag, gibt es gewichtige Argumente, den Vorrang der Verfassung in Art. 20, Art. 1, Abs. 3 und Art. 93 GG „verortet“ zu sehen,856 auch wenn abweichende Meinungen weiter bestehen. Selbst 1990, als das Grundgesetz im Zuge der Wiedervereinigung geändert werden musste, reichte es nicht für mehr als für die dürre Feststellung, dass das Grundgesetz jetzt „für

852 Dokumente, hrg. v. Huber, II, 303. Vgl. die Feststellung von Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, 24, dass die mangelnde Gegenzeichnungspflicht bei militärischen Anordnungen und Ernennungen das Militär jeder parlamentarischen Kontrolle entzog und es damit letztlich außerhalb der Verfassungsordnung stellte. Im Wesentlichen ähnlich: Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 149 – 165; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, II: Machtstaat vor der Demokratie, München: Beck, 21993, bes. 202 – 226. Ernst Rudolf Hubers Versuch, die Behauptung, das Kaiserreich sei ein militaristischer Staat, zurückzuweisen, vermag nicht zu überzeugen, zumal sich Huber in seiner Argumentation auf wenige formalrechtliche Aspekte beschränkt, ohne die Befehlsgewalt und ihre Rückwirkungen zu berücksichtigen, Ernst Rudolf Huber, „Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung“, in: Handbuch des Staatsrechts, hrg. v. Isensee und Kirchhof, I, 154 – 157. 853 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 155. 854 Dazu: Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 146 – 147; Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, 88 – 89. 855 So auch Helmut Ridder, Wie und warum (schon) Weimar die Demokratie verfehlte, in: Zentrum und Peripherie: Zusammenhänge – Fragmentierungen – Neuansätze. Festschrift für Richard Bäumlin zum 65. Geburtstag, hrg. v. Roland Herzog, Chur und Zurich: Rüegger, 1992, bes. 87 – 97. Laut Ridder lag der Fehler Weimars in der mangelnden demokratischen Legitimierung der Volkssouveränität, an deren Stelle sie zu dem absolutistischen Konzept der Souveränität Zuflucht nahm, das im deutschen Kontext zur Suprematie des Staats über die Verfassung führte. 856 Thorsten Kingreen, „Vorrang und Vorbehalt der Verfassung“, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrg. v. Isensee und Kirchhof, XII, 310. Dass ein ernst gemeinter Vorrang der Verfassung logischerweise zur einer Verfassungsgerichtsbarkeit führen muss mit der Befugnis, über die Übereinstimmung von Gesetzen mit der Verfassung zu entscheiden, war bereits 1788 in den Vereinigten Staaten im Federalist dargelegt und lag 1803 der Entscheidung Marbury v. Madison zugrunde.

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das gesamte deutsche Volk gilt“ (Art. 146),857 was angesichts der voraufgegangenen politischen Entscheidungen kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit war.858 Fragt man, warum das deutsche Verfassungsrecht so zurückhaltend war, den Vorrang der Verfassung eindeutig im Grundgesetz festzuschreiben, wird man auf die aus dem 19. Jahrhundert stammende deutsche Staatsrechtslehre verweisen müssen, wie es u. a. der oben zitierte Helmut Ridder bereits getan hat. In dieser bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nachwirkenden, gegen den modernen Konstitutionalismus gerichteten Doktrin hatte der Staat den Vorrang vor der Verfassung, so dass gemäß Klaus Stern die Verfassung lediglich untergeordneter Teil eines allumfassenden Staatsrechts war.859 Auch wenn diese Lehre eines „vorrechtlichen Staates“860 in einem demokratischen Staat abstrus erscheint und mit einer modernen liberalen Verfassungsordnung unvereinbar ist, verweisen allein der unveränderte Gebrauch der Begriffe „Staatsrecht“ für öffentliches Recht und „Staatsrechtslehrer“ für Professoren des öffentlichen und Verfassungsrechts auf die Nachwirkungen einer überkommenen Tradition aus vordemokratischen Zeiten. Das Prinzip der repräsentativen Regierung spielte im deutschen Verfassungsrecht der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine völlig andere Rolle. Gewiss, vor 1919 regierte der Kaiser. Auch wenn der Reichstag in den letzten Jahrzehnten einflussreicher geworden war, setzte die Verfassung seiner Macht Grenzen. Auf der anderen Seite, und merkwürdig genug, fehlte in der Verfassung jede Bestimmung über die exekutive Gewalt. Sie sollte wahrscheinlich durch den Bundesrat wahrgenommen werden, dem der Kaiser vorsaß mit Unterstützung eines Reichskanzlers, der allein von ihm bestallt und entlassen wurde ohne jede Mitwirkung des Reichstags. Ohne jede weitere Verfassungsbestimmung verkörperte der Reichskanzler offensichtlich so etwas wie eine „Ein-Mann Regierung“,861 die eine gewaltige Machtfülle besaß, solange sich der Reichskanzler des Rückhalts des Kaisers sicher sein konnte, der anderenfalls die Regierung dominierte, wenn ihm danach war. In dieser bewusst antiparlamentarischen Konstruktion war irgendeine Form von Repräsentation nicht vorgesehen. Daher gehört Hubers Interpretation von einem Reich, das „Monarchie 857

Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 137. Dreiers Versuch, den Vorrang der Verfassung aus der Volkssouveränität und dem pouvoir constituant des Volkes zu deduzieren, hält weder historischer noch logischer Überprüfung stand, zumal bereits die Weimarer Verfassung unterstrich, dass die beiden Prinzipien nicht aufeinander folgen, vgl. seinen Kommentar in: Grundgesetz. Kommentar, hrg. v. Dreier, I, 26 – 27. Im Gegenteil ist es gerade das Prinzip der Volkssouveränität, aus dem sich eine Zurückweisung des Prinzips des Vorrangs der Verfassung ableiten lässt, wie dies in Frankreich rund 200 Jahre lang der Fall war. Vgl. dazu oben Kap. V. 2. 859 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, I, München: Beck, 2 1984, 7 – 11. 860 Vgl. insbesondere András Jakab, „Staatslehre – Eine deutsche Kuriosität“, in: Christoph Schönberger, Der „German Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 75 – 121. 861 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 544. 858

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und Demokratie im höheren Ganzen der Nation verband“,862 in das Reich der Fabel, selbst wenn es sich dabei um die Abwandlung der Auffassung Labands handelte, dass das Reich keine „Monarchie“, sondern eine „Demokratie“ sei.863 Weimar sollte dies alles ändern. Der Kaiser wurde durch einen Reichspräsidenten ersetzt, der nicht regieren sollte, doch im Falle des nationalen Notstands über außerordentliche Befugnisse verfügte, die selbst die des Kaisers übertrafen, nämlich die sogenannte „Diktaturgewalt“,864 ein Verfassungsbegriff, über den bereits in der Paulskirche intensiv diskutiert worden war. „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ (Art. 48, Abs. 2).865

Im Normalfall solle die Reichsregierung im Zusammenwirken mit dem Reichstag regieren, der aus allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen hervorging. Dies entsprach den Prinzipien eines repräsentativen Regierungssystems. Dennoch beschränkte sich die Weimarer Verfassung darauf, die Errichtung einer Republik zu proklamieren, in der alle Gewalt vom Volk ausging (Art. 1), was Elemente der direkten Demokratie einschloss, wie etwa die unmittelbare Beteiligung des Volkes am Gesetzgebungsprozess (Art. 73).866 Diese unmittelbare gesetzgeberische Mitwirkungsmöglichkeit des Volkes wie auch die Notstandsbefugnisse des Reichspräsi862 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 774. Vgl. Bühler, der das Reich, zumal in seiner Wilhelminischen Epoche, eindeutig als Monarchie einstufte, Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, 19. 863 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, I, 87 – 88. 864 Dazu Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 107 – 113. Angesichts der heute weit verbreiteten Einstufung der Verfassung der V. Republik als „halb-präsidentiale“ Republik erscheint die These von Cindy Skach, Borrowing Constitutional Designs. Constitutional Law in Weimar Germany and the French Fifth Republic, Princeton und Oxford: Princeton University Press, 2005, 9, zumal mit Blick auf den Art. 48 WRV wenig überzeugend, dass die Weimarer Reichsverfassung verfassungsrechtlich der Vorläufer der Verfassung der V. Republik sein soll. Diese Interpretation verkennt die Entstehungsgeschichte der Verfassung der V. Republik sowie die Tatsache, dass die Verfassung in entscheidenden Punkten völlig anders konstruiert war. Dennoch enthielt die Weimarer Verfassung einige Ähnlichkeiten, worauf auch andere hingewiesen haben, so etwa Hans-Peter Schwarz, „Der demokratische Verfassungsstaat im Deutschland des 20. Jahrhunderts – Gründung und Niedergang, Bewährung und Herausforderung“, in: Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland. 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, 50 Jahre Grundgesetz, 10 Jahre Fall der Mauer, hrg. v. Klaus Dicke, BadenBaden: Nomos, 2001, 15. Kritisch zu Art. 48, als einem Grundstein der Verfassung und der Diktatur des Reichspräsidenten Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, 68 – 70. Vgl. auch Walter Pauly, „Die Stellung der Weimarer Reichsverfassung in der deutschen Verfassungsgeschichte“, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung, hrg. v. Eichenhofer, bes. 12 – 14. Ferner Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 166 – 179, ohne eindeutige Stellungnahme. 865 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 136. 866 Vgl. auch Lee Seifert Greene, Direkte Demokratie unter Berücksichtigung der Kommunen der Weimarer Republik, Baden-Baden: Nomos, 2012.

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denten nahmen dem Prinzip der repräsentativen Regierung in der Weimarer Verfassung seine Ausschließlichkeit.867 1949 war der Parlamentarische Rat in dieser Frage unzweideutig: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.– Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“ (Art. 20).868 Selbst wenn der Begriff nicht ausdrücklich auftaucht, war das Prinzip der repräsentativen Regierung in geradezu klassischer Weise als Verfassungsgrundsatz festgeschrieben und zog die unvermeidliche Konsequenz aus der Volkssouveränität: Das Volk ist souverän, aber es regiert nicht selbst, vielmehr geschieht dies ausschließlich durch seine gewählten Repräsentanten.869 In der überkommenen deutschen politischen Theorie war die Gewaltentrennung stets Anathema gewesen, widersprach sie doch gemäß dem monarchischen Prinzip des 19. Jahrhunderts der Uniformität der Staatsmacht. Im Gegensatz zur Theorie hatten jedoch die deutschen Verfassungen dieser Zeit aus praktischen Erwägungen durchweg zwischen legislativen und exekutiven Gewalten unterschieden, wobei die eine oder andere auch indirekt oder versteckt die Judikative als dritte Gewalt eingerichtet hatte.870 Dieser eigentümliche Widerspruch zwischen Theorie und Praxis charakterisiert auch die Verfassung von 1871, selbst wenn diese keine ausdrücklich 867 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 92, Weimar wurde daher als „repräsentative Demokratie mit plebiszitären Elementen“ angesehen, was jedoch die Rolle des Reichspräsidenten außer Acht ließ. Eine ähnliche Auffassung findet sich bei Horst Möller, Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, München: dtv, 72004, 192; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, I: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München: Beck, 32001, 404 – 405. Zu den antiparlamentarischen Bestrebungen in der Weimarer Republik, vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, III, 103 – 105. 868 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 27. 869 Dennoch erscheint es bemerkenswert, dass Dreier lediglich „Republik, Demokratie, Sozial-, Bundes- und Verfassungsstaat“ als die durch Art. 20 „garantierten Charakteristika“ ansieht und das repräsentative Regierungssystem mit keinem Wort erwähnt, Grundgesetz. Kommentar, hrg. v. Dreier, II, 2. Dieses fehlt ebenso bei Rudolf Weber-Fas, Wörterbuch zum Grundgesetz, Stuttgart: Klett-Cotta, 1993. Hingegen stellt Karl-Peter Sommermann fest, dass Art. 20 die „Volkssouveränität mit dem Prinzip der Repräsentation“ verbindet, Karl-Peter Sommermann, in: Kommentar zum Grundgesetz, II: Artikel 20 – 82, hrg. v. Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein und Christian Starck, München: Franz Vahlen, 62010, 65. Mehr findet sich allerdings dort nicht dazu. Historisch wird man zudem argumentieren können, dass über die Repräsentation die Demokratie in die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus kam, denn laut allgemeinem Verständnis des 17. und 18. Jahrhunderts verkörperte das englische Unterhaus als Repräsentation des Volkes das demokratische Element in der englischen Verfassung. 870 Diese formale Klassifikation berücksichtigt nicht, dass William Blackstone Montesquieus Gewaltentrennungslehre um den Grundsatz erweitert hatte, dass es nicht genügt, die Gewalten voneinander zu trennen, sondern dass man jede Gewalt auch befähigen müsse, die beiden anderen zu hemmen und zu kontrollieren, was in der französischen Verfassung der II. Republik 1848 unterblieben war. Vgl. dazu oben Kap. III. 2.

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so bezeichnete Exekutive kannte, sondern stattdessen allein die Abschnitte III und IV über den Bundesrat und das Präsidium. Lediglich die Legislative hatte ihren eigenen Abschnitt, während die Gerichte eher beiläufig in den Art. 75 und 76 behandelt wurden und der Bundesrat neben seinen legislativen und exekutiven Befugnissen zusätzlich über rechtsprechende Kompetenzen verfügte (Art. 76, 77).871 Im Gegenzug besaß der Reichstag keine generelle Gesetzgebungskompetenz. Gemäß Art. 23 hatte er lediglich „das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen“. Somit wird man nicht behaupten können, dass Gewaltentrennung ein wirkliches Ziel der Verfassung von 1871 gewesen sei, wenn auch aus praktischen Gründen, einige seiner Züge Eingang in sie gefunden hatten. In diesem Sinne änderte die Weimarer Verfassung wenig; Art. 5 verpflichtete die Verfassung nicht ausdrücklich auf das Prinzip der Gewaltentrennung. Vielmehr hieß es recht wolkig: „Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs auf Grund der Reichsverfassung […] ausgeübt.“872 Befugnisse und Verantwortlichkeiten folgten in den jeweiligen Abschnitten: Reichstag (Abschnitt II), Reichspräsident und Reichsregierung (Abschnitt III) und, etwas abgeschlagen, Rechtspflege (Abschnitt VII). Was fehlte, war ein klares Verfassungsbekenntnis zu dem Prinzip, was jedoch umso verständlicher ist, verkörperten doch parlamentarisches Regime einerseits und das eindeutige Bekenntnis zur Volkssouveränität als Quelle aller legitimen Gewalt andererseits zwei grundsätzlich gegensätzliche Prinzipien. Zusätzlich erlaubte die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten gemäß Art. 48, Abs. 2 die Konzentration aller exekutiven und legislativen Kompetenzen des Reichs in der Hand des Reichspräsidenten, was zwischen 1930 und 1932 dazu führte, dass der Reichstag nahezu aufgehört hatte zu existieren und damit jede vormalige Form von Gewaltentrennung ebenso.873 1949 machte das Grundgesetz dem allen ein Ende. Die Erfahrungen der Nazizeit stärkten das allgemeine Bewusstsein, dass eine fehlende Gewaltentrennung zur Diktatur führe.874 Daher beginnt der Text mit der Auszählung der drei Gewalten in Art. 1, Abs. 3 (selbst wenn die endgültige Wortwahl erst 1956 festgelegt wurde), und diese Aufzählung wird im Zuge der Grundrechtsverpflichtung aller staatlichen Gewalt bestätigt und als Verfassungsprinzip in Art. 20, Abs. 3 wiederholt: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und

871 Vgl. ausführlich zu den Befugnissen des Bundesrats Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 201 – 213. 872 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 130. 873 Vgl. Möller, Die Weimarer Republik, bes. 204 – 206. 874 Ein zentrales Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Grundsatzrede von Carlo Schmid vom 8. September 1948, in der er mit Nachdruck dafür eintrat, dass die „Teilung der Gewalten verwirklicht werden muss“, Parlamentarischer Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, IX, hrg. v. Werner, 37.

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die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“875 Somit folgten die Bestimmungen über Bundestag und Bundesrat in den Abschnitten III und IV, die Bundesregierung (Abschnitt VI) und die Rechtsprechung (Abschnitt IX). In diesem Zusammenhang erscheint erstmals die „rechtsprechende Gewalt“ (Art. 92),876 mit der die Judikative zur gleichberechtigten dritten Gewalt konstitutionalisiert wird. Ungeachtet der praktischen Bestätigung einer existierenden Gewaltentrennung hat das Fehlen ihrer besonderen Rechtfertigung im Text zu Kritik Anlass gegeben, insbesondere von Seiten der politischen Wissenschaft.877 Diese Kritik scheint von Verfassungsrechtlern und Rechtshistorikern nicht geteilt zu werden. Im Gegenteil, jenseits der politischen Wissenschaft herrscht unter den Grundgesetzjuristen generell die Auffassung vor, dass der Bestätigung der Gewaltentrennung in der Ewigkeitsklausel des Art. 79, Abs. 3 nichts hinzuzufügen ist. Mit anderen Worten, die Existenz der Ewigkeitsklausel wird als Sicherung der Gewaltentrennung aufgefasst, woraus wiederum deutlich wird, dass diese Klausel das Gravitationszentrum des Grundgesetzes verkörpert. Anders als die Gewaltentrennung hat das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierenden nur selten offenen Widerspruch hervorgerufen – zumindest nicht in der Theorie. Sowie es jedoch um die praktische Umsetzung geht, häufen sich Defizite, Versäumnisse und alle Arten von internen Widerständen, die die Rufe nach Reformen ebenso immerwährend erscheinen lassen wie das Prinzip selbst. Deutschland stellt dabei bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Ausnahme dar, sieht man von den Jahren von 1933 – 1945 ab, die den Gipfel der Verantwortungslosigkeit darstellen, weshalb sie in einer Geschichte des modernen Konstitutionalismus nichts zu suchen haben. In der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 taucht das Wort „Verantwortlichkeit“ zweimal auf. Kaum eine andere Verfassungsbestimmung bringt den Geist der Verfassung treffender zum Ausdruck als der zweite Satz von Art. 22: „Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.“878 In diesem einen Satz geht es um Strafrecht, Parlamentarier und die Presse. Doch wer entscheidet darüber, was „wahrheitsgetreu“ ist? Eine derartige Wortwahl verrät den autoritären Staat und hat

875

Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 28; vgl. Sommermann, in: Kommentar zum Grundgesetz, hrg. v. Mangoldt, Klein und Starck, II, 97, auch 109 – 125; ferner Helmuth Schulze-Fielitz, in: Grundgesetz. Kommentar, II, hrg. v. Dreier, bes. 217 – 227. 876 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 83. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Grundgesetz. Kommentar, III: Artikel 83 – 146, hrg. v. Dreier, Tübingen: Mohr Siebeck, 22008, bes. 1433 – 1436. 877 Wolfgang Horn, „Probleme der Gewaltenteilung – heute“, in: Der demokratische Verfassungsstaat in Deutschland, hrg. v. Dicke, 119 – 123. 878 Dokumente, hrg. v. Huber, II, 295.

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nichts mit der Freiheit des parlamentarischen Mandats zu tun, für die die englische Bill of Rights von 1689 unverändert der locus classicus ist.879 Art. 17 der Verfassung von 1871 – der zweite Artikel mit dem Wort „Verantwortlichkeit“ – spezifiziert, dass Verordnungen und Gesetze „zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers [bedürfen], welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt“.880 Es war genau diese nicht bindende Bestimmung, die die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts charakterisiert. Diese Verantwortlichkeit hatte keine politische Bedeutung, da es niemanden gab – keine Person, Amt, Rat oder sonst wer –, der eine Sanktion verlangen oder auferlegen konnte, zumal der Text von 1871 ganz bewusst antiparlamentarisch gehalten war.881 Daher bleibt die Frage nach der rechtlichen Dimension dieses Artikels und damit des Konzepts der „Verantwortlichkeit“. Doch wer sollte oder konnte den Reichskanzler wegen Verletzung seiner „Verantwortlichkeit“ anklagen und falls ja, vor welchem Gericht? Das Schreckgespenst der „Verantwortlichkeit“ erweist sich eher als leere Versprechung, denn als wahrer Standard politischer Verantwortung, es klang gut und blieb doch eine leere Hülle. Der Blick in die Weimarer Verfassung überrascht damit, dass ihr Art. 30 eine nahezu wörtliche Wiederholung des Art. 22 der Verfassung von 1871 ist, obwohl die Weimarer Verfassung die Freiheit des parlamentarischen Mandats in Art. 37 festgeschrieben hatte und in Art. 118 die Garantie der Pressefreiheit enthielt, ohne diese an „wahrheitsgetreue Berichte“ zu binden. An wen daher Art. 30 der Weimarer Verfassung gerichtet war, bleibt ein Rätsel.882 Überhaupt bezieht sich der „Amtshaftungsanspruch“ in Art. 131 allein auf rechtliche und nicht auf politische Verantwortung, und die Begriffe „Verantwortlichkeit“ und „verantwortlich“ kommen ansonsten nirgendwo in der Weimarer Verfassung vor. Das alles kann aber nicht zu der Annahme verleiten, dass die Reichsregierung parlamentarischer Kontrolle entzogen gewesen wäre, die insbesondere auf den Art. 33 und 34 beruhte. Während letztere die Kontrolle des normalen politischen Geschäfts regelte, kannte die Weimarer Verfassung ebenso ausgedehnte – vielleicht sogar exzessive – Formen der politischen Verantwortung getreu der Überzeugung von Hugo Preuß, dass „die Scheu vor der Verantwortlichkeit eine der schwersten Gefährdungen der Demokratie“ ist.883 So konnte der Reichspräsident auf Verlangen 879 Bill of Rights, Art. 9: „Dass die Freiheit der Rede und Debatten oder Verhandlungen im Parlament nicht zu Anklagen oder Befragungen in irgendeinem Gericht oder Ort außerhalb des Parlaments führen sollten“, E. Neville Williams, The Eighteenth-Century Constitution 1688 – 1815. Documents and Commentary, Cambridge: Cambridge University Press, 1960, 28. 880 Dokumente, hrg. v. Huber, II, 294. 881 Vgl. dazu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, II, 92 – 94. 882 Anschütz stellt sich dieser Frage nicht und behandelt ohnehin den ganzen Artikel rein formalistisch und rechtstechnisch, Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 130. 883 Interventionen von Hugo Preuß in den Plenarberatungen. Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung. Zweite Lesung, 46. Sitzung, 4. 7. 1919, in: Hugo Preuß, „Das Verfas-

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des Reichstags durch Volksabstimmung abgesetzt werden (Art. 43, Abs. 2). Notorisch war der Art. 54, der die Amtsführung der Reichsregierung an das Vertrauen des Reichstags band mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass jeder Minister zurücktreten musste, „wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht“.884 Obgleich diese Bestimmung nur selten zum unmittelbaren Sturz einer Regierung führte, war allein ihre Existenz ausreichend, um politische Instabilität zum Markenzeichen der Weimarer Republik zu machen.885 Schließlich konnte der Reichstag den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und jeden Reichsminister vor dem Staatsgerichtshof anklagen, falls sie „schuldhafterweise die Reichsverfassung oder ein Reichsgesetz verletzt“ hatten (Art. 59).886 Letztere Bestimmung war höchstwahrscheinlich nicht justiziabel, wie die zahlreichen deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts mit vergleichbaren Bestimmungen hinreichend belegen. Das gleiche gilt für jene Passagen, in denen die Weimarer Verfassung von „Verantwortung“ spricht und damit eher eine moralische, denn eine rechtliche oder politische Kategorie meint.887 So übernahm der Reichskanzler, in Abwandlung der Verfassung von 1871, durch seine Verpflichtung zur Gegenzeichnung die „Verantwortung“ (Art. 50). Ebenso hatte er vor dem Reichstag für die Richtlinien seiner Politik die „Verantwortung“ übernommen wie auch die Minister für die Führung ihres Ministeriums (Art. 56). Selbst wenn der Reichstag ihnen das Vertrauen entziehen konnte, war es zunächst doch eine moralische Verantwortung. Zusammenfassend wird man also feststellen müssen, dass die demokratische Weimarer Verfassung entsprechend ihrem eigenen Anspruch nachdrücklich auf der politischen Verantwortlichkeit der Regierenden beharrte. Wie diese Verantwortlichkeit jedoch in eine handhabbare verfassungsmäßige Praxis umgesetzt werden konnte, erwies sich als erheblich problematischer, so dass das Gesamtergebnis eher zweideutig ist. In vieler Hinsicht sahen sich die Gründungsväter des Grundgesetzes dem gleichen Dilemma ausgesetzt. Daher haben fast alle erwähnten Passagen der Weimarer Verfassung, in denen es um „Verantwortung“ oder „Verantwortlichkeit“ ging, Nachfolgebestimmungen im Grundgesetz. Dazu gehören auch einige Merkwürdigkeiten wie der Art. 42, Abs. 3, in dem es heißt: „Wahrheitsgetreue Berichte über sungswerk von Weimar“, in: ders., Gesammelte Schriften, III, hrg. v. Detlef Lehnert, Christoph Müller und Dian Schefold, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 246. 884 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 137. 885 Vgl. die Übersicht über die Rücktritte der Reichsregierung zwischen 1920 und 1933, ebd., 159 – 160. Zur parlamentarischen Kontrolle, Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 137 – 139. 886 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 138. 887 Vgl. Sebastian Steinbarth, Das Institut der Präsidenten- und Ministeranklage in rechtshistorischer und rechtsvergleichender Perspektive. Ursprünge, Erscheinungsformen und bleibende Sinnhaftigkeit von Gerichts- und Impeachmentverfahren zur Durchsetzung gubernativer Verantwortlichkeit, Baden-Baden: Nomos, 2011, bes. 213 – 217.

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die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei“, womit die ominöse Bestimmung der Verfassung von 1871, die bereits 1919 obsolet war, erneut auftaucht, obgleich sie längst als anachronistisch galt.888 Darüber hinaus hatte sich 1949 die Terminologie von der „Verantwortlichkeit“ zur „Verantwortung“ verlagert, womit der Begriff eine klare moralische Bedeutung angenommen hatte – wie in dem Eingangssatz der Präambel zum Ausdruck kommt („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“).889 Dieser moralische Kern wird von Zeit zu Zeit ergänzt durch einen rechtlichen Unterton wie in Art. 46. Politische Verantwortlichkeit ist an keiner Stelle des Grundgesetzes ausdrücklich erklärt, und seine Art. 67 und 68 über das Misstrauensvotum sind nachdrücklich bemüht, strikte rechtliche Regelungen festzusetzen, um jede Diskussion um politische Verantwortlichkeit zu vermeiden, um die dem Weimarer System innewohnende Instabilität im Kern zu ersticken. Damit erscheint ungeachtet der Warnungen von Hugo Preuß das Prinzip der politischen Verantwortlichkeit im Grundgesetz zugunsten des dominierenden Gedankens der politischen Stabilität in den Hintergrund gedrängt. Zwar hat jedes demokratisch-parlamentarische System ihm vielfältig zur Verfügung stehende Möglichkeiten, Verantwortlichkeit zum politischen Thema zu machen. Doch die politische Kultur der Bundesrepublik, unterstützt durch das Grundgesetz, hat keine Selbstverständlichkeit entwickelt, in der politisches oder wie immer sonst geartetes Fehlverhalten entsprechend öffentlicher Erwartung mit Rücktritt quittiert wird. Auch hier scheinen Ausnahmen die Regel zu bestätigen. Ein völlig anderer politischer, rechtlicher und kultureller Zusammenhang eröffnet sich, wenn es um das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit geht. Dass es sich hierbei nicht um eine subsidiäre Konsequenz des Prinzips der Gewaltentrennung handelt, wie mitunter behauptet,890 wird offenkundig, wenn man seine historischen Ursprünge betrachtet. Wiederum findet sich der locus classicus in England, diesmal im Act of Settlement von 1701, das dem König das Recht entzog, Richter nach Gutdünken zu entlassen und stattdessen ihre Bestallung auf Lebenszeit vorsah (quamdiu se bene gesserint) bei festgesetztem und gesichertem Gehalt. Ihre Entfernung aus dem Amt war fortan an eine entsprechende Initiative und die Zustimmung beider Häuser des Parlaments gebunden.891 Das war lange vor Montesquieu und unterstreicht, dass die Herauslösung der Gerichtshöfe aus der Abhängigkeit von 888 Leisner, in: Grundgesetz, hrg. v. Sodan, 400. Weniger pointiert Martin Morlok, in: Grundgesetz. Kommentar, II, hrg. v. Dreier, 1086 – 1087. Dogmatischer Norbert Achterberg und Muriel Schulte, in: Kommentar zum Grundgesetz, II, hrg. v. Mangoldt, Klein und Starck, 1153 – 1155. Keiner der erwähnten Autoren schien sich der Tatsache bewusst, dass der Art. 42, Abs. 3 eine Bestimmung von 1871 wieder einführt, die ganz eindeutig einem völlig anderen Bedeutungs- und Rechtszusammenhang entstammt. 889 Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 14. 890 Vgl. Ernst Holthöfer, Ein deutscher Weg zu moderner und rechtsstaatlicher Gerichtsverfassung. Das Beispiel Württemberg, Stuttgart: Kohlhammer, 1997, 15. 891 Der Text findet sich in Williams, The Eighteenth-Century Constitution 1688 – 1815, 59.

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der Exekutive und die Unabhängigkeit der Judikative anders als im Falle der Gewaltentrennung keine ausschließliche staatliche Organisationsfrage ist. Zusätzliche Kriterien der persönlichen, fachlichen und dienstlichen Unabhängigkeit der Richter sind mindestens ebenso bedeutend und durch die Bestimmungen zur Ernennung, Amtsdauer, Entfernung vom Amt, Besoldung, Versetzung, Rechtsprechung und weitere Faktoren geregelt. Alle diese Aspekte haben Einfluss auf die richterliche Unabhängigkeit, so dass die Verletzung auch nur eines von ihnen sie beeinträchtigen mag, ohne dass die organisatorische Autonomie der Judikative als dritte Gewalt innerhalb des Systems der Gewaltentrennung davon betroffen wäre. Jede Suche nach der Verankerung dieser breit definierten richterlichen Unabhängigkeit, und sei es auch nur in reduzierter Form, in der Verfassung von 1871 ist vergeblich, die in diesem Punkt keinen Regelungsbedarf erblickte und sich, wie erwähnt, mit zwei knappen Artikeln zu den Gerichten begnügte. Nach langen Verhandlungen vermochte jedoch das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) von 1877 einen gewissen Ersatz zu liefern.892 Sein erster Paragraph lautete: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt.“893 Es folgten die §§ 2 – 11 mit weiteren Bestimmungen zur richterlichen Unabhängigkeit, die insgesamt mit der Weimarer Verfassung von 1919 nationales Verfassungsrecht wurden. Hier begann der Abschnitt VII mit der Feststellung: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 102).894 Diesem Prinzip staatlicher Organisation fügte Art. 104 die Garantie richterlicher Unabhängigkeit hinzu mit Blick auf die Amtszeit (Ernennung auf Lebenszeit mit der Möglichkeit der Einführung von Altersgrenzen für den Eintritt in den Ruhestand) und dem Verbot der Amtsenthebung und der Zwangsversetzung, wobei Art. 104, Abs. 3 letzteres wiederum einschränkte, gar aufhob im Fall der Neufestlegung von Gerichtsbezirken. Damit hatte sich die Weimarer Verfassung eine Hintertür offengelassen, um unliebsame Richter loszuwerden,895 was jedoch kaum, falls überhaupt geschah, obgleich eine erhebliche Zahl von Richtern der Weimarer Verfassung reserviert gegenüberstand und einige sich öffentlich gegen sie positionierten.896 Keine Bestimmungen zu Ernennung und Besoldung existierten in der Verfassung, obwohl diese in dem Gesetz von 1877 in den §§ 3 – 5 und 7 geregelt waren. Dennoch wird man insgesamt das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit der Verfassung attestieren können, was gegenüber der einfachen gesetzlichen Regelung des Kaiserreichs ein deutlicher Fortschritt war. 892 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, III, 977 – 979; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 184 – 195. 893 https://de.wikisource.org/wiki/Gerichtsverfassungsgesetz (Zugriff 22. 11. 2020). 894 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 144. Vgl. auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 278 – 281. 895 Anschütz geht darauf nicht ein, erwähnt aber weitere Gesichtspunkte der Sicherstellung richterlicher Unabhängigkeit, Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 282 – 284. 896 Vgl. dazu Möller, Die Weimarer Republik, bes. 184 – 191.

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1949 folgte das Grundgesetz mit seinem Art. 97897 dem Muster der Weimarer Bestimmungen des Art. 104. Zusätzlich bestimmte Art. 94, Abs. 1 GG, dass die Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat ernannt werden und dass diese „weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören“.898 Die Richter der übrigen höchsten Bundesgerichte werden durch den Richterwahlausschuss ernannt, der sich aus den kompetenten Landesministern und einer gleichen Zahl Bundestagsabgeordneter zusammensetzt (Art. 95, Abs. 2). Amtszeiten und Besoldung sind durch entsprechende Gesetze geregelt. Damit wird man feststellen können, dass die richterliche Unabhängigkeit, zumal im Bereich der höchsten Bundesgerichte, über das in der Weimarer Verfassung erreichte Maß hinausgehend im Grundgesetz festgeschrieben ist. Das letzte hier zu behandelnde Prinzip des modernen Konstitutionalismus ist die Verfassungsänderung unter Mitwirkung des Volkes. Die Antwort auf die Frage, wie dieses in die drei deutschen Verfassungen Eingang fand, kann relativ kurz ausfallen. Die Verfassung von 1871 verfügte in Art. 78: „Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben.“899 Damit war der Kreis geschlossen. Die Fürsten hatten, wie oben dargelegt, den Bund geschlossen, und so sollte es bleiben. Gegen Preußen – mit siebzehn Stimmen im Bundesrat – und die vier süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt – mit zusammen sechzehn Stimmen – war keine Verfassungsänderung durchzuführen. Von dem Volk war bei Verfassungsänderungen, wie schon bei der Schaffung der Verfassung, keine Rede.900 Die letzte Entscheidung lag mithin bei den Fürsten im Bundesrat. Wie nicht anders zu erwarten, änderte die Weimarer Verfassung 1919 dieses Verfahren. Nunmehr war für eine Verfassungsänderung die Zustimmung von zwei Drittel der Mitglieder des Reichstags erforderlich, wobei mindestens zwei Drittel seiner gesetzlichen Mitglieder bei der Abstimmung anwesend sein mussten. Dieselbe Supermehrheit war im Reichsrat erforderlich, wenn die Verfassungsrevision von ihm ausging. Art. 76 kannte noch eine dritte Variante: „Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich.“901 Die Verfassung sah mithin die unmittelbare Mitwirkung des Volkes bei Verfassungsänderungen vor, 897

Vgl. dazu Andreas Haratsch, in: Grundgesetz, hrg. v. Sodan, 633 – 636. Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 85. 899 Dokumente, hrg. v. Huber, II, 305. 900 Frotscher und Pieroth führen dagegen an, dass der Reichstag die Kompetenz hatte, ein verfassungsänderndes Gesetz zu beschließen und somit über die Kompetenz-Kompetenz in dieser Frage verfügte. Sie übersehen dabei die Zustimmungspflicht der Mehrheit des Bundesrates, die ohne die Stimmen von Preußen und den vier süddeutschen Staaten nicht zu erreichen war, so dass der Bundesrat letztlich darüber entschied, welche Kompetenz der Reichstag tatsächlich hatte, vgl. Frotscher und Pieroth, Verfassungsgeschichte, 207. 901 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 140. 898

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selbst wenn der Reichsrat die Änderung abgelehnt hatte. Über eine vom Reichstag beschlossene und von Reichsrat abgelehnte Verfassungsänderung konnte letzterer einen Volksentscheid herbeiführen. Das Grundgesetz übernahm 1949 die Zwei-Drittel-Regelung des Weimarer Art. 76 in seinem Art. 79, Abs. 2. Es fügte jedoch zwei Bedingungen hinzu. Einerseits bestand das Grundgesetz in seinem Art. 79, Abs. 1 auf der Ergänzung um das Wort „nur“ in dem ersten Satz des Weimarer Art. 76 und bestimmte damit, dass eine Verfassungsänderung ausschließlich durch ein entsprechendes Bundesgesetz geschehen könne, das ausdrücklich den Wortlaut des betreffenden Artikels des Grundgesetzes revidiert. Damit sollten die Weimarer verfassungsdurchbrechenden Gesetze und damit die Verfassungsänderung durch die Hintertür ausgeschlossen werden. Andererseits fügte das Grundgesetz die schon erwähnte Ewigkeitsklausel mit Art. 79, Abs. 3 ein.902 Mit anderen Worten kann das Grundgesetz lediglich durch ein spezifisches verfassungsänderndes Gesetz durch jeweils zwei Drittel der Mitglieder von Bundestag und Bundesrat geändert werden mit der Ausnahme jener Artikel, die durch kein Votum je geändert werden können. Eine unmittelbare Mitwirkung des Volkes ist nicht vorgesehen, wenngleich Art. 146 eine zukünftige Totalrevision – die seit der Wiedervereinigung als eher theoretisch angesehen wird – „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung“ zulässt.903 Dabei schweigt sich der Artikel beredt darüber aus, wie eine derartige Mitwirkung auszusehen hätte. Anders als ursprünglich geplant, fand 1949 keine Volksabstimmung über das Grundgesetz statt. Einerseits mögen dafür Erinnerungen an Weimar verantwortlich gewesen sein, andererseits aber auch Befürchtungen, die Kirchen und zumal die katholische Kirche könnten dies zum Anlass nehmen, ihren Einfluss weiter auszudehnen zu versuchen.904 Stattdessen trat das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft, nachdem es in der vorausgegangenen Woche durch die Parlamente von mehr als zwei Drittel der westdeutschen Länder angenommen worden war.905 Damit gilt das Grundgesetz auch in Bayern, das sich 1949 der Stimme enthalten hatte. Die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus haben 1949 in vollem Umfang Einzug in das deutsche Verfassungsleben gehalten. Das Grundgesetz markiert daher das Ergebnis einer Entwicklung, die in Deutschland wie in anderen Ländern im ausgehenden 18. Jahrhundert eingesetzt und mit der Verfassung von Hessen-Kassel von 1831 hier ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte,906 während das Paulskirchenparlament und mit ihm seine gemäßigten Liberalen es dank ihrer eigenen Zaghaftigkeit nicht vermochten, auf dem bereits Erreichten fortzuschreiten.907 Der völlige Absturz erfolgte dann 1871, mit dem alle bisherigen Ergebnisse in der Konstituti902 903 904 905 906 907

Vgl. Haratsch, in: Grundgesetz, hrg. v. Sodan, 518, 520 – 526. Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 137. Vgl. Bommarius, Das Grundgesetz, 192 – 194. Dazu Grundgesetz, hrg. v. Dreier und Wittreck, 14. Vgl. dazu oben Kap. VI. 8. Vgl. dazu oben Kap. VI. 9.

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onalisierung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus zunichte gemacht wurden.908 Was einige deutsche Verfassungshistoriker bis heute für einen Höhepunkt halten, war nichts anderes als ein verhängnisvoller Tiefpunkt, begründet in der einstigen konservativen Überzeugung, dass Einheit wichtiger als Freiheit sei, und in der nationalistischen Übersteigerung, dass, so die offizielle Ideologie, ein Deutsches Reich und damit auch seine Verfassung gegen die „Ideen von 1789“ gegründet werden müsse.909 Folglich enthielt die bis zur Novemberrevolution von 1918 in Kraft befindlich Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 keines der zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, eine Situation, für die es im Westeuropa der Zeit kein Beispiel gab. Es war eine autokratisch-militaristische Verfassung, und diese Lesart findet seit Jahrzehnten bezeichnenderweise größere Zustimmung in der historischen Forschung, die das Kaiserreich als bonapartistisch910 oder cäsaristisch911 einstuft im Gegensatz zu etlichen Verfassungshistorikern, die unverändert in der Nachfolge Labands und unter Missachtung der eindrucksvollen historischen Beweislast so weit gehen, in der Verfassung von 1871 Anklänge an Demokratie zu erblicken oder die Verfassung als erfolgreiche „Ausprägung des deutschen Spätkonstitutionalismus“ zu feiern, die „[der] Situation angemessen“ gewesen sei.912 Selbst wenn die Einheit 1871 wie rund zehn Jahre zuvor in Italien allein militärisch zu erreichen gewesen war, zeigt doch Italien, dass alternative konstitutionelle Lösungen im Innern durchaus der Zeit entsprochen hätten. Mit der Weimarer Verfassung von 1919 wurde offenbar, dass der Versuch von 1871, die Verfassungsuhren um fast ein Jahrhundert zurückzudrehen, nach wenigen Jahrzehnten gescheitert war.913 Nun sollte wieder an das vor 1871 Erreichte angeknüpft werden, wobei insbesondere die Paulskirchenverfassung von 1849 erneut in den Blick geriet. Von allen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus erschien das Weimarer Bekenntnis zur richterlichen Unabhängigkeit als das offensichtlichste und problemloseste. Universelle Prinzipien, repräsentativem Regierungssystem und der Verantwortlichkeit der Regierenden näherte sich die erste republikanische Verfassung in Deutschland nur mit Einschränkungen, während man Gewaltentren908 Im Bereich des öffentlichen Rechts war dieser antiliberalen Reaktion auf 1848 bereits der durch Carl-Friedrich von Gerber 1852 eingeleitete Methodenwechsel vorangegangen, vgl. dazu Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 331 – 337. 909 Vgl. dazu meine Aufsätze „1871 versus 1789: German Historians and the Ideological Foundations of the Deutsche Reich“, in: History of European Ideas, 15 (1992), 829 – 837, und „Deutsches Reich und Französische Revolution. Politik und Ideologie in der deutschen Geschichtsschreibung, 1871 – 1945“, in: Frankreich und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert im Vergleich, hrg. v. Matthias Middell, Comparativ, 4 (1992), 97 – 111. Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, II, 322 – 380. 910 Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, 63 – 69. 911 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, II, 106 – 109. 912 Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 530 – 531. 913 Vgl. auch Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung II: Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin: Suhrkamp, 2012, 183.

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nung und Menschenrechten größere Vorbehalte entgegenbrachte. Begrenzte Regierungsgewalt und der Vorrang der Verfassung scheiterten vollends an den deutschen Traditionen des 19. Jahrhunderts und fanden keine Akzeptanz. Dem gegenüber standen zwei Prinzipien, die die Weimarer Verfassung nur zu bereitwillig aufnahm und noch weit über den Rahmen des modernen Konstitutionalismus hinausgehend in der Verfassung verankerte: die Volkssouveränität und die Revisionsgewalt unter Mitwirkung des Volkes. Hatte sich der moderne Konstitutionalismus in beiden Fällen allein auf den jeweils legitimatorischen Aspekt beschränkt, führte die Weimarer Verfassung ergänzend ihr operatives Potential ein und gab der Verfassung damit eine radikaldemokratische Öffnung, die die unmittelbare und aktive Mitwirkung des Volkes sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Verfassungsänderung vorsah. An die Stelle der Zurückweisung des modernen Konstitutionalismus war damit 1919 ein komplexeres und differenzierteres Verhältnis getreten, das nicht frei von Widersprüchen war. Indem einige Prinzipien überbetont wurden, vermochten andere ihrer eigentlichen Funktion nicht gerecht zu werden oder wurden gar zurückgewiesen, so dass es dem Gesamtergebnis an innerer Ausgeglichenheit fehlte, was weder die Skeptiker zu überzeugen noch die Gegner rechts wie links klein zu halten vermochte.914 Dennoch hatte der moderne Konstitutionalismus 1919 in Deutschland wieder Fuß gefasst. Doch bedurfte es weiterer dreißig Jahre und der Apokalypse der NaziHerrschaft, um seinen vollen Durchbruch mit dem Grundgesetz von 1949 zu erreichen.915 Dies geschah, obwohl man, wie es hieß, „[a]uf regelrechte Verfassungsimporte aus dem Ausland […] bei der Schaffung des Grundgesetzes kaum angewiesen“ war.916 Längst war die „Wanderung von Verfassungsideen“ zum Allgemeingut geworden, ohne die die Ergebnisse von 1949, unbenommen der Rolle der Alliierten, nicht zu erklären ist. Der Parlamentarische Rat tagte weder physisch noch metaphorisch in einem luftleeren Raum, und die Liste seiner Mitglieder, die Kenntnisse außerdeutscher Verfassungen besaßen, ist lang. Die direktdemokratischen Elemente wurden aus dem nationalen deutschen Verfassungsrecht gestrichen. Volkssouveränität und die Revisionsgewalt wurden auf ihre rein legitimatorischen Funktionen zurückgefahren, so dass die Prinzipien der repräsentativen Regierung, der begrenzten Regierungsgewalt und der Gewaltentrennung ihren Platz im Kern der Verfassung einnehmen konnten. Die richterliche Unabhängigkeit blieb weiterhin unumstritten, während es in Sachen Verantwort914

Vgl. dazu ausführlicher das nachfolgende Kap. VI. 12. Die Feststellung von Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 351, das Grundgesetz sei „eine vergangenheitsorientierte Schöpfung“, verkennt, dass bei allen verständlichen Bemühungen von 1949, die Vergangenheit aufzuarbeiten, die Verfassung mit ihrem Bekenntnis zum modernen Konstitutionalismus das Tor weit in die Zukunft aufstieß. 916 Horst Dreier, „Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland“, in: Handbuch Ius Publicum Europaeum, I, hrg. v. Armin von Bogdandy, Pedro Cruz Villalón und Peter M. Huber, Heidelberg: C.F. Müller, 2007, 25. 915

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lichkeit bei der verhaltenen Zustimmung blieb. Doch Menschenrechte und universelle Prinzipien rückten an die Spitze des Grundgesetzes, und ungeachtet des Widerstandes traditionell eingestellter Verfassungsrechtler wurde schließlich auch der Vorrang der Verfassung, selbst ohne formell deklariert zu werden, geltendes Recht. Dank der „Migration von Verfassungsideen“ seit dem 18. Jahrhundert, der sich Deutschland in der Vergangenheit zwar mehrfach zu entziehen versucht hatte, wurde dieses Land seit 1949 mehr und mehr nicht nur ein gleichberechtigter und allseits akzeptierter Teil im Kontext des modernen Konstitutionalismus. Vielmehr hat sich das Grundgesetz in den mehr als siebzig Jahren seines Bestehens allseits Achtung erworben, der es Deutschland inzwischen erlaubt, im Rahmen der Weiterentwicklung des modernen Konstitutionalismus seinen Beitrag zu leisten, der in der Europäischen Union und darüber hinaus Gehör zu finden in der Lage ist.917

12. Die Unvollendete: Weimar und der moderne Konstitutionalismus918 Sich aus gegebenem Anlass den Ursprüngen eigener Verfassungen oder zumindest wichtiger Inhalte von ihr zu erinnern, bedarf keiner weiteren Begründung. Wie weit das im Einzelfall für die Weimarer Verfassung zumal in verschiedenen Ländern, darunter Südeuropa,919 Mexiko und andere Teile Lateinamerikas zutrifft, muss hier nicht entschieden werden. Der Verweis von Cindy Skach vor einigen Jahren auf Parallelen zwischen der Weimarer Verfassung und der der V. Republik in Frankreich,920 gehört sicherlich nicht in diese Kategorie, während Paula Borges Santos jüngst mit ihrer Feststellung des Weimarer Einflusses auf das autoritäre portugie-

917 Vgl. Der Einfluß des deutschen Verfassungsrechtsdenkens in der Welt: Bedeutung, Grenzen, Zukunftsperspektiven. Ergebnisse der 34. Tagung der Gesellschaft für Rechtsvergleichung vom 12. bis 14. September 2013 in Marburg, hrg. v. Uwe Kischel, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014. 918 Überarbeitete Fassung meines Artikels „What to Celebrate? The Place of the Weimar Constitution Within the History of Modern Constitutionalism“, in: Giornale di storia costituzionale, 38 (2019), 13 – 23. 919 Vgl. Ewald Wiederin, „Die Weimarer Reichsverfassung im internationalen Vergleich“, in: Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, hrg. v. Horst Dreier und Christian Waldhoff, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2019, bes. 57 – 73 (der Band erschien ursprünglich bei C. H. Beck in München 2018); mit dem Fokus auf Deutschland: Christian Waldhoff, „Folgen – Lehren – Rezeptionen. Zum Nachleben des Verfassungswerks von Weimar“, in: ebd., 289 – 315, und selbstverständlich der komplette Band; ebenfalls „Dossier: La Constitución de Weimar en su centenario (1919 – 2019)“, in: Historia Constitucional, 20 (2019), 201 – 498. 920 Cindy Skach, Borrowing Constitutional Designs. Constitutional Law in Weimar Germany and the French Fifth Republic, Princeton und Oxford, Princeton University Press, 2005.

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sische Verfassungsdenken der 1930er Jahre ebenfalls einen anderen Ton anschlägt.921 In Deutschland ist dieser Bezug sicherlich ein besonderer, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Festrede zum 100. Geburtstag dieser Verfassung fraglos zu Recht festgestellt: „[V]ieles von dem, was damals entstand, lebt heute im Grundgesetz fort. Weimars Ideale von Freiheit und Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind eben nicht historisch gescheitert, sondern sie sind – zum Glück! – fester und wehrhafter eingelassen in das Fundament unserer Republik!“922

Unter dieser Perspektive spielt Art. 140 GG mit seiner Feststellung, dass die Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung zu Religion, Religionsgesellschaften und Bereichen des Verhältnisses von Kirche und Staat „Bestandteil dieses Grundgesetzes“ sind,923 eher eine untergeordnete Rolle. Doch selbst wenn es richtig ist, dass eine Demokratie „nicht auf dem Papier der Verfassung, sondern in der gesellschaftlichen Realität“ scheitert,924 kann uns das nicht von der Frage entbinden, welche Rolle die Verfassung bei diesem Scheitern gespielt hat. Uns werden an dieser Stelle mithin nicht die Ausstrahlungen der Weimarer Verfassung in Zeit und Raum beschäftigen. Vielmehr geht es angesichts des Scheiterns der Weimarer Verfassung um eine Umkehr der Perspektive mit der Frage nach ihrem Platz innerhalb des modernen Konstitutionalismus, der das Thema dieses Bandes ist. Wo ist der konkrete Ort dieser Verfassung innerhalb der globalen Migration von Verfassungsideen,925 und was sind letztlich die Faktoren oder Prinzipien für diese Ortsbestimmung? Und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus ziehen? Bevor wir uns der Weimarer Verfassung direkt zuwenden, mag es hilfreich sein, sich die Ausgangslage nach der Novemberrevolution 1918 und dem Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland und die zumindest theoretischen verfassungsrechtlichen Optionen vor Augen zu führen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten sich mit dem Aufkommen geschriebener Verfassungen verschiedene Varianten des modernen Konstitutionalismus herausgebildet. Einhergehend damit, zum Teil aber auch in bewusster Abgrenzung gegen sie setzte sich im 19. Jahrhundert in Europa schließlich neben der vereinzelt bestehenden Republik die konstitutionelle Monarchie durch, die ebenfalls das brasilianische Kaiserreich von 1824 bis 1889 prägte. Sie 921

Paula Borges Santos, „A Constituição de Weimar e o Constitucionalismo do Autoritarismo Português“, in: Historia Constitucional, 20 (2019), 469 – 498. 922 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Re den/2019/02/190206-Weimar-100-Jahre-Reichsverfassung.html (Zugriff 24. 11. 2020). 923 Grundgesetz. Textausgabe mit sämtlichen Änderungen und andere Texte zum Verfassungsrecht, hrg. v. Horst Dreier und Fabian Wittreck, Tübingen, Mohr Siebeck, 2006, 130, vgl. dazu 130 – 132. 924 Das Zitat entstammt derselben Rede Steinmeiers. 925 Vgl. dazu Sujit Choudry (ed.), The Migration of Constitutional Ideas, Cambridge: Cambridge University Press, 2006.

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unterschied sich von der älteren Form der englischen oder britischen Monarchie, die sich im 19. Jahrhundert weiterentwickelte zur parlamentarischen Monarchie, in der die parlamentarische Souveränität zum bestimmenden Faktor wurde. Ebenfalls im 19. Jahrhundert bildete sich das auf nationaler Ebene 1874 konstitutionalisierte Schweizer Modell eines Bundesstaats heraus, der auf ausgeprägten Elementen der direkten Demokratie beruht.926 Das 20. Jahrhundert sah neue Verfassungsmodelle mit den seit 1917 aufkommenden Räterepubliken, aus denen sich schließlich in Osteuropa und anderen Weltteilen die kommunistischen Verfassungen entwickelten, ergänzt um andere Formen autokratischer Verfassungen verschiedenster Couleur in vielen Teilen der Welt, theokratischen Verfassungen (Beispiel Iran) bis hin zu verschiedenen links gerichteten neuen Verfassungsschöpfungen etwa in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Am verbreitetsten, zumindest dem Namen nach, waren jedoch was wir heute als die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus bezeichnen. Seine Entstehung und Ausbreitung muss an dieser Stelle nicht erneut skizziert werden, doch muss nochmals in Erinnerung gerufen werden, dass im November 1918 ein Staat zusammengebrochen war, der 47 Jahre lang bemüht gewesen war, eben diese Ideen des modernen Konstitutionalismus, die im 19. Jahrhundert durchaus Resonanz in Deutschland gefunden hatten, rundheraus zurückzuweisen, um verfassungsmäßig einen eigenen, verhängnisvollen Weg zu gehen. Hieran anzuknüpfen war 1919 keine Option. Vielmehr bot sich das deutsche Verfassungsdenken vor 1871 und zumal die Paulskirche an. Doch 1919 nahmen Demokratie und das Volk einen ungleich größeren Raum ein, als das im Deutschland der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts je der Fall gewesen war. Die verfügbaren Antworten des modernen Konstitutionalismus waren jedoch gerade in diesem Punkt ambivalent. Die Trennlinie verlief exakt hier mit der Frage des Verhältnisses von Volkssouveränität und einer rechtlich höherrangigen Verfassung, den beiden zentralen Prinzipien des modernen Konstitutionalismus nach Dieter Grimm.927 Die amerikanische und die französische Variante des modernen Konstitutionalismus boten just in diesem Punkt konträre Antworten.928 Die Ursache für diese Abweichungen ist darin zu sehen, dass die amerikanische und die Französische Revolution auf völlig unterschiedlichen Voraussetzungen basierten, aber dennoch nach ähnlichen Lösungen strebten.929 Wenn in dieser Situation in Amerika die bis heute gültige Verfassung von Massachusetts von 1780 zumindest aus Sicht der amerikanischen politischen Elite mehr Sinn machte, so war es in Frankreich die radikaldemokratische Verfassung von Pennsylvania von 1776.930 926

Vgl. Rolf Graber, Wege zur direkten Demokratie in der Schweiz. Eine kommentierte Quellenauswahl von der Frühen Neuzeit bis 1874, Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2013. 927 Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung II: Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin: Suhrkamp, 2012, bes. 29 – 30, 324 – 325. 928 Vgl. dazu oben Kap. V. 2. 929 Vgl. dazu oben Kap. IV. 1. und V. 1. 930 Vgl. dazu oben Kap. V. 4.

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1919 schien in Deutschland die französische Variante gegenüber der amerikanischen nicht nur sehr viel mehr Sinn zu machen, sie war auch ungleich präsenter, zumal drei Verfassungsmomente der jüngeren Vergangenheit die französische Betonung der Volkssouveränität symbolisiert hatten. Zunächst ist dies die heute eher schlecht beleumundete Verfassung der II. Republik von 1848, die einige bemerkenswerte Parallelen zur Weimarer Verfassung siebzig Jahre später aufweist. Sie schuf eine Legislative und einen, dem amerikanischen Vorbild nachempfundenen Präsidenten, die beide direkt vom Volk gewählt wurden. Die offensichtliche Konsequenz war, dass es zu einem Konflikt zwischen beiden kommen konnte, bei dem sich beide jeweils auf ihre Legitimation durch das souveräne Volk berufen würden. Die Verfassungsväter waren sich dieses Problems bewusst, sahen sich aber nicht in der Lage, eine Lösung im Rahmen der Verfassung anbieten zu können.931 Der Grund war offensichtlich. Jede verfassungsmäßige Lösung wäre auf Kosten des Prinzips der Volkssouveränität gegangen, da sie die Verfassung über das souveräne Volk gestellt hätte. Das widersprach dem französischen Verfassungsdenken von der Suprematie des souveränen Volkes, und daher war eine Lösung innerhalb der Verfassung nicht möglich, so dass, sollte der Konflikt entstehen, er automatisch das Ende der Verfassung bedeuten würde – genau wie es dann 1851 geschah. Das zweite Beispiel verweist ebenfalls auf die spätere Weimarer Verfassung und bezieht sich auf die Ursprünge der III. Republik. Am 4. September 1870 hatte Léon Gambetta in Paris die Republik ausgerufen, und am 17. Februar 1871 hatte die Nationalversammlung Adolphe Thiers zum „Chef der Exekutivgewalt der französischen Republik“ ernannt, obwohl die auf Verlangen Bismarcks am 8. Februar 1871 gewählte Nationalversammlung in ihrer großen Mehrheit monarchistisch war, sich jedoch nicht zwischen der bourbonischen und der orleanistischen Linie entscheiden konnte. Als der Herzog de Mac-Mahon 1873 neuer Staatspräsident wurde, glaubten sich die Monarchisten ihrem Ziel näher, zumal nachdem dieser 1875 den Herzog de Broglie zum Ministerpräsidenten ernannte und die Verfassungsgesetze von 1875 in Kraft traten. Doch die Verfassungskrise vom Mai 1877 bestätigte die inzwischen republikanische Mehrheit in der Nationalversammlung, so dass fünf Monate später Gambetta Mac-Mahon ultimativ aufforderte, „de se soumettre ou de se démettre“ (sich zu unterwerfen oder zurückzutreten). Mac-Mahon blieb schließlich nichts anderes übrig, als 1879 zurückzutreten.932 Das souveräne Volk hatte gesprochen und sich gegenüber Mac-Mahons Verfassungsplänen durchgesetzt. Das dritte Beispiel datiert zwar erst nach der Weimarer Republik, mag aber helfen, das hier im Raum stehende Problem zu verdeutlichen. Charles de Gaulle, Präsident der V. Republik seit 1958 entschied sich 1962 für eine erneute Kandidatur, doch sollte der Präsident dann, anstelle der von der Verfassung vorgesehenen indirekten Wahl, 931 Vgl. dazu Fabian Rausch, Konstitution und Revolution. Eine Kulturgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1814 – 1851 (Pariser Historische Studien, vol. 111), Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2019, bes. 385 (doch ohne das zugrundeliegende Problem). 932 Vgl. Odile Rudelle, La République absolue. Aux origins de l’instabilité constitutionnelle de la France républicaine 1870 – 1889, Paris: Publications de la Sorbonne, 1982, bes. 41 – 64.

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direkt vom Volk gewählt werden, wie das seither der Fall ist. Art. 89 der Verfassung hatte das Revisionsverfahren festgelegt mit zwei entsprechenden Abstimmungen der Nationalversammlung und anschließendem Verfassungsreferendum oder alternativ die Einberufung eines Kongresses aus Nationalversammlung und Senat, der mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit die Verfassungsänderung beschließen müsste, ohne abschließendes Referendum. De Gaulle sagten beide Verfahren nicht zu und er setzte, ohne die Legislative in der einen oder anderen Weise einbezogen zu haben, ein Referendum über die von ihm vorgeschlagene Volkswahl des Präsidenten an. Mit 82 % der abgegebenen Stimmen wurde der Vorschlag angenommen. Das souveräne Volk hatte gesprochen und damit anderslautende Verfassungsbestimmungen obsolet gemacht. Erst mit der Verfassungsänderung von 2008 erhielt der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) das Recht, auch bereits in Kraft befindliche Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung überprüfen zu können, ein später Sieg der Verfassung über das souveräne Volk? Als die Weimarer Verfassung 1919 sich dem modernen Konstitutionalismus nach nahezu fünf Jahrzehnten der Zurückweisung der „Ideen von 1789“, wie es hieß, öffnete, war es das souveräne Volk gewesen, dass die Monarchie gestürzt und die verfassungsgebende Nationalversammlung einberufen hatte. Da passte es nicht, genauso wenig wie es 1789/1791 gepasst hätte, die Verfassung über dieses souveräne Volk zu stellen und demgemäß dieses erst soeben souverän gewordene Volk sogleich wieder kraft Verfassung einzuhegen. Stattdessen blieb nur, wie einst und nachwirkend in Frankreich, die Suprematie der Volkssouveränität, der notfalls die Verfassung zu entsprechen hatte. Die Folgen sollten weitreichend sein. Um die in Weimar getroffene Entscheidung einordnen zu können, ist es wichtig, die Philosophie hinter dem Prinzip der Verfassungssuprematie zu verstehen. Der locus classicus findet sich, wie könnte es nach dem vorher Gesagten anders sein, in Amerika und zwar in Art. VI der amerikanischen Bundesverfassung: „Diese Verfassung […] ist das höchste Gesetz des Landes; und die Richter in jedem Staat sind daran gebunden, was immer in der Verfassung oder den Gesetzen irgendeines Staates anderweitig bestimmt sein mag.“933 Die Grenzen, die dieses Prinzip der gesetzgeberischen Befugnis eines Staates auferlegte, erschienen erstmals in dem abschließenden Absatz des Artikels über die Bill of Rights in der Verfassung von Pennsylvania von 1790: „Wir erklären, dass alles in diesem Artikel den allgemeinen Befugnissen der Regierung entzogen ist und für immer unverletzt bleibt.“934 Die Klausel, die die Verfassung von Kentucky 1792 bei ihrer weitgehenden Kopie der pennsylvanischen Verfassung diesem Absatz hinzufügte, ist von weitreichender Bedeutung: „und dass alle Gesetze, die dem widersprechen oder die dieser Verfassung widersprechen, nichtig sind“.935 Die Bestimmung, dass Gesetze im Wider933 Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin/Boston: De Gruyter, 2006 – 2011, I, 62. 934 Ebd., V, 369 (Art. IX, Abs. 26). 935 Ebd., III, 21 – 22 (Art. XII, Abs. 28).

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spruch zur Verfassung „nichtig“ sind, war die erste dieser Art in einer amerikanischen Verfassung und mochten John Marshall im Ohr geklungen haben, als er 1803 als Vorsitzender Richter am Obersten Gericht der Vereinigten Staaten verkündete, dass Bundesgesetze der richterlichen Überprüfung unterliegen. Ein derartiger Grundsatz war 1787 nicht in die Verfassung aufgenommen worden, doch Alexander Hamilton hatte in seiner Verfassungsinterpretation im Federalist genau das als logische Konsequenz einer höherrangigen Verfassung herausgestrichen. Marshall hatte das rechtliche Fazit gezogen: „Die Verfassung ist entweder ein überlegenes höchstes Gesetz, unveränderbar durch gewöhnliche Mittel, oder sie befindet sich auf dem Rang gewöhnlicher gesetzgeberischer Akte und ist wie andere Gesetze veränderbar, wenn es dem Gesetzgeber beliebt, sie zu ändern. Wenn die erstere Alternative wahr ist, dann ist ein legislatives Gesetz gegen die Verfassung nicht Recht; wenn letzteres wahr ist, dann sind geschriebene Verfassungen absurde Versuche von Seiten des Volkes, eine Macht zu begrenzen, die ihre eigenen Natur nach nicht begrenzbar ist.“936

Es brauchte Jahrzehnte, bis das richterliche Überprüfungsrecht, sich als amerikanisches Verfassungsprinzip durchsetze, doch nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wurden bis heute zahllose Gesetze für nichtig erklärt, weil sie nach Auffassung des Obersten Gerichts der amerikanischen Verfassung widersprachen. Das amerikanische Volk ist souverän, doch was es tun darf und was nicht, entscheiden letztlich die Gerichte unter Berufung auf die höherrangige Verfassung. Diese Verfassungsphilosophie blieb den Verfassungsvätern und -müttern von Weimar fremd. Es ist schon bezeichnend, dass der einzige Weimarer Verfassungsartikel, der sich materiell mit der Verfassung beschäftigt, der vorletzte Artikel des Abschnitts über die Reichsgesetzgebung ist. Art. 76 beschäftigt sich ausschließlich mit den Bedingungen der Verfassungsänderung, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Reichstags erforderlich war. Eine Änderung konnte gegen den Widerstand des Reichsrats durchgeführt werden, aber: „Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich“ (Art. 76, Abs. 1).937 Während es keinen Artikel gab, der die Verfassung und ihren rechtlichen Status bestimmte, drang die Volkssouveränität selbst in den einzigen Artikel über die Verfassung ein. Marshalls Warnung klang prophetisch und fand ihre Rechtfertigung in der politischen Praxis der Gesetzgebung, die obgleich nicht angewandt, um die Verfassung zu revidieren, mit den sogenannten verfassungsdurchbrechenden Gesetzen ganz offen-

936 Marbury v. Madison, 1 Cranch 137, 177 (1803). Vgl. The Federalist, hrg. m. e. Einl. u. Anm. v. Jacob E. Cooke, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, 524 – 529 (The Federalist, Nr. 78). 937 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrg. v. Ernst Rudolf Huber, 3 Bde., Stuttgart: Kohlhammer, 1961 – 1966, III, 140.

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kundig darauf angelegt war, die Verfassung zu ändern.938 Die Verfassung war weder ein höherrangiges Recht, noch war sie in besonderem Maße eingehegt. Selbst die Grundrechte, die sie garantierte, genossen keinen ausdrücklichen Schutz, da sie durch den Reichspräsidenten unter Berufung auf Art. 48, Abs. 2, ausgesetzt werden konnten. Begrenzte Macht, eines der Grundprinzipien des modernen Konstitutionalismus, um den Reichspräsidenten, die Reichsregierung oder den Reichstag daran zu hindern, in die Grundrechte einzugreifen, war keine von der Verfassung bereitgehaltene Option. Der Staat solle mächtig sein, und Grundrechte waren nicht einmal in dem ersten Verfassungsentwurf vorgesehen.939 Fragt man nach der Philosophie hinter dieser Konstruktion, bleibt allein der Verweis auf das traditionell geprägte Staatsrecht, das sich aus dem absolutistischen Souveränitätsbegriff herleitete und jeder demokratischen Legitimierung entbehrte, doch unverändert in Deutschland vorherrschend war.940 Ihm zufolge war Verfassungsrecht nichts anderes als ein untergeordneter Teil eines strikt positivistisch verstandenen Staatsrechts. Paul Laband, der das deutsche Staatsrecht seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dominierte, lieferte das Argument, das noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland seinen Stempel aufgedrückt hatte: „Die in der Verfassung enthaltenen Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeändert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kömmt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staate als den des Souverains und in diesem Willen wurzelt gleichmäßig die verbindliche Kraft der Verfassung wie der Gesetze. Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem andern Gesetz ein Willensact des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich.“941

Die Weimarer Verfassung übertrug die Suprematie, die sie der Verfassung verweigert hatte, dem Volk, oder zumindest gab sie vor, dieses zu tun, auch wenn sie nicht die erste deutsche Verfassung war, die sich zur Volkssouveränität bekannte, wie dies behauptet worden ist.942 Dieser Ruhm gebührt der Verfassung von AnhaltKöthen vom 28. Oktober 1848, die erklärt hatte: „Alle Gewalten gehen vom Volke 938

Vgl. Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 146 – 147; Ottmar Bühler, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, Leipzig/Berlin: Teubner, 21927, 88 – 89. 939 Vgl. Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung (Schriften des Bundesarchivs, 78), Düsseldorf: Droste, 2018, 343. 940 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, „Die Weimarer Reichsverfassung im deutschen Intellektuellendiskurs“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, bes. 68 – 70; sowie allgemeiner, Christoph Schönberger, Der „German Approach“. Die deutsche Staatsrechtslehre im Wissenschaftsvergleich mit Beiträgen von Atsushi Takada und András Jakab, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015. 941 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde., Tübingen: Laupp, 1876 – 1882, II, 38. Eine 5. Auflage erschien 1911 – 1914, die noch 1964 und nochmals 1997 nachgedruckt wurde. Zu Laband, vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., München: Beck, 1988 – 2012, II, 341 – 348. 942 Vgl. Waldhoff, „Folgen – Lehren – Rezeptionen“, 306 – 307.

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aus“ (Tl. 1, § 5).943 Während die Paulskirche von einer ähnlichen Erklärung Abstand genommen hatte,944 hatten die meisten 1919 verabschiedeten deutschen Länderverfassungen vor dem 11. August 1919, dem Tag der Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung, das Prinzip der Volkssouveränität anerkannt, darunter die Vorläufige Verfassung von Hessen vom 20. Februar 1919 (Art. 3), von Bayern vom 17. März 1919 (§§ 2 und 3) und von Sachsen-Altenburg vom 27. März 1919 (Art. 3), die Verfassung von Baden vom 21. März 1919 (Präambel und § 2), von SachsenWeimar-Eisenach vom 19. Mai 1919 (§ 3), von Württemberg vom 20. Mai 1919 (§ 3), von Oldenburg vom 17. Juni 1919 (§ 3) und von Anhalt vom 18. Juli 1919 (§ 2).945 Angesichts der Fülle der Proklamationen der Volkssouveränität entsprach die Präambel der Weimarer Verfassung einer seit der Revolution weit verbreiteten Auffassung: „Das Deutsche Volk […] hat sich diese Verfassung gegeben“, was Art. 181 dann nochmals bekräftigte: „Das deutsche Volk hat durch seine Nationalversammlung diese Verfassung beschlossen und verabschiedet.“ Die Legitimation dazu hatte Art. 1 geliefert: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“946 Es waren eindeutige Feststellungen, jedoch ohne jede theoretische oder philosophische Unterfütterung, ähnlich wie in den Länderverfassungen und der österreichischen Verfassung von 1920, doch anders als die französische Verfassung von 1791 und zumal die von 1793, aber auch anders als das Grundgesetz von 1949 oder die französische Verfassung von 1958. Helmut Ridder hat dieses Versäumnis, die Volkssouveränität demokratisch zu legitimieren scharf kritisiert und in ihm das Nachwirken absolutistischer Souveränitätsvorstellungen verortet.947 Ungeachtet dieser Defizite und der fehlenden Stärkung der repräsentativen Regierung als Kernprinzip der Verfassung, selbst wenn es durch Elemente der direkten Demokratie unterstützt werden sollte, wurde die Volkssouveränität in den Art. 73 – 76 zum operativen Prinzip der Verfassung. Art. 73 lieferte drei Szenarien. Eine erste Klausel bestimmte: „Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt.“ In einer zweiten Klausel konnte die im Reichstag unterlegene Minderheit ein derartiges Verfahren zumindest indirekt in Gang setzen: „Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der 943 Deutsche Verfassungsdokumente 1806 – 1849, hrg. v. Werner Heun, 6 Bde., München: Saur, 2006 – 2008, I, 175. Die Bestimmung wurde 1850 wieder abgeschafft (ebd., 188). 944 Vgl. dazu oben Kap. VI. 9. 945 Vgl. die einzelnen Texte in Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918 – 1933. Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung, hrg. v. Fabian Wittreck, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004. 946 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 129, 156. 947 Helmut Ridder, „Wie und warum (schon) Weimar die Demokratie verfehlte“, in: Zentrum und Peripherie: Zusammenhänge – Fragmentierungen – Neuansätze. Festschrift für Richard Bäumlin zum 65. Geburtstag, hrg. v. Roman Herzog, Chur und Zürich: Rüegger, 1992, bes. 87 – 93.

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Stimmberechtigten es beantragt.“ Eine dritte Variante sah schließlich vor, dass das Volk direkt die Verabschiedung eines Gesetzes verlangen konnte: „Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegen eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zu Grunde liegen. Er ist von der Reichsregierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Reichstag zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der begehrte Gesetzentwurf im Reichstag unverändert angenommen worden ist.“948

Die Regularien für Volksentscheid wie Volksbegehren sollten in einem Gesetz festgelegt werden.949 Falls der Reichsrat ein Gesetz, das der Reichstag verabschiedet hatte, zurückwies, konnte der Reichspräsident darüber einen Volksentscheid veranlassen, anderenfalls war das Gesetz gestorben. Sollte jedoch der Reichstag sich mit Zwei-DrittelMehrheit über die Ablehnung des Reichsrats hinwegsetzen, musste der Reichspräsident das Gesetz unterschreiben oder im Falle der Weigerung einen Volksentscheid veranlassen (Art. 74). Art. 75, der kürzeste der vier Artikel, bezog sich auf Art. 73: „Durch den Volksentscheid kann ein Beschluß des Reichstags nur dann außer Kraft gesetzt werden, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt.“950 Art. 76 behandelt, wie bereits erwähnt, die Verfassungsrevision, wobei allein diesem Fall das Volk die Initiative ergreifen konnte. Doch musste die Mehrheit der Stimmberechtigten dieser Verfassungsänderung zustimmen. Keiner dieser zentralen Artikel machte das direkte Eingreifen des Volkes in den Gesetzgebungsprozess automatisch und verpflichtend, wie es die Verfassung von Pennsylvania von 1776 und nach ihr die jakobinische Verfassung von 1793 vorgesehen hatten. Die Frage ist daher, ob es berechtigt ist, das in Weimar vorgesehene Eingreifen des Volkes als „fakultativ“ zu bezeichnen, wie es Anschütz getan hat.951 Der allgemein anerkannte Bezugspunkt für fakultative Referenden ist die Schweizer Bundesverfassung von 1874: „Bundesgesetze sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdies dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30.000 stimmberechtigten Schweizer Bürgern in 8 Kantonen verlangt wird“ (Art. 89,2).952 Die Weimarer Abweichung vom Schweizer Modell ist bezeichnend und letztlich allein der Tatsache 948

Dokumente, hrg. v. Huber, III, 139. Zum Art. 73, vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis (Stilke’s Rechtsbibliothek Nr. 1), Berlin: Stilke, 3/41926, 222 – 226. 950 Dokumente, hrg. v. Huber, III, 140. Vgl. dazu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 228. 951 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 223. 952 Der Text findet sich bei Graber, Wege zur direkten Demokratie in der Schweiz, 461. In der heute gültigen Schweizer Verfassung von 1999 ist das Quorum 50.000 Schweizer Bürger oder acht Kantone (Art. 141,1). 949

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zuzuschreiben, dass die Nationalversammlung nie die direkte Demokratie ernsthaft diskutiert hatte, worauf Jörg-Detlef Kühne hingewiesen hat.953 Während in der Schweiz das souveräne Volk aus eigenem Antrieb handelt und über jedes Bundesgesetz oder -beschluss abstimmen kann, wenn sich dafür eine vergleichsweise geringe Zahl der Stimmberechtigten mobilisieren lässt – weit weniger als 5 % der erwachsenen Bevölkerung –, ohne irgendeine Intervention eines Verfassungsorgans, hing das Tätigwerden des deutschen Souveräns gemäß der Weimarer Verfassung vom Handeln des Reichspräsidenten und/oder des Reichstags ab. Sie mussten entweder das Volk direkt zum Handeln aufrufen oder durch ihr eigenes Handeln bzw. bewusstes Nichthandeln den Weg dafür frei machen. Das generelle, durch die Verfassung garantierte Recht des Schweizer Volkes degenerierte auf diese Weise in der Weimarer Verfassung zu einer reinen Möglichkeit, die in die Nähe einer Scheinbestimmung kam, da andere Verfassungsorgane erst tätig werden mussten, um diese Option zu eröffnen, doch selbst wenn dies geschah, blieben die erforderlichen Quoren eher abschreckend hoch. Kein Wunder, dass Volksentscheide auf nationaler Ebene fast nie stattfanden oder erfolgreich waren.954 Art. 76, Abs. 1, der sich ausschließlich mit der Verfassungsrevision befasste, war die einzige Ausnahme, doch wiederum waren die Hürden mit der Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten hoch. Dennoch waren es genau diese Art. 73 – 76 zusammen mit dem Art. 43 (über die Amtsenthebung des Reichspräsidenten), eng begrenzt, wie sie waren, und in nahezu vierzehn Jahren fast nie angewandt, die den allgemeinen Eindruck bewirkten, dass die Weimarer Verfassung auf einer exzessiven Betonung der Volkssouveränität begründet sei.955 Dieser Eindruck wurde unterstrichen durch die bekannte Selbsteinschätzung der Verfassungsväter und -mütter, die demokratischste Verfassung überhaupt geschaffen zu haben.956 Dabei ist Gertrude Lübbe-Wolff sicherlich zuzustimmen, wenn sie feststellte, die Weimarer Verfassung sei „geprägt von Vorbehalten gegen den realen demos und seine Vertretung, das Parlament“.957 Weimars exzessive Demokratie kam nahe an Augenwischerei. Um kein Mischverständnis aufkommen zu lassen, die Weimarer Verfassung hatte ihre großen Verdienste. Sie bewirkte mehr als eine Verdoppelung der wahlberechtigten Bevölkerung, indem sie das Wahlrecht auf alle Deutschen, Männer wie Frauen 953

Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 209. Christoph Gusy, „100 Jahre Weimarer Verfassung“, in: Historia Constitucional, 20 (2019), 218 – 221. 955 Bezüglich der Ambivalenzen des Weimarer „Rousseauismus“, vgl. Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, bes. 194 – 212. 956 Vgl. ebd., 57, 143, 196, 208; Peter Graf Kielmansegg, „Der Reichspräsident – ein republikanischer Monarch?“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, 223; Gusy, „100 Jahre Weimarer Verfassung“, 221. 957 Gertrude Lübbe-Wolff, „Das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, 148. Eine gekürzte Version ihres Beitrags erschien in spanischer Übersetzung in: Historia constitucional, 20 (2019), 253 – 274. 954

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ab 21 Jahren ausdehnte. Sie bestand auf Gleichheit der Geschlechter,958 und sie führte eine bemerkenswerte Zahl an sozialen Rechten ein.959 Doch ungeachtet dieser fortschrittlichen Elemente, die häufig mit dem politischen Programm der Sozialdemokraten (SPD) verbunden waren, hatte das Rechts- und Verfassungsdenken schwer damit zu kämpfen, die autoritären Traditionen der Vergangenheit abzuschütteln. Das traditionelle Staatsrecht, dass in dem konservativen, antiparlamentarischen und antidemokratischen Teil der Universitäten fest verankert war,960 hatte zusätzlich paralysierende Wirkung. Die Absicht, trotz alledem den modernen Konstitutionalismus in Deutschland wieder zur Geltung zu bringen und damit an die Zeit vor 1871 anzuknüpfen, war real, stand jedoch von Anbeginn unter dem Vorzeichen, dass seine französische Variante mit ihrer Betonung der Volkssouveränität der deutschen Situation historisch, politisch wie kulturell ungleich näher zu stehen schien als die amerikanische. Dabei fehlte es an Erfahrung und Einsicht – im Unterschied zur französischen Verfassung von 1958 und der Entwicklung der nachfolgenden Jahrzehnte –, ihre Probleme und Defizite klar zu erkennen. Im Gegenteil baute die Weimarer Verfassung auf dieser französischen Variante auf und übertraf damit noch in der ihr zugrunde liegenden Philosophie und ihrem Bauplan die Verfassung der II. Republik mit ihren fatalen Irrtümern. Anders als bei diesem Vorläufer schwächte sie zusätzlich das Prinzip der repräsentativen Regierung zugunsten ihrer – weitgehend unbegründeten – Übersteigerung der Volkssouveränität, zwei Prinzipien, die laut Oliver Lepsius schlecht miteinander in Einklang zu bringen sind.961 Darüber hinaus setzte sie einen weitgehend unkontrollierten Reichspräsidenten ein, was wiederum über das französische Beispiel hinausging, wohingegen die Verfassung uneingehegt blieb. Kein Verfassungsgericht wurde eingesetzt, um die Verfassung zu schützen und der Regierungsgewalt Grenzen aufzuerlegen und die Herrschaft des Rechts zu sichern. Die Folgen waren eine unausgeglichene Verfassung, die nicht automatisch in die Katastrophe führen musste. Unter normalen Umständen und mit sich herausbildender Erfahrung hätte sie wohl gut funktionieren und im Laufe der Zeit ihre Konstruktionsfehler beheben können. Doch eine „gute“ Verfassung, wie die Weimarer Verfassung genannt wurde,962 sollte über die Mittel verfügen, selbst schwere Krisen durch eingebaute verfassungsmäßige Lösungen bewältigen zu können. Der Wei958

Vgl. Pascale Cancik, „Der Kampf um Gleichberechtigung als Voraussetzung der demokratischen Republik“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, 151 – 174. 959 Vgl. Michael Stolleis, „Die soziale Programmatik der Weimarer Reichsverfassung“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, 195 – 218. Der Beitrag erschien ebenfalls in spanischer Übersetzung in: Historia constitucional, 20 (2019), 233 – 251. 960 Vgl. dazu Bernd Hoppe, Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat. Verfassungsentwicklung am Beispiel der Kabinettsbildung in der Weimarer Republik, Berlin: Duncker & Humblot, 1998, bes. 204 – 262. 961 Vgl. Oliver Lepsius, „Volkssouveränität und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik“, in: Historia Constitucional, 20 (2019), 275 – 296. 962 Gusy, „100 Jahre Weimarer Verfassung“, bes. 206, 231.

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marer Verfassung fehlten aufgrund ihrer Konstruktion diese Instrumente, so dass sie nicht in der Lage war, der sich anbahnenden Katastrophe etwas entgegensetzen zu können.963 Das war ihr größter Fehler.

963 Vgl. Dieter Grimm, „Weimars Ende und Untergang“, in: Das Wagnis der Demokratie, hrg. v. Dreier und Waldhoff, bes. 275 – 288, der mit einer anderen Argumentation zu ähnlichen Ergebnissen kommt.

VII. Europa/Europäische Union Im Vordergrund dieses Teils steht die Europäische Union mit vier der insgesamt sechs Kapitel. Zunächst geht es indirekt um das heuristische wie politische Modell der „liberalen Demokratie“ als Kernbegriff der Europäischen Union der bereits im Kap. V. 6. angesprochen wurde. Dabei wird der Versuch unternommen aufzuzeigen, welche der zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus über den politischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts und welche über den Republikanismus Eingang in den Wertekanon der Europäischen Union von „Menschenrechten, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ gefunden haben. Kap. VII. 2. und 3. beschäftigen sich mit dem 2004 gescheiterten Versuch, der Europäischen Union eine Verfassung zu geben. Dabei steht zunächst der „Europäische Konvent“ im Mittelpunkt, wie er – noch namenlos – 1999 ins Leben gerufen wurde und dann 2000 zur Erarbeitung der Grundrechtecharta der Europäischen Union sich eigenmächtig als „Konvent“ bezeichnet hatte, woraus dann 2003/04 der Europäische Konvent für die Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung wurde. Indem dieser Konvent nach Beauftragung, Zusammensetzung, Ergebnisvorlage völlig anders konstituiert war als sein vermeintliches Vorbild wird die Entstehung des Konvents als verfassungsrechtliche Institution vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart untersucht mit dem Ergebnis, dass der „Europäische Konvent“ zwar begrifflich an einen Konvent, wie ihn zumal das außereuropäische Verfassungsrecht kennt, anknüpft, ihn inhaltlich jedoch völlig auf den Kopf stellt und damit letztlich einen Etikettenschwindel betreibt, der zu allem Überfluss auch noch im bestehenden Vertrag über die Europäische Union festgeschrieben ist. Die Europäische Union hatte damit zu Beginn des Jahrtausends ein Weg beschritten, der mit dem Verfassungsversuch gleichermaßen von Anbeginn zum Scheitern verurteilt war, indem mit einer reinen Symbolpolitik Aktionismus vorgetäuscht werden sollte, bei dem die Inhalte auf der Strecke blieben und nicht die europäischen Bürger über ihre Zukunft entscheiden sollten, sondern die Staats- und Regierungschefs, die in ihrer damaligen Konstellation letztlich dieser Aufgabe nicht gewachsen waren. Im dazu abschließenden Kap. VII. 4. wird daher ein anderer Weg aufgezeigt und verdeutlicht, in welch hohem Maße der heute bestehende Vertrag über die Europäische Union bereits die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in sich aufgenommen hat. Ihre schrittweise Weiterentwicklung erscheint mithin als ein sich für die kommenden Jahre anbietender Weg, zumal wenn es gelingt, in dem Konstrukt aus supranationalen und intergouvernementalen Elementen den Widerspruch zwischen einer Union auf der Basis des modernen Konstitutionalismus und dem diesen

1. Die universellen Werte der Europäischen Union und ihre historische Genese

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Rahmen sprengenden konstanten Einfluss der im europäischen Kontext unverantwortlichen Staats- und Regierungschefs letzteren allmählich zu reduzieren. Mit dem Kapitel über Menschenrechte in Europa wird das in den voraufgegangenen Teilen mehrfach behandelte Thema der Menschenrechte ein letztes Mal aufgegriffen, um seine konkrete Entwicklung in Europa von der Französischen Revolution bis heute aufzuzeigen. Bei allen unbezweifelbaren Fortschritten, die dabei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs errungen wurden, bleiben die Menschenrechte auch weiterhin eine politische und rechtspolitische Herausforderung, die nicht erlaubt, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Das abschließende Kapitel über Minderheitenrechte und Minderheitenschutz bestätigt diese Auffassung zumindest indirekt, da das Thema nichts an Aktualität verloren hat, auch wenn es in diesem Kapitel konkret um den rechtlichen Schutz von Minderheiten in den neu entstandenen Staaten Ostmitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg mit der Frage geht, wie sich dabei Völkerrechtsauflagen in nationales Verfassungsrecht umgesetzt haben in einer Zeit, so ließe sich unmittelbar an das voraufgegangene Kapitel anknüpfen, in der es an jener aktiven und kraftvollen Menschenrechtspolitik fehlte, die nicht zuletzt angesichts des Scheiterns in der Zwischenkriegszeit nach 1945 Gestalt angenommen hat.

1. Die universellen Werte der Europäischen Union und ihre historische Genese1 Gemäß dem Passus, der 2007 durch den Vertrag von Lissabon in die aktuell gültige Fassung des Vertrags über die Europäische Union eingefügt wurde, wurde „SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, […]“ die Europäische Union gegründet.2 Damit werden Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit zu Grundlagen der EU erklärt. Auch wenn man fragen mag, warum dieser Passus erst fünfzehn Jahre nach Maastricht in den Vertrag über die EU eingefügt wurde, ist zumindest der Hinweis angebracht, dass er seinen Ursprung in der fehlgeschlagenen Europäischen Verfassung von 2004 hatte.3

1 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Republikanismus und Liberalismus als Grundlagen der europäischen Demokratie“, in: Perspektiven der europäischen Demokratie. Historische Prämissen und aktuelle Wandlungsprozesse in der EU und ausgewählten Nationalstaaten, hrg. v. Guido Thiemeyer und Hartmut Ullrich, Frankfurt/M.: Lang, 2005, 11 – 32. 2 Amtsblatt der Europäischen Union C 202 (7. 6. 2016), 15. 3 Amtsblatt der Europäischen Union C 310 (16. 12. 2004), 3. Zu der fehlgeschlagenen Europäischen Verfassung vgl. auch die nachfolgenden Kap. VII. 2. und VII. 3.

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Das Thema dieses Bandes ist der moderne Konstitutionalismus, den wir in mehreren Ländern mittels Betrachtung ihrer Verfassungsentwicklung zumindest stichprobenartig versucht haben nachzuzeichnen. Dabei ging es immer wieder auch um die theoretischen Diskussionen, die ihn begründet, unterfüttert und begleitet haben. In diesem Kapitel wird nun die Frage im Mittelpunkt stehen, wie diese „universellen Prinzipien“, als solche bereits selbst ein Grundsatz des modernen Konstitutionalismus, zur Grundlage der Mitgliedstaaten der EU wurden und auf welchen Wegen Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit, die nichts anders als die schlagwortartige Verkürzung der Kernprinzipien des modernen Konstitutionalismus zum Ausdruck bringen, sich derart im Verfassungsdenken der Mitgliedstaaten der EU verankern konnten, dass sie heute als „Erbe Europas“ und als der ihm gemeinsame Wertekanon angesehen werden können. Offensichtlich haben diese Begriffe wie überhaupt die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus unterschiedliche Genealogien zumindest jenseits der Länder, in denen sie mit einem revolutionären Urknall in die Welt traten, nämlich die Vereinigten Staaten und Frankreich, so dass in ihnen die nachholende Entwicklung des 19. und vielfach insbesondere des 20. Jahrhunderts sie zu jenem gemeinsamen Fundament werden ließ, dessen zentraler Stellenwert in der Politik heute immer wieder beschworen wird. Es kann hier nicht die unterschiedliche Geschichte der 27 Mitgliedsländer der EU im 19. und 20. Jahrhundert dargelegt werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat sich nicht kontinuierlich aus frühmodernen Staaten fortentwickeln können. Vielmehr sind sie als moderne selbständige staatliche Einheiten im 19., eine ganze Reihe nicht vor dem 20. Jahrhundert ins Leben getreten, die jüngsten von ihnen erst in den 1990er Jahren. Anders als Westeuropa haben dabei die Staaten Mittelosteuropas von Bulgarien bis Estland noch die Jahrzehnte der kommunistischen Diktatur bis 1990 durchgemacht. Während die weit überwiegende Zahl der bereits im 19. Jahrhundert existierenden späteren Mitgliedstaaten Monarchien waren, ist deren Zahl inzwischen auf sechs zurückgegangen, so dass heute mehr als drei Viertel als Republiken konstituiert sind. Auch die Mitgliederzahl der EU und ihrer Vorgängerinstitutionen schwankt erheblich und reicht von den sechs Gründerstaaten von 1957 bis Kroatien, das als jüngstes Mitglied 2013 der EU beitrat. Dass mit dem Vereinigten Königreich ein Land nach fast einem halben Jahrhundert Mitgliedschaft die EU verlassen hat, kann hier nur am Rande erwähnt werden. Selbst wenn jedes Mitgliedsland seine eigene Geschichte in die EU einbrachte, die in Vergangenheit und Gegenwart mitunter eng mit der seiner Nachbarn verflochten sein mochte und sich alle gemeinsam „dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ verpflichtet fühlen, bleibt doch die Frage, auf welchen Wegen diese gemeinsamen Werte und Prinzipien angesichts der Höhen und Tiefen, aber auch teils heftiger Verwerfungen der jeweils nationalen Geschichten jenen Status gewinnen konnten, der sich heute als Aushängeschild der EU präsentiert.

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Von den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts führen zwei unterschiedliche Wege der politischen Modernisierung zur Gegenwart, der eine über die Monarchie, der andere über die Republik in ihren durchaus unterschiedlichen Facetten als die beiden seither bestehenden staatsrechtlichen Grundformen. Indem sich die politischen Strukturen der Monarchien vielfach im Laufe des 19. Jahrhunderts liberalisierten, um dann häufig im 20. Jahrhundert Republiken Platz zu machen, weitete sich die Zahl der Republiken im Europa des 19. Jahrhunderts zunächst zaghaft, nach dem Ersten Weltkrieg dann verstärkt aus. Damit wurden politischer Liberalismus und Republikanismus, oder zumindest doch die Republik, zu treibenden Kräften der politischen und verfassungsrechtlichen Modernisierung, wobei beide Begriffe lange Zeit ihren schillernden Charakter behielten. Doch mehr als die Vieldeutigkeit der Begriffe und ihre theoretische Diskussion haben die unterschiedlichen praktischen Inhalte, die sie transportierten, letztlich zu dem heute als gemeinsam verstandenen „Erbe Europas“ beigetragen. Angesichts der oben in Kap. II. 1. ausführlich behandelten englischen Wurzeln der amerikanischen Vorstellungen von Republik im ausgehenden 18. Jahrhundert können wir auf deren Wiederholung an dieser Stelle verzichten und uns hier mit der Zusammenfassung der für uns in dem hier skizzierten Zusammenhang wichtigsten Ergebnisse begnügen. Republik war für die amerikanischen Gründungsväter, so ließe sich resümieren, weder identisch mit Demokratie noch ein Mittel zu ihrer Durchsetzung.4 Vielmehr konstituierte sie eine repräsentative, gewählte Regierung auf der Basis einer Mischverfassung,5 bestehend aus drei gleichgewichtigen, voneinander unabhängigen Gewalten, die teilweise direkt, mehrheitlich allerdings indirekt auf der Volkssouveränität basierten und deren Aufgabe es war, die schrankenlose Entfaltung des Willens dieses souveränen Volkes, und damit auch der Legislative ebenso wie die Tyrannei einzelner zu verhindern. Als legitimatorische Grundlage dafür diente die Verfassung als höchste Rechtssatzung, deren Abänderung nur nach Überwindung hoher Hürden und unter Zurückweisung des bislang gültigen Grundsatzes, dass derjenige, der etwas macht, auch das Recht hat, dieses wieder zu ändern, durch das Volk bzw. seine Repräsentanten möglich war. Nicht nur aus europäischer Sicht schien dieses, wenn man so will, konservative amerikanische Republikverständnis nicht den Erfordernissen der Zeit zu entsprechen. Es mag dahingestellt bleiben, ob es selbst in den Vereinigten Staaten 1788 eine Mehrheit hinter sich hatte oder ob die Annahme der Verfassung nicht letztlich allein 4 Noch 1956 wies Präsident Eisenhower warnend darauf hin, dass eine Einführung des Verhältniswahlrechts die Vereinigten Staaten „mehr zu einer Demokratie, weniger zu einer Republik“ machen würde, zit. n. Robert Griffith, „Dwight D. Eisenhower and the Corporate Commonwealth“, in: American Historical Review, 87 (1982), 110. 5 Vgl. dagegen einen der bedeutendsten frühen europäischen Theoretiker der repräsentativen Demokratie, Giuseppe Compagnoni, für den Republik nur Bestand haben konnte, wenn sie auf einer hinreichenden Zahl von Demokraten fußte („la repubblica non potrebbe sussistere se non avesse un buon numero di democratici“), zit. n. Salvo Mastellone, „Introduzione“, in: Giuseppe Compagnoni, Elementi di diritto costituzionale democratico, hrg. v. Salvo Mastellone, Florenz: Centro editoriale toscano, 1988, x, vgl. auch xx – xxi.

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der geschickten politischen Regie der Federalists zu verdanken war. Tatsache aber ist, dass die Vorstellungen des radikalen Republikanismus, wie sie sich in der englischen Revolution herausgebildet und zwischen 1776 und 1790 in Pennsylvania durchgesetzt hatten, der Französischen Revolution und damit der europäischen Situation wesentlich mehr zu entsprechen schienen.6 Dieser radikale Republikanismus war bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts in England nicht bereit gewesen, die ursprünglichen Rechte des Volkes an eine dritte Instanz, sei es den König oder das Parlament, abzutreten. Neben anderen hatte John Milton dies 1649 unzweideutig zum Ausdruck gebracht: „[D]a der König oder Magistrat seine Autorität vom Volk erhält, sowohl ursprünglich als auch natürlich in erster Linie zu dessen Wohl und nicht zu seinem eigenen, mag das Volk, wann immer es ihm von Nutzen zu sein dünkt, ihn wählen oder zurückweisen, ihn beibehalten oder absetzen, selbst wenn er kein Tyrann ist, sondern allein aufgrund der Freiheit und dem Recht frei geborener Menschen, so regiert zu werden, wie es ihnen am besten erscheint.“7

Das Volk verfüge mithin nicht nur über ein natürlich wie göttlich begründetes Widerstandsrecht, sondern sei letztlich als Souverän frei, jederzeit über seine Regierung zu entscheiden. Für Milton gab es selbst im Angesicht der drohenden Restauration keinen Zweifel, dass allein eine Republik den Interessen und der Natur des Menschen entspreche: „[V]on allen Regierungen zielt eine Republik am meisten darauf ab, das Volk blühend, tugendhaft, edel und aufgeschlossen zu machen.“8 Doch wer das Volk sei, war auch unter den Republikanern umstritten, und viele waren nicht bereit, den Levellers in ihrer Forderung zu folgen, dass politische Mitwirkungsrechte nicht an Besitz gebunden sein sollten und auch dem ärmsten Engländer zuständen.9 Auch wenn die Position der Levellers in dieser Frage nicht einhellig war, wurde doch zumindest vereinzelt die Forderung nach dem allgemeinen Männerwahlrecht artikuliert.10

6

Vgl. dazu oben Kap. V. 4. John Milton, „The Tenure of Kings and Magistrates“, in: Milton’s Prose Writings, hrg. v. K. M. Burton, London: Dent, 1958, 194. 8 Milton, „The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth“ [1660], in: Milton’s Prose Writings, hrg. v. Burton, 242. Zur Einordnung der republikanischen Ideen in Miltons Auffassung von der „ancient constitution“, vgl. Nicholas von Maltzahn, Milton’s History of Britain. Republican Historiography in the English Revolution, Oxford: Clarendon Press, 1991, bes. 198 – 223. Bzgl. Vorläufer derartiger Auffassungen in der englischen Literatur vgl. u. a. Markku Peltonen, „Classical Republicanism in Tudor England: The Case of Richard Beacon’s Solon His Follie“, in: History of Political Thought, 15 (1994), 469 – 503. 9 Vgl. dazu etwa die zentralen Ausführungen von Rainsborough in den Putney Debates von 1647, in: Divine Right and Democracy. An Anthology of Political Writing in Stuart England, hrg. v. David Wootton, London: Penguin Books, 1986, 286 u. ö. 10 Vgl. dazu u. a. F. D. Dow, Radicalism in the English Revolution 1640 – 1660, Oxford: Basil Blackwell, 1985, 43 – 44. 7

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Ein anderer, sich aus der Eigentumsproblematik ableitender Gedanke ist vor allem mit dem Namen James Harrington verbunden, der dem Gleichheitsbegriff eine ökonomische Wendung gab, denn: „Da, wie man sieht, es hinreichend bewiesen ist, dass Herrschaft den Eigentumsverhältnissen folgt, dass die Art von Herrschaft oder Regierung (außer in kleinen Ländern) von der Verteilung von Land abhängt, und dass, wo diese Verteilung nicht festgelegt ist, die Regierungsverhältnisse schwankend sind: entspricht es der Vernunft, dass wir bei der Errichtung einer Republik mit der Festlegung einer gleichmäßigen Verteilung von Eigentum beginnen.“11

Anders als seine bis auf Platon zurückzuverfolgende Überzeugung, dass eine Republik „eine Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen“ sein müsse,12 ist sein Eintreten für ein den Gracchen nachempfundenes Agrargesetz in der amerikanischen Revolution kaum beachtet worden, wohingegen die Jakobiner mit dem Dekret vom 18. März 1793 seine Propagierung mit der Todesstrafe bedrohten.13 Der radikale Republikanismus hatte die Volkssouveränität und die breite Mitwirkung des Volkes zum Ziel, wobei der Umfang der Gleichheit ebenso wie die Frage des allgemeinen Wahlrechts umstritten blieben. Tugend und Bürgerverantwortung sollten das Gemeinwesen prägen, wohingegen die spätere Montesquieusche Feststellung, dass eine Republik allein für kleine Staaten tauglich sei, in der englischen Revolution offensichtlich noch keine Rolle spielte, so dass das Prinzip der Repräsentation zumal auf nationaler Ebene als akzeptiert angesehen werden konnte, während die Erblichkeit staatlicher Funktionen insbesondere nach der Auflösung des House of Lords entschieden abgelehnt wurde. Diese Republik sollte durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnet sein, die dem Bürger Freiheit, Schutz und Wohlstand sicherte, auch wenn sich diese Vorstellungen noch zu keinem konkreten Menschenrechtskatalog verdichteten und selbst die englische Bill of Rights von 1689 in ihrem Kern mehr eine Beschneidung königlicher Rechtsansprüche und eine Bestätigung von Rechten des Parlaments war, während lediglich drei ihrer dreizehn Artikel direkte Rechtsgarantien für den Bürger beinhalteten.14 Damit waren die wesentlichen Elemente des radikalen Republikanismus bestimmt, die nachfolgend in Pennsylvania und dann in der Französischen Revolution weiter ausgebildet wurden. War im konservativen amerikanischen Republikanismus 11

James Harrington, The Art of Lawgiving, Bk. III, London 1659, in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 664. 12 Harrington, The Commonwealth of Oceana, London 1656, in: Political Works, hrg. v. Pocock, 171. 13 Vgl. R. B. Rose, „The ,Red Scare‘ of the 1790 s: The French Revolution and the ,Agrarian Law‘“, in: Past and Present, 103 (1984), bes. 127 – 129. 14 1 Gul. & Mar., sess. 2, c. 2. Der offizielle Titel der Bill of Rights lautete „An Act declareing the Rights and Liberties of the Subject and Setleing the Succession of the Crowne“ (The Statutes of the Realm, Printed by Command of His Majesty King George the Third, in Pursuance of an Address of the House of Commons of Great Britain. From Original Records and Authentic Manuscripts, VI, o. O. u. N., 1819, 142 – 145).

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die Verfassung Basis jeder politischen Legitimation, so lag für den radikalen Republikanismus die letzte politische Legitimation allein im souveränen Volk begründet, dessen sich wandelnden Auffassungen die Verfassung ohne Errichtung weiterer, den Mehrheitswillen einschränkender Hürden gegebenenfalls zu weichen hatte.15 In diesem Verständnis von Republik hatte Verfassung mithin einen anderen Stellenwert als in Amerika, während der Bürger und seine Rechte, das Recht selbst als Ausdruck von Freiheit, Gleichheit und Vernunft, aber auch die Gesamtheit des souveränen Volks, das stets berechtigt sei, seinen Willen im Sinne demokratischer Herrschaft durchzusetzen, eine deutlich zentralere Rolle einnahmen.16 Das war eine andere Republik als jene angeblich aus sich selbst heraus verständliche in Amerika, eine kämpferische, die, indem sie kämpfte, sich mitunter schwer tat, sich gegen Terror oder Anarchie abzugrenzen, wie 1793 oder 1871 zeigten. Umso wichtiger waren für sie Laizismus und Erziehung – der sprichwörtliche republikanische Dorflehrer der III. Republik – und damit der republikanisch erzogene Staatsbürger.17 Schon 1789 waren anders als in Amerika in Frankreich nicht Rechte, sondern die Rechte des Menschen und Bürgers verkündet worden. Da mochte zwar so manches von dem antiken, nicht unbedingt republikanischen Ideal des civis romanus mitschwingen, aber es ließ sich leicht revolutionär und schließlich republikanisch umdeuten.18 Ganz ähnlich gilt bis heute die Einheit und Unteilbarkeit der Nation als republikanisches Urbekenntnis und unverzichtbare Grundlage der französischen Republik, obwohl seine geistigen wie institutionellen Wurzeln, worauf schon Tocqueville vor fast 170 Jahren hingewiesen hat, im französischen Königtum und seinem zunehmend absolutistischeren Herrschaftsanspruch liegen und bereits die Verfas-

15 Vgl. dazu oben Kap. V. 2. Zu den vor allem von Sieyès und Constant entwickelten Gedanken einer Begrenzung der Volkssouveränität, vgl. Pierre Rosanvallon, La Démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France, Paris: Gallimard, 2000, 96 – 97. 16 Vgl. dazu die Betonung des „légicentrisme“ als die des statuierten Gesetzes bei Lucien Jaume, La Liberté et la loi. Les origines philosophiques du libéralisme, Paris: Fayard, 2000, bes. 336 – 344. Ferner u. a. die Arbeiten von Claude Nicolet, darunter zuletzt Histoire, Nation, République, Paris: Éditions Odile Jacob, 2000, für den nach wie vor die Republik über der Verfassung steht, vgl. ebd., 15. Ähnlich zuvor ders., L’Idée républicaine en France (1789 – 1924). Essai d’histoire critique, Paris: Gallimard, 1982, 497, wo er die Republik als „dieses Erscheinungsfest der Politik (cette épiphanie de la politique)“ bezeichnete. Dazu auch Odile Rudelle, „Constitution et République: La dialectique du temps“, in: Révolution et République: L’exception française, hrg. v. Michel Vovelle, Paris: Éditions Kimé, 1994, 558 – 578. 17 Vgl. dazu die klassische Darstellung von Eugen Weber, La Fin des terroirs. La modernisation de la France rurale (1870 – 1914), Paris: Fayard, 1983, bes. 438 – 488. Die amerikanische Originalausgabe war 1976 erschienen. 18 Vgl. dazu Pierangelo Catalano, „,Peuple‘ et ,Citoyens‘ de Rousseau à Robespierre: Racines romaines du concept démocratique de ,République‘“, in: Révolution et République, hrg. v. Vovelle, 27 – 36.

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sung von 1791 festgestellt hatte: „Das Königreich ist ein und unteilbar.“19 Und dennoch machen auch heute noch viele Republikaner ihre Verteidigung der Republik gerade an diesem Grundsatz der Einheit und Unteilbarkeit als ihrer vermeintlich letzten Bastion fest, wie noch Ende des 20. Jahrhunderts in Frankreich die Auseinandersetzungen um das Statut für Korsika zeigten, obgleich interessanterweise der Conseil constitutionnel schon Anfang der neunziger Jahre hatte erkennen lassen, dass er in diesem Punkt von seiner vormals rigorosen Verfassungsinterpretation abgerückt war.20 Diese spezifische französische Ausprägung des radikalen Republikanismus übte lange ihren intellektuell prägenden Einfluss in Europa aus. Doch die Zäsuren von Erstem und Zweitem Weltkrieg und schließlich von 1989/90 markieren auch ihre stufenweise nachlassende Wirkung. Deutschland ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für diesen Wandel von der eher radikalen Republik à la française von Weimar zu der mehr konservativen Republik von Bonn,21 wobei der in der Nachfolge der europäischen Freiheitsrevolution von 1989/90 sich vollzogene Wandel zur Berliner Republik ungeachtet manch gegenläufiger Bestrebungen diese Entwicklung nicht wirklich umzukehren vermochte.22 Von der unverändert bestehenden einen oder anderen französischen Eigentümlichkeit abgesehen, präsentiert sich daher Republik innerhalb der Europäischen Union zumal nach dem nach 1945 stärker gewordenen amerikanischen Einfluss als Äquivalent für Demokratie, basierend auf einer mehr oder weniger sakrosankten Verfassung auf dem Prinzip der Volkssouveränität und mit verbrieften Menschenrechten, unter denen dem seit Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend betonten politischen wie kulturellen Minderheitenschutz eine wachsende Bedeutung zukommt.23 Indem die weitergehenden Inhalte des französischen Republikbegriffes dabei jenseits des Landes ihre Anziehungskraft verloren haben bzw. teilweise direkt auf den Demokratiebegriff übertragen wurden, hat dieser sich heute inhaltlich zum Teil so weit entleert, dass er etwa in Deutschland widerspruchslos von einer rechtsradikalen Partei usurpiert werden konnte, während etwa das Vichy-Regime 19

Tit. II, Art. 1 (Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 37). 20 Vgl. Louis Favoreu u. Loïc Philip, Les grandes décisions du Conseil constitutionnel, Paris: Dalloz, 101999, bes. 507 – 509, 519 – 526 (Entscheidungen vom 25. 2. 1982 zur Dezentralisation), 775, 782 – 783, 791 (Entscheidung vom 9. Mai 1991 über das Korsika-Statut). 21 Vgl. dazu oben Kap. VI. 11. und VI. 12. Ein weiteres Beispiel wäre Spanien, dessen republikanische Verfassung von 1931 an vielen Stellen französischen Einfluss erkennen lässt, vgl. Textos básicos de la historia constitucional comparada, hrg. m. e. Einl. v. Joaquín Varela Suanzes, Madrid: Centro de estudios políticos y constitucionales, 1998, xxvii – xxx, 446 – 476, der in der Verfassung der demokratischen Monarchie von 1978 keine vergleichbare Rolle mehr spielt. 22 Zur Krise des französischen Republikanismus-Verständnis, vgl. Le Monde, 27. Juli 2001, 1, 13. 23 Vgl. dazu unten Kap. VII. 6.

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noch bewusst die Bezeichnung „République“ gemieden und durch „Etat“ ersetzt hatte.24 Hat der Demokratiebegriff heute damit in Europa Inhalte wie Volkssouveränität, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit u. a. angenommen, die vormals statt mit ihm mit Republik und Republikanismus verknüpft waren, so unterstreicht dieser Bedeutungswandel bereits hinreichend, wie wichtig diese für die Durchsetzung der Demokratie in Europa gewesen sind. Eine Analyse der Rolle des Liberalismus auf diesem Weg zur Demokratie in jenen Ländern, die nicht über die republikanische Form dorthin gelangten, vermag dieses nur zu unterstreichen. „Los Liberales“ war die Bezeichnung für die Männer der Verfassung von Cadiz von 1812, mit dem der Begriff des politischen Liberalen in Europa geboren war. Und das, was die Cadiz-Verfassung vor allen europäischen Verfassungen der Zeit wie der voraufgehenden zwei Jahrzehnte auszeichnete, war der Versuch, die Institution der Monarchie mit dem Prinzip der Volkssouveränität (Art. 3) zu verknüpfen.25 Darüber hinaus war sie gekennzeichnet durch die konsequente Begrenzung der Macht des Königs (Art. 172), die Einkammerlegislative (bes. Art. 27 – 33, 131), das Fehlen eines Grundrechtekatalogs, die Festlegung der katholischen Religion als einzig zugelassener Religion (Art. 12), aber auch der Erklärung der politischen Presse- und Meinungsfreiheit (Art. 131, 371).26 Die Cadiz-Verfassung hatte eine ungeheure Wirkung nicht nur auf das liberale Europa. Sie wurde, nachdem sie 1820 in Spanien wieder eingeführt worden war, rasch in Neapel, Piemont und in Grenzen in Portugal kopiert. Aber, nicht zuletzt angesichts der heftigen Reaktion der Heiligen Allianz, spaltete sie die liberale Bewegung.27 Pölitz war nur einer jener moderaten Liberalen, der die Cortes-Verfassung vehement ablehnte, „weil, nach dem Zeugnisse der Geschichte, keine Verfassung in monarchischen Staaten auf die Dauer sich erhält, welche die königliche Macht 24 Vgl. dazu u. a. die Ausführungen des Vichy-Anhängers Roger Bonnard in: Les Constitutions et les principales lois politiques de la France depuis 1789, hrg. v. Léon Duguit u. Henry Monnier, Paris: Librairie Générale de Droit et de Jurisprudence, 61943, 186 – 196. 25 Bekanntermaßen war auch Benjamin Constant, der „Vater“ des Acte additionnel aux constitutions de l’Empire von 1815 bereit, den Gedanken der Volkssouveränität zu akzeptieren, hielt diese aber für eindeutig begrenzt, vgl. seine Principes de politique von 1815, in: ders., De la liberté chez les modernes. Ecrits politiques, hrg. v. Marcel Gauchet, Paris: Hachette, 1980, 269 – 278. 26 Vgl. Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España 1808 – 1845, hrg. v. António Pedro Barbas Homem, Jorge Silva Santos und Clara Álvarez Alonso, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 345 – 390; die französische Übersetzung der Verfassung von 1812 bei Pierre-Armand Dufau, Jean-Baptiste Duvergier u. Joseph Guadet (Hrgg.), Collection des constitutions, chartes et lois fondamentales des peuples de l’Europe et des deux Amériques, 7 Bde., Paris: Chanson, 1821 – 1830, V, 84 – 139. Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hrg.), Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, 4 Bde., Leipzig: F.A. Brockhaus, 21832 – 1847 [Ndr. Hildesheim: Olms, 1999], II, 263 – 293. 27 Vgl. dazu oben Kap. VI. 3.

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stärker beschränkt, als die brittische, und welche alle Stände eines größern Reiches in einer einzigen Kammer versammelt“.28 Demokratie und Volkssouveränität waren gemäß der Überzeugung von Pölitz wie überhaupt der gemäßigten Liberalen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit einem monarchischen System unvereinbar, wie die historische Erfahrung über allen Zweifel erhaben offenbart habe. „Alle Versuche, seit dem Jahre 1791, das demokratische Princip in den Mittelpunct der Verfassungen monarchischer Reiche zu stellen, scheiterten innerhalb des europäischen Staatensystems, und doch war diese geschichtliche Warnung, selbst noch am Schlusse des zweiten Jahrzehends des neunzehnten Jahrhunderts, für vier europäische Königreiche verloren gegangen!“29

Ganz anders äußerte sich Carl von Rotteck, bei aller Kritik im Detail ein Bewunderer der Cadiz-Verfassung,30 der der Überzeugung war, dass das monarchische Prinzip „der Veredlung durch das mit [ihm] zu verbindende demokratische“ bedürfe.31 Die Bedeutung der Cadiz-Verfassung für das liberale Europa wird umso deutlicher, wenn man die belgische Verfassung von 1831, die für die folgenden einhundert Jahre einen so prägenden Einfluss auf Europa haben sollte, mit ihr vergleicht. Angesichts nicht zuletzt der liberalen Kritik an der Cadiz-Verfassung erscheint sie geradezu als ihre korrigierte Neuauflage: Das umstrittene Bekenntnis zur Volkssouveränität ist durch die schwammige, an die französische Verfassung von 1791 erinnernde Formulierung ersetzt, dass alle Gewalt „von der Nation“ ausgehe (Art. 25);32 anstelle des berüchtigten Art. 12 der Verfassung der Cortes herrscht völlige Religionsfreiheit (Art. 14, 15), eingebettet in einen Grundrechtekatalog (Art. 4 – 24); das Parlament besteht aus zwei Kammern (Art. 32 – 59), und die Befugnisse des Königs sind weniger rigoros eingeschränkt, als dies durch die Cortes geschehen war (vgl. Art. 60 – 85).33

28 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatensysteme Europa’s und Amerika’s seit dem Jahre 1783, geschichtlich-politisch dargestellt, 3 Bde., Leipzig: J. C. Hinrichs, 1826, III, 253. 29 Ebd. Vgl. ähnliche Auffassungen bei Karl Theodor Welcker, Das innere und äußere System der praktischen natürlichen und römisch-christlich-germanischen Rechts-, Staats- und Gesetzgebungs-Lehre, I, Stuttgart: J. B. Metzler, 1829, 205, 271 – 286. 30 Vgl. Carl von Rotteck, „Cortes und Cortes-Verfassung in Spanien“, in: Das Staats-Lexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrg. v. Carl von Rotteck u. Carl Welcker, Altona: Johann Friedrich Hammerich, 21846 [Ndr. Frankfurt/M.: Keip, 1990], III, 578 – 588. 31 Carl von Rotteck, „Demokratisches Princip“, ebd., 718. Vgl. dazu oben Kap. VI. 4. 32 Vgl. dazu Bernard Tilleman u. André Alen, „General Introduction“, in: Treatise on Belgian Constitutional Law, hrg. v. André Alen, Deventer: Kluwer, 1992, 11 – 13. Dagegen stand in der offiziellen flämischen Version statt „Nation“ „Volk“, vgl. beide Textfassungen in: Documents constitutionnels de la Belgique, du Luxembourg et des Pays-Bas 1789 – 1848, hrg. v. Fred Stevens, Philippe Poirier u. Peter A. J. van den Berg, München: Saur, 2008, hier 75. 33 Vgl. Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, hrg. v. Homem, Santos und Álvarez, 345 – 390.

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Diese Grundzüge des gemäßigten Liberalismus finden sich dann in Deutschland,34 wo der radikale Liberalismus Ende der dreißiger Jahre seine letzten bedeutenden Fürsprecher verloren hatte, in verwandter Form in der Paulskirchenmehrheit und ihrer Verfassung wieder. Mit der gleichen Absage an die Volkssouveränität hatte von Gagern am 19. Mai 1848 verkündet, dass die Vollmacht zur Schaffung einer Verfassung für Deutschland „in der Souveränität der Nation“ liege.35 Auch heute noch, obwohl inzwischen de facto längst anerkannt, sucht man in den Verfassungen der europäischen Monarchien das ausdrückliche Bekenntnis zur Volkssouveränität, wie es den republikanischen Verfassungen eigen ist, in der Regel vergebens. Die einzige Ausnahme stellt die spanische Verfassung von 1978 dar, die in ihrer Präambel zwar die Souveränität noch traditionell der spanischen Nation zuweist, dann aber in Art. 2 präzisiert: „Die nationale Souveränität liegt im spanischen Volk; alle Staatsgewalten rühren von ihm her.“36 Wenn auch der Liberalismus als parteipolitischer Begriff in Europa als demokratischer Liberalismus mit dem eindeutigen Eintreten für die Volkssouveränität ins Leben getreten ist – ein verfassungsrechtliches Bekenntnis, das heute in den europäischen Monarchien der politischen Praxis eher hinterherhinkt –, war dieser Liberalismus einem anderen demokratischen Grundsatz, dem allgemeinen Wahlrecht, nur teilweise bereit zu folgen. Wie die Volkssouveränität war dieses Prinzip dem radikalen Republikanismus entnommen, der Mitte des 17. Jahrhunderts in England zumindest teilweise dafür eingetreten war. Die pennsylvanische Verfassung von 1776 hatte sich ihm weiter als jede andere amerikanische Verfassung der Zeit geöffnet. Die girondistische wie auch die jakobinische Verfassung von 1793 hatten dann erstmals das allgemeine Männerwahlrecht konstitutionalisiert.37 In der Folge wurde es von Napoleon übernommen, während es sich in den Staaten der USA seit Beginn des 19. Jahrhunderts schrittweise in dem Maße durchsetzte, wie die traditionelle Vorstellung der Mischverfassung dem sich nicht zuletzt unter dem Eindruck der Französischen Revolution verbreitenden Gedanken der Demokratie wich und zumal in den neuen Staaten des Westens keine traditionellen Eliten Herrschaft ausüben konnten.38 Der französische Liberalismus der Restauration und der Juli34 In einem eindrucksvollen Aufsatz betonte Paul Pfizer, dass der Liberalismus „nichts Anderes ist als der auf einer gewissen Stufe menschlicher Entwickelung nothwendige Uebergang des Naturstaats in den Rechtsstaat“: Paul Pfizer, „Liberal, Liberalismus“, in: Das Staats-Lexikon, hrg. v. Rotteck u. Welcker, VIII, 534. 35 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrg. v. Franz Wigard, 9 Bde., Frankfurt a. M.: Johann David Sauerländer, 1848 – 1849, I, 17. Vgl. dazu Kap. VI. 9. 36 Zit. n. Douze Constitutions pour une Europe…, zus.gest. v. Stéphane Gilcart, hrg. v. Etienne Cerexhe u. Louis le Hardy¨ de Beaulieu, Diegem: Kluwer Éditions juridiques Belgique, 1994, E-9. 37 Girondistisches Verfassungsprojekt, Tit. II, Art. 3, Jakobinische Verfassung, Menschenrechtserklärung, Art. 29 (Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 63, 97). 38 Vgl. dazu oben Kap. III. 5. und V. 3.

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Monarchie war, im Gegensatz zur Cadiz-Verfassung,39 doch getreu Montesquieu im Grundsatz antidemokratisch – Guizots wie Hohn klingendes Wort „Bereichert Euch (Enrichissez-vous)“, um in den Genuss des Wahlrechts zu gelangen, ist sein beredter Ausdruck40 –, zu einem restriktiven zensitären Wahlrecht zurückgekehrt. Es war der Verfassung der II. Republik von 1848 vorbehalten, erneut das allgemeine Männerwahlrecht einzuführen, das wiederum von Louis-Napoléon getreu seinem Onkel mit der Verfassung von 1852 übernommen wurde.41 Spätestens damit war der französische Liberalismus in Zugzwang geraten, als sich das System in den sechziger Jahren zum liberalen Kaiserreich (Empire libéral) wandelte. Edouard Laboulaye hatte dies genau erkannt und 1863 in seiner programmatischen Schrift Le Parti libéral, offenkundig der Entwicklung hinterher eilend, verkündet: „Die liberale Partei akzeptiert aufrichtig das allgemeine Wahlrecht als Garant der Freiheit, als Mittel der Regierung, als Instrument der politischen Erziehung.“42 Damit hatten sich die französischen Liberalen – eher eine fiktive Schar – an die Spitze der liberalen Bewegung gesetzt, während die britischen Liberalen, die trotz einer gewichtigen Minderheit von Radikalen in ihren Reihen mehrheitlich stärker unter dem Einfluss des älteren Liberalismus standen,43 nicht nur 1867 eine unter konservativer Führung durchgesetzte Ausweitung des Wahlrechts erleben mussten, die sehr viel weiter in eine demokratische Richtung ging als ihr eigener im Jahr zuvor gescheiterter Versuch, sondern die auch 1884 – 85 trotz starken innenpolitischen Drucks nicht bereit waren, darüber hinausgehend grundsätzlich einem allgemeinen Männerwahlrecht oder gar der Einführung des Frauenwahlrechts zuzustimmen,44 39 Art. 18, 27, 35 (Textos constitucionais de Portugal e Espanha/Textos constitucionales de Portugal y España, hrg. v. Homem, Santos und Álvarez, 346 – 348). 40 Noch nach der Februar-Revolution sprach Guizot von der „demokratischen Abgötterei (idolâtrie démocratique)“ als dem Unglück Frankreichs: François Pierre Guillaume Guizot, De la Démocratie en France (Janvier 1849), Paris: Victor Masson, 1849, 2, ähnlich 154, vgl. auch 9, 19 – 30, 33 – 47, 65, 124 – 125 u. ö. 41 Verfassung vom 4. November 1848, Art. 24, Verfassung vom 14. Januar 1852, Art. 36 (Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 215; Les Constitutions de la France depuis 1789, hrg. v. Jacques Godechot, Paris: Flammarion, 1979, 295). Zur historischen Entwicklung, vgl. Raymond Huard, Le Suffrage universel en France (1848 – 1946), Paris: Aubier, 1991, bes. 19 – 76; Pierre Rosanvallon, Le Sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, Paris: Gallimard, 1992, 284 – 307. 42 Edouard Laboulaye, Le Parti libéral. Son programme et son avenir, Paris: Charpentier, 2 1863, 150. Vgl. Huard, Le Suffrage universel, 86 – 91, mit weiteren Belegen. 43 Die radikalen Liberalen sind nicht zu verwechseln mit dem versprengten Haufen des britischen Radikalismus der Zeit, der für eine Republik eintrat, jedoch angesichts der dominierenden Stellung der Liberalen wie der Konservativen außerhalb des britischen Parteienspektrums der Zeit blieb und keine kohärente Position zu entwickeln vermochte. Vgl. dazu Republicanism in Victorian Society, hrg. v. David Nash u. Antony Taylor, Stroud: Sutton Publishing, 2000, bes. 1 – 22 (die einführenden Beiträge der beiden Herausgeber). 44 Vgl. dazu u. a. Neal Blewett, „The Franchise in the United Kingdom, 1885 – 1918“, in: Past & Present, 32 (1965), 27 – 56; John K. Walton, The Second Reform Act, London: Methuen, 1987, 2 – 4; J. P. D. Dunbabin, „Electoral Reforms and their Outcome in the United Kingdom, 1865 – 1900“, in: Later Victorian Britain, 1867 – 1900, hrg. v. T. R. Gourvish u. Alan O’Day,

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während die Wahlrechtsreform in Italien 1882 zwar die Zahl der Wahlberechtigten verdreifacht, das Wahlrecht mit Hilfe einer Alphabetisierungsklausel praktisch aber letztlich nur partiell über die bürgerlichen Schichten hinaus ausgedehnt hatte.45 Wenn der neuere Liberalismus als politische Partei in seiner Hinwendung zur Demokratie, zunächst zweifellos mehr aus politischer Einsicht denn aus tiefer Überzeugung,46 schließlich dem radikalen Republikanismus folgte, so doch erst nach tiefgreifenden inneren Umgestaltungen, die, wie das englische und ebenso das italienische Beispiel zeigen, mit einem Auswechseln der Parteieliten von aristokratischen Landbesitzern zur städtischen Mittelschicht47 auch sozial zu einer Annäherung an die Führungseliten des radikalen Republikanismus etwa in Frankreich führten. Dieser neuere Liberalismus vermochte jedoch in seiner Betonung von richterlicher Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit, dem Rang der Verfassung, der Bedeutung Basingstoke: Macmillan, 1988, bes. 95 – 111; Eugenio F. Biagini, Liberty, Retrenchment and Reform. Popular Liberalism in the Age of Gladstone, 1860 – 1880, Cambridge: Cambridge University Press, 1992, 257 – 312; G. R. Searle, The Liberal Party: Triumph and Disintegration, 1886 – 1929, Houndmills: Macmillan, 1992, bes. 11 – 28; Jonathan Parry, The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, New Haven: Yale University Press, 1993, 280 – 287; Alan Sykes, The Rise and Fall of British Liberalism, 1776 – 1988, London: Longman, 1997, bes. 108 – 114; Eric J. Evans, Parliamentary Reform in Britain, c. 1770 – 1918, Harlow: Longman, 2000, 44 – 74. Vgl. dazu auch oben Kap. V. 6. 45 Der Anteil der wahlberechtigten erwachsenen Männer war mit dem Gesetz von 1882 von knapp 9 % auf nahezu 25 % gestiegen, vgl. Raffaele Romanelli, L’Italia liberale (1861 – 1900) (Storia d’Italia dall’Unità alla Repubblica, II), Bologna: Mulino, 1979, bes. 215 – 216, 442 – 443; Alberto Aquarone, L’Italia giolittiana (1896 – 1915), I (Storia d’Italia dall’Unità alla Repubblica, III), Bologna: Mulino, 1981, bes. 71 – 76. Vgl. auch Raffaele Romanelli, „Francesco Crispi e la riforma dello stato nella svolta del 1887“, in: Quaderni storici, 6 (1971), bes. 826 – 827; Hartmut Ullrich, „Sistemi elettorali e sistema politico: Dalla riforma del 1882 alla crisi di fine secolo“, in: Idee di rappresentanza e sistemi elettorali in Italia tra otto e novecento. Atti della terza giornata di studio „Luigi Luzzatti“ per la storia dell’Italia contemporanea (Venezia, 17 Novembre 1995), hrg. v. Pier Luigi Ballini, Venedig: Istituto veneto di scienze lettere ed arti, 1997, 61 – 138; Hartmut Ullrich, „Alberto Aquarone: Lo storico dell’età liberale“, in: Alla Ricerca dell’età liberale. Ricordo di Alberto Aquarone. Atti del convegno, Roma, 22 – 23 maggio 1995, hrg. v. Sandro Notari, Mailand: Giuffrè, 1999, bes. 72 – 73. 46 Das klassische Beispiel ist bekanntlich Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, das zuerst 1835/40 erschien. In seiner Nachfolge dann z. B. in Deutschland Georg Gottfried Gervinus, Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, vgl. dazu Horst Dippel, „,Ein natürlicher Verfechter des Fortschritts‘: Georg Gottfried Gervinus oder der Historiker als Deuter seiner Zeit. Zur Rezeption von Georg Forster und Alexis de Tocqueville“, in: Georg-Forster-Studien, 6 (2001), 141 – 147. Hingegen sprach Laboulaye von „der christlichen, aufgeklärten, emsigen Demokratie, wo jeder Einzelne von Kindheit an lernt, sich selbst zu regieren und, indem er sich regiert, lernt, das Recht eines jeden zu respektieren, das Gesetz als Schutz der individuellen Rechte, die schützende Autorität des Gesetzes. Es ist diese Demokratie, die die ganze Hingabe der Liberalen Partei hat, es ist diese, die sie bestrebt ist einzurichten“ (Laboulaye, Le Parti libéral, 8). 47 Hartmut Ullrich, „Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg“, in: Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hrg. v. Dieter Langewiesche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1988, bes. 386 – 388, hat für Italien auf diese Wende von der Destra Storica zur Sinistra Storica von 1876 mit Nachdruck hingewiesen.

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der Verfassungsgerichtsbarkeit und damit der Sicherung der Menschenrechte durchaus ein zumal aus heutiger Sicht wesentliches Korrektiv im Sinne einer demokratischen Grundordnung einzuführen. Selbst wenn noch nicht alle europäischen Monarchien gegenwärtig diese letzten verfassungsrechtlichen Konsequenzen gezogen haben, stellt das Human Rights Act von 1998 im Vereinigten Königreich einen wichtigen Schritt auf diesem Weg dar. Doch am bislang konsequentesten erscheint die Übernahme des auf die Demokratie zielenden Gedankenguts des radikalen Republikanismus durch den neueren Liberalismus in der Europäischen Union mit der spanischen Verfassung von 1978 vollzogen zu sein, die in der Tradition der Cadiz-Verfassung von 1812 damit zugleich dokumentiert, dass der Wandel der Monarchie zur Demokratie anders als noch im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert heute nicht länger an eine konkrete liberale politische Partei gebunden, sondern erneut in einem übergreifenden liberalen Grundkonsens zu verorten ist, der längst ebenso wie einst der radikale Republikanismus Volkssouveränität, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als die unverzichtbare Basis von Demokratie anerkannt hat. Diese inhaltliche Annäherung des liberalen Grundkonsenses an einstige Positionen des radikalen Republikanismus verhindert nicht, dass heute nicht nur in Deutschland zwei weitere ursprünglich dem Liberalismus entstammende Auffassungen, die längst für jede demokratische Ordnung als unverzichtbar gelten und als solche inzwischen auch in den Republikanismus eingegangen sind, mitunter nicht die gleiche Betonung wie die soeben genannten Prinzipien finden. Gemeint ist zum einen die insbesondere im anglo-amerikanischen Liberalismus seit Jahrhunderten verwurzelte, aber etwa auch bei Benjamin Constant anzutreffende Überzeugung,48 dass das Wesen einer Verfassung die Machtbegrenzung sei, das Prinzip der begrenzten Regierung. Formal knüpft dieser Begriff an den Grundsatz der begrenzten Monarchie als Ergebnis der Glorreichen Revolution an, auch wenn dieser eher die Begrenzung der Macht des Königs zugunsten jener des Parlaments meinte. Selbst wenn diese vordergründig als eine politische Machtfrage erscheinen mochte, basierte sie einerseits auf der in Europa verbreiteten Auffassung von der Existenz sogenannter leges fundamentales, die auch der königlichen Macht Grenzen setzten.49 Sie verband sich aber andererseits ebenso in England mit der bis auf Aristoteles zurückreichenden und zumindest seit Bracton immer wieder beschworenen Überzeugung, dass auch der König unter dem Gesetz stehe. Unter dem Einfluss nicht zuletzt des älteren Naturrechts führten diese Überlegungen dann insbesondere bei Edward Coke zu der Auffassung, dass letztlich die Fundamentalprinzipien, auf denen das Common Law beruhe, die Macht des Gesetzgebers begrenzten. 48 „[d]ie Gesetze […] müssen ihre Grenzen haben“: Benjamin Constant, „De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“ [1819], in: ders., De la liberté chez les modernes, 506. 49 Vgl. dazu Heinz Mohnhaupt, „Von den ,leges fundamentales‘ zur modernen Verfassung in Europa. Zum begriffs- und dogmengeschichtlichen Befund (16. – 18. Jahrhundert)“, in: Ius Commune, 25 (1998), 121 – 158.

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Bekanntlich ist die englische Rechtslehre, zum Teil aus Missverständnis, Coke nicht gefolgt. Aber dass selbst der sich seit dem 18. Jahrhundert machtvoll herausbildende Grundsatz der Souveränität des Parlaments nicht mit unumschränkter Herrschaft gleichgesetzt werden kann, hat spätestens Albert V. Dicey mit seiner Betonung der rule of law als der „Sicherheit, die unter der englischen Verfassung den Rechten des Einzelnen gegeben wird“, herausgestrichen.50 Dicey berief sich für seine Überzeugung nicht nur auf die englische Verfassung und die englischen Gerichte, sondern auch auf so namhafte liberale Kronzeugen wie de Lolme, Tocqueville und Rudolf von Gneist. Auch wenn diese rule of law ursprünglich weder mit dem in Deutschland entwickelten Gedanken des Rechtsstaats noch mit dem der begrenzten Regierung gleichzusetzen ist,51 hat die ihr zugrunde liegende Vorstellung vom Schutz individueller Rechte und Freiheiten vor staatlichen Übergriffen unter der Einwirkung des jüngeren Naturrechts in der amerikanischen Revolution zur verfassungsrechtlichen Umsetzung Lockescher Auffassungen von unveräußerlichen Menschenrechten geführt, in die der Staat nicht befugt ist einzugreifen und die mithin seine Macht begrenzten. Bekanntester Ausdruck dieser durch die Verfassung auferlegten Machtbegrenzung ist die Bestimmung des ersten Zusatzartikels „Der Kongress macht kein Gesetz…“. Aber auch europäische Verfassungen kennen inzwischen vergleichbare Rechtseinschränkungen, so etwa Art. 79,3 GG, der Art. 89 der Verfassung der V. Republik, der die Integrität des Staatsgebietes und die republikanische Staatsform von jeder Verfassungsänderung ausnimmt oder am ausführlichsten der Art. 288 der portugiesischen Verfassung vom 2. April 1976 über die materiellen Grenzen von Verfassungsänderungen, der in einer langen Liste die Kernprinzipien der portugiesischen Demokratie von substantiellen Veränderungen ausnimmt. Diese aus liberalem Denken erwachsene Vorstellung, dass die Macht auch des demokratischen Staates zur Sicherung der Freiheit seiner Bürger begrenzt ist, findet zum anderen ihre Entsprechung in einer zweiten, in ihrem Ursprung ebenfalls liberalen Vorstellung, dem Gedanken der Gewaltentrennung. Von Locke übernommen hat Montesquieu bekanntlich diesen Grundsatz entscheidend ausformuliert und begründet. Sein Argument, dass die Freiheit überall dort bedroht ist, wo sich mehr als eine der drei Staatsgewalten in einer Hand befindet und dass folglich die Gewalten voneinander getrennt gehalten und in der Lage sein müssen, sich wechselseitig zu kontrollieren,52 ist über den Liberalismus längst zum demokratischen Gemeingut geworden. Auch der radikale Republikanismus hat sich diesen Auffassungen nicht prinzipiell verschlossen, wohl aber die Abgrenzungen gegeneinander in Sinne der 50 Albert V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution [1885], London: Macmillan, 81915, Ndr. Indianapolis: Liberty Fund, 1982, bes. 107. 51 Vgl. etwa den bekannten Essay von John Stuart Mill, On Liberty [1859], hrg. v. Currin V. Shields, New York: Liberal Arts Press, 1956, bes. 132 – 141, der in der Nachfolge Benthams letztlich aus utilitaristischen Gründen für „Grenzen der Regierungseinmischung“ plädiert. 52 Zer Entwicklung dieses letzteren Gedankens durch Blackstone, vgl. oben Kap. III. 2.

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ungehinderten Durchsetzung der Volkssouveränität radikal abgeschwächt,53 was neben dem in unzulässiger Verkürzung in der Regel allein zitierten Beispiel des englischen Parlamentarismus wesentlich zur Ausgestaltung der europäischen parlamentarischen Demokratie beigetragen und dazu geführt hat, dass man heute etwa im französischen Verfassungsrecht zwischen der strikten Trennung und der weichen Trennung der Gewalten unterscheidet.54 Wie immer diese Gewaltentrennung im Einzelnen in den Unionsstaaten ausgeprägt ist, die Vermengung des liberalen Erbes mit republikanischen Ausprägungen der Vergangenheit hat dazu beigetragen, dass die heute in Europa verwirklichte Gewaltentrennung in keinem Fall die Rigorosität ihrer in den Vereinigten Staaten verwirklichten Form angenommen hat. Wenn nach dieser Skizzierung einiger zentraler Entwicklungslinien versucht werden soll, in wenigen Worten ein Fazit zu ziehen, dann dürfte die Bedeutung von Republikanismus und Liberalismus als Grundlagen für die europäische Demokratie als das Ergebnis eines komplexen, über Jahrhunderte in Theorie und Praxis ablaufenden Prozesses deutlich geworden sein, der – ungeachtet manch anhaltenden Widerstands auf Seiten der Doktrinäre – schließlich das Verständnis von Demokratie selbst verändert hat. Keine Verfassung in der Europäischen Union vermag dies gegenwärtig augenfälliger zu symbolisieren als die portugiesische von 1976, der es laut Präambel darum geht, die Grundprinzipien der Demokratie zu etablieren, die sie dann in dem bereits erwähnten Art. 288 im Einzelnen aufführt: nationale Unabhängigkeit und Einheit des Staates, republikanische Form der Regierung, Trennung von Kirche und Staat, Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger, allgemeines Wahlrecht, Pluralismus der politischen Meinungen und Parteien und das Recht demokratischer Opposition, Trennung und Interdependenz der Gewalten, Verfassungsgerichtsbarkeit, Unabhängigkeit der Justiz, lokale Autonomie u. a.55 Die Genese dieser Prinzipien, die ersteren über den Republikanismus, die letzteren über den Liberalismus lässt sich hinreichend belegen. Gemeinsam stellen sie das „Erbe Europas“ und jene „universellen Prinzipien“ dar, die der moderne Konstitutionalismus in den Verfassungen der 27 Mitgliedstaaten der EU verankert hat, selbst wenn das Eindringen dieser Werte und Prinzipien in die politische Praxis der einzelnen Länder 53 Der Versuch, eine Republik auf der Basis einer strikten Gewaltentrennung in Frankreich mit der Verfassung von 1848 zu etablieren, scheiterte bekanntlich nach wenigen Jahren. Zu den Überlegungen, die zu diesem „Verfassungsmonster“ führten, vgl. Paul Bastid, Doctrines et institutions politiques de la Seconde République, 2 Bde., Paris: Hachette, 1945, I, 7, 246 – 263; François Luchaire, Naissance d’une constitution: 1848, Paris: Fayard, 1998, bes. 93 – 127; Frédéric Lambert, „La Genèse de la Constitution du 4 novembre 1848. De la confiscation de la Révolution à la défaite de la République“, in: Executive and Legislative Powers in the Constitutions of 1848 – 49, hrg. v. Horst Dippel, Berlin: Duncker & Humblot, 1999, bes. 216 – 222. 54 Vgl. dazu nur als Beispiel Bernard Chantebout, Droit constitutionnel et science politique, Paris: Armand Collin, 61985, bes. 109 – 175. Die Terminologie geht zurück auf James Bryce, „Flexible and Rigid Constitutions“, in: ders., Constitutions, New York – London: Oxford University Press, 1905, Ndr. Aalen: Scientia, 1980, 3 – 94. 55 Portugiesische Verfassung von 1976, Präambel, Art. 288a – o, in: Douze Constitutions pour une Europe…, hrg. v. Cerexhe u. le Hardy¨ de Beaulieu, P-7, P-115 – 116.

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VII. Europa/Europäische Union

aufgrund ihrer jeweiligen historischen Entwicklung unterschiedlich alt ist und sie derzeit noch nicht überall hinreichend tief verwurzelt erscheinen mögen. Dennoch vermögen selbst stets neue politische, ökonomische, kulturelle, demographische oder jüngst Pandemie bedingte Herausforderungen diese gemeinsamen Werte und Prinzipien nicht aus dem historischen Nachlass Europas zu tilgen. Doch an dem angemessenen Umgang mit diesem liberal-demokratischen Erbe wird sich jeder messen lassen müssen.

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel56 Die deutsche Unterscheidung zwischen Konvent und Konvention, für die die englische wie die französische Sprache jeweils nur einen Ausdruck bereithalten, reduziert zwar den Begriff Konvent auf eine Zusammenkunft. Aber selbst wenn wir ihn weiter auf das Verfassungsrecht einschränken, stellt sich sogleich die Frage, welche Rolle denn der „Konvent“ im europäischen Verfassungsrecht spielt? Ist es mehr als eine Leerstelle? Spontan fallen dazu die englischen Konventsparlamente (Convention parliaments) des 17. Jahrhunderts und der französische Nationalkonvent (Convention nationale) von 1792 – 1794 ein, der jedoch den Konventsbegriff für Europa derart diskreditiert hatte, dass keine nachfolgende französische Verfassung es wagte, erneut einen Konvent einzuführen. Konvente erscheinen mithin nicht gerade als Kernbegriffe des europäischen Verfassungsrechts. Was aber war gemeint, als die Erklärung von Laeken vom 15. Dezember 2001 zur „Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas“ aufrief?57 Hatte der Europäische Rat in Laeken eine Traditionslinie begründen wollen, die von dem Konvent, der die Europäische Grundrechtecharta aufstellte, bis zurück zum amerikanischen Bundeskonvent von Philadelphia 1787 reichen sollte, der die amerikanische Bundesverfassung schrieb?58 Oder sollte 56 Überarbeitete Fassung meiner Abhandlung Conventions in Comparative Constitutional Law (College of Europe, European Legal Studies, Research Papers in Law, 4/2003), Brügge: European Legal Studies, 2003. Ich danke Dieter Mahncke für wertvolle Hinweise. 57 https://www.cvce.eu/obj/erklarung_von_laeken_zur_zukunft_der_europaischen_union_1 5_dezember_2001-de-a76801d5-4bf0-4483-9000-e6df94b07a55.html (Zugriff 2. 12. 2020). 58 Vgl. die Hinweise auf diese Vorläufer in „The Convention on the Future of Europe begins its work [Editorial]“, in: European Law Review, 27 (2002), 119; Beate Neuss, „Die Krise als Durchbruch. Die EU zwischen Vertragsreform und Verfassungsentwurf“, in: Internationale Politik, 57 (2002), 9 – 10; Waldemar Hummer, „Vom Grundrechte-Konvent zum ZukunftsKonvent. Semantische und andere Ungereimtheiten bei der Beschickung des ,Konvents zur Zukunft Europas‘“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 33 (2002), bes. 325 – 328; Norbert K. Riedel, „Der Konvent zur Zukunft Europas. Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 35 (2002), bes. 242; auch „The EU’s constitutional convention: The founding fathers, maybe“, in: The Economist, 23. Februar 2002, 33; Youri Devuyst, The European Union at the Crossroads. The EU’s Institutional Evolution from the Schuman Plan to the European Convention, Brüssel usw.: P.I.E.-Peter Lang, 22003, 34 – 35.

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel

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dieser Konvent zur Zukunft Europas eine neue Art von Konventen begründen, für die das vergleichende Verfassungsrecht bislang keine Parallele bereithält? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen zunächst Konvente historisch und rechtlich beleuchtet werden, bevor in einem zweiten Schritt eine Ortsbestimmung des Konvents zur Zukunft Europas versucht werden soll. Konvente hatten historisch ihren ersten Auftritt im Verfassungsrecht im Rahmen der englischen Verfassung. Angesichts der sprachlichen Differenzierung im Deutschen gilt es daher, darauf zu achten, wann in der englisch- und französischsprachigen Literatur von „Konventionen“ und wann von „Konventen“ die Rede ist. Die englische Verfassung kennt bis heute Konventionen als nicht-rechtliche Regeln von Verfassungsrang,59 wofür es auch in einigen anderen Ländern Beispiele gibt.60 Für uns in diesem Zusammenhang einschlägiger ist der Konvent, den bereits die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert mit Hinweis auf das englische 17. Jahrhundert als „außerordentliche Versammlung des Parlaments“ definierte.61 Den rechtlichen Status dieser besonderen Versammlungen hatte wenige Jahre nach der Encyclopédie William Blackstone definiert. Im Zuge der englischen Geschichte hatte es zwei derartige Konventsparlamente gegeben, nämlich 1660 und 1688/89. Nach Zusammensetzung und Funktion waren sie normale Parlamente, konnten aber dennoch rechtlich nicht als solche gelten, weil es ihnen an der dafür erforderlichen königlichen Einberufung fehlte. Dass ihnen ungeachtet dieses Fehlens dennoch der volle Rechtsstatus zukam, machte Blackstone unmissverständlich deutlich: „[I]n einem derartigen Fall der offensichtlichen Thronvakanz folgt ex necessitate rei, dass die Form der königlichen Verfügungen beiseitegelegt werden muss, da anderenfalls kein Parlament je wieder einberufen werden könnte […] So dass ungeachtet dieser beiden kapitalen Ausnahmen, die ausschließlich durch das Prinzip der Notwendigkeit gerechtfertigt sind, (und die beide im Übrigen eine Revolution in der Regierung herbeiführten) die bestehende Regel grundsätzlich sicher ist, dass allein der König ein Parlament einberufen kann.“62

Diese beiden Konventsparlamente, die mehr in der Praxis als in der Theorie, erhebliche Verfassungsänderungen eingeführt hatten, lebten offensichtlich nicht zuletzt deswegen rund einhundert Jahre später wieder auf, weil Blackstones Ausdruck der „Revolution“ in diesem Zusammenhang in einzigartiger Weise missverstanden worden war. Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass Blackstone diesem 59 Vgl. Geoffrey Marshall, Constitutional Conventions. The Rules and Forms of Political Accountability, Oxford: Clarendon Press, 1984. 60 Vgl. Andrew Heard, Canadian Constitutional Conventions. The Marriage of Law and Politics, Toronto: Oxford University Press, 1991. 61 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, hrg. v. Denis Diderot und Jean-Baptiste d’Alembert, IV, Paris: Briasson u. a., 1754, 164, vgl. den gesamten Artikel, 161 – 164. 62 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England (The Oxford Edition of Blackstone, hrg. v. Wilfrid Prest), 4 Bde., Oxford: Oxford University Press, 2016, I, 101 – 102. Vgl. dazu oben Kap. III. 2.

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VII. Europa/Europäische Union

Begriff eine andere Bedeutung zumaß, als die Glorreiche Revolution ihm gegeben hatte, nämlich in Anlehnung an die Astronomie den der kopernikanischen Rückkehr zum Ausgangspunkt, also zu der ursprünglichen oder „alten“ Verfassung. Die Amerikaner hingegen, die 1776 ihre eigene Revolution durchlebten, hatten aus naheliegenden Gründen, indem sie von ihrer eigenen Revolution sprachen, ein ganz anderes und deutlich moderneres Verständnis von Revolution. Ihnen ging es nicht mehr darum, ehemaliges Recht und eine „alte“ Verfassung wiederherzustellen. Vielmehr waren sie sich des Umsturzes wohl bewusst und wollten gezielt etwas Neues schaffen, einen Novus Ordo Seclorum, wie es seit 1782 als Motto auf dem Siegel der Vereinigten Staaten heißt. In dieser Interpretation wurde der Konvent nicht das Instrument, um Altes zu bewahren, sondern um die Verfassung zu ändern und um, wann immer erforderlich, eine neue Verfassung zu schaffen, was kein normales Parlament, zumindest nach dem Verständnis der Zeit, tun konnte. Seit dem Ende des letzten Kolonialkrieges, weitgehend Teil des Siebenjährigen Krieges, 1763, und damit lange vor dem Philadelphia-Konvent von 1787 diskutierten die Bewohner der englisch-amerikanischen Kolonien die englische Verfassung und in diesem Zusammenhang immer wieder auch die Glorreiche Revolution und ihr Konventsparlament von 1688/89 und das, was nach ihrer Auffassung im Laufe des 18. Jahrhunderts schief gelaufen war und dazu geführt hatte, dass, statt die englische Freiheit zu sichern, sich Großbritannien und insbesondere sein Parlament aus amerikanischer Sicht zu einer tyrannischen Bedrohung entwickelt hatten.63 Aus diesen zahllosen Reflektionen über Konvente, Parlamente und Verfassungen destillierten die Bewohner von Concord, Massachusetts am 22. Oktober 1776 jene bemerkenswerte Resolution, die in die Geschichte eingegangen ist: „[D]ass die höchste Legislative sowohl in ihrer eigentlichen Funktion als auch als gemeinsamer Ausschuss auf keinen Fall der richtige Körper ist, eine Verfassung zu bilden und einzuführen oder eine Regierung zu bilden aus den folgenden Gründen. Erstens weil wir denken, dass eine Verfassung in ihrem eigentlichen Sinn ein System von Prinzipien sein soll, um den Untertanen im Besitz und Genuss seiner Rechte und Privilegien gegen jeden Eingriff der Regierungsseite zu schützen. – 2. Weil derselbe Körper, der eine Verfassung bildet, folglich auch die Macht hat, sie zu ändern. 3. Weil eine von der höchsten Legislative veränderbare Verfassung dem Untertanen überhaupt keine Sicherheit gegen Eingriff seitens der Regierung in irgendeines oder alle seine Rechte und Privilegien bietet. Beschlossen 3., dass es dieser Stadt höchst notwendig und angebracht erscheint, dass ein Konvent oder Kongress sogleich von den Einwohnern der entsprechenden Städte dieses Staates, die frei und 21 Jahre und älter sind, in dem Verhältnis wie früher die Repräsentanten dieses Staates gewählt wurden, gewählt wird, eine Verfassung zu bilden und einzuführen; der Konvent oder Kongress soll nicht aus einer größeren Zahl als das Repräsentantenhaus dieses Staates bestehen, außer dass jede Stadt und Distrikt die Freiheit haben soll, einen Repräsentanten zu senden oder was den Einwohnern dieses Staates im allgemeinen geziemt. – Beschlossen 4., dass, wenn der Konvent oder Kongress eine Verfassung gebildet hat, er sich für kurze Zeit

63

Zu dem amerikanischen Verfassungsdiskurs 1763 – 1776, vgl. oben Kap. III. 1.

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel

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vertagt und seine vorgeschlagene Verfassung für die Begutachtung und Anmerkungen der Einwohner dieses Staats veröffentlicht.“64

Die Resolution von Concord verdient nicht allein Beachtung wegen ihrer frühen Definitionen sowohl von Verfassung als auch von Konventen, sondern auch aufgrund ihrer Kritik von 1688/89 wie ebenso von Konventen, die es in diesem Jahr in einigen amerikanischen Staaten gegeben hatte, darunter insbesondere dem erst vor gut drei Wochen beendeten von Pennsylvania, dessen Ergebnis die Verfassung von Pennsylvania von 1776 war. Angelehnt an das englische Beispiel, war in Pennsylvania ein Konvent gewählt worden, um eine Verfassung zu entwerfen, die dieser Konvent dann, ohne das Volk einzubinden, aus eigenem Recht heraus in Kraft setzte, während der Konvent zugleich legislative Funktionen wahrnahm. John Alexander Jameson hat in seinem klassischen Werk The Constitutional Convention nahezu einhundert Jahre später diese Art Konvent einen revolutionären Konvent genannt,65 der sich nach seiner Überzeugung rechtlich deutlich von seiner reiferen Ausprägung unterschied, dem Verfassungskonvent, der anscheinend auch den Bewohnern von Concord vorgeschwebt hatte. Die Definition, die Jameson diesem Verfassungskonvent gab, macht auch rund 150 Jahre später noch Sinn. Gemäß seiner Überzeugung unterschied sich der Verfassungskonvent vom revolutionären Konvent „nicht bloß, weil er die Aufgabe hat, Verfassungen zu bilden oder zu verändern, sondern weil er sich innerhalb und nicht außerhalb des grundlegenden Rechtsrahmens befindet, weil er begleitend und untergeordnet und nicht feindlich und übergeordnet gegenüber ihm ist. Diese Art von Konvent steht in offizieller Beziehung zum Staat als politische Organisation. Er ist mit einer festgelegten, nicht unbestimmten, seinem eigenen Ermessen überlassenen Aufgabe betraut. Er agiert immer unter Kommission, für einen festgelegten Zweck und begrenzt durch Recht und Gebräuche. Sein entscheidendes Merkmal ist im Unterschied zu revolutionären Konventen, dass er bei jedem Schritt und in jedem Augenblick seiner Existenz untergeordnet ist – er ist an der Seite und auf Zuruf einer bestehenden Regierung, die bestimmt ist, ihn zu überleben, zum Zweck, seinen besonderen Anforderungen nachzugehen. Er ersetzt nie bestehende Organisationen. Er regiert nie. Obwohl aufgefordert, die grundlegenden Gesetze zu betrachten und Verbesserungen zu empfehlen, setzt er nie sie oder andere Gesetze in Kraft und führt keine Regierungshandlungen aus.“66

Was Jameson beschrieb, war, wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in dem unausweichlichen Prozess einer Änderung der Verfassung weiter bestehen. Statt politischem Aufruhr und Umsturz solle das ordnungsgemäße Verfahren eines Verfassungskonvents die Richtung der erforderlichen Veränderungen vorgeben, und es gibt kaum einen amerikanischen Staat, der sich diesem Instrument der Verände64 The Popular Sources of Political Authority. Documents on the Massachusetts Constitution of 1780, hrg. v. Oscar u. Mary Handlin, Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1966, 152 – 153. 65 John Alexander Jameson, The Constitutional Convention; Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Callaghan and Company, 31873, 6 – 9, 129 – 130. 66 Ebd., 10.

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rungen und Verbesserung der Verfassung verweigert, wenn auch heute zumeist als lediglich eine von mehreren Möglichkeiten. Tatsächlich sind im Laufe der Geschichte und zunehmend heute andere Optionen des Revisionsverfahrens bevorzugt worden, und auf nationaler Ebene ist die Konventsmethode, obwohl im Art. V der Bundesverfassung als eine von zwei Möglichkeiten ausdrücklich vorgesehen, seit 1789 nie zum Einsatz gekommen. Einer der Gründe für diese Zurückhaltung, scheint in der, von manchen Autoren für übertrieben gehaltenen Furcht zu liegen, eine Verfassungskonvent könnte „außer Kontrolle“ geraten,67 und der PhiladelphiaKonvent von 1787, das angebliche Modell für den Konvent zur Zukunft Europas, ist ein derartiger, außer Kontrolle geratener Konvent.68 Schließlich hatte der Annapolis-Konvent von 1786 vorgeschlagen, einen neuen Konvent 1787 in Philadelphia einzuberufen, „um die Situation der Vereinigten Staaten zu betrachten und jene weiteren Bestimmungen zu konzipieren, die ihnen notwendig erscheinen, um die Verfassung der Bundesregierung den Erfordernissen der Union anzupassen“.69 Der Kongress nahm die Vorschläge an und beschloss, dass Delegierte nach Philadelphia entsandt wurden, „zum ausschließlichen und ausdrücklichen Zweck, die Konföderationsartikel zu revidieren“.70 Ohne Frage hatte der Philadelphia-Konvent kein Mandat, eine neue Verfassung zu schreiben. Doch er beschränkte sich nicht einmal darauf, sondern schuf auch seine eigenen Regeln zur Annahme der von ihm konzipierten Verfassung.71 Sein Art. VII bestimmte daher: „Die Ratifizierung der Verfassung durch neun Staaten reicht aus, um diese Verfassung in Kraft zu setzen.“ Dies wurde in eklatanten Widerspruch zum bestehenden Verfassungsrecht festgesetzt, hatten doch die Konföderationsartikel bestimmt, dass jede Veränderung ihrer Artikel bedinge, dass sie „im Kongress der Vereinigten Staaten angenommen und anschließend von den Legislativen jedes Staates bestätigt“ werden.72

67

Vgl. Russell L. Caplan, Constitutional Brinkmanship. Amending the Constitution by National Convention, New York: Oxford University Press, 1988. 68 Vgl. David G. Smith, The Convention and the Constitution. The Political Ideas of the Founding Fathers, Lanham, MD: University Press of America, 1987, 21 – 26. Vgl. auch Joseph J. Ellis, Founding Brothers. The Revolutionary Generation, New York: Alfred A. Knopf, 2000, 8. 69 Documentary History of the Constitution of the United States, 1786 – 1870. Derived from the Records, Manuscripts, and Rolls Deposited in the Bureau of Rolls and Library of the Department of State, 3 Bde., Washington: Department of State, 1894 – 1900, I, 5. 70 Ebd., I, 8. Vgl. 1787: Drafting the U.S. Constitution, hrg. v. Wilbourn E. Benton, I, College Station: Texas A & M University Press, 1986, 47 – 83; Creating the Constitution, hrg. v. John P. Kaminski und Richard Leffler, Acton, MA: Copley, 1999, 49 – 50, 61 – 63. 71 Vgl. dazu auch das nachfolgende Kap. VII. 3. 72 Articles of Confederation, Art. XIII, in: Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, I, 31 – 32. Der zuvor zitierte Art. VII der Bundesverfassung findet sich ebd., 63.

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So erfolgreich der Philadelphia-Konvent auch, politisch gesehen, war, war er nach dem Buchstaben der bestehenden Verfassung verfassungswidrig, ein fragwürdiges Modell für den Konvent zur Zukunft Europas. Die Aura, oder wie man eher sagen sollte, die Mystifizierung des Philadelphia-Konvents verschaffte ihm hingegen eine Eigendynamik. Doch mit Blick auf die Theorie ist das von Massachusetts 1779/80 gegebene Beispiel nach der fehlgeschlagenen Verfassung von 1778 ungleich bedeutsamer. Nahe an dem späteren Modell von Jameson hatte die Legislative zur Wahl von Delegierten für einen Konvent aufgerufen, der eine neue Verfassung entwerfen sollte, die anschließend dem Volk zur Abstimmung vorzulegen war. Es war dieses Beispiel und nicht das von Philadelphia ein knappes Jahrzehnt später, das im 19. Jahrhundert mit einigen kleineren Verbesserungen seinen Weg in das amerikanische Verfassungsrecht fand. Doch selbst heute mit der fast ausschließlichen Fixierung auf die Bundesverfassung und ihre Geschichte und der weitgehenden Vernachlässigung der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung erscheint die Idee eines Verfassungskonvents immer noch hinsichtlich der damit verknüpften „Mythen und Realitäten“ und seiner Funktion als „demokratisches Korrektiv für Probleme in einer demokratischen Gesellschaft“ Erklärungsbedarf zu benötigen.73 Was in den Vereinigten Staaten debattiert, doch von einem ebenso medienwirksamen wie einzigartigen Ereignis überlagert wurde, konnte wohl nur unter erheblichen Einschränkungen als ein Beispiel für Europa dienen. Dennoch ist behauptet worden, dass die Französische Revolution, als sie 1792 den Begriff „Konvent“ aufgriff, damit das amerikanische Modell im Sinn gehabt habe.74 Angesichts der den französischen Revolutionären von 1792 verfügbaren Modelle von England, Pennsylvania, Massachusetts und Philadelphia erscheint ihre Wahl jedoch keineswegs selbsterklärend. Bereits im August 1791 hatte es eine intensive Debatte darüber gegeben, wie die noch gar nicht in Kraft befindliche Verfassung geändert und verbessert werden könne und ob ein Konvent, und wenn ja welcher dafür die geeignetste Form sei. Dabei traten sowohl Anhänger von revolutionären Konventen nach dem Beispiel Englands oder Pennsylvanias auf wie jene, die für die Modelle von Massachusetts oder Philadelphia plädierten. Letztlich setzten sich beide nicht durch, da die Mehrheit der Auffassung zuneigte, dass eine Verfassung festgesetzt und stabil sein sollte, um die Revolution zu beenden, ohne dabei jedoch zu bedenken, dass eine Verfassung dann am ehesten von Dauer ist, wenn sie selbst geordnete Möglichkeiten vorgibt, wie sie in einem demokratischen Prozess revidiert werden kann.75 Als der unvermeidliche Fehlschlag der Verfassung von 1791 eintrat, war der revolutionäre Konvent von 1792 das offensichtliche Ergebnis. In jeder Hinsicht war er das Gegenteil von Jamesons Verfassungskonvent: Er war übergeordnet und un73

Paul J. Weber und Barbara A. Perry, Unfounded Fears: Myths and Realities of a Constitutional Convention, New York–Westport, CT-London: Greenwood Press, 1989, 106. 74 Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen von Jacques Godechot in seiner Ausgabe Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris: Flammarion, 1979, 69. 75 Vgl. dazu oben Kap. IV. 2.

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begrenzt, er regierte und schuf Gesetze, selbst wenn er seine Verfassung dem Volk zur Abstimmung vorlegte. Noch prägender wurde seine Terrorherrschaft, dank der er diese Art von Konvent in Europa auf Generationen diskreditierte. Auf lange Zeit blieb dieser erste Konvent in der modernen europäischen Verfassungsgeschichte der einzige.76 Wann immer politischer Wandel abrupt oder durch revolutionäre Ereignisse zu einer neuen Ordnung mit Beratungen über eine neue Verfassung führte, war das bevorzugte Modell das der konstituierenden Nationalversammlung, die sich mehr oder weniger an dem französischen Vorbild von 1789/91 orientierte, zwar außer dem Namen nach einem revolutionären Konvent gleichkam, aber sich auf keinen Fall so nennen wollte. Die Mehrzahl der Verfassungen, die sie hervorbrachte, behandelte das Problem der Verfassungsänderung. Doch wenn wir uns die europäischen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts ansehen, finden wir unter ihnen keine, die die Einrichtung eines Verfassungskonvents für den Revisionsprozess vorsah. Dennoch kamen Konvente der Sache nach mitunter vor. Im März 1848 reagierte der Deutsche Bundestag auf die revolutionären Unruhen mit der Einberufung von siebzehn „Männern des allgemeinen Vertrauens“ zur Revision der Verfassung des Deutschen Bundes. Folgen wir den Kriterien von Jameson ließen sich diese siebzehn Männer durchaus als Verfassungskonvent begreifen, der keinerlei weitere Funktion wahrnahm, als eine Verfassung zu entwerfen, die er im Laufe des April dem ihn beauftragenden Gremium übergab.77 Doch niemand hat die siebzehn Männer je so genannt. Das war rund einhundert Jahre später zumindest etwas anders. Vom 10. bis 23. August 1948 tagte der von den westdeutschen Ministerpräsidenten einberufene „Verfassungskonvent von Herrenchiemsee“, ein Expertengremium, das die Arbeit des „Parlamentarischen Rates“ vorbereiten sollte, der ab dem 1. September 1948 in Bonn tagte und das Grundgesetz entwarf. War der Ausdruck für die Versammlung in Herrenchiemsee eher unpassend,78 hätte sich der Parlamentarische Rat mit vollem Recht und durchaus passend als Verfassungskonvent bezeichnen können. Zuvor hatte Italien begrifflich die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen mit der Costituente (1946 – 47), die nach dem klassischen Vorbild der französischen Konstituierenden Nationalversammlung von 1789 – 91 modelliert war und zumindest teilweise einem Verfassungskonvent nahekam, ohne dessen Namen anzunehmen.79 76 Es mag anderenorts weitere Konvente gegeben haben wie etwa den „Rheinisch-deutschen Nationalkonvent“ in Mainz vom 17. – 31. März, 1793, der weder eine Verfassung schrieb noch schreiben wollte, vgl. Franz Dumont, Die Mainzer Republik. Studien zur Revolutionierung in Rheinhessen und der Pfalz, Alzey: Verlag der rheinhessischen Druckwerkstätte, 1982, 399 – 458; Heinrich Scheel, Die Mainzer Republik, III: Die erste bürgerlich-demokratische Republik auf deutschem Boden, Berlin: Akademie-Verlag, 1989, 209 – 240. 77 Vgl. dazu oben Kap. VI. 9. 78 So auch Hermann von Mangoldt, „Zum Beruf unserer Zeit für die Verfassungsgebung. Grundsätzliches zu den Bonner Verfassungsarbeiten“, in: Die öffentliche Verwaltung, 1 (1948), 52; vgl. Horst Säcker, „Verfassungskonvent 1948“. In: Die öffentliche Verwaltung, 51 (1998), 784 – 792. 79 Vgl. Carlo Ghisalberti, Storia costituzionale d’Italia 1848/1994, Rom und Bari: Laterza, 18 2002, bes. 405 – 416; ders., „Alle origine della costituzione repubblicana (1943 – 1946)“, in:

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Dieser knappe historische Überblick lässt sich zusammenfassen in der Feststellung, dass Verfassungskonvente keine etablierte Einrichtung des europäischen Verfassungsrechts darstellen. Keine Verfassung der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) kennt diese Institution zu ihrer Revision.80 Ungeachtet des vereinzelt unspezifischen Reizes, den Verfassungskonvente in der Vergangenheit hier ausgeübt haben mochten, hinterließen sie praktisch keinen bleibenden Eindruck im europäischen Verfassungsrecht. Hingegen gibt es hier wie auch in anderen Teilen der Welt sogenannte „Verfassungskonvente“ als beratende, parteiübergreifende Einrichtungen, die jedoch von dem bestehenden Verfassungsrecht nicht anerkannt sind. Sie mögen sich mit Verfassungsfragen beschäftigen wie etwa die schottischen Verfassungskonvente der 1920er und 1940er Jahre oder von 1989 – 91.81 Ein anderes Beispiel ist Australien, das Ende des 20. Jahrhunderts zwei vergleichbare Konvente gesehen hatte, den letzteren 1998.82 Als drittes Beispiel mag schließlich der Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente am 31. März 2003 in Lübeck erwähnt werden.83 Im Unterschied zu diesem ephemeren, vagen und mitunter etwas bizarren europäischen Gebrauch von Konventen, die außerhalb des bestehenden Verfassungsrechts angesiedelt und in der Regel ohne konkreten Einfluss auf die bestehenden Verfassungen geblieben sind, verdankt Argentinien seine gegenwärtige Verfassung von 1994 einer um die beiden vormaligen Präsidenten Menem und Alfonsín gebildeten Körperschaft, die sich „verfassungsgebender Konvent“ nannte und dekretierte: „Der durch diesen verfassungsgebenden Konvent verabschiedete Text ersetzt den bisher in Kraft gewesenen Text der Verfassung vollständig.“84 Da die Verfassung

Verfassungsgebung, partitocrazia und Verfassungwandel in Italien vom Ende des II. Weltkrieges bis heute, hrg. v. Hartmut Ullrich, Frankfurt: Peter Lang, 2001, 41 – 56; Pietro Scoppola, „La costituzione nella storia dell’Italia unita“, in: Dalla costituente alla costituzione. Convegno in occasione del cinquantenario della costituzione repubblicana (Roma, 18 – 20 dicembre 1997) (Atti dei convegni Lincei, 146), Rom: Accademia nazionale dei Lincei, 1998, bes. 25 – 33. 80 Vgl. allgemeiner The Constitutional Revision in Today’s Europe. La Révision constitutionnelle dans l’Europe d’aujourd’hui, hrg. v. Giuliano Amato, Guy Braibant und Evangelos Venizelos, (European Public Law Series, XXIX), London: Esperia Publications, 2002. 81 Vgl. James Mitchell, Constitutional Conventions and the Scottish National Movement: Origins, Agendas and Outcomes (Strathclyde Papers on Government and Politics, 78), Glasgow: Department of Government, University of Strathclyde, 1991. 82 Vgl. Heather McRae und Anne Mullins, Australian Constitutional Convention 1973 – 1985: A Guide to the Archives, Melbourne: Centre for Comparative Constitutional Studies, 1998; Steve Vizard, Two Weeks in Lilliput. Bear-baiting and backbiting at the Constitutional Convention, Ringwood, Victoria: Penguin, 1998. 83 Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. April 2003, 7. Die Dokumentation darüber ist abrufbar unter: http://starweb.hessen.de/cache/laender/Luebeck2003_foederalismus-konvent. pdf (Zugriff 4. 12. 2020). 84 Übergangsbestimmungen, Art. 17 der Verfassung der argentinischen Republik von 1994. Eine deutsche Übersetzung findet sich unter: http://www.verfassungen.net/ar/verf94-i.htm (Zugriff 4. 12. 20220).

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keine Bestimmungen zu ihrer Revision enthält, erübrigt sich die Frage, welche organisatorisch-institutionellen Vorkehrungen für diesen Fall getroffen sind. Andere lateinamerikanische Verfassungen kannten ähnliche Einrichtungen, allerdings mehrheitlich unter dem Namen „Konstituierende Nationalversammlung“. Dabei konnten Bedeutung und Aufgaben von Fall zu Fall abweichen, So sieht die Verfassung von Costa Rica von 1949 eine „Konstituierende Nationalversammlung“ im Falle einer Totalrevision der Verfassung vor,85 was ebenso die Verfassung von Venezuela von 1999, allerdings bei nahezu prohibitiven Hürden, doch einem generellen Verbot jeder Einmischung von anderen Verfassungsorganen, vorsieht,86 während die Verfassung von Guatemala von 1985 für jede Verfassungsänderung die Einberufung einer Konstituierenden Nationalversammlung vorschreibt, die parallel zu der bestehenden Legislative tagt, ohne dass derselbe Delegierte beiden Versammlungen gleichzeitig angehören kann.87 Vergleichbar den meisten nordamerikanischen Einzelstaatsverfassungen, geben uns die lateinamerikanischen Verfassungen nur wenige Hinweis auf den rechtlichen Status dieser Körperschaften, ob sie nun als Konstituierende Nationalversammlung oder Verfassungsgebender Konvent bezeichnet werden. Die Verfassung von Kolumbien von 1991 ist da schon ausführlicher. Die Konstituierende Versammlung ist eine von drei Möglichkeiten der Verfassungsänderung. Falls dieser Weg beschritten werden sollte, bestimmt ein Gesetz die Kompetenz, Dauer und Zusammensetzung der Versammlung. Allerdings müssen sich mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten für die Einberufung aussprechen. Kommt diese Versammlung zustande, verliert der Kongress für die Zeit ihres Bestehens seine Befugnis zur Verfassungsänderung.88 Von allen lateinamerikanischen Verfassungen scheinen aktuell nur die von Uruguay und Paraguay den Konventsbegriff zu verwenden. Dabei unterscheiden sich dessen Funktionen und Kompetenzen nicht wesentlich von jenen der Konstituierenden Nationalversammlungen. Bemerkenswerter sind dagegen die Unterschiede in der Handhabung der Revisionen. In Uruguay werden die Verfassungsänderungen dem Volk anlässlich der gesetzlich anstehenden nächsten Wahlen vorgelegt und können einzeln angenommen oder abgelehnt werden.89 In Paraguay nimmt hingegen der Konstituierende Nationalkonvent die neue von ihm entworfene 85

Art. 196 in der Amendierung vom 31. Mai 1968, in: Colección de Constituciones de Costa Rica. De la Pacto de Concordia a la Constitución Política de 1949, hrg. v. Marco A. Mena Brenes, San José, Costa Rica: Imprenta Nacional, 2000, 665. 86 Art. 347 – 349, Constitución de la República Bolivariana de Venezuela. Gaceta Oficial No 5.453 Extraordinario 24 de Marzo de 2000, Caracas: Ediciones Dabosan, [2000], 128 – 129. 87 Art. 278, 279 der Verfassung von 1985 in der Amendierung von 1993 unter: https://www. oas.org/dil/esp/Constitucion_Guatemala.pdf (Zugriff 4. 12. 2020). 88 Art. 376 der Verfassung von 1991 in ihrer Amendierung bis 2016 unter: https://www.corte constitucional.gov.co/inicio/Constitucion%20politica%20de%20Colombia.pdf (Zugriff 4. 12. 2020). 89 Art. 331 der Verfassung von 1967 in der Amendierung von 2004 unter: https://parlamen to.gub.uy/documentosyleyes/constitucion (Zugriff 4. 12. 2020).

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Verfassung selbst an, nachdem zuvor zwei Drittel der Mitglieder jeder Kammer des Kongresses der Notwendigkeit einer Änderung der Verfassung zugestimmt und damit den Weg für den Konvent freigemacht hatten, und setzt sie aus eigenem Recht in Kraft.90 Damit erscheint die Wortwahl mehr ein äußerliches Phänomen: Auch diese Konvente waren im Grunde kaum etwas anderes als Konstituierende Nationalversammlungen und kannten keine der zentralen Beschränkungen von Jamesons Verfassungskonventen. Anders erscheint dies auf den direkterem amerikanischen Einfluss offenen Marshall Inseln. Der hier eingerichtete Verfassungskonvent entsprach dennoch kaum den Vorstellungen Jamesons, wenn es dazu in der Verfassung hieß: „Es überschreitet die Autorität eines Verfassungskonvents, Verfassungsänderungen zu beraten oder anzunehmen, die in keinem Zusammenhang stehen oder unvereinbar sind mit den Vorschlägen, die ihm von der [Legislative] oder durch ein Referendum unterbreitet wurden.“91 Ein Verfassungskonvent als reines Redaktionskomitee überließ letztlich doch den entscheidenden Einfluss der Legislative. Ob das grundsätzlich auf den Philippinen anders aussieht, unserem letzten Beispiel, mag bezweifelt werden, da die Verfassung zwar die Möglichkeit eines Verfassungskonvents vorsieht, jedoch mit keinem Wort etwas über seine Aufgaben und Funktionen sagt.92 Zusammenfassend lässt sich mithin festhalten, dass der Verfassungskonvent in Theorie und Praxis einer der bedeutendsten amerikanischen Beiträge zum Verfassungsrecht ist, der jedoch in Europa nie wirklich Wurzeln geschlagen hat. In Lateinamerika erscheinen die amerikanischen Einflüsse in diesem Punkt kaum sehr viel tiefgreifender. Interessanterweise überwiegt auch hier der französische Einfluss der Konstituierenden Nationalversammlung, selbst wenn nicht zu verkennen ist, dass diese teilweise Züge eines amerikanischen Verfassungskonvents annehmen kann. Doch selbst dort ist dieser amerikanische Einfluss nicht größer, wo man den Begriff des Konvents übernahm, ohne sich damit inhaltlich der amerikanischen Theorie zu nähern. Gleiches lässt sich pauschal über den amerikanisch beeinflussten pazifischen Raum sagen. Zu einer tatsächlichen inhaltlichen Übernahme des amerikanischen Verfassungskonvents kommt es auch hier nicht. Es bleibt im Kern also eine amerikanische Institution. Angesichts dieser Ergebnisse bleibt die Frage, warum die Erklärung von Laeken zu einem Konvent aufrief, der doch dem europäischen Verfassungsrecht so fernsteht? Eine bewusste Verknüpfung mit dem Konvent von Philadelphia scheint unangebracht und missverständlich, und die Bemerkungen, die Valérie Giscard d’Estaing an90 Art. 289 Verfassung von 1992 unter: http://digesto.senado.gov.py/archivos/file/Constitu ci%C3%B3n%20de%20la%20Rep%C3%BAblica%20del%20Paraguay%20y%20Reglamen to%20Interno%20HCS.pdf (Zugriff 4. 12. 2020). 91 Art. XII, Abs. 4 der Verfassung von 1979 in der Amendierung von 1995 unter: https:// www.constituteproject.org/constitution/Marshall_Islands_1995.pdf?lang=en (Zugriff 4. 12. 2020). 92 Art. XVII der Verfassung von 1987 unter: https://www.officialgazette.gov.ph/constitu tions/1987-constitution/#article-xvii (Zugriff 4. 12. 2020).

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lässlich seiner „Henry Kissinger Rede“ am 11. Februar 2003 in der Library of Congress in Washington machte, deuten an, dass er bemüht war, beide Konvente nicht in eine zu enge Beziehung zueinander zu setzen.93 Da es keinen Hinweis auf den Einfluss irgendeines anderen Beispiels gibt, bleibt als einzig vorhandene Referenz der Konvent, der die Grundrechtecharta der Europäischen Union schuf. Bevor wir uns auf dieses Modell festlegen, ist es angebracht, sich der Geschichte dieses besonderen Konvents zu vergewissern. Als der Europäische Rat auf seinen Zusammenkünften in Köln (3./4. Juni 1999) und Tampere (15./16. Oktober 1999) beschloss, ihn ins Leben zu rufen, wusste er offensichtlich nicht, wie er ihn nennen sollte, was angesichts der Tatsache, dass Verfassungskonvente in der europäischen Verfassungsgeschichte wie im europäischen Verfassungsrecht unbekannt sind, nicht weiter überraschen kann. In der deutschen Fassung des Beschlusses hieß es, „daß ein Entwurf einer solchen Charta der Grundrechte der Europäischen Union von einem Gremium ausgearbeitet werden sollte, das aus Beauftragten der Staats- und Regierungschefs und des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie Mitgliedern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente besteht“.94 Was in der deutschen Version als „Gremium“ erscheint, hieß in der englischen „body“ und in der französischen „enceinte“. Im Spanischen und Italienischen stand „órgano“ und ähnlich im Schwedischen „organ“, während die Dänen „udvalg“ bevorzugten. Die portugiesische Übersetzung lautete „instância“, wohingegen man sich im Niederländischen nicht auf einen Begriff einigen konnte und sowohl von „vergadering“ wie von „forum“ sprach. Auch ohne diesen linguistischen Exkurs fortzusetzen, scheint er doch eindeutig zu signalisieren, dass das Wort „Konvent“ offensichtlich nicht zur Verfügung stand. Angesichts dieser babylonischen Sprachverwirrung ist es kaum verwunderlich, dass das „Gremium“ in seiner ersten Arbeitssitzung am 1. Februar 2000 „Name des Gremiums“ als ersten inhaltlichen Punkt auf seiner Tagesordnung stehen hatte und nach ausführlicher Diskussion mit großer Mehrheit beschloss, den Namen „Konvent“ anzunehmen.95 Diese Selbstzuweisung setzte sich rasch durch, so dass der fertiggestellte Entwurf der Grundrechtecharta von „[d]em Gremium, bekannt als ,der Konvent‘“ vorgelegt wurde.96 93 Vgl. die wenigen Bemerkungen zum Philadelphia-Konvent von Valérie Giscard d’Estaing in seiner „Henry Kissinger Rede“ in der Library of Congress, Washington, D.C., 11. Februar 2003, unter: http://european-convention.europa.eu/docs/speeches/7072.pdf (Zugriff 5. 12. 2020). 94 https://www.europarl.europa.eu/summits/kol2_de.htm#an4 (Zugriff 5. 12. 2020 – eigene Hervorhebung). Dort auch die Weiterleitung zu den anderen Sprachen. 95 Die Nachweise finden sich in meiner Originalpublikation. Die dort angegebenen Webseiten existierten bei der Überarbeitung im Dezember 2020 bedauerlicherweise nicht mehr und scheinen auch nicht ersetzt worden zu sein. 96 Charter of Fundamental Rights of the European Union. Explanations relating to the complete text of the Charter. December 2000, hrg. v. Council of the EU, Luxemburg: Office for Official Publications of the European Communities, 2001, 5.

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel

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Europäischer Rat und Europäisches Parlament griffen diese Bezeichnung ohne Umschweife und geradezu mit Selbstverständlichkeit auf,97 und das Europäische Parlament in seinen Entschließungen zum Vertrag von Nizza und zur Zukunft der Europäischen Union vom 31. Mai 2001 „empfiehlt deshalb nach dem Muster und der Mandatsaufteilung des Grundrechtekonventes die Einsetzung eines Konvents (der seine Tätigkeit Anfang 2002 aufnehmen sollte), gebildet aus Mitgliedern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments, der Kommission und der Regierungen, mit dem Auftrag, der Regierungskonferenz einen verfassungsrechtlichen Vorschlag zu unterbreiten, der auf den Ergebnissen der öffentlichen Debatte beruht und die Grundlage für die Tätigkeiten der Regierungskonferenz bilden muss“.98 Es war daher Pat Cox, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, vorbehalten, in Brüssel am 28. Februar 2002 bei der Eröffnung des Europäischen Verfassungskonvents die Delegierten an dem Ort zu begrüßen, „wo der Gedanke dieses Konvents entstanden ist“.99 Was die Herzog-Kommission durch ihre Usurpierung des populären Begriffes Konvent, obwohl ihm jede Bedeutung im europäischen Verfassungsrecht fehlt, für sich selbst in Gang gesetzt hatte, wurde damit zu einem Instrument europäischer Politik. Dabei hatten weder die Zusammensetzung der Herzog-Kommission noch die Regelungen für die Unterbreitung, Annahme oder Zurückweisung des Entwurfs einer Grundrechtecharta sich im Einklang mit außereuropäischen Modellen von Verfassungskonventen befunden. Das lässt lediglich den Schluss zu, dass Europäisches Parlament und Europäischer Rat entweder diese Verfassungskonvente in anderen Weltteilen und deren verfassungsrechtliche Begründung nicht kannten oder dass sie diese bewusst ignorierten, um dem Konzept eine spezifisch europäische Bedeutung zu geben. Unter dieser Perspektive erscheint die Erklärung von Laeken mit ihrem Ruf nach mehr Demokratie kaum für sich in Anspruch nehmen zu können, sie hätte ein „demokratisches Korrektiv für Probleme in einer demokratischen Gesellschaft“ geschaffen. Vielmehr hatte man, zumal nach dem Fehlschlag von Nizza, 97 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats anlässlich seiner Zusammenkunft in Santa Maria da Freira am 19./20. Juni 2000 unter: https://www.europarl.europa.eu/summits/ fei1_de.htm (Zugriff 6. 12. 2020) sowie die Rede von Nicole Fontaine, Präsidentin des Europäischen Parlaments, beim Europäischen Rat in Biarritz am 13. Oktober 2000 unter: https:// www.europarl.europa.eu/summits/biar-pres_de.htm (Zugriff 6. 12. 2020). 98 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 47 E vom 21. 2. 2002, 112. Bereits vor der Zusammenkunft des Europäischen Rats in Nizza hatten das Europäische Parlament wie auch die deutsche Bundesregierung die Ansicht vertreten, dass das Konventsmodell auf die bis 2004 zu bewerkstelligenden Reformen anwendbar sein könnte, vgl. Gunter Pleuger, „Die institutionelle Reform der Europäischen Union: Perspektiven auf dem Weg nach Nizza“, in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrg.), Die Reform der europäischen Institutionen, Baden-Baden: Nomos, 2002, 127, 130. 99 http://european-convention.europa.eu/docs/speeches/205.pdf (Zugriff 6. 12. 2020). Vgl. Cécile Barbier, La Convention européenne. Genèse et premiers résultats (Courrier hebdomadaire, n8 1776 – 1777), Brüssel: Centre de recherche et d’information socio-politiques, 2002, 11 – 13; Daniel Göler, Die neue europäische Verfassungsdebatte. Entwicklungsstand und Optionen für den Konvent, Bonn: Europa Union Verlag, 2002, 71 – 77.

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aus der Erkenntnis, dass etwas getan werden müsse, sich für eine Institution jenseits der Regierungskonferenzen entschlossen und diese faut de mieux Konvent genannt und damit einen Begriff ohne Bedeutung und Substanz im europäischen Verfassungsrecht gewählt, der durch die Herzog-Kommission populär und aufgewertet erschien. Damit hatte der Europäische Rat, ohne auf Verfassungstheorie oder Verfassungsrecht Rücksicht nehmen zu müssen, einen Begriff gewählt, der in einem strikt europäischen Zusammenhang undefiniert war, was ihm erlaubte, ihn nach Belieben zu formen oder auch verformen, so dass man einerseits öffentlichen Forderungen entsprechen, doch zugleich andererseits sicherstellen konnte, dass die Stellung der Regierungskonferenzen nicht unterminiert wurde. Die Erklärung von Laeken hat aus der Sicht der Verfassungstheorie die Deformation des Konventsbegriffes noch über das von der Herzog-Kommission praktizierte Beispiel hinaus weiter betrieben. Die politischen Realitäten Europas ließen keinen Hinweis auf die Resolution des Annapolis-Konvents von 1786 zu, deren Formulierung so passend für die europäische Situation erscheint, dass einige wenige kleinere verbale Änderungen ausgereicht hätten für die Einberufung eines europäischen Konvents, „um die Situation der [Europäischen Union] zu betrachten und jene weiteren Bestimmungen zu konzipieren, die ihnen notwendig erscheinen, um die [Europäischen Verträge] den Erfordernissen der Union anzupassen“. Ähnliche Zielvorstellungen hätten dann zu ähnlichen Umsetzungen und zur Wahl der Konventsmitglieder in Analogie zur Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments führen können, um „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft“100 und um die Ergebnisse dann der europäischen Öffentlichkeit vorzulegen.101 Alles dies hätte passieren können und hätte einen Europäischen Konvent im Rahmen des bekannten Verfassungsrechts positioniert. Stattdessen wurde ein Europäischer Konvent ins Leben gerufen, bei dem politische Entscheidungen an die Stelle rechtlicher Präzedenzfälle traten in der Absicht, sich einer Institution des Verfassungsrechts zu bemächtigen und diese zur Unkenntlichkeit umzumodeln. Diese Deformation schloss alle drei Teile ein: Zusammensetzung, Beauftragung und Ergebnisvorlage. Hinsichtlich der Zusammensetzung wurde der Europäische Konvent102 gemäß der Erklärung von Laeken nicht durch Wahl gebildet. Vielmehr bestand er ausschließlich aus Delegierten, die von den Staats- und Regierungschefs (28), der Europäischen Kommission (2), den nationalen Parlamenten (56) und dem Europäischen Parlament

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So die Formulierung in der Erklärung von Laeken. Als typisches Beispiel für einen amerikanischen Einzelstaatskonvent, vgl. die Verfassung von Illinois von 1848, Art. XII, Abs. 1, in: Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, II, 162. 102 Für eine reine Präsentation der Fakten, vgl. Barbier, Convention européenne, 18 – 26; Göler, Neue europäische Verfassungsdebatte, 77 – 95. 101

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(16) entsandt wurden.103 Kein Mitglied verfügte über ein von Volk erteiltes Mandat für das, was er oder sie im Europäischen Konvent zu tun beabsichtigte, noch war irgendeine Verantwortlichkeit dafür vorgesehen. Zusätzlich und über den Grundrechtekonvent hinausgehend, hatte der Europäische Konvent im Gegensatz zu jedem Verfassungskonvent kein Recht, „seine Geschäftsführer zu wählen“.104 Der Europäische Rat setzte den Vorsitzenden und seine beiden Stellvertreter ein und schwächte damit bewusst den Konvent, was nicht nur für anfängliche Spannungen und Irritationen sorgte. Dieses Leitungsgremium, zusammen mit neun weiteren Mitgliedern, stellte das Präsidium dar, eine Institution, die dem Grundrechtekonvent ebenso wie allen anderen Verfassungskonventen unbekannt ist. Dieses Präsidium, von denen zwei Drittel von Rat, Kommission und nationalen Regierungen entsandt worden waren, umfasst acht Mitglieder, auf die der Konvent keinerlei Einfluss hatte,105 hatte die Aufgabe, den Gang der Verhandlungen zu leiten und war damit die Verkörperung des Einflusses der Staats- und Regierungschefs auf die Debatten und ihre letztlichen Ergebnisse. Hinsichtlich der Beauftragung hatte die Erklärung von Laeken bereits die gewünschten Ergebnisse im Blick gehabt. Abweichend von Europäischen Rat von Köln hatte sie eine Terminierung des Konvents auf ein Jahr festgesetzt,106 während normalerweise ein Verfassungskonvent solange tagt, bis er seine Aufgabe erledigt hat.107 Allerdings hatte der Konvent das Recht, seine Geschäftsordnung aufzustellen, doch hatte die Erklärung von Laeken festgelegt, dass bestimmte Auflagen erfüllt werden mussten. Diese waren als „Arbeitsmethoden“ verschleiert. Doch während der Europäische Rat in Tampere darunter in der Tat prozedurale Aspekte verstanden hatte, bedeutete das nun u. a.: „Der Rat wird über den Stand der Arbeiten des Konvents auf dem Laufenden gehalten.“ Konkret hieß das, der Konventsvorsitzende „legt auf jeder Tagung des Europäischen Rates einen mündlichen Bericht über den Stand der Arbeiten vor“. Die Absicht war offensichtlich, diente sie doch dazu, „die Ansichten der

103 Der australische Verfassungskonvent von 1998 war zu gleichen Teilen aus gewählten und ernannten Mitgliedern zusammengesetzt. 104 Verfassung des Staates New York von 1894, Art. XIV, § 2, in: The Federal and State Constitutions, Colonial Charters, and Other Organic Laws of the States, Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States, hrg. v. Francis Newton Thorpe, 7 Bde., Washington: Government Printing Office, 1909, V, 2736. 105 Vgl. die kritischen Bemerkungen zu diesem Punkt von Jürgen Meyer, in: Frankfurter Rundschau, 19. Mai 2003, 7. Vgl. auch Göler, Neue europäische Verfassungsdebatte, 75 – 77. 106 Laut Erklärung von Laeken sollte die Dauer ein Jahr sein, so dass das Abschlussdokument dem nachfolgenden Europäischen Rat vorgelegt werden sollte. Dieses war dann der von Thessaloniki vom 19./20. Juni 2003, vgl. https://www.consilium.europa.eu/media/20839/76285. pdf (Zugriff 6. 12. 20220). 107 Vgl. jedoch die Verfassung von Uruguay, die den Verfassungskonvent auf ein Jahr begrenzt: Constitución de la República Oriental del Uruguay von 1967 in der Amendierung von 2004, Art. 331, unter: https://parlamento.gub.uy/documentosyleyes/constitucion (Zugriff 7. 12. 2020).

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VII. Europa/Europäische Union

Staats- und Regierungschefs einzuholen“.108 Dieser institutionalisierte Einfluss und Druck von außen konnte nicht ohne Rückwirkungen auf den „Konventsgeist“ bleiben, der, wie es Giscard d’Estaing zum Auftakt formulierte, ein „Schmelztiegel“ werden sollte, „aus dem heraus Monat für Monat ein gemeinsames Konzept Form annimmt“.109 Was die Vorlage betrifft, hatte die Erklärung von Laeken bewusst das Ergebnis offengelassen und nicht darauf bestanden, dass der Konvent einen geschlossenen Entwurf erstellt. Vielmehr war es seine Aufgabe, „sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“, womit ihm die Kompetenz genommen war, ein fertiges Dokument zu erstellen, ein Recht, das der Grundrechtekonvent durchaus noch besessen hatte.110 Von keinem Verfassungskonvent ist bekannt, dass ihm ein vergleichbar restriktives Mandat auferlegt worden war. Mithin legte Giscard d’Estaing dem Europäischen Rat in Thessaloniki am 20. Juni 2003 keinen ausgearbeiteten Vertrag einer zukünftigen Verfassung vor, sondern das, von dem er hoffte, es möge „die Grundlage für einen Vertrag“ dieser Art darstellen.111 Dagegen heißt es im anerkannten Verfassungsrecht: „[D]ie Verfassung, auf die sich ein derartiger Konvent einigen mag, wird dem Volk zur Ratifizierung oder Zurückweisung vorgelegt.“112 Was für das Volk von Kalifornien im 19. Jahrhundert genauso selbstverständlich war wie das von Idaho heute, um nur diese beiden Beispiele herauszugreifen, sah die Erklärung von Laeken komplett anders. Der rechtliche Gehalt des Schlussdokuments des Europäischen Konvents, sollte es denn überhaupt ein derartiges geben, wurde von Anbeginn bewusst minimiert. Der Europäische Rat von Laeken hatte deutlich gemacht, dass er ein so geartetes Dokument lediglich als „Empfehlungen“ ansehen würde. Dieselben Staats- und Regierungschefs, die stets für Demokratie und Transparenz und eine breite öffentliche Debatte eingetreten 108

Alle Zitate aus dem Text der oben angeführten Laeken Erklärung. Eröffnungsrede von Valéry Giscard d’Estaing vom 26. Februar 2002, unter: http://euro pean-convention.europa.eu/docs/speeches/3.pdf (Zugriff 6. 12. 2020). 110 „Dieses Gremium soll rechtzeitig vor dem Europäischen Rat im Dezember 2000 einen Entwurf vorlegen. Der Europäische Rat wird dem Europäischen Parlament und der Kommission vorschlagen, gemeinsam mit dem Rat eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf der Grundlage des Entwurfs feierlich zu proklamieren. Danach wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Verträge aufgenommen werden sollte. Der Europäische Rat beauftragt den Allgemeinen Rat, bis zum Europäischen Rat in Tampere die erforderlichen Schritte einzuleiten“ (Schlussfolgerungen des Europäischen Rates Köln 3./ 4. Juni 1999, unter: https://www.europarl.europa.eu/summits/kol2_de.htm#an4, Zugriff 6. 12. 2020). 111 CONV 820/03 (Zugriff 6. 12. 2002). 112 Verfassung von Kalifornien von 1879, Art. XVIII, Abs. 2, in: The Federal and State Constitutions, ed. by Thorpe, I, 446. Bezüglich derselben Bestimmung in heutiger Wortwahl, vgl. Verfassung von Idaho von 2002, Art. XX, Abs. 4, in: Constitutions of the United States: National and State, publ. for the Legislative Drafting Research Fund of Columbia University, hrg. v. Shirley S. Abrahamson u. a., Binder 2, Dobbs Ferry: Oceana Publications, 2002, ID 50. Vgl. Auch die Verfassung des Staates New York von 1894, Art. XIV, § 2, in: The Federal and State Constitutions, hrg. v. Thorpe, V, 2736. 109

2. Der Europäische Konvent: Ein Etikettenschwindel

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waren, bestanden auf völlig unverbindlichen Ergebnissen des Konvents, um sich die alleinige Entscheidung vorzubehalten: „Zusammen mit den Ergebnissen der Debatten in den einzelnen Staaten über die Zukunft der Union dient das Abschlussdokument als Ausgangspunkt für die Arbeit der Regierungskonferenz, die die endgültigen Beschlüsse fassen wird.“113 Weder in der Verfassungstheorie noch im bestehenden Verfassungsrecht ist ein vergleichbares Prozedere im Zusammenhang mit einem Verfassungskonvent bekannt. Weder nach Form und Struktur entsprach der Europäische Konvent einem Konvent, wie ihn das bestehende Verfassungsrecht kennt, doch am wenigsten nach seiner inhaltlichen Ausgestaltung. Er war keine Institution des Volkes, sondern verdankte seine Existenz wie seine Ausgestaltung allein den Staats- und Regierungschefs, denen er ausgeliefert war und die schließlich über seine Ergebnisse entschieden und in ihrem Sinne damit umgingen. Das war mehr als eine Zurückweisung des bestehenden Verfassungsrechts, schon eher seine Verhöhnung, mit der man eine politische Institution geschaffen hatte, die man absichtlich Konvent nannte, um auf diese Weise eine Legitimation durch das Volk zu suggerieren, während man jedoch zur gleichen Zeit deutlich machte, dass man keinerlei Absicht habe, sich dessen Ergebnis zu beugen. In normaler politischer Sprache kann der Europäische Konvent kaum als ein beratender Ausschuss bezeichnet werden, der in der Regel in der Abwicklung seiner Tätigkeit unabhängiger ist, sondern eher als eine deutsche Parlamentskammer des frühen 19. Jahrhunderts, die von der Willkür eines Monarchen abhängig war. So gesehen handelt es sich um eine irreführende Bezeichnung, so dass dieser sogenannte Europäische Konvent nicht für sich beanspruchen kann, die theoretische Basis für eine spezifisch europäische Ausgestaltung des Verfassungskonvents für die Zukunft geliefert zu haben.114 Zusammensetzung und Beauftragung bestimmte die Arbeit des Europäischen Konvents. Ohne über eine eigene Legitimation zu verfügen, hatte er weder das Mandat noch den Willen, eine europäische Vision zu entwickeln, wie es der Philadelphia-Konvent getan und mit seinem „großen Kompromiss“ jene Durchschlagskraft gewonnen hatte, die ihn erfolgreich werden ließ. Der Europäische Konvent fand weder diese Kraft noch Inspiration, seine Beauftragung zu sprengen und jene Schizophrenie zu durchbrechen, möglichst breit das Volk einzubeziehen, aber es nicht entscheiden zu lassen. Doch um genau diesem Vorwurf, das Volk nicht ernst zu nehmen, entgegenzuwirken, wurden Verfassungskonvente eingerichtet, und dort, wo sie in ihrer klassischen Form bestehen, haben sie sich in diesem Sinn durchaus bewährt. Einen Konvent hingegen zum eigenen Machterhalt zu instrumentalisieren suchen, hinterlässt nicht mehr als einen faden Beigeschmack und einen 113

So in der oben zitierten Erklärung von Laeken. Es ist jedoch unverkennbar, dass der am 2. Mai 2003 ins Leben gerufene ÖsterreichKonvent durch den Europäischen Konvent inspiriert war, der ebenso wenig der traditionellen Vorstellung eines Verfassungskonvents entspricht, sich jedoch in Zusammensetzung, Aufgaben und Ergebnisvorlage und -behandlung deutlich von dem Europäischen Konvent unterschied. Vgl. dazu: http://www.konvent.gv.at/K/Willkommen_Portal.shtml (Zugriff 7. 12. 2020). 114

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VII. Europa/Europäische Union

Scherbenhaufen – und dennoch wurde er in den Lissabon-Vertrag übernommen und ist bis heute gültiges EU-Recht.115

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“: Lehren für die Zukunft?116 Als 1889/90 innerhalb weniger Monate insgesamt sechs neue Staaten in die Union der Vereinigten Staaten von Amerika aufgenommen wurden – nie zuvor waren in der einhundertjährigen Geschichte der Vereinigten Staaten so viele Staaten gleichzeitig in die Union aufgenommen worden, und auch nie wieder seither –, wurden in der Folge an der Ostküste Stimmen laut, dass aus politischen Gründen nunmehr kaum bevölkerte, unzivilisierte Staaten im fernen Westen Einfluss auf die amerikanische Politik zum Nachteil der Bevölkerungsmehrheit und der gesamten Union gewinnen würden.117 Ungeachtet dieser Kassandrarufe hielt der hundert Jahre alte Kompromiss, auf dem die Vereinigten Staaten begründet sind, und auch im 21. Jahrhundert gibt es keine ernst zu nehmende Stimmen, die die politische Gleichheit der Staaten in Frage stellen, obwohl der kleinste von ihnen annähernd so viele Einwohner wie Luxemburg aufweist und der größte nahezu die Hälfte der von Deutschland erreicht und insgesamt die Bevölkerungsverteilung in etwa der in der Europäischen Union vergleichbar ist mit ungefähr zwei Drittel der Gesamtbevölkerung in einem Viertel der Staaten. Der amerikanische Kompromiss, auf den noch näher einzugehen sein wird, hatte durchaus seine Vorgeschichte, und der Schaffung der Vereinigten Staaten mit der Verfassung von 1787 als eine, wie es in der Präambel dieser Verfassung heißt, „vollkommeneren Union“, gingen durchaus Jahre und Jahrzehnte einer weniger vollkommenen Union, ja gar keiner Union voraus. Und dass aus einer Elitenkonstruktion ein auch emotional im Volk verankertes Staatsgebilde wurde, dass aus einem Völkerrechtsobjekt ein Verfassungssubjekt wurde, erscheint allein aus der Retrospektive als zwangsläufig, während für die jeweils direkt Beteiligten stets auch andere Optionen denkbar erschienen. Vorausgegangen waren Jahrzehnte, deren Gemeinsamkeiten aus Sicht der späteren Staaten auf ihre, wenn auch unterschiedlich zu gewichtende politische und 115 Art. 48 der Konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union, in: Amtsblatt der Europäischen Union C 202 (7. 6. 2016), 42. 116 Überarbeitete Fassung meines Beitrags „Zwei Kontinente auf dem Weg zu einer more perfect Union? Oder wie man keine europäische Verfassung schafft“, in: Italien und Europa. Festschrift für Hartmut Ullrich zum 65. Geburtstag, hrg. v. Annette Jünemann u. a. (Italien in Geschichte und Gegenwart, hrg. v. Luigi Vittorio Ferraris u. a., 28), Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2008, 231 – 245. 117 Vgl. dazu u. a. Frederick Jackson Turner, „The Problem of the West“ [1896], in: ders., The Frontier in American History, New York: Henry Holt, 1921, 208 – 209.

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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wirtschaftliche Abhängigkeit von Großbritannien und die Tatsache beschränkt waren, dass ihre jeweilige Bevölkerung in der Regel mehrheitlich von Engländern und deren Abkömmlingen abstammte. Die Unterschiede betrafen Entstehung und Geschichte der nachmaligen Staaten, ihren politischen Status als Kolonie, die wirtschaftliche Situation, die Religionszugehörigkeit ihrer Bevölkerung und den Umfang und die ethnische Zusammensetzung des nicht-englischen Bevölkerungsanteils. Jede der schließlich dreizehn Kolonien war politisch und ökonomisch auf Großbritannien ausgerichtet, während sie so wenig untereinander verband, dass 1754 ein von einer kleinen Gruppe betriebener Versuch, Großbritannien um die Errichtung einer gemeinsamen Regierung für die englischen Kolonien in Amerika unter weitgehender Wahrung bestehender Institutionen anzugehen, bereits im Vorfeld am Desinteresse bzw. der Ablehnung der einzelnen Kolonien scheiterte.118 Die Situation änderte sich ab 1763 aufgrund der Neugestaltung der britischen imperialen Politik. Den Widerstand, den sie hervorrief, nutzte die koloniale Elite, um ein gemeinsames Handeln aller Kolonien zu planen und durchzuführen. Aber es folgten nie alle Kolonien den Aufrufen zu gemeinsamen Kongressen und Aktionen. Dennoch beanspruchte man in aller Regel, für alle dreizehn Kolonien zu sprechen, und mit diesen Abweichungen aus unterschiedlichsten Gründen mochte man leben, solange es sich um politische Erklärungen ohne rechtsverbindlichen Charakter handelte. War hingegen Einmütigkeit geboten, wie bei der Erklärung und Rechtfertigung der Unabhängigkeit am 2. und 4. Juli 1776, wurde diese auch erreicht. Gleiches galt auch für den Verfassungsvertrag, die Konföderationsartikel, die die Delegierten der dreizehn Staaten nach fast zweijährigen Beratungen am 15. November 1777 unterzeichneten und der nach der Ratifizierung durch die Legislativen aller dreizehn Staaten entsprechend einem völkerrechtlichen Vertrag am 1. Mai 1781 in Kraft trat. In ihm versicherten sich die Staaten gegenseitig ihrer Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit (Art. II) und verpflichteten sich in einem festen Freundschaftsbund des gegenseitigen Beistands (Art. III). Die Bürger eines Mitgliedstaates, mit Ausnahme – nach heutiger Terminologie – von „Sozialhilfeempfängern“, genossen Niederlassungsfreiheit in allen Mitgliedsstaaten, und Gerichtsurteile wurden wechselseitig anerkannt (Art. IV). Jeder Staat war in dem zentralen Organ, dem Kongress, mit einer Stimme vertreten (Art. V), für dessen Beschlüsse die Zustimmung von mindestens neun Staaten erforderlich war (Art. IX). Außerhalb der Sitzungsperiode des Kongresses führte ein Staatenkomitee die Geschäfte, in dem mindestens neun Staaten vertreten sein mussten, die einstimmig entschieden (Art. X). Die Befugnisse des Bundes erstreckten sich im Wesentlichen auf begrenzte Kompetenzen im Bereich von Außenpolitik, Außenwirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Verteidigung (Art. IX). Die Konföderationsartikel hatten einen lockeren Staatenbund geschaffen, dessen zentrale Institution, der Kongress, letztlich von den Einzelstaaten und ihren Re118 Zur Vorgeschichte der amerikanischen Einigung, vgl. Horst Dippel, Die Amerikanische Revolution 1763 – 1787, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985.

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VII. Europa/Europäische Union

gierungen abhängig war, weder über eigene Einkünfte noch über politisch-militärische Druckmittel verfügte, die Bürger in den Staaten nicht erreichen konnte und für politische Entscheidungen auf die weitgehende Einmütigkeit unter den Staaten angewiesen war. Die Konföderation war zweifellos eine weniger als vollkommene Union, wenn auch besser als ihr Ruf, aber schwerfällig, nicht zuletzt, wenn es um ihre eigene Reform ging, wobei die Staaten strikt auf ihre Souveränität achteten und etwaige Machtambitionen des Kongresses energisch zurückwiesen. So wurde nach Ende des Unabhängigkeitskrieges im April 1783 zwar beschlossen, den Abtrag der angehäuften Kriegsschulden auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen, doch nach drei Jahren hatten vier der dreizehn Staaten immer noch keinen Anlass gesehen, diese Verfassungsänderung zu ratifizieren, so dass sie an fehlender Einstimmigkeit scheiterte.119 Angesichts der erheblichen Mängel des bestehenden politischen Systems schlug daher der Annapolis-Konvent, eine auf Initiative von Virginia im September 1786 einberufene Zusammenkunft von Vertretern von Virginia, Delaware, Pennsylvania, New Jersey und New York – die übrigen acht Staaten hatten teils nicht rechtzeitig, teils überhaupt nicht reagiert – zur Beratung über Probleme des zwischenstaatlichen Handels, vor, für den nächsten Mai Vertreter aller Staaten nach Philadelphia einzuberufen, „um die Situation der Vereinigten Staaten zu betrachten und jene weiteren Bestimmungen zu konzipieren, die ihnen notwendig erscheinen, um die Verfassung der Bundesregierung den Erfordernissen der Union anzupassen“. Diese sollten dann dem Kongress vorgelegt und von ihm beschlossen und anschließend, wie es die Konföderationsartikel vorsahen, von den Legislativen aller Staaten ratifiziert werden.120 Der Kongress schloss sich dem Vorschlag an und berief am 21. Februar 1787 für Mai einen Delegiertenkonvent nach Philadelphia ein „zum ausschließlichen und ausdrücklichen Zweck, die Konföderationsartikel zu revidieren und dem Kongress und den einzelnen Legislativen solche Änderungen und Bestimmungen darin vorzuschlagen, die, wenn angenommen vom Kongress und bestätigt durch die Staaten, die Bundesverfassung den Erfordernissen der Regierung und der Wahrung der Union gewachsen machen“.121 Als eingedenk dieser Beauftragung der hochkarätig besetzte Konvent im Mai 1787 in Philadelphia zusammentrat122 – allein Rhode Island hatte nicht auf den 119

Constitutional Documents of the United States of America, 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, I, 44. 120 Documentary History of the Constitution of the United States of America, 1786 – 1870, Derived from the Records, Manuscripts, and Rolls Deposited in the Bureau of Rolls and Library of the Department of State, 3 Bde., Washington: Department of State, 1894 – 1900, I, 5. 121 Ebd., I, 8. 122 Vgl. die sozioökonomische Analyse der Delegierten bei Robert A. McGuire, To Form a More Perfect Union. A New Economic Interpretation of the United States Constitution, Oxford – New York: Oxford University Press, 2003, 51 – 54; allgemeiner John C. Miller, Toward a More Perfect Union. The American Republic, 1783 – 1815, Glenview, IL: Scott, Foresman and Company, 1970, 57 – 58.

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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Kongressbeschluss vom 21. Februar reagiert123 und aus Furcht vor dem Verlust seiner Zollvorteile124 keine Delegierten nach Philadelphia entsandt –, schienen die Weichen für eine grundlegende Revision des Verfassungsvertrags von 1777 gestellt, auch wenn das Fehlen Rhode Islands Zweifel hatte aufkommen lassen, ob die gemäß Art. XIII der Konföderationsartikel letztlich gebotene Einstimmigkeit wirklich werde erreicht werden können.125 Revision der Konföderationsartikel hieß stets zugleich Verbleiben auf der Ebene des Völkerrechts und Sanktionierung des Prinzips der Einstimmigkeit, begründet in der Gleichheit der Staaten. Die Vertreter Delawares, des kleinsten Staates, hatten schon am ersten Tag klargestellt, dass sie nicht befugt waren, über eine Revision der Konföderationsartikel zu verhandeln, die die Stimmengleichheit der Staaten verändern würde.126 Doch die Mehrheit des Konvents war von Anbeginn entschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen und sich angesichts vermeintlicher oder real bestehender Gefahren, auf die nach ihrer Überzeugung der Staatenbund auch bei noch so vielen Änderungen eine Antwort zu geben nicht in der Lage sei, über den Kongressbeschluss hinwegzusetzen und eine, wie sie es nannten, „nationale Regierung“ einzurichten, bestehend aus „einer höchsten Legislative, Judikative und Exekutive“.127 Die Weichenstellung zu diesem Beschluss war geschickt vorbereitet worden, zum einen mittels der Geschäftsordnung, zum anderen über die Verfassungsfrage. Eher beiläufig und angesichts der Tatsache, dass immer noch nicht alle Delegationen am Tagungsort eingetroffen waren, hatte man in der Geschäftsordnung festgelegt, dass für die Beschlussfähigkeit die Anwesenheit von sieben Staaten ausreiche, die mit Mehrheit Beschlüsse fassen könnten.128 Es erscheint schwer vorstellbar, wie man von dieser Verfahrensregel jemals wieder zum Völkerrechtsgrundsatz der Einstimmigkeit hätte zurückkehren können. Die Verfassungsfrage war komplexerer Natur. Einerseits galten die Staatsverfassungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als älter als die Konföderationsartikel, wobei letztere wiederum nicht vom Volk, sondern allein von den Staatslegislativen ratifiziert worden seien. Daher seien sie rechtlich unterhalb der Staats123

Vgl. Documentary History of the Constitution, I, 9 – 46. So Madison in seinen Notes of Debates in the Federal Convention of 1787, Reported by James Madison, hrg. v. Adrienne Koch [1966], New York: Norton, 1987, 12 – 13. 125 Noch am Ende der Beratungen, am 10. September 1787, erklärte James Wilson, es sei „schlimmer als Torheit“, darauf zu vertrauen, Rhode Island würde im Kongress dem Ergebnis zustimmen, Notes on the Debates, Reported by Madison, hrg. v. Koch, 613. 126 The Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Max Farrand, rev. Aufl., 4 Bde., New Haven: Yale University Press, 1937, I, 4. 127 Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, I, 30 – 31. Vgl. dazu auch Calvin C. Jillson, „Ideas in Conflict: Political Strategy and Intellectual Advantage in the Federal Convention“, in: To Form a More Perfect Union. The Critical Ideas of the Constitution, hrg. v. Herman Belz u. a., Charlottesville, VA: University Press of Virginia, 1992, 314 – 324. 128 Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, I, 11. 124

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VII. Europa/Europäische Union

verfassungen einzuordnen – ein fragwürdiges Argument, da die Staatsverfassungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenfalls nicht vom Volk ratifiziert worden waren. Andererseits könne angesichts des inneren wie äußeren Bedrohungspotentials, für die das Gespenst der radikalen Demokratie ebenso wie das der Sezession beschworen wurde, das allgemeine Wohl, dessen Wahrung der Staatenbund postulierte, lediglich dann sichergestellt werden, wenn die gemeinsame Verfassung über den Staatsverfassungen rangiere und damit auch in der Lage sei, im Sinne der Elite jedem Staat seine „republikanische Regierung“ zu garantieren.129 Ausgehend von Virginia war eine bestimmte Gruppierung innerhalb der politischen Elite des Landes von Anbeginn entschlossen, die sich dank des Konvents bietende Gelegenheit zu nutzen, den Vereinigten Staaten eine grundlegend veränderte Verfassungsstruktur mit einer übergeordneten Bundesregierung unter Zurückdrängung des Einflusses der Staaten zu geben, statt sich mit einer Revision der Konföderationsartikel zu begnügen. Es ist daher vereinzelt von dem „Staatsstreich“ von Philadelphia, zumindest aber von einem außer Kontrolle geratenen Konvent gesprochen worden, der für die von ihm entworfene Verfassung kein Mandat gehabt habe.130 Dass es sich konzeptionell nicht primär um das Problem vormals unzureichender und nunmehr ausgereifter wissenschaftlicher Erkenntnisse hinsichtlich der Organisation komplexer Staatengebilde, sondern letztlich um eine politische Machtfrage handelte, wurde deutlich, als innerhalb des Konvents die Auseinandersetzung um die Frage der politischen Gewichtung der großen wie der kleinen Staaten kulminierte angesichts des Versuchs der großen Staaten, ihre Machtposition durchzusetzen. Der Streit um Vertretung entweder auf der Basis der Bevölkerung oder nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten reduzierte sich auf die Frage, ob letztlich die Mehrheit der Staaten oder die Mehrheit der Bevölkerung entscheiden sollte.131 Die kleinen Staaten fürchteten ihre Marginalisierung oder, pathetischer, dass der Verzicht auf Gleichheit mit dem Verlust ihrer Freiheit gleichzusetzen sei, während die großen Staaten sich der Gefahr ausgesetzt sahen, Opfer partikularer Interessen von Minderheiten zu werden.132 Die Lösung des den Konvent zu sprengen drohenden Konflikts, der letztlich die Grundfragen von Vertrag und Verfassung implizierte, lag in jenem „großen Kompromiss“, der den Kongress in ein Zweikammernparlament umwandelte, dessen eine Kammer auf der Grundlage der Bevölkerungszahl, die andere nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten zusammengesetzt war, so dass die Mehrheit der Bevölkerung ein Gegengewicht zur Mehrheit der Staaten bildete und umgekehrt und ein Gesetz 129

Vgl. ebd., 18 – 27. Vgl. u. a. David G. Smith, The Convention and the Constitution. The Political Ideas of the Founding Fathers, Lanham, MD: University Press of America, 1987, 21 – 26; auch Joseph J. Ellis, Founding Brothers. The Revolutionary Generation, New York: Alfred A. Knopf, 2000, 8. 131 Vgl. Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, I, 486. 132 Vgl. ebd., I, 462 – 466. 130

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung plus der der Mehrheit der Staaten bedurfte – seither die Urform und der locus classicus des Prinzips der doppelten Mehrheit.133 Die 1787 durch den Konvent geschaffene Verfassung veränderte den Charakter des Landes von Grund auf. Sie schuf jene „vollkommenere Union“, wie sie bereits in ihrer Präambel verkündete, mit einer starken Zentralgewalt auf der Basis einer strikten horizontalen Gewaltentrennung. Auch wenn sich die Zuständigkeiten des Bundes nach den Grundsätzen der Subsidiarität lediglich auf aufgezählte Bereiche, darunter die der Währungs-, Finanz- und Handelspolitik, des Copyright- und Patentschutzes, der Naturalisierung, des Post- und Rechtswesens, der Wissenschaftsförderung und der Außen- und Sicherheitspolitik, bezogen, büßten dennoch die Staaten deutlich an Souveränität ein, obwohl aufgrund teils fehlender, teils unklarer und teils widersprüchlicher Bestimmungen der gesamte Bereich der vertikalen Gewaltentrennung in der Folge offen für die Auslegung durch die Gerichte, allen voran den Obersten Gerichtshof blieb, doch politisch höchst umstritten war und die Union nach siebzig Jahren in die größte Krise ihrer Geschichte stürzte, aus der sie erst nach einem vierjährigen außerordentlich blutigen Bürgerkrieg gestärkt hervorging. Der Konvent von 1787 und seine Verfassung verdienen noch unter einem weiteren Gesichtspunkt Beachtung. Das von ihm angestrebte Ziel einer „vollkommeneren Union“ wurde allein deswegen erreicht, weil sich der Konvent ein weiteres Mal über sein Mandat hinweggesetzt hatte. In seiner Bestallung vom 21. Februar 1787 hatte der Kongress in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Konföderationsartikel das weitere Procedere klar vorgegeben: Vorlage der Beschlüsse an den Kongress, Annahme durch den Kongress, Weiterleitung an die Staaten, Annahme durch die Legislativen aller Staaten. Genau so sah es der bereits erwähnte Art. XIII des Verfassungsvertrags vor. Mit kaum einer zweiten Frage hat sich der Konvent so anhaltend und ausführlich auseinandergesetzt, wie mit dem Problem der Annahme seiner Ergebnisse, d. h. der Verfassung von 1787. Er war sich bewusst, dass genau in diesem Punkt die Trennungslinie zwischen dem völkerrechtlichen Vertrag und einer nationalen Verfassung verlief. Der völkerrechtliche Vertrag verlangte die Ratifizierung durch alle einzelstaatlichen Legislativen. Genau dieses Verfahren würde aber die Annahme unmöglich machen. Allein die bekannte Position Rhode Islands würde das Scheitern implizieren. Doch die Legislativen waren nur zu umgehen, wenn man sich auf eine höhere Legitimation berufen konnte: das Volk. Dieser Rekurs auf das Volk ließ sich 133

Vgl. dazu u. a. Joseph M. Lynch, Negotiating the Constitution. The Earliest Debates over Original Intent, Ithaca, NYund London: Cornell University Press, 1999, 8 – 30; Lance Banning, „The Practicable Sphere of a Republic. James Madison, the Constitutional Convention, and the Emergence of Revolutionary Federalism“, in: Beyond Confederation. Origins of the Constitution and American National Identity, hrg. v. Richard Beeman u. a., Chapel Hill und London: University of North Carolina Press, 1987, 162 – 187; Jack N. Rakove, „The Great Compromise: Ideas, Interests, and the Politics of Constitution Making“, in: William and Mary Quarterly, 3rd ser., 44 (1987), 424 – 457.

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VII. Europa/Europäische Union

zudem mit dem rechtlichen Argument untermauern, dass die Annahme der Verfassung Änderungen der Staatsverfassungen zumindest indirekt impliziere und die Legislativen zu derartigen Verfassungsänderungen so einfach gar nicht autorisiert seien, sondern diese nur durch das Volk selbst vorgenommen werden könnten. Aber – und hier kam wiederum die Furcht der Elite vor radikaldemokratischen Tendenzen im Lande zur Geltung – auch bei einer Ratifizierung durch das Volk war die Gefahr des Scheiterns zu groß. Die rettende Idee waren gewählte einzelstaatliche Ratifizierungskonvente, auf deren Wahl man versuchen konnte, Einfluss zu nehmen.134 Doch mussten alle dreizehn Staaten zustimmen und falls nicht, in welchen Staaten sollte dann die Verfassung gelten? Nachdem die Völkerrechtsebene mit der indirekten Ratifizierung durch das Volk unter Ausschluss der Legislativen bereits verlassen war, schien nunmehr auch Einstimmigkeit nicht mehr erforderlich, auch wenn mancher Vertreter kleiner Staaten gerne an ihr festgehalten hätte. Man einigte sich schließlich auf neun Staaten, deren Zustimmung für das Inkrafttreten der Verfassung ausreichen sollte, nachdem auch das Argument der doppelten Mehrheit nicht verfangen hatte, denn, so die eindeutige Feststellung des Juristen: „Wie die Verfassung steht, kann sie nur die Staaten binden, die sie ratifizieren.“135 So stand es dann auch in Art. VII der neuen Verfassung, und damit war die Verfassungsrevolution von 1787 komplett, zumal die anschließende Ratifizierungskampagne nicht nur von den Anhängern der neuen Verfassung geschickt inszeniert wurde, sondern auch der von ihr ausgehende Einigungszwang – einmal in Kraft getreten, blieb draußen, wer nicht zustimmte – dazu führte, dass New York seinen Widerstand schließlich aufgab und als elfter Staat ratifizierte und dass North Carolina, das zunächst die Verfassung abgelehnt hatte, sehr rasch sein Votum korrigierte, und selbst Rhode Island schließlich nichts anderes übrig blieb, als zuzustimmen.136 Blicken wir nun auf die europäischen Verfassungsbemühungen der zurückliegenden Jahre, so scheinen diese vordergründig eine Vielzahl von Parallelen zur amerikanischen Entwicklung von vor über 200 Jahren aufzuweisen. Doch so vertraut die Analogien in den Problemstellungen auch erscheinen mögen, bedarf es doch keiner weiteren Begründung, warum der amerikanische Weg zur „vollkommeneren Union“ zwar die eine oder andere Anregung zu geben vermag, aber insgesamt keinesfalls als Modell für das europäische Streben nach einer Union, die „immer 134 Vgl. Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, II, 88 – 94 u. ö. Dass man mit diesen im Konvent gegen die Staatslegislativen vorgebrachten Einwände nicht in die Öffentlichkeit während der Ratifizierungskampagne gehen konnte, ist offensichtlich, wird aber von Gordon Wood übersehen, der sich stattdessen allein auf die Argumente Madisons im Federalist bezieht, vgl. Gordon S. Wood, „The Political Ideology of the Founders“, in: Toward a More Perfect Union: Six Essays on the Constitution, hrg. v. Neil L. York, Provo, UT: Brigham Young University, 1988, 10 – 12. 135 Records of the Federal Convention of 1787, hrg. v. Farrand, II, 469, vgl. insges. 468 – 469, 475 – 479. 136 Vgl. insges. Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787 – 1791, Berlin – New York: Walter de Gruyter, 1988.

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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enger vereint“ ist,137 gelten kann. Weder scheint in Europa eine freimütige Hinwegsetzung über geltendes Recht als eine das Eis brechende politische Option denkbar, noch erlauben europäische Vergangenheit und Gegenwart auch nur im Entferntesten irgendeinen Gedanken an einen nachholenden Bürgerkrieg zur Festigung der Ergebnisse. Die historischen Beispiele des 19. Jahrhunderts zur Durchsetzung bundesstaatlicher Lösungen, sei es der Schweiz oder Deutschlands mittels Kriegs scheiden aus offensichtlichen Gründen ebenfalls aus, während die Beispiele Kanadas oder Australiens genauerer Betrachtung zu unterziehen wären.138 Wenn aber der europäische Weg ein Weg sui generis ist, warum bedient man sich dabei dann einer Terminologie, die immer wieder genau jene Parallelen suggeriert, die die europäische Politik weder einlösen will noch kann? Zwei symbolträchtige Begriffe, die inzwischen beide als politisch gescheitert gelten, nämlich der des „Europäischen Konvents“ und der der „Verfassung“,139 sollen dabei veranschaulichen, warum eine Politik der verfehlten Symbolik zwangsläufig in die Irre führen muss. Diese Politik der irreführenden Symbolik wurde bewusst seitens der europäischen Staats- und Regierungschefs mit der Einsetzung eines ausdrücklich so genannten „Europäischen Konvents“ gewählt.140 Der Begriff sollte Suggestivkraft haben, und in der Tat wurden, als der Europäische Konvent am 28. Februar 2002 zusammentrat, vereinzelt Stimmen laut, die an den Konvent in Philadelphia vor mehr als zweihundert Jahren erinnerten.141 Diese Hinweise waren jedoch selten substantiiert und mussten notgedrungen ins Leere laufen. Umso eher fällt daher auf, dass sich der Vorsitzende des Europäischen Konvents bezeichnenderweise gerade in Washington

137

Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 16. 12. 2004, 3. Vgl. dazu jedoch das nachfolgende Kap. VII. 4. 139 Zur historischen Entwicklung der europäischen Verfassungsdebatte, vgl. Wilfried Loth, Entwürfe einer Europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz, Bonn: Europa Union Verlag, 2002; auch Jürgen Bellers, Europa, EG und EU: Geschichte der Verfassung in der Zeit von 1980 bis 2000, Universität Siegen, Politikwissenschaft, o. J. Unter einem vorrangig rechtssystematischen Gesichtspunkt Thomas Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß: Wechselseitige Rezeption, konstitutionelle Evolution und föderale Verflechtung, Berlin: Springer, 2003. 140 Vgl. dazu das voraufgegangene Kap. VII. 2. 141 Vgl. „The Convention on the Future of Europe begins its work [Editorial]“, in: European Law Review, 27 (2002), 119; Beate Neuss, „Die Krise als Durchbruch. Die EU zwischen Vertragsreform und Verfassungsentwurf“, in: Internationale Politik, 57 (2002), 9 – 10; Waldemar Hummer, „Vom Grundrechte-Konvent zum Zukunfts-Konvent. Semantische und andere Ungereimtheiten bei der Beschickung des ,Konvents zur Zukunft Europas‘“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 33 (2002), bes. 325 – 328; Norbert K. Riedel, „Der Konvent zur Zukunft Europas. Die Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 35 (2002), bes. 242; auch „The EU’s constitutional convention: The founding fathers, maybe“, in: The Economist, 23. Februar 2002, 33; Youri Devuyst, The European Union at the Crossroads. The EU’s Institutional Evolution from the Schuman Plan to the European Convention, Brüssel usw.: P.I.E.-Peter Lang, 22003, 34 – 35. 138

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VII. Europa/Europäische Union

veranlasst sah, sich von ihnen zu distanzieren.142 Dabei war es nicht so sehr die Beauftragung des Europäischen Konvents durch die Erklärung von Laeken, in der es hieß, dass es die Aufgabe des Konvents sei, „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um verschiedene mögliche Antworten zu bemühen“.143 Auch wenn die Abweichung von der Wortwahl der Kongressresolution vom 21. Februar 1787 kein Zufall ist, führen doch die Unterschiede zwischen beiden Konventen und die dem Europäischen Konvent von der Politik zugewiesenen Rolle jeden Versuch eines Vergleichs sogleich ad absurdum. Der amerikanische Konvent von 1787 war ein verfassungsgebender Konvent, wie er sich in Amerika seit 1776 allmählich herausgebildet hatte, der zu dem ausschließlichen Zweck gewählt wird und zusammentritt, über die Verfassung, ihre Revision oder Grunderneuerung zu beraten, ohne dabei irgendwelche anderen politischen Funktionen auszuüben, selbst wenn der Philadelphia-Konvent letztlich sein Mandat überschritt.144 Diese Form autonom agierender Verfassungskonvente ist in den Vereinigten Staaten eine bekannte und auf Staatsebene immer wieder praktizierte Verfassungsinstitution, die als Verfassungsorgan bis heute auch in einer Reihe von Staaten Lateinamerikas und des Pazifikraums allerdings in mitunter bis zur Unkenntlichkeit modifizierter Form Anwendung findet. Im europäischen Verfassungsrecht hat diese Institution bis in unsere Tage hingegen nie wirklich Fuß gefasst und gilt als praktisch unbekannt.145 Umso problematischer ist gerade die Verwendung eines in einem europäischen Kontext vagen und inhaltlich wenig greifbaren Begriffes, dessen innerer Konnex mit dem Prozess der Verfassungsgebung praktisch erst das amerikanische Beispiel offenlegt. Doch mangels detaillierter Kenntnisse und eigener Praxis blieben diese bewusst suggerierten Analogien oberflächlich und mussten zwangsläufig in die Irre führen. Denn hinter diesen Fragen der Terminologie verbirgt sich weit mehr, und dieses sollte der Begriff Konvent weitgehend kaschieren.146 So sollte er darüber hinwegtäuschen, dass die „Europäischer Konvent“ genannte Versammlung nicht über jene Urqualifikation verfügte, deren Fehlen ihre Tätigkeit von vorneherein 142

Vgl. die Bemerkungen zum Philadelphia-Konvent von Valérie Giscard d’Estaing in seiner „Henry Kissinger Rede“ in der Library of Congress, Washington, D.C., 11. Februar 2003, unter: http://european-convention.europa.eu/docs/speeches/7072.pdf (Zugriff 5. 12. 2020). 143 https://www.cvce.eu/obj/erklarung_von_laeken_zur_zukunft_der_europaischen_uni on_15_dezember_2001-de-a76801d5-4bf0-4483-9000-e6df94b07a55.html (Zugriff 7. 12. 2020). 144 Vgl. dazu das immer noch klassische Werk von John Alexander Jameson, The Constitutional Convention; Its History, Powers, and Modes of Proceeding, Chicago: Callaghan and Company, 31873. 145 Vgl. dazu im Detail das voraufgegangene Kap. VII. 2. 146 Vordergründig wurde mit der Bezeichnung an den Konvent für den Entwurf einer Charta der Grundrechte der Union angeknüpft. Dieser „Konvent“ wurde aber offiziell nie als solcher bezeichnet, sondern hat sich den Namen selbst zugelegt, während er zugleich analog zum klassischen Verfassungskonvent in seiner Verfahrensweise und der Bestimmung seines Vorsitzes autonom und Herr seiner eigenen Ergebnisse war, vgl. dazu Kap. VII. 2.

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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fragwürdig erscheinen lässt, nämlich die durch originären Rechtsakt begründete eigenständige Legitimation.147 Der Europäische Konvent war nicht gewählt, sondern ernannt, und die Staats- und Regierungschefs hatten nicht nur detailliert seinen Umfang und seine Zusammensetzung festgelegt, sondern auch seine Gremien und seine Arbeitsweise bestimmt und sogar seine Vorsitzenden namentlich benannt. Der Konvent besaß mithin weder eine innere Autonomie, noch war er Herr seiner eigenen Beratungsergebnisse, denn: „Der Konvent prüft die verschiedenen Fragen. Er erstellt ein Abschlussdokument, das entweder verschiedene Optionen mit der Angabe, inwieweit diese Optionen im Konvent Unterstützung gefunden haben, oder – im Falle eines Konsenses – Empfehlungen enthalten kann. Zusammen mit den Ergebnissen der Debatten in den einzelnen Staaten über die Zukunft der Union dient das Abschlussdokument als Ausgangspunkt für die Arbeiten der künftigen Regierungskonferenz, die die endgültigen Beschlüsse fasst.“148

Ein durch Volkswahl legitimierter europäischer Konvent hätte sich im Konfliktfall über dieses starre Korsett hinwegsetzen können. Doch dazu hat man es bewusst nicht kommen lassen, und was hier hochtrabend Europäischer Konvent genannt und pompös inszeniert wurde, der den europäischen Verfassungskonsens zum Ausdruck bringen sollte, war in Wirklichkeit ein öffentlich tagender brain trust der Staats- und Regierungschefs, der an ihre inhaltlichen Weisungen während seiner Beratungen gebunden war und der das zu Papier bringen sollte, wozu diese, wie Nizza gezeigt hatte, selbst nicht in der Lage gewesen waren, eben ein Auftragswerk, von dem die Staats- und Regierungschefs nach eigenem Gutdünken Gebrauch zu machen gedachten, ohne dass der Konvent und sein Vorsitzender in der Folge in der öffentlichen Diskussion noch eine Rolle gespielt hätten. Die Furcht der politischen Eliten vor dem Volk scheint das einzige wirklich Verbindende zu den amerikanischen Entwicklungen von vor mehr als zweihundert Jahren gewesen zu sein. Ein Konvent, wie ihn das Verfassungsrecht kennt, erhält ein definiertes Mandat, zu dessen Erfüllung seine Mitglieder gewählt werden, der eigenständig seine Organe einsetzt und autonom debattiert. Anders als im Falle einer Kommission legt ein Verfassungskonvent keine Art Gutachten vor, sondern ein verbindliches Ergebnis, das durch ein in der Regel zuvor festgelegtes Verfahren entweder in toto angenommen oder abgelehnt werden muss. Vergleicht man damit den Europäischen Konvent, so erweist sich der Begriff von Anbeginn als Etikettenschwindel, der allein dazu dienen sollte, Glanz zu verleihen und dabei Erwartungen wecken musste, deren Einlösung seitens der Staats- und Regierungschefs weder beabsichtigt noch möglich 147 Für eine reine Beschreibung des Europäischen Konvents ohne kritische Bewertung, vgl. Klemens H. Fischer, Konvent zur Zukunft Europas. Texte und Kommentar einschließlich Begleit-CD-ROM mit Gesamtdokumentation, Baden-Baden: Nomos, 2003, 19 – 100; Cécile Barbier, La Convention européenne. Genèse et premiers résultats (Courrier hebdomadaire, n8 1776 – 1777), Brüssel: Centre de recherche et d’information socio-politiques, 2002, 18 – 26; Daniel Göler, Die neue europäische Verfassungsdebatte. Entwicklungsstand und Optionen für den Konvent, Bonn: Europa Union Verlag, 2002, 77 – 95. 148 Erklärung von Laeken.

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VII. Europa/Europäische Union

war. Nicht Europa sollte sich eine Verfassung geben, sondern die Staats- und Regierungschefs der Länder der Europäischen Union würden gegebenenfalls dieser eine „Verfassung“ geben, ein Procedere, dessen kläglicher Ausgang, wie die oben dargelegte Rhode-Island-Frage offenbart, geradezu systemimmanent vorprogrammiert war. Aber warum denn überhaupt eine Verfassung? Die Europäische Union ist ein Zusammenschluss unabhängiger Staaten auf der Basis völkerrechtlicher Verträge. Diese Verträge regeln die Beziehungen der Staaten untereinander und die Behandlung von als gemeinsam definierten Aufgaben, zu deren Zweck entsprechende Institutionen eingesetzt sind. Völkerrechtliche Verträge müssen, um geltendes Recht zu werden, von allen kontrahierenden Staaten ratifiziert werden. So ist es mit den Konföderationsartikeln geschehen. Doch erst indem sich die Amerikaner 1787 über dieses völkerrechtliche Korsett hinwegsetzten, konnte aus den Konföderationsartikeln eine Verfassung werden. Denn eine Verfassung beinhaltet mehr als die Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen und staatlichen Handelns und erschöpft sich nicht in der Einsetzung von Institutionen und der Regelung ihrer Kompetenzen. Eine Verfassung, zumal die auf den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, definiert die Grundsätze allen politischen Handelns in einem Gemeinwesen, die sich allein aus der Sicherung der Rechte und Freiheiten seiner Bürger im Sinne des Gemeinwohls legitimieren. Gemäß diesen Prinzipien werden Institutionen eingesetzt und ihre Befugnisse und Kompetenzen konzipiert, Konfliktfälle geregelt und das Procedere ihrer Anpassung und Weiterentwicklung festgelegt. Gewiss ist es legitim, darüber nachzudenken, ob die Europäische Union in der Weiterentwicklung des Vertrags von Nizza an einem Punkt angekommen war, an dem sie einer Verfassung bedurfte. Doch genauso wenig wie der amerikanische Staatenbund der Konföderationsartikel diese Verfassung aus eigener Kraft hätte schaffen können, sondern eben nur eine Revision der Staatenbundartikel in Auftrag geben konnte, genauso wenig kann der Europäische Rat, ob nun direkt oder indirekt, aus eigener Rechtsvollkommenheit eine Verfassung zu Papier bringen. Er will es ja auch gar nicht. Dies wird umso deutlicher, sieht man sich den 2003 vorgelegten Verfassungsentwurf bzw. das, was dann als „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, genauer an. Zwar enthält der Verfassungsvertrag in seinem zweiten Teil die „Charta der Grundrechte der Union“, doch wurde diese lediglich als Additiv der Verfassung, nicht als ihre prinzipielle Grundlage verstanden.149 Im Kern ging es allein um Kompetenzverteilungen zwischen den Institutionen der Union und den Mitgliedstaaten, um die Rolle dieser Institutionen und um das Gewicht der Mitgliedstaaten in der Union, sowohl absolut in Hinblick auf ihre eigene reklamierte Souveränität, als auch relativ bezüglich des eigenen politischen Gewichts im Vergleich zu dem der übrigen Mitgliedstaaten. 149

Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 41 – 54.

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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Im Grundsatz unterscheidet sich diese Problematik nicht von jener, die der Konvent von Philadelphia zu lösen hatte. Doch nicht nur divergieren die gefundenen und zum Teil nachfolgend heftig bekämpften Lösungen grundlegend voneinander. Es ist verbreitet auch nicht nachvollziehbar, warum das europäische Ergebnis Verfassung heißen sollte, wo man doch tatsächlich gar keine Verfassung zu schaffen vorhatte. Kritiker haben in der Vergangenheit den Gedanken an eine europäische Verfassung zurückgewiesen, weil es, so ihre Auffassung, kein europäisches Volk gäbe.150 Nun aber sollte es eine „Verfassung“ geben, nur bloß keinen dazu gehörigen Staat – ein Unikum in der Geschichte. Es sollte lediglich eine Europäische Union geben.151 Aber im fundamentalen Gegensatz zur amerikanischen Union152 sollte diese Union weder durch die Verfassung geschaffen werden, noch sollte sie als Synonym für einen Gesamtstaat angesehen werden, sondern als Ausdruck für den Fortbestand der Partikularität. Im rechtlichen Sinne wäre diese sogenannte Verfassung folglich keine Verfassung, die die Rechte und Freiheiten der Bürger sichert und darauf eine adäquate staatliche Ordnung konstituiert, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag mit bestenfalls einigen Verfassungselementen. Zu diesem Zweck wurde mittels des Verfassungsvertrags etwas angestrebt, was der Konvent von Philadelphia ganz bewusst zu überwinden und durch eine „vollkommenere Union“ zu ersetzen wusste. Es ist zwar sicher richtig, dass die Europäische Union durch den Verfassungsvertrag, wie es hieß, „immer enger vereint“153 sein wollte, aber eine Union im Sinne eines Bundesstaates wäre es nicht gewesen. Bei dieser Abwehrhaltung wird gerne übersehen, dass auch bei der Gründung der amerikanischen Union galt, was John Marshall noch dreißig Jahre später in der grundlegenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur amerikanischen bundesstaatlichen Ordnung feststellte: „Kein politischer Träumer war je wild genug, daran zu denken, die Grenzen niederzureißen, die die Staaten voneinander trennen

150 So etwa Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1995. 151 Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 11 (Art. I-1). Ähnlich hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Maastricht-Urteil 1994 geurteilt (BVerfGE 89, S. 155; vgl. dazu Jürgen Schwarze, „Länderbericht Deutschland“, in: ders. (Hrg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, Baden-Baden: Nomos, 2000, 142). Die Frage bleibt aber, ob durch eine Verfassung – im Gegensatz zu einem völkerrechtlichen Vertrag – nicht rechtlich eine neue Situation entstanden ist. Zur Gesamtproblematik auch, aus der Perspektive von Ende 2000, Ingolf Pernice und Franz Mayer, „La Costituzione integrata dell’Europa“, und Sergio Dellavalle, „Necessità, pensabilità e realtà della Costituzione europea“, beide in: Diritti e Costituzione nell’Unione Europea, hrg. v. Gustavo Zagrebelsky u. Mitw. v. Sergio Dellavalle u. Jörg Luther, Rom – Bari: Laterza, 2003, 43 – 68, 119 – 149. 152 Über die Bedeutung der „Union“ im amerikanischen politischen Diskurs bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, vgl. Rogan Kersh, Dreams of a More Perfect Union, Ithaca, N.Y. und London: Cornell University Press, 2001. 153 Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 3 (Präambel).

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VII. Europa/Europäische Union

und das amerikanische Volk in einer gemeinsamen Masse zu vermengen.“154 Ungeachtet der den politischen Zielsetzungen der Amerikaner von damals vergleichbaren Problemstellung für die Europäer von heute, die sich durch weitere Passagen aus dem Grundsatzurteil von 1819 belegen ließen – darunter seiner zentralen Feststellung, „dass die Regierung der Union, obwohl begrenzt in ihren Befugnissen, die höchste innerhalb ihres Handlungsrahmens ist“155 –, die die europäische Intention der Überwindung des lockeren Staatenbundes erkennen lassen, fanden sich dennoch in dem europäischen Verfassungsvertrag alle jene Bestimmungen wieder, zwecks deren Abschaffung die amerikanischen Gründungsväter die Verfassung von 1787 konzipiert hatten. So sollte die Europäische Union keine originären, sondern lediglich übertragene Rechte besitzen.156 Laut Verfassungsvertrag verfügte sie über kein eigenes Besteuerungsrecht157 noch über eigene militärische Ressourcen.158 Ihr standen mithin keine Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung ihrer Politik im Innern zur Disposition, so dass ihr lediglich das eher stumpfe, an hohe Hürden gebundene Schwert der Aussetzung der Stimmrechte eines Mitgliedsstaates blieb.159 Ohnehin scheint der gesamte Verfassungsvertrag ungeachtet seines vorangestellten Demokratiebekenntnisses eher dem ominösen napoleonischen Diktum zu folgen, eine Verfassung solle kurz – nimmt man allein den Grundsatzteil I – und unverständlich sein. Was die Amerikaner 1787 als klares Ziel einer nationalen Regierung mit Legislative, Exekutive und Judikative angingen, wurde hier unter Fortführung bestehender Einrichtungen institutionell als Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Ministerrat, Europäische Kommission und Gerichtshof definiert, wobei weder die legislativen noch die parlamentarischen Kompetenzen des Europäischen Parlaments klar definiert waren, der Ministerrat als zweite Kammer der Legislative weitgehend nebulös blieb, die Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischem Rat und Europäischer Kommission eher der zwischen einem Regierungschef und seinen Ministern glich und sich mithin leicht in einer Institution hätte zusammenfassen lassen können – „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“,160 und: „Die Kommission fördert die allgemeinen Interessen der Union und ergreift geeignete Initiativen zu diesem 154 McCulloch v. Maryland, 4 Wheaton 316, 403. Vgl. James Brown Scott, James Madison’s Notes of Debates in the Federal Convention of 1787 and Their Relation to a More Perfect Society of Nations, New York: Oxford University Press, 1918 (Ndr. Union, NJ: The Lawbook Exchange, 2001), 48. 155 McCulloch v. Maryland, 4 Wheaton 316, 405. Vgl. auch: „In Amerika ist die Souveränität zwischen der Regierung der Union und denen der Staaten geteilt. Jede von ihnen ist souverän in Bezug auf die ihr übertragenen Aufgaben, und keine von ihnen ist souverän mit Bezug auf die der anderen übertragenen Aufgaben“ (4 Wheaton 316, 410). 156 Amtsblatt der Europäischen Union C 310, 14 (Art. I-11). 157 Ebd., 36 – 37 (Art. I-53, I-54). 158 Ebd., 31 (Art. I-41). 159 Ebd., 38 – 39 (Art. I-59). 160 Ebd., 19 (Art. I-21).

3. Der verpasste Anlauf zu einer „vollkommeneren Union“

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Zweck“161 – und der Gerichtshof der Europäischen Union, der aus dem Gerichtshof, dem Gericht und Fachgerichten bestehen sollte, ohne irgendeine Aussage über Aufgaben, Zuständigkeiten und Zuordnungen der unterschiedlichen Gerichte.162 Diese Unklarheiten scheinen ein Markenzeichnen des europäischen Verfassungsvertrags, der sich auf die Bürger und die Staaten berief, von den Staaten abhängig war und ihre Bürger nicht erreichen konnte. Was sollte letzterer dann von den verbindlich definierten Zielen der Union halten – „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, „Die Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität“, „Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen“, „Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ usw.163 –, denn ob dafür die Kompetenzen der Union tatsächlich ausreichten, ist eine ganz andere Frage. Nicht umsonst hieß es: „Werden das Europäische Parlament und der Rat mit dem Entwurf eines Gesetzgebungsakts befasst, so nehmen sie keine Akte an, die nach dem für den betreffenden Bereich geltenden Gesetzgebungsverfahren nicht vorgesehen sind.“164 Bekanntlich ist dieser Verfassungsentwurf oder, wie er offiziell hieß, „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Er dürfte als Kuriosum in die Geschichte eingehen dank seines Versuches, einen völkerrechtlichen Vertrag mit der Aura einer Verfassung zu umgeben. Selbst wenn man bereit ist zuzugestehen, dass dieser Vertrag in vieler Hinsicht einen deutlichen Fortschritt gegenüber der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Situation der Europäischen Union dargestellt hätte, warum musste man ihn mit dem herausgehobenen und letztlich falschen Begriff der Verfassung versehen, wohl wissend, dass zudem gerade dieser Begriff in einigen Staaten mehr Abwehrkräfte in Stellung bringen als Zustimmungseffekte mobilisieren würde? War damit nicht von Anbeginn sein Scheitern impliziert? Sicher ist nichts gegen eine europäische Symbolik einzuwenden – obwohl sich selbst daran mitunter politische Kontroversen entzünden mögen –, aber bewusste Fehlbezeichnungen, die lediglich Ausdruck von Aktionismus sind, der mehr mit Etiketten als mit Inhalt Politik zu machen versucht, fördern keine Zustimmung, sondern provozieren geradezu Ablehnung, der sich seither gerne lautstark artikuliert. Europa bleibt aufgefordert, seinen eigenen Weg weiter zu gehen. Aber nur eine ebenso visionäre wie kluge und mutige, mit den Bürgern gemeinsam betriebene Politik kann erfolgreiches Voranschreiten bewirken, nicht mutwillige Täuschungen und Potemkinsche Dörfer.

161

Ebd., 21 (Art. I-26). Ebd., 24 (Art. I-29); vgl. insges. Art. I-19 – 29 bzw. die entsprechenden Art. III-330 – 385 über die Organe der Union in Tl. III. 163 Ebd., 11 (Art. I-3). 164 Ebd., 27 (Art. I-33). 162

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VII. Europa/Europäische Union

4. Europäische Union und moderner Konstitutionalismus165 In diesem abschließenden Kapitel zur Europäischen Union soll der Versuch unternommen werden, diese mit dem Thema dieses Bandes, dem modernen Konstitutionalismus, in Verbindung zu bringen. Die damit verbundene Thematik fragt nach der Bedeutung, die der moderne Konstitutionalismus für die Europäische Union besitzt und weiterhin gewinnen kann. In diesem Zusammenhang darf an das erste Kapitel dieses Teils erinnert werden, in dem es um die universellen Werte der Europäischen Union ging und festgestellt wurde, dass es sich bei Menschenrechten, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit letztlich um schlagwortartige Verkürzungen der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus handelt, mit denen verfassungsrechtliche Theorie in Politik und ihren Sprachgebrauch umgesetzt wird. Ist auf diese Weise bereits ein Zusammenhang zwischen Europäischer Union und modernem Konstitutionalismus hergestellt, scheinen dem jedoch die beiden unmittelbar voraufgehenden Kapitel entgegenzustehen, in denen das Scheitern sowohl des Europäischen Konvents als auch des Verfassungsvertrags von 2004 ausführlich dargelegt wurde. Dieses Scheitern war das Ergebnis einer europäischen Politik, die nachdrücklich auf Symbolik und deren Wirkung setzte und darüber die politischen Inhalte vernachlässigte. Erschwerend kam in dieser Situation das eklatante Versagen einer europäischen politischen Führung hinzu, verbunden mit dem Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung. Das in früheren Jahrzehnten ausschlaggebende deutsch-französische Tandem hatte unter Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Überzeugungskraft verloren, und weder der Kommissionspräsident Romano Prodi noch Tony Blair, Silvio Berlusconi oder José María Aznar waren bereit oder fähig, als Spiritus rector der Europäischen Union zu fungieren. Damit erweist sich erneut die Abhängigkeit von über den Tag hinausweisenden Vorstellungen und Visionen von Politik von der Überzeugungs- und Führungskraft der sie vertretenden politischen Eliten. Das war in den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses in den 1950er Jahren nicht anders als in den entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika der 1770er und 1780er Jahre. Doch in den Jahren der institutionellen Krise der Union vermochte die in Verantwortung stehende politische Elite Europas nicht, jenes Maß an politischer Autorität und Führungskraft auszustrahlen, das notwendig gewesen wäre, um einer Europäischen Verfassung zum Erfolg zu verhelfen, für die es eines anderen Ansatzes bedurft hätte, als sich die Staats- und Regierungschefs 2001 in Laeken auf die Fahnen schrieben. Nicht von ungefähr war die Mehrheit jener Politiker, die im Dezember 2004 die dann ge-

165 Neufassung meines Beitrags „Europas mühsame Suche nach einer Verfassung. Hilfe aus Australien?“, in: Kultur, Politik und Öffentlichkeit. Festschrift für Jens Flemming, hrg. v. Dagmar Bussiek u. Simona Göbel, Kassel: Kassel University Press, 2009, 603 – 619.

4. Europäische Union und moderner Konstitutionalismus

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scheiterte Europäische Verfassung unterzeichneten, drei Jahre später in Lissabon nicht mehr im Amt.166 Angesichts dieser Situation überrascht es nicht, dass, als es den Staats- und Regierungschefs auf der Konferenz in Nizza nicht gelang, sich auf grundlegende Reformen der Union zu verständigen, diese in symbolischen Handlungen ihre Zuflucht zu nehmen suchten. Anstelle einer weiteren intergouvernementalen Konferenz sollte ein Europäischer Konvent die notwendige Revision der Europäischen Verträge anstoßen. Zu diesem Zweck sollten die bestehenden Europäischen Verträge in einer Verfassung zusammengefasst werden, die der Konvent nicht entwerfen, für die er jedoch Vorschläge unterbreiten sollte. Die Staats- und Regierungschefs hatten Vorstellungen und Erwartungen geweckt, denen sie weder bereit waren zu entsprechen, noch die sie in anhaltenden Erfolg umzusetzen vermochten. Eine gleiche Politik der Symbolik lässt sich für die Europäische Verfassung feststellen,167 eine Idee, die dank der Rede des damaligen Außenministers Joschka Fischer in der Berliner Humboldt-Universität am 12. Mai 2000 auf die europäische Agenda kam, als er einen „Verfassungsvertrag“ und eine „konstitutionelle Neugründung Europas“ anregte.168 Nach dem Fehlschlag des Europäischen Gipfels von Nizza waren die Staats- und Regierungschefs erstmals bereit, den Gedanken einer Europäischen Verfassung aufzugreifen, schien diese doch zu erlauben, nach Schengen und dem Euro der europäischen Einigung weitere Symbolkraft zu verleihen.169 Der Augenblick erschien geeignet, erforderte doch die bevorstehende beträchtliche Erweiterung der Union um zehn neue Mitgliedsstaaten eine grundlegende Revision der Europäischen Verträge, um die europäischen Institutionen der veränderten Situation anzupassen. Die notwendige Veränderung der Verträge ließ sich mithin nutzen, um den neuen Vertrag symbolträchtig in den herausgehobenen Rang einer Verfassung zu erheben.

166

Grundsätzlich zu der Schwäche und Fragmentarisierung der politischen Führung in Europa während dieses ganzen Prozesses der Band: Derek Beach/Colette Mazzucelli (Hrsg.), Leadership in the big bangs of European Integration, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2007. 167 Zur Europäischen Verfassung als „symbolische Strategie (…) zur Stärkung der europäischen Identität,“ Achim Hurrelmann, „European Democracy, The ,Permissive Consensus‘ and the Collapse of the EU Constitution“, in: European Law Journal, 13 (2007), 350 – 351. 168 Die Rede selbst und ein Teil der Reaktionen auf sie ist zugänglich unter: https://www. cvce.eu/de/obj/rede_von_joschka_fischer_uber_die_finalitat_der_europaischen_integration_ber lin_12_mai_2000-de-4cd02fa7-d9d-4cd2-91c9-2746a3297773.html (Zugriff 11. 12. 2020). Über die Anfänge der Idee einer europäischen Verfassung, vgl. Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln: PapyRossa Verlag, 2004, 12 – 21; John Erik Fossum/Agustín José Menéndez, „The Constitution’s Gift? A Deliberative Democratic Analysis of Constitution Making in the European Union“, in: European Law Journal, 11 (2005), 380 – 410, bes. 401. 169 Vgl. dazu auch Yi-Kai Chen, Europäische Verfassung und Europäische Identität. Der EU-Verfassungsentwurf legitimatorisch betrachtet, Jur. Diss. Tübingen 2007.

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VII. Europa/Europäische Union

Es fällt schwer, in diesem Akt etwas anderes als reine Symbolpolitik zu erkennen.170 Genau wie der Europäische Konvent kein „Konvent“ in einem landläufigen Verständnis darstellte,171 genauso wenig entspricht die Europäische Verfassung dem, was man gemeinhin unter einer Verfassung versteht. Mit ihr sollte eine Flagge, eine Hymne, ein Motto und ein europäischer Feiertag Verfassungssanktion erhalten, aber es sollte eben kein europäischer Staat oder Nation geschaffen werden. Eine europäische Staatsbürgerschaft war projektiert, aber lediglich als Addition zu und in Abhängigkeit von einer nationalen Staatsbürgerschaft. Die Europäische Union sollte ihre Bürger schützen, doch verfügte sie nicht über die Möglichkeiten, dies auch glaubwürdig tun zu können. Sie besaß weder Finanzhoheit noch wirksame Mittel, die Befolgung ihrer Maßnahmen im Innern notfalls verfassungsmäßig erzwingen zu können. Ihr kam ausschließlich übertragene Gewalt zu, während alle originäre Macht bei den Mitgliedsstaaten verblieb. Die vorgeschlagene Europäische Verfassung entbehrte selbst dessen, was man allgemein unter Verfassung versteht, nämlich ein Instrument zur Sicherung der Rechte und Freiheiten der Bürger durch Schaffung entsprechender Institutionen sowie der Übertragung der notwendigen Befugnisse und die Sicherstellung ihrer Funktionsfähigkeit. Statt die bestehenden europäischen Institutionen grundlegend umzugestalten, um sie in Einklang mit diesen Erfordernissen zu bringen, sollten diese lediglich behutsam verändert werden. Will man nicht von der rein juristischen Konstruktion der Grundnorm ausgehen, die bereits die bestehenden Europäischen Verträge als „Verfassung“ begreift, war der nunmehr vorgeschlagene Verfassungsvertrag selbst rechtlich zunächst nichts anderes als ein völkerrechtlicher Vertrag mit einigen konstitutionellen Komponenten. Wie alle völkerrechtlichen Verträge musste er, um Rechtsgültigkeit zu erlangen, von allen vertragschließenden Parteien ratifiziert werden, wobei jeder Vertragspartner eigenständig darüber entscheiden konnte, wie diese Ratifizierung zu erfolgen hatte.172 Dabei muss noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass die institutionellen Reformen der Union diese Verfassungselemente weder bedingten noch zur Voraussetzung hatten, sondern diese einen reinen Zusatz oder, juristisch gesehen, ein obiter dictum darstellten. Dennoch hat die Europäische Union diese wie alle weiteren seitherigen Krisen, wenn auch mitunter mit fragwürdigen Kompromissen überlebt, doch ist nicht zuletzt das Anwachsen der euroskeptischen und populistischen Stimmen ein Indikator für die fortbestehende Führungsschwäche, der es an Impulsen, Entschlossenheit und 170

Vgl. Jürgen Bast, „The Constitutional Treaty as a Reflexive Constitution“, in: Philipp Dann/Michał Rynkowski (Hrsg.), The Unity of the European Constitution, Berlin: Springer, 2006, 13 – 36; Jürgen Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip. Grundgesetz und Europäische Union, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, bes. 319 – 370. 171 Vgl. George Tsebelis/Sven-Oliver Proksch, „The Art of Political Manipulation in the European Convention“, in: Journal of Common Market Studies, 45 (2007), 157 – 186; Fossum/ Menéndez, „The Constitution’s Gift?“, 402 – 405. 172 Zum Ratifizierungsprozess generell, vgl. Thomas König u. a. (Hrsg.), Plebiszit und Ratifikation. Eine vergleichende Untersuchung von Referenden zur Europäischen Verfassung, Speyer: Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, 2006.

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Autorität fehlt. Der politische Zynismus, der Bevölkerung mit „Konvent“ und „Verfassung“ Sand in die Augen zu streuen, hat sich bitter gerecht und beide Begriffe für jede zukünftige europäische Politik verbrannt. Somit bleibt die Konsolidierte Fassung der Europäischen Verträge von 2016 als die aktuelle Ausgangslage. Was aber haben diese Verträge mit dem modernen Konstitutionalismus zu tun?173 Und bietet nicht gerade der moderne Konstitutionalismus Ansätze und Perspektiven für eine institutionelle Weiterentwicklung der Union, die zielführender als die gescheiterte Symbolpolitik der Vergangenheit sein könnten? Welche Berührungspunkte ergeben sich aber auf der Ebene eines völkerrechtlichen Vertrags, selbst wenn man feststellen muss, dass der Verfassungsvertrag von 2004 endgültig am 13. Dezember 2007 in Lissabon stillschweigend zu Grabe getragen wurde. Von dem, was verblieb, wies nichts mehr auf eine Verfassung hin, solange man unter diesem Begriff mehr versteht, als was man schon zu Maastricht gesagt hat.174 Ohne auf die Einzelheiten der institutionellen Reformen und in diesem Zusammenhang auf spezielle Abweichungen von der vormaligen Verfassung einzugehen, kann festgestellt werden, dass dank der grundlegenden Neukonzipierung des Lissabonner Vertrages alle Passagen entfernt wurden, die den vormaligen Verfassungsvertrag, selbst unter Berücksichtigung des darin ausgedrückten begrenzten Verständnisses von Verfassung, als Verfassung ausgewiesen hatten. Von einer Rettung der Verfassung kann daher keine Rede sein. Geblieben ist allein die institutionelle Reform. Ungeachtet aller dieser Widrigkeiten wird man in dem Vertrag über die Europäische Union nicht lange suchen müssen,175 um auf Prinzipien des modernen Konstitutionalismus zu stoßen. Das gilt natürlich nicht für das Prinzip der Volkssouveränität. Zwar handelt es sich hierbei um ein Kernprinzip von Verfassungen auf der Basis des modernen Konstitutionalismus. Doch bei völkerrechtlichen Verträgen ist in aller Regel nicht das Volk der Akteur, vielmehr treten Staaten als kontrahierende Parteien auf, so dass das Volk als Legitimationsgrundlage durchweg ausscheidet. Dass es sich bei dem Vertrag über die Europäische Union hingegen nicht um einen normalen völkerrechtlichen Vertrag handelt, wird bereits deutlich, wenn es um universelle Prinzipien geht, die hier im Gegensatz zu gängigen Völkerrechtsverträgen wiederholt herausgestrichen werden. Das beginnt mit der Präambel, die sich auf Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit „als universelle Werte“ beruft und um „Frieden, Sicherheit und Fortschrift in Europa und in der Welt“ bemüht. Ziel des Vertrags ist die Verwirklichung „einer immer engeren 173 Zur Entwicklung meines Konzepts des modernen Konstitutionalismus, vgl. oben Kap. I. 1. 174 Vgl. etwa Joseph H. H. Weiler, The Constitution of Europe. Do the New Clothes Have an Emperor? And Other Essays on European Integration, Cambridge: Cambridge University Press, 1999, 4, für den seinerzeit Masstricht „als der bedeutendste Verfassung-,Moment‘ in der Geschichte des europäischen Baus“ zählte. 175 Grundlage der nachfolgenden Zitate ist die Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union von 2016, in: Amtsblatt der Europäischen Union C 202 (7. 6. 2016), 13 – 45.

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Union der Völker Europas“ sowie von „Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern“ (Art. 1). Von zentraler Bedeutung ist Art. 2: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“, da dessen Verletzung gemäß Art. 7 zur Aussetzung bestimmter Rechte des vertragsverletzenden Mitgliedsstaates führen kann. Art. 3 ergänzt: „Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.“ Wir können es mit diesen Beispielen bewenden lassen, um deutlich zu machen, dass universelle Prinzipien und das Eintreten für das, was die Europäische Union als ihre „universellen Werte“ betrachtet, einen hohen Stellenwert in diesem Vertrag haben, der in diesem Punkt keinen Vergleich mit nationalen Verfassungen zu scheuen braucht. Das gleiche lässt sich von Menschenrechten sagen, die als fester Bestandteil dieser „universellen Werte“ wiederholt erwähnt werden. Art. 6 fügt hinzu: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“ Zusätzlich ist die Union bemüht, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten beizutreten, deren „allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ sind. Bereits diese Betonung von universellen Werten und Menschenrechten begrenzen die Befugnisse der Europäischen Union. Doch findet das Prinzip der begrenzten Regierung seine rechtliche Basis in Art. 4, der deutlich macht, dass „[a]lle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten“ bei den Mitgliedsstaaten verbleiben. Mithin gibt es die doppelte Begrenzung einerseits durch die Mitgliedsstaaten und andererseits durch die Verträge. Letzteres lässt sich jedoch nicht so verstehen, dass damit indirekt das Prinzip der Verfassung als höchstes Gesetz anerkannt sei. Die Verträge stellen den rechtlichen Rahmen für die Bereiche dar, in denen die Union zuständig ist. Das ist nicht identisch mit dem umfassenden Rahmen einer Verfassung. Hinzu kommt, dass eine Verfassung sakrosankt ist und das Volk sie gegebenenfalls ändern müsste. Über die Verträge und ihre Änderung entscheiden hingegen nicht die betroffenen Bürger, sondern die Mitgliedsstaaten, deren Regierungen zwar innerhalb des Organgefüges der Union miteinander handeln, deren demokratische Legitimation und politisches Mandat jedoch nicht in der Union und ihren Verträgen, sondern allein im nationalen Rahmen begründet sind. Hier kommt mithin der Unterschied zwischen Verfassung und Vertrag mit aller Deutlichkeit zum Tragen. Es ist die besondere Qualität des Vertrags über die Europäische Union, dass diese Abgrenzung eines völkerrechtlichen Vertrags von einer innerstaatlichen Verfassung nicht auf das Prinzip der repräsentativen Regierung zutrifft, was in der Regel kein

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Grundsatz völkerrechtlicher Verträge ist. Dagegen erklärt Art. 10 kurz und bündig: „Die Arbeitsweise der Union beruht auf der repräsentativen Demokratie.“ Das klingt zwar rechtlich eindeutig, kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass zwar das Europäische Parlament die Vertretung der Unionsbürger ist, aber weder der Europäische Rat noch der Rat von ihnen gewählt wird. Der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament bestätigt, das jedoch auf die Auswahl der Kommissare keinen direkten Einfluss hat. Ungeachtet der „Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze“ (Art. 9 – 12) hat die Union trotz ihrer forschen Erklärung und der Anerkennung des Prinzips der repräsentativen Regierung fraglos ein Demokratieproblem. Das kommt ebenfalls beim Prinzip der Gewaltentrennung zum Tragen. Zwar lässt sich argumentieren, dass dieses vertraglich verankert sei, da die Kommission die Exekutive verkörpere, Rat und Parlament die Legislative und der Europäische Gerichtshof die Judikative. Doch wie und mit welcher dem modernen Konstitutionalismus entnommenen Verfassungstheorie lässt sich in dieses System der Gewaltentrennung der Europäische Rat einordnen? Von ihm heißt es in Art. 15: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest.“ Diese Aufgabenbeschreibung klingt in etwa wie die „Richtlinienkompetenz“ des deutschen Bundeskanzlers. Trifft dieser Vergleich auch nur annähernd den Kern, wäre der Ort des Europäischen Rates im Gewaltengefüge die Exekutive, was der Nachsatz des ersten Absatzes des Artikels zu ergänzen scheint: „Er wird nicht gesetzgeberisch tätig.“ Doch wie verträgt sich das mit Art. 17 über die Kommission, von der bestimmt wird: „Sie übt nach Maßgabe der Verträge Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus.“ Gibt es also so etwas wie eine Ober- und eine Unterexekutive? Mit der Theorie der Gewaltentrennung ist der Europäische Rat offensichtlich nicht zu fassen. Er fungiert außerhalb von ihr und ist stattdessen das Einfallstor der Mitgliedstaaten in den Handlungsbereich der Union, speziell der Kommission. Ihr Zuständigkeits- und politischer Handlungsbereich ist mithin nicht allein durch die Verträge definiert, sondern wird darüber hinaus zweimal pro Halbjahr durch die Staats- und Regierungschefs feinjustiert. Im Rahmen dieser Gegebenheiten wird Verantwortlichkeit als weiteres Prinzip des modernen Konstitutionalismus nachdrücklich betont. Art. 14 bestimmt, dass das Europäische Parlament die „Aufgaben der politischen Kontrolle“ wahrnimmt, und Art. 17 ergänzt: „Die Kommission ist als Kollegium dem Europäischen Parlament verantwortlich.“ Konkret bedeutet das, dass das Parlament der Kommission das Misstrauen aussprechen kann, was den Rücktritt der gesamten Kommission zur Folge hat. Politische Verantwortlichkeit ist also durchaus ein Prinzip innerhalb der Europäischen Union. Gleiches lässt sich von dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sagen. Dass der Europäische Gerichtshof sich ein herausragendes Ansehen als Wahrer des europäischen Rechts, aber auch als wesentlicher Akteur im europäischen Eini-

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gungsprozess sichern konnte, ist ausschließlich seiner Unabhängigkeit zuzuschreiben, die in Art. 19 festgehalten ist: „Als Richter und Generalanwälte des Gerichtshofs und als Richter des Gerichts sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten.“ Dank Wahrung dieses Prinzip hat der EuGH als Institution heute überragende Bedeutung, und die zeitweiligen Versuche des Bundesverfassungsgerichts in den zurückliegenden Jahren sich gegen den EuGH zu positionieren, waren eher schlecht beraten und nicht allein unter einem europäischen Gesichtspunkt rechtlich wenig hilfreich. Bleibt als letzter Grundsatz des modernen Konstitutionalismus die Verfassungsänderung unter, sei es auch nur indirekter Mitwirkung des Volkes. Was ein völkerrechtlicher Vertrag zunächst pauschal auszuschließen scheint, bedarf hinsichtlich des Vertrags über die Europäische Union differenzierterer Betrachtung. Das Vertragsänderungsverfahren ist in Art. 48 geregelt. Das Verfahren kann von der Regierung jedes Mitgliedsstaates, dem Europäischen Parlament oder der Kommission in Gang gesetzt werden und sich auf den ganzen Vertrag oder lediglich einzelne Teile erstrecken. Der entscheidende Akteur in diesem gesamten Prozess ist, kaum verwunderlich, der Europäische Rat, der letztlich als erweitertes Gremium unter dem Namen der „Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten“ die Entscheidung treffen wird, möglicherweise nachdem zuvor jene wenig überzeugende Konstruktion des Europäischen Konvents176 zwischengeschaltet wurde. Diese Vertragsänderung muss dann abschließend von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden, wobei jeder Mitgliedsstaat das Verfahren selbst bestimmt, also auch, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen, den geänderten Vertrag dem Volk zur Abstimmung vorlegen kann. Doch selbst wenn die Entscheidung dem nationalen Parlament überlassen wird, erscheint diese letzte Zustimmung grundsätzlich nicht weit von denen über Verfassungsänderungen entfernt zu sein. Dennoch schließt dieses Verfahren, zumal bei größeren Vertragsänderungen mit einem ungewöhnlichen Passus ab: „Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung eines Vertrags zur Änderung der Verträge vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert und sind in einem Mitgliedstaat oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der Frage.“

Genauso hatte es im Verfassungsvertrag von 2004 gestanden, und daraus hatte seinerzeit Íñigo Méndez de Vigo, das spanische Mitglied im Verfassungsausschuss, gefolgert: „Die Staaten, die den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, werden vorangehen.“177 Es dürfte dann wohl nicht wieder Frankreich sein, das ausschert. Sinnvoller wäre also gewesen, genau diesen Einigungsdruck in den Text hineinzunehmen, dass der Vertrag nach Ratifizierung durch vier Fünftel der Staaten in diesen in Kraft tritt und wer nicht ratifiziert, draußen ist. 176 177

Vgl. dazu oben Kap. VII. 2. Le Monde, 5. Januar 2005, 3.

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Fassen wir die Ergebnisse dieser Suche nach den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus im Vertrag über die Europäische Union zusammen, so zeigt sich, dass ungeachtet der Tatsache, dass es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag und keine Verfassung handelt, wir fast alle Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in ihm verankert sehen. Damit rückt dieser Vertrag inhaltlich in eine bemerkenswerte Nähe zu einer Verfassung im klassischen Sinn. Dass hier die Grundsätze von Volkssouveränität und der Verfassung als höchstem Gesetz fehlen, ist dem völkerrechtlichen Vertrag geschuldet. Gravierender ist hingegen ein anderer Punkt. Die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus finden sich nahezu ausnahmslos in jenen Teilen des Vertrags, die die supranationale Dimension der Europäischen Union ausmachen. Diese hat jedoch laut Vertrag ebenfalls eine intergouvernementale Seite, die in den Regierungskonferenzen der Staats- und Regierungschefs, also dem Europäischen Rat zum Ausdruck kommt. Dieser Europäische Rat sprengt die Vorstellungen einer Verfassung und ist mit ihr unvereinbar. Er ist aber auch für das Konstrukt der Europäischen Union eine problematische Institution, da er weder innerhalb der Union eine demokratische Legitimation besitzt – diese haben die Staats- und Regierungschefs allein auf nationaler Ebene –, noch verfügt er, anders als das Europäische Parlament und selbst die Kommission, über ein europäisches Mandat. Parlament, Kommission und Europäischer Gerichtshof sind laut Vertrag verpflichtet, die Werte und Ziele der Union zu verteidigen. Der Europäische Rat ist es nicht. Er kann – und tut es in der Tat immer wieder – aufgrund des ihm eigenen Konsensprinzips Beschlüsse fassen, die sich mit den Werten und Zielen der Union reiben können. Das kann umso leichter passieren, als er im Rahmen der Verträge anders als Parlament und Kommission unverantwortlich ist. Doch das Einfallstor der Staats- und Regierungschefs beschränkt sich nicht allein auf die Institution des Europäischen Rates und sein Handeln, sondern setzt sich informell durch ihre Möglichkeit fort, über die Parteien Druck auf das Europäische Parlament auszuüben. Da es keine europäischen Parteien gibt, besteht das Europäische Parlament aus Mitgliedern nationaler Parteien, so dass die Führungsgremien der nationalen Parteien Einfluss auf die ihren jeweiligen Parteien zugehörigen Mitglieder im Europäischen Parlament zu nehmen versuchen, selbst wenn dies der Freiheit des Abgeordnetenmandats und den Europäischen Verträgen widerspricht. Gerade weil diese Einflussnahme politisch bedingt ist, sind vertragliche Regelungen zu seiner Abwehr und zur Stärkung des Europäischen Parlaments um seiner eigenen Glaubwürdigkeit willen in hohem Maße wünschenswert. Man wird diesen kritischen Einwänden entgegenhalten, dass doch gerade diese Verbindung von supranationalen und intergouvernementalen Aspekten die Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit der Europäischen Union ausmacht. Dennoch darf man darüber nicht aus dem Blick verlieren, dass so, wie diese intergouvernementale Dimension in die Verträge eingefügt ist, sie nicht nur die immer wieder beklagten demokratischen Defizite der Union zu einem großen Maße prolongiert, sondern dass sie auch die Entwicklung der Union gemäß ihrer Werte und Ziele vielfach eher behindert als fördert. Demgegenüber stehen fraglos jene bedeutsamen Fortschritte

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der zurückliegenden Jahrzehnte, für die Binnenmarkt, Schengen, Euro u. a. die Aushängeschilder sind, die letztlich über die intergouvernementale Schiene eingebracht wurden und die Union zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Aber es gibt eben auch die andere, mehr alltäglichere Seite der häufig kleinkarierten politischen Kompromisse, da das Konsensprinzip den Europäischen Rat erpressbar macht und zu politischen Kompromissen Zuflucht zu nehmen verleitet, die den Werten und Zielen der Union wenig dienlich sind und ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen. Um derartigen politischen Versuchungen Paroli bieten zu können, liefern einmal mehr die Grundsätze des modernen Konstitutionalismus und ihre Verankerung im Vertrag über die Europäische Union jenen entscheidenden Grundstock, auf dem die Union seit Maastricht sukzessive aufgebaut hat und der ihr die Zukunft zu weisen vermag. Die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus und ihre Ausgestaltung schaffen ein weites Feld für die Weiterentwicklung und die Verbesserung der Europäischen Verträge. So könnte es angebracht erscheinen, darüber nachzudenken, den Europäischen Rat auf seine Rolle als Ideengeber zu fokussieren („Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse“). Ob es darüber hinaus, wie in Art. 15 festgehalten, erforderlich ist, dass er, wie es dort weiter heißt, die „allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten“ festlegt, wäre wohl im Zuge einer Neugewichtung von Europäischem Parlament und Europäischer Kommission näher zu bestimmen, bei der es sich dann ebenfalls anbieten könnte, den Rat auf seine Funktion als zweite Parlamentskammer unter dem strikten Gleichheitsprinzip der Mitgliedstaaten tunlichst zu beschränken. Mit derartigen Reformschritten ließe sich vermeiden, erneut zu Etikettenschwindel und reiner Symbolpolitik wie zu Beginn des Jahrhunderts Zuflucht nehmen zu müssen. Stattdessen sollte mittels einer ernsthaften Bürgerbeteiligung eine schrittweise Fortschreibung und wo nötig Neukonstituierung der supranationalen Einrichtungen der Union und deren weitere Demokratisierung auf der Basis des modernen Konstitutionalismus und im Sinne der Werte und Ziele der Union angestrebt werden.178 Das mag eines Tages dazu führen, dass aus dem Vertrag tatsächlich eine Verfassung, aus dem Völkerrechtsobjekt ein Verfassungssubjekt wird. Dann werden alle jene Probleme der innerstaatlichen Ordnung ihre Lösung erfordern, für die die Geschichte des modernen Konstitutionalismus von den Vereinigten Staaten von Amerika im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur europäischen Gegenwart ein Füllhorn an Beispielen und Modellen bereithält.179 Bis es so weit ist, wird jeder kleine Schritt auf dem Weg dorthin hilfreich sein. 178 Vgl. dazu die Auffassung von Werner Weidenfeld, Die Europäische Verfassung verstehen, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2006, 16, dass der Grundfehler der ganzen Politik darin lag, das Volk nicht in den Verfassungsprozess einzubinden. 179 Es sei an dieser Stelle der Hinweis erlaubt, dass sich bei einer zukünftigen bundesstaatlichen Ordnung durchaus der Blick auf die Entstehung der australischen Konföderation lohnen könnte, die auf den Erfahrungen der Vereinigten Staaten, der Schweiz und Kanadas aufbaute. Vgl. dazu meinen eingangs erwähnten ursprünglichen Beitrag „Europas mühsame Suche nach einer Verfassung. Hilfe aus Australien?“ mit weiterführenden Literaturhinweisen.

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5. Menschenrechte in Europa – Eine immerwährende Herausforderung180 Europäer neigen dazu, stolz auf ihre vermeintlich Jahrhunderte währende Tradition der Menschenrechte zu sein, deren Geschichte wir gerne bis in die Antike zurückprojizieren.181 Was Philosophen wie Plato und Aristoteles als Ideen konzipierten, schlägt sich in modifizierter Form heute in Gerichtsentscheidungen nieder. Ein noch nicht solange zurückliegendes Beispiel für unsere vermeintlich lange Tradition von Menschenrechten ist das Urteil des französischen Conseil d’Etat vom 26. August 2016 über das Tragen von Burkinis an öffentlichen Stränden in französischen Badeorten am Mittelmeer. Eine der Klägerinnen war die französische Liga für Menschenrechte (Ligue des droits de l’homme), die gegen das diesbezügliche Verbot als klaren Verstoß gegen die Menschenrechte protestierte. Der Richter schloss sich dieser Auffassung an und kam ohne weitere juristische Begründungen vorzulegen zu dem bemerkenswert allgemeinen Schluss, dass „die umstrittene Bestimmung eine schwerwiegende und offenkundig widerrechtliche Beeinträchtigung der fundamentalen Freiheiten darstellt, welches sind die Freiheit zu kommen und zu gehen, die Gewissensfreiheit und die persönliche Freiheit“.182 Wenn wir jedoch darauf bestehen, dass nicht jedes verkündete, beanspruchte oder gewährte Recht seiner Natur nach ein „Menschenrecht“ ist, mit dem letztlich ausschließlich jene „Rechte und Freiheiten, die jedem menschlichen Wesen zustehen“,183 gemeint sind, werden wir im Rahmen dieses Kapitels die Diskussion, ob Menschenrechte ein Mythos184 oder eine Utopie185 sind, unberücksichtigt lassen und eine engere Linie ziehen, indem wir uns strikt auf den Begriff und seine Bedeutung konzentrieren, ohne Traditionen zu konstruieren oder zu erfinden, die zweifelhaft sein mögen und deren Inanspruchnahme zu leicht die Argumentation beeinträchtigen kann, zumal wenn zu rasch heutige Konzepte auf frühere Jahrhunderte zurückpro180 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Human Rights in Europe – From Hypocracy to Irony?“, in: Revista do Teoria e História do Direito, 2 (2017), 5 – 16. 181 Vgl. Les Droits de l’homme, hrg. v. Christian Biet, Paris: Imprimerie nationale, 1989, der mit der Gesetzessammlung von Hammurabi, dem berühmen Codex Hammurabi beginnt. 182 Entscheidung Nr. 403578 unter: https://www.conseil-etat.fr/ressources/decisions-conten tieuses/dernieres-decisions-importantes/ce-ordonnance-du-26-septembre-2016-association-dedefense-des-droits-de-l-homme-collectif-contre-l-islamophobie-en-france (Zugriff 12. 12. 2020). Vgl. Le Monde 28./29. August 2016, 6. 183 Oxford Dictionary of Law. A Dictionary of Law, hrg. v. Elizabeth A. Martin, Oxford: Oxford University Press, 52003, 237. Vgl. auch Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca, N.Y. und London: Cornell University Press, 1989, 1, 9, 12 („Rechte, die man allein deswegen hat, weil man ein menschliches Wesen ist“). 184 David N. Stamos, The Myth of Universal Human Rights. Its Origin, History, and Explanation, Along with a More Humane Way, Boulder und London: Paradigm, 2013. 185 Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, Mass. und London: The Belknap Press, 2010; Mark Goodale, Surrendering to Utopia. An Anthropology of Human Rights, Stanford, Calif.: Stanford University Press, 2009.

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jiziert werden.186 Allein ein Beispiel mag genügen. Im Text des deutschen Grundgesetzes von 1949 werden die Ausdrücke „Grundrechte“ und „Menschenrechte“ weitgehend gleichwertig benutzt. Einhundert Jahre zuvor in den Debatten der Paulskirche wurde deutlich zwischen ihnen unterschieden und auf „Grundrechten“ im Gegensatz zu den mit dem Odium der Französischen Revolution behafteten „Menschenrechten“ bestanden. Da jede Diskussion sinnvollerweise historische Begriffe und Redewendungen nur in der Weise benutzen sollte, wie sie zeitspezifisch verstanden wurden,187 müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Aristoteles die Bedeutung von Gerichten in einer Demokratie unterstrich und er das Naturrecht als universell und ohne menschliches Zutun gültig anerkannte.188 Im gleichen Sinn bestimmte Vattel rund 2000 Jahre später und in enger Anlehnung an Cicero das Naturrecht als in der „Natur der Dinge und der Menschen im besonderen“ begründet.189 Doch keiner von ihnen sprach je von „Menschenrechten“ in seiner heutigen Bedeutung. Genauso wenig taten dies die Bewohner der amerikanischen Kolonien bis 1776, wenn sie auf ihren Rechten bestanden, die gemäß ihrer Überzeugung durch die britische Politik gefährdet wurden.190 Am 6. Dezember 1775 hatte der Kontinentalkongress kategorisch erklärt: „Durch die britische Verfassung, unserem besten Erbe, sind uns Rechte wie auch Pflichten vererbt worden.“191 Die Sicherheit der Rechte war ein fundamentales Prinzip der britischen Verfassung, woran die Amerikaner in all diesen Jahren nie Zweifel hegten, 186 Aus diesem Grund folge ich nicht der Ausgabe von Alphonse Aulard und Boris MirkineGuetzévitch, Les Déclarations des droits de l’homme. Textes constitutionnels concernant les droits de l’homme et les garanties des libertés individuelles dans tous les pays, Paris: Payot, 1929 (Ndr. Aalen: Scientia, 1977). Untersuchungen historischer, konzeptioneller, philosophischer oder anderer Wurzeln und Vorläufer haben ihre unbezweifelten Verdienste. Bezüglich zweier deutscher Beispiele, vgl. Elke Wolgast, Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, Stuttgart: Kohlhammer, 2009; Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma, München: Oldenbourg, 1997. 187 Zur Bedeutung der Sprache, vgl. Kenneth Cmiel, „The Recent History of Human Rights“, in: The American Historical Review, 109 (2004), bes. 119 – 120. 188 Aristoteles, Staat der Athener, Kap. 45 – 69; Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 10, 1134b. Vgl. Christoph Horn, „Menschenrechte bei Aristoteles?“, in: Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen, hrg. v. Klaus M. Girardet und Ulrich Nortmann, Stuttgart: Franz Steiner, 2005, 105 – 122. 189 Emer de Vattel, „Essay on the Foundation of Natural Law and on the First Principle of the Obligation Men Find Themselves Under to Observe Laws“, in: ders., The Law of Nations, Or, Principles of the Law of Nature, Applied to the Conduct and Affairs of Nations and Sovereigns, with Three Early Essays on the Origin and Nature of Natural Law and on Luxury, Indianapolis: Liberty Fund, 2008, 749. 190 Nicht einmal der radikale James Burgh, Political Disquisitions; or, An Enquiry into public Errors, Defects, and Abuses, 3 vols., Philadelphia: Robert Bell, 1775, der in den amerikanischen Kolonien 1775/76 viel gelesen wurde, verwies auf „Menschenrechte“. Vgl. dazu oben Kap. III. 1. 191 Pennsylvania Evening Post, 7. Dezember 1776, 564.

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noch daran, dass ihnen diese Rechte zustanden. Die Entschließungen von Georgia vom 10. August 1774 hatten bestimmt, „[d]ass das Gesetz zur Abschaffung des Freibriefes (Charter) von Massachusetts-Bay auf die Untergrabung amerikanischer Rechte abzielt; denn neben jenen allgemeinen Freiheiten haben die ursprünglichen Siedler ihr Geburtsrecht mit sich gebracht, nämlich besondere durch jenen Freibrief gewährte Immunitäten als Anreiz und Mittel, die Provinz zu besiedeln“. Da Amerikaner mit diesen Rechten geboren seien, könnten sie ihnen nicht ohne ihre Zustimmung genommen werden. Darüber hinaus fügte die Zusammenkunft in Savannah eine Resolution hinzu, die geradezu als Vorlage für jene Bestimmung gelten mag, die in Zukunft kaum eine amerikanischer Verfassung ausließ: „Dass es wider die natürliche Gerechtigkeit und das bestehende Recht des Landes ist, Personen nach Großbritannien oder anderswohin zu bringen, um sie unter Anklage eines in irgendeiner der Kolonien begangenen Verbrechens vor Gericht zu stellen, da der Angeklagte auf diese Weise um das Privileg gebracht wird, durch seinesgleichen aus der Nachbarschaft abgeurteilt zu werden, der Geschädigte möglicherweise um rechtliche Wiedergutmachung gebracht wird und beide die vollen Vorzüge ihrer Zeugen verlieren.“192

Die Amerikaner sahen es als selbstverständlich an, dass Rechte in einer ganz praktischen Weise grundlegend waren – nicht in der abstrakten Theorie. Die Präambel der Verfassung von New Hampshire vom 5. Januar 1776 hielt Großbritannien vor, „uns um unsere angeborenen und verfassungsmäßigen Rechte und Privilegien gebracht zu haben“.193 Praktisch das gleiche brachten die Regeln und Regulierungen der Kolonie Georgia vom 15. April 1776 zum Ausdruck, indem sie erklärten, die britische Politik habe die Amerikaner gezwungen, „zu den Waffen als letztem Mittel zu greifen, um ihre Rechte und Freiheiten, die ihnen Gott und die Verfassung gaben, zu bewahren“.194 Was die Amerikaner ansprachen und beanspruchten, waren Rechte, die ihnen gehörten und die ihre Vorfahren aus England mitgebracht hatten, keine abstrakten oder theoretischen „Menschenrechte“, ein Ausdruck, der ihnen völlig fremd war. Beginnend mit der Rechteerklärung von Virginia vom 12. Juni 1776 erklärten sie diese Rechte. In keiner dieser amerikanischen Rechteerklärungen oder Bills of Rights zumindest bis zum Bürgerkrieg, wenn nicht bis heute, erscheint der Ausdruck „Menschenrechte“. Mit einem großen Sprung in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mögen wir uns daran erinnern, dass die Amerikaner in diesen Jahrzehnten von der „Bürgerrechtsrevolution (Civil rights revolution)“ sprachen, nicht von einer „Menschenrechtsrevolution“,195 und das verbreitetste Rechtswörterbuch der Vereinigten Staaten verfügt über keinen Eintrag „Menschenrechte“.196 192

Resolution von Georgia vom 10. August 1774 [Savannah, 1774, Einblattdruck] [Early American Imprints, Evans 42695]. 193 Constitutional Documents of the United States 1776 – 1860, hrg. v. Horst Dippel, 8 Bde., Berlin – Boston: de Gruyter, 2006 – 2011, IV, 313. 194 Ebd., II, 9. 195 Vgl. dazu oben Kap. V. 8.

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Dabei soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass fünfzehn amerikanische Verfassungen von „den unschätzbaren Rechten des Menschen und jedes Bürgers“ sprachen. Das Beispiel ist verführerisch. Doch wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass der Ausdruck sich auf zwei Satzteile der Bestimmung über die Pressefreiheit bezieht. Der vollständige Satz lautet: „Der freie Austausch von Gedanken und Meinungen ist einer der unschätzbarsten Rechte des Menschen; und jeder Bürger mag frei sprechen, schreiben und drucken über jedwedes Thema, wobei er für den Missbrauch dieser Freiheit verantwortlich ist.“197 Der Passus erschien erstmals in der Verfassung von Pennsylvania von 1790 und wurde in der neuen Verfassung von 1838 wiederholt wie ebenso in den Verfassungen von Kentucky (1792, 1799, 1850), Tennessee (1796, 1834), Louisiana (1812), Indiana (1816), Illinois (1818, 1848), Missouri, wenn auch modifiziert (1820, 1846), Texas, mit derselben Veränderung (1833)198 und Arkansas (1836), womit sich zugleich eine konstitutionelle Entwicklungslinie in den Vereinigten Staaten zwischen Revolution und Bürgerkrieg ergibt. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist natürlich, dass diese Wortwahl die wörtliche Übersetzung des Art. 11 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ist199 und wie im Original „das unschätzbare Recht des Menschen“ auf ein einzelnes Recht herunterbricht, doch in einem zweiten Schritt, mit der Ausnahme von Missouri und Texas, dieses wiederum von einem Menschenin ein Bürgerrecht umwandelt. Das mag alles umso mehr erstaunen, hatte doch die Unabhängigkeitserklärung von den „selbstverständlichen Wahrheiten“ gesprochen, dass alle Menschen gleich geschaffen seien und „bestimmte unveräußerliche Rechte“ besäßen. Diese Worte markierten den Zenit der revolutionären Begeisterung im Sommer 1776, und Thomas Jefferson, der Aufklärer und Bewunderer der französischen philosophes mit seiner Neigung zu pointierten Redewendungen war genau der Mann, ihr zu bleibendem Ausdruck zu verhelfen. Aber diese Feststellung – in der im Übrigen der Ausdruck „Menschenrechte“ nicht auftauchte – entsprach weder der politischen Realität in den dreizehn Staaten, in denen ein Fünftel der Bevölkerung als Sklaven gehalten wurde, 196

Vgl. Henry Campbell Black, Black’s Law Dictionary. Definitions of the Terms and Phrases of American and English Jurisprudence, Ancient and Modern, St. Paul, Minn.: West Publishing Co., 51983. 197 Constitutional Documents of the United States, hrg. v. Dippel, V, 366 (Verfassung von Pennsylvania von 1790, Art. IX, Abs. 7). In der nahezu offiziellen deutschen Übersetzung der Verfassung hieß es irrigerweise „Rechte der Menschen“. In der Verfassung von Kentucky von 1792 fehlte das entscheidende Satzzeichen nicht. Dass in meiner Edition kein Komma steht, ist ein beklagenswerter Irrtum (vgl. ebd., III, 20). 198 In der Verfassung von Missouri von 1820 erschien der Passus als „Rechte des Menschen, und dass jede Person“ (Art. XIII, Abs. 16, ebd. IV, 248; ebenso in der fehlgeschlagenen Verfassung von 1846, Art. XI, Abs. 16, ebd., IV, 305). Ebenso in der fehlgeschlagenen Verfassung von Texas von 1833, Art. 16 (ebd., VI, 168). 199 Vgl. Pierre Le Mire, „Article 11“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789. Histoire, analyse et commentaries, hrg. v. Gérard Conac, Marc Debene und Gérard Teboul, Paris: Economica, 1993, 225 – 247, allerdings ausschließlich auf den französischen Zusammenhang begrenzt.

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von der indigenen Bevölkerung ganz zu schweigen. Noch schlug sie sich in konkreten Verfassungsbestimmungen nieder, um „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ sicherzustellen.200 Die amerikanische Rechtediskussion unterstreicht nachdrücklich, dass Menschenrechte eine Erfindung der Französischen Revolution waren, für die die französische Aufklärung den Grund bereitet hatte. Jaucourt, um nur einen zu erwähnen, hatte in der Encyclopédie auf die „Rechte der menschlichen Natur“ verwiesen.201 In der Krise, die zum Ausbruch der Revolution führte, hatten die „Menschenrechte“ Gestalt angenommen. Der Cahier de doléances des Dritten Standes von Mont-deMarsan, mutmaßlich vom April 1789, beklagte: „Die Menschenrechte, die Vernunft und die Gerechtigkeit sind nie die Basis gewesen, auf die man die verschiedenen Institutionen seiner Regierung gegründet hat […]. Es ist Zeit, dass man unveränderliche Regeln festsetzt und dass man Frankreich eine Verfassung zusichert, die die natürlichen und unantastbaren Rechte der Menschen garantiert.“ Daher forderte er für das Land eine Verfassung: „Die Prinzipien dieser Verfassung müssen in einer Erklärung der natürlichen Rechte des Menschen festgehalten werden.“202 Der Dritte Stand von Montpellier stimmte zu, dass Frankreich „auf allen seinen Rechten des Menschen und Bürgers“ neu begründet werden müsse.203 Dagegen war die gegenwärtige Politik des Ancien Régime, wie der Dritte Stand von Nemours beipflichtete, „all jenen verhasst, die die Rechte des Menschen und Bürgers respektieren“.204 In den meisten Fällen spezifizierten die Klagen jene Rechte, die als fehlend oder nicht beachtet galten. Doch lange bevor die erste Rechteerklärung in der Französischen Revolution zu Papier gebracht wurde, berief man sich auf die „Rechte des Menschen und Bürgers“, wann immer der besondere Fall dem allgemeinen Prinzip Platz machen sollte, das als gültiger und zwingender angesehen wurde. Daher sollten jene, die im Raum Aix-en-Provence gewählt wurden, beauftragt werden, „der Nationalversammlung als wirklich vordringliche Aufgabe die Untersuchung, Aufsetzung und Erklärung aller natürlichen und unantastbaren Rechte des Menschen und Bürgers vorzuschlagen, eine Erklärung, die als Grundlage für alle Gesetze, sei es

200 Zit. n. Documents of American History, hrg. v. Henry Steele Commager, 2 Bde., New York: Appleton – Century – Crofts, 71963, I, 100. 201 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des metiers, hrg. v. Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert, 35 Bde., Paris: Briasson u. a., 1751 – 1780, XVI (1765), 532. Vgl. L’Esprit de 1789 et les droits de l’homme. Textes et documents (1725 – 1986), hrg. v. Claude Nicolet, Paris: Larousse, 1989, 44, und generell 11 – 60. Zu Jaucourt und die Encyclopédie in diesen Jahren, Jonathan I. Israel, Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750 – 1790, Oxford: Oxford University Press, 2011, 82 – 92. 202 Archives parlementaires de 1787 à 1860, 1ère sér., IV (1868), 34. Vgl. La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, hrg. v. Stéphane Rials, Paris: Hachete, 1988, 116. 203 Archives parlementaires, IV, 49. 204 Ebd., 135.

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politische, sei es zivile, dienen wird, die heute wie in Zukunft aus allen Nationalversammlungen werden hervorgehen können“.205 Während die Amerikaner auf Rechten bestanden, bestehenden wie neu geschaffenen, um praktischen Schutz vor illegalen Übergriffen gleich welcher Autorität zu erwirken, verließen sich die Franzosen auf die abstrakte Theorie als Verkünder ewiger Wahrheiten. Als Folge des Rationalismus der französischen Aufklärung erschien die Verkündung weit ausholender abstrakter Prinzipien als bestes Mittel, Unrecht entgegenzuwirken und in eine bessere Zukunft zu führen, die jahrhundertealten Unsinn, Ungleichheit und Unvernunft beseitigen würde. In diesem Sinn wurde die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 verkündet.206 Indem sie zur gleichen Zeit Menschenrechte wie Bürgerrechte proklamiert, war sie ein eindeutig an Frankreich gerichtetes Dokument und kein universelles Manifest. Aber da Menschenrechte verstanden werden als Ausdruck universeller Wahrheiten, bleibt ihre Bedeutung nicht auf Frankreich beschränkt, sondern erschallt weltweit. Dieser, den französischen Erklärungen von 1789, 1791, 1793 und 1795 innewohnende Widerspruch blieb nicht unbemerkt. Auf der einen Seite proklamierten sie Menschenrechte als natürliche Rechte, die nicht in irgendeinem besonderen Staat ihre Begründung hatten, vielmehr in ihrer Reichweite und Bedeutung universell waren. Auf der anderen Seite enthielten sie aufgrund einer spezifischen politischen Ordnung bedingte Bürgerrechte, die ihrer Natur nach auf die Bürger dieses Staats begrenzt waren unter Ausschluss all jener, die zusätzlich im Land lebten, aber kein Bürgerrecht besaßen. War mithin der Staat oder die politische Ordnung die Trennungslinie zwischen beiden Rechten, die einen universal, die anderen lokal, verschleierten sie damit zugleich die Tatsache, dass die Existenz eines verfassungsmäßig organisierten Staates die Voraussetzung für die Umsetzung beider Rechtstypen war, genauso wie es Art. 12 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 angedeutet hatte.207 Wenn aber natürliche, universelle Rechte den modernen Staat für ihre Wirksamkeit voraussetzten, statt aus dem imaginierten Naturzustand nahtlos und ohne die Intervention eines Staates auf uns überzugehen, sind diese Rechte nichts anderes als die Erfindung des modernen Staates, der auf diese Weise die Legitimation seiner Handlungen und deren Grenzen mystifiziert. Warum sollte ein Potentat, selbst eine relativ normale Regierung im ausgehenden 18. oder im 19. Jahrhundert diese Vorstellungen übernehmen? Die Französische Revolution ist bekannt für ihre Rechteerklärungen, nicht für eine besondere Men205

Ebd., VI (1870), 255. Zum nachhaltigen Einfluss der philosophes anstelle von Juristen auf sie, vgl. Israel, Democratic Enlightenment, 904 – 908. 207 Vgl. Étienne Picard, „Article 12“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, hrg. v. Conac, Debene und Teboul, 249 – 272. Die nachfolgenden Erklärungen von 1793 und 1795 enthielten diese Bestimmung nicht, vgl. Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther und Olivier Vernier, Berlin und New York: de Gruyter, 2010, 61 – 63, 91 – 92, 95 – 97, 105 – 106. 206

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schenrechtspolitik. Keine napoleonische Verfassung innerhalb wie außerhalb Frankreichs enthielt eine Menschenrechtserklärung, noch tat das irgendeine europäische Verfassung des 19. Jahrhunderts. Der Höhepunkt der revolutionären Begeisterung war längst Geschichte und mit ihm die Ideale der französischen Aufklärung, und das Naturrecht machte historischem Recht und schließlich dem Positivismus Platz. Es war eine Zeit, in der Jeremy Bentham mit der Betonung der britischen „Aversion gegen abstrakte Aussagen“ vergleichsweise leicht Anhänger fand für die Aufforderung, das Naturrecht in Stücke zu reißen: „Naturrecht ist schlicht Unsinn: natürliche und unantastbare Rechte rhetorischer Unsinn – Unsinn auf Stelzen.“208 Trotz allem behielten Menschenrechte das gesamte 19. Jahrhundert über ihre Fürsprecher. In Lateinamerika lebte das französische Beispiel zumal in einer Reihe kolumbianischer Verfassungen zwischen 1811 und 1819 weiter, von denen einige Teile der Präambel der Menschenrechtserklärung von 1789 wörtlich übernahmen wie z. B. die Verfassung von Pamplona de Indias von 1815 mit ihrem langen Schlusskapitel über „Rechte des Menschen und Bürgers, zu denen sich der Staat in Gänze bekennen und die er achten wird“, wie sie in ihrem Eingangsartikel 100 unterstrich. Wie im französischen Original brandmarkte sie Vergesslichkeit und Verachtung der Menschenrechte als einzige Ursache des Elends und der Korruption, die zu allen Zeiten und an allen Orten die Menschheit leiden ließen. Was dann jedoch folgte, waren Artikel über die Volkssouveränität (Art. 101 – 109), „Rechte des Menschen in der Gesellschaft“ (Art. 110 – 119), „Rechte der Bürger“ (Art. 120 – 143), „Pflichten des Menschen in der Gesellschaft“ (Art. 144 – 150) und „Pflichten der Gesellschaft (Cuerpo social)“ (Art. 151 – 154).209 Ein weiteres Beispiel ist Mexiko, wo das von der Verfassung von Cadiz von 1812 gegebene Beispiel lange nachwirkte und unter anderem dazu führte, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formelle Rechteerklärungen selten waren. Dennoch ließen zumindest Liberale keinen Zweifel daran aufkommen, dass Menschenrechte existierten, und das „Projekt der politischen Ordnung der Regierung des mexikanischen Kaiserreichs“ von 1822 enthielt die eher beiläufige Bestimmung: „Nichts ist mehr in Einklang mit den Rechten des Menschen als die Freiheit zu denken und seine

208 Jeremy Bentham, „Nonsense Upon Stilts, Pandora’s Box Opened“, in: ders., Rights, Representation, and Reform: Nonsense Upon Stilts and Other Writings on the French Revolution (The Collected Works of Jeremy Bentham), hrg. v. Philip Schofield, Catherine PeaseWatkin und Cyprian Blamires, Oxford: Clarendon Press, 2002, 321; „Nonsense Upon Stilts“. Bentham, Burke and Marx on the Rights of Man, hrg. v. Jeremy Waldron, London und New York: Methuen, 1987, 29 – 45, 53. Vgl. Yannick Bosc, „Le conflit des conceptions de la république et de la liberté: Thomas Paine contre Boissy d’Anglas“, in: Républicanismes et droit naturel. Des humanistes aux révolutions des droits de l’homme et du citoyen. L’esprit des Lumières et la révolution. Actes du colloque tenu à l’Université Paris VII Denis Diderot en juin 2008, hrg. v. Marc Belissa, Yannick Bosc und Florence Gauthier, Paris: Kimé, 2009, 101 – 115. 209 Documentos Constitucionales de Colombia y Panamá 1793 – 1853, hrg. v. Bernd Marquardt, Berlin und New York: de Gruyter, 2010, 612 – 616.

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Ideen zu bekunden“ (Art. 17).210 Dagegen begann die mexikanische Verfassung von 1857 mit der klaren Bestimmung: „Das mexikanische Volk anerkennt, dass die Rechte des Menschen die Basis und der Gegenstand der gesellschaftlichen Institutionen sind. Folglich erklärt es, dass alle Gesetze und alle staatliche Gewalt die Garantien, die die gegenwärtige Verfassung gewährt, anerkennen und verteidigen müssen“ (Art. 1).211 Eine lange Sektion mit 29 Artikeln über Menschenrechte folgte, allerdings ebenso wie zuvor in Mexiko oder Kolumbien ohne Rückgriff auf das Naturrecht. Diese willkürlich herausgegriffenen Beispiele erheben nicht den Anspruch, für Lateinamerika insgesamt zu sprechen,212 doch deuten sie an, dass die französischen Vorstellungen von Menschenrechten problemlos den Atlantik überquert hatten und Liberale in den entstehenden Staaten Hispanoamerikas beflügelten.213 Davon unterschied sich die Situation im Europa des 19. Jahrhunderts sehr deutlich. Keine Verfassung verkündete Menschenrechte. In Deutschland setzte sich 1848 der Begriff „Grundrechte“ durch, der bewusst als Gegenbegriff zu „Menschenrechte“ eingeführt worden war, der als zu eng mit der Französischen Revolution verknüpft galt und daher, außer bei der demokratischen Linken, als zu radikal zurückgewiesen wurde.214 Auch wenn einige der in der Paulskirchen-Verfassung erklärten Grundrechte als Menschenrechte verstanden werden können, kreiste die Debatte über weite Teile des Jahrhunderts um die Frage, ob es wirklich Rechte gab, die dem Menschen angeboren seien oder ob es sich dabei nicht allein um erworbene Rechte handele.215 Die europäischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, einige zögernd, die anderen direkter, zogen hingegen vor, von einer Reihe bürgerlicher Rechte zu sprechen, die gewährt, aber notfalls auch eingeschränkt oder aufgehoben werden konnten.216 Auch 210 Documentos Constitucionales de México 1814 – 1849, hrg. v. Sebastian Dorsch, 3 Bde., Berlin und New York: de Gruyter, 2010 – 2013, I, 71. 211 http://www.diputados.gob.mx/biblioteca/bibdig/const_mex/const_1857.pdf (Zugriff 13. 12. 2020). 212 Vgl. dazu den nachfolgenden Teil VIII. 213 Als allgemeineren Überblick, vgl. Franck Moderne, „La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen: son influence en Amérique latine“, in: La Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, ses origines – sa pérennité, hrg. v. Claude-Albert Colliard u. a., Paris: La Documentation française, 1990, 277 – 297. 214 Vgl. dazu Visionen eines zukünftigen Deutschlands: Alternativen zur Paulskirchenverfassung 1848/49, m. e. Einl. u. Anm. hrg. v. Horst Dippel, 2 Bde., Berlin: Duncker & Humblot, 2017, bes. I, 153 – 178. 215 Vgl. dazu oben Kap. VI. 8. Vgl. dazu auch mein Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht, Goldbach: Keip, 1994, bes. 72 – 73. 216 Wenn Wiktor Osiatyn´ski, Human Rights and Their Limits, New York: Cambridge University Press, 2009, 26 – 29, die „individuellen Rechte“ des 18. Jahrhunderts den „Menschenrechten“ des 20. Jahrhunderts gegenüberstellt, blendet er nicht nur die französischen Erklärungen und die lateinamerikanischen Entwicklungen aus und zieht eine, so nicht existierende Linie von 1776 nach 1948, sondern lässt auch die inneramerikanische Diskussion der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt.

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wenn sie als unentbehrlich gelten mochten,217 enthielt die Verfassung der französischen II. Republik keine Menschenrechtserklärung, und Art. 3 der Präambel beschränkte sich auf die zweideutige Feststellung, dass die französische Republik „die den positiven Gesetzen voraufgehenden und höher geltenden Rechte und Pflichten anerkennt“, womit die nachfolgend in der Verfassung proklamierten gemeint sein konnten, jedoch bewusst darauf verzichtet worden war, den Begriff „Rechte“ durch den Zusatz „des Menschen und Bürgers“ zu präzisieren. Mithin enthielt die Verfassung lediglich „durch die Verfassung garantierte Rechte der Bürger“ (Art. 2 – 17).218 Angesichts des öffentlichen Schweigens verwundert es wenig, wenn sich in umfassenden französischen Sammlungen von Menschenrechtstexten seit dem 18. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert kaum öffentliche Dokumente finden lassen.219 Die antirevolutionäre Politik dieses Jahrhunderts ist nur ein Teil der Erklärung. Schließlich stand das 19. Jahrhundert zunehmend im Zeichen einer aggressiven europäischen Expansionspolitik in andere Weltteile. Eine aktive Menschenrechtspolitik ist ihrer Natur nach mit Kolonialismus und Imperialismus unvereinbar. Selbst das Dekret vom 27. April 1848, das Sklaverei in französischen Kolonien und Besitzungen verbot, vermied bewusst jeden Hinweis auf Menschenrechte als Grund für das Ende der Sklaverei und sprach stattdessen von „einem Attentat auf die menschliche Würde“.220 Dennoch war es die Entwicklung des humanitären Völkerrechts im Laufe des 19. Jahrhunderts, die Fortschritte auf anderer Ebene ermöglichte, zu denen unter britischer Führung die internationalen Bemühungen zählen, den Sklavenhandel mittels der erstmaligen Einrichtung internationaler Gerichtshöfe zu unterbinden.221 Die erste Genfer Konvention von 1864 eröffnete eine weitere Möglichkeit mit der Grundlegung von dem, was heute das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist, wiederum allerdings ohne Hinweis auf Menschenrechte.222 Ein teilweiser Erfolg wurde jedoch vierzehn Jahre später erreicht, wenn auch mit Hilfe eines Umwegs, der jede Kollision mit den Interessen der Kolonialmächte verhindern sollte. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde erstmals das Völkerrecht erweitert um konkrete 217 Vgl. Constitutions américaines et françaises suivies d’un règlement parlementaire, des traités de 1814 et 1815, des causes de la révolution de 1848, des dernières séances de la Chambre des Députés. des décrets du gouvernement provisoire, de la situation financière, de la politique extérieure de la République française, etc., hrg. v. Jean Baptiste Joseph Pailliet, Paris: Alphose Delhomme, 1848, xl – xli (Einleitung von Pailliet). 218 Documents constitutionnels de la France, hrg. v. Caporal, Luther und Vernier, 213 – 215. 219 Vgl. Les Droits de l’homme, hrg. v. Biet, bes. 613 – 719; Les Déclarations des droits de l’homme (Du Débat 1789 – 1793 au Préambule de 1946), hrg. v. Lucien Jaume, Paris: Flammarion, 1989, 321 – 325 (mit den zitierten Passagen aus der Verfassung von 1848); L’Esprit de 1789 et les droits de l’homme, hrg. v. Nicolet, bes. 168 – 225. 220 Les Droits de l’homme, hrg. v. Biet, 668 – 670. 221 Vgl. Jenny S. Martinez, The Slave Trade and the Origins of International Human Rights Law, New York: Oxford University Press, 2012. 222 Vgl. Les Droits de l’homme, hrg. v. Biet, 688 – 691.

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Bestimmungen zu Minderheitenrechten, mit denen die neuen Staaten auf dem Balkan rechtlich gebunden werden sollten.223 Diese Politik wurde nach dem Ersten Weltkrieg in den Pariser Vorrotverträgen bezüglich der neuen Staaten in Mittelosteuropa wieder aufgegriffen, scheiterte schließlich aber weitgehend an der Tatsache, dass sie keine Allgemeingültigkeit beanspruchte und eben lediglich für diese Staaten, nicht jedoch für die Alliierten und Verbündeten Mächte und nicht für Deutschland galt. Dennoch hatten damit die Menschenrechte in den Jahrzehnten um den Jahrhundertwechsel wieder die politische Agenda erreicht. 1898 wurde in Paris, die Zusammenhänge mit der Dreyfus-Affäre sind offenkundig, die Liga für Menschenrechte (Ligue pour les droits de l’homme) gegründet, die in ihrem ersten Manifest großspurig erklärte: „Von diesem Tag an ist jeder Person, deren Freiheit bedroht oder deren Recht verletzt ist, versichert, bei uns Hilfe und Unterstützung zu finden.“224 Doch wie stand es wirklich um jenes so gerne reklamierte Erbe der zivilisierten Welt? In der Tat mochten die europäischen Mächte stolz auf ihre Prinzipien und Werte und die Herrschaft des Rechts sein. Doch nicht allein die Dreyfus-Affäre hatte an letzterer erheblich gekratzt. Wenn es um die Politik der Kolonialmächte in Afrika und Asien ging, blieb von der schönen Fassade kaum etwas übrig.225 Kolonialismus und Menschenrechte schlossen sich ganz offensichtlich gegenseitig aus. Keine nach dem Ersten Weltkrieg in Europa eingeführte Verfassung enthielt eine Menschenrechtserklärung, die meisten jedoch eine Erklärung der Rechte ihrer Bürger.226 Nur wenige dieser Rechte waren so allgemein formuliert, dass sie im Sinne von Menschenrechten interpretiert werden konnten. Doch genauso gab es engstirnige Formulierungen bis hin zur fragwürdigen Rechtsgrundlage etwa bei der Formulierung: „Alle Bayern sind vor dem Gesetze gleich.“227 Die einzige Ausnahme unter den europäischen Verfassungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts scheint die portugiesische Verfassung von 1911 gewesen zu sein mit ihrem singulären Titel II über „Individuelle Rechte und Garantien“. Die Verfassung 223

Zur Vorgeschichte, vgl. Peter Pernthaler, „Die Entstehung des völkerrechtlichen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa (Handbuch der europäischen Volksgruppen, III), hrg. v. Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil, Wien – New York: Springer, 2006, 16 – 20, 27 – 33; Thomas D. Musgrave, Self-Determination and National Minorities, Oxford: Oxford University Press, 2000, 37 – 40. Vgl. dazu auch das nachfolgende Kap. VII. 6. 224 Les Droits de l’homme, hrg. v. Biet, 717. 225 Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt am Main: Fischer, 2013. 226 Bezüglich der Weimarer Verfassung in diesem Zusammenhang, vgl. oben Kap. VI. 11. 227 Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14. August 1919 (§ 15,1), in: Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918 – 1933, hrg. v. Fabian Wittreck, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, 108. In dem Vorläufigen Staatsgrundgesetz des Freistaates Bayern vom 17. März 1919 (Art. 11) hatte es noch gehießen: „Vor dem Gesetze sind alle Einwohner gleich“ (ebd., 105).

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verwendet zwar den Ausdruck „Menschenrechte“ nicht, doch da die Bestimmungen ausdrücklich für Portugiesen und im Lande lebende Ausländer galten, wobei in nur wenigen besonders benannten Fällen Rechte allein auf Staatsbürger beschränkt blieben, waren sie praktisch mit Menschenrechtsbestimmungen identisch, zumal für die überseeischen Provinzen besondere Rechte gelten sollten, „von denen jedes einzelne von ihnen dem Stand der Zivilisation angemessen“ sein sollte (Art. 67).228 Menschenrechte standen in Europa um die Jahrhundertwende hoch im Kurs und waren das Credo vieler Liberaler. Doch ungeachtet des ihnen innewohnenden Universalismus blieb die Anwendung bewusst begrenzt, um die eigene Situation nicht zu kompromittieren.229 Daher wurden keine Mechanismen entwickelt, um Menschenrechte wirklich durchzusetzen, sei es auf nationaler Ebene durch höchste Gerichte oder durch den ins Leben gerufenen Völkerbund. So konnte man sie mit stolz geschwellter Brust als die Ehre und das Gütesiegel Europas verkünden. Doch tatsächlich waren sie weniger als ein zahnloser Tiger, den kein Politiker zu fürchten brauchte und um den sich niemand scherte. Statt die demokratische Ordnung zu stärken, mögen sie zwar nicht der Grund für deren verbreiteten Untergang in den 1920er und 1930er Jahren, aber eben doch auch alles andere als die letzte Verteidigungslinie gewesen sein, um zu verhindern, dass Europa Opfer seiner eigenen Heuchelei wurde. Der Abgrund von Holocaust und Zweitem Weltkrieg brachte schließlich die Wende. Aber es waren nicht die Regierungen der Alliierten, die für eine neue Rolle der Menschenrechte weltweit eintraten. Eher ist das Gegenteil der Fall, wenn man etwa an Leonard J. Barnes denkt, der einst im britischen Kolonialministerium arbeitete und der in diesen Tagen eine Bentham nacheifernde, verheerende Auffassung von der vorgeschlagenen Universellen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vertrat: „Formulierungen von Menschenrechten tendieren dazu, die hauptsächlichen Frustrationen jener, die sie entwerfen, widerzuspiegeln.“230 Aber auch der Kolonialismus stellte noch eine unüberwindliche Hürde dar ungeachtet aller Sonntagsreden mit „Erklärungen über ,letzte Ideale‘“. In der konkreten Politik sah es mitunter ganz anders aus, so dass 1949 ein britischer Kolonialbeamte in Westafrika die Veröffentlichung der Universellen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten 228 Vgl. Constituições portuguesas, hrg. v. der Assembleia da República, Lissabon: o. N., 1992, 195 – 199, 212; As Constituições portuguesas de 1822 ao texto actual da constituição, hrg. v. Jorge Miranda, Lissabon: Petrony, 41997, 210 – 214, 232 (mit kleineren Abweichungen). 229 Über die Kontinuität von Vorstellungen der Menschenrechte und der Ausgrenzung im europäischen Denken, vgl. Louis Sala-Molins, „La cité des droits, ses remparts et ses banlieues“, in: Les droits de l’homme en Europe 1789 – 1992. Séminaire européen. École normale d’Amiens 16 au 19 may 1989, hrg. v. Martine Abdallah-Pretceille, Amiens: Centre regional de documentation pédagogique de Picardie, 1994, 21 – 26. 230 Leonard J. Barnes, „The Rights of Dependent Peoples“, in: Human Rights. Comments and Interpretations. A Symposium, hrg. v. d. UNESCO m. e. Einl. v. Jacques Maritain, London und New York: Allan Wingate, [1949] 1950, 242. Der Band ist eine einzigartige Sammlung von Antworten von 1947 auf einen Fragebogen „ausgesandt an verschiedene Autoren und Schriftsteller aus Mitgliedsländern der UNESCO“ (ebd., 7).

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Nationen für heuchlerisch hielt, vollzog die alltägliche Kolonialpolitik doch ständig „Schritte genau in die entgegengesetzte Richtung“.231 Es waren daher insbesondere Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die für Menschenrechte kämpften und damit letztlich den Weg zur Universellen Erklärung der Menschenrechte 1948 vorbereiteten, dem sich die Großmächte nur widerstrebend anschlossen, stets darauf bedacht, dass das endgültige Dokument keine Mechanismen enthielt, um sie wirkungsvoll durchzusetzen.232 Zwei Jahre später, im Jahr 1950, und durch einen Kreis von Aktivisten, Intellektuellen und Politikern entscheidend vorangetrieben, verabschiedete der Europarat die Europäische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Es mochte erneut nach Augenwischerei wie vor Jahrzehnten aussehen, war doch den Kolonialmächten die Option zugestanden, die Menschenrechte nicht in ihren überseeischen Besitzungen anzuwenden (Art. 56), erinnerte man sich doch an die Heftigkeit, mit der Winston Churchill Franklin D. Roosevelts Auffassung von dem universellen Charakter der in der Atlantikcharta von 1941 verkündeten Prinzipien zurückgewiesen hatte.233 Die Europäische Konvention stellte sich jedoch bereits nach wenigen Jahren als bedeutende Errungenschaft heraus, zumal mit dem Ende der Kolonialreiche und dem Sturz der letzten südeuropäischen Diktaturen seit den 1970er Jahren. 1959 war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingerichtet worden. Um die Menschenrechte durchsetzen zu helfen, entwickelte er sich seither dank einer Reihe von Reformen mittels Zusatzprotokollen zur Steigerung seiner Handlungsfähigkeit, darunter der Einführung der Individualbeschwerde, durch Tausende von Urteilen zu einem machtvollen und geachteten höchsten Menschenrechtsgerichtshof, der die Situation der Menschenrechte in seinen 47 europäischen Mitgliedsstaaten dramatisch verändert hat. Damit ist die Europäische Konvention zu „einem Meilenstein für den Aufstieg Europas als Reich der rechtlich durchgesetzten Menschenrechte“ geworden,234 oder in den Worten von Brian Simpson, als „das herausragende System internationalen Menschenrechtsschutz, das irgendwo in der Welt existiert“.235 231 Alfred W. Brian Simpson, Human Rights and the End of Empire. Britain and the Genesis of the European Convention, Oxford: Oxford University Press, 2001, 458. 232 Vgl. Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, bes. 47 – 108. Also Glenda Sluga, „René Cassin: Les droits de l’homme und die Geschichte der Menschenrechte, 1945 – 1966“, in: Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hrg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen: Wallstein, 2010, 92 – 114; Johannes Morsink, Inherent Human Rights. Philosophical Roots of the Universal Declaration, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2009. 233 Vgl. Fabian Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945 – 1962, München: Oldenbourg, 2009, 22 – 29. 234 Tom Buchanan, „Human Rights, the Memory of War and the Making of a ,European‘ Identity, 1945 – 75“, in: Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, hrg. v. Martin Conway und Kiran Klaus Patel, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010, 157. Die Standarduntersuchung ist unverändert Arthur H. Robertson und J. G. Merrills, Human Rights in Europe. A Study of the European Convention on Human Rights, Manchester und New York: Manchester University Press, 31993. Vgl. auch Mikael Rask Madsen, „Legal Diplomacy. Die

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Doch daneben und zum Teil unter ihm wirken in vielen Mitgliedstaaten nationale Verfassungsgerichte für einen effektiven Schutz von Menschen- und Bürgerrechten. Dazu gehört ebenfalls, dass in Großbritannien 1998 das Human Rights Act in Kraft trat, das britischen Staatsbürgern seither die Möglichkeit einräumt, vor britischen Gerichten Schutz der durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten Rechte zu suchen. Zwei Jahre später, im Jahr 2000 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verabschiedet, die inzwischen geltendes Recht der Europäischen Union ist, die sich ihrerseits verpflichtet, der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten.236 Dabei handelt es sich um einen komplizierten Prozess, zu dem beide Seiten am 29. September 2020 feierlich verkündeten: „Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention wird für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Europa ein wichtiger Meilenstein sein.“237 Die Hoffnung besteht, dass dieser in naher Zukunft tatsächlich erfolgen wird. In der Zusammenfassung dieser skizzenhaften Darlegung ergeben sich fünf Punkte. Erstens hatten die amerikanischen Rechteerklärungen im ausgehenden 18. Jahrhundert einen unbestreitbaren Einfluss auf Europa. Doch da die Amerikaner nicht von „Menschenrechten“ sprachen, hatten sie wie auch die Philosophen und Schriftsteller früherer Jahrhunderte bis zurück zur Antike zwar zur Rechtsidee natürlicher oder angeborener Rechte beigetragen, doch den Begriff „Menschenrechte“ selbst nicht in die Welt gesetzt.238 Zweitens, obgleich der Beitrag der Levellers in der englischen Revolution der Mitte des 17. Jahrhunderts nicht zu vernachlässigen ist,239 erschien im Zusammeneuropäische Menschenrechtskonvention und der Kalte Krieg“, in: Moralpolitik, hrg. v. Hoffmann, 169 – 195. 235 Simpson, Human Rights, 3. Für eine ähnliche Auffassung, vgl. Fundamental Rights in Europe. The European Convention on Human Rights and its Member States, 1950 – 2000, hrg. v. Robert Blackburn und Jörg Polakiewicz, Oxford: Oxford University Press, 2001, ix (aus dem Vorwort der Herausgeber). 236 Amtsblatt der Europäischen Union C202, 7. 6. 2016, 19 (Art. 6 der Konsolidierten Fassung des Vertrags über die Europäische Union), 389 – 405 (Charta der Grundrechte der Europäischen Union). 237 https://www.coe.int/de/web/portal/-/the-eu-s-accession-to-the-european-convention-onhuman-rights (Zugriff 15. 12. 2020). 238 Aus naheliegenden Gründen muss hier auf ein näheres Eingehen auf die Gründe für die Ausführungen von Georg Jellink, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig: Duncker & Humblot, 1895, verzichtet werden. 239 Man mag darüber diskutieren, ob die Bedeutung von „natürlichen Rechten“ und „Menschenrechten“ in den Putney Debatten und den Flugschriften der Levellers während der englischen Revolution über die „Geburtsrechte“ eines „frei geborenen Engländers“ hinausgingen, die später in England wie in Amerika stets angeführt wurden, vgl. Puritanism and Liberty. Being the Army Debates (1647 – 9) from the Clarke Manuscripts with Supplementary Documents, hrg. v. A. S. P. Woodhouse, London: Dent, 1951; Divine Right and Democracy. An Anthology of Political Writing in Stuart England, hrg. v. David Wootton, London: Penguin, 1986; Stamos, Myth of Universal Human Rights, 152 – 158. „Menschenrechte“ tauchen bei

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hang mit der heraufziehenden Französischen Revolution 1789 erstmals der Ausdruck droits de l’homme oder Menschenrechte als Neologismus, der sich in der Folge rasch verbreitete. Drittens, während die Idee der Menschenrechte Liberale in Lateinamerika begeisterte, verschwand der Begriff im 19. Jahrhundert in Europa weitgehend aus der öffentlichen Diskussion, da er ausschließlich im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gesehen und mit Radikalismus und Jakobinismus assoziiert wurde. Stattdessen setzte sich hier von der Charte constitutionnelle über die belgische Verfassung die Kategorie der Staatsbürgerrechte durch, die der Staat gewährte und entziehen konnte, während sich in Deutschland 1848 das Ausdruck „Grundrechte“ einbürgerte, deren Rechtsnatur ambivalent war und bis einschließlich der Weimarer Verfassung überwiegend Staatsbürgerrechte meinte. Zusätzlich ließen die im 19. Jahrhundert sich entfaltenden Kolonialreiche nicht nur in den Augen von Konservativen den Begriff der Menschenrechte als unpassend erscheinen. Viertens, mit dem Aufkommen des humanitären Völkerrechts und den durch den Zerfall der Großreiche entstehenden Minderheiten, deren Schutz und deren Rechte, wurde das Dilemma der Kolonialmächte immer offensichtlicher, was auf staatlicher Ebene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum völligen Zusammenbruch der Idee von Menschenrechten führte, was auch von vereinzelten NGOs nicht verhindert werden konnte. Fünftens, mit der Welt in Ruinen, dem einsetzenden Zerfallsprozess der Kolonialreiche und der Gefahr neuer Konfrontationen erklang der Ruf nach Menschenrechten und ihrem wirksamen Schutz immer lauter, so dass im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die europäischen Nationen sich zunehmend veranlasst oder gezwungen sahen, Teile ihrer geheiligten Souveränität aufzugeben, um einen effektiven Schutz von Menschenrechten mittels kraftvoller nationaler und supranationaler Gerichte aufzubauen,240 dem es innerhalb Europas gelang, seine heilsame Wirkung zu entfalten und zu partiellen Nachahmungen in anderen Weltteilen geführt hat, wohingegen die Vorstellungen von einem Export von Menschenrechten mittels Außenpolitik in andere Kontinente vielfach an politischen und ökonomischen Bedingungen und Interessen scheitert und die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit selbst innerhalb der Europäischen Union alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Damit erweisen sich die Menschenrechte als philosophische Idee und rechtliche Theorie als eine singuläre Leistung Europas, deren praktische Umsetzung vor 1950 von bemerkenswerten Einzelereignissen abgesehen insgesamt wenig Anlass zu einer Analyse des Verständnisses der Levellers von „Gesetz“ und „Rechten“ nicht auf bei Rachel Foxley, The Levellers. Radical political thought in the English Revolution, Manchester und New York: Manchester University Press, 2013, bes. 91 – 118. 240 Vgl. Dieter Grimm, „Fundamental Rights in the Interpretation of the German Constitutional Court“, in: ders., Constitutionalism. Past, Present, and Future, Oxford: Oxford University Press, 2016, 161 – 181.

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besonderem Enthusiasmus bietet. Erst durch die Katastrophen, durch die Europa gehen musste, heben sich davon in aller Deutlichkeit die zurückliegenden siebzig Jahre ab, in denen die Menschenrechte einen zunehmend gewichtigeren und anerkannteren Platz in Recht und Politik in Europa finden. Dennoch wäre es verfehlt, sich auf dem Erreichten auszuruhen. Nicht nur weigert sich unverändert ein Land Europas (Belarus), der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten. Auch so manches Mitgliedsland zieht es vor, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilt zu werden, statt aktiv für einen verbesserten Menschenrechtsschutz im eigenen Land einzutreten. Und für all jene, die immer noch oder bereits wieder glauben, dass sich das Recht nach der Macht und nicht länger die Macht nach dem Recht richten sollte, ist offensichtlich die Zahl der Katastrophen und ihrer Opfer des Europas der Vergangenheit noch immer nicht hoch genug gewesen. Die Menschenrechte gehören zum wertvollsten Erbe Europas, aber sie bleiben eine ständige Herausforderung, die den weiteren aktiven Einsatz für sie zu einer unserer vornehmsten Aufgaben und Verpflichtungen macht. Wehe, wenn eines Tages nicht mehr die Täter, sondern die Opfer die Geschichte schreiben.

6. Vom Völkerrecht zum Verfassungsrecht: Minderheitenrechte und Minderheitenschutz in den Verfassungen des Neuen Europa nach dem Ersten Weltkrieg241 Pointiert ließe sich sagen, dass es ohne die Pariser Friedenskonferenz von 1919 im Europa der Zwischenkriegszeit keine Minderheitenrechte gegeben hätte. Allerdings wäre es nicht übertrieben hinzufügen, dass es mit ihr keinen wirksamen Minderheitenschutz gegeben hat.242 Die nachfolgenden Ausführungen werden sich nicht mit 241

Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes als: „Vom Völkerrecht zum Verfassungsrecht: Die Stellung der Minderheiten in den Verfassungen des Neuen Europa nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Moderní Deˇ jiny/Modern History, 24,1 (2016), 27 – 46. 242 Zum Petitionsverfahren vor dem Völkerbundsrat – von den bis 1937 eingegangenen 733 Beschwerden waren 481 für zulässig erklärt worden; knapp 10 % von ihnen wurden vom Rat behandelt, kaum 1 % tatsächlich abgeschlossen –, grundlegend zum Verfahren Christoph Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, Berlin: Duncker & Humblot, 1979 sowie zu den Beschwerden aus den einzelnen Staaten Martin Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Marburg: Herder-Institut, 2000. Vgl. ferner Sabine Bamberger-Stemmann, „Staatsbürgerliche Loyalität und Minderheiten als transnationale Rechtsparadigmen im Europa der Zwischenkriegszeit“, in: Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918 – 1941, hrg. v. Peter Haslinger und Joachim von Puttkamer, München: Oldenbourg, 2007, bes. 224 – 228; Peter J. Opitz, Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im 20. Jahrhundert. Geschichte und Dokumente, München: Wilhelm Fink, 2002, 32 – 33; Thomas D. Musgrave, Self-Determination and National Minorities, Oxford: Oxford University Press,

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der ganzen Breite der so umrissenen Thematik befassen, sondern sich darauf konzentrieren darzulegen, wie das europäische Völkerrecht in dem Jahrzehnt nach Ende des Ersten Weltkriegs in einer durch Krieg, Gewalt und Revolutionen aufgeladenen Atmosphäre Eingang in die Verfassungen des Neuen Europa von Finnland und den baltischen Staaten über den mitteleuropäischen Raum und den Balkan bis nach Griechenland fand, Verfassungen, die im 20. Jahrhundert zunehmend verstanden wurden als „Kennzeichen der Legitimität für Regime, die nach Akzeptanz durch ihre eigenen Bürger und in den Augen der Welt suchten“.243 Damit ist nicht die tatsächliche innerstaatliche Rechtsordnung Ziel der Analyse. Vielmehr richtet sich die Frage danach, wie bereitwillig die jeweiligen Verfassungsgeber waren, die Auflagen des Völkerrechts in ihrem Verfassungstext zu verankern und welche Verpflichtungen sie sich weigerten zu übernehmen bzw. durch entsprechende Formulierungen abzumildern bemüht waren. Es geht dabei nicht um die rechtsphilosophische Diskussion um die Einheit von Völkerrecht und öffentlichem Recht oder den zwischen beiden Rechtssphären bestehenden Dualismus.244 Eine Petition an den Völkerbund konnten die Verfassungen ohnehin nicht verhindern, aber sie konnten innerstaatliche Lösungen anbieten, für die die Verfassung als Garant der Rechtsstaatlichkeit gegolten hätte. Damit ist nicht der völkerrechtliche Grundsatz des pacta sunt servanda negiert oder in Frage gestellt, wohl aber die Schnittstelle benannt, an der sich nationales Recht im Einklang oder möglicherweise im Widerspruch zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen des jeweiligen Staates befand. Formen des Schutzes definierter Minderheiten durchziehen die europäische Geschichte und sind so alt wie das Völkerrecht selbst. Doch eine entscheidende Etappe auf dem Weg der Verankerung von Minderheitenrechten stellte der Berliner Kongress von 1878 dar, der bedeutendste internationale Kongress zur europäischen Friedensregelung zwischen dem Wiener Kongress von 1814/15 und der Pariser Friedenskonferenz von 1919.245 Abweichend von dem Vertragswerk des Wiener Kongresses stellte 1878 die internationale Gemeinschaft den neu geschaffenen 2000, 44 – 57; Francesco Caccamo, L’Italia e la „Nuova Europa“. Il confronto sull’Europa orientale alla conferenza di pace di Parigi (1919 – 1920), Mailand – Trient: Luni Editrice, 2000, 307 – 322; Patrick Thornberry, International Law and the Rights of Minorities, Oxford: Clarendon Press, 1992, 38 – 52; Carl Georg Bruns, Grundlagen und Entwicklungen des internationalen Minderheitenschutzes. Ein Ueberblick, Berlin-Steglitz: Selbstverlag der „Deutschen Gesellschaft für Nationalitätenrechte“, 1927, bes. 35 – 40. 243 Vivien Hart, „The Contagion of Rights: Constitutions as Carriers“, in: Identity, Rights and Constitutional Transformation, hrg. v. Patrick J. Hanafin u. Melissa S. Williams, Aldershot usw.: Ashgate, 1999, 39. 244 Vgl. dazu Aldona Szczeponek, Die Umsetzung des Völkerrechts und des europäischen Gemeinschaftsrechts in Polen. Unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Lösungen anderer europäischer Staaten, Frankfurt am Main usw.: Peter Lang, 2008, bes. 5 – 47. 245 Zur Vorgeschichte knapp Peter Pernthaler, „Die Entstehung des völkerrechtlichen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa (Handbuch der europäischen Volksgruppen, III, wiss. Leit. Peter Pernthaler), hrg. v. Christoph Pan u. Beate Sibylle Pfeil, Wien – New York: Springer, 2006, 16 – 20, 27 – 33; Musgrave, Self-Determination and National Minorities, 37 – 40.

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Nationalstaaten in Südosteuropa völkerrechtlich fixierte Bedingungen. Unter Zustimmung der übrigen Delegationen forderte daher der französische Chefunterhändler, „dass Rumänen, indem es Eintritt in die große europäische Familie verlangt, die Bürde und selbst die Unannehmlichkeiten der Situation akzeptieren muss, von der zu profitieren es beansprucht, und dass man auf lange Sicht keine so feierliche und entscheidende Gelegenheit finden wird, die Prinzipien, die die Ehre und Sicherheit der zivilisierten Nationen ausmachen, aufs Neue zu bestätigen“.246 Was die „Ehre und Sicherheit der zivilisierten Nationen“ ausmachte, schlug sich insbesondere in den Artikeln 4 – 5, 27, 30, 35, 39, 44 und 62 des abschließenden Vertrages nieder. So hieß es bezüglich Bulgariens (Art. 5) und gleichlautend zu Montenegro (Art. 27), Serbien (Art. 35), Rumänien (Art. 44) und dem Osmanischen Reich (Art. 62): „Die Unterscheidung der religiösen Anschauungen und Konfessionen wird nicht einer Personen als Begründung für den Ausschluss oder die Unfähigkeit für den Genuss ziviler und politischer Rechte, den Zugang zu öffentlichen Ämtern, Funktionen und Ehren oder die Ausübung verschiedener Berufe und Gewerbe, wo immer sie sein mögen, entgegen gehalten werden können.“247

Damit waren einige grundlegende Minderheitenrechte, nämlich die der rechtlichen und politischen Gleichbehandlung religiöser Minderheiten den neuen Nationalstaaten auf dem Balkan als Grundlage für ihre Aufnahme in den Kreis der europäischen Nationen völkerrechtlich auferlegt. In den Verhandlungen über den Minderheitenschutzvertrag der Alliierten mit Polen von 1919, der als Modell für die nachfolgenden Verträge mit der Tschechoslowakei, Griechenland, Jugoslawien und Rumänien diente, wurde ausdrücklich auf das völkerrechtliche Vorbild des Berliner Kongresses Bezug genommen und die eigenen Bemühungen um die Wahrung allgemein anerkannter Völkerrechtsgrundsätze des Minderheitenschutzes mit dieser Kontinuität legitimiert.248 Während der polnische Vertrag sich inhaltlich durch seine besonderen „jüdischen“ Artikel auszeichnete (Art. 10 – 11), galten die korrespondierenden Art. 10 – 13 des tschechoslowakischen Vertrags den Autonomieregelungen für die Karpato-Ukraine bzw. der Art. 11 des rumänischen wie der Art. 12 des griechischen Vertrags der lokalen 246 Der Berliner Kongreß 1878. Protokolle und Materialien, hrg. v. Imanuel Geiss, Boppard am Rhein: Harald Boldt, 1978, 102 (Protokoll Nr. 10 der Sitzung vom 1. Juli 1878). 247 Ebd., 377 – 378. 248 Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einführung in das Verständnis des modernen Minoritätenproblems, zusammengest. u. m. Anm. vers. v. Herbert Kraus, Berlin: Georg Stilke, 1927, 44 – 45. Vgl. Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Diss. phil. Köln, Würzburg: Holzner, 1960, 207 – 208. Einen sehr knappen Überblick gibt auch Hans Lemberg, „Kulturautonomie, Minderheitenrechte, Assimilation. Nationalstaaten und Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen in Ostmitteleuropa“, in: Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, hrg. v. Mathias Beer, Tübingen: Attempto, 22007, 101 – 104.

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Autonomie der Szeckler und Sachsen in Siebenbürgen bzw. der Walachen im Pindusgebirge.249 Ungeachtet der Betonung der Kontinuität von 1878 und der Verneinung, völkerrechtliches Neuland zu betreten, gingen die Verträge deutlich über den Berliner Kongress hinaus. Die Grundsätze der Art. 2 – 8 wurden zu Grundrechten erklärt, die keiner der Vertragsstaaten durch Gesetze oder andere offizielle Handlungen außer Kraft setzen oder einschränken dürfe. Zu den damit festgesetzten Minderheitenrechten gehörten der Schutz von Leben und Freiheit ohne Unterschied der Geburt, Nationalität, Sprache, Rasse oder Religion und die freie öffentliche wie private Religionsausübung (Art. 2), die Übertragung der Staatsangehörigkeit auf alle innerhalb der Staatsgrenzen lebenden Angehörigen von Minderheiten sowie deren Recht, diese Staatsangehörigkeit abzulegen und sich für eine andere zu entscheiden (Art. 3 – 6), die Gleichheit aller Staatsangehörigen vor dem Gesetz und ihre gleichen politischen Rechte ohne Ansehen von Rasse, Sprache oder Religion sowie der freie Gebrauch von Minderheitensprachen und ihre angemessene Berücksichtigung vor Gericht (Art. 7) und schließlich die kulturelle Autonomie mittels freier Errichtung eigener wohltätiger, religiöser, sozialer und Bildungseinrichtungen (Art. 8).250 Hatte sich der Berliner Kongress noch weitgehend auf die Sicherung der Religionsfreiheit und ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion beschränkt, kamen mit den Minderheitenschutzverträgen Staatsangehörigkeitsrecht, rechtliche und politische Gleichheit, Sprachenregelungen und kulturelle Bestimmungen hinzu. Was jedoch bemerkenswerterweise fehlte, waren tatsächliche Rechtsgarantien. Die Verträge sahen lediglich ein politisches Verfahren vor dem Völkerbundsrat mittels Petitionen vor, jedoch kein wirkliches gerichtlich sanktionenbewertes Klageverfahren. Insofern ist der völkerbundliche Minderheitenschutz mit Recht „ein karitatives System“ genannt worden.251 Tatsächlich haben die sogenannten Minderheitenschutzverträge keinen Minderheitenschutz installiert, sondern lediglich eine Reihe zentraler Minderheitenrechte völkerrechtlich verankert, was ohne Frage bereits einen nicht zu unterschätzenden Wert an sich darstellt. Doch auf diese Weise blieb es letztlich den Staaten überlassen, wie sie den Schutz dieser Völkerrechtsgrundsätze mittels der Verfassung und notfalls weiterer innerstaatlicher Rechtssetzung sicherzustellen gedachten. Angesichts dieser verpflichtenden Auflagen war, wie schon bei der Umsetzung der Bestimmungen des Berliner Kongresses,252 kaum einer der betroffenen Staaten 249

Das Recht der Minderheiten, hrg. v. Kraus, 58, 86 – 87, 99, 105; Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge, 209 – 210, 233 – 235. 250 Das Recht der Minderheiten, hrg. v. Kraus, 54 – 57. Bezüglich der praktischen inhaltlichen Übereinstimmung der übrigen Verträge mit den Art. 1 – 8 des polnischen Vertrags, vgl. ebd., 80 – 81, 85 – 86, 97 – 98, 103 – 104. 251 Bamberger-Stemmann, „Staatsbürgerliche Loyalität und Minderheiten als transnationale Rechtsparadigmen“, 233. 252 Holm Sundhaussen, „Unerwünschte Staatsbürger. Grundzüge des Staatsangehörigkeitsrechts in den Balkanländern und Rumänien“, in: Staatsbürgerschaft in Europa. Historische

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wirklich begeistert von seinem Vertrag, der seine Souveränitätsrechte erheblich einzuschränken drohte. Die Annahme der Verträge musste denn auch in Rumänien und Jugoslawien regelrecht erzwungen werden, und Polen, wo der Widerstand gegen diese Auflagen von Anfang an virulent gewesen war, kündigte den Vertrag schließlich 1934.253 Umso unausweichlicher ist die Frage, wie diese völkerrechtlichen Auflagen in nationales Verfassungsrecht umgesetzt wurden, dokumentiert sich auf diese Weise doch, zumal bei den direkt betroffenen Staaten, wie ernst diese auferlegten Verpflichtungen genommen wurden bzw. wie weit man versuchen mochte, sich ihnen zu entziehen. Das mochte schon bei der völkerrechtlich völlig ungeklärten Frage ansetzen, wie überhaupt Minderheit rechtlich zu definieren sei und für wen also im Zweifelsfall diese Auflagen tatsächlich galten. Insgesamt bietet sich dabei der vergleichende Blick auf Finnland und die baltischen Staaten sowie Albanien an, mit denen die alliierten und assoziierten Mächte 1919 zwar keine entsprechenden Verträge abgeschlossen hatten, diese sich aber keineswegs dem Minderheitenschutz in ihren Ländern entziehen sollten,254 während Ungarn und Bulgarien in der Folge unberücksichtigt bleiben müssen, da sie in diesem Jahrzehnt keine neuen Verfassungen annahmen. Angesichts der höchst unterschiedlichen Resonanz von Minderheitenrechten und Minderheitenschutz in den Verfassungen des Neuen Europa wird die These der nachfolgenden Ausführungen sein, dass ihre Verankerung in den Verfassungen der 1920er Jahre letztlich eher als Ausdruck von nationaler Politik, ihren Bedingungen und Besonderheiten angesehen werden muss, denn als Nachweis der Bemühungen, die völkerrechtlichen Vorgaben der Pariser Friedenskonferenz in nationales Verfassungsrecht umzusetzen. Diese Differenzen werden bereits bei der Behandlung der Staatsangehörigkeit deutlich. Hatte sich die in den 1920er Jahren unverändert gültige bulgarische Tarnowo-Verfassung von 1879 – die jedoch von 1923 – 26 und ab 1934 faktisch suspendiert war – in ihrem Art. 54 noch zum jus solis bekannt, überwog in den Verfassungen der übrigen Staaten des Neuen Europa in der Zwischenkriegszeit ungeachtet aller völkerrechtlichen Auflagen eindeutig das jus sanguinis. Dieser schleichende Übergang vom jus solis zum jus sanguinis war auch an Polen nicht vorbeigegangen. So kannte der einschlägige Art. 88 der polnischen März-Verfassung von 1921 lediglich zwei Wege zur polnischen Staatsbürgerschaft, den durch Geburt

Erfahrungen und aktuelle Debatten, hrg. v. Christoph Conrad u. Jürgen Kocka, Hamburg: edition Körber-Stiftung, 2001, 203. 253 Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge, 198, 209 – 210; Sundhaussen, „Unerwünschte Staatsbürger“, 207. 254 Entsprechend der Empfehlung des Völkerbundes vom 15. Dezember 1920 sollte die Aufnahme der baltischen und kaukasischen Staaten sowie Albaniens in den Völkerbund an die Ergreifung von Maßnahmen zur Umsetzung der allgemeinen Prinzipien der Minderheitenschutzverträge in ihren Ländern geknüpft werden, vgl. Das Recht der Minderheiten, hrg. v. Kraus, 114. Diese Staaten gaben zwischen 1921 und 1923 entsprechende Erklärungen ab, wobei dies im Falle Finnlands in den Zweiparteienverträgen mit Schweden über die Åland Inseln geschah, vgl. Opitz, Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz, 32.

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durch polnische Eltern und den durch Naturalisation,255 ohne dass etwas über die dafür zu erfüllenden Bedingungen gesagt wurde, Bestimmungen, die in offensichtlichem Gegensatz zu der von den Verträgen geforderten Übertragung der polnischen Staatsbürgerschaft auf alle auf dem derzeitigen Staatsterritorium Geborenen oder Lebenden standen. Diesen wurde folglich auch kein Optionsrecht per Verfassung garantiert, vielmehr bestimmte Art. 87 ausdrücklich, dass keiner gleichzeitig polnischer Staatsbürger und der eines anderen Landes sein könne. Vage formulierte Art. 88 dazu abschließend, dass weitere Bestimmungen über Erwerb und Verlust der polnischen Staatsbürgerschaft zukünftige entsprechende Gesetze regeln würden. Angesichts dieser Bestimmungen der polnischen Verfassung von 1921 erscheint die Behauptung: „Formell wurden alle völkerrechtlichen Verpflichtungen in das innerstaatliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, übernommen“,256 zumindest in Bezug auf das Staatsangehörigkeitsrecht kaum nachvollziehbar. Betrachtet man jedoch die übrigen Vertragsstaaten, so hob sich lediglich die Verfassung der Tschechoslowakei positiv von dem polnischen Beispiel ab. Der Artikel 4, Absatz 1 bestimmte: „Es besteht nur eine einzige Staatsangehörigkeit für alle Bürger der tschechoslowakischen Republik.“257 Kein weiterer der Vertragsstaaten,258 aber auch keiner der übrigen Staaten des Neuen Europa hatte in seine Verfassung in den 1920er Jahren eine derart umfassende Inklusion der auf seinem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung in das Staatsangehörigkeitsrecht vorgenommen.

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Eine ähnliche Bestimmung kannte auch die finnische Verfassung von 1919. Karina Kössler, Minderheitenschutz in Polen und Litauen. Ein Vergleich der Rechtslage und Rechtsanwendung im Lichte völkerrechtlicher Vorgaben, Bozen: Institut für Minderheitenrechte, 2013, 42. Dagegen stellt Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?, 88, fest, dass Polen, das dem Minderheitenschutzvertrag nur sehr widerstrebend und unter erheblichem äußeren Druck zugestimmt hatte, diesen in der Folge „so restriktiv wie möglich“ auslegte. 257 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Boris Mirkine-Guetzévitch, Paris: Delagrave, 1928, 326. Das Verfassungsgesetz vom 9. April 1920 (http://www.verfassungen.net/ cssr/verf20-i.htm, Zugriff 16. 12. 2020) führte dies entsprechend weiter aus. 258 Die Verfassung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen von 1921 bestimmte zwar in Art. 4,1 ähnlich „Die Staatsbürgerschaft ist im ganzen Königreiche eine“ und machte damit deutlich, dass es keine unterschiedliche Staatsangehörigkeit für Serben, Kroaten und Slowenen gäbe, bestimmte aber bezeichnenderweise nicht, dass diese Staatsangehörigkeit für alle Bewohner des Territoriums des Königreichs gelte, darunter auch Bosniaken, Montenegriner und Mazedonier (http://www.verfassungen.net/yu/verf21-i.htm, Zugriff 16. 12. 2020). Der Abdruck der Verfassung bei Mirkine-Guetzévitch ist unvollständig. Nicht zu Unrecht machten daher viele der Verfassung den Vorwurf, sie stehe in Wirklichkeit nur für ein Groß-Serbien. Sie und das von ihr geschaffene politische System stießen daher innerhalb Jugoslawiens auf zunehmende Ablehnung, vgl. Holm Sundhaussen, „Jugoslawismus und Loyalität: Kroaten und bosnische Muslime im ersten jugoslawischen Staat (1918 – 1941), in: Staat, Loyalität und Minderheiten, hrg. v. Haslinger u. Puttkamer, bes. 195 – 197; Ann Lane, „Yugoslavia. The search for a nation-state“, in: Europe and Ethnicity. The First World War and contemporary ethnic conflict, hrg. v. Seamus Dunn u. T. G. Fraser, London – New York: Routledge, 1996, 34 – 35. 256

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Im Gegenteil war in den Verfassungen von Rumänien und Albanien davon die Rede, dass sich innerhalb des Staates neben Staatsbürgern – je nach Übersetzung – „Fremde“ oder „Ausländer“ befanden, womit die Verfassungen entgegen aller völkerrechtlichen Auflagen Exklusion zum Staatsprinzip erhoben.259 Soweit wollten, wenn auch zweifellos aus unterschiedlichen Gründen, weder die baltischen Staaten noch Griechenland gehen.260 Während die baltischen Staaten die Frage der Staatsangehörigkeit schlicht aus ihren Verfassungen ausklammerten, um sie flexibleren gesetzlichen Regelungen zu überlassen, nahm die griechische Verfassung von 1927 zu der sibyllinischen Formulierung Zuflucht, dass griechische Staatsbürger jene seien, die die griechische Staatsangehörigkeit erworben hätten bzw. sie gemäß den Gesetzen in Zukunft erwerben würden (Art. 6,3). Damit ergibt sich bereits in der Frage des Staatsangehörigkeitsrechts, dass die Auflagen der Pariser Minderheitenschutzverträge, von einem einzigen Fall abgesehen, nicht in die Verfassungen der Vertragsstaaten, geschweige denn darüber hinaus, eindrangen, sondern eher ignoriert und notfalls auch im Interesse der Titularnation bewusst konterkariert wurden. Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, wie sich diese Differenzen auf den völkerrechtlich geforderten Schutz von Leben und Freiheit der Angehörigen von Minderheiten und deren rechtliche und politische Gleichstellung gemäß den Bestimmungen der Verfassungen der jeweiligen Länder auswirkte. Lediglich die Verfassungen der Tschechoslowakei, Polens und Griechenlands sicherten allen Bewohnern ihres jeweiligen Territoriums „einen vollen und vollständigen Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit ohne irgendeinen Unterschied der Abstammung, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion“ zu,261 während die Verfassungen Rumäniens und Albaniens (nur die von 1928) diesen Schutz, im ersten Fall etwas vager, auch auf Fremde/Ausländer im Lande ausdehnten.262 Andere Verfassungen begrenzten ihn von vornherein ausschließlich auf Staatsbürger, wohingegen in den Verfassungen Estlands, Lettlands und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen ein entsprechender Passus völlig fehlte. Was den alliierten 259 Besonders die Juden hatten unter dieser rumänischen Politik zu leiden, da sie als „Fremde“ und nicht als nationale Minderheit galten, denen daher kein besonderer Minderheitenschutz in Rumänien zustehe, vgl. Mariana Hausleitner, „Nation und Nationalismus in Rumänien 1866 – 2008“, in: Am östliche Rand der Europäischen Union. Geopolitische, ethnische und nationale sowie ökonomische und soziale Probleme und ihre Folgen für die Grenzraumbevölkerung, hrg. v. Wilfried Heller u. Mihaela Narcisa Arambas¸a, Potsdam: Universitätsverlag, 2009, bes. 76 – 77; Hildrun Glass, „Varianten jüdischer Identitäten und Loyalitäten im rumänischen Staat der Zwischenkriegszeit“, in: Staat, Loyalität und Minderheiten, hrg. v. Haslinger u. Puttkamer, bes. 143 – 144. 260 Zur griechischen Verfassungsentwicklung in den 1920er Jahren sehr pauschal, Nicholas Kaltchas, Introduction to the Constitutional History of Modern Greece, New York: Columbia University Press, 1940, 148 – 157. 261 Verfassung der Tschechoslowakei, Art. 106,2 (Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 346). 262 Vgl. Art. 9 der rumänischen und Art. 215 der albanischen Verfassung von 1928.

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und assoziierten Mächten so zentral war, dass es in dem Minderheitenschutzvertrag mit Polen an erster Stelle stand (Art. 2) und von der tschechoslowakischen Verfassung wörtlich übernommen wurde, fand tatsächlich nur in einer Minderheit der Verfassungen des Neuen Europa die geforderte Resonanz. Weniger eindeutig fällt die Betrachtung der Verfassungen in Bezug auf die rechtliche und politische Gleichheit aus. Es verdient in diesem Zusammenhang Beachtung und erscheint aus heutiger Sicht eher erklärungsbedürftig, dass der Minderheitenschutzvertrag mit Polen die rechtliche Gleichheit an die Staatsangehörigkeit knüpfte, womit in der Folge keine der Verfassungen von Finnland bis Griechenland Probleme hatte. Allein das Grundstatut der Albanischen Republik von 1925 wartete mit der bemerkenswerten Bestimmung auf: „Alle Menschen ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 124), eine Bestimmung, die jedoch die monarchische Verfassung von 1928 wieder auf die Staatsbürger beschränkt sehen wollte (Art. 194). Die Verfassung von 1928 wiederholte allerdings ebenfalls nicht die Bestimmung von 1925, nach der „nur albanische Staatsbürger und albanische juristische Personen“ Eigentum an Grund und Boden in Albanien erwerben konnten (Art. 124).263 Deutlich weniger Einmütigkeit herrschte in der Frage der politischen Gleichheit, auf die nunmehr die oben beschriebenen Probleme in der Definition der Staatsangehörigkeit voll durchschlugen. Wie weit verfügten mithin Angehörige der Minderheiten verfassungsrechtlich über das völkerrechtlich gebotene Recht der politischen Mitwirkung? Wie es scheint, kannte lediglich die Verfassung des späteren Jugoslawiens eine „Repräsentation der Minderheiten“ in der Nationalversammlung (Art. 69), ohne jedoch Näheres dazu auszuführen.264 Die Verfassung Rumäniens äußerte sich hingegen deutlich rigider: „Nur die Naturalisation stellt den Fremden dem Rumänen in der Ausübung der politischen Rechte gleich“ (Art. 7,2). Doch diese Naturalisation erfolge durch den Ministerrat aufgrund einer Einzelfallprüfung, wobei das Nähere ein dazu noch zu erlassendes besonderes Gesetz festlegen sollte.265 Auf die rumänische Exklusion antwortete die tschechoslowakische Verfassung mit dem Prinzip der Inklusion: Alle Bürger der tschechoslowakischen Republik genossen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte, „ohne Unterscheidung von Rasse, Sprache oder Religion“ (Art. 128).266 Formal klang das in den albanischen Verfassungen von 1925 (Art. 125) und 1928 (Art. 195) ähnlich, ergänzt noch um den 263 Die Verfassungen Albaniens. Mit einem Anhang: Die Verfassung der Republik Kosova von 1990, hrg., übers. u. eingel. v. Michael Schmidt-Neke, Wiesbaden: Harrassowitz, 2009, 136, 157. Eine ähnliche Bestimmung kannte auch die rumänische Verfassung (Art. 18). Im Falle Albaniens lag der Grund in der politischen Anlehnung an Italien und in der wachsenden ökonomischen und finanziellen Abhängigkeit von Italien, vgl. Stiliano Ordolli, Histoire constitutionnelle de l’Albanie des origines à nos jours, Genf – Zürich – Basel: Schulthess, 2008, bes. 178 – 197. 264 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 311. 265 Ebd., 278. 266 Ebd., 349.

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Zusatz „und haben Zugang zu allen zivilen und militärischen Ämtern“.267 Doch der entscheidende Unterschied lag in der unterschiedlichen Begründung der Staatsangehörigkeit durch die jeweilige Verfassung. So betonte die Verfassung von 1925 noch einmal ausdrücklich: „Nur albanische Staatsbürger können Amtsträger und Beamte des Staates werden“ (Art. 133), während die Verfassung von 1928 ergänzte: „Ausländer können nur als Spezialisten mit Vertrag aufgenommen werden, der für höchstens fünf Jahre abgeschlossen werden darf“ (Art. 204).268 Eine andere Form der Exklusion sah die jugoslawische Verfassung mit ihrer Zweiklassenstaatsbürgerschaft vor: Lediglich „alle Individuen serbisch-kroatisch-slowenischer Abstammung, die Staatsbürger durch Geburt oder Naturalisation sind“, hatten Zugang zu allen politischen Ämtern. „Die anderen naturalisierten Staatsbürger können zu öffentlichen Ämtern nur zugelassen werden, wenn sie seit zehn Jahren im Königreich ansässig oder mit einer besonderen Genehmigung des Staatsrats ausgestattet sind, die dank eines begründeten Vorschlags des zuständigen Ministers gewährt wurde“ (Art. 19).269 Ähnlich übertrug die litauische Verfassung aktive politische Rechte lediglich den Kindern von Naturalisierten, ihnen selber jedoch ausdrücklich nicht (Art. 9,3). Nicht alle der verbleibenden Verfassungen äußerten sich zur Frage der politischen Rechte, wobei das Wahlrecht und der Zugang zu öffentlichen Ämtern im Zentrum standen. Wo es dennoch geschah, waren diese Rechte durchweg an die Staatsbürgerschaft gekoppelt, wobei die finnische Verfassung insoweit eine Ausnahme darstellte, als sie vage auf bestehende gesetzliche Einschränkungen im Zugang zu öffentlichen Ämtern verwies, die auch weiterhin bestehen bleiben sollten, bis eine andere gesetzliche Regelung getroffen sei (Art. 9). Insgesamt wird man festhalten müssen, dass die Gleichheit der politischen Rechte für die Angehörigen der Minderheiten kaum in die Verfassungen eindrang. Lediglich dort, wo, wie in der Tschechoslowakei, das Staatsangehörigkeitsrecht weit definiert und bemüht war, die Minderheiten einzuschließen, entsprach die Verfassung den Vorgaben des Völkerrechts. Hingegen wirkten sich überall dort, wo die Tendenzen zur Exklusion besonders virulent waren, die in den Verfassungen eingebauten Restriktionen im Bereich der politischen Rechte nachhaltig aus. Die verfassungsrechtliche Sicherung der Minderheitenrechte reduzierte sich weiter, wenn wir den Blick auf die Sprachenfrage richten. In sieben der elf hier untersuchten Verfassungen war die Sprache der Titularnation als Staats- oder Amtssprache festgelegt. Lediglich die Verfassungen Lettlands, Polens, der Tschechoslowakei und Griechenlands hatten auf eine entsprechende Regelung in ihrer 267 Die Verfassungen Albaniens, hrg. v. Schmidt-Neke, 136, 157. Vgl. den ähnlichen Passus in der polnischen Verfassung (Art. 96,1). 268 Ebd., 137, 158. Auch die rumänische Verfassung schloss ausdrücklich „Fremde/Ausländer“ vom Zugang zu politischen Ämtern aus (Art. 8,5). 269 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 303 – 304. Vgl. dazu auch Sundhaussen, „Jugoslawismus und Loyalität“, bes. 188 – 191.

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VII. Europa/Europäische Union

jeweiligen Verfassung verzichtet. Jedoch hatte die tschechoslowakische Verfassung in Art. 129 bestimmt, dass „[d]ie Prinzipien des Sprachenrechts“ in einem besonderen Gesetz festgelegt werden sollten, das dann Teil der Verfassung sein sollte.270 Damit war ein Weg gewiesen, den kaum eine andere Verfassung bereit gewesen war einzuschlagen. Die litauische Verfassung hatte immerhin darauf verwiesen, dass der Gebrauch „lokaler Sprachen“ durch Gesetz geregelt sei (Art. 7).271 Doch so weit wie die Verfassung Estlands war kaum eine zweite gegangen. So hatte ihr Art. 22 bestimmt, dass in jenen Ortschaften, in denen die „Esten per Abstammung“ nicht in der Mehrheit seien, „sich die Organe der autonomen Verwaltung der üblichen Sprache der zahlreichsten ethnischen Minderheit bedienen können“. Noch spezifischer hieß es im nachfolgenden Art. 23: „Die Staatsbürger deutscher, russischer oder schwedischer Nationalität haben das Recht, sich ihrer Muttersprache in ihrer Korrespondenz mit der staatlichen Zentralverwaltung zu bedienen.“ Ein besonderes Gesetz solle darüber hinaus den Gebrauch ihrer Sprachen im Umgang mit Gerichten, den „lokalen Verwaltungsbehörden“ und den „autonomen Gewalten“ regeln.272 Eine ganz andere Frage war die der Zukunft dieser Minderheitensprachen. Die jugoslawische Verfassung hatte diesbezüglich eine eigentümliche Bestimmung erlassen: „Den Minoritäten der anderen Rassen und Sprachen wird der Elementarunterricht in ihrer Muttersprache erteilt, und zwar unter den Modalitäten, die das Gesetz vorschreiben wird“ (Art. 16,13).273 Was hier als staatliche Anordnung, nicht als Rechtsanspruch, galt und zudem auf den Elementarunterricht beschränkt bliebt, regelte die tschechoslowakische Verfassung ganz im Sinne eines garantierten Rechtes: „In den Städten und Bezirken, in denen ein beträchtlicher Anteil tschechoslowakischer Staatsbürger anderer Sprache als der tschechoslowakischen Sprache wohnt, ist das Recht innerhalb der von der allgemeinen Gesetzgebung über die Erziehung gesetzten Grenzen ihren Kindern garantiert, Unterricht in ihrer eigenen Sprache zu erhalten, neben der der Unterricht der tschechoslowakischen Sprache obligatorisch gemacht werden kann“ (Art. 131).274

Selbst wenn im Zweifelsfall die Gerichte entscheiden mussten, was ein „beträchtlicher Anteil“ war und der tatsächliche Unterricht auf tschechoslowakisch erfolgte bei einer stundenweisen Unterweisung in der Minderheitensprache, stellte 270

Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 349. Ebd., 244. Vgl. dazu auch Kössler, Minderheitenschutz in Polen und Litauen, 47, 51 – 52. 272 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 165 – 166. Vgl. dazu auch Yutaka Nakanishi, Die Entwicklung der Grundgesetze in Estland vom Jahre 1917 bis zum Jahre 1934, Tokio: o. N., 2004, 50, 52. 273 http://www.verfassungen.net/yu/verf21-i.htm, Zugriff 16. 12. 2020. Vgl. dazu auch HansUlrich Wehler, Nationalitätenpolitik in Jugoslawien. Die deutsche Minderheit 1918 – 1978, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, 20 – 25. 274 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 350. 271

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dies dennoch eine Verpflichtung dar, die keine andere Verfassung des Neuen Europa einzugehen bereit gewesen war. Damit war es nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt zu der Gewährung kultureller Autonomie mittels freier Errichtung eigener wohltätiger, religiöser, sozialer und Bildungseinrichtungen, die das Völkerrecht den Vertragsstaaten auferlegt hatte. Um es kurz zu machen: Die Mehrzahl der fünf Vertragsstaaten wie die der übrigen Staaten des Neuen Europa überging diese Forderung in ihren Verfassungen mit eisigem Schweigen. Eine Ausnahme machte dabei die litauische Verfassung, die kulturelle Autonomie – „Volksbildung, Wohltätigkeit, Gegenseitigkeit“ – den „nationalen Minderheiten, die einen bemerkenswerten Teil der Staatsbürger bilden“, gewährte (Art. 74),275 wobei es im Zweifelsfall wohl der Auslegung bedurfte, was ein „bemerkenswerter Teil“ war und ob dies national oder lokal zu verstehen war.276 Eine Hintertür mochte sich auch in der estnischen Verfassung bieten, deren Art. 21 den ethnischen Minderheiten im Lande das Recht gewährte, „private Einrichtungen zu gründen“, soweit dies mit den Interessen – warum nicht mit den Gesetzen? – des Staates vereinbar sei.277 Die polnische Verfassung erwies sich hier näher an den Auflagen des Völkerrechts, band ihre Zusagen jedoch an den oben diskutierten Begriff der polnischen Staatsangehörigkeit: „Die nationalen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten angehörigen polnischen Staatsbürger haben genau wie andere Staatsbürger das Recht, auf ihre Kosten alle Einrichtungen religiöser und sozialer Wohltätigkeit, Schulen und andere Bildungseinrichtungen zu gründen, zu kontrollieren und zu verwalten und darin freien Gebrauch ihrer Sprache zu machen und den Vorschriften ihrer Religion Genüge zu tun“ (Art. 110).278

Dem schloss sich auch die tschechoslowakische Verfassung an, die diese Bestimmung noch um den Zusatz erweiterte, dass „alle Staatsbürger ohne Unterschied der Nationalität, Sprache, Religion oder Rasse das gleiche Recht genießen, in diesen Einrichtungen ihre eigene Sprache frei zu gebrauchen und ihre Religion frei auszuüben“ (Art. 130). Die Verfassung schloss mit der bemerkenswerten und singulären Bestimmung, die im eklatanten Widerspruch zu den forcierten Nationalisierungs275

Ebd., 251. Kössler, Minderheitenschutz in Polen und Litauen, 50 – 51, weist darauf hin, dass diese Bestimmung nie präzisiert wurde und einer im Laufe der 1920er Jahre zunehmend minderheitenfeindlichen Politik in Litauen zusätzlichen Raum bot. 277 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 165. Dennoch galt Estland in diesem Punkt als vorbildlich und verabschiedete nach jahrelangen Bemühungen schließlich 1925 ein Gesetz über die kulturelle Selbstverwaltung der ethnischen Minderheiten, vgl. dazu Rudolf Michaelsen, Der Europäische Nationalitäten-Kongreß 1925 – 1928. Aufbau, Krise und Konsolidierung, Frankfurt am Main usw.: Peter Lang, 1984, 55 – 59. 278 Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 272. Zu den gesetzlichen Regelungen der Minderheitenschulen in Polen, vgl. Kössler, Minderheitenschutz in Polen und Litauen, 43 – 44. Auch Ingo Eser, „,Loyalität‘ als Mittel der Integration oder Restriktion? Polen und seine deutsche Minderheit 1918 – 1939“, in: Staat, Loyalität und Minderheiten, hrg. v. Haslinger u. Puttkamer, 17 – 44. 276

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VII. Europa/Europäische Union

bestrebungen in Ungarn, Rumänien und anderenorts standen: „Jedes Vorgehen einer gewaltsamen Enteignung ist untersagt.“ Eine Verletzung dieses Prinzips galt als Straftatbestand (Art. 134).279 Als Fazit dieser letzten beiden Punkte muss festgehalten werden, dass der völkerrechtlich geforderte freie sowohl mündliche wie schriftliche Gebrauch von Minderheitensprachen vor Gericht von keiner Verfassung der Staaten des Neuen Europa umgesetzt wurde – allein die estnische Verfassung hatte darüber für drei speziell genannte Minderheiten ein Gesetz in Aussicht gestellt. Die völkerrechtliche Forderung nach Gewährung kultureller Autonomie fand sich, ein weiteres Mal, in wörtlicher Übernahme lediglich in der tschechoslowakischen Verfassung, während die meisten übrigen Verfassungen sich schlicht dazu ausschwiegen. Damit bleibt als letzter Punkt die Frage, welche Garantien die Verfassungen den Minderheiten für die gewährten Rechte boten. Die Minderheitenschutzverträge hatten für den Streitfall die Petition an den Ständigen Rat des Völkerbunds angeboten. Doch in unserem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und wenn welche innerstaatlichen Lösungen die Staaten des Neuen Europa bereit hielten für den Fall, dass durch die Verfassung garantierte Rechte in der Praxis umstritten waren oder nicht eingehalten wurden. Dieses Problem weist seiner Natur nach über die Thematik der Minderheitenrechte und ihres Schutzes hinaus und gilt generell dem weiten Feld der Verfassungsgarantie und der Verfassungsgerichtsbarkeit. Ganz offensichtlich führt uns diese Thematik in einen in den 1920er Jahren noch kaum entwickelten Bereich des europäischen Verfassungsrechts. Daher verwundert es nicht, dass sich vier Verfassungen, nämlich die von Estland, Lettland, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens zu dieser Thematik überhaupt nicht äußern.280 Die griechische Verfassung enthielt die Bestimmung (Art. 28), dass allein die Legislative für eine authentische Gesetzesinterpretation zuständig sei, eine Bestimmung, die sich ebenso in beiden albanischen Verfassungen fand (1925: Art. 109; 1928: Art. 10). Letztere sah darüber hinaus noch ein höchst umständliches und unpraktikables Verfahren für die authentische Interpretation der Verfassung vor (Art. 224 – 228). Dass derartige Vorkehrung jenseits unabhängiger Gerichte einen

279

Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 350. Tatsächlich erwähnt die tschechoslowakische Verfassung zweimal die Existenz eines Verfassungsgerichts (Art. 20,6 und Art. 54,13). Allerdings kann ich in den jeweiligen Bestimmungen keinen Beleg für die Behauptung von Agnes Headlam-Morley, The New Democratic Constitutions of Europe. A Comparative Study of Post-War European Constitutions with Special Reference to Germany, Czechoslovakia, Poland, Finland, the Kingdom of the Serbs, Croats & Slovenes and the Baltic States, London: Oxford University Press, 1928, 48, erkennen, dass die Verfassung das Verfassungsgericht befähigte, darüber zu entscheiden, „ob die Gesetzgebung des Parlaments im Einklang mit der Verfassung steht“. 280

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effektiven Schutz vor Übergriffen von Regierung und Verwaltung, aber auch der Gesetzgebung boten, darf bezweifelt werden.281 Die logischen Widersprüche innerhalb der rumänischen Verfassung erwecken nicht den Eindruck, dass es hier um den verfassungsrechtlichen Schutz von Minderheitenrechten, durch deren Verankerung sich die Verfassung ohnehin nicht ausgezeichnet hatte, besser bestellt war. So gewährte ihr Art. 36 zwar der Legislative das Recht der authentischen Gesetzesinterpretation. Doch dem stand Art. 103 entgegen, laut dem allein das Kassationsgericht über die Verfassungsgemäßheit von Gesetzen entscheiden konnte. Um das ganze noch zusätzlich zu verkomplizieren, legte Art. 107 in seinem Abs. 4 fest, dass die „richterliche Gewalt“ über die Illegalität von Handlungen der Verwaltung zu entscheiden befugt sei, nicht jedoch, so Abs. 5, über solche der Regierung.282 Auch die polnische Verfassung war in dieser vergleichsweise neuartigen Materie nicht frei von Widersprüchen. So stellte ihr Art. 38 fest, dass kein Gesetz gültig sei, dass gegen die Verfassung verstieß.283 Doch Art. 81 bestimmte ausdrücklich, dass die Gerichte die Gültigkeit von Gesetzen nicht überprüfen könnten, so dass sich auch hier die Frage stellte, wer mithin sicherstellen sollte, dass die Gesetze verfassungskonform waren und folglich die verfassungsrechtlich gewährten Minderheitenrechte nicht durch Gesetze ausgehebelt wurden? Allein die finnische Verfassung legte in ihrem Art. 38 fest, dass ausschließlich die höchsten Gerichte des Landes die Gesetze authentisch auslegen könnten. Doch ebenso wenig wie in den anderen Verfassungen wurde hier die aus heutiger Sicht sich aufdrängende verfassungsrechtliche Konsequenz gezogen, dass folglich diese höchsten Gerichte verfassungswidrige Gesetze annullieren konnten. Der Schutz von Minderheitenrechten blieb mithin auch durch die finnische Verfassung nicht wirklich garantiert. Der Erste Weltkrieg endete in Mittel- und Osteuropa mit dem Zusammenbruch der Imperien, die vormals Ethnien und Religionen übergreifende Ordnungsmächte gewesen waren. An ihre Stellen traten Nationalstaaten und Minderheiten. Letztere waren in besonderer Weise Opfer des Umbruchs, von individueller wie kollektiver Gewalt und oftmals von Nachfolgekriegen geworden.284 Sie in die neuen Nationalstaaten zu integrieren und ihnen völkerrechtlichen Schutz zu bieten, war das moralische Anliegen der alliierten und assoziierten Mächte. Doch dies ließ sich nicht 281

Zu der de facto nicht bestehenden Unabhängigkeit der Gerichte unter der diktatorischen Herrschaft Zogus unter beiden Verfassungen, vgl. Schmidt-Nekes „Abriss der albanischen Verfassungsgeschichte“, in: Die Verfassungen Albaniens, hrg. v. dems., 33, 35 – 36. 282 Vgl. Les Constitutions de l’Europe nouvelle, hrg. v. Mirkine-Guetzévitch, 284, 293, 294. 283 Eine vergleichbare Bestimmung enthielt auch Art. 3 der litauischen Verfassung. 284 Vgl. dazu generell, Jochen Böhler, „Europas ,Wilder Osten‘. Gewalterfahrungen in Ostmitteleuropa 1917 – 1923“, in: Osteuropa, 64,2 – 4 (2014), 141 – 155; Rogers Brubaker, „Zufällige Diasporas und externe ,Heimatländer‘ in Mittel- und Osteuropa“, in: Staatsbürgerschaft in Europa, hrg. v. Conrad u. Kocka, 115 – 143.

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VII. Europa/Europäische Union

kraft militärischen Sieges dekretieren, sondern setzte einen gleichgerichteten politischen Willen in den jeweiligen Titularnationen voraus. Man mochte in den 1920er Jahren viel über den rechtlichen Zusammenhang zwischen Völkerrecht und nationalem Recht philosophieren. Die politische Realität entzog sich dieser wissenschaftlichen Diskussion. Dabei waren, von wenigen Details abgesehen, die völkerrechtlichen Formulierungen der Minderheitenschutzverträge inhaltlich nicht in Frage zu stellen noch waren diese völkerrechtlich irrelevant. Doch der herrschende politische Wille in den betroffenen Ländern stand nur in den seltensten Fällen auf Seiten der Verträge.285 Von ihren oben erwähnten länderspezifischen Bestimmungen finden sich weder die den Art. 10 – 11 des polnischen Vertrags entsprechenden „jüdischen“ Artikel in der polnischen Verfassung noch die vertraglich geforderten Auflagen bezüglich der Autonomie der Szeckler und Sachsen in der rumänischen Verfassung oder die der Walachen in der griechischen Verfassung. Allein die tschechoslowakische Verfassung kam mit ihrem ausführlichen Art. 3 verfassungsrechtlich ihren Verpflichtungen zu Autonomieregelungen für die Karpato-Ukraine nach. Den allgemeinen Völkerrechtsprinzipien der Art. 2 – 8 der Minderheitenschutzverträge erging es nicht grundlegend anders. In den Fragen der Staatsangehörigkeit, politischen Rechte, Gebrauch der Sprachen sowie der kulturellen Autonomie der Minderheiten zeichnete sich die tschechoslowakische Verfassung durch eine gehäufte direkte Übernahme der Vertragsbestimmungen in die eigene Verfassung aus,286 während Finnland, die baltischen Staaten, Polen und vereinzelt Griechenland 285

In der politischen Realität der 1920er und 1930er Jahre hieß das, dass durch das Verhalten der Titularnationen, aber auch der Minderheiten selbst und schließlich auch der Alliierten diese Verträge kaum mit Leben erfüllt und zunehmend missachtet und schließlich auch vor dem Völkerbund und dem Internationalen Gerichtshof nicht weiter verfolgt wurden, vgl. Musgrave, Self-Determination and National Minorities, 55 – 57. 286 Das Urteil von Helmut Slapnicka, „Recht und Verfassung der Tschechoslowakei 1918 – 1938“, in: Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik, hrg. v. Karl Bosl, München – Wien: Oldenbourg, 1969, 99, dass die Tschechoslowakei den mit dem Minderheitenschutzvertrag übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen „nur in einer völlig ungenügenden Form entsprochen“ habe, erscheint mir in Bezug auf die Verfassung nicht gerechtfertigt. Laut Ladislav Lipscher, Verfassung und politische Verwaltung in der Tschechoslowakei 1918 – 1939, München – Wien: Oldenbourg, 1979, 46, wenn auch ähnlich pauschal, kam die Tschechoslowakei ihren Verpflichtungen aus den Minderheitenschutzvertrag durch Übernahme in die Verfassung nach. Auch W. V. Wallace, „From Czechs and Slovaks to Czechoslovakia, and from Czechoslovakia to Czechs and Slovaks“, in: Europe and Ethnicity, hrg. v. Dunn u. Fraser, 52 – 53, betont, dass die Verfassung „grundlegende Minderheitenrechte“ festgeschrieben habe und Mitte der 1920er Jahre die Tschechoslowakei mit Blick auf die deutsche Minderheit ein Musterbeispiel für das Funktionieren eines multinationalen Staates abgab. Beth Wilner, „Czechoslovakia, 1848 – 1998“, in: Roger D. Petersen, Understanding Ethnic Violence. Fear, Hatred, and Resentment in Twentieth-Century Eastern Europe, Cambridge: Cambridge University Press, 2002, 189, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis mit der Feststellung, „es ist allgemein anerkannt, dass die Tschechoslowakei mehr für ihre ethnischen Minderheitengruppen tat als benachbarte Länder und mehr, als nach dem Völkerecht verlangt war“. Diese Einschätzungen verdienen umso mehr Beachtung, als die Minderheiten weder in

6. Vom Völkerrecht zum Verfassungsrecht

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sich als mitunter weniger inklusionsfreudig erwiesen und selektiver mit der Übernahme der völkerrechtlichen Prinzipien in ihre Verfassungen umgingen.287 Die auffälligsten Tendenzen zur Exklusion mit der geringsten Bereitschaft zur Umsetzung der Grundsätze der Minderheitenschutzverträge dokumentieren die Verfassungen Albaniens, des nachmaligen Jugoslawiens und Rumäniens.288 Die Gründe für diese ernüchternde Bilanz liegen nicht im Völkerrecht. Dass in der Zwischenkriegszeit kein rechtlich-politisches Instrumentarium international zur Verfügung stand, Völkerrechtsgrundsätze wirksam durchsetzen zu können, hatte viele Gründe, und der selektive Charakter des durch die Pariser Friedenskonferenz völkerrechtlich sanktionierten Minderheitenschutzes, der eben nur für die Staaten des Neuen Europa galt, was diese immer wieder beklagten, aber weder für Deutschland noch für die alliierten und assoziierten Mächte, war nur einer davon. Während der völkerrechtliche Minderheitenschutz eigentlich die Rechtsstellung von Minderheiten hatte stärken sollen, schuf seine politische Umsetzung seit dem Berliner Kongress und bestätigt durch die Pariser Friedenskonferenz stattdessen Staaten zweiter Klasse, womit politisch das Gegenteil von dem erreicht wurde, was völkerrechtlich angestrebt war. Ein ganz anderes Problemfeld stellt die innerstaatliche Ebene dar und hier speziell die der Staaten des Neuen Europa in den 1920er Jahren. Wenn Verfassungen Ausdruck der Rechtskultur wie der politischen Kultur eines Staates sind, ergibt sich die Frage, ob in diesen Jahren von Krieg, Chaos und Gewalt mit Millionen entwurzelter Menschen, von Zerstörung und einer am Boden liegenden Wirtschaft, die die eigene Bevölkerung kaum ernähren konnte, ob unter diesen Bedingungen verfassungsrechtlich überhaupt mehr zu erreichen gewesen wäre. Der begeistert unternommene Versuch dieser neuen oder wiedererstandenen Staaten, mit Hilfe moderner, Frankreich, England oder den Vereinigten Staaten nacheifernden Verfassungen des modernen Konstitutionalismus die parlamentarische Demokratie in ihre Länder einzupflanzen, selbst wenn dafür weder die sozialen, ökonomischen, politischen noch kulturellen Voraussetzungen gegeben waren, scheiterte meist bereits nach wenigen Jahren kläglich, ohne dass in der Regel hinreichend Zeit zur politischen Integration dieser Minderheiten in ihre neuen Staaten und zum Aufbau einer Kultur des Mindie Verfassungsgebung einbezogen wurden noch zu diesem Zeitpunkt die Bereitschaft zur Mitwirkung ihrerseits bestanden hatte, vgl. Hans Lemberg, „1918: Die Staatsgründung der Tschechoslowakei und die Deutschen“, in: Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848 – 1989, f. d. Deutsch-Tschechische u. Deutsch-Slowakische Historikerkommission hrg. v. Detlef Brandes, Dusˇan Kovácˇ u. Jirˇí Pesˇek, Essen: Klartext, 2007, 133 – 134. 287 Zu den baltischen Staaten, vgl. Ken Ward, „The Baltic States“, in: Europe and Ethnicity, hrg. v. Dunn u. Fraser, 147 – 149. 288 Die Gründe mögen darin zu sehen sein, dass Albanien der ethnisch homogenste Balkanstaat war (über 92 % der Bevölkerung galten als ethnische Albaner), während in Jugoslawien und Rumänien die Widerstand gegen die Minderheitenschutzverträge von Anbeginn außerordentlich stark gewesen war, vgl. Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung?, 225 – 226, 254 – 258, 285 – 288, 300 – 301.

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VII. Europa/Europäische Union

derheitenschutzes zur Verfügung gestanden hätte. Völkerrecht übersetzt sich nie weder automatisch noch nahtlos in Verfassungsrecht. Doch selbst wenn das 20. Jahrhundert mit seiner Betonung des ius sanguinis, seinem Irredentismus und seinen Varianten der Exklusion den Irrweg des vermeintlich ethnisch reinen Nationalstaates offenbart hat, bleibt der Umgang mit Minderheiten, ihren Rechten und deren Schutz die Herausforderung der Zeit.

VIII. Lateinamerika So präsent Lateinamerika heute im europäischen Alltag ist, vom Obstregal im Supermarkt über den Amazonas-Regenwald bis zu aktuellen politischen Ereignissen, umso weniger sind lateinamerikanische Verfassungen außerhalb von Portugal und Spanien, je ins europäische Bewusstsein gedrungen. In seiner weit verbreiteten Untersuchung Modern Constitutions since 1787 von 1939 nannte John A. Hawgood als Entschuldigung für seine Nichtbeachtung der lateinamerikanischen Verfassungen, „dass die eigene Bevölkerung, für die diese Verfassungen geschrieben wurden, ihm als Präzedenzfall diene, indem sie selbst ihnen keine besondere Beachtung schenkte“.1 Ganz so weit wollte Hans Fenske 2001 in Der moderne Verfassungsstaat nicht gehen und widmete immerhin 30 (von 570) Seiten dem schon bezeichnend formulierten Kapitel „Lateinamerika und der Verfassungsstaat“. Sein Fazit unterschied sich jedoch bestenfalls graduell von dem Hawgoods: Es gäbe keine originellen Beiträge, mangele es Lateinamerika doch an jenen, die für „ein geordnetes Verfassungsleben unter rechtlichen Normen“ einträten.2 Die Beispiele ließen sich, zumal aus dem nordatlantischen Raum, fortsetzen, und selbst dieser Band setzt sich nicht dem Vorwurf aus, die lateinamerikanischen Verfassungen quantitativ überrepräsentiert zu haben. Dabei ist unbestritten, dass die Verfassungsentwicklung in Lateinamerika anders verlaufen ist als in den Vereinigten Staaten von Amerika und als in zahlreichen Staaten Europas. Doch berechtigen eine mitunter gehäufte Verfassungsinstabilität zu derart pauschalen Urteilen, oder sind diese nicht eher Ausdruck der relativ begrenzten Kenntnis der lateinamerikanischen Entwicklung ihrer Verfasser? Nicht allein die Tatsache, dass die mexikanische Bundesverfassung und in ihrer Folge zahlreiche Einzelstaatsverfassungen des Landes inzwischen über einhundert Jahre alt und damit zu den ältesten heute gültigen Verfassungen überhaupt zählen und älter sind als die Verfassungen aller europäischen Staaten mit Ausnahme von Belgien, Luxemburg und Norwegen und etwa einem Drittel der Einzelstaaten der USA, spricht eine andere Sprache. Ist also tatsächlich Lateinamerika in einer Geschichte des modernen Konstitutionalismus eine zu vernachlässigende Größe? Dass dieser abschließende Teil lediglich zwei kurze Kapitel umfasst, sollte nicht als indirekte Antwort auf diese Frage gewertet werden. Statt die aufgeworfene Frage inhaltlich zu beantworten, liegt ihnen lediglich eine eher pädagogische Absicht zugrunde. Diese lässt sich in der thesenhaften Zuspitzung formulieren, dass jede Geschichte des modernen Konstitutionalismus unvollständig ist, die nicht neben 1

John A. Hawgood, Modern Constitutions since 1787, London: Macmillan, 1939, vi. Hans Fenske, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn usw.: Ferdinand Schöningh, 2001, 470. 2

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VIII. Lateinamerika

Nordamerika und Europa Lateinamerika gleichberechtigt in den Blick nimmt, bevor dieser auf übrige Teile der Welt ausgedehnt wird. Das ist mehr als allein eine Frage der Chronologie, sondern auch eine bewusste Zurückweisung des verbreiteten Klischees von Lateinamerika als einem Kontinent des Scheiterns. Dass Lateinamerika Teil der Geschichte des modernen Konstitutionalismus ist, drückt sich in diesem Band nicht zuletzt darin aus, dass sich in allen seinen Teilen, mit Ausnahme des Teils IV., in zusammen über zehn Kapiteln immer wieder Rückgriffe auf lateinamerikanische Verfassungen finden. Was bislang also durchaus präsent war, steht in den beiden abschließenden Kapiteln im Mittelpunkt. Das erste der beiden Kapitel beschränkt sich auf die ersten Jahrzehnte der unabhängigen lateinamerikanischen Staaten, wobei der geographische Raum im Wesentlichen auf die Andenregion und Mittelamerika beschränkt ist, allein um aufzuzeigen, wie hier traditionelle und moderne Auffassungen aufeinandertrafen, bei denen der Weg in den Präsidentialismus als eine Möglichkeit bereits erkennbar wird. Das zweite Kapitel versucht dann einen tour de force durch zweihundert Jahre lateinamerikanischer Verfassungsentwicklung, um die Resonanz des modernen Konstitutionalismus, aber dabei indirekt zugleich auch den oftmaligen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis aufzuzeigen.

1. Die frühen lateinamerikanischen Verfassungen zwischen modernem Konstitutionalismus und den Anfängen des Präsidentialismus3 Wenn sich dieses erste Kapitel auf die Frühzeit der Verfassungsentwicklung Lateinamerikas konzentriert, im Wesentlichen also, von wenigen früheren Beispielen abgesehen, auf die 1820er bis 1840er Jahre, geschieht dies in zweierlei Absicht. Zum einen soll, wenn auch in sehr knapper Weise, versucht werden, Haiti in diese Geschichte zu integrieren. Obwohl hier fast alles anders war als zumal auf dem hispanoamerikanischen Festland, ging es verfassungsrechtlich um gleichartige Probleme: die Integration einer Gesellschaft in eine Verfassungsordnung und die Ausübung von verfassungsmäßiger Herrschaft. Damit standen hier wie dort die Fragen nach der Relevanz der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus im Zentrum. Gleiches lässt sich für die hier gewählten Beispiele zumal der AndenRepubliken und abschließend von Mittelamerika sagen. Es soll dabei dargelegt werden, welche Entwicklungen und Widersprüche es in diesen Jahrzehnten gab und welche Bedeutung diese für die zweihundert Jahre lateinamerikanischer Verfassungsgeschichte haben. 3 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „El surgimiento del constitucionalismo moderno y las constituciones latinoamericanas tempranas“, in: Revista Pensamiento Jurídico, 23 (Sept. – Dez. 2008), 13 – 32.

1. Die frühen lateinamerikanischen Verfassungen

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Dass die Ereignisse in Nordamerika und in Frankreich in dem sich noch in kolonialer Abhängigkeit befindlichen Lateinamerika nicht unbemerkt blieben, kann niemanden überraschen. Am 28. Mai 1790 beschloss eine sich „Generalversammlung (assemblée générale)“ nennende Versammlung der Pflanzer des französischen Teils von Santo Domingo die „Konstitutionellen Grundlagen von Santo Domingo (Bases constitutionnelles de Saint-Domingue)“, in denen sie in Anlehnung an die Präambel der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf ihre Rechte pochten, die „lange Zeit verkannt und vergessen“ gewesen seien. Dazu gehöre das „unantastbare Recht“ der Regelung ihrer inneren Angelegenheiten.4 Für mehr Aufmerksamkeit sorgte 1793 die von Antonio Nariño in Bogotá vorgenommene spanische Veröffentlichung der Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, selbst wenn es sich dabei lediglich um eine Übersetzung der französischen Erklärung von 1789 handelte.5 1797 folgte eine weitere Erklärung der Menschenund Bürgerrechte, diesmal in Caracas und nunmehr als spanische Übersetzung der jakobinischen Erklärung von 1793.6 Doch zumal die durch die Französische Revolution hervorgerufenen Umbrüche samt der Kriege in ihrer Folge, die schließlich auch auf Spanien und damit zumindest indirekt auf die lateinamerikanische Welt übergriffen, ließen wenig Raum für Verfassungen. 1798 und 1801 entwickelte Francisco de Miranda zwei unterschiedliche Projekte, die neben anderen britischen Einfluss erkennen lassen und dem modernen Konstitutionalismus noch recht entfernt waren. Gleiches lässt sich im Wesentlichen für Haiti sagen, das 1801 einen Autonomiestatus erreicht hatte und dessen Verfassung von 1801 die Machtposition von Toussaint Louverture zementieren sollte, der zum Gouverneur auf Lebenszeit eingesetzt wurde und das ausschließliche Recht besaß, seinen Nachfolger zu bestimmen,7 wobei das Vorbild eher Napoleon als der moderne Konstitutionalismus war, von dessen Prinzipien sich hier kaum etwas finden lässt. So hatte wie in der französischen Verfassung des Jahres VIII (1799) die Legislative kein Initiativrecht; Gesetzesvorschläge kamen ausschließlich von der Regierung.8 Die erste haitianische Verfassung nach der Unabhängigkeit von 1805 unter Kaiser Dessalines verwandelte dann Haiti in eine reine Militärdiktatur unter der Gloriole eines Wahlkaisertums. Bemerkenswerterweise ist die Verfassung von 1805 eine der wenigen, wenn nicht die einzige, in der es, wie reduziert sie auch sonst immer sein 4 Documents constitutionnels d’Haïti, 1790 – 1860, hrg. v. Laurent Dubois, Julia Gaffield und Michel Acacia, Berlin – Boston: de Gruyter, 2013, 23 – 25. 5 Documentos Constitucionales de Colombia y Panama, 1793 – 1853, hrg. v. Bernd Marquardt, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 27 – 28. 6 http://www.ucv.ve/fileadmin/user_upload/BicentenarioUCV/Documentos/Derechos_del_ hombre_y_del_ciudadano.pdf (Zugriff 16. 12. 2020). 7 Art. 28, 30, Constituion de la colonie française de Saint-Domingue von 1801, in: Documents constitutionnels d’Haïti, hrg. v. Dubois, Gaffield und Acacia, 55 – 56. 8 Art. 19, ebd., 54.

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VIII. Lateinamerika

mag, überhaupt keine Legislative gab. Gesetze machte der Kaiser.9 Wenig Wunder, dass sich nach seiner Ermordung die republikanische Verfassung von 1806 einen liberaleren Anstrich gab. Sogleich wurden Menschenrechte proklamiert: „Die Rechte des Menschen in der Gesellschaft sind die Freiheit, die Gleichheit, die Sicherheit, das Eigentum.“ Ergänzend hieß es: „Das was nicht durch das Gesetz verboten ist, kann nicht behindert werden.“10 In beiden Fällen handelte es sich um wörtliche Übernahmen aus der Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und Bürgers der französischen Verfassung des Jahres III (1795).11 Auch in der Erklärung der Souveränität folgte die haitische Verfassung wörtlich dem Beispiel der Verfassung des Jahres III: „Die Souveränität wohnt wesentlich der Gesamtheit der Staatsbürger inne (réside); kein Individuum, keine Teilvereinigung von Bürgern, kann sich die Souveränität anmaßen.“12 Auch wenn der weitere Aufbau der Verfassung wie eine kondensierte Form der Verfassung des Jahres III wirkt, legte die Situation Haitis deutliche Abweichungen nahe. So bestand die Legislative lediglich aus einer Kammer, dem Senat, dessen Angehörige allerdings nicht gewählt, sondern von der konstituierenden Nationalversammlung ernannt wurden,13 und der das Machtzentrum darstellte, gegenüber dem die Exekutive in ihren Befugnissen eingeschränkt war. Hatte schon die Verfassung des Jahres III angesichts des Revolutionstribunals der Jakobiner keine richterliche Unabhängigkeit verkünden wollen, fehlte diese auch in der haitischen Verfassung. Jedoch waren die Richter in beiden Verfassungen vor willkürlicher Amtsentsetzung geschützt. Ebenso übernahm die haitische Verfassung die Bestimmung, wonach kein Richter „die Ausführung irgendeines Gesetzes anhalten oder aussetzen kann“.14 Insgesamt hatte damit der moderne Konstitutionalismus einen begrenzten Einzug in Haiti erfahren. Die durch die Verfassung hervorgerufenen Machtrivalitäten bewirkten aber auch, dass sich der Norden von Haiti 1807 eine eigene, erneut autoritärere Verfassung gab und 1811 in ein Königtum umgewandelt wurde, während der Süden bei seiner Verfassung von 1806 blieb, die 1816 umfangreich amendiert wurde und ein Zweikammernparlament und eine stärkere Stellung des auf Lebenszeit er9

Art. 30, Constitution Impériale d’Haïti von 1805, ebd., 65. Art. 3, 10, Constitution Républicaine von 1806, ebd., 69. 11 Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 105 (Art. 1, 7). 12 Art. 12, Constitution Républicaine von 1806, in: Documents constitutionnels d’Haïti, hrg. v. Dubois, Gaffield und Acacia, 69; vgl. Art. 17, 18 der Rechte- und Pflichtenerklärung der Verfassung des Jahres III, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier,105 – 106. 13 Art. 44 – 54, Constitution Républicaine von 1806, in: Documents constitutionnels d’Haïti, hrg. v. Dubois, Gaffield und Acacia, 72. An deren Stelle sollte zukünftig ein mehrstufiges und damit indirektes Nominierungs- und Wahlverfahren treten. 14 Art. 127, Constitution Républicaine von 1806, in: Documents constitutionnels d’Haïti, hrg. v. Dubois, Gaffield und Acacia, 76; vgl. Art. 203, Verfassung des Jahres III, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 121. 10

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nannten Präsidenten einführte. Nachdem die Machtrivalen 1818 bzw. 1820 verstorben waren, gelang es 1822 Haiti unter dieser Verfassung wieder zu vereinen, die dann bis 1842 in Kraft blieb.15 Mit der Rechteerklärung und dem Verfassungsprojekt von Guatemala von 1810, das sich zumindest in Teilen ebenfalls an die französische Verfassung des Jahres III anlehnte und als eine Art „amerikanischer“ Diskussionsbeitrag für die Verfassungsberatungen der spanischen Cortes dienen sollte,16 kommen wir bereits in das Umfeld der Verfassung von Cadiz. Die französischen Revolutionsverfassungen, darunter zumal die Verfassung des Jahres III, das hatten die bisherigen Beispiele nicht allein für Haiti ergeben, hatten seit den 1790er Jahren in der Regel mehr Aufmerksamkeit in Lateinamerika gefunden als die nordamerikanischen. Das lag nicht allein an ihrer größeren Aktualität und Medienwirksamkeit, sondern auch daran, wie schon die Rechteerklärungen gezeigt hatten, dass sie in ihrer Konzentration auf die Verkündung universeller Prinzipien,17 die lateinamerikanische Situation stärker anzusprechen schienen, als die einklagbaren und gerichtsrelevanten amerikanischen Bestimmungen. Die Cadiz-Verfassung dürfte aus zwei Gründen genau dieser Erwartungshaltung entsprochen haben: Sie schuf eine Verfassungsperspektive für Hispanoamerika und sie proklamierte die Volkssouveränität, selbst wenn sie sich praktisch ausschwieg über universelle Prinzipien und Menschenrechte. Dafür waren repräsentative Regierung, Gewaltentrennung und die Unabhängigkeit der Justiz in ihr verankert. Sie erkannte die Verfassung als höchstes Gesetz an und enthielt Bestimmungen zur Revision der Verfassung, selbst wenn sie sich nicht zum Prinzip der begrenzten Regierung und der Verantwortlichkeit äußerte. Damit hatte die Cadiz-Verfassung über Europa hinausgehend ein Leitbild für den demokratischen Liberalismus geschaffen,18 der zumindest in Teilen Hispanoamerikas für Jahrzehnte seine Spuren hinterließ. Ungeachtet aller offiziellen Rhetorik hatte die Cadiz-Verfassung nicht nur in Teilen Europas, darunter auch einigen deutschen Staaten,19 positive Resonanz gefunden, sondern auch in den nach Unabhängigkeit strebenden Teilen Lateinamerikas. Zwar hatte die Föderationsakte der Vereinigten Provinzen von Neu-Granada vom 15

Vgl. dazu ebd., 17 – 18, 63 – 107. Vgl. dazu Jorge Mario García Laguardia, Un Proyecto constitucional americano en las Cortes de Cádiz de 1812. Un diputado por Guatemala Antonio Larrazabal, Mexiko: Biblioteca Jurídica Virtual del Instituto de Investigaciones Jurídicas de la UNAM, 2013, bes. 280 – 288. 17 Vgl. dazu oben Kap. VII. 5. 18 Cf. Boris Mirkine-Guetzévitch, „La Constitution espagnole de 1812 et les débuts du libéralisme européen (Esquisse d’histoire constitutionnelle comparée)“, in: Introduction à l’étude du droit comparé.. Recueil d’Études en honneur d’Édouard Lambert, 5 Bde., Paris: Recueil Sirey, 1938, II, 211, 216 – 219; Juan Ferrando Badía, „Die spanische Verfassung von 1812 und Europa“, in: Der Staat, 2 (1963), 155 – 158. Auch Antonino de Francesco, „La Constitución de Cádiz en Nápoles“, in: José María Iñurritegui und José María Portillo (Hrg.). Constitución en España: Orígenes y destinos, Madrid: Centro de Estudios politicos y constitucionales, 1998, 273 – 286. Vgl. dazu auch oben Kap. VI. 3. 19 Vgl. dazu oben Kap. VI. 7. 16

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27. November 1811 anders als Guatemala und Mexiko zu dieser Zeit die Autorität der Cortes in Cadiz in ihrem Art. 5 zurückgewiesen, doch ebenso wie dann die CadizVerfassung übernahm sie bereitwillig Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, darunter „ihre unveräußerlichen Rechte: 1. darunter die Fähigkeit, sich eine Regierung zu geben, wie sie ihren Gegebenheiten am besten entspricht, jedoch immer volkstümlich, repräsentativ und gemäß dem allgemeinen [Wohl] der Union, […] indem sie die Gewalten trennt und die Regeln vorschreibt, nach denen sie ausgeübt werden müssen“.20 Die Wortwahl war zweideutig. Zwar wurden „unveräußerliche Rechte“ anerkannt, doch wer waren die Träger dieser Rechte, die Provinzen, das Volk? Wer hatte das Recht, eine Regierung einzusetzen? Was war mit einer „volkstümlichen“ Regierung gemeint? Bedeuteten die grundlegenden „Regeln“ den Vorrang der Verfassung? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen und um zu verstehen, wie die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in diesem Teil Lateinamerikas aufgenommen wurden, mag es hilfreich sein, sich der Verfassung der Republik Kolumbien von 1821 zuzuwenden. Hinsichtlich der Souveränität hatte die Verfassung wörtlich die Bestimmung von Art. 3 der Verfassung von Cadiz übernommen: „Die Souveränität liegt grundsätzlich in der Nation.“21 Es gab keinen Abschnitt oder Titel über Menschenrechte, jedoch, erneut wie in der Verfassung von Cadiz, einen Abschnitt über „Regierung“. Hier hieß es in Art. 9: „Die Regierung Kolumbiens ist volkstümlich-repräsentativ.“ Die Erklärung erfolgte im nachfolgenden Art. 10: „Das Volk selbst übt keine anderen Attribute der Souveränität aus als die der ursprünglichen Wahlen; noch legt sie ihre Ausübung in die Hand eines Einzigen. Die höchste Gewalt ist durch ihre Ausübung geteilt in Legislative, Exekutive und Judikative.“22 Wenn das Volk wirklich souverän war, wer, wenn nicht das Volk selbst, hatte das Recht, es in der Ausübung seiner Souveränität einzuschränken? Wer war die „höchste Gewalt“, die zum Zwecke der Regierung unterteilt wurde? Was schwang in diesen Formulierungen mit, die Montesquieu so nicht gewählt hatte? Wie vereinbarten sich diese Bestimmungen mit der proklamierten Unabhängigkeit der Justiz und mit den Ausführungen zur Revision der Verfassung?23 Da überrascht es nicht, dass über universelle Prinzipien, begrenzte Regierung, Verantwortlichkeit und über den Vorrang der Verfassung nichts gesagt wird. Ungeachtet dieser Ungereimtheiten hatte die Verfassung von 1821 die rote Linie gezogen in Bezug auf die Übernahme der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, die in den folgenden Jahrzehnten nicht überschritten werden sollte. Die Verfassung von 1830, erneut weniger revolutionär als ihre Vorgängerin, nahm die Gewaltentrennung – ohne sie zu deklarieren –, repräsentative Regierung, obwohl das Staatsbürgerrecht allein der grundbesitzenden Elite übertragen war, und ein Revi20 21 22 23

Documentos Constitucionales de Colombia y Panama, hrg. v. Marquardt, 30 (Art. 7). Ebd., 97 (Art. 2). Ebd., 98. Ebd., 111, 114 – 115 (Art. 145, 191).

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sionsverfahren für die Verfassung an, ohne das Volk direkt daran zu beteiligen. Einige Rechte wurden deklariert, aber jeder Hinweis auf universelle Prinzipien fehlte. Wiederum wurde die Souveränität der Nation und nicht die des Volkes verkündet. Es fehlte die Unabhängigkeit der Justiz, die begrenzte Regierung, Verantwortlichkeit und die Herausstellung der Verfassung als höchstes Gesetz.24 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kamen keine wesentlichen Veränderungen mehr mit den beiden noch verbleibenden Verfassungen hinzu, denen von Neu-Granada von 1832 und 1843, außer dass der Souveränitätsbegriff noch weiter verengt und auf seine rein außenpolitische Bedeutung im Verhältnis zu anderen Staaten reduziert wurde („Die granadinische Nation ist für immer wesentlich und unwiderruflich souverän, frei und unabhängig von jeder ausländischen Macht oder Beherrschung“25) und die wenigen Menschenrechtsbestimmungen in den Titel „Allgemeine Bestimmungen“ (1832) bzw. „Verschiedene Bestimmungen“ (1843) ausgelagert wurden.26 Selbst wenn beide Verfassungen den Gedanken der Verantwortlichkeit betonten,27 lag in beiden Verfassungen das Machtzentrum in der exekutiven Gewalt, die das ausschließliche Recht besaß, die Verfassung zu interpretieren.28 Das Muster der kolumbianischen Verfassungen mit ihrer zweideutigen Haltung gegenüber den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus gilt großenteils auch für die „lebenslängliche Verfassung (Constitución Vitalicia)“ von 1826 in Peru, die in Wirklichkeit lediglich vom 9. Dezember 1826 bis zum 27. Januar 1827 in Kraft war und daher als die Verfassung mit der kürzesten Geltungsdauer des Landes gilt.29 Dennoch sei sie hier kurz erwähnt, weil sie den Autoritarismus Bolivars ähnlich wie die kolumbianischen Verfassungen und dessen distanziertes Verhältnis zum modernen Konstitutionalismus zum Ausdruck bringt. Bezeichnend dafür ist die Bestimmung zur Souveränität: „Die Souveränität geht (emana) vom Volk aus, und ihre Ausübung wohnt (reside) den Gewalten inne, die diese Verfassung einrichtet.“30 Auch wenn sich dieser Passus von der entsprechenden Bestimmung der kolumbianischen Verfassung von 1821 unterscheidet, scheint er ähnlichen Vorstellungen zu entstammen, die in diesem Fall bis zu ihrer Absurdität gesteigert sind. Wenn die 24

Ebd., 183 – 202. Verfassung der Republik Neu-Granada von 1832, Art. 3, ebd., 217, und gleichlautend in der Verfassung von 1843, Art. 2, ebd., 249. Die Bestimmung fußte auf Art. 1 der kolumbianischen Verfassung von 1821, in der allerdings das Wort „souverän“ fehlte, ebd., 97. 26 Ebd., 236 – 238, 266 – 268. 27 In beiden Verfassungen jeweils Art. 12, ebd., 218, 251. 28 Verfassung von 1832, Art. 217, und, wenn auch etwas abgemildert, Verfassung von 1843, Art. 169 – 172, ebd., 239, 268. 29 Bezüglich der verfassungstheoretisch und in Bezug auf den modernen Konstitutionalismus ungleich bedeutenderen Verfassung von 1823, vgl. das nachfolgende Kap. VIII. 2. 30 Las Constituciones del Perú, 1823 – 1993, hrg. v. Darío Palacios Dextre und Ruth Monge Guillergua, Lima: Editora „Fecat“, 2004, 39 (Art. 8). Die Bestimmung ist identisch mit Art. 7 des Proyecto de constitución par la república de Bolivia y discurso del Libertador, Lima: Imprenta republicana administrada, por José Maria Concha, 1826, 4, und erneut mit Art. 8 der bolivianischen Verfassung vom 6. November 1826. 25

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Souveränität vom Volk herrührt, dann kann sie von ihm den verfassungsmäßigen Gewalten übertragen werden, diese können also dann lediglich delegierte Macht haben. Aber sie kann nicht diesen Gewalten innewohnen, denn nicht beide – Volk und verfassungsmäßige Gewalten – können gleichzeitig originäre Gewalt besitzen. Die Trennung von pouvoir constituant und pouvoir constitué, Grundlage jeder modernen Verfassungsgebung, ist mithin hier ad absurdum geführt worden. Erst die ecuadorianische Verfassung von 1845, deren Vorläufer noch eng dem kolumbianischen Beispiel gefolgt waren und die Souveränität der Nation proklamiert hatten, war sich der peruanischen Absurditäten von 1826 bewusst und löste diese verfassungsrechtlich wie auch verfassungstheoretisch korrekt auf: „Die Souveränität wohnt (reside) dem Volk inne, und dieses delegiert ihre Ausübung an die Autoritäten, die die Verfassung einrichtet.“31 Was in Ecuador 1845 zu einer klaren Formulierung geführt hatte, führte in Peru angesichts ihrer inneren Widersprüchlichkeiten zu erheblichen Kontroversen, deren Folge war, dass, beginnend mit dem Projekt von 1827, das Problem der Souveränität in keiner weiteren peruanischen Verfassung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr behandelt wurde.32 Dagegen kam wie schon 1826 in Peru Bolivars Einfluss auch in Bolivien in diesem Jahr zur Geltung. Sowohl der Verfassungsentwurf wie die bolivianische Verfassung von 1826 übernahmen wörtlich den zitierten peruanischen Artikel. Mit seiner Verfassung von 1831 war es jedoch gelungen, sich von der unsinnigen peruanischen Bestimmung zu lösen, doch allein um das Wasser auf eigene Weise zu trüben: „Die Souveränität wohnt (reside) wesentlich der Nation inne, und allein ihr gebührt das ausschließlich Recht, ihre Gesetze im Einklang mit dieser Verfassung zu diktieren, aufzuheben und zu interpretieren.“33 Es empfiehlt sich, diesen Artikel in Zusammenhang mit einem weiteren zu lesen: „Die Nation delegiert die Ausübung ihrer Souveränität an die drei hohen Gewalten, legislative, exekutive und judikative.“34 Wenn alle drei Gewalten über delegierte souveräne Gewalt verfügen, kann keine von ihnen allein beanspruchen, Wächter der Verfassung zu sein, sondern alle hätten den gleichen Anspruch. Die Judikative wurde jedoch sogleich ausgeschlossen, da allein der Senat autorisiert war, Gesetze zu initiieren, um „die durch die Justizbeamten, Richter, zivilen, kirchlichen und militärischen Amtsträger verursachten Verstöße 31 Art. 2, in: Constitución de la república del Ecuador dada en 1845 por la Convención nacional reunida en Cuenca, Quito: Imprenta del Gobierno, por Juan Campuzano, [1845], 1. 32 Vgl. Proyecto de constitución política presentado al Congreso jeneral, por la comisión respectiva el día 27 de Octubre de 1827. Y mandado imprimir de orden del mismo Congreso, Lima: Imprenta de la instrucción primaria, por J. Hurley, 1827, 9. In der Verfassung von 1828, Art. 2, griff man daher auf Art. 1 der kolumbianischen Verfassung von 1821 zurück, ohne deren Art. 2 ebenfalls zu übernehmen, der die Bestimmung zur Souveränität enthielt. Ähnliches gilt im Prinzip für die peruanischen Verfassungen von 1834, Art. 1, und 1839, Art. 2, in: Las Constituciones del Perú, 1823 – 1993, hrg. v. Palacios Dextre und Monge Guillergua, 61, 89, 119. 33 Art. 2, unter: https://www.lexivox.org/norms/BO-CPE-18310814.xhtml (Zugriff 18. 12. 2020). 34 Art. 8, ebd.

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gegen die Verfassung zu beseitigen“.35 Wenn aber von Richtern angenommen wurde, dass sie die Verfassung verletzen könnten, erscheint es logisch, dass der Oberste Gerichtshof über keine Rechtsprechung in Verfassungsfragen verfügte und dass keine richterliche Unabhängigkeit eingeführt wurde.36 Was die beiden verbleibenden Gewalten betrifft, verfügte die Exekutive über keine Befugnisse, Gesetze zur Reform der Verfassung auf den Weg zu bringen, während die Legislative ein exekutives Veto überstimmen konnte.37 Daraus schließen zu wollen, dass letztlich die Legislative der Wächter der Verfassung war, scheint zweifelhaft, da es zu den Aufgaben des Staatsrats mit der entscheidenden Stimme des Präsidenten der Republik gehörte, „über die Beachtung der Verfassung zu wachen und die Legislative schriftlich über die Verstöße gegen sie zu unterrichten“.38 Angesichts dieser Bestimmungen erscheint es fraglich, ob der Senat tatsächlich gemäß Art. 43,3 die Initiative ergreifen konnte, bevor er zumindest indirekt durch das Votum des Staatsrats dazu aufgefordert war. Die gleichen Zweifel erscheinen hinsichtlich der Frage angebracht, ob die Legislative mittels einer gemeinsamen Resolution Verfassungsreformen auf den Weg bringen konnte: „Vor einer derartigen Resolution werden die Kammern den Staatsrat und die exekutive Gewalt über die Angemessenheit und Notwendigkeit der Reform konsultieren.“39 Falls die Exekutive das Projekt zurückwies, bot die Verfassung keine weiteren Möglichkeiten an, so dass, ungeachtet Art. 8, die letzte Entscheidungsgewalt beim Präsidenten lag. Nachfolgende Verfassungen Boliviens waren noch mehrdeutiger, selbst wenn die Verfassung von 1834 praktisch keine Veränderungen einführte, die diese Bestimmungen betraf. 1839 ebenso wie 1843 wurde der vielsagende Artikel über die Verteilung der Souveränität innerhalb des Systems der Gewaltentrennung beibehalten.40 Jedoch war 1839 der Staatsrat abgeschafft worden, und die Verantwortlichkeit für die Verfassung war folglich auf die Exekutive übertragen worden, jedoch ohne Vorkehrungen zu treffen, wenn es darum ging, die Legislative zu veranlassen, die notwendigen Schritte einzuleiten.41 Während der Präsident auf seiner Interpretation der Verfassung bestehen konnte, übertrug Abs. XXIII das ausschließliche Recht, die Verfassung zu interpretieren und zu reformieren einer Zwei-DrittelMehrheit in beiden Kammern.42 1843 versuchte die neue Verfassung diese Widersprüche mit Hilfe eines neu geschaffenen Nationalrats aufzulösen, der mittels ei35

Art. 43,3, ebd. Vgl. Art. 104 – 113, ebd. 37 Vgl. Art. 48, 53 – 57, ebd. 38 Art. 98,3, ebd. 39 Art. 148, ebd. 40 Art. 17, in: Constitución política de la República Boliviana, sancionada por el Congreso Jeneral Constituyente de 1839, Sucre: Imprenta de la Ciudad, [1839], 4 – 5; Art. 13, in: Constitución política de la República Boliviana, sancionada por la Convención Nacional del año de 1843, [Sucre:] Imprenta de Beeche y Compañía, [1843], 3. 41 Art. 77,2, in: Constitución política de 1839, 19. 42 Art. 143 – 147, ebd. 35 – 36. 36

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gener Mehrheit darüber wachen sollte, dass die Verfassung beachtet wurde und anderenfalls die Exekutive unterrichtete, auf dass diese die Legislative auffordere, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.43 Indem die übrigen einschlägigen Bestimmungen unverändert blieben, bewahrten die bolivianischen Verfassungen ihren mehrdeutigen Charakter zwischen den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus und dem Hang zum Präsidentialismus, womit der instabilen politischen Lage des jungen Staates wenig geholfen war. Ein zweiter Bereich, in dem die peruanische Entwicklung von dem kolumbianischen Modell abwich, war kaum weniger kontrovers: die richterliche Unabhängigkeit. Die peruanischen Bases de la Constitución von 1822 waren in diesem Punkt recht klar gewesen: „Die richterliche Gewalt ist unabhängig. Die Richter sind auf Lebenszeit unabsetzbar.“44 Im Wesentlichen wurde diese Bestimmung im Verfassungsprojekt von 1827,45 in der Verfassung von 1828,46 in dem Verfassungsprojekt von 183347 und in der Verfassung von 183448 wiederholt. Jedoch wurde in der Verfassung von 1823 lediglich der zweite Satz der Klausel aus den Bases übernommen,49 während die Verfassungen von 1826 und 1839 die Bestimmung vollständig ignorierten. Anders als in Peru schwiegen sich die ecuadorianischen Verfassungen über die Frage der Unabhängigkeit der Justiz aus, aber im Gegensatz zu den kolumbianischen Verfassungen bestimmte die Verfassung von Ecuador von 1845, dass allein der Kongress in Zweifelsfällen die Verfassung auslegen konnte.50 Dieselbe Verfassung nahm auch die vormals peruanische Vorstellung auf, dass die Souveränität der Verfassung übertragen war und entwickelte daraus den Gedanken vom Vorrang der Verfassung: „Jedes Gesetz, das der Verfassung widerspricht, wird nicht in Kraft treten.“51 Es ist schwer vorstellbar, wie diese hehre Erklärung je bedeutungsvoll werden sollte angesichts der Tatsache, dass die Judikative in diesem Fall über keine Kompetenzen 43

Vgl. Art. 61 – 71, in: Constitución política de 1843, 13 – 15. Art. 17, in: Bases de la constitución política de la república peruana, Lima: Imprenta del Gobierno, 1822, 17. 45 Art. 102, in: Proyecto de constitución política presentado al Congreso jeneral, por la comisión repectiva el día 27 de Octubre de 1827, 24. 46 Art. 103, 104, Constitución para la república peruana, dada por el Congreso general constituyente el día 18 de Marzo de 1828, in: Las Constituciones del Perú, 1823 – 1993, hrg. v. Palacios Dextre und Monge Guillergua, 75. 47 Art. 112 – 113, Proyecto de reforma de la constitución política de la república peruana presentado a la convención por la comisión nombrada al efecto, Lima: Imprenta del constitucional, por Lucas de la Lama, 1833, 30 – 31. 48 Art. 107 – 108, Constitución política de la república peruana, dada por la Convención nacional el día 10 de Junio de 1834, in: Las Constituciones del Perú, 1823 – 1993, hrg. v. Palacios Dextre und Monge Guillergua, 103. 49 Art. 97, Constitución Política de la República Peruana Sancionada por le Primer Congreso Constituyente el 12 de Noviembre de 1823, ebd., 24. 50 Art. 138, in: Constitución de la república del Ecuador, 34. 51 Art. 139, ebd. 44

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verfügte und eine richterliche Unabhängigkeit nicht eingeführt worden war. So blieb es bei der Möglichkeit, dass allein der Kongress, der das Gesetz verabschiedet hatte, später mit einer anderen Mehrheit das Gesetz als verfassungswidrig wieder aufheben konnte. Doch dass ein derartiges Gesetz auf diese Weise „nicht in Kraft treten“ würde, ließ sich aufgrund dieses Prozesses nicht bewerkstelligen. Die Verfassungen der vier Anden-Republiken in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz offenbaren in ihrer Einstellung gegenüber dem modernen Konstitutionalismus nicht nur eine sehr lückenhafte Übernahme seiner Prinzipien mit einer Häufung innerer Widersprüchlichkeiten, sondern anders als im monarchischen Europa auch eine deutliche Tendenz zum Präsidentialismus, für den das in dieser Region vielfach erlebte Beispiel Bolivars fraglos eine prägende Rolle gespielt hatte und der in der lateinamerikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts über die Region hinaus seine Spuren hinterlassen hat. Dennoch war selbst in den AndenRepubliken diese Ausrichtung, die der grundbesitzenden Elite durchaus zugutekam, nicht unumstritten, wie im nachfolgenden Kapitel gezeigt werden wird, und sie wurde auch nicht in anderen Teilen Lateinamerikas zwangsläufig übernommen. Dass auch andere Optionen möglich waren und sich in diesen Jahrzehnten ein weitgehenderes Verständnis der Grundzüge des modernen Konstitutionalismus entfalten konnte, soll abschließend am Beispiel der Zentralamerikanischen Föderation und einiger ihrer Mitgliedstaaten dokumentiert werden. Schon in der Präambel der ersten Verfassung der Zentralamerikanischen Föderation von 1824 war von den „souveränen Rechten“ des „Volkes von Zentralamerika“ die Rede, und ihr erster Artikel verkündete dementsprechend: „Das Volk der Bundesrepublik von Zentralamerika ist souverän und unabhängig.“52 Von der Regierung hieß es, sie sei „volkstümlich, repräsentativ, föderal“.53 Gewaltentrennung und Verantwortlichkeit waren eingerichtet, ein Menschenrechtskatalog errichtet und Regeln eingeführt, nach denen die Verfassung unter Mitwirkung des Volkes verändert werden konnte.54 Die nachfolgende Verfassung von Costa Rica, einem der Mitgliedsstaaten der Föderation, von 1825 führte darüber hinaus universelle Prinzipien ein und verankerte den Vorrang der Verfassung: „Jedes Gesetz, das die in den voraufgehenden Artikeln erklärten geheiligten Rechte des Menschen und Bürgers verletzt, ist ungerecht und ist kein Gesetz.“55 Um diese Bestimmung wirksam zu machen, war eine besondere Einrichtung (Poder conservador) eingerichtet – die unterschiedlichen französischen Verfassungseinflüsse sind unübersehbar –, in dessen Verantwortlichkeit es lag, Gesetze zu sanktionieren oder zurückzuweisen.56 52 Constitución de la república federal de Centroamérica von 1824, Präambel und Art. 1, in: Colección de Constituciones de Costa Rica. Del Pacto de Concordia a la Constitución Política de 1949, hrg. v. Marco A. Mena Brenes, San José, Costa Rica: Imprenta Nacional, 2000, 49. 53 Art. 8, ebd. 50. 54 Tit. IV – XI, XV, Abs. 1, ebd., 55 – 70, 74. 55 Ley Fundamental del Estado de Costa Rica von 1825, Art. 8, ebd., 80. 56 Art. 68, ebd., 86.

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Guatemala, um ein weiteres Mitglied der zentralamerikanischen Föderation zu Wort kommen zu lassen, schien sich hingegen von Anfang an hinsichtlich der Übernahme der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus enger an das kolumbianische Beispiel anzulehnen, während seine Verfassung von 1845 dem bolivianischen Modell mit all seinen Ambivalenzen bemerkenswert nahekam. Dennoch ließ der Verfassungsentwurf von 1847 erkennen, dass die Grundzüge des modernen Konstitutionalismus nicht nur bekannt waren, sondern dass sie auch in den lateinamerikanischen Ländern ihre Anhänger hatten: „Kein Individuum, keine Teilvereinigung, keine Fraktion des Volkes kann sich die Souveränität anmaßen, die allein der Gesamtheit der Bürger innewohnt (reside).“ Die Erinnerungen an die französische Verfassung des Jahres III mit ihren ähnlich lautenden Formulierungen werden wieder wach, die gut vierzig Jahre zuvor bereits die republikanische Verfassung von Haiti zitiert hatten. „Die Souveränität des Volkes üben jene Individuen aus, die von ihm oder von seinen Bevollmächtigten gewählt sind, um ihm Gesetze zu geben und es zu regieren“57 – auch dies dem Geist nach eine Anknüpfung an die Verfassung des Jahres III.58 Menschenrechte, universelle Prinzipien, Gewaltentrennung, repräsentative Regierung, Verantwortlichkeit, eine Revisionsgewalt unabhängig von der Willkür der Exekutive und die Verfassung als höchstes Gesetz folgten. Nur wenige lateinamerikanische Verfassungen dieser Jahrzehnte – von Europa ganz zu schweigen – vermochten eine vergleichbar hohe Zahl von Prinzipien des modernen Konstitutionalismus aufzuweisen wie dieser Verfassungsentwurf von Guatemala von 1847. Ohne an dieser Stelle den Bogen weiter zu spannen und die übrigen lateinamerikanischen Verfassungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Mexiko im Norden und Argentinien im Süden einzubeziehen, kann es bei diesem Ausschnitt sein Bewenden haben, reicht er doch völlig aus, um die beiden Ziele, die dieses Kapitel verfolgt und die in seiner Überschrift angedeutet sind, darzulegen. Das erste ist derart selbstverständlich, dass es eigentlich kaum eigens erwähnt zu werden braucht: Der moderne Konstitutionalismus ist, selbst in dieser frühen Zeit, kein ausschließlich nordamerikanisch-westeuropäisches Phänomen, sondern schließt von Anbeginn Lateinamerika in sich ein. Das zweite ist ungleich komplexer und vielschichtiger wie die lateinamerikanischen Reaktionen auf den modernen Konstitutionalismus selbst. Das hat viele Gründe, die nicht nur tief in die Kolonialgeschichte dieser Länder zurückreicht, deren soziale Struktur, auch nach Abzug der Spanier – in Brasilien der Portugiesen und in Haiti der Franzosen und Weißen – in vielen Ländern weiter bestanden und in den lokalen Eliten und der katholischen Kirche über ein 57 Art. 4 und 5, vgl. auch Art. 24, in: Proyecto de Constitución para la República de Guatemala, presentado al Supremo Gobierno en Julio de 1847 por la comisión encargada de formarlo de órden del mismo Supremo Gobierno, Guatemala: Imprenta de la Paz, 1848, 21, 23 – 24. 58 Vgl. Art. 20 der Rechte- und Pflichtenerklärung der Verfassung des Jahres III, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, hrg. v. Caporal, Luther u. Vernier, 106.

2. Die Entwicklung des modernen Konstitutionalismus in Lateinamerika

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gewichtiges Fundament verfügte. Gerade diese kulturellen Wurzeln helfen aber auch zu erklären, dass die Verfassungseinflüsse, von der hier nur kurz erwähnten Verfassung von Cadiz ebenso abgesehen, wie von einigen herausragenden, aber doch eher Einzelfälle gebliebenen Persönlichkeiten wie Francisco de Miranda und anderen, ganz wesentlich über Frankreich, die französischen Revolutionsverfassungen und dann schließlich ebenfalls, obgleich für den modernen Konstitutionalismus keine Bereicherung – über Napoleon kamen, während der nordamerikanische Einfluss in diesem Teil Lateinamerikas in diesen Jahrzehnten insgesamt ungleich weniger fassbar ist. Das alles konnte nicht ohne Rückwirkung auf die frühen lateinamerikanischen Verfassungen und ihre Öffnung für die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus bleiben. Ganz grob lassen sich dabei zwei Richtungen unterscheiden, die eine traditionsverhafteter, konservativer, stärker an bestehenden sozialen Modellen und Rollenbildern anknüpfend, die den Weg in den Präsidentialismus vorzeichnet, der im 19. und 20. Jahrhundert so tiefe Spuren in der lateinamerikanischen Geschichte und Verfassungsgeschichte hinterlassen hat und erst, so möchte man meinen, seit wenigen Jahrzehnten als weitgehend überwunden angesehen wird. Die andere von Anbeginn liberaler, den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus unvoreingenommener gegenüberstehend, die jenen Weg aufzeigt, um den auch die meisten Länder in Europa im 19. und 20. Jahrhundert so lange gerungen haben. Beide Richtungen sind Teil der lateinamerikanischen Verfassungsgeschichte und werden uns im nachfolgenden Kapitel weiter beschäftigen.

2. Zwischen Theorie und Praxis: Die Entwicklung des modernen Konstitutionalismus in Lateinamerika59 Bereits das voraufgegangene Kapitel hat deutlich gemacht, dass der moderne Konstitutionalismus seit den 1790er Jahren in dem – noch – kolonialen Lateinamerika aufmerksam registriert worden war. Die neuartigen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen waren nicht spurlos an Lateinamerika vorübergegangen. Doch sieht man einmal von der Sonderentwicklung Haitis ab, nahm die politische Entwicklung auf dem Subkontinent samt deren Rückwirkungen auf die Verfassungsentwicklung erst Fahrt auf mit den von Napoleon verursachten politischmilitärischen Ereignissen auf der iberischen Halbinsel. Während in dem dadurch hervorgerufenen politischen Machtvakuum Unabhängigkeit für die einen zu einer greifbaren Möglichkeit wurde, setzten andere auf eine Neuordnung der imperialen Verhältnisse, wie sie dann in der Verfassung von Cadiz von 1812 ihren verfassungsrechtlichen Ausdruck finden sollte. Damit hatte das eingesetzt, was man heute 59 Überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Die Entwicklung des modernen Konstitutionalismus in Lateinamerika“, in: Historia constitucional, 21 (2020), 757 – 770.

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in der Verfassungsgeschichtsschreibung die „Wanderung von Verfassungsideen“ nennt.60 Die Verfassung von Cádiz konnte in dieser Situation in weiten Teilen Hispanoamerikas ganz unmittelbare Bedeutung erlangen.61 Welche Inhalte erforderlich waren, um eine moderne Verfassung zu schaffen, erschien zunehmend klarer, und sie gewannen bestimmenden Einfluss auf die Unabhängigkeitsbestrebungen in den einzelnen Teilen Hispanoamerikas und prägten die Verfassungsentwicklungen in ihnen vielfach weit darüber hinaus. Dennoch war Lateinamerika anders, und einfache Kopien französischer oder nordamerikanischer Verfassungen schieden von vorneherein aus, wie schon die französische Verfassungsgeschichte ungeachtet gleicher Wurzeln im modernen Konstitutionalismus alles andere als eine Kopie der nordamerikanischen gewesen war. Vielmehr ist sie eher bezüglich der Bewertung zweier zentraler Prinzipien, nämlich der Volkssouveränität und dem Vorrang der Verfassung, das Gegenteil davon.62 Die englischen Siedler in den nordamerikanischen Kolonien – die indigene Urbevölkerung war ausgerottet oder vertrieben oder, wenn es sie in Resten noch gab, marginalisiert und politisch-sozial ausgeschlossen, während die Schwarzen bis auf eine relativ kleine Zahl Sklaven waren – hatten vor 1776 zum Teil jahrzehntelang für ihre Rechte und Freiheiten gekämpft. Politische Unabhängigkeit von Großbritannien war erst in sprichwörtlich letzter Minute als zusätzliches politisches Ziel aufgetaucht und hatte mehr gespalten denn geeinigt. In Lateinamerika hingegen – und die Gründe hierfür lagen auf beiden Seiten des Atlantiks – ging es, folgt man den Texten, um Unabhängigkeit, Souveränität, Nation.63 Damit waren andere politische Prioritäten gesetzt, die ungeachtet ihrer im allgemeinen vergleichsweise geringen politischen Halbwertszeit mit den modernen Verfassungen in Einklang zu bringen waren. Dabei erschien keine von diesen in besonderer Weise auf Lateinamerika und seine vielfältigen Anforderungen zugeschnitten, selbst wenn wir uns allein auf Hispanoamerika beschränken und Haiti mit seinen besonderen Bedingungen und Erfahrungen hier ebenso unberücksichtigt lassen wie zunächst Brasilien.64 Nicht nur gab 60 Vgl. The Migration of Constitutional Ideas, hrg. v. Sujit Choudry, Cambridge: University Press, 2006. Vgl. dazu auch, bezogen auf Spanien und Lateinamerika, die Idee der „Atlántida constitucional“ von José M. Portillo Valdés, „La Atlántida constitucional. La dimensión hispana de las revoluciones de independencia“, in: México: Un siglo de historia constitucional (1808 – 1917). Estudios y perspectivas, hrg. v. Cecilia Noriega und Alicia Salmerón, México: Instituto Mora, 2009, 3 – 14. 61 Vgl. Roberto Breña, „La constitución de Cádiz: alcances y límites en Nueva España“, in: México: Un siglo de historia constitucional (1808 – 1917), hrg. v. Noriega und Salmerón, 15 – 29. 62 Vgl. dazu oben Kap. V. 2. 63 Beispielhaft für die Diskussion über den Zusammenhang zwischen Souveränität und Nation, vgl. Manuel Chust, „La constitución de 1812: Una revolución constitucional bihemisférica“, in: El laboratorio constitucional iberoamericano: 1807/1808 – 1830, hrg. v. Antonio Annino und Marcela Ternavasio, Madrid: AHILA Iberoamericana, 2012, 93 – 114. 64 Zu den Anfängen der Verfassungsentwicklung in Haiti, vgl. das voraufgegangene Kap. VIII. 1.

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letzteres 1826 umgekehrt Europa, nämlich Portugal, eine Verfassung, sondern dokumentierte damit und gemeinsam mit seiner eigenen Verfassung von 1824 auch noch einen weiteren Einfluss im Rahmen der „Wanderung von Verfassungsideen“, nämlich den der englischen Verfassung als anti-revolutionäres Projekt,65 ohne damit die Bedeutung theoretischer Einflüsse, wie etwa jener durch die Schriften von Benjamin Constant,66 vernachlässigen zu wollen. Dennoch wirkten die Ideen und Prinzipien des modernen Konstitutionalismus, selbst wenn die Übersetzung der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1789 im Jahr 1793 durch den Revolutionär und nachmaligen Präsidenten von Cundinamarca Antonio Nariño noch eher eine private, wenn auch weit reichende Initiative war.67 So war in der Konföderationsakte der Vereinigten Provinzen von Neu-Granada von 1811, abgesehen von dem Bekenntnis zum repräsentativen Regierungssystem, von den Prinzipien des modernen Konstitutionalismus noch nicht viel zu lesen, woran auch die Reformen von 1814/15 nichts Grundlegendes änderten.68 Von diesen ersten Versuchen hebt sich die berühmte Verfassung von Apatzingán von 1814 deutlich ab.69 Nach der in Spanien dekretierten Annullierung der Verfassung von Cádiz formulierte ihr Art. 5 geradezu klassisch Volkssouveränität und repräsentatives System als Basis der Verfassung. Es folgten Gewaltentrennung (Art. 11 und 12), begrenzte Regierungsgewalt und Verantwortlichkeit der Regierenden (Art. 27) und Staatsbürgerrechte (Art. 24 – 40). Dass letztere pauschal den Rang von allgemeinen Menschenrechten in Anspruch nehmen können, wie mitunter behauptet worden ist,70 kann in dieser Allgemeinheit jedoch nicht überzeugen, da Kap. V. ausdrücklich von „Der Gleichheit, Sicherheit, Eigentum und Freiheit der 65

Vgl. dazu oben Kap. II. 3. Vgl. auch die Standarddarstellung von Paulo Bonavides/Paes de Andrade, História Constitucional do Brasil, Brasilia: OAB Editora, 62004, bes. 99 – 107. 66 Vgl. dazu António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direitos, Estado e lei no liberalismo monárquico português, Coimbra: Almedina, 2004, 198. Generell zur brasilianischen Verfassungsgeschichte und Verfassungsgeschichtsschreibung Airton Cerqueira-Leite Seelaender, „Verfassung und Verfassungsrecht in Brasilien (1824 – 1988)“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 97 – 103. 67 Documentos Constitucionales de Colombia y Panamá 1793 – 1853/Constitutional Documents of Colombia and Panama 1793 – 1853, hrg. v. Bernd Marquardt, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 27 – 28. 68 Ebd., 29 – 60. 69 Generell zur Verfassung von Apatzingán Mariano Peset Reig, La Constitución de Apatzingán de 1814. Sentido y análisis de su texto, Puebla: Benemérita Universidad Autónoma de Puebla, 2014; La insurgencia mexicana y la Constitución de Apatzingán 1808 – 1824, hrg. v. Ana Carolina Ibarra u. a., Mexiko: Universidad Nacional Autónoma de México, 2014; Ernesto de la Torre Villar, La Constitución de Apatzingán y los creadores del Estado mexicano, Mexiko: Universidad Nacional Autónoma de México, 22010, u. a. 70 So etwa Daniel A. Barceló Rojas, „La Constitución de Apatzingán y su influencia en la primera generación de constituciones de la República Federal Mexicana“, in: La insurgencia mexicana y la Constitución de Apatzingán, hrg. v. Ibarra, 274 und von Torre Villar, La Constitución de Apatzingán, 57.

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Staatsbürger“ handelt und lediglich fünf (Art. 31 – 35) der insgesamt 17 Artikel allgemeiner gefasst sind und keine Beschränkung auf „Staatsbürger“ beinhalten. Staatsbürgerrechte sind ihrer Natur nach durch den Staat für seine Bürger gesetzte Rechte, die mithin weder vorstaatliche Gültigkeit beanspruchen können noch im Staat lebende Menschen einer anderen oder gar keiner Staatsbürgerschaft einschließen. Eher ist bei den genannten Artikeln von Konkordanzen in anderen Verfassungen, hier insbesondere den französischen Verfassungen von 1793 und 1795 und der Rechterklärung von Caracas von 1811 auszugehen.71 Dennoch zeigt dies bei allen noch vorhandenen Beschränkungen, dass die Ideen des modernen Konstitutionalismus zu wirken begannen, so dass sie zumindest teilweise in die Gründungsdokumente der mexikanischen Föderation von 1824 einflossen.72 Mexiko war kein Einzelfall, wurde vielmehr sogar noch deutlich übertroffen von der Verfassung der Vereinigten Provinzen in Südamerika von 1819, die zumindest in Teilen die Kenntnis englischen wie nordamerikanischen Verfassungsdenkens erkennen ließ. Daher überrascht es nicht, dass die übernommenen Inhalte des modernen Konstitutionalismus sich überwiegend in der „Rechteerklärung“ finden. Zwar folgt diese erst am Ende der Verfassung, doch entsprach diese Anordnung nicht allein der Bill of Rights der nordamerikanischen Bundesverfassung, sondern inzwischen ebenso einer wachsenden Zahl von Einzelstaatsverfassungen der USA. Hier finden sich Volkssouveränität (Art. CIV, CV), Gewaltentrennung und Verantwortlichkeit der Regierenden (Art. CVI), repräsentatives Regierungssystem (Art. CVIII) und Menschenrechte (Art. CIX – CXXIX). Die Unabhängigkeit der Justiz war zuvor schon festgestellt, indem die Richter des Obersten Gerichtshofes laut einer dann durchaus gängig werdenden Formulierung „das Amt für die Zeit ihres guten Benehmens ausüben“ – dies hatte dem Wortlaut des englischen Act of Settlement von 1701 entsprochen, dem Gründungsdokument der richterlichen Unabhängigkeit – und konnten nicht gegen ihren Willen und den des Gerichtes versetzt werden (Art. CII). Schließlich bedurften Verfassungsänderungen der indirekten Mitwirkung des Volkes (Art. CXXX – CXXXIV). Ob die ausdrückliche Auflistung der Befugnisse der Legislative wie der Exekutive in den Art. XXI – XXX und LXXIV – XCI einen hinreichenden Ersatz für die nicht deklarierte begrenzte Regierungsgewalt darstellt, mag dahingestellt bleiben. Hingegen kann die expressive Feststellung in Art. CVII „Keine Autorität des Landes steht über dem Gesetz“ kaum den fehlenden Verfassungsvorrang begründen, zumal es an einem wirklichen Verfassungsgericht fehlt.73 Dennoch stellte die Verfassung der Vereinigten Provinzen in Südamerika einen Meilenstein auf dem Weg zum modernen Konstitutionalismus dar, dem sich die 71

So etwa bei Peset Reig, La Constitución de Apatzingán, 52 – 57, 108 – 113. Vgl. dazu auch Ivana Frasquet, „La soberanía en jaque. Liberalismo gaditano y república federal en México, 1820 – 1824“, in: El constitucionalismo mexicano. Influencias continentales y trasatlánticas, hrg. v. Patricia Galeana, Mexiko: Siglo XXI; Senado de la República, 2010, bes. 184 – 192. 73 Alle Zitate aus: Ma. Laura San Martino de Dromi, Documentos constitucionales argentinos, Buenos Aires: Ediciones Ciudad Argentina, 1994, 2318 – 2335. 72

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Verfassung der peruanischen Republik von 1823 praktisch anschloss, wobei sie sie in Teilen noch übertraf. Sie fiel zwar umgehend der Intervention Bolívars zum Opfer, wurde aber nach Ende seines Regimes 1827 nochmals für wenige Monate ins Leben gerufene. Es finden sich hier nicht allein die genannten Bestimmungen der Verfassung von Apatzingán. Dabei ließen sich die Rechtsgarantien von 1823 in Peru schon eher als Menschenrechte lesen, bestimmte doch Art. 10, Peruaner seien „Alle freien auf dem Territorium von Peru geborenen Menschen“ sowie alle Naturalisierten, sei es durch Einbürgerung oder durch fünfjährige Anwesenheit. Sie alle fielen unter die Rechtegarantie der Verfassung laut Art. 193. Darüber hinaus wurde die Regierungsgewalt geradezu klassisch, und über die argentinischen Bestimmungen von 1819 hinausgehend, durch Art. 81 begrenzt, indem die „Begrenzungen der exekutiven Gewalt“ sowohl vor exekutiven Amtsanmaßungen im Bereich der beiden anderen Gewalten schützten, als auch die Rechte und Freiheiten der Einzelnen bewahren sollten, wofür generell auch schon Art. 5 stand. Ferner fand sich hier der Einstieg in die Unabhängigkeit der Justiz ähnlich wie 1819 verankert, indem die Richter als „unabsetzbar“ erklärt wurden und auf Lebenszeit amtierten (Art. 97), und schließlich sollte die Verfassung allein durch einen „allgemeinen Kongress“ mit aus allen Provinzen gewählten Deputierten verändert werden können (Art. 191, 192).74 Bis auf die Anrufung universeller Prinzipien75 und die Erklärung der Verfassung zum obersten Gesetz fanden sich alle zehn Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in der peruanischen Verfassung von 1823, mehr als in jeder europäischen Verfassung zu diesem Zeitpunkt. Doch statt die herausragende Bedeutung der peruanischen Verfassung von 1823 gebührend zu würdigen, hat ihr die Forschung einen „utopischen Liberalismus“ attestiert. Schon der geachtete peruanische Intellektuelle, Jurist und nachmalige Außenminister Toribio Pacheco hatte 1854 das Wort geprägt von der Verfassung von 1823: „geboren, allein um zu sterben“.76 Wenig Wunder, dass sich die immer noch als liberal eingestufte Verfassung von 1828, die „Mutter“ aller nachfolgenden peruanischen Verfassungen bis einschließlich der von 1920, deutlich von der Verfassung

74 Für den Verfassungstext und alle daraus zitierten Passagen, Darío Palacios Dextre u. Ruth Monge Guillergua, Las constituciones del Perú 1823 – 1993, Lima: Editora „Fecat“, 2004, 11 – 34. 75 Aguilar Rivera sieht in dem bewussten Verzicht der Verfassung von Cádiz auf eine solide moderne naturrechtliche Begründung „una vulnerabilidad total en el edificio teórico y normativo del liberalismo hispánico. Esa debilidad sería luego transmitida a Hispanoamérica, tal y como ocurrió en México a mediados del siglo XIX, en donde esa fragilidad se hizo evidente en el transcurso de los debates entre liberales y conservadores“ (José Antonio Aguilar Rivera, „Memoria del código imposible: Cádiz y el experimento constitucional atlántico“, in: Cádiz a debate: actualidad, contexto y legado, hrg. v. Roberto Breña, Mexico: El Colegio de México, 2014, 122). 76 Toribio Pacheco, Cuestiones constitucionales (1854), 3. Aufl. m. e. Vorw. v. Domingo García Belaunde, Lima: Grijley, 1996, 75.

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von 1823 unterschied.77 Tatsächlich war man, was die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus betrifft, nunmehr in Peru entschieden unter das Niveau der argentinischen Verfassung von 1819 und selbst der Verfassung von Apatzingán zurückgefallen. Im Gegensatz dazu schloss sich die Verfassung von Uruguay von 1830 im Wesentlichen dem Beispiel jenseits des La Plata an. Es fehlte lediglich das Verbot der richterlichen Versetzung wider Willen und die expressive Begrenzung der exekutiven Gewalt.78 Zwar hat diese bis 1917 in Kraft befindliche Verfassung in Art. 96 festgelegt, der Hohe Gerichtshof solle „über alle Verstöße gegen die Verfassung ohne irgendeine Ausnahme urteilen“. Dass damit jedoch keine Verfassungsgerichtsbarkeit im heutigen Sinne gemeint war, stellte Art. 152 klar, obliege es doch „ausschließlich der legislativen Gewalt, die gegenwärtige Verfassung auszulegen oder zu erklären“ (ebd., 25, 34). Auch ohne diese Einschränkungen ist die Behauptung, die Verfassung beruhe auf „den grundlegenden Ideen der Verfassung der Vereinigten Staaten, der Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, der französischen Verfassung von 1791 und den napoleonischen Texten u. a.“,79 angesichts der inneren Widersprüchlichkeit zwischen den Dokumenten des modernen Konstitutionalismus und den napoleonischen Verfassungen in dieser Pauschalität abwegig. Die Entwicklung in Chile im 19. Jahrhundert war den Verfassungsbestrebungen jenseits der Anden in vieler Hinsicht vergleichbar. Manches klang dort mit der liberalen Verfassung von 1828 noch prononcierter, doch obwohl die konservativere Verfassung von 1833, die bis 1925 in Kraft war, deutlich an den Präsidentialismus der Anden-Republiken anknüpfte, fanden sich in ihr Volkssouveränität, repräsentatives Regierungssystem, Gewaltentrennung, Menschenrechte, Verantwortlichkeit der Regierenden, Ansätze zur Unabhängigkeit der Justiz und Abänderung der Verfassung unter indirekter Mitwirkung des Volkes.80

77 Palacios Dextre u. Monge Guillergua (Hrg.), Las constituciones del Perú, 59. Ähnlich die Einschätzung der Verfassung von 1823 durch Giorgio Donati in: Le costituzioni dell’America latina, hrg. v. Eduardo Rozo Acuña und Giorgio Donati, 2 Bde., Rom: Senato della Reppublica, 2000 – 2004, II, 458 – 459. 78 Constitucion de la República Oriental del Uruguay, sancionada por la Asamblea general constituyente y legislative el 10 de Septiembre de 1829, Montevideo: Imprenta republicana, 1829. 79 So Ana Frega, „Soberanía y orden en la Banda oriental del Uruguay. Espacios de frontera y tiempos de revolución“, in: El laboratorio constitucional iberoamericano, hrg. v. Annino und Ternavasio, 256. 80 Zu den chilenischen Verfassungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vgl. Documentos Constitucionales de Chile 1811 – 1833/Constitutional Documents of Chile 1811 – 1833, hrg. v. Alan Bronfman, München: Saur, 2006. Vgl. Ana María Stuven, „De la autonomía a la república: El debate constitucional en Chile, 1808 – 1833“, in: El laboratorio constitucional iberoamericano, hrg. v. Annino und Ternavasio, 179 – 201; Bernd Marquardt, Staat, Verfassung und Demokratie in Hispano-Amerika seit 1810, I: Das liberale Jahrhundert, 1810 – 1916, Bogotá: Universidad Nacional de Colombia, Facultad de Derecho, 2008, 97 – 98.

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Das Beispiel Chile verdient besondere Beachtung. Die bereits aus den Unabhängigkeitsprozessen und der Diskussion um die Verfassung von Cádiz herrührende politische Trennung zwischen Liberalen und Konservativen, die für viele Teile Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert prägend wurde, vermag die Auseinandersetzungen um den modernen Konstitutionalismus, im Gegensatz zu anderslautenden Behauptungen,81 offensichtlich nur begrenzt zu erklären. Volkssouveränität, repräsentatives Regierungssystem, Gewaltentrennung und das eine oder andere weitere Prinzip waren für beide auf dem Papier akzeptabel und unstrittig. Doch selbst die am heftigsten umstrittenen Prinzipien wie die begrenzte Regierungsgewalt, die Unabhängigkeit der Justiz in allen ihren Weiterungen oder der Rekurs auf universelle Prinzipien und damit die Einbindung in ein die Nation überschreitendes Werte- und Rechtssystem lassen sich nicht mit dem liberal/konservativen Erklärungsmuster fassen, stellten vielmehr Hürden dar, denen eine traditionsbehaftete Fixierung auf die heroische Führungspersönlichkeit ebenso im Wege stand wie die nicht weniger belastete Verbindung zwischen Kirche und Staat, aus der sich auch die Liberalen in dieser Zeit kaum zu lösen vermochten. Diesen traditionsbehafteten Kontext akzentuiert die Verfassung der Vereinigten Provinzen in Südamerika, wenn sie in Art. I formuliert, dass zwar, wie überall, die katholische Religion Staatsreligion sei. Doch nicht genug damit und völlig abweichend von allen anderen fährt sie dann fort: „Die Regierung schuldet ihr den effizientesten und kraftvollsten Schutz und die Bewohner des Territoriums jeden Respekt, was immer ihre privaten Auffassungen sein mögen“.82 Erst die Verfassung von Neu-Granada von 1853 mit ihrem Bekenntnis zum Laizismus (Art. 5,5) sollte die enge Allianz zwischen Staat und katholischer Kirche aufbrechen. Überhaupt zeichneten ihr Rechtekatalog (Art. 5) und das allgemeine Männerwahlrecht (Art. 13) diese Verfassung aus, die bei gewissen Modifikationen bis 1886 galt. Doch die bislang fehlenden Prinzipien – die Richter an dem Höchsten Gerichtshof der Nation sollten per Volkswahl auf vier Jahre gewählt werden – wurden auch hier nicht eingefügt.83 Die weitere Entwicklung erfolgte schrittweise. Betrachten wir zunächst die argentinische Verfassung von 1853, deren Beeinflussung durch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika an vielen Stellen erkennbar ist und die durch eine Reihe meist kleinerer Veränderungen zur Verfassung von 1860 wurde. Diese ist mit der Unterbrechung von 1949 – 1956 bis heute bei einer bislang letzten Amendierung von 1994 in Kraft. Bereits 1853 nahm sie in ihrer Präambel einen ersten Anlauf zu dem, was man die Berufung auf universelle Prinzipien nennen könnte. Ein ausdrückliches Bekenntnis zur Volkssouveränität fehlte zwar, doch ließ die Verfassung 81 Vgl. etwa Roberto Gargarella, The Legal Foundations of Inequality. Constitutionalism in the Americas, 1776 – 1860, New York: Cambridge University Press, 2010. In abgeschwächterer Form ebenso in Roberto Gargarella, Latin American Constitutionalism. The Engine Room of the Constitution, New York: Oxford University Press, 2013. 82 San Martin de Dromi, Documentos constitucionales argentinos, 2318 – 2319. 83 Vgl. die Verfassung samt Annotationen in Documentos Constitucionales de Colombia y Panamá 1793 – 1853, hrg. v. Marquardt, 311 – 323.

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in Art. 1 keinen Zweifel daran, dass die argentinische Nation zur Verfassungsgebung legitimiert sei. Neu war in jedem Fall der Art. 31, der die Verfassung zum „höchsten Gesetz der Nation“ erklärt, selbst wenn dem Höchsten Gerichtshof die richterliche Überprüfung von Bundesgesetzen nicht eingeräumt wurde (vgl. Art. 100). Einen weiteren ersten Schritt zur Begrenzung der Regierungsgewalt stellen Art. 28 und 29 dar, verboten sie doch einerseits die Einschränkung oder Abschaffung der garantierten Rechte durch entsprechende Gesetze sowie andererseits eine diktatoriale Machtusurpation („die Gesamtheit der öffentlichen Gewalt“). Schließlich sollte die richterliche Unabhängigkeit durch Bestallung der Richter auf Lebenszeit und das Verbot der Minderung ihres Gehalts während ihrer Amtszeit erreicht werden, selbst wenn das Verbot der Versetzung wider Willen ebenso wie weitere Maßnahmen fehlten.84 Das alles zusammen machte wohl das aus, was der Peronist Arturo Sampay als die dieser Verfassung „eigenen metaphysischen Irrtümer“ abkanzelte.85 Die mexikanische Verfassung von 1857, die mit der dreijährigen Unterbrechung des Kaiserreiches bis 1917 in Kraft blieb, wich von der argentinischen ab, indem sie keine universellen Prinzipien, dafür jedoch ein klares Bekenntnis zur Volkssouveränität kannte. Wie diese erklärte sie die Verfassung zum „höchsten Gesetz der ganzen Union“ (Art. 126). Konkrete Bestimmungen zur Begrenzung der Regierungsgewalt ähnlich denen in Argentinien fehlten, und auch die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gericht schien nicht wirklich gewährleistet. Sie wurden indirekt auf sechs Jahr gewählt (Art. 92), wobei zu einer etwaigen Wiederwahl nichts gesagt war, waren verantwortlich (Art. 103) und konnten bei ernsthaften Vorfällen vom Kongress entlassen werden (Art. 95). Im Gegenzug fand sich hier erstmals ein Einstieg in eine Verfassungsgerichtsbarkeit (bes. Art. 101),86 die wiederum gemäß der bolivianischen Verfassung von 1880 dem Höchsten Gericht zukommen sollte, „dessen Entscheidung von der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Gesetze, Dekrete und jeder Art von Entschließungen abhängt“ (Art. 111,2).87 Ansonsten fiel die bolivianische Verfassung von 1880, die eine Modifikation der Verfassung von 1878 darstellte und bis 1938 wirksam blieb, generell in Bezug auf den modernen Konstitutionalismus hinter die mexikanische Verfassung zurück. Nicht alle nachfolgenden Verfassungen anderer Staaten erreichten in der Folge dieses Niveau, blieben vielmehr bei dem einen oder anderen Prinzip des modernen 84 Vgl. die Verfassung von 1853 und 1860 in San Martin de Dromi, Documentos constitucionales argentinos, 2527 – 2583 und unter: http://www.verfassungen.net/ar/verf60-i.htm (deutsch) bzw. http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/0-4999/804/norma.htm (spanisch) (Zugriff 21. 12. 2020). 85 Arturo Enrique Sampay, La filosofía del iluminismo y la Constitución argentina de 1853, Buenos Aires: Depalma, 1944, 44. 86 Benutzt nach: http://www.cervantesvirtual.com/obra-visor/constitucion-federal-de-losestados-unidos-mexicanos-sancionada-y-jurada-por-el-congreso-general-constituyente-el-dia-5de-febrero-de-1857/html/7f8636c6-4c8e-4a58-8f48-1c99e35ab55e_2.html (Zugriff 21. 12. 2020). 87 Benutzt nach file:///C:/Users/Horst/AppData/Local/Temp/BO-CPE-18801028.pdf (Zugriff 21. 12. 2020).

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Konstitutionalismus eine entsprechende Bestimmung oder korrespondierende Regelungen schuldig. Das gilt etwa für die bereits indirekt erwähnte peruanische Verfassung von 1860, die kurzlebige liberale Verfassung von Ecuador von 1869, die in ihren Grundzügen bis 1944 wirksame Verfassung von Guatemala von 187988 oder die Verfassung Kolumbiens von 1886, die bis 1991 in Kraft blieb. Letztere hatte immerhin pauschal erklärt: „Alle öffentlichen Gewalten sind begrenzt“ (Art. 57) und eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingefügt (Art. 151).89 Auch die brasilianische Verfassung von 1891 fiel, was die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus betrifft, unter das von Mexiko und Argentinien erreichte Niveau zurück.90 Doch nicht allein die Verfassung von Chile von 1833 unterstreicht, dass Langlebigkeit im 19./ 20. Jahrhundert kein Alleinstellungsmerkmal liberaler Verfassungen war, ganz zu schweigen von den vielen kurzlebigen liberalen Verfassungen dieser Zeit. Besondere Erwähnung verdient hingegen die Verfassung von Paraguay von 1870, die bis 1940 in Kraft blieb und inhaltlich in vielen Punkten der argentinischen Verfassung nahekam. Zwar blieb sie bei der richterlichen Unabhängigkeit (Amtsdauer vier Jahre mit Wiederwählbarkeit, Art. 112) zurück, erkannte aber ebenso die Verfassung als höchstes Gesetz an (Art. 16) und verfügte über bemerkenswerte Bestimmungen zur Begrenzung der Regierungsgewalt. So erklärte Art. 34, dass die Aufzählung von Rechten und Garantien nicht den Ausschluss von nicht genannten Rechten und Garantien bedeute, „weil sie aus dem Prinzip der Souveränität des Volkes und der republikanisch-demokratisch-repräsentativen Form geboren sind“. Singulär war Art. 29: „Jedes Gesetz oder Dekret, was sich im Widerspruch zu dem befindet, was diese Verfassung verfügt, bleibt ohne Effekt und von keinem Wert.“ Sehr ähnlich formulierte die Verfassung von Costa Rica von 1871 in Art. 17: „Die Verfügungen der legislativen Gewalt oder der Exekutive, die gegen die Verfassung gerichtet wären, sind nichtig und ohne Wert, was immer die Form sei, in der sie ausgegeben werden.“91 In beiden Fällen blieb allerdings offen, wie diese Bestimmungen durchgesetzt werden sollten. Die liberale Verfassung, die für die Geschichte Costa Ricas prägend wurde, erreichte im Übrigen in Bezug auf den modernen Konstitutionalismus nicht vollends das Niveau der von Paraguay und blieb mit der Unterbrechung von 1917 – 1924 bis 1949 in Kraft. Auch in Paraguay hatte es an einem tatsächlichen Verfassungsgericht gefehlt. Dennoch kannte die Verfassung mit Art. 103 eine weitere herausragende Bestimmung: „Jede Fähigkeit oder Befugnis, die durch diese Verfassung nicht an die 88

Vgl. dazu die Bemerkung von der „longevidad común a los textos liberales definitivos“: Jorge Mario García Laguardia, Breve historia constitucional de Guatemala, Guatemala: Ministerio de Cultura y Deportes, 2002, 66. 89 Carlos Restrepo Piedrahita, Constituciones Políticas Nacionales de Colombia. Compilación, Bogotá: Universidad Externado de Colombia, 21995, 343 – 388. Vgl. Marquardt, Staat, Verfassung und Demokratie in Hispano-Amerika, I, 319 – 332. 90 Vgl. http://www.verfassungen.net/br/verf91-i.htm (Zugriff 21. 12. 2020). 91 Constitución política de la República de Costa-Rica 7 de Diciembre de 1871. Reformada en 1882, 1886 y 1889, San José: o. N., 1889, 16).

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exekutive Gewalt delegiert ist, fehlt ihr folglich, so dass es dem Kongress als souveräne Repräsentation des Volkes zukommt, jedweden Zweifel, der hinsichtlich des Gleichgewichts zwischen den drei hohen Gewalten des Staates bestehen mag, aufzuklären.“ Schließlich fand sich der Art. 29 der argentinischen Verfassung hier in erweiterter Form als Art. 13 wieder, der alle außerordentlichen Befugnisse und die „Gesamtheit der öffentlichen Gewalt“ verbot92 und fortfuhr: „Die Diktatur ist in der Republik Paraguay nicht und unzulässig“, eine Bestimmung, die hier wie in so manchem anderen lateinamerikanischen Land bedauerlicherweise nicht dem Test der Zeit standgehalten hat und den Widerspruch zwischen Verfassungstheorie und Verfassungspraxis offenlegt.93 Die bolivianische Verfassung von 1880 hatte ähnliche Bestimmung gekannt (Art. 30). Beide sind damit herausgegriffene Beispiele für jene häufig anzutreffende unterschwellige Diskrepanz zwischen den Bekenntnis zu weitreichenden Verfassungsprinzipien und einer politischen Realität, die zu ungewöhnlich ausführlichen Regelungen über den Belagerungszustand zu zwingen schien, die sich bis heute in vielen lateinamerikanischen Verfassungen finden lassen.94 Ziehen wir eine Zwischenbilanz, so wird man feststellen müssen, dass die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts dank eines verbreiteten Konsenses zwischen Liberalen und Konservativen in zunehmendem Maße in die Verfassungen Lateinamerikas Eingang fanden – eine Bilanz, die keinen Vergleich mit der Europas in dieser Zeit zu scheuen braucht. Zwar fiel das Gesamtergebnis von Land zu Land unterschiedlich aus, doch Volkssouveränität, repräsentative Regierung, Gewaltentrennung, Menschenrechte und Abänderung der Verfassung unter indirekter Mitwirkung des Volkes konnten theoretisch überall als unstrittig gelten. Gleiches galt für die allseits gerne reklamierte Verantwortlichkeit der Regierenden. Die Notwendigkeit, die Verfassung auf universellen Prinzipien zu begründen, hatte sich hingegen bislang kaum einem lateinamerikanischen Verfassungsgeber erschlossen. Dieses Prinzip bildet mit den drei verbliebenen den eigentlichen Kern für die Eigentümlichkeiten der theoretischen Ausformulierungen der lateinamerikanischen Verfassungsentwicklungen, den viele in dem betonten Präsidentialismus Lateinamerikas sehen und der, bezogen auf den modernen Konstitutionalismus, in der Praxis die überzeugende Umsetzung des Prinzips der begrenzten Regierungsgewalt so lückenhaft macht und selbst dort, wo es in der Verfassung deklariert wurde, nicht zu überzeugenden Mechanismen zwecks seiner tatsächlichen Durchsetzung führte. Ein zweiter, damit eng verbundener Bereich sind die traditionelle Rolle und das Verständnis von Recht. Dieses äußert sich nicht allein in dem, von den wenigen 92 Vgl. Art. 26 – 29, in : San Martin de Dromi, Documentos constitucionales argentinos, 2532 – 2533. 93 Die Verfassungszitate wurden entnommen: Fernando Viera, Colleción Legislativa de la República del Paraguay, Asunción: H. Kraus, 1896, 9 – 31. 94 Vgl. dazu Horst Dippel, „State of Exception and Human Rights in the History of Modern Constitutionalism“ (im Druck).

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genannten Ausnahmen abgesehenen durchgängigen Fehlen der Erklärung der Verfassung zum obersten Gesetz – dem in der Verfassungswirklichkeit eine mitunter verbreitete Geringschätzung der Verfassung entsprach –, sondern, unmittelbar damit verbunden, in dem gesamten Bereich der richterlichen Gewalt. Zwar hat so gut wie keine Verfassung ein Problem damit, die Justiz als dritte Gewalt verbal einzusetzen. Dennoch blieb dies, ungeachtet umfangreicher Befugniskataloge, in aller Regel verfassungsrechtlich eine Leerstelle. Nirgendwo wird als Prinzip die richterliche Unabhängigkeit verbal proklamiert, und es erscheint fast beliebig, ob Richter auf Lebenszeit eingesetzt oder auf wenige Jahre, häufig mit dem Recht auf Wiederwahl, bestallt wurden. Die Verfassungsimplikationen wurden, so muss man wohl daraus folgern, nicht gesehen, selbst wenn es in einigen Fällen ergänzende Bestimmungen gegeben haben mag. Die Rolle der Richter wie der Gerichte als Wahrer des Rechts und damit auch des obersten Rechts, nämlich der Verfassung, erscheint auch am Ende des 19. Jahrhunderts in der Regel noch so weit weg von dem auf die Exekutive und ihre Gewalt fixierten Blick, dass dieser in der Praxis – und hier oftmals verbunden mit Korruption und Klientelismus wie Nepotismus – nur zu leicht zur Gefahr für die Verfassung selbst wurde. Richten wir abschließend den Blick konkret auf diese kritischen Prinzipien im 20. Jahrhundert und betrachten zunächst Mexiko mit seiner Verfassung von 1917 als älteste nationale Verfassung, die aktuell in Lateinamerika in Kraft ist, einschließlich ihrer seither erfolgten Amendierungen. Auch weiterhin fehlt ein expressives Bekenntnis zu universellen Prinzipien, für das die Präambel der klassische Ort wäre. Ob dafür die wiederholten Berufungen auf die internationalen Verpflichtungen Mexikos sowie die herausgehobene Betonung der Menschenrechte als angemessener Ersatz gelten kann, mag dahingestellt sein. Ebenso vermisst man die ausdrückliche Erklärung der Verfassung zum obersten Gesetz – und sei es auch nur dem Art. 39 der Verfassung von Querétaro von 2008 vergleichbar, in der von der „Fundamentalnorm des Staates“ die Rede ist.95 Doch kennt die Verfassung seit 1917 den Art. 136 „Über die Unverletzlichkeit der Verfassung“. Die zwar auch weiterhin nicht ausdrücklich erklärte Unabhängigkeit der Justiz wird durch eine gegenüber früher deutlich gestärkte richterliche Gewalt mit einem kraftvollen Verfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dessen Richter auf 15 Jahre bestallt werden und darauf nicht wieder ernannt werden können (vgl. dazu insgesamt Art. 94 – 107). Die Begrenzung der exekutiven Gewalt wird nicht ausdrücklich thematisiert, jedoch erscheinen die exekutiven Befugnisse nicht nur strikter gefasst. Auch der neu formulierte Titel IV (Art. 108 – 114) über die Verantwortlichkeit der Staatsdiener und den Tatbestand der Korruption kann als ernsthafter Versuch gewertet werden, Barrieren zu errichten.96

95

Constitución política del Estado de Querétaro (Fe de erratas P. O. No. 21, 11-IV-08). Vgl. die aktuell gültige Verfassung unter Einschluss der bislang letzten Reform vom 18. 12. 2020 unter: http://www.diputados.gob.mx/LeyesBiblio/pdf/1_181220.pdf (Zugriff 21. 12. 2020). 96

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VIII. Lateinamerika

Ungeachtet ihres ganz anderen Charakters weist die Verfassung von Costa Rica von 1949 die gleichen vier Lücken auf. Doch auch hier sorgen ein Verfassungsgericht (Art. 10)97 und eine weit gefasste Verantwortlichkeit (Art. 148 – 151), wenngleich ohne besondere Thematisierung der Korruption, für Barrieren, ergänzt durch das ausdrückliche Verbot der Suspendierung von Rechten und individuellen Garantien (Art. 121,7). Hingegen werden die obersten Richter auf acht Jahre, bei der Möglichkeit der Wiederwahl, bestallt (Art. 158), können aber nur in außergewöhnlichen Fällen suspendiert werden (Art. 165).98 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und angesichts der Konsolidierungsphase der Demokratie seit den 1980er Jahren nach dem Ende der Diktaturen, wandelte sich dieses traditionelle Bild der lateinamerikanischen Verfassungen,99 so dass heute die Verfassung von Argentinien von 1994, in der offiziellen Lesart lediglich die bislang letzte Modifikation der Verfassung von 1853, eher als Relikt einer vergangenen Zeit erscheint, was schon das Bekenntnis zur katholischen Kirche in Art. 2 zum Ausdruck bringt, das unverändert dem Wortlaut des Art. 2 der Verfassung von 1853 entspricht,100 während alle übrigen lateinamerikanischen Verfassungen der letzten vier Jahrzehnte die Trennung von Kirche und Staat vollzogen haben.101 Universelle Prinzipien,102 die Erklärung der Verfassung zum obersten Gesetz,103 begrenzte Regierung104 und die richterliche Unabhängigkeit105 sind seit den 1980er

97 Zu der maßstabsetzenden Rolle Costa Ricas in der Verfassungsgerichtsbarkeit seit der Verfassungsänderung von 1989, vgl. José Fabián Ruiz Valerio, ¿Democracia o Constitución? El debate actual sobre el Estado de derecho, Mexiko: Fontamara, 2009, bes. 197 – 202. 98 Vgl. die aktuell gültige Fassung unter: http://www.pgrweb.go.cr/scij/Busqueda/Normati va/Normas/nrm_texto_completo.aspx?nValor1=1&nValor2=871 (Zugriff 21. 12. 2020). 99 Vgl. José Gamas Torruco, „Globalización, constitucionalismo y transiciones democráticas“, in: El constitucionalismo mexicano, hrg. v. Galeana, bes. 271 – 277. 100 Vgl. http://servicios.infoleg.gob.ar/infolegInternet/anexos/0-4999/804/norma.htm (Zugriff 21. 12. 2020); San Martin de Dromi, Documentos constitucionales argentinos, 2528. 101 Generell zur Einordnung der Verfassung von 1994, vgl. Abelardo Levaggi, „Three Matters Concerning Argentine Constitutional History“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 82 – 84. 102 Sie lassen sich etwa aus der Verfassung von Honduras von 1982, Art. 15, und der Verfassung von Venezuela von 1999, Präambel, herauslesen. 103 Vgl. Verfassung von Honduras von 1982, Art. 320. Verfassung von Guatemala von 1985, Art. 175, Verfassung von Nicaragua von 1986, Art. 182, Verfassung von Kolumbien von 1991, Art. 4, Verfassung von Paraguay von 1992, Art. 137, Verfassung von Perú von 1993, Art. 51, Verfassung von Argentinien von 1994, Art. 31, Verfassung von Venezuela von 1999, Art. 334, Verfassung von Ecuador von 2008, Art. 424, Verfassung von Bolivien von 2009, Art. 410, II. 104 Vgl. Verfassung von Guatemala von 1985, Art. 152, Verfassung von Brasilien von 1988, Art. 85 – 86, Verfassung von Paraguay von 1992, Art. 193 – 194, 225, auch Verfassung von Ecuador von 2008, Art. 129 – 131. 105 Vgl. Verfassung von Honduras von 1982, Art. 303, Verfassung von El Salvador von 1983, Art. 172, Verfassung von Brasilien von 1988, Art. 95, Verfassung von Kolumbien von 1991, Art. 228, 233, Verfassung von Paraguay von 1992, Art. 248, Verfassung von Perú von

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Jahren in die lateinamerikanischen Verfassungen eingezogen und wiederholt mit Nachdruck betont. Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass schließlich im Kontext des Siegeszuges der Demokratie die Prinzipien des modernen Konstitutionalismus in Lateinamerika vollends angekommen sind bei allen Unterschieden, die es zwischen den Verfassungen der einzelnen Staaten unverändert gibt. Ein derartiges Fazit würde jedoch die Eigentümlichkeiten des lateinamerikanischen Verfassungslebens kaum hinreichend abbilden. Dieser moderne Konstitutionalismus, der sich schon in den Anfängen der Verfassungsgebung in den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden neuen Staaten dokumentierte, musste von Anbeginn seinen Platz in einem politisch-kulturellen Umfeld finden, das nicht nur völlig anders geprägt war als das anglo-amerikanische Nordamerika im ausgehenden 18. Jahrhundert, sondern für das sich auch im 19. und 20. Jahrhundert die Vereinigten Staaten von Amerika lediglich in den seltensten Fällen als politisches Modell anboten. Doch es gab nicht allein diese politischmentalen Barrieren gegenüber einer Macht, die nur zu oft als arrogant und imperialistisch wahrgenommen werden musste. Die englischen Siedler im Nordamerika des 17. und 18. Jahrhunderts hatten ein anderes kulturelles Gepäck mitgebracht als die spanischen und portugiesischen Eroberer Lateinamerikas und ihre Nachfahren mit ihrem mitunter lange nachwirkenden scholastisch-katholischen und antiindividualistischen Weltbild.106 Ein dem englischen Begriff der rule of law vergleichbares Konzept fehlte in der iberischen Staatsphilosophie. Selbst wenn diese Unterschiede mitunter verneint werden,107 klingt in dem heute in den Verfassungen durchaus anzutreffenden Bekenntnis zum Rechtsstaat108 dies, nicht allein wegen der vielfach angefügten sprachlichen Erweiterungen, nicht selten anders und kaum nach Harringtons „Herrschaft der Gesetze und nicht der Menschen“.109 Der lateinamerikanische Rechtsstaat, so hat man den Eindruck, präsentiert sich gerne als ein Reich der Menschen – selbst wo in heutigen Verfassungen nicht von Heroen und Märtyrern die 1993, Art. 146, Verfassung von Venezuela von 1999, Art. 254, 256, Verfassung von Ecuador von 2008, Art. 168, Verfassung von Bolivien von 2009, Art. 178. 106 Vgl. dazu die Überlegungen von Eric Eduardo Palma González, „Die moralische Frage bei der Bildung des Verfassungsstaats. Chile im 19. Jh.: ein katholischer, liberaler Staat aus praktizierenden Regierenden und Bürgern“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 108 – 110. Sehr viel begrenzter José María Portillo Valdés, „Early Constitutionalism and the Limits of Liberalism in the Spanish World“, in: Constitutional Cultures: On the Concept and Representation of Constitutions in the Atlantic World, hrg. v. Silke Hensel u. a., Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2012, 43 – 66. 107 So etwa Karen Orren, „Constitutional Development in the United States and Argentina“, in: Globality and Multiple Modernities. Comparative North American and Latin American Perspectives, hrg. v. Luis Roniger und Carlos H. Waisman, Brighton – Portland, Ore.: Sussex Academic Press, 2002, 117 – 132. 108 So unter anderem die Verfassung von Perú von 1993, Art. 3. Vgl. dazu u. a. Ruiz Valerio, ¿Democracia o Constitución?. 109 James Harrington, The Commonwealth of Oceana [1656], in: The Political Works of James Harrington, hrg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 171.

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Rede ist –, der mitunter seine Personifizierung in einem „Verteidiger des Volkes (defensor del pueblo)“ findet.110 Angesichts des Lateinamerika lange prägenden Präsidentialismus und caudillismo erscheinen derartige Konstruktionen zur Einhegung der Verfassung nachvollziehbar. Dank der spezifischen lateinamerikanischen Gegebenheiten galten die einfache, in sich ausbalancierte Verfassung des modernen Konstitutionalismus, die, wie die Geschichte hinreichend unter Beweis gestellt hat, lediglich einen mit Inhalt zu füllenden strukturellen Rahmen setzt und damit offen für die Probleme der Zukunft ist, ohne zusätzliche Hilfskonstruktionen als nicht erreichbar. Daraus ergab sich eine verbreitete Diskussion, ob das 21. Jahrhundert zumal in Lateinamerika einen neuen Konstitutionalismus brauche.111 Als ein Königsweg in diese Richtung sehen einige eine letztlich jedoch kontraproduktive Aufblähung einzelner neuerer Verfassungen, deren endlose Rechtekataloge und minutiöse Einzelregelungen zu Widersprüchlichkeiten und einer inhärenten Durchsetzungsschwäche führen, die rasche Verfassungsänderungen, wenn nicht gar Verfassungsmissachtungen geradezu provozieren. Erst die Zukunft wird zeigen, ob stattdessen begrenzte Regierungsgewalt und unabhängige Justiz mit einem kraftvollen, die Rechte der Bürger aktiv verteidigenden Verfassungsgericht112 zur Sicherung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit führen können und dann möglicherweise gar die heute noch erforderlichen Hilfskonstruktionen überflüssig machen werden. Auch außerhalb Lateinamerikas war die Durchsetzung des modernen Konstitutionalismus oftmals ein jahrzehntelanger Prozess, und nicht überall erscheint das Ziel bereits erreicht. Ungeachtet aller aktuellen politischen Herausforderungen können die fundamentalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht ausgeblendet werden, dass trotz aller Schwierigkeiten auf diesem Weg das Abweichen von einer repu110

Vgl. Verfassung von Paraguay von 1992, Art. 276 – 280, Verfassung von Perú von 1993, Art. 161 – 162, Verfassung von Argentinien von 1994, Art. 86, Verfassung von Venezuela von 1999, Art. 280 – 283, Verfassung von Ecuador von 2008, Art. 214 – 216, Verfassung von Bolivien von 2009, Art. 218 – 224. Vgl. auch die rechtstheoretische Untersuchung zur politischen und rechtlichen Kontrolle im demokratischen Verfassungsstaat von Manuel Aragón, Constitución, democracia y control, Mexiko: Universidad Nacional Autónoma de México, 2002, bes. 81 – 213. 111 Vgl. u. a. Manuel Sánchez de Diego u. Fernández de la Riva, „Nuevos horizontes para el constitucionalismo del siglo XXI“, in: El constitucionalismo mexicano, hrg. v. Galeana, 371 – 382; Horst Dippel, „Braucht Lateinamerika einen neuen Konstitutionalismus?“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 32 – 34. 112 Zum richterlichen Prüfungsrecht heute, vgl. Verfassung von Honduras von 1982, Art. 184 – 186, Verfassung von El Salvador von 1983, Art. 174, 183, Verfassung von Guatemala von 1985, Art. 272, Verfassung von Nicaragua von 1986, Art. 164, 187 – 190, Verfassung von Brasilien von 1988, Art. 97, 102, Verfassung von Kolumbien von 1991, Art. 241, Verfassung von Paraguay von 1992, Art. 132, 260, Verfassung von Perú von 1993, Art. 201 – 204, Verfassung von Venezuela von 1999, Art. 266, 334. Zu dieser neuen aktiven Rolle von Verfassungsgerichten in Lateinamerika heute generell, vgl. Joaquín Garcia-Huidobro, „Der schwierige hispanoamerikanische Konstitutionalismus“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 40 – 46.

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blikanisch-demokratischen Verfassungsordnung unter Beachtung der Prinzipien des modernen Konstitutionalismus einen gefährlichen Irrweg darstellt.113 Versuche, stattdessen radikal neue Wege zu gehen, ob in Bolivien, Venezuela und anderswo, erscheinen dagegen ungeachtet der zwingenden Notwendigkeit, benachteiligte ethnische Gruppen unter Wahrung ihrer kulturellen Identitäten ebenso wie lange unterdrückte und ausgebeutete Bevölkerungsteile in den Staat zu integrieren, ideologisch überbefrachtet und in sich zu widersprüchlich, um sich als zukunftsfähiges Modell zu empfehlen.114 Den großen Vorsprung, den Lateinamerika im 19. Jahrhundert in der Einführung des modernen Konstitutionalismus gegenüber Europa zumindest der Theorie nach gehabt und sich bemüht hat, in das 20. Jahrhundert zu überführen, wird nur dann im 21. Jahrhundert zur vollen Entfaltung kommen können, wenn es auf der politischen Ebene gelingt, die unverändert bestehenden sozialen und ethnischen Gräben zu überwinden. Geboten wäre, ein politisches Klima zu erzeugen, in dem ein sozialer Konsens hinsichtlich der Grundwerte des Staates erreicht werden kann, der die Voraussetzung für die Akzeptanz und den Erfolg eines modernen Konstitutionalismus ist, in dem sich der weit überwiegende Teil der Bevölkerung wiederfinden kann. Ob die jüngste politische Krise Chiles von 2019 mit ihrem Festhalten an jenem traditionellen Weg, der in der Vergangenheit so häufig die Ursache für die konstitutionelle Instabilität Lateinamerikas war, mittels einer neuen Verfassung im Jahr 2022 das Tor zu einer besseren Zukunft aufzustoßen, von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt abzuwarten.

113 So etwa Juan Fernando Segovia, „Die Entkräftung des hispanoamerikanischen Konstitutionalismus“, in: Rechtsgeschichte, 16 (2010), 35 – 39, der darin ein Lateinamerika von Europa aufgezwungenes Prokrustesbett sieht. 114 Vgl. dazu u. a. Claudia Josi, Overcoming the Crisis: Diversity and Human Rights in the New Bolivian Constitution, Bern: Swisspeace, 2014.

Schlusswort Für James Bryce war auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus die Perspektive eindeutig: Das antike Rom und das moderne England verfügten über die beiden Verfassungen, die für die Welt von größtem Interesse waren, und beide haben daher auch den größten Einfluss in der Welt ausgeübt.1 Seither sind rund 140 Jahre vergangen, und der Blick auf die Welt, die Welt selbst und ihre Verfassungen haben sich seither, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dramatisch verändert. In unserer heutigen Welt üben die Verfassungen des modernen Konstitutionalismus den größten Einfluss aus, und die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig. Sie reichen von politischen, militärischen und ökonomischen bis zu sozialen und kulturellen. Auf sie einzugehen, war hier nicht der Ort. Doch ihre jeweiligen konkreten verfassungsrechtlichen und verfassungshistorischen Ausprägungen exemplarisch aufzuzeigen, erlaubte, jene Stationen und Inhalte dieses Wandels offenzulegen, denen die voraufgegangenen Seiten gewidmet sind. Der moderne Konstitutionalismus stellt jenes konstitutionelle Gefüge dar, das uns heute in den westlichen liberalen Demokratien verfassungsrechtlich und politisch prägt. Er hat sich dank seiner um innere Ausgewogenheit und Stimmigkeit bemühten Konstruktion seit Jahrhunderten bewährt, selbst wenn seine Errichtung in etlichen Ländern erst neueren Datums sein mag. Dabei war er in der Regel für Anpassungen und Verbesserungen offen, selbst wenn diese mitunter hart erkämpft werden mussten. Doch ungeachtet der heute großen Verbreitung der Verfassungen des modernen Konstitutionalismus war das mit ihnen Erreichte zu keinem Zeitpunkt selbstverständlich, gab es doch stets jene, denen der ganze Bau nicht passte und denen eine grundlegend andere Welt vorschwebte.2 Die dadurch immer wieder heraufbeschworenen Konflikte mochten bis hin zum Umsturz der Verfassung führen und bewirken, dass diese durch ein Konstrukt nach ihr entgegengesetzten Vorstellungen ersetzt wurde. Historisch war das nie erfolgreich, noch von Bestand gekrönt, doch der damit angerichtete Schaden mochte apokalyptische Ausmaße haben. Am Anfang der Geschichte des modernen Konstitutionalismus stand der Weckruf, dass „die Unkenntnis, das Vergessen und die Verachtung der Rechte des Menschen die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Korrumpiertheit der Re-

1 James Bryce, „Flexible and Rigid Constitutions“ [1884], in: ders., Constitutions, New York – London: Oxford University Press, 1905 (Ndr.: Aalen: Scientia, 1980), 3. 2 Vgl. dazu sehr instruktiv João Carlos Loureiro, „Anticonstitucionalismo(s)“, in: Dicionário dos Antis. A Cultura Portuguesa em Negativo, hrg. v. José Eduardo Franco, I: AA-AJ, Lissabon: Imprensa Nacional, 2018, 434 – 449.

Schlusswort

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gierungen sind“.3 Die zurückliegenden zweihundert Jahre haben die Berechtigung dieser Feststellung immer wieder bestätigt, und generell scheinen Staaten mit Verfassungen auf der Basis des modernen Konstitutionalismus nach innen wie nach außen über größere Möglichkeiten der Konfliktbewältigung zu verfügen als Staaten mit diesen Grundsätzen entgegenstehenden Verfassungen. Daher werden die, die heute bemüht sind, dem modernen Konstitutionalismus sein Grab zu schaufeln, nur dann Erfolg haben, wenn die Mahnung von 1789 erneute Aktualität gewinnen sollte. Umso wichtiger ist es, sich dieser Geschichte des modernen Konstitutionalismus, unseres – nicht Burkes – „unveräußerlichen Erbes (entailed inheritance)“4 zu vergewissern.

3 Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers vom 26. August 1789, in: Documents constitutionnels de la France, de la Corse et de Monaco, 1789 – 1848, hrg. v. Stéphane Caporal, Jörg Luther u. Olivier Vernier, Berlin – New York: de Gruyter, 2010, 29. 4 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), in: L. G. Mitchell (Hrg.), The Writings and Speeches of Edmund Burke, VIII, Oxford: Clarendon Press, 1989, 83.

Verfassungsregister Auf die Verfassungen bzw. Menschenrechtserklärungen wird mit Land oder Organisation, z. B. Vereinte Nationen oder Europarat, und Jahr verwiesen, ohne zwischen angenommenen und gescheiterten Texten zu unterscheiden, worunter sich mehrere Texte des gleichen Jahrs des betreffenden Staats befinden können. Etwaige nachfolgende Änderungen oder Ergänzungen einer Verfassung erscheinen unter dem Ursprungsjahr der Verfassung, wobei allein die Bill of Rights der USA unter Vereinigte Staaten von Amerika 1791 gesondert aufgeführt sind. Eintragungen ohne Jahr verweisen allgemein auf die Verfassungen des Landes. Auf Erwähnungrn in Fußnoten wird lediglich in Ausnahmefällen verwiesen. Alabama 1819 214, 241 – 242, 243, 289 Albanien 1925 797 – 799, 802, 805 Albanien 1928 797 – 799, 802, 805 Anhalt 1919 717 Anhalt-Dessau 1848 22, 630 – 631 Anhalt-Köthen 1848 22, 630 – 631, 716 Apatzingán siehe Mexiko 1814 Argentinien 1853 825 – 826, 828, 830 Argentinien 1860 825, 827 Argentinien 1994 745, 825, 830 Arkansas 1836 210 – 211, 214, 247, 260, 289, 780 Australien 94, 95, 99, 776 Baden 1818 604, 607 – 613, 616, 619, 627, 634 Baden 1919 717 Bayern 1808 591, 608 Bayern 1818 606 – 611, 613 – 614, 617, 619, 621, 627, 633, 634 Bayern 1919 717 Bayonne siehe Spanien 1808 Belgien 1831 20 – 21, 23, 463, 540, 542, 563, 628, 630, 632, 731, 790 Bolivien 1826 813, 814 Bolivien 1831 814 – 815 Bolivien 1834 815 Bolivien 1839 815 Bolivien 1843 815 Bolivien 1878 826 Bolivien 1880 826, 828 Bolivien 2007 712

Brasilien 1824 821 Brasilien 1891 827 Braunschweig 1820 5, 616 – 618 Braunschweig 1832 617 Bulgarien 1879 795 Cadiz siehe Spanien Caracas siehe Venezuela 1811 Ceylon 97 Chile 1828 824 Chile 1833 824, 827 Coburg-Saalfeld 1821 606, 612 – 614, 617 – 621, 634 Connecticut 157, 195, 216, 219 Connecticut 1818 196, 198, 214, 243, 247, 260, 289 Costa Rica 1825 817 Costa Rica 1871 827 Costa Rica 1949 746, 830 Dänemark 1849 23 Delaware 1776 163, 183, 193, 200 – 201, 204 – 205, 208, 209, 210, 214, 222, 235, 279, 288, 410, 472 – 473 Delaware 1792 199, 209, 214, 237, 280, 288 Delaware 1831 196, 199, 209, 214, 238, 245, 289 Delaware 1853 209 Deutschland 4, 200, 476 – 721 Deutschland 1815 599, 606, 621, 630, 631, 635, 637, 640, 677

Verfassungsregister Deutschland 1820 600, 624, 630, 631, 633 – 636, 640 Deutschland 1848/49 21, 22 – 23, 42, 464, 477, 488, 514, 522, 574 – 575, 577 – 578, 581 – 582, 641 – 678, 681, 683 – 686, 690, 708, 717, 732, 784 Deutschland 1867 676 Deutschland 1871 4, 5, 477, 523, 676 – 678, 686 – 710 Deutschland 1919 477 – 478, 488, 489, 518, 523, 676, 678 – 682, 684 – 721, 790 Deutschland 1949 2, 5, 331, 477, 489, 518, 522, 523, 683 – 710, 717, 736, 778 Deutschland siehe Einzelstaaten Ecuador 1845 814, 816 – 817 Ecuador 1869 827 Ecuador 2008 712 England 1, 2, 4, 8 – 11, 26 – 101, 103 – 174, 205 – 206, 209, 211, 269, 275, 330, 344 – 345, 347 – 350, 361 – 367, 376, 423, 427 – 430, 437 – 441. 541, 542, 628, 702, 704, 712, 736, 739 – 740, 822, 831, 834 England siehe Großbritannien, Vereinigtes Königreich Estland 1920 797, 800 – 802, 804 Europäische Union 4, 21, 90, 361, 425 – 426, 441, 722 – 776, 789 Europarat 1950 467, 772, 788 – 789, 791 Finnland 1919 798, 799, 803, 804 Florida 1839 212, 214, 289 Frankfurt 1816 607 Frankreich 4, 198, 309 – 343, 344 – 345, 353 – 360, 373 – 377, 817 Frankreich 1789 15 – 16, 155, 222, 271, 274, 283 – 285, 289, 291, 307, 328 – 329, 354, 375 – 396, 442, 460 – 461, 482, 495, 496, 506, 509, 780, 782, 809, 821, 824, 834 – 835 Frankreich 1791 1, 15 – 16, 320, 332, 337 – 338, 340, 375, 387, 421, 482, 488, 495, 496, 504, 506, 509, 519, 528, 539, 542, 549, 559, 608, 623, 647, 649, 661, 717, 728 – 729, 731, 743, 824 Frankreich 1793 16, 19, 42, 236 – 237, 240, 296 – 297, 320, 321, 340, 344, 354, 375 – 376, 391 – 407, 421, 434, 461, 495, 508,

837

509, 511, 512, 519, 623, 648 – 649, 665, 717, 718, 732, 809, 822 Frankreich 1795 16, 318, 320, 341, 354, 421 – 424, 461, 464, 488, 495, 506, 507, 509 – 520, 609, 633, 649 – 650, 810, 811, 818, 822 Frankreich 1799 16, 320, 591, 809 Frankreich 1802 320, 591 Frankreich 1804 589, 591 Frankreich 1814 17, 488, 603, 607 – 612, 614, 615, 617, 621, 624, 628, 790 Frankreich 1815 17, 590, 592, 596, 607 Frankreich 1830 18, 233, 632 Frankreich 1848 18, 42, 185, 247, 319, 320, 342, 463, 650, 713, 720, 733, 785 Frankreich 1852 733 Frankreich 1875 330, 358, 377, 713 Frankreich 1946 320, 407, 590 Frankreich 1958 16, 320, 358 – 359, 377, 394, 425, 713 – 714, 717, 720, 736 Genf 1793 21 Georgia 1776 11, 154, 159, 189, 779 Georgia 1777 168, 194, 198, 202, 205, 208, 209, 214, 236, 273, 275, 288, 370 – 371, 413 – 414 Georgia 1789 195, 209, 214, 237, 266, 288 Georgia 1798 195, 198, 209, 214, 237, 238, 288 Ghana 98 Griechenland 1927 797 – 799, 802, 804 Großbritannien 19 – 20, 344 – 345, 347 – 350, 529, 532 – 536, 540 – 542, 589, 607, 640, 712, 731 Guatemala 1810 811 Guatemala 1845 818 Guatemala 1847 818 Guatemala 1879 827 Guatemala 1985 746 Haiti 1790 809 Haiti 1801 809 Haiti 1805 809 – 810 Haiti 1806 810, 818 Haiti 1807 810 – 811 Hamburg 22 Hannover 1819 614 – 616, 621, 624 Hannover 1833 627

838

Verfassungsregister

Hawai’i 1852 24 – 25 Hessen 1919 717 Hessen-Darmstadt 1820 609 – 614, 617, 619, 626, 633, 634 Hessen-Kassel 1831 477, 537, 590, 596, 625 – 641 Idaho 2002 752 Illinois 1818 198, 214, 241 – 243, 289, 473, 780 Illinois 1848 210, 212, 214, 259, 277, 280, 289, 780 Indiana 1816 194, 198, 209, 212, 214, 241 – 242, 243, 289, 780 Indiana 1851 199, 202, 210, 214, 260, 262 Indien 96 – 97 Ionische Inseln 1817 20, 62, 64, 65, 66, 86, 616 Iowa 1844 473 Iowa 1846 214, 253, 259, 260, 270, 289, 473 Iowa 1857 210, 214, 473 Iran 1979 712 Irland 96 Israel 8 Italien 708 Italien siehe einzelne Staaten Jugoslawien 1921

796 – 800, 802, 805

Kalifornien 1849 199, 206, 212, 214, 266, 275, 277, 278, 289 Kalifornien 1879 752 Kanada 94 – 95, 99 Kansas 1855 214 Kansas 1857 214 Kansas 1858 212, 214 Kansas 1859 212, 214 Kentucky 1792 14, 168, 195, 198, 201, 214, 237, 239 – 240, 288, 714, 780 Kentucky 1799 14, 198, 202 – 203, 214, 237, 240, 243, 288, 780 Kentucky 1850 198, 203, 215, 210, 214, 780 Kolumbien 1821 812, 813 Kolumbien 1830 812 – 813 Kolumbien 1886 827 Kolumbien 1991 746

Kolumbien siehe auch Neu-Granada Kremsier 1848/49 24, 641 Lateinamerika 4, 25, 86, 807 – 833 Lauenburg 1849 23 Lettland 1922 797, 799, 802, 804 Liberia 7 Liberia 1847 24 – 25 Litauen 1928 797, 799 – 801, 804 Louisiana 1812 14, 196, 201, 214, 240, 243, 289, 780 Louisiana 1845 196, 214, 240, 247, 265, 289 Louisiana 1852 196, 210, 212, 214 Lübeck 1848 22 Luxemburg 1848 23 Maine 1819 165, 214, 241 – 243, 280, 289 Marshall Inseln 1979 747 Maryland 1776 13, 164, 183, 193, 202, 207, 208, 209, 214, 241, 243, 266, 274, 277, 280, 282, 283, 287 – 288, 323, 410 – 411, 416, 459 Maryland 1851 193, 196, 202, 209, 210, 214 Massachusetts 1778 31, 235, 236, 265, 324, 743 Massachusetts 1780 13, 14, 31, 138, 170, 182, 193, 195, 197, 199, 202, 207, 208, 212, 214, 217, 221, 223, 233, 235, 243, 257, 268, 272, 288, 324, 368, 402, 406, 416, 417, 434, 459, 473, 646, 649, 712 Mexiko 1814 821 – 824 Mexiko 1822 783 Mexiko 1824 822 Mexiko 1857 464, 784, 826 Mexiko 1917 829 Mexiko siehe Einzelstaaten Michigan 1835 200, 212, 214, 271, 289 Michigan 1850 198, 200, 212, 210, 212, 214 Minnesota 1857 199, 210, 212, 214 Mississippi 1817 198, 214, 243, 244, 271, 274, 289 Mississippi 1832 196, 198, 209 – 210, 214, 245, 289 Missouri 1820 197, 198, 202, 214, 214, 242, 243, 260 – 261, 289, 780 Missouri 1846 780

Verfassungsregister Nassau 1814 603 – 605, 607, 624 Neapel 1821 18 – 19, 533, 537, 730 Neu-Granada 1811 811 – 812, 821 Neu-Granada 1832 813 Neu-Granada 1843 813 Neu-Granada 1853 825 Neu-Irland 1780 19, 27, 61 Neuseeland 8, 95 New Hampshire 1776 11, 154, 159, 214, 270, 409 – 410, 645, 779 New Hampshire 1781 182, 270 New Hampshire 1782 182, 270 New Hampshire 1784 14, 182, 193, 195, 202, 208, 214, 233, 243, 257 – 258, 266, 270, 274, 275, 280 – 281, 288, 459 New Hampshire 1792 198, 199, 212, 214, 257 – 258, 266, 288 New Jersey 1776 13, 147, 161, 193, 196, 214, 236, 274 – 275, 287, 410, 414, 416, 448 New Jersey 1844 196, 200, 202, 214, 247, 266, 289 New York 1777 182, 194, 196, 198 – 199, 200, 203, 205, 214, 266, 288 New York 1821 196, 200, 203, 206, 214, 242, 243, 275, 289, 454, 463 New York 1846 198, 199, 200, 203, 206, 214, 252, 253, 256 – 259, 261, 265, 266, 278, 289, 454 – 455, 579 Niederlande 1815 628 Niederlande 1848 23 Nigeria 98 – 99 Nordamerika 102 – 309, 344 – 345, 350 – 354, 359 – 360 Nordamerika siehe Kanada, Vereinigte Staaten von Nordamerika North Carolina 1776 163, 164, 183, 193, 194, 197, 203, 207, 219, 234 – 235, 245, 288, 410 – 411, 416 Norwegen 1814 533

Ohio 1802 195, 214, 237, 240, 243, 275, 288 Ohio 1851 200, 210, 212 – 213, 214, 240, 244, 247, 262 Oldenburg 1919 717 Oregon 1857 202, 208, 210, 214, 473

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Österreich 1920 717 Österreich-Ungarn siehe Kremsier Pakistan 96 – 97 Pamplona de Indias 1815 783 Paraguay 1870 827 – 828 Paraguay 1992 746 – 747 Pennsylvania 1776 13, 31, 37 – 38, 41 – 42, 156, 161, 162, 182, 183, 188, 189, 193, 194, 197, 198, 201, 203, 205, 207, 209, 211, 214, 234 – 235, 257, 267, 270 – 272, 274, 275, 277, 281, 288, 296, 313, 314, 317, 320, 334, 340, 344, 368, 377, 381 – 382, 387, 390, 391 – 407, 412, 414, 415, 417, 421, 434, 459, 622, 648, 649, 712, 718, 732, 741 Pennsylvania 1790 41 – 42, 168, 193 – 194, 195, 197 – 198, 200, 201, 205, 207, 214, 221, 237, 271, 272, 273, 275, 278, 279, 283, 288, 405, 434, 474, 714, 780 Pennsylvania 1838 196, 197, 214, 238, 246, 271, 289, 579, 780 Peru 1822 816 Peru 1823 816, 823 – 824 Peru 1826 813, 814, 816 Peru 1827 814, 816 Peru 1828 816, 823 Peru 1833 816 Peru 1834 816 Peru 1839 816 Peru 1860 827 Peru 1920 823 Philippinen 1987 747 Piemont 1821 19, 533, 730 Piemont 1848 24 Polen 1791 482, 483, 496 Polen 1815 607 Polen 1921 795 – 797, 799, 801, 803, 804 Polen siehe Warschau 1807 Portugal 583 – 584 Portugal 1822 19, 533, 584, 730 Portugal 1826 73, 75 – 76, 86, 821 Portugal 1911 786 – 787 Portugal 1976 736, 737 Querétaro 2008

829

840

Verfassungsregister

Rhode Island 102, 157, 195, 216 – 230, 760, 764 Rhode Island 1790 219, 223 Rhode Island 1842 197 – 199, 203, 228, 246, 253, 274, 289 Rom 1849 23 – 24, 463, 641 Rumänien 1923 797, 798, 803, 804, 805 Sachsen 1831 627, 637 Sachsen-Altenburg 1919 717 Sachsen-Coburg-Saalfeld siehe CoburgSaalfeld 1821 Sachsen-Hildburghausen 1818 606 – 607, 619 – 621, 624 Sachsen-Meiningen 1824 614, 617 – 621, 624 Sachsen-Meiningen 1829 620 Sachsen-Weimar-Eisenach 1816 606, 619, 623, 627 Sachsen-Weimar-Eisenach 1919 717 Santo Domingo siehe Haiti Sardinien siehe Piemont Schaumburg-Lippe 1816 605, 624 Schwarzburg-Rudolstadt 1816 605, 619 Schweden 1809 533 Schweiz 21, 42, 296, 441, 622, 685 Schweiz 1848 582, 668 Schweiz 1874 3, 712, 718 Schweiz 1999 718 Schweiz siehe Einzelkantone Serbien, Kroatien und Slowenien siehe Jugoslawien South Carolina 1776 11, 103, 154, 159, 163, 214, 410 South Carolina 1778 13, 194, 210, 214, 236, 273, 288, 416 South Carolina 1790 195, 197, 198, 212, 214, 237, 238, 273, 288 Spanien 1808 561, 583, 584 Spanien 1812 18 – 19, 20, 68, 476, 477, 523 – 542, 546 – 564, 566, 583, 601, 608, 617, 619 – 624, 628, 630, 632, 633, 638, 640, 730 – 731, 733, 735, 783, 811 – 812, 819 – 820, 825 Spanien 1931 729 Spanien 1978 21, 361, 729, 732, 735 Sri Lanka siehe Ceylon Südafrika 94, 96

Tennessee 1796 195, 214, 237, 240, 243, 273, 280, 288, 780 Tennessee 1834 198, 200, 214, 241, 245, 273, 289, 780 Tessin 1814 630 Texas 1827 266 Texas 1833 780 Texas 1835 15, 205, 206, 208, 214, 266 Texas 1836 15, 205, 214, 289 Texas 1845 200, 214, 289, 579 Tschechoslowakei 1920 796 – 802, 804 Tunja 1811 464 Uruguay 1830 Uruguay 1967

824 746

Venezuela 1811 822 Venezuela 1999 712, 746 Vereinigte Provinzen in Südamerika 1819 822 – 825 Vereinigte Staaten von Amerika 4, 161, 165, 167, 169, 190, 198, 213, 271, 367 – 373 Vereinigte Staaten von Amerika 1777 266, 316, 317, 320, 742, 755 – 757 Vereinigte Staaten von Amerika 1787 13, 31, 165, 172, 182, 188, 193, 195, 198, 203, 204, 205, 206, 207, 211, 217, 223, 234, 266, 268, 275 – 276, 288, 315 – 321, 324, 369 – 371, 373, 377, 401, 405, 417, 434, 436, 482, 509, 570, 572, 579, 613, 614, 628, 646, 667 – 668, 673, 684, 695, 714, 725 – 726, 742, 754, 759, 824, 825 Vereinigte Staaten von Amerika 1791 41, 183, 217, 221, 266, 268 – 270, 272, 274, 279, 280, 284, 285, 288, 467, 472, 474 – 475, 574, 736, 822 Vereinigte Staaten von Amerika siehe Einzelstaatsverfassungen Vereinigtes Königreich 8, 90, 94, 296, 425, 464 Vereinte Nationen 1948 466 – 467, 787 – 788 Vermont 1777 14, 182, 193, 194, 195, 197, 203, 205, 211, 214, 237 – 239, 257, 273, 275, 288, 414 Vermont 1786 182, 193, 195, 197, 203, 205, 211, 214, 237, 239, 257, 288

Verfassungsregister

841

Vermont 1793 14, 193, 195, 197, 198, 203, 205, 206, 211, 214, 237, 239, 243, 257, 288 Virginia 1776 7, 9 – 13, 15, 31, 103, 108, 114, 155, 159, 164, 172, 183, 192 – 193, 197, 199, 201, 202, 203, 204, 207, 208, 210, 213, 214, 233, 235, 256, 266, 267, 270, 271, 274 – 279, 282, 287, 296, 353, 354, 369, 410, 433 – 434, 459, 480, 485, 639, 644 – 645, 779 Virginia 1830 193, 196, 198, 208, 214, 245, 287 Virginia 1851 193, 196, 198, 208, 210, 214, 247

Warschau 1807 583 – 585, 593 Weimar siehe Deutschland 1919 Westphalen 1807 476, 525, 583 – 597, 608 West Virginia 206 Wisconsin 1846 249, 255, 258 – 260 Wisconsin 1848 102, 199, 206, 210, 212, 214, 248 – 263, 270, 278, 279, 289 Württemberg 1806 613 Württemberg 1815 613 Württemberg 1819 604, 609 – 614, 617 – 619, 622, 624, 626, 633 – 635 Württemberg 1919 717 Wyoming 206

Waldeck 1816 604, 614, 623 Waldeck-Pyrmont 1849 23

Zentralamerikanische Föderation 1824 817

Personenregister Aberdeen, George Hamilton-Gordon Fourth Earl of 79, 82 Acherley, Roger 107 Adams, Abigail 177, 445, 448 Adams, John 28, 38, 39, 103, 110, 124, 156, 161 – 162, 177, 181, 185, 187, 195, 298, 305, 313, 330, 358, 372, 382, 396, 412, 415 – 418, 421, 427, 435, 445, 448 – 449 Adams, Samuel 130, 367, 372 Adams, Willi Paul 239 Ainsworth, Robert 177 Alembert, Jean Baptiste le Rond d’ 494, 739 Alengry, Frank 398 Amar, Jean Pierre André 451 André, Antoine Balthazar Joseph d’ 336, 338 Anna 429 Anschütz, Gerhard 679, 690, 718 Aretin, Johann Christoph Freiherr von 534 – 535, 537 – 539 Aristoteles 32, 33, 39, 111, 184, 382, 427, 735, 777, 778 Auclert, Hubertine 453 Aulard, Alphonse 392 Avril, Pierre 422 Aznar, José María 768

Baader, Friedrich 671 Babeuf, François Noël 389, 405 Baillie-Cochrane, Alexander 78 Baldwin, Stanley 96 Balfour, Arthur James First Earl of 92 – 94 Bancroft, George 196, 231, 384 Barnave, Antoine 326, 335, 419 Barnes, Leonard J. 787 Bassermann, Friedrich Daniel 580 Bathurst, Henry Third Earl 65, 71 Beard, Charles Austin 30 Beaud, Olivier 326

Beaumont, Miles Thomas Stapleton Eighth Baron 82 Beccaria, Cesare 280 Beckerath, Hermann von 662 Bennet, Henry Grey 66 Bentham, Jeremy 190 – 191, 348, 783, 787 Benzenberg, Johann Friedrich 527 Berg, Günther Heinrich von 499 Berlusconi, Silvio 768 Beyme, Klaus von 565 Bismarck, Otto von 676 – 678, 684, 713 Blackstone, William 28, 37, 45, 55, 102, 103, 107, 110, 111, 115, 121, 122, 123, 124, 126, 129, 130, 136, 137, 138, 139, 144, 150, 164, 166, 168, 173, 174 – 192, 199, 207, 224, 225, 322, 348, 351, 352, 366, 367, 406, 408, 414, 434, 471, 644, 645, 739 Blair, Tony 425, 768 Bland, Richard 111, 112 Blum, Robert 665, 666, 668, 670, 671, 675, 677 Bodin, Jean 327, 361 – 362, 622 Bogdandy, Armin von 687 Boissy d’Anglas, François Antoine 421 – 423 Bolingbroke, Henry Saint-John Viscount 32, 105, 108, 111, 118, 125, 128, 133, 155, 347, 348, 350, 352 Bolívar, Simón 813, 814, 817, 823 Boorstin, Daniel 192 Boost, Karl Joseph Schweikhard 502 Boutmy, Emile Gaston 391 Bracton, Henry de 166, 346, 735 Brayshaw, Charles 43 Brendel, Sebald 527 – 528 Breyer, Stephen G. 471, 475 Brissot, Jacques Pierre B. de Warville 314, 332 – 335, 337, 341, 387, 396 – 398, 400, 460 Brogan, Hugh 231

Personenregister Broglie, Jacques Victor Albert duc de 713 Brougham, Henry, First Baron Brougham and Vaux 78 Brown, Charles Brockden 446 Brown, John 307 Bryan, Samuel 178 Bryce, James 170 – 171, 424, 439, 834 Bunsen, Christian Karl Josias 671 Burgh, James 26, 146, 153, 161, 350 – 353, 355 Burke, Edmund 49, 54, 175, 348 – 350, 366, 428, 444, 495, 527, 835 Burnet, Gilbert 364 Bush, George W. 306, 470

Cambacérès, Jean Jacques Régis de 586 Camden, Charles Pratt First Earl 127 Canning, George 57, 58, 60, 62, 67 – 75, 77, 86 Cannon, James 144, 148, 163, 404 Capodistria, Ioannis 65 Care, Henry 143 Carré de Malberg, Raymond 330, 358 Cartwright, John 49, 151 Casca (Pseud., vermutlich gemeint Publius Servilius Casca Longus) 2, 155 – 156, 159, 165 Cassese, Antonio 462 Castlereagh, Robert Stewart Viscount 58, 60, 61, 62, 67, 69, 86 Chang, Nancy 306 Chevalier, Michel 231 Chevallier, Jean-Jacques 392 Chipman, Daniel 32, 38 Chirac, Jacques 768 Churchill, Winston 788 Cicero, Marcus Tullius 307, 778 Clarke, Henri Jacques Guillaume 586 – 587 Clay, Henry 14 Coke, Edward 26, 139, 735 – 736 Cole, Orsamus 262 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat Marquis de 309, 310 – 321, 326, 332 – 334, 337, 339 – 341, 376, 398 – 399, 401, 419, 420, 443, 444, 447 – 449, 461, 648 – 650 Constant, Benjamin 568, 735, 821

843

Cook, James 46 Cooley, Thomas 164 Cooper, Thomas 448 Corwin, Edward S. 117 Cox, Pat 749 Crèvecoeur, Hector St. John de 32 Cromwell, Oliver 108, 364, 366, 368 Dabelow, Christoph Christian 547 Dahlmann, Friedrich Christoph 527, 530, 578, 599, 672, 673 Danton, Georges Jacques 649 Daunou, Pierre Claude François 462 – 463 De Lolme, Jean Louis 39, 45, 107, 177, 190, 382, 409, 430, 599, 736 Derby, Edward Smith-Stanley 14th Earl of 81 – 82 Deslandres, Maurice 392, 394 Dessalines, Jean Jacques 809 Dicey, Albert V. 90, 93, 99, 348, 464, 736 Dickinson, H. T. 54 Dickinson, John 116, 128, 153, 167, 179, 381 Diderot, Denis 314, 494, 739 Disraeli, Benjamin 80 Dodge, Henry 261 Dohm, Christian Wilhelm von 501 Dorr, Thomas Wilson 216, 230, 246 Dreyfus, Alfred 786 Dufau, Pierre Armand 628 Dulany, Daniel 116, 119 Dumont, Daniel 504 Duncombe, Tom 78 Dunmore, John Murray Fourth Earl of 148 Duvergier, Jean Baptiste 628 Dworkin, Ronald 305, 306 Eden, Anthony 89 Eduard VIII. 96 Ehmke, Horst 563 Elisabeth II. 96 Ellenborough, Edward Law First Earl of 69 Elliot, Jonathan 179 Elsner, Heinrich 537 – 538 Engelhard, Georg Heinrich 571 Erhard, Johann Benjamin 483 – 484, 497 – 498 Esmein, Adhémar 424

844

Personenregister

Falkland, Anthony Cary Fifth Viscount 363 – 364 Ferdinand VII. 528, 529, 547, 552 Filmer, Robert 108 Fioravanti, Maurizio 8 Fischer, Joschka 769 Fiske, Nathaniel 165, 166 Fitch, Thomas 110, 111 – 112 Forster, Georg 46, 54 Fortescue, John 693 Foster, Roger 407 Fox, Charles James 47, 52 Franklin, Benjamin 153, 312, 395, 398, 417, 486 Freimund, Justus 637 Frochot, Nicolas Thérèse Benoit 337 – 338 Furet, François 386 Gage, Thomas 145 Gagern, Heinrich von 561, 660, 661, 664, 671, 732 Gall, Lothar 543, 544 Galloway, Joseph 151, 160, 165 – 166 Gambetta, Léon 407, 713 Gauchet, Marcel 453 Gaulle, Charles de 358 – 359, 713 – 714 Gentz, Friedrich von 496, 600, 637 Georg I. 429 Georg II. 429 Georg III. 141, 366 Georg IV. 616, 618 Gerry, Elbridge 178 Gervinus, Georg Gottfried 18, 524, 677 Giscard d’Estaing, Valérie 747 – 748, 752 Gneist, Rudolf von 190 Godechot, Jean Jacques 377 Goderich, Viscount siehe Robinson, Frederick John Godwin, William 43, 52 Goltz, Robert Graf von der 671 Görres, Joseph 530, 572 Gouges, Olympe de 442, 445 Gracchus, Gaius bzw. Tiberius Sempronius 36, 388, 727 Gräfe, Heinrich 636, 639 Grimm, Dieter 489, 599, 712 Grund, Francis P. 569 Guadet, Joseph 628

Guizot, François Pierre Guillaume Guyomar, Pierre 447

733

Häberle, Peter 687 Hall, Charles 43 Hall, Samuel 116 Haller, Karl Ludwig von 529, 530, 547, 549, 550, 555, 600 Ham, Rüdiger 596 Hamilton, Alexander 31, 40, 116, 145, 163, 179, 180 – 181, 182, 189 – 190, 260, 373, 715 Hancock, John 133, 141 Hanson, Alexander C. 369 Harrington, James 32, 35 – 36, 133, 184, 207, 256, 362, 363, 422, 441, 508, 527, 727, 831 Hartmann, Karl Friedrich August 620 Hassel, Georg 567 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 533 Henke, Heinrich Philipp Conrad 589 Henning, Leopold von 566 Henretta, James 252 Henry, Patrick 178, 179 – 180 Hérault de Séchelles, Marie Jean 400 Herle, Charles 34 Herzog, Roman 749, 750 Hilliard d’Auberteuil, Michel René 314, 396 Hirschl, Ran 688 Hobbes, Thomas 135, 361 – 363 Hobsbawm, Eric 462 Hoffman, Michael 252, 258, 261 Hofstadter, Richard 297 Holland, Henry-Richard Vassall-Fox Third Baron 61 Holt, John 151 Hoover, J. Edgar 303 Hopkins, Stephen 108 Howard jr., Martin 175 – 176 Huber, Ernst Rudolf 4, 600 – 602, 614, 621, 697 Huddleston, George 302 Hülsemann, Johann Georg 566 – 567 Humboldt, Wilhelm von 349, 483, 496 Hume, David 36, 177 Hume, Joseph 65, 66, 79 Hundeshagen, Friedrich 216, 217, 228

Personenregister Hunt, Isaac 110 Huntington, Samuel P. 301 Hunton, Philip 363 Hutcheson, Francis 133 Hutchinson, Thomas 129, 130, 132, 133, 135, 146, 149 Ignatieff, Michael 468 Inglis, Charles 105, 155 Iselin, Isaak 481 Jackson, Andrew 102, 188, 196, 197, 206, 207, 213, 230 – 232, 241, 243, 244, 246, 247, 249 – 250, 254 – 256, 262, 281, 285, 384, 435, 567 Jakob II. 116, 325, 349, 362, 363, 429 Jameson, John Alexander 170, 643 – 644, 646, 741, 743, 744, 747 Jaucourt, Louis de 373 – 374, 385, 781 Jefferson, Thomas 31, 32, 116, 149, 150, 152, 244, 252, 255, 256, 258, 267, 284, 298, 299, 307, 314, 384, 390, 435, 448, 481, 494, 566, 780 Jellinek, Georg 391 Jérôme 585 – 593 Johann 666 Johnson, Samuel 177 Jordan, Sylvester 637 Joseph II. 504 Jovellanos, Gaspar de 562 Junot, Jean Andoche 583 Karl I. 33, 147, 362 – 363 Karl II. 616, 618 Katz, Stanley 174, 175 Keith, Arthur Berriedale 93 Kennedy, Anthony 472 Kennedy, Paul 88 – 89 Kent, James 455, 671 Keralio, Louise de 401 Kischel, Uwe 687 Klopstock, Friedrich Gottlieb 479 Knight, Henry Gally 78 Koch, Christian Wilhelm 586 Korematsu, Fred 470, 471 Kotulla, Michael 618 Kotzebue, August von 600 Kraus, Hans-Christoph 45

845

Kropotkin, Pjotr 392 Krug, Wilhelm Traugott 504, 507, 509 – 511, 513 – 517, 520, 522 Kühne, Jörg-Detlef 719 Laband, Paul 695, 698, 708, 716 Laboulaye, Edouard 733 La Fayette, Marie Paul Joseph Roch Gilbert marquis de 336 Langdon, Samuel 161 Lange, Lorenz Friedrich 625 La Rochefoucauld, Louis-Alexandre duc de 312, 396 La Rochefoucaud-Liancourt, François Alexander Frédéric duc de 331 Lassalle, Ferdinand 478, 487 Lavicomterie, Louis Thomas Hébert L. de Saint-Samson 401 Lauderdale, James Maitland Seventh Earl of 62, 64 Lauderdale, James Maitland Eighth Earl of 64 Le Chapelier, Isaac René Guy 53, 335 Ledru-Rollin, Alexandre Auguste 407 Leonard, Daniel 146 – 147 Leontief, Wassily 415 Leopold II. 501 – 502 Lepel, Viktor Freiherr von 659 Lepsius, Oliver 720 Lequinio, Joseph 447 Lezay-Marnésia, Adrien 402, 406 Lieber, Franz 671 Lilburne, John 26 Lips, Alexander 567 List, Friedrich 548 Liverpool, Robert Jenkinson Second Earl of 61, 67 Lloyd George, David 423 Locke, John 26, 30, 36, 124, 129, 136, 137, 155, 160, 164, 184, 352, 411, 736 Lockmiller, David A. 181 – 182 Louis-Napoléon 733 Lübbe-Wolff, Gertrude 719 Ludwig XVI. 42 Lutz, Donald 271 Mably, Gabriel Bonnot de 314, 396 Macaulay, Thomas Babington 438

846

Personenregister

Machiavelli, Niccolò 28, 30, 32, 36 Mackintosh, James 70 Maclaine, Archibald 180 Macleod, Ian 89 Mac-Mahon, Patrice de 713 Macmillan, Harold 89, 101 Macpherson, C. B. 411 Madison, James 29, 38, 164, 177, 180, 258, 268, 272, 284, 369, 383, 417 Maemecke, Robert 93 Maistre, Joseph de 349 Maitland, Thomas 62 – 67, 86, 615 Majer, Johann Christian 506 Mallet, Edmé-François 325 Mandrillon, Joseph 314 Mangoldt, Hermann von 682 – 683 Mansfield, William Murray First Earl of 47, 471 Marat, Jean Paul 374, 386, 387, 404, 450 Marriott, John 92 Marshall, John 31, 40, 179, 190, 335, 715, 765 Martínez de la Rosa, Francisco 562 Mason, George 172 Mather, Moses 160 Matlack, Timothy 404 McCarthy, Joseph 296, 303 McDougall, Alexander 129 McIlwain, Charles Howard 8, 173, 346 McKenzie, John 181 Melbourne, William Lamb Second Viscount 73 Méndez de Vigo, Íñigo 774 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 18, 62, 600, 605, 621, 630 Miguel, Dom 75 Milner, Alfred 92 Milnes, Richard Mockton 78 Milton, John 47, 184, 726 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti comte de 651 Miranda, Francisco de 809, 819 Mittermaier, Carl Joseph Anton 581, 656, 668, 670 – 672, 677, 683 Mohl, Robert von 570, 572 – 577, 582, 613, 668, 671, 674, 695 Molesworth, William 58, 80 Moltmann, Günter 565

Monroe, James 298 Montesquieu, Charles de Secondat Baron de la Brède et de 1, 35, 38, 43, 44, 106, 108, 136, 163, 183 – 185, 186 – 187, 189, 202, 206, 311, 313, 319, 350, 353, 355, 385, 390, 408 – 409, 414, 428 – 430, 457, 494, 509, 574, 704, 727, 733, 736, 812 Morio, Annet M. de l’Isle 587 Mounier, Jean-Joseph 327 – 329, 331, 355 – 357 Müller, Adam Heinrich 547 Münch, Ernst 534 Münster, Ernst Graf von 615 Murhard, Friedrich 372, 428, 529, 537, 539, 568, 569, 576, 577, 582, 601, 626 – 627, 635, 638 – 640, 671 Murphy, William Francis 470 Napoléon 16, 61, 64, 67, 477, 490, 510, 512, 525, 546, 583 – 598, 600, 607, 732, 766, 783, 809, 819, 824 Nariño, Antonio 809, 821 Nash, Gary 173 Nebenius, Karl Friedrich 607, 623 Nelson, Horatio First Viscount 85 Nippel, Wilfried 33 Noailles, Louis-Marie Vicomte de 547 Nugent, Thomas 107, 186 Osborne, Ralph Bernal 79, 84 Otis, James 108 – 109, 110, 140, 175 – 176 Pacheco, Toribio 823 Pacifico, David „Don“ 80 – 81 Paine, Thomas 36, 41, 43, 103, 105, 125, 141, 144, 152, 156 – 157, 159 – 160, 164, 256, 314, 350, 352, 398, 404, 415, 444 Palmer, A. Mitchell 302 Palmerston, Henry John Temple Viscount 57, 58, 60, 75 – 84, 86, 87 Parker, Henry 34 Parsons, Theophilus 411 – 412, 449 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 639 Pechan, Albert R. 304 Pedro I. 72, 73 Peel, Robert 68, 79 Pétion, Jérôme P. de Villeneuve 326, 328, 336 – 337, 339 – 341, 647 – 648, 650

Personenregister Pfeiffer, Burkhard Wilhelm 641 Pfeilschifter, Johann Baptist von 536 Pfizer, Paul Achatius 671, 732 Philippi, Ferdinand 567, 577 Phillips, George 448 Pitt, William 26, 46, 47 – 48, 50, 52 – 55 Platon 32, 33, 36, 111, 727, 777 Pocock, J. G. A. 28 – 29 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 533, 537, 538, 540, 551, 570, 599, 622, 628, 640, 730 – 731 Polk, James K. 260 Polybios 32, 39, 382 Pope, Alexander 495 Porbeck, Heinrich Otto Aemilius Friedrich von 596 Pougeard Dulimbert, François 56, 335 Pradt, Dominique Georges Frédéric de R. de 531 Preuß, Hugo 676, 681, 691, 702, 704 Price, Richard 312, 353, 381 Priestley, Joseph 177 Pufendorf, Samuel 109 Rabaud Saint Etienne, Jean Paul 419 Radin, Max 175 Ramsay, David 485 Ranke, Leopold von 359 Raumer, Friedrich von 569 – 570, 671 Raynal, Guillaume Thomas François 314 Reed, Joseph 127 Reeves, John 55 Regnaud, Michel Louis Étienne R. de SaintJean d’Angély 586 Régnier, Claude Ambroise 314 Rehnquist, William H. 471 Rendler, Joseph 502, 504, 506 – 510, 513, 516, 519 Rethel, Johann 504 Reubell, Jean-François 336 Ridder, Helmut 697, 717 Riedel, Andreas 501 – 502 Rittenhouse, David 404 Robbins, Caroline 37 Robert, Georg Friedrich Carl 593 – 594, 596 Robert, Pierre François Joseph 386, 401 Robespierre, Maximilien de 338, 339, 388, 396, 404, 536

847

Robinson, Frederick John 68 Rockingham, Charles Watson-Wentworth Second Marquess of 123 Roebuck, John 82 – 83 Romme, Gilbert 448 Rönne, Friedrich von 580, 671 Roosevelt, Franklin D. 788 Roßbach, Johann Joseph 575, 576, 671 Rotteck, Carl von 22, 465, 476, 487, 534, 538 – 540, 543 – 564, 576, 582, 610, 622, 624, 628, 630, 634 – 636, 640, 671, 731 Rousseau, Dominique 1 Rousseai, Jean-Jacques 32, 342, 375, 385, 386, 395, 401, 427 Rush, Benjamin 38, 369, 381 – 382, 384, 412 – 413, 444 Ryan, Edward G. 254 Saint-Just, Louis Antoine Léon de 397, 404, 484, 497 Saitta, Armando 392 Salisbury, Robert Cecil Marquess of 438 Sampay, Arturo Enrique 826 Sand, Karl Ludwig 600 Santos, Paula Borges 710 Scalia, Antonin 474 Scheel, Heinrich 492 Schlesinger, Arthur Meier 112, 475 Schmalz, Theodor Anton Heinrich 547 Schmid, Carlo 2, 500, 691 Schmidt, Friedrich 567 Schmohl, Johann Christian 485 Schnabel, Franz 538 Schröder, Gerhard 768 Schubert, Friedrich Wilhelm 536 Scipio Africanus, Publius Cornelius 318 Seconds, Jean Louis 374 Seidel, Günther Karl Friedrich 485 – 487 Seier, Hellmut 625 – 626 Shaw, Lemuel 455 – 456 Sidney, Algernon 129, 137, 184 Sieyès, Emmanuel Joseph 325, 326, 328 – 330, 335, 357 – 358, 375, 419 – 420, 450, 494, 590, 651 Siméon, Joseph Jérôme 597 Simon, Heinrich 659 – 660 Simpson, Brian 788 Skach, Cindy 710

848

Personenregister

Smith, William 144 Soiron, Alexander von 655 – 656, 660 Solon 396 Sommer, Christian 502, 504, 506, 510 – 520 Spence, Thomas 448 Sprengel, Matthias Christian 479, 481 Stadelmann, Rudolf 489, 491, 522 Stahl, Friedrich Julius von 465, 567 Staples, William R. 223 – 226, 228 – 230 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 603 Steinmeier, Frank Walter 711 Stern, Klaus 697 Stevens, John Paul 471, 474 – 475 Stone, Geoffrey 307 Story, Joseph 179, 574, 671, 672 Stourzh, Gerald 264, 454 Strombeck, Friedrich Karl von 597 Struve, Gustav von 578, 670 Stuart, Charles 71 – 76 Sullivan, John 367 Talleyrand, Charles Maurice de 586 Taylor of Caroline, John 32 Thiers, Adolphe 713 Thomas, Isaiah 224 Thompson, E. P. 45 Thornhill, Chris 687 Tierney, George 64 Tocqueville, Alexis de 196, 231, 378, 380, 418, 423, 424, 435, 576, 672, 674, 728, 736 Treno, José M. de Queipo de Llano y Ruiz de Saravía 531 Toussaint Louverture, François Dominique 809 Triepel, Heinrich 677 Troper, Michel 285 Truman, Harry S. 303 Trump, Donald 101, 308 Tucker, St. George 175 Turgot, Anne Robert Jacques Baron 312 – 314, 319, 321, 353, 396 Turner, Frederick Jackson 241

Urquhart, David

79 – 80

Vattel, Emer de 137, 191 – 192, 352, 778 Venner, James 108 Waitz, Georg 674, 675 Walsh, John 83 Walworth, Reuben H. 455 Warren, Mercy Otis 445 Washington, George 298 Weber, Erdmann 502, 504 – 505, 507, 509, 515 – 517 Webster, Noah 187 Weitzel, Johann 638, 640 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 479 Welcker, Karl Theodor 541, 559, 560, 576, 577, 663, 671 Wellington, Arthur Wellesley First Duke of 78 – 79, 85 Wentworth, John 409 Whiton, Edward V. 253 Widenmann, Eduard 570 Wigard, Franz 668, 675, 677 Wilhelm III. 365 Wilkes, John 113, 120 Williams, David 448 Williams, Roger 118 Wilson, James 141 – 142, 163, 177, 178, 180, 264, 305, 307, 372, 451 – 452 Winkler, Heinrich August 543, 544 Wintzingerode, Carl Friedrich Heinrich Levin von 622 Wippermann, Karl 661 Wolf, Christian 480 Wollstonecraft, Mary 444 Wood, Gordon S. 236, 384, 404 Würtenberger, Thomas 629 Young, Thomas

404

Zachariä, Heinrich Albert 568 – 569, 664 Zachariä, Karl Salomon 572