Konfession und Wohlfahrt im Nationalsozialismus: Beispiele aus Mittel- und Ostdeutschland [1 ed.] 9783428557530, 9783428157532

Als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen der industriellen und demographischen Revolution kam es in der zweiten Hälfte

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Konfession und Wohlfahrt im Nationalsozialismus: Beispiele aus Mittel- und Ostdeutschland [1 ed.]
 9783428557530, 9783428157532

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Zeitgeschichtliche Forschungen 57

Konfession und Wohlfahrt im Nationalsozialismus Beispiele aus Mittel- und Ostdeutschland Herausgegeben von Hagen Markwardt, Fruzsina Müller und Bettina Westfeld

Duncker & Humblot  · Berlin

Konfession und Wohlfahrt im Nationalsozialismus

Zeitgeschichtliche Forschungen Band 57

Konfession und Wohlfahrt im Nationalsozialismus Beispiele aus Mittel- und Ostdeutschland

Herausgegeben von Hagen Markwardt Fruzsina Müller Bettina Westfeld

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15753-2 (Print) ISBN 978-3-428-55753-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung Von Hagen Markwardt, Fruzsina Müller, Bettina Westfeld . . . . . . . . . . . . . . . 9 Der Kaiserswerther Verband in der Zeit des Nationalsozialismus Von Norbert Friedrich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission am Beispiel seiner sächsischen Vertreter (1931–1938) Von Uwe Kaminsky  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“ Von Bettina Westfeld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Seelsorger der Patienten oder Helfer des Regimes? – Die Anstaltspfarrer in den sächsischen Heil- und Pflegeanstalten 1933–1945 Von Christoph Hanzig  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Ambivalente Mutterhausdiakonie. Zur Anhaltischen Diakonissenanstalt 1933 bis 1945 Von Jan Brademann  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Die Diakonissenanstalt Dresden im Nationalsozialismus Von Annett Büttner  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus in geschlechtergeschichtlicher Perspektive Von Fruzsina Müller  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Der Weg zur Entkonfessionalisierung des evangelischen Krankenhauses Paul-Gerhardt-Stift in der Lutherstadt Wittenberg in der NS-Zeit Von Helmut Bräutigam  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Das Brüder- und Pflegehaus Zoar-Martinshof in Rothenburg (Oberlausitz) Von Manja Krausche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Zwischen diakonischer Selbstbehauptung und nationalsozialistischer Wohlfahrtspolitik. Der interne Diskurs dreier Diakonissen-Mutterhäuser der Provinz Sachsen zwischen 1933 und 1945 Von Elena Marie Elisabeth Kiesel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

6 Inhaltsverzeichnis Krankenpflege und Armenfürsorge im Erzbistum Breslau zur Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 am Beispiel der Vinzentinerinnen Von Maik Schmerbauch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen oder der lange Weg zu einem eigenen Alters- und Siechenheim (1940–1943) Von Jürgen Nitsche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die Ausbildung zur Krankenpflege in der Israelitischen Krankenversorgungsanstalt Breslau während des Nationalsozialismus Von Hagen Markwardt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Abkürzungsverzeichnis ADA ADBO ADE ADWS

Anhaltische Diakonissenanstalt Archiv Diakonissenhaus Borsdorf Archiv für Diakonie und Entwicklung Archiv des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens AELKA Archiv der Evangelischen Landeskirche Anhalts AHSL Archiv der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal ArchADA Archiv der Anhaltischen Diakonissenanstalt Dessau ArchDD Archiv der Diakonissenanstalt Dresden Archiv KW Archiv Kleinwachau Archiv RWL Archiv Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e. V. AVMK Archiv der Vinzentinerinnen Mutterhaus Köln-Nippes AŻIH Archiv Żydowski Instytut Historyczny BJG Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt BK Bekennende Kirche BStU Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes in der ehemaligen DDR BT Brieftaube BUSS-Archiv Archiv der Brüder- und Schwesternschaft Martinshof e. V. CA Centralausschuss der Inneren Mission DAF Deutsche Arbeitsfront DC Deutsche Christen DHL Diakonissenhaus Leipzig DIGB Deutsch-Israelitischer Gemeindebund DMC Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift Halberstadt DNVP Deutschnationale Volkspartei DRK Deutsches Rotes Kreuz DVJK Deutscher Verband Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine DWH Diakoniewerk Halle/Saale DWP Archiv Diakonisches Werk Pirna EKH Evangelisch-Kirchlicher Hilfsverein ELD Elektronische Datenverarbeitung im Archiv der Pfeifferschen Stiftungen Magdeburg-Cracau

8 Abkürzungsverzeichnis EvDV Evangelischer Diakonieverein Ev.-luth. Evangelisch-lutherisch EZAB Evangelisches Zentralarchiv FfA Frauenhilfe fürs Ausland FKS Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth GzVeN Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses IKVA Israelitische Krankenverpflegungsanstalt IM Innere Mission KVW Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser LAB Landesarchiv Berlin LASA Mers Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg LKA Landeskirchenamt LKADD Landeskirchenarchiv Dresden MH Mutterhaus NS Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSFK NS-Fliegerkorps NSKK NS-Kraftfahrerkorps NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OKR Oberkirchenrat OLKR Oberlandeskirchenrat ORR Oberregierungsrat PGSt Evangelisches Paul-Gerhardt-Stift Wittenberg RDB Reichsbund der Deutschen Beamten RGBl Reichsgesetzblatt RLB Reichsluftschutzbund RMdI Reichsministerium des Innern RVJD Reichsvereinigung der Juden in Deutschland SächsHStAD Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden SächsStAL Sächsisches Staatsarchiv Leipzig SB Schwesternbrief StAC Stadtarchiv Chemnitz StFilA Bautzen Staatsfilialarchiv Bautzen U. O. B. B. Unabhängiger Orden Bne Briss oder Bnei Briß

Einleitung Von Hagen Markwardt, Fruzsina Müller, Bettina Westfeld Als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen der industriellen und demographischen Revolution kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer massiven Expansion caritativer Institutionen im Deutschen Reich. Neben staatlich-öffentlichen Einrichtungen waren Anstalten in konfessioneller Trägerschaft ein wichtiger Akteur auf diesem Feld. Gegen die ursprünglichen Befürchtungen ihrer Repräsentanten kam es nach 1918 nicht zu einer Kommunalisierung, sondern sogar zu einer Stärkung der freien Wohlfahrtspflege, deren Mitwirkung gesetzlich verankert wurde.1 Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wandelte sich das Verständnis der Aufgaben von Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik im Deutschen Reich fundamental. Es basierte fortan auf einer biologistisch-rassistischen Definition von Gesellschaft, an dessen Teilhabe bestimmte Bevölkerungsgruppen in Deutschland (und später auch in den okkupierten Gebieten) per se ausgeschlossen waren. Von den Nationalsozialisten inflationär gebrauchte Begriffe wie „Volkskörper“ oder „Volksgemeinschaft“ deuteten an, dass nicht mehr das Individuum als Subjekt der sozialen und gesundheitlichen Fürsorge betrachtet wurde, sondern eine imaginierte biologische Entität, in der sich der oder die Einzelne einzufügen hatte. Der Zugang zu dieser „Volksgemeinschaft“ und damit auch zu sozialen Leistungen war an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dabei entschied nicht mehr allein die Bedürftigkeit, sondern auch die angenommene rassische Wertigkeit der Person. Die immer stärkere Hierarchisierung der Gesellschaft radikalisierte sich im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft soweit, dass sie ab 1940 in einen systematisch-industriellen Mord an Menschen führte, die nicht dem nationalsozialistischen Menschenideal entsprachen. 1  Gerhard Buck, Die Entwicklung der freien Wohlfahrtspflege von den ersten Zusammenschlüssen der freien Verbände im 19. Jahrhundert bis zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips in der Weimarer Fürsorgegesetzgebung, in: Rolf Landwehr/ Rüdiger Baron (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Weinheim und Basel 1983; Verena Hennings, Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 2008; Catherine Maurer, Der Caritasverband zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des caritativen Katholizismus in Deutschland, Freiburg 2008; Jochen-Christoph Kaiser, Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008.

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Die tiefgreifende Neujustierung der Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie betraf auch das eingangs beschriebene etablierte Netzwerk von konfessionellen Einrichtungen, die bereits längere Zeit mit der konkreten Umsetzung der Wohlfahrtsarbeit befasst waren. Für sie stellte sich ab 1933 die Frage, wie sie mit dieser grundlegenden Neuausrichtung umgehen sollten. Was bedeutete die selektiv-hierarchische Gesundheits- und Wohlfahrtspolitik für ihre Arbeit? Wie ließ sich der eigene theologische Anspruch – die bedingungslose Zuwendung zum bedürftigen Nächsten – in das neue gesellschaftliche Umfeld und den Totalitäts­ anspruch der NS-Ideologie einfügen? Welche Handlungsfelder öffneten oder verschlossen sich? Wie positionierten sich die Verantwortungsträger zu der immer offener zu Tage tretenden Radikalisierungsdynamik im Verlauf der NS-Herrschaft? Kurz: Wie ließ sich religiös motiviertes soziales Handeln unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft begründen und gestalten? Diese Fragen stellt der vorliegende Band für konfessionelle soziale Einrichtungen im Raum Mittel- und Ostdeutschland in den Mittelpunkt. Der besondere geographische Zuschnitt nimmt auf die vergleichsweise starke regionale Autonomie von konfessionellen Wohlfahrtseinrichtungen Rücksicht, die meistens auf Ebene der Provinzen und Länder oder auch nur von Kommunen wirkten. Gleichzeitig wird damit der Fokus auf eine von der Forschung in diesem Zusammenhang bislang wenig beachtete Region gelegt.2 Mittel- und Ostdeutschland, wie es im Titel des Bandes heißt, wird dabei weniger als geografische Einheit verstanden, sondern vielmehr als Sammelbegriff für einzelne Studien aus dem Gebiet der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, wobei zu letzterem zu unserem Bedauern keine Beitragenden gefunden werden konnten. Um das Spektrum zu erweitern, wurden daher Bei2  Durch einzelne Forschergruppen und Institutionen sowie durch die historische Entwicklung im Zuge der deutschen Teilung ist der Stand der Bearbeitung des Themas unterschiedlich. Beispielsweise liegen für den Westen Deutschlands verstärkt Untersuchungen vor, während die Regionen östlich der Elbe bisher eher vernachlässigt wurden. Siehe beispielsweise Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995; Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, „Der das Schreien der jungen Raben nicht überhört.“ Der Wittekindshof – eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, 1887 bis 2012, Bielefeld 2012; Hans-Walter Schmuhl/­ Ulrike Winkler, Vom Frauenasyl zur Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung: 130 Jahre Diakonie Himmelsthür (1884–2014), Bielefeld 2014; Ulrike Winkler/HansWalter Schmuhl, Dem Leben Raum geben. Das Stephansstift in Hannover (1869– 2019), Bielefeld 2019; Hans Otte/Thomas Scharf-Wrede (Hg.), Caritas und Diakonie in der NS-Zeit. Beispiele aus Niedersachsen, Hildesheim/Zürich/New York 2001; Sven Wahl/Uwe Schellinger (Hg.), Vom jüdischen Kinderheim zur Luisenklinik: die Geschichte des Friedrich-Luisen-Hospizes in Bad Dürrheim 1912–2012, VillingenSchwennigen 2012.

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träge zu Schlesien aufgenommen, die in bisherigen Publikationen auch unterrepräsentiert waren.3 Im Gegensatz zu älteren Forschungen begreifen die Beiträge das Verhältnis zwischen den christlich-konfessionellen Einrichtungen und der NS-Herrschaft nicht von vornherein als dichotomisch. Die christlichen Glaubensgemeinschaften waren gegenüber dem Nationalsozialismus zunächst prinzipiell offen, auch wenn sich diese Zustimmung oder zumindest Unbestimmtheit im Verlauf der 1930er Jahre meist in Anstrengungen um die Selbstbehauptung wandelte. Nur mit dieser distanzierten Betrachtung kann es gelingen, auch Nuancierungen, Ungleichzeitigkeiten und Ambivalenzen kenntlich zu machen. Für die im Sammelband thematisierten jüdischen Einrichtungen gilt es, vor dem Hintergrund der systematischen Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik des nationalsozialistischen Regimes die fast paradox erscheinenden Handlungsspielräume und Selbstbehauptungstendenzen der jüdischen Akteure in den Blick zu nehmen. Der Sammelband versteht sich dabei bewusst nicht als Conclusio, sondern als Anregung und Impuls für weiterführende Forschungen. Das spiegelt sich auch in der thematischen Vielfalt der Beiträge wider. Einen deutlichen Schwerpunkt bilden, der konfessionellen Verteilung der Bevölkerung in den untersuchten Regionen geschuldet, Einrichtungen der evangelischen Kirchen – der Inneren Mission, heute Diakonie. Hier wurden den Studien zu einzelnen Einrichtungen vier Beiträge von größerer Reichweite vorangestellt. Dabei verengt sich der Fokus allmählich von der Reichs- zur Landesebene. Die Perspektive der einzelnen Autorinnen und Autoren auf ihren Unter­ suchungsgegenstand ist sehr heterogen und steht für die Fülle von möglichen Forschungsfragen. Norbert Friedrich gibt einen umfassenden Überblick zur Haltung und zum Handeln des 1916 gegründeten Kaiserswerther Verbandes Deutscher Diakonissenmutterhäuser im Nationalsozialismus. An diesen Dachverband orientierten sich als Mitglieder auch die meisten ost- und mitteldeutschen Diakonissenhäuser. Daher wirkte sich dessen positive Haltung gegenüber der NSDAP unmittelbar auf die einzelnen Häuser aus. Uwe Kaminsky untersucht ebenfalls eine Institution der deutschen Inneren Mission (IM) auf der zentralen Ebene. Jedoch formierte sich der „Eugenische Ausschuss“ erst 1931, vor dem Hintergrund der bereits über mehrere Jahre in unterschiedlicher Intensität geführten eugenischen Diskussionen. Im Hinblick auf seine sächsischen Vertreter werden Agendasetzung und wahlweise ein3  Meilenstein für diese Region siehe: Boris Böhm (Hg.), Vergessene Opfer der NS„Euthanasie“. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940–1945, Dresden 2018.

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vernehmliche oder kontroverse Meinungen innerhalb des sich radikalisierenden eugenischen Diskurses erkennbar. Ebenfalls mit sächsischen Akteuren, allerdings auf der regionalen Ebene des Landesvereins für Innere Mission, beschäftigt sich Bettina Westfeld. Der Blick richtet sich von den politischen Einstellungen der sächsischen Leitungsfiguren über die Handlungsspielräume einzelner Anstalten in Trägerschaft des Landesvereins bis hin zu Schicksalen einzelner Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen aus diesen Einrichtungen. Einen biografischen Zugang wählte Christoph Hanzig. Er beleuchtet Leben und Wirken der Anstaltsgeistlichen in den sächsischen Heil- und Pflegeanstalten. Diese Einrichtungen zur Pflege von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wandelten sich binnen kurzer Zeit zu Ausführenden der nationalsozialistischen Gewalt- und Mordpolitik. Es wird gefragt, wie die Seelsorger mit diesen Änderungen umgingen. Die erste Einzelstudie des Bandes zu einer konfessionellen Institution von Jan Brademann untersucht die Positionierung der Vorsteher und der Oberin der Anhaltischen Diakonissenanstalt in Dessau zur nationalsozialistischen Kirchen- und Wohlfahrtspolitik. Eine „innerlich“ an die Bekennende Kirche (BK) orientierte, kirchenpolitisch resistente Haltung reichte jedoch nicht zum politischen Widerstand gegen das NS-Regime aus. Ähnliche Fragen nach Handlungsoptionen wirft Annett Büttner in ihrer Studie zur Dresdner Diakonissenanstalt auf. Darin untersucht sie die kirchenpolitische Einstellung der Leitung und der Schwesternschaft, aber auch die Rolle des Krankenhauses und weiterer Einrichtungen im Zweiten Weltkrieg bei der Umsetzung der Zwangssterilisierung sowie der NS-„Euthanasie“. Zu ihrer Untersuchung zum Leipziger Diakonissenhaus wählte Fruzsina Müller einen geschlechtergeschichtlichen Zugang. Sie analysiert die Bio­ grafien von drei Angehörigen (Rektor und zwei Diakonissen) des Leipziger Mutterhauses. Der Beitrag stellt heraus, welche Vorstellungen von männ­ lichen und weiblichen Rollen in der Mutterhausdiakonie zu verschiedenen Handlungen oder Schicksalen im Nationalsozialismus beitrugen. Während die Dresdner und Leipziger Diakonissenhäuser im Nationalsozialismus zumindest ihre Hauptarbeitsfelder – ihre Krankenhäuser – beibehalten konnten, hatte die evangelische Paul-Gerhard-Stift stetige Vereinnahmungsversuche der Wittenberger Stadtleitung abzuwehren. Welche Mittel insbesondere der Oberbürgermeister einsetzte, um das evangelische Krankenhaus zu übernehmen, beleuchtet Helmut Bräutigam. Manja Krausche lenkt den Blick in ihrem Beitrag weg von den weiblichen Diakonissenanstalten in Sachsen hin zu einer Diakoneneinrichtung in Schlesien. Sie zeichnet den Weg des Brüder- und Pflegehauses Zoar-Martinshof

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von einer Einrichtung im Bereich der Behindertenpflege hin zu einem Ort der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ sowie zum Übergangslager jüdischer Deportierter nach. Diese schwer nachvollziehbare Entwicklung wurde durch die Begeisterung der dort tätigen Diakone für den Nationalsozialismus und einem tiefgreifenden Antisemitismus möglich. Dass diese Einstellungen auch bei anderen evangelischen Einrichtungen präsent waren, zeigt Elena M. E. Kiesel in ihrem Beitrag zu drei Diakonissenhäusern in der damaligen Provinz Sachsen. Mit Hilfe einer diskurs­ geschichtlichen Untersuchung arbeitet sie die Kommunikationsmuster der Hausleitungen in Halle/Saale, Halberstadt und Magdeburg gegenüber ihren Schwesternschaften heraus. Mit Maik Schmerbauchs Beitrag wird der Fokus vom evangelischen auf das katholische Milieu gelenkt. Der geografische Schwerpunkt liegt dabei erneut auf Schlesien, wo der Pflegeorden der Vinzentinerinnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts tätig war. Insbesondere am Beispiel des Beuthener Krankenhauses kann die ablehnende, verweigernde Haltung der Schwesternschaft zur Ideologie und zu den rassenhygienisch-medizinischen Anforderungen des NS-Staates plausibel aufgezeigt werden.4 Hier greifen die gewohnten Erklärungsmuster nicht, nach dem die hierarchischen Ordensstrukturen verantwortlich für die Beteiligung des pflegerischen Personals an den medizinischen Verbrechen waren. Ein Widerstand gegen die „rassenhygienischen“ Maßnahmen aus der Überzeugung des christlichen Glaubens war möglich. Dabei war die klare Haltung des Papstes, zumindest in der Frage von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“, hilfreich im Vergleich zur zerstrittenen Vielstimmigkeit der föderal organisierten evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Zurück nach Sachsen, allerdings ins jüdische Milieu, führt Jürgen Nitsche in seinem mikrohistorischen Beitrag zum Chemnitzer Wohlfahrtswesen. Bereits vor dem Hintergrund des Erstarkens der NSDAP geriet die Wohlfahrtspflege der Juden in Schwierigkeiten, denn gerade alte, mittellose und kranke Menschen blieben in der Gemeinde zurück. Sie vor der immer massiver drohenden Gewalt zu schützen wurde immer schwieriger, bis es durch die komplette Auflösung der Gemeindearbeit und die Ermordung der meisten Mitglieder völlig unmöglich wurde. Erneut mit Fragen jüdischer Wohlfahrtspflege, jedoch mit einem erneuten regionalen Schwenk nach Schlesien, beschäftigt sich Hagen Markwardt, der die Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen und -pfleger in der Israelitischen Krankenpflegeanstalt in Breslau in den Blick nimmt. Er untersucht, 4  Bei den Ortsbezeichnungen werden die jeweils zeitgenössischen Namen verwandt.

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wie die Ausbildung am Breslauer Jüdischen Krankenhaus durch die antisemitische Politik des Nationalsozialismus eine erzwungene Konfessionalisierung erfuhr und wie pflegende Berufe als eine der wenigen Möglichkeiten der Berufsausübung sowohl für auswanderungs- wie auch bleibewillige jüdische Menschen an Attraktivität gewannen. So vielfältig die Inhalte des Sammelbandes ausfallen, so unterschiedlich sind die Autorinnen und Autoren selbst – von erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über Nachwuchskräfte bis zu Archivarinnen und Archivaren. Ihnen allen gilt unser Dank, zu unserem Sammelband beigetragen zu haben. Danken möchten wir zudem dem Leipziger Leiter des Instituts für Kirchengeschichte Prof. Dr. Klaus Fitschen, der diesen Sammelband von der Idee bis zum Lektorat begleitete und uns Räumlichkeiten, auch in Kooperation mit dem Gustav-Adolf-Werk e. V., zur Verfügung stellte. Ebenfalls danken wir Dr. Uwe Kaminsky für seine fachliche Unterstützung. Einen großzügigen finanziellen Zuschuss zur Drucklegung gewährte uns das Diakonische Werk der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens  e. V., wofür wir unseren Dank aussprechen.

Der Kaiserswerther Verband in der Zeit des Nationalsozialismus Von Norbert Friedrich Aufgaben und Strukturen Der 1916 gegründete Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser (KWV), dessen Mitgliedseinrichtungen mit ihren Krankenhäusern, Fürsorge- und Pflegeeinrichtungen sowie den Diakonissen ein zentraler Teil der Diakonie waren, stand in der Zeit des Nationalsozialismus vor zahlreichen existenziellen Herausforderungen, die sowohl seine einzelnen Mitglieder als auch den Verband als Ganzes betrafen.1 Um eine Einordnung der Geschichte des KWV in die Zeit des National­ sozialismus vornehmen zu können, müssen zunächst einige knappe Betrachtungen über Entstehen und Bedeutung dieses Verbandes vorgeschaltet werden, denn ohne die Beschreibung des Charakters des KWV und seiner unmittelbaren Vorgeschichte ist auch sein Verhalten nach 1933 nur bedingt verständlich. So wie die 1849 etablierte Innere Mission als organisatorische Interessenvertretung im 19. Jahrhundert einem „lockeren Dachverband“2 glich, der eher als „strategischer Mittelpunkt bzw. als Beratungsgremium der evangelischen Vorfeldorganisationen“ agierte, denn als ein weisungsgebender Spitzenverband für seine Mitglieder, waren auch die Einflussmöglichkeiten und Spielräume des Kaiserswerther Verbandes gegenüber seinen Mitgliedern, aber auch im Blick auf Kirche und Diakonie im Allgemeinen, eher gering. Der Verband sah seine Aufgabe primär darin, die Mutterhausdiakonie, die von Beginn an von einer spezifischen Heterogenität gekennzeichnet war und 1  Vgl. zur Geschichte des Verbandes (KWV) in dieser Zeit Heide-Marie Lauterer, Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes, Göttingen 1989; allgemein zum Verband auch Ruth Felgentreff, Profil eines Verbandes. 75 Jahre Kaiserswerther Verband, Bonn 1991; Norbert Friedrich, 100 Jahre Kaiserswerther Verband – eine historische Erinnerung, in: Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser e. V. (Hg.), Du stellst meine Füße auf weiten Raum. 100 Jahre Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser, Berlin 2016, S. 5–60. 2  So Jochen-Christoph Kaiser in: Ökumenische Kirchengeschichte Bd. 3: Von der Französischen Revolution bis 1989, Darmstadt 2007, S. 195.

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sich nur schwer klar definieren ließ, in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen und einheitlichere Strukturen nach innen und außen zu fördern. Auch wenn die Mehrzahl der Mitglieder des Kaiserswerther Verbandes eigene Krankenhäuser hatte, waren die Häuser doch unterschiedlich groß und vertraten auch teilweise unterschiedliche Arbeitsbereiche. Gerade die größeren Mitgliedshäuser (wie beispielsweise die Kaiserswerther Diakonissenanstalt oder das Mutterhaus Sarepta in Bethel) bedurften daher eines Verbandes als Interessenvertretung zunächst weit weniger, als die kleineren Mitgliedshäuser. Für diese wurde gerade in der Weimarer Republik die Bearbeitung gemeinsamer Themen, wie die Frage der Altersversorgung der Diakonissen oder auch die wirksame Vertretung gegenüber staatlichen Stellen, immer wichtiger. Anders als die meisten Mitgliedshäuser verstand sich der KWV als eine Interessenvertretung eines einflussreichen Teils des Vereinsprotestantismus gegenüber Staat und Kirche. Er hielt sich zwar dezidiert von parteipolitischen Positionierungen fern, engagierte sich aber als politischer Lobbyverband zur Durchsetzung sozialpolitischer Interessen im Kontext der neuen sozialpolitischen Bedingungen der Weimarer Reichsverfassung.3 In den Jahren vor 1933 war es daher zunächst zu einem Aufbau professioneller Verbandsstrukturen gekommen. Erster Schritt war 1922 die Anstellung eines hauptberuflichen Geschäftsführers. Es war Pfarrer Johannes Thiel (1874–1941), der bis dahin Vorsteher des Diakonissenhauses Bethanien in Berlin gewesen war und sich bereits für den Verband engagiert hatte.4 Eine Geschäftsstelle wurde in Berlin eingerichtet, wo man zu diesem Zweck in der Landhausstraße in Wilmersdorf in den 1920er Jahren zwei Stadtvillen kaufte. Zugleich bemühte man sich um eine Diversifizierung der Arbeits­ felder, u. a. indem man mit Auguste Mohrmann (1891–1967)5 seit 1927 eine fachspezifische Mitarbeiterin für das Referat „Kinderpflege“ eingestellt hatte. Sie sollte für den Verband nach 1933 noch eine zentrale Rolle spielen. Trotz mancher spürbaren Versuche, den Vereinsprotestantismus in dieser Zeit in organisatorischer Hinsicht schon näher an die verfasste Kirche hin zu positionieren, ist die Entwicklung des KWV eher als eine verstärkte Ver3  Vgl. dazu Gerhard A. Ritter, Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 69 ff. 4  Vgl. zu seiner Wahl Archiv-Fliedner-Kulturstiftung (FKS), Kaiserswerther Verband (KVW) 97; zur Person vgl. Hubert Kolling, Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte, Bd. 4, München 2008, S. 302 f. (mit falscher Todesjahrangabe), sowie Wilhelm Langer, Hundert Jahre Centraldiakonissenhaus Bethanien zu Berlin, Berlin 1947, S. 110. 5  Zu Auguste Mohrmann vgl. Theodor Schober, Oberin Auguste Mohrmann, in: Kaiserswerther Generalkonferenz (Hg.), Übergänge. Mutterhausdiakonie auf dem Weg, Breklum 1984, S. 6–13; Ruth Felgentreff, Auguste Mohrmann 1. März 1891– 4. April 1967, in: Der Weite Raum 29 (1991), S. 156.



Der Kaiserswerther Verband in der Zeit des Nationalsozialismus17

selbstständigung sozialer Arbeit in der Weimarer Republik zu interpretieren. Die Größe und Bedeutung der Mutterhausdiakonie, die mit bis zu 30.000 Diakonissen (1936) einen wesentlichen Teil der Inneren Mission ausmachte und besonders durch die evangelischen Krankenhäuser auch ein sichtbarer Ausdruck der sog. Liebestätigkeit war, ließ die Organisation sowohl gegenüber der Kirche als auch gegenüber der organisierten Diakonie (Centralausschuss für Innere Mission) ein selbstbewusstes Eigenleben führen. Wie weit sich dabei die Innere Mission als Organisation weiter ausdifferenzierte, kann am Beispiel des 1926 gegründeten Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes aufgezeigt werden.6 Dass es an der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung der Einrichtungen der Inneren Mission in der Weimarer Republik bereits Kritik gab, dafür steht das zeitgenössische Stichwort der „Vertrustung“7 der Inneren Mission, womit primär ein verstärkter Ausbau der unternehmerischen Arbeitsfelder, verbunden mit finanziellen Risiken, gemeint war. Dieser Vorwurf betraf auch die Mitgliedshäuser des KWV, die gleichzeitig in der Zeit der Weltwirtschaftskrise oftmals in eine existenzbedrohende Krise gerieten. Die Bedeutung des „Devaheim-Skandals“8 darf nicht unterschätzt werden. Die (auch kriminellen) Einzelheiten dieser Ereignisse brauchen hier nicht dargestellt zu werden, wesentlich sind aber die daraus resultierenden Konsequenzen. Denn verursacht worden war die Krise auch durch mangelnde Aufsicht und Vermischung von operativer Arbeit und Aufsicht. Dafür stand nahezu idealtypisch der Multifunktionär, Vorsitzende und Geschäftsführer des Kaiserswerther Verbandes, Johannes Thiel, der eine große Macht- und Ämterfülle auf sich vereinigen konnte.9 Daher wurden zu Beginn der 1930er Jahre als Konsequenz aus der Krise die Strukturen im Verband grundsätzlich verändert, der Einfluss des ehrenamtlichen Vorstandes wurde gestärkt, die Geschäftsstelle verkleinert. In den nächsten Jahren konnte die Arbeit nur reduziert fortgesetzt werden. Die 6  Vgl. dazu Hans-Walter Schmuhl, Evangelische Krankenhäuser und die Herausforderung der Moderne. 75 Jahre Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (1926–2001), Leipzig 2002. 7  Vgl. dazu Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989, S. 12. 8  Zum Devaheim-Skandal vgl. Jan Körnert/Klemens Grube, Patronage und Nepotismus beim Aufstieg und Fall einer kirchlichen Bausparkasse: Personalia zur Deutschen Evangelischen Heimstättengesellschaft (Devaheim), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 123 (2012), S. 225–249. Zu den Debatten innerhalb des Verbandes vgl. Felgentreff, Profil, S. 43–46. 9  Vgl. dazu z. B. Handbuch der deutschen evangelischen Kirche 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Verbände – Personen. Bd. 1: Überregionale Einrichtungen, Göttingen 2010, S. 37, 54, 358, 380.

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­ spekte der Aufsicht sowie der Kontrollmechanismen spielten eine größere A Rolle, die Selbstständigkeit des Verbandsdirektors (nun Geschäftsführer) wurde beschnitten. Veränderungen nach der Machtübernahme 1933 Zu Beginn des Jahres 1933 war die finanzielle und strukturelle Krise des KWV zwar zunächst überwunden, die finanziellen und organisatorischen Probleme begleiteten den Verband aber weiter. Man ging in jeder Beziehung geschwächt in die Konflikte der nächsten Jahre. Zentral waren sicher die durch die Krise im Verband begründeten Personalveränderungen im Jahr 1932. Von dem Vorsitzenden und Geschäftsführer Pfarrer Johannes Thiel trennte man sich, die anderen wenigen Mitarbeitenden der Geschäftsstelle blieben. Dies gilt sowohl für die schon genannte Auguste Mohrmann als auch für Pfarrer Ernst Siebert (1877–1945)10, der seit 1925 als zweiter Verbandsgeistlicher tätig war und nun bis 1941 die Geschäftsführung mit weniger Kompetenzen übernahm. Der im September 1932 neubesetzte Vorstand wurde aber nun zur entscheidenden Größe. Zwei Personen waren es besonders, die auch in der Krise des Verbandes schon die maßgebliche Rolle gespielt hatten und die Mutterhäuser vertraten: der Kaiserswerther Vorsteher (seit 1925) Siegfried Graf von Lüttichau (1877–1965)11 und Hans Lauerer (1884–1954), Rektor der Diakonissenanstalt Neuendettelsau.12 Beide leiteten schon mehrere Jahre große diakonische Einrichtungen, ihre Autorität besaßen sie aber nicht allein aufgrund dieser Tatsache, sondern auch als ausgewiesene Vertreter des nationalkonservativen Protestantismus. Beide hatten – mit unterschiedlichen Akzenten – schon vor 1933 ihre Ablehnung der Weimarer Republik dokumentiert, Lüttichau selbst war 1933 in die NSDAP eingetreten, er verließ sie 1939 jedoch wieder.13 Auch wenn es innerhalb des KWV durchaus Vorbehalte dagegen gab, der Kaiserswerther Diakonissenanstalt einen zu großen Einfluss auf die Ver10  Siebert, Jahrgang 1877, war zuvor offenbar Militärpfarrer gewesen, er leitete von 1932 bis 1942 die Geschäftsstelle, weitere biografische Informationen konnten nicht gefunden werden. Er starb nach Aussage von Graf Lüttichau im Frühjahr 1945, vgl. Rundschreiben KWV Nr. 2/1945, 11. November 1945. 11  Dazu Annett Büttner, Siegfried von Lüttichau, in: Thomas Martin Schneider (Hg.), Zwischen Bekenntnis und Ideologie. 100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert, Leipzig 2018, S. 66–69. 12  Vgl. zur Person Lauerer Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Im Zeitalter der Weltkriege. Die Diakonissenanstalt Neuendettelsau unter den Rektoren Hans Lauerer (1918–1953) und Hermann Dietzfelbinger (1953–1955), Neuendettelsau 2014. 13  Vgl. dazu Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 54 (auch Auguste Mohrmann war in die Partei eingetreten, sie blieb bis 1945 Mitglied).



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bandsarbeit zuzugestehen, wurde Graf Lüttichau zum Vorsitzenden gewählt, Hans Lauerer zu seinem Stellvertreter.14 Grundsätzlich kann zum Verhalten des Verbandes gegenüber dem Nationalsozialismus festgestellt werden, dass die konservativen Protestanten an der Verbandsspitze (und in den Mutterhäusern) der Machtübertragung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und der schnellen Politik der Gleichschaltung sowie der Abschaffung der demokratischen Strukturen nicht ablehnend gegenüberstanden.15 Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler verbanden sehr viele mit der Hoffnung auf eine Rechristianisierung der Gesellschaft; das Ziel einer Reichskirche teilten viele Mutterhausvorsteher. Schon unter den Bedingungen der Weimarer Demokratie war die Frage, wie sich die Diakonissen bei den Wahlen und Volksabstimmungen verhalten sollten, immer wieder virulent gewesen und thematisiert worden.16 Bei der Wahl im Januar 1919 hatte etwa der damalige Kaiserswerther Vorsteher Johannes Stursberg in den „Grüßen des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern“ betont, es sei die „Pflicht, dass auch unsere Schwestern sich an der Wahl“ beteiligen sollten.17 Es war für die Schwestern damals noch neu, eine eigenständige politische Entscheidung zu treffen. Die Diakonissen sollten, so war von Beginn an die Vorstellung, sich frei von gesellschaftlichen oder politischen Fragen ganz auf ihren Dienst am Nächsten konzentrieren und neutral verhalten. Auch wenn Stursberg seinen Text mit einem indirekten Aufruf zur Wahl der DNVP verband, sprach er keine direkte Wahlempfehlung aus. Die parteipolitische Abstinenz wurde als Grundsatz vertreten. Dieser Linie blieb später auch Siegfried Graf von Lüttichau treu, er betonte daher nach den Reichstagswahlen vom November 1932: „Wir bitten deshalb erneut auf das dringendste, dass sich die Schwestern aus dem politischen Leben heraushalten. Der Besuch politischer Versammlungen geht nicht an.“18 14  Die Wahl erfolgte auf einer Mitgliederversammlung des KWV vom 30. August bis 1. September 1932 in Neuendettelsau (vgl. dazu auch den Bericht im Vorstand der Kaiserswerther Diakonissenanstalt vom 7. September 1932, man legte in KWV großen Wert darauf, dass Lüttichau bei seiner „Doppelaufgabe“ entlastet wird und man den „Arbeitssitz des Verbandsvorstandes baldmöglichst nach Kaiserswerth verlegt“, Archiv-FKS, Diakonissenanstalt Kaiserswerth (DA) 118). 15  Vgl. dazu Felgentreff, Profil, S. 54 f.; wichtig ist auch die wegweisende Studie von Heide-Marie Lauterer, die sich allerdings auf die Jahre bis 1934 konzentriert, Lauterer, Volksgemeinschaft. Für Lauerer vgl. jetzt die auf Neuendettelsau konzen­ trierte Darstellung von Schmuhl/Winkler, Zeitalter der Weltkriege. 16  Vgl. dazu allgemein, Lauterer, Volksgemeinschaft, S.  38 ff. 17  Grüße des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern 18 (1919), Nr. 1. 18  Grüße des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern 32 (1933), Nr. 1, S. 9; Lüttichau hatte zu den Wahlen im November 1932 geschrieben: „Wir geben nur solchen Kandidaten unsere Stimme, von den wir zu wissen glauben, daß sie nicht nur den Staat und das Volkstum schützen und den nationalen Gedanken pflegen, sondern

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Lüttichau verzichtete daher konsequent auf eine konkrete Wahlempfehlung, man kann aber eine verklausulierte Empfehlung für die NSDAP ­he­rauslesen, die Partei, die bei den letzten Wahlen vor 1933 wohl viele Diakonissen unterstützt haben dürften.19 Es dürfte kein Zufall sein, dass im Wahlbezirk Kaiserswerth, zu dem die Diakonissenanstalt gehörte, bei den Wahlen vor 1932 die NSDAP besonders gut abschnitt.20 Anders als Lüttichau rief Hans Lauerer dann 1933 explizit zur Wahl der NSDAP auf und bejahte die „nationale Revolution“ ausdrücklich.21 Und wer exemplarisch den Artikel des Berliner Pfarrers und Schriftleiters der Zeitschrift „Innere Mission“, Gerhard Schröder, vom Januar 1934 mit dem Titel „Der Weg der Inneren Mission im Jahre 1933“ liest, bekommt das Bild einer schon vor 1933 zum „freudigen Dienst am Aufbau des Dritten Reiches“22 bereiten Inneren Mission überliefert, die nun, trotz mancher Einschränkungen (z. B. Sammlungsverbot) uneingeschränkt zu Staat und NS-Bewegung stand. Prinzipiell verwundert es so nicht, dass sich der KWV im Frühjahr bzw. Sommer so schnell auf die neuen politischen Bedingungen einstellte und bereitwillig die satzungsgemäße Gleichschaltung des Verbandes umsetzte. Dabei waren die Beratungen und Diskussionen im Kaiserswerther Verband natürlich nicht so einheitlich und einfach, wie es im Nachhinein dargestellt wurde. In der besonderen Verbindung der lange geübten politischen Zurückhaltung, der schnellen politischen Entwicklung des Jahres 1933 mit großen Veränderungen, die beispielsweise von Gerhard Schröder gelobt wurden, der Erkenntnis, dass man bei den sozialpolitischen Veränderungen nicht abseits stehen dürfe sowie den kirchenpolitischen Vorbehalten kam es dennoch schnell zu einer politischen Anpassung des KWV. Die Umwandlung erfolgte in Schritten. Bis es zu den zentralen Weichenstellungen im Sommer 1933 kam, bemühten sich die Verbandsvertreter sowohl um einen sachlichen Umauch das Evangelium verteidigen und die heilige Schrift unverkürzt und untermengt mit menschlicher Weisheit als Richtschnur und Regel unseres Gemeinschaftslebens anerkennen und durchsetzen wollen.“, a. a. O., 31 (1932), S. 78. 19  Dazu Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 45. 20  Vgl. dazu die Zahlen bei Volker Franke, Der Aufstieg der NSDAP in Düsseldorf. Die nationalsozialistische Basis in einer katholischen Großstadt, Essen 1987, S. 63, 87; vgl. dazu auch Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 290. 21  Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 45. Zu Lauerers Position vgl. auch Schmuhl/ Winkler, Zeitalter der Weltkriege, S. 158, er betonte im Oktober 1933, dass er mit „Freudigkeit auf dem Boden des Nationalsozialismus“ stehe. Zu dieser Zeit zeigte er auch noch eine Offenheit gegenüber den Deutschen Christen, eine Position, die er später revidierte (ebd.). 22  Gerhard Schröder, Der Weg der Inneren Mission im Jahr 1933, in: Die Innere Mission 22 (1934), S. 12–22, Zitat S. 13.



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gang mit den anstehenden Fragestellungen, wie etwa der Vorbereitung der schon länger geplanten Kaiserswerther Generalkonferenz, die im Herbst 1933 und damit genau 100 Jahre nach Beginn der Kaiserswerther Asylarbeit stattfinden sollte, als auch um einen sachgerechten Umgang mit den Anforderungen der neuen Regierung.23 In einer Vorstandssitzung am 29. und 30. März 193324 wurde diese Themenvielfalt ebenso deutlich wie die Unsicherheit, die die neue politische Lage mit sich brachte. Doch schon in dieser Sitzung wurde auch die Bereitschaft unverkennbar, sich schnell und bereitwillig den neuen Machtverhältnissen anzupassen, sei es etwa, wenn empfohlen wurde, den Diakonissen von Einkäufen in Warenhäusern abzuraten, womit man offensichtlich eine nationalsozialistische und antisemitische Propaganda aufnahm. Klarer wurde die Lage dann wenig später. So fand zunächst am 2. Mai eine außerordentliche Vorstandssitzung statt, bei der der Punkt „Verhältnis der Diakonie zu Staat und Kirche“ im Mittelpunkt stand.25 Lapidar heißt es einleitend im Protokoll: „Der Anlass […] lag in der Notwendigkeit, über die Fragen der Diakonie in ihrem Verhältnis zu Staat und Kirche in der gegenwärtigen so ungeklärten Lage sich auszusprechen.“ Auffällig ist – bei der schon zu bemerkenden vorsichtigen Protokollierung – die Umkehrung der ursprünglichen Argumentation. Unter dem Eindruck von Konflikten in einigen Häusern, etwa wegen der Mitgliedschaft von zwei Diakonissen des Mutterhauses Ludwigslust in der NSDAP, wird nunmehr auf die freie Entscheidung der Diakonissen verwiesen, die natürlich nicht an ihrer Entscheidung, etwa Parteimitglied oder Mitglied der Deutschen Christen (DC) zu werden, vom Mutterhaus oder der Oberin gehindert werden dürften. Aus dem Grundsatz der parteipolitischen Neutralität wurde mithin eine Offenheit gegenüber einem Engagement. Auf dieser Linie lagen auch die Bejahung der Idee einer Reichskirche sowie die Bereitschaft, auch den KWV in die verfasste Kirche einzugliedern. Weichenstellung im Juni 1933 Die zentrale Weichenstellung erfolgte dann auf der nächsten Vorstandssitzung am 30. Juni 1933.26 Diese Sitzung fasste weitreichende Beschlüsse und 23  Davon zeugt etwa die Themenvielfalt in den „Rundschreiben des Kaiserswerther Verbandes“ an seine Mitglieder im Jahr 1933, eine Sammlung der Rundschreiben in der Bibliothek der FKS (MGK III a 10). 24  Vgl. das Protokoll in Archiv-FKS, KWV 127. 25  Vgl. ebd. 26  Eine gründliche Darstellung findet sich bei Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 49 ff.; ein zeitgenössischer Blick auf das gesamte Jahr 1933 hier: Der Kaisers-

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kann als wichtige Wegmarke in der Eingliederung des KWV in den NS-Staat interpretiert werden.27 Der KWV sah sich in der Situation doppelt herausgefordert: Sowohl als ein Akteur im Gesundheitswesen als auch als ein Akteur in der Auseinandersetzung innerhalb der Kirche konnte er seine Position der neutralen Distanz nicht aufrechterhalten. Gerade der staatliche Druck, den insbesondere das Reichsinnenministerium und dessen Vertreter Leonardo Conti aufbaute, beschleunigte die Beschlüsse, die allerdings einstimmig fielen, ein deutliches Zeichen für die Bereitschaft der Vertreter der Mutterhausdiakonie, sich dem NS-Staat anzudienen.28 Dass dabei die Mutterhausdia­ konie in einer durchaus existenzbedrohenden Krise stand, wird auch daran deutlich, dass die lange geplante Kaiserswerther Generalkonferenz nur wenige Monate vor der Durchführung abgesagt wurde. Wie sahen die Beschlüsse konkret aus? Insgesamt wurden vier Punkte29 beschlossen: 1.  Es wurde im Verband eine zentralistische Struktur umgesetzt, an deren Spitze – als „Führer des Verbandes“ – Siegfried Graf von Lüttichau stand, der sich freilich eng mit dem zweiten Vorsitzenden Hans Lauerer und einem „Führerrat“ abstimmte. Faktisch war damit die den Verband ausmachende Vielfalt außer Kraft gesetzt, gleichzeitig hatte sich, anders als bei anderen Verbänden, das bisherige Leitungspersonal in der Verantwortung halten können. 2.  Zugleich verpflichtete man sich, „als Ausdruck bereitwilliger und freudiger Mitarbeit am Aufbau des volksverbundenen Staates“ dazu, sich letztlich der Kontrolle des Innenministeriums zu unterstellen und die Gremien für entsprechende Vertreter zu öffnen. Damit war die Autonomie gegenüber dem Staat in den Gremien aufgegeben, auch wenn man von heute aus feststellen kann, dass diese Kontrolle offenbar von Seiten des Staates kaum genutzt wurde. werther Verband im Jahr 1933, in: Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission, 5 (1934), Nr. 1, S. 3–5. 27  Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 52, problematisiert den oftmals genutzten Begriff der „Gleichschaltung“ für die Ereignisse im KWV, die anders lagen als in vergleichbaren Fällen und die im Ergebnis dem KWV einen größeren Freiraum ließen. 28  Eine Stimmenthaltung kam nur von Theodor Hickel, Vorsteher des Mutterhauses Elisabethenstift in Darmstadt, der der Bekennenden Kirche nahestand, vgl. dazu Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 184 ff. Hickel wurde 1934 von der Kirchenbehörde in ein kleines Dorf strafversetzt. In den Konflikten im Haus hat sich der KWV nicht für ihn eingesetzt. 29  Eine Zusammenfassung bei Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 50 f.; den Mitgliedern des Verbandes wurden die Beschlüsse in einem kommentierenden und erläuternden Rundschreiben bekannt gemacht; vgl. Rundschreiben des KWV 24/1933, 1. Juli 1933.



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3. Den einzelnen Mitgliedern wurde dringend geraten, auch ihrerseits staatliche Vertreter in die Aufsichtsgremien zu berufen, eine Regelung, die gegen das „strikte Führerprinzip“30 stand und die Selbstständigkeit der Mutterhäuser explizit anerkannte. 4.  Der letzte Punkt betraf die Schwesternschaften und Auguste Mohrmann, die nunmehr zur zentralen Vertreterin der evangelischen Schwestern und Diakonissen wurde.31 Nicht die einzelne Schwester wurde Mitglied der neuen „Reichsfachschaft deutscher Schwestern“, sondern es gab eine korporative Mitgliedschaft der „Schwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes“. Ergebnis dieser Konstruktion war nicht nur die Aufwertung und die Machterweiterung von Auguste Mohrmann, sondern besonders die Gründung der „Dia­ koniegemeinschaft“ der evangelischen Schwesternverbände, wiederum unter Auguste Mohrmann. Als man schließlich 1939 aus den sogenannten Hilfsschwestern der Mutterhäuser die Verbandsschwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes bildete, wurde sie auf Vorschlag von Siegfried Graf ­Lüttichau zur nicht immer unangefochtenen, aber doch maßgeblichen Verbandsoberin.32 Unter ihrer Leitung entstand schließlich ab Herbst 1933 die Diakoniegemeinschaft als ein Zusammenschluss von 50.000 evangelischen Schwestern unabhängig von konfessioneller oder kirchenpolitischer Ausrichtung.33 Diese trat am 15. November 1933 mit einer großen öffentlichen Kundgebung in Berlin an die Öffentlichkeit. Auch wenn nach Martin Gerhardt diese Kundgebung mit einer programmatischen Rede von Lüttichaus über den „Sinn der Diakonie“ ein Beispiel dafür ist, dass die Diakoniegemeinschaft sich der NS-Bewegung gegenüber ablehnend verhielt34, dürfte die Kundgebung eher als Zeichen für die enge Verbindung zwischen NS-Staat und Mutterhausdiakonie zu interpretieren sein. Die Diakoniegemeinschaft wurde, auch über 1945 hinaus, ein wichtiges Instrument zur Begegnung der Schwestern untereinander. Ein weiterer Punkt, der im Jahr 1933 zu klären war, war die Überarbeitung der Satzung des KWV. Diese Frage stand schon länger auf der Tagesord30  So

Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 53. dazu das erläuternde Rundschreiben des KWV, 26/1933, 12. Juli 1933. 32  Vgl. dazu Norbert Friedrich, 75 Jahre Verbandsschwesternschaft. Vortrag beim Sterntreffen des Kaiserswerther Verbandes in Neuendettelsau am 4. Oktober 2014, in: 75 Jahre Kaiserswerther Verbandsschwesternschaft – Diakonische Schwestern- und Bruderschaft. 1939–2014, o. O. o. J (2014). 33  Vgl. dazu Lauterer, Volksgemeinschaft, S.  59 ff. 34  Vgl. Martin Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Bd. 2, Gütersloh 1948, S. 355: „Durch das überzeugende Ethos des Dienstes verkörperte sie eine Macht, der gegenüber alle Angriffe von gegnerischer Seite sich als wirkungslos erwiesen.“; ein Bericht auch in: Rundschau 1934, S. 10. 31  Vgl.

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nung – auch als Konsequenz aus der Krise vorher. Hier entschied man sich nicht für eine vollständige Revision, diese sollte später folgen, sondern nur für eine satzungsrechtliche Implementierung der Beschlüsse vom 30. Juni 1933.35 Gleichzeitig verlagerte sich die Verbandsarbeit weg vom Vorstand hin zum kleineren Führerrat bzw. zu eher informellen Runden, fand doch die reguläre nächste Vorstandssitzung erst knapp zwei Jahre später am 23. Oktober 1935 statt. Bei dieser Gelegenheit stellte man allgemein fest: „Die Kaiserswerther Diakonie empfindet es dankbar, das Vertrauen des Staates zu besitzen. Die Schulung unserer Diakonissen im nationalsozialistischen Gedankengut wird in allen Häusern fortlaufend durchgeführt unter Beachtung der hierfür bestehenden Vorschriften. Auch in den Schwesternunterricht sind entsprechend der Grundhaltung des dritten Reiches die Fragen der Erbbiologie und der Rasse aufgenommen worden.“36 Die bereitwillige Umgestaltung des KWV kann ein klares Zeichen für die prinzipielle Offenheit und Zustimmung der Vertreter des KWV gegenüber den politischen Zielen des Nationalsozialismus interpretiert werden. Man handelte nicht allein pragmatisch, um die eigenen Einrichtungen nicht zu gefährden und die Diakonissen zu schützen, sondern auch durchaus aus innerer Zustimmung (solange es nicht um die Belange der Kirche ging). Auch wenn durch die Bildung des Führerrates die Macht und der Einfluss des KWV erheblich erweitert waren, behielten die einzelnen Mutterhäuser und ihre Schwesternschaften die rechtliche Autonomie gegenüber dem Verband. Sehr schnell traten parallel zu den Fragen nach der neuen Verhältnisbestimmung zum Staat auch die Fragen nach dem Verhältnis von Kirche und Diakonie/Innerer Mission wieder auf, ein seit dem 19. Jahrhundert schon immer diskutiertes Thema. Bereits mit den politischen Veränderungen nach 1918, die neue Kirchenverfassungen brachten, war die Diskussion darum stärker geworden, auch weil sich die verfasste Kirche durch eigene Pfarr­ ämter (Jugend- und Sozialpfarrämter) mehr und mehr für die Innere Mission interessierte und die Einrichtungen der Inneren Mission sich zugleich weiter zu Unternehmen entwickelten.37 Mit der nationalsozialistischen Politik veränderte sich nun sehr schnell das Verhältnis, wurde die verfasste Kirche zu einem zumindest partiellen Schutzraum für die Innere Mission als Organisation. So stellte sich – dies hat Heide-Marie Lauterer genau herausgearbeitet – auch beispielsweise der Kaiserswerther Verband schnell hinter die Idee der Reichskirche. Siegfried Graf von Lüttichau forderte und begründete in mehreren Memoranden die Idee, 35  Nach Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 59, blieb damit eine „Selbständigkeit des Kaiserswerther Verbandes“ gewahrt. 36  Archiv-FKS, KWV 127. 37  Vgl. dazu Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 72 ff.



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den „Einbau der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie in die Verfassung der Kirche“ zu erreichen, um gleichzeitig auch eine kirchenpolitische Instrumentalisierung der Diakonissen abzuwehren.38 Dies war insofern immer virulent, als es wiederholt Forderungen gab, die Diakonissen sollten möglichst geschlossen Mitglieder der Glaubensbewegung Deutsche Christen werden.39 Wesentlicher war die Frage, welchen Ort die Mutterhäuser, die Vorsteherin und die Diakonissen in der neuen verfassten Kirche haben könnten. Die Mutterhäuser sollten in die Landeskirche eingegliedert werden, wobei unklar blieb, was dies in den einzelnen Landeskirchen bedeutete und wie die Aufsicht und die Kontrolle konkret gehandhabt werden sollten. Dies blieb nach 1933 unterschiedlich. Auch die Forderung Lüttichaus, den Diakonissen ein kirchliches Amt zu geben und damit eine alte Forderung Fliedners zu erfüllen, wurde nicht aufgegriffen.40 Der Verband in der kirchenpolitischen Auseinandersetzung In der kirchenpolitischen Auseinandersetzung des Sommers bzw. Herbstes 1933 bemühten sich die Vertreter des KWV nicht nur um ein gutes Verhältnis zur Glaubensbewegung Deutsche Christen und zum Reichsbischof Ludwig Müller41, für den sich auf Seiten der bayerischen Lutheraner partiell zunächst auch Hans Lauerer engagierte, sondern auch um eine Distanz zu der sich formierenden Bewegung der Bekennenden Kirche (BK). Hier waren nur wenige Vertreter der Mutterhausdiakonie bereit, offen Partei zu nehmen.42 Später distanzierten sich dann die Vertreter der Mutterhausdiakonie, die sich aktiv an der „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände“43 beteiligten, die unter anderem von Graf Lüttichau geleitet wurde, vom Reichsbischof.

38  Vgl.

dazu insgesamt Lauterer, Volksgemeinschaft, S.  92 ff. dazu auch Rundschreiben des KWV 45/1933, 6. November 1933. 40  Vgl. dazu die Beiträge in: Norbert Friedrich u. a. (Hg.), Diakonie pragmatisch. Der Kaiserswerther Verband und Theodor Fliedner, Neukirchen-Vluyn 2007. 41  Vgl. dazu Thomas Martin Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993, S. 167, 169. Lauerer sollte die Position des „lutherischen Kirchenministers“ erhalten; vgl. dazu auch Schmuhl/Winkler, Zeitalter der Weltkriege, S. 159 f. 42  Vgl. dazu Lauterer, Volksgemeinschaft S. 101. 43  Die „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände“ entstand im Herbst 1934; vgl. dazu das Rundschreiben des KWV 33/1935, 12. Dezember 1935; vgl. zur Arbeitsgemeinschaft, Jochen-Christoph Kaiser, Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände 1934/35, in: ders., Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008, S. 194–200. 39  Vgl.

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Wie kompliziert dieses Problem war, zeigte sich im Frühjahr 1934, als die Frage, wie sich der KWV zur Bekennenden Kirche stellen sollte, immer drängender wurde.44 Nach einem Gespräch mit Vertretern des Reichsbruderrates am 7. Juni in Bad Oeynhausen trafen sich am 14. Juni die Mutterhausvorsteher (und nur wenige Oberinnen) zu einer „vertraulichen Besprechung“.45 Hatte von Lüttichau in Bad Oeynhausen schon seine Position verdeutlicht und einen engen Anschluss an die BK abgelehnt, da dieses die Arbeit der Mutterhäuser im NS-Staat, den man nicht ablehnte, stark beeinträchtigt hätte, so setzte er diese Position trotz einiger Einwände durch. Ergebnis der Beratungen war die „Hannoveraner Erklärung“, die trotz durchaus unterschied­ licher Positionen innerhalb der Vorsteher, von denen einige bereit waren, sich stärker für die Bekennende Kirche zu engagieren, einmütig beschlossen wurde. Sie sollte die Stellung des Kaiserswerther Verbandes zur Bekenntnisbewegung klären und kann als Reaktion auf die Barmer Theologische Erklärung vom Mai 1934 verstanden werden. Das mit „Ein seelsorgerliches Wort des Mutterhauses an seine Schwestern zur kirchlichen Lage“46 überschriebene und von Graf Lüttichau unterschriebene Papier sollte die Diakonissen und die Häuser darüber informieren, wie sich die Mutterhausdiakonie zu BK stellte. Das Papier war trotz seiner Länge und seiner Argumentation hinreichend unklar und interpretationsoffen, so dass es den einzelnen Häusern ermöglichte, ihre jeweils eigene Position darin wiederzufinden. Für Lüttichau war das Ergebnis ein dialektisches: „Hannover ist klar. Wir haben ein Nein und ein Ja gesagt.“47 Die Mutterhausdiakonie suchte also institutionell gerade keinen Anschluss an die BK48, der Beschluss von Hannover war eher 44  Vgl.

dazu auch a. a. O., S. 157 ff. die Einladung, vgl. Rundschreiben KWV Nr. 22/1934, 8. Juni 1934. 46  Vgl. zum Ganzen Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 168 ff.; das Papier ist abgedruckt in: Grüße des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern 33 (1934), Nr. 6, angeheftet; Rundschreiben des KWV 23/1934 vom 15. Juni 1934. In einer Vorstandssitzung am 19. Juni 1934 berichtet Lüttichau in Düsseldorf über die Verhandlungen und stellt hier auch die als ambivalent zu interpretierende Haltung des Verbandes deutlich heraus. Er betont laut Protokoll, „dass der Staat niemals den Versuch eines Eingriffs unternommen“ habe, sondern „vielmehr bei verschiedenen Gelegenheiten auch in der Öffentlichkeit der Mutterhausdiakonie durch Wort und Tat sein starkes Vertrauen bezeugt“ habe. Ohne die Bekennende Kirche zu unterstützen, sehe die „Mutterhausdiakonie ihren Platz bei der bekennenden Gemeinde“; vgl. ArchivFKS, DA 118. 47  Da diese Erklärung offenbar nicht für genügend Klarheit gesorgt hatte, wurde der Inhalt im Oktober 1934 noch einmal von Hans Lauerer wiederholt und bekräftigt, wobei der Appell im Mittelpunkt stand, die Mutterhäuser sollten verantwortlich und vorsichtig mit ihrem öffentlichen Mandat umgehen, vgl. Rundschreiben KWV 38/1934, 12. Oktober 1934. 48  Dies gilt gerade für die schon erwähnte „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände“, deren Vertreter wie Friedrich von Bodel45  So



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die Formulierung einer Distanz, auch wenn Lüttichau, dessen Überlegungen immer pragmatisch auf den Staat ausgerichtet waren und der sich um die parteipolitische Neutralität der Schwestern sorgte49, eine religiöse Begründung lieferte. Diese kann auch als eine Absage an die radikale DC-Theologie Thüringer Richtung verstanden werden. Lüttichau sagte: „Die Diakonie lebt vom Evangelium beider Testamente und steht unter dem ‚Sola fide‘, das Vater Fliedner in den Giebel des Stammhauses geschrieben hat. Gleichzeitig bezeugen wir es aber stark und freudig und mit großer Dankbarkeit, dass wir als Glieder des Volkes alle unsere Kraft dem Vaterland schenken und davon durchdrungen sind, dass wir Volk und Vaterland nicht besser dienen können, als wenn wir das unverkürzte Evangelium von Jesus Christus festhalten und in der Weise unseres Dienstes niemand als Meister anerkennen als Ihn allein.“50 Mutterhausdiakonie im Kirchenkampf in Hilden Wie schnell auch die einzelnen Diakonissenhäuser in die kirchenpolitischen Konflikte hineingezogen werden konnten, kann exemplarisch die Geschichte der Evangelischen Kirchengemeinde Hilden zeigen. In Hilden unterhielt die Kaiserswerther Diakonissenanstalt nicht allein seit 1861 eine wichtige Außenstation („Tochteranstalt“) mit einer Schule und einem Internat51, sondern ebenso seit 1892 eine Gemeindestation in der dortigen Kirchengemeinde.52 In dieser Kirchengemeinde kam es nach 1933 zu einem Konflikt zwischen dem Presbyterium und dem deutsch-christlich orientierten Vikar bzw. Pfarrer Schult und der sich bildenden Bekenntnisgemeinde53, die hier schwingh oder Siegfried Graf von Lüttichau sich zwar einerseits zu BK bekannten, in ihren Einrichtungen und Verbänden sich aber um Distanz bemühten. 49  Schon im Sommer 1933 sorgt sich Lüttichau um eine parteipolitische Politisierung der Schwestern und bittet die Kaiserswerther Schwestern darum, ihn über entsprechende Mitgliedschaften zu informieren (Lüttichau an die Schwestern am 25. Juni 1933, Archiv-FKS, KWV 406; später resümiert er im Vorstand der Diakonissenanstalt: „Es ist gelungen, die Freiheit der Schwestern von parteipolitischen Bindungen in Staat und Kirche zu wahren.“, Archiv-FKS, DA 118, Protokoll der Sitzung vom 31. Januar 1934. 50  Grüße des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern 33 (1934), Nr. 6. 51  Vgl. zu Hilden: Agathe Krause, Zur Geschichte des Evangelischen Schul­ zentrums Hilden. Wilhelm-Fliedner-Schule, Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, Internat Bd. 2: Das Lyzeum und Erziehungs-Haus für Töchter aus mittleren und höheren Ständen zu Hilden bei Düsseldorf. Die Gründung im Jahre 1861 und die Jahre bis 1955, Hilden 1997. 52  Vgl. dazu neben der unten genannten Literatur auch: Archiv-FKS, Stationsakte 947 und 948 (Kirchengemeinde Hilden). 53  Vgl. zur Geschichte der Gemeinde Gerhard Jancke, Der Kirchenkampf in der evangelischen Gemeinde Hilden von 1933–1935, in: Ernst Huckenbeck (Hg.), Terror –

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nicht im Einzelnen dargestellt werden muss. Die Gemeindeschwestern und die Diakonissen aus der Kaiserswerther Schule zählten sich zur Bekennenden Gemeinde. Durch sie kam es schnell dazu, dass zunächst ab 1934 die sonntäglichen Versammlungen (Gottesdienste) in der Turnhalle des Kaiserswerther Lyzeums stattfanden, wo man ein Gastrecht erhielt. Der Besuch, auch von den Schwestern der Schule und den Gemeindeschwestern, war rege, man hielt sich offensichtlich zur Bekennenden Gemeinde.54 Gleichzeitig bemühten sich die Schulleitung und besonders die Diakonissenanstalt Kaiserswerth darum, in den Konflikten keine Stellung zu beziehen. An einer offenen Parteinahme war man ebenso wenig interessiert wie an öffentlichen Konflikten. Widersetzte man sich zunächst den Vorstößen der instrumentalisierten Kommune, die Nutzung der Turnhalle zu untersagen, so wurde der Druck von Seiten der Aufsichtsbehörden, die mit der Kürzung der Zuschüsse drohten, immer stärker. Im Dezember 1936 zog die Bekennende Gemeinde schließlich aus.55 Dies hinderten Schulaufsicht und Stadt aber nicht, die Zuschüsse ganz zu streichen. Zum 1. April 1937 musste die traditionsreiche Schule endgültig schließen. In dem Konflikt engagierte sich besonders der Kaiserswerther Vorsteher Graf Lüttichau.56 Er bemühte sich um eine ausgleichende Lösung und um eine mögliche Minimierung der Konflikte. Immer wieder suchte er – stärker als der für Hilden zuständige Kaiserswerther Bezirkspfarrer Wilhelm Frickenschmidt, der sich der BK offener gegenüber zeigte – einen Ausgleich mit Pfarrer Schult und dem von den Deutschen Christen dominierten Presbyterium. So musste er sich auch häufiger gegen Vorwürfe verteidigen, wie sich das Mutterhaus in diesem Fall und grundsätzlich die Mutterhausdiakonie Verfolgung – Kirchenkampf. Zur Geschichte Hildens im Dritten Reich, Hilden 1981, S. 99–221, S. 133 ff.; Helmut Lange, Der Kampf um die Kirche in Hilden 1933 bis 1947, in: Günther van Norden (Hg.), Zwischen Bekenntnis und Anpassung. Aufsätze zum Kirchenkampf in rheinischen Gemeinden in Kirche und Gesellschaft, Bonn 1984, S. 366–381; Ernst Huckenbeck, Geschichte der evangelischen Gemeinde in Hilden (1827–1947), Hilden 1999. 54  Vgl. dazu Huckenbeck, Hilden, S. 97–199. 55  Man hielt danach Gottesdienst in einem Lagerschuppen ab, vgl. dazu Lange, Kampf, S. 368; vgl. dazu auch den Bericht im sog. Kaiserswerther Tätigkeitsausschuss vom 14. Januar 1937, Archiv-FKS, DA 120: „Der Vorstand nimmt davon Kenntnis, dass die Bekenntnisgemeinde Hilden mit Dank gegen die bisher gewährte Gastfreundschaft vom 10. Januar an auf weitere Benutzung unserer Hildener Räume verzichtet und neue Aufenthaltsräume bezogen hat. Wenn nunmehr die Stadt Hilden unter Einlösung der mündlich gegebenen Zusage die bisherigen städtischen Beihilfen erneut gewährt, und wenn ein entsprechender Zuschuss seitens des Staates erlangt werden kann, wird unter Beihilfe der Elternschaft, der Lehrerschaft und der Freunde des Hauses eine Aufrechterhaltung der Schularbeit im Kaiserswerther Lyzeum in Hilden versucht werden.“ 56  Vgl. dazu seinen Bericht vom 6. Juli 1936, Archiv-FKS, DA 120.



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verhalte, auch von manchen Schwestern.57 Für ihn galt der eher abwehrende Grundsatz „Dienende Kirche ist immer bekennende Kirche“58 ebenso, wie die Entscheidung, dass sich die Diakonie „unabhängig [Hervorhebung im Orginal, d. Verf.] von den Gruppen, die im Kampf miteinander stehen“ zu halten habe. Im konkreten Fall wollte Lüttichau auf jeden Fall die Gemeindestation erhalten. Daher setzte er enge Grenzen für die Nutzung der Schule: „Unter der Voraussetzung, und in dem Vertrauen, dass es sich um rein ­geistliche Veranstaltungen in gottesdienstlicher Form handelt, haben wir die Turnhalle in unserem Lyzeum der bekennenden Gemeinde zur Verfügung gestellt.“59 Von den Schwestern forderte er daher auch eine besondere Zurückhaltung, so wie sich „unser Mutterhaus […] bisher aus dem kirchenpolitischen Kampf […] mit Bewusstsein“ ferngehalten habe.60 Eine mutige Stellungnahme für die Kirche war Lüttichaus Sache nicht. Kaiserswerther Generalkonferenz 1936 Auch wenn wachsende staatliche Regulierungen, Eingriffe und Repressionen die prekäre Lage der Diakonie immer wieder verdeutlichten und den Bewegungsspielraum weiter einengten, blieben der Kaiserswerther Verband und die Diakoniegemeinschaft wichtige Ansprechpartner für den Staat, etwa in den zentralen Fragen der Krankenpflege61, der Wehrmachtskrankenpflege, aber auch in vielen grundsätzlichen Fragen im Verhältnis von Staat und Kirche. Wenn auch der normale Tagungsrhythmus des Kaiserswerther Verbandes fast zum Erliegen kam – überliefert sind nur wenige Mitgliederversammlungen62 oder Oberinnentagungen – wurden doch von der Geschäftsstelle und einzelnen Vertretern, die für den Verband sprachen, neue Fragen behandelt, etwa im Bereich der Steuern und Spenden. Hier waren es einerseits die gro57  Unterstützung erfuhr die BK in Hilden auch durch Diakonissen der Schule wie etwa Mathilde Potz (1883–1972), die bis 1935 Lehrerin in Hilden war und deren Abberufung dezidiert mit ihrer Ablehnung der NS-Schulpolitik begründet wurde, vgl. dazu Archiv-FKS, Schwesternakte Nr. 1038, Mathilde Potz. 58  So etwa in einem Brief vom 24. Dezember 1934 an den Hildener Hilfsprediger Asteroth, der zur Bekennenden Gemeinde gehörte, dort auch das folgende Zitat, vgl. Archiv-FKS, Stationsakte Hilden Nr. 948. 59  Ebd. 60  So Frickenschmidt in einem eindringlichen Schreiben an die Hildener Gemeindeschwester Johanne Joeres am 18. September 1934. Er begründete seine Haltung u. a. damit, dass es keine Christen zweiten Grades gebe und auf Seiten der DC viele überzeugte Christen; ebd. 61  Vgl. dazu den Überblick von Christoph Schweikardt, Krankenpflege im Nationalsozialismus, in: Sylvelyn Hähner-Rombach (Hg.), Quellen zur Geschichte der Krankenpflege. Einführungen und Kommentare, Frankfurt/Main 2008, S. 554–564. 62  Vgl. die Sammlung der Protokolle, Archiv-FKS, KWV 127 und 104.

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ßen Häuser, die sich in der Verantwortung sahen, für alle Schwesternschaften zu handeln.63 Zugleich sah man aber gerade in den Fragen der „Wirtschaftsführung“ gegenüber der zunehmenden staatlichen Regulierung eine Gefahr für die Existenz der einzelnen Häuser. Daher drängte der Vorstand immer wieder die Häuser dazu, sich hier entsprechend beraten zu lassen und auch entsprechendes Fachpersonal einzustellen.64 Die Forderung nach einer Professionalisierung und einer engen Verzahnung der Arbeit diente dabei der Absicherung der Mutterhausdiakonie gegenüber dem Staat.65 Eine letzte sichtbare Veranstaltung war – nachdem die Jubiläumsfeier 1933 nicht so gefeiert worden war, wie ursprünglich vorgesehen – 1936 die Kaiserswerther Generalkonferenz aus Anlass des 100. Jubiläums der Kaiserswerther Diakonissenanstalt: Es war einerseits ein festliches Treffen mit großer öffentlicher Resonanz und mit internationaler Beteiligung66, andererseits aber auch ein Beleg dafür, dass der Kaiserswerther Verband „gut“ im neuen Staat angekommen war.67 Gegenüber den Vertretern der internationalen Mutterhäuser wurde immer wieder betont, dass sich die Mutterhäuser trotz mancher Probleme weiter gut entwickeln konnten und ihre Arbeit sehr wertgeschätzt würde. Hans Lauerer fasste die Position 1936 so zusammen: „Die Schwierigkeiten, in denen wir stehen, beirren uns nicht in der Treue zu unserem Volk, in der Dankbarkeit gegen den Führer und das, was durch ihn geschehen ist.“68 63  Einen guten Überblick bieten die gesammelten Materialien in den Rundschreiben des KWV. Dabei wurden auch immer wieder komplexe steuerliche und juristische Fragen, mit denen der NS-Staat die Arbeitsfähigkeit der Mutterhäuser einzuschränken versuchte, thematisiert. Der Name eines zentralen Experten soll besonders hervorgehoben werden, er taucht immer wieder auf. Der Betheler Verwaltungsleiter Johannes Kunze übernahm immer wieder die Aufgabe, in steuerlichen Fragen zu beraten; vgl. zur Person Norbert Friedrich, Johannes Kunze – Diakonie, Ökonomie und Politik, in: Matthias Benad/Kerstin Winkler (Hg.), Bethels Mission (2). Bethel im Spannungsfeld von Erweckungsfrömmigkeit und öffentlicher Fürsorge, Bielefeld 2001, S. 57–82. 64  Die sehr ausführlichen Überlegungen finden sich im Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses des KWV vom 24. bis 26. Januar 1939 zum Thema „Verantwortung und Dienst des Verbandes für seine Mitglieder“, Archiv-FKS, KWV 127. 65  In diesem Sinne sind auch die immer wieder diskutierten Fragen zur Versorgungsordnung für die Diakonissen oder auch für die Auswahl von Leitungspersonal (Oberin, leitender Pfarrer) zu verstehen, ebenso die Debatten um die Ausbildung der Diakonissen. 66  Vgl. dazu auch die Hinweise im Protokoll der Vorstandssitzung des KWV vom 15. Dezember 1936, Archiv-FKS, KV 127; vgl. auch die Berichte in: Die Diakonisse 11 (1936), Novemberheft. 67  Vgl. dazu z.  B. das Protokoll der Vorstandssitzung vom 23. Oktober 1935, ­Archiv-FKS, KWV 127. 68  Protokoll der Präsidiumssitzung der Kaiserswerther Generalkonferenz vom 22. Januar 1936, Archiv-FKS, KWV 127.



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Zugleich geriet der Vorstand des Kaiserswerther Verbandes in diesen Jahren verstärkt in die kirchenpolitischen und staatlichen Konflikte, die einzelne Mutterhäuser und Personen betrafen. Auch wenn die Erklärung von Hannover prinzipiell den Mutterhäusern die freie Entscheidung überließ, waren ihm allzu deutliche und klare Stellungnahmen – weder in die eine noch in die andere Richtung – nicht recht.69 Dabei war besonders die Frage zu klären, wie man mit den Pfarrern umgehen sollte, die sich offen gegen die Deutschen Christen und den Einfluss der Nationalsozialisten in der Diakonie ausgesprochen hatten – wie beispielsweise der erwähnte Vorsteher des Diakonissenhauses Elisabethenstift in Darmstadt Theodor Hickel. Er musste die Erfahrung machen, dass man sich – gerade im Blick auf die staatliche Politik – nicht einmischen wollte und man daher für ihn „nichts tun sollte.“70 Etwas anders war der Fall des Mutterhauses Ludwigslust71, wo es schon 1933 wegen der Unterstützung der Bekennenden Kirche durch zwei Diakonissen zu inneren Konflikten mit dem nationalsozialistisch gesinnten Stiftspropst (Vorsteher) gekommen war. Auch hier setzten sich die Konflikte fort, ohne dass der Verband dazu öffentlich Stellung bezog. Trotz der dann in der Kriegszeit zunehmenden existenzbedrohenden Krisen in vielen Mutterhäusern blieb der Vorstand des Verbandes bei seiner vorsichtigen und kompromissbereiten Linie.72 69  Vgl.

dazu auch die Beispiele bei Lauterer, Volksgemeinschaft, S.  182 ff. Lauerer an von Lüttichau im Fall von Theodor Hickel, zitiert nach Lauterer, Volksgemeinschaft, S. 187. Zu den Konflikten im Mutterhaus Darmstadt und um den dortigen Pfarrer Theodor Hickel sowie die spätere (1939) Absetzung der gesamten Hausleitung, vgl. Hundert Jahre Diakonissenhaus Elisabethenstift Darmstadt 1858–1958, Darmstadt 1958, S. 21 f. (ohne vertiefte Darstellung); Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau. Bd. 2 Tl. 1. Diakonissenhaus in Darmstadt. Die Eingliederung der evangelischen Jugend in die Hitlerjugend, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 27 (1976), S. 1–13. (zu den Konflikten um Hickel); Gerta Scharffenorth, Schwestern. Absage an ein Vorurteil, Offenbach 1996, S. 129–133, ArchivFKS, KV 36 und 451. Es war gerade Lüttichau, der sehr engen Kontakt mit den Schwestern im Mutterhaus Darmstadt hielt, sich als Seelsorger für die Schwestern verstand und dabei mit seiner ganzen Autorität als Pfarrer aller Diakonissen. 71  Zu Ludwigslust zur Zeit des Nationalsozialismus vgl. Harald Jenner, Aus der Mitte heraus. 150 Jahre Stift Bethlehem Ludwigslust, Ludwigslust 2001, S. 49–60. Die Einrichtung stand – gerade durch den Pfarrer und späteren Stiftspropst Helmut Preß, der wie sein Vorgänger nationalsozialistisch gesonnen war und die Deutschen Christen unterstützte – dem Nationalsozialismus nahe, auch wenn manche Schwestern diesen Kurs gegenüber dem Staat kritisch sahen. Gerade im Schulbereich setzte sich der Nationalsozialismus „weit über den Rahmen“ (S. 49) im Haus durch. Nach 1939 wurde die Lage sehr schwierig und unübersichtlich, als man das Werk beschlagnahmte und auch alle Bemühungen um Rückgabe nur einen partiellen Erfolg hatten. 72  Vgl. dazu den Hinweis im Vorstandsprotokoll der Diakonissenanstalt Kaiserswerth vom 21. Januar 1942: „P. Graf von Lüttichau berichtet über die Lage der 70  So

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Diskussion um „nichtarische“ Schwestern Das alles beherrschende Ziel der Sicherung des Verbandes als Interessenvertretung der Mutterhäuser und damit der Sicherung der diakonischen Arbeitsfelder führte auch bei anderen theologischen und ethischen Fragestellungen zu einer unklaren Positionierung. Dies könnte am Beispiel der Eugenik gezeigt werden, die man 1933 auf der Generalkonferenz behandeln wollte, was dann aber nicht geschah73, oder auch beispielhaft am Umgang mit „nichtarischen“ Schwestern, ein Thema, welches mehrere Mutterhäuser betraf. Hier war es der Pfarrer des Mutterhauses Niesky, Theodor Schmidt, der in einem breit rezipierten Vortrag zum Thema „Unveräußerliches und Wandelbares in der Mutterhausdiakonie“ dazu Stellung nahm.74 Schmidt, dessen ganzer Vortrag darauf abzielte, die Schwesternschaften als geistlich-theologische Gemeinschaften zu stärken und gegenüber staatlicher Bevormundung zu schützen, plädierte dafür, solche Schwestern nicht mehr aufzunehmen, auch wenn er sich von einem rassistischen Denken zu distanzieren suchte. Seine Position war die: „Kurz, ich finde in der derzeitigen Ablehnung von nichtarischen Probeschwestern nicht ein Aufgeben von etwas Unveräußerlichem, nicht ein feiges Zurückweichen der Gemeinde Jesu vor den Forderungen des Staates, sondern den Gehorsam des Glaubens, der sich still beugt und wartet, bis Gott selbst die Zeiten ändert.“75 Gegen diese ausschließende Position gab es im Verband durchaus Kritik, wobei es den einzelnen Häusern überlassen blieb, wie man sich verhielt. Gut dokumentiert ist dies für die „Westdeutsche Konferenz“, einen Zusammenschluss von Mutterhäusern im Westen. Sie ­beschäftigte sich 1935/36 gleich zweimal ausführlich mit dem Thema und beschloss dies: „Bei der Aufnahme von Nicht-Arierinnen soll es bei der bisMutterhaus-Diakonie, insbesondere über die Schwierigkeiten der Mutterhäuser Darmstadt, Ludwigslust, Berlin-Bethanien, Frankenstein und Kraschnitz. Der Kaiserswerther Verband ist entschlossen, in seiner Haltung gegenüber allen Eingriffen und Erweichungstendenzen fest zu bleiben. Kompromisse können nur zu einer ernsten Gefährdung der gesamten Mutterhausdiakonie führen.“ Vgl. zum Mutterhaus Bethanien, welches am 31. Juli 1942 beschlagnahmt wurde, Langer, Central-Diakonissenhaus, S. 88 ff. Zum Paulinenstift in Wiesbaden, in dem es schwere Konflikte wegen der Parteinahme für die NS-Bewegung gab vgl. Karin Hartel, 100 Jahre Diakoniegemeinschaft Paulinenstift. Asklepios Paulinen Klinik, Wiesbaden 1996. 73  Vgl. zur Themenwahl das Vorstandsprotokoll vom 29. März 1933, Archiv-FKS, KWV 127. 74  Theodor Schmidt, Unveräußerliches und Wandelbares in der Mutterhausdiakonie, in: Korrespondenzblatt des KWV Juli 1935, S. 2–24; vgl. dazu auch das Rundschreiben des KWV 33/1935, 12. Dezember 1935; in mehreren Folgen publiziert wurde der Vortrag auch 1936 in den Schwesterngrüßen des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern, 35 (1936), S. 36 f., 44 f., 56–58, 67–69. 75  Schmidt, Unveräußerliches, S. 18.



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herigen Gepflogenheit bleiben. Aber beim Eintritt sei den Betreffenden mitzuteilen, dass sie keinerlei staatliches Examen machen könnten und sie hätten schriftlich zu erklären, dass später nicht besondere Ansprüche bezüglich der Arbeit an das Mutterhaus zu stellen hätten. Der Ausdruck ‚Arier‘ soll nicht mehr gebraucht werden, nachdem der Nürnberger Parteitag 1935 zwischen Deutschstämmigen und Artfremden unterschieden habe.“76 Einerseits bezog man so eine formale juristische Position, die faktisch schon seit 1933 bestand und die im Zuge der zunehmenden staatlichen Regulierungen (Krankenpflegegesetzgebung etc.) und Repressalien später weiter verschärft wurde, andererseits sah man durch diese Gesetze die geistlich-theologische Gemeinschaft bedroht. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Häuser sich in der Regel nicht hinreichend um den Schutz der eigenen judenchristlichen Schwestern kümmerten.77 Kristallisationspunkt Auguste Mohrmann Innerhalb des Kaiserswerther Verbandes war es eine Person, die – neben dem Vorstand – zu einer zentralen Persönlichkeit der Mutterhausdiakonie wurde: die Pädagogin Auguste Mohrmann, die niemals Mitglied einer diakonischen Gemeinschaft, geschweige denn eines Mutterhauses war, aber zum Kristallisationspunkt der Schwesternschaften und Schwestern im Verband wurde. Gemeinsam mit dem Vorstand des Kaiserswerther Verbandes vermochte sie es, den Verband, die Gemeinschaften und teilweise auch die Mitgliedshäuser immer wieder vor Repressalien zu schützen. Als die Eingliederung der Hilfsschwestern, die nicht Mitglieder der noch besser geschützten Diakonissengemeinschaften waren, in die NS-Schwesternschaft drohte, schritt sie mit dem Vorstand zum 1. März 1939 zur Gründung der „Verbandsschwesternschaft im Kaiserswerther Verband“.78 Die Entstehung ist nicht so sehr das Ergebnis eines langen Diskussionsprozesses, als vielmehr eine spontane Rettungsaktion, allerdings mit Vorgeschichte. Es konnten daher natürlich viele Fragen nicht sogleich geklärt 76  So in der Sitzung am 25./26. Mai 1936. Erstmals behandelt wurde das Thema auf der Konferenz am 14./15. November 1935, vgl. beide Protokolle Archiv-FKS, KWV 131. 77  Vgl. dazu Ruth Felgentreff, „… ist verpflichtet den Judenstern zu tragen“. Eine Dokumentation über die Diakonissen Johanne und Erna Aufricht. Kaiserswerth. Theresienstadt. Auschwitz, Düsseldorf 2003. Dagegen versuchte das Leipziger Diakonissenhaus (DHL) seine „halbjüdische“ Diakonisse Ingeborg Falk vor den Augen der Behörden zu verstecken, vgl. dazu die im Frühjahr 2021 erscheinende Publikation von Fruzsina Müller zur Geschichte des DHL. 78  Rundschreiben des Kaiserswerther Verbandes, 5/1939 vom 4. März 1939; vgl. dazu Friedrich, Verbandsschwesternschaft.

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werden: Organisation, Leitungsstruktur in den Häusern, Finanzen. Und natürlich gab es auch die Kritik von Seiten der Diakonissen. Markant hat dies etwa Schwester Auguste Schriever in Kaiserswerth beschrieben, die unter der Forderung „wir brauchen die geschlossene Gemeinschaft“79 eine Gegenposition vertrat: „Nur die wirklich von Herzen bereit sind – ganz klein – arm – mit geringem Dienst beauftragt – ohne Ansehen der Person das zu tun, was Gott uns vor die Füße legt – die machen das Mutterhaus – die Gemeinschaft aus, – zu denen wird sich der Herr bekennen.“ All dies geschah noch kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, der auch für die Mutterhäuser und den Verband einschneidende Veränderungen brachte. Die schon vor 1939 nicht mehr sehr intensive Vorstandsarbeit wurde weiter reduziert, auch die äußerlichen Aktivitäten gingen weiter zurück, nicht zuletzt durch das Verbot der Verbandszeitschriften. Spätestens mit dem Kriegsbeginn setzte sich eine schon früher angelegte Tendenz durch, die weitere Zentralisierung der Arbeit des Verbandes, bei der Graf Lüttichau entsprechende Vollmachten erhielt, sich allein für die Interessen der Mutterhausdiakonie einzusetzen. Dabei blieb unklar, wie weit diese Vollmacht tatsächlich eingesetzt wurde und wirken konnte.80 Die Tendenz der Machkonzentration setzte sich aber fort, auch wenn sich an der dezentralen Struktur der rechtlich selbständigen Mutterhäuser nichts änderte.81 Klar ist aber, dass neben den grundsätzlichen Fragen nach der Stellung der Mutterhausdiakone gegenüber Staat und Kirche gerade die praktischen Fragen behandelt werden mussten, seien es steuerliche oder sozialrechtliche Fragen oder auch der Umgang mit der Aus- und Weiterbildung der Diakonissen und Mitarbeiterinnen. Und besonders der Umgang mit der auf völkischen und rassistischen Prinzipien gegründeten und staatlich privilegierten Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) sowie dem Winterhilfswerk (WHW) bestimmte die Arbeit, nicht nur vor Ort. Nicht umsonst beschloss man 1940 unter den Einschränkungen des Kriegs, dass die Mutterhäuser eine „Not- und Arbeitsgemeinschaft“ auf diesen Gebieten bildeten: „Werbung, Ausbildung, Erholung und Krankenfürsorge, Lenkung des Kräfteeinsatzes und Kräfteaustausch.“82 Dazu gehörten dann auch sehr konkrete Versorgungsfragen, die 79  Stellungnahme Auguste Schrievers vom 26. März 1939, Archiv-FKS, KV 109, Manuskript (drei Seiten), dort auch das folgende Zitat. 80  Vgl. dazu die lobende Beschreibung von Theodor Schmidt, Chronik der Diakonissenanstalt Emmaus Niesky 1914–1946, o. O. o. J. (1960, Nachdruck 2016), S. 374 f. 81  In dieser Zeit werden auch Ideen, eine „Gesamtschwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes“ aus den einzelnen Gemeinschaften zu bilden, ventiliert. Dabei war aber klar, dass diese nach der Meinung der Oberinnen nicht unter der Leitung von Auguste Mohrmann stehen könnte, da diese ja keine Diakonisse sei; vgl. dazu das Material in: Archiv-FKS, KWV 407.



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etwa den Bezug von Hauben (Kriegshaube) und Stoffen für die Trachten beinhalteten. Das immer wieder behandelte Thema des Schwesternmangels wurde immer drängender und führte auch in den Häusern zu Problemen. So diskutierte man etwa 1942 aus diesem Grund in Kaiserswerth, eine eigene Schwesternversorgungskasse zu gründen.83 Personell war die Geschäftsstelle in der ganzen Zeit nur knapp besetzt; neben einigen Hilfskräften und der schon erwähnten Auguste Mohrmann arbeitete nur als Geschäftsführer Pastor Siebert in Berlin. 1936 erhielt dann der Vorsteher des Diakonissenhauses Duisburg, Dietrich Bischoff (1892–1949), den Auftrag, sich – zur Entlastung Lüttichaus – mit Ausbildungsfragen zu be­ fassen. Sein Gehalt wurde so teilweise aus der Verbandskasse bezahlt, später wechselte Bischoff nach Kaiserswerth.84 Als Pfarrer Siebert zum 31. Dezember 1942 in den Ruhestand ging, wurde der Vorsteher des Diakonissenhauses Bethanien, Wilhelm Langer, zum Geschäftsführer „im Nebenamt“85 bestimmt. Er blieb bis 1949 tätig. Mehr und mehr wurde Auguste Mohrmann, die durch eine unermüdliche Reisetätigkeit die Verbindung zu den Schwesternschaften und Häusern hielt, zum wichtigsten Scharnier des Verbandes. Sie berichtete über die kriegsbedingten Zerstörungen in den Häusern und Einrichtungen, vermittelte bei Notfällen Hilfe und sammelte Informationen über die Schwesternschaften. Diese Berichte und das damit geschaffene gemeinsame Wissen umeinander waren sicher für den Zusammenhalt des Verbandes auch nach 1945 essenziell. Dies umso mehr, als am 1. März 1943 die Geschäftsstelle in der Landhausstraße bei ­einem Bombenangriff schwer getroffen wurde und die Büroräume inklusive Akten weitgehend zerstört wurden.86 In provisorisch wiederhergestellten Räumen in Berlin und später aus Kaiserswerth bzw. anderen Mutterhäusern heraus wurde die Arbeit fortgesetzt. So konnten auch die Rundscheiben sporadisch weiter erscheinen, sie lieferten vor allem sehr viele Informationen 82  Mitteilung von Graf Lüttichau vom 12. Oktober 1940, Archiv-FKS, KWV 406. Dort auch weitere Hinweise zu der erwähnten Vollmacht. 83  Vgl. Protokoll des Tätigkeits- und Finanzausschusses der Kaiserswerther Diakonissenanstalt vom 1. Mai 1942, Archiv-FKS, DA 69. 84  Vgl. dazu Protokoll der Vorstandssitzung vom 15. Dezember 1936, Archiv-FKS, KWV 127. 85  Rundschreiben KWV Nr. 6/1942, 7. Oktober 1942. Man hatte zuvor lange da­ rüber debattiert, ob man die Stelle des Verbandsdirektors wieder besetzen sollte, auch da gerade die Herausforderungen an die Leitung gewachsen waren. An Stelle von Langer war auch Pfarrer Wagner, der Vorsteher des Paul-Gerhardt-Stiftes in Berlin gewesen; das Problem war immer auch, dass es nicht einfach war, zwischen der Verbandsoberin Auguste Mohrmann und einem Geschäftsführer eine konstruktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen, vgl. dazu das Material in Archiv-FKS, 406. 86  Rundschreiben KWV Nr. 2/1943, 6. März 1943.

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über die Situation in den Häusern und Regionen und förderten damit die Solidarität. Situation nach dem Kriegsende Lakonisch fasste Ruth Felgentreff die Situation von 1945 zusammen: „Die Zahl der Kriegsopfer wird mit 477 angegeben, davon entfielen nach Pfarrer Stachowitz über 250 Schwestern auf das Mutterhaus Königsberg. 21 Mutterhäuser waren geflüchtet, 23 ausgebombt. Man stand vor einem völligen Zusammenbruch und hoffte doch auf die Zukunft.“87 Und der Vorsitzende des Verbandes, Graf Lüttichau, machte in einem „Gruß nach langer, schwerer Zeit“ im November 194588 unmissverständlich deutlich, dass er – trotz aller Probleme – für die Mutterhäuser eine Zukunft sieht: „Wir brauchen viel Geduld, bis alles wieder geordnet ist, was der Krieg zerbrach“, es aber sicher auch um einen Neuaufbau gehen müsse. Für ihn war klar, dass in Auslegung von 2. Petrus 1, 16–19, „es nicht unsere Aufgabe ist, Hütten zu bauen, sondern auf das Wort zu hören.“ Dass es überhaupt eine Zukunft des Verbandes gab, war keineswegs selbstverständlich, zumal man durchaus Stimmen hörte, die dem Verband eine Existenzberechtigung absprachen.89 Mitte Oktober 194690 konnte man dann in zwei Tagungen – in Kaiserswerth für die westlichen Zonen bzw. für den gesamten Vorstand, und in Berlin für die Mutterhäuser in der „östlichen Zone“ – die Weichen für die zukünftige Arbeit stellen, obwohl man sich im Allgemeinen unsicher war, in welcher Form man weiterarbeiten könne.91 Neben vielen praktischen Fragen stand der Wunsch, sich wieder stärker auf die theologischen Wurzeln der Mutterhausdiakonie zu konzentrieren und das „Amt der Diakonie“ in Kirche und Gesellschaft als „Rüstung für den Dienst heute“ zu betonen.92 87  Felgentreff, Profil, S. 113. Vgl. auch den Bericht über die Arbeit des Kaiserswerther Verbandes deutscher Diakonissenmutterhäuser vom 1. Januar 1938 bis zum 31. Dezember 1946, o. O. 1947, Bibliothek FKS MGK IIIb 13. 88  Rundschreiben KWV 2/1945, 11. November 1945. 89  Vgl. dazu die Hinweise bei Felgentreff, Profil, S. 120–123. 90  Es hatte bereits am 26. Oktober 1946 eine Konferenz der westdeutschen Mutterhäuser in Kaiserswerth gegeben, dort waren aber keine weitergehenden Beschlüsse gefasst worden; vgl. dazu Rundschreiben KWV 2/1945 vom 11. November 1945, S.  11 f. 91  Die Unterlagen zu den Sitzungen finden sich im Archiv-FKS, KV 127; Rundschreiben KWV Nr. 7/1946, 16. Oktober 1946. 92  So Hermann Schauer (Hamburg) in einer Thesenreihe zu den „biblischen Grundlagen der Mutterhausdiakonie heute“, die auf der Konferenz in Kaiserswerth behandelt wurden, Archiv-FKS, KWV 127.



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In Abgrenzung zu der Zeit vor 1933 betonte man auf der Versammlung 1946, der Verband sei gerade kein „Zweckverband“ und man wolle „eine Glaubens- und Arbeitsgemeinschaft sein, deren Handeln geistlich bestimmt sei“. Diese Einschätzung, die einerseits der pragmatischen Ausrichtung des Verbandes widersprach und andererseits offenbar sicherstellen sollte, dass man – unabhängig von der Geschichte vor 1945 – die Verbandsarbeit fortsetzen konnte, führte sicher auch dazu, dass der KWV sich erst spät mit der eigenen Geschichte befasste.93 Dabei war die Einschätzung des Verbandes direkt nach 1945 durchaus positiv. So würdigte gerade Theodor Schmidt in seiner Chronik des Mutterhauses Niesky von 1946 den Verband, der sich im Zweiten Weltkrieg „aufs Beste bewährt“ habe und „unentbehrlich“ sei: „So können wir Gott nur danken, dass und wie er diesen Verband zur rechten Zeit hat werden lassen.“94 Dass diese Einschätzung, die sich besonders auf den Netzwerk- und Hilfs­ charakter des KWV unter den Schwesternschaften im Zweiten Weltkrieg bezog, nicht von allen geteilt wurde, zeigt dann die Konstituierung des internationalen Verbandes „Diakonia“, der seine Existenz auch aus der Kritik am Verhalten der Mutterhausdiakonie in der Zeit von 1933 bis 1945 zog.95 Literatur Büttner, Annett: Siegfried von Lüttichau, in: Thomas Martin Schneider (Hg.), Zwischen Bekenntnis und Ideologie. 100 Lebensbilder des rheinischen Protestantismus im 20. Jahrhundert, Leipzig 2018, S. 66–69. Die Eingliederung der evangelischen Jugend in die Hitlerjugend, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 27 (1976), S. 1–13. Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau. Bd. 2 Teil 1. Diakonissenhaus in Darmstadt. Felgentreff, Ruth: Auguste Mohrmann 1. März 1891–4. April 1967, in: Der Weite Raum 29 (1991), S. 156. Felgentreff, Ruth: „… ist verpflichtet den Judenstern zu tragen.“ Eine Dokumentation über die Diakonissen Johanne und Erna Aufricht. Kaiserswerth. Theresienstadt. Auschwitz, 3. Aufl., Düsseldorf 2003.

93  Die erste gründlichere Darstellung stammt von Felgentreff, Profil, erschienen 1991 zum 75-jährigen Jubiläum des Verbandes. 94  Schmidt, Chronik, S. 376. 95  Vgl. dazu Norbert Friedrich, Ökumenische Diakonie – Diakonia Weltverband und Kaiserswerther Generalkonferenz in der Nachkriegszeit, in: Jochen-Christoph Kaiser/Rajah Scheepers (Hg.), Dienerinnen des Herrn. Beiträge zur weiblichen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2010, S. 269–286.

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Norbert Friedrich

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Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission am Beispiel seiner sächsischen Vertreter (1931–1938) Von Uwe Kaminsky Einführung Der im Mai 1931 zum ersten Mal zu einer Tagung in der Anstalt Hephata in Treysa (bei Kassel) zusammentretende „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission versammelte viel interdisziplinäre Kompetenz. Es ging darum, eine Position zur Eugenik und zur „Euthanasie“ zu formulieren, zwei Themen, die in den 1920er Jahren immer wieder Debatten hervorgerufen hatten.1 Der Ausschuss tagte ab 1934 unter der Bezeichnung „Ständiger Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ und nahm damit die national­ sozialistisch wie staatlich geförderten Begriffe in seine Eigenbezeichnung auf. In fast allen politischen Lagern, in der Wissenschaft und in der Wohlfahrtspflege gewann das Thema der Eugenik als Sozialutopie wie als Gesellschaftspolitik zunehmend Raum. Befördert wurde dies besonders durch die 1  Vgl. Kurt Nowak, „Euthanasie“ und Sterilisierung im „Dritten Reich“. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und der „Euthanasie“-Aktion, Göttingen 1980, S. 91–106; Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989, bes. S. 316–390; ders., Rassenhygiene und Innere Mission. Zur Diskussion im Centralausschuss für Innere Mission 1930–1938, in: Lippische Mitteilungen, 55, (1986), S. 197–217; Sabine Schleiermacher, Die Innere Mission und ihr bevölkerungspolitisches Programm, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg.), Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, Nördlingen 1986, S. 73–89; dies., Der Centralausschuss für die Innere Mission und die Eugenik am Vorabend des „Dritten Reichs“, in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im „Dritten Reich“. Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, Heidelberg 1990, S. 60–77; Ingrid Genkel, Vom Umgang mit Leben. Bevölkerungs-, Familienpolitik und Sexualethik im Rahmen der Inneren Mission, Hamburg 2002; Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995, bes. S. 150–192 u. 306 ff.; Martin Kalusche, „Das Schloss an der Grenze“. Kooperation und Konfrontation mit dem Nationalsozialismus in der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische Stetten i. R., 2. überarb. Aufl., Hamburg 2011, S. 156–174.

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Wohlfahrtsstaatskrise ab 1930.2 Im „Fachausschuss für Eugenik“ wurde stellvertretend für die Evangelische Kirche über die Themen Eugenik, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch und „Euthanasie“ diskutiert. Hier saßen nach einem regionalen Schlüssel Vertreter der Provinzial- und Landesverbände der Inneren Mission, der Deutschen Evangelischen Kirche und einzelne Pfarrer, Fürsorger und Wissenschaftler (meist Theologen und Ärzte), die der evangelischen Kirche nahestanden. Aus dem damaligen Sachsen sind insbesondere die Vertreter Walter Schadeberg, Ewald Meltzer oder Alfred Dedo Müller bekannt. Andere, wie der damalige Chefarzt der Anstalt Bethel, Carl Schneider, waren zumindest in Sachsen im Rahmen ihrer ärztlichen und wissenschaftlichen Karriere sozia­ lisiert worden. Der Domprediger an der Sophienkirche in Dresden, Horst Fichtner, übernahm sogar in Nachfolge des Initiators des Ausschusses, Hans Harmsen, 1938 die Leitung des Referates Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission und damit auch die Geschäftsführung des ­„Eugenischen Ausschusses“. Alle beteiligten sich an Diskussionen über die Eugenik, über die Durchsetzung des nationalsozialistischen Zwangssterilisationsgesetzes, über den Schwangerschaftsabbruch und die „Euthanasie“. Die Geschichte dieses „Fachausschusses für Eugenik“ soll anhand seiner sächsischen Vertreter aufgespannt werden. Dabei geht es um die sächsische Vorgeschichte des Themas der Eugenik/Rassenhygiene und die Positionen der aus Sachsen stammenden Teilnehmer, welche auch ein Stück weit die allgemeine Debatte im evangelischen Feld widerspiegeln. Das nationalsozialistische Zwangssterilisationsgesetz hatte in Sachsen geschätzt 25.000 Opfer zur Folge.3 Die Debatten um dieses Feld und die Mitwirkung evangelischer Vertreter und evangelischer Einrichtungen blieb also nicht folgenlos. Die Konfrontation mit der realen NS-„Euthanasie“ spielt hierbei nur im Ausblick eine Rolle. Denn die letzte Tagung des Ausschusses fand im Februar 1938 statt, während die NS-„Euthanasieaktionen“ erst im September 1939 ihren Anfang nahmen.

2  Vgl. Uwe Kaminsky, Eugenik als Sozialutopie und Gesellschaftspolitik, in: Andreas Hedwig/Dirk Petter (Hg.), Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert, Marburg 2017, S. 13–25 und die dort angegebene Literatur. 3  Vgl. Boris Böhm/Stefan Jehne, Die Rolle der Justiz in der NS-Zwangssterilisa­ tionspolitik in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen 1933–1945, Dresden 2016, S. 20–28.



Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission43

Der Eugenische Ausschuss der Inneren Mission und das Profil der Teilnehmenden Die Teilnehmer/innen der Sitzungen des „Eugenischen Ausschusses“ setzten sich im Wesentlichen aus anstaltsleitenden Theologen, Ärzt/innen wie Referent/innen des Centralausschusses für Innere Mission zusammen. Insgesamt haben in den Jahren 1931 bis 1938 wohl gut 130 (bekannt sind 129, doch die Protokolle sind nicht immer vollständig mit Teilnehmerverzeichnissen überliefert) Personen aus dem Umfeld der Inneren Mission, des Evangelischen Oberkirchenrates in Berlin und dem Feld der Wissenschaft an diesem Ausschuss teilgenommen. Nähe oder Distanz zur nationalsozialistischen Herrschaft waren keine Kriterien, nach denen sich die Teilnehmer/innen scheiden lassen. Allein schon der Beginn der Tätigkeit des Ausschusses, nämlich 1931, verweist auf eine vor der NS-Herrschaft angestoßene eugenische Debatte, die dann allerdings nach 1933 Radikalisierungen unterlag. Die Mehrzahl der Teilnehmer/innen fast aller Sitzungen bestand jeweils aus Pfarrern bzw. Theologen, die zweithäufigste Gruppe waren Mediziner/innen gefolgt von Fürsorgerinnen und pädagogisch Tätigen (Lehrer, Heimleiter, ­ Erzieher/innen) sowie Jurist/innen. Bei den elf Personen, die an mindestens sechs der dreizehn Sitzungen teilnahmen, handelte es sich um neun Männer und zwei Frauen. Die beiden Frauen, Hermine Bäcker und Gerda Lucas, waren Sozialfürsorgerinnen. Hermine Bäcker, geboren 1895, leitete seit 1931 das Referat und war Geschäftsführerin der Evangelischen Konferenz für ­Gefährdetenfürsorge beim Centralausschuss in Berlin. Sie befasste sich insbesondere mit dem Bewahrungsgesetz und Fragen der Betreuung Zwangs­ sterilisierter.4 Gerda Lucas, Jahrgang 1896, arbeitete zunächst in der Gefährdetenfürsorge in Baden, dann in der Landesstelle für Innere Mission in Berlin und seit 1934 als Geschäftsführerin des Evangelischen Frauenwerks mit Sitz in Potsdam. Sie konstatierte 1933, „die Fürsorge ist bereit, da mitzuarbeiten, wo die Sterilisierung notwendig und ethisch, sozial als gerechtfertigt erscheint“, und machte sich ebenfalls Gedanken über die Fürsorge für Sterilisierte.5 Ab 1932 sollte jeder Landesverband der Inneren Mission eine/n Vertreter/in entsenden. 4  Vgl. Hermine Bäcker, Verwahrung und Bewahrung, in: Die Innere Mission 27 (1934), S. 22–25. 5  Vgl. Gerda Lucas, Sterilisierung und Bewahrung im Urteil der Gefährdetenfürsorge, in: Die Innere Mission 26. 1933, S. 32–37 u. 62–66, Zitat S. 66; dies., Die seelsorgerische Betreuung Sterilisierter und zu Sterilisierender, in: Hans Harmsen (Hg.), Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine Handreichung für die Schulung der in unseren Anstalten und in der Wohlfahrtspflege wirkenden Kräfte, Berlin 1935, S. 36–45. und dies., Der evangelische Vormund und die Sterilisierung, in: Evangelische Jugendhilfe 10 (1934), S. 249–252.

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Für die Männer gilt, dass sie fast alle der Jahrgangskohorte 1891 bis 1899 angehörten, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg gewesen waren und ihre leitenden Funktionen noch nicht allzu lange wahrnahmen. Es handelte sich um die bereits 1932 von E. Günther Gründel als „junge Frontgeneration“ beschriebenen Jahrgänge6, deren Weltanschauung und Menschenbild durch das „Fronterlebnis“ wesentlich geprägt wurde. Gründel charakterisierte diese Generation: „Die alte Welt, in der […] die meisten von ihnen noch erzogen worden waren, brach über ihnen zusammen, über blutjungen Menschen, die noch nichts anderes erlebt hatten als dies.“7 Gründel leitete daraus Entwurzelung ab und sah die „junge Frontgeneration“ als aus dem Gleis bürgerlicher Existenz geraten an, dies noch verstärkt durch die Erfahrungen, die sie in der Weimarer Republik machten. Völkische Bünde und nationalistische Zirkel kennzeichneten die politische Welt, in die diese Generationskohorte nach dem Ersten Weltkrieg hineinwuchs. Der Kampf gegen Materialismus, Kommunismus, Demokratie und das „Versailler Diktat“ waren die Eckpunkte einer Weltsicht, in der sich viele in Kirche und Innerer Mission einig wussten. Der Historiker Ulrich Herbert hat die nachfolgende „Kriegsjugendgeneration“, also die Jahrgänge 1900 bis 1910, als „Generation der Sachlichkeit“ apostrophiert.8 Angesichts der Nähe der Geburtsjahrgänge, nämlich 1899, der beiden häufigsten Teilnehmer Hans Harmsen und Pfarrer Adolf Nell9 zu dieser Generationskohortengrenze kann diese Charakterisierung für sie ebenfalls Gültigkeit beanspruchen. Neben kühler Rationalität habe völkische Ideologie die Angehörigen dieser Generation geprägt. Das Volk war der zentrale Begriff der antidemokratischen Geistesrichtung der Weimarer Republik.10 6  E. Günther Gründel, Die Sendung der Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, S. 23–31. Vgl. allgemein als Überblick zur Generationsforschung Michael Corsten, Biographie, Lebensverlauf und das „Problem der Generation“, in: BIOS 14 (2001), H. 2, S. 32–57; Jürgen Reulecke (Hg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003; Ulrike Jureit, Generation, Generationalität, Generationenforschung http://docupedia.de/zg/Jureit_generation_v2_de_2017. 7  Gründel, Die Sendung der Jungen Generation, S. 25. 8  Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre, in: ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1995, S. 31–58; ders., Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke (Hg.), Generationalität, S. 95–114. 9  Zu Adolf Nell vgl. Uwe Kaminsky, „Schrapp-Nell“ – Pastor Adolf Nell (1899– 1976) als Funktionär der Inneren Mission, in: Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche von Westfalen (Hg.), Kronenkreuz und Hakenkreuz. Biographische Skizzen zu Diakonie und Nationalsozialismus. Dokumentation der Fachtagung der Arbeitsgruppe Diakoniegeschichte, 8. Mai 2003, Villa ten Hompel, Münster 2003, S. 7–17. 10  Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962.



Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission45

Dennoch lassen sich hier auch Unterschiede konstatieren, waren doch die Propagandisten einer völkischen Ideologie bei weitem nicht so begeistert von der Möglichkeit einer sozialtechnologischen Steuerung des Fortpflanzungsbereichs wie gerade diese jüngeren Intellektuellen.11 Das Paradebeispiel eines solchen jüngeren Intellektuellen stellt der Arzt und Volkswirt Hans ­ Harmsen dar.12 Die Innere Mission als evangelischer Fürsorgeverband war trotz vereinzelter Stimmen bis 1930 rassenhygienisch recht uninteressiert. Dies änderte sich erst, als Hans Harmsen, ein Schüler des Bevölkerungswissenschaftlers und Sozialhygienikers Alfred Grotjahn, 1926 in die Dienste des Centralausschusses für Innere Mission trat. Der ein waches wissenschaftliches Interesse hegende Harmsen kam über seine Beschäftigung mit bevölkerungs- und familienpolitischen Fragen zur Eugenik, die als neue aufkommende Wissenschaft im Schnittpunkt seiner Doppelqualifikation als Mediziner und Nationalökonom lag.13 Harmsen war dominierende Persönlichkeit und Initiator der eugenischen Fachkonferenz, die den Übergang von der biologisch orientierten Sozialhygiene zur „Rassenhygiene“ markierte. Er bestimmte bis zur letzten Sitzung das Geschehen im Ausschuss durch Auswahl entsprechender Referenten, (Vor-)Formulierung der Beschlüsse und öffentlichen Verlautbarungen, Korrekturen der Protokolle und begleitende Veröffentlichungen. Von der „bevölkerungspolitischen Neuorientierung“ zur „eugenetischen Neuorientierung“ der Wohlfahrtspflege gab es 1931 in der Inneren Mission einen gleitenden Übergang.14 Harmsen war meinungsbildend und meinungsvereinheitlichend zu Fragen der Eugenik im protestantischen Spektrum. In zahlreichen Vorträgen wirkte er an der Fortbildung von Pfarrern, Fürsorgern 11  Auch die erst wenig zahlreichen jungen Ärztinnen waren von der „rassenhygienischen Mission“ fasziniert. Vgl. Sabine Schleiermacher, Rassenhygienische Mission und berufliche Diskriminierung. Übereinstimmungen zwischen Ärztinnen und Nationalsozialismus, in: Merrith Niehus/Ulrike Lindner (Hg.), Ärztinnen – Patientinnen. Frauen im deutschen und britischen Gesundheitswesen des 20. Jahrhunderts, Wien u. a. 2002, S. 95–107. 12  Vgl. allgemein Sabine Schleiermacher, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene: der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuss für die Innere Mission, Husum 1998; dies., „Um die Sicherung des Lebensraumes der Familie“. Bevölkerungspolitische Konzepte Hans Harmsens in Weimarer Republik und Nationalsozialismus, in: Rainer Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“, Opladen 2004, S. 141–150. 13  Harmsen war sehr gefördert durch den Sozialethiker Reinhold Seeberg, der Eugenik als Wertgenerator des revolutionären Konservatismus unterstützte. Vgl. Stefan Dietzel, Reinhold Seeberg als Ethiker des Sozialprotestantismus. Die „Christliche Ethik“ im Kontext ihrer Zeit, Göttingen 2013, S. 213–223. 14  Zitate aus den Titeln der Arbeiten Hans Harmsens, „Bevölkerungspolitische Neuorientierung unsrer Gesundheitsfürsorge“ und „Eugenetische Neuorientierung unsrer Wohlfahrtspflege“, in: Gesundheitsfürsorge, 5. 1931, S. 1–6 und S. 127–131.

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und Fürsorgerinnen, Ärzten und Schwestern mit. Die Eugenik war dabei ein beherrschendes Thema, aber beileibe nicht das einzige, das der vielseitige Harmsen abdeckte. Harmsen war nicht Mitglied der NSDAP und wurde 1946 in Hamburg Professor für Allgemeine Sozialhygiene und Leiter der Hamburger Akademie für Staatsmedizin. Der in den Nachkriegsjahren hoch angesehene Harmsen – auch Präsident und Ehrenvorsitzender der Barlachgesellschaft und seit 1962 Präsident der Deutschen Nansen-Gesellschaft – zog sich erst 1984 als Alterspräsident aus der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft zurück, nachdem sein Wirken in der NS-Zeit skandalisiert worden war.15 Nachfolgend soll am Beispiel sächsischer Vertreter der Inneren Mission im „Eugenischen Ausschuss“ wie auch Einzelner, die mit dem Thema der Eugenik in Sachsen befasst waren, eine Charakterisierung der behandelten Themen versucht werden. Carl Schneider – ein früher Skeptiker und späterer Mörder Auf der ersten „Fachkonferenz für Eugenik“ des Centralausschusses für Innere Mission, die 1931 in Treysa (Hessen) stattfand, sprach Carl Schneider, der von 1923 bis 1930 als Arzt in der sächsischen Landesanstalt Arnsdorf tätig gewesen war. Er war seit kurzem Chefarzt in der Anstalt Bethel und blieb dies bis 1933. Seine Beurlaubung zur Mitarbeit an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München im Jahre 1926 hatte sein Interesse für Fragen der Eugenik unterstrichen. Schneider präsentierte sich zu diesem Zeitpunkt als ein Skeptiker gegenüber der diskutierten Sterilisation und hielt ein Referat mit dem Titel „Kritische Besinnung auf die Grenzen unseres Eingreifens in das Wachsen der Natur“.16 Seine Erfahrungen standen eindeutig im Horizont einer autoritären Fürsorglichkeit gegenüber den zu versorgenden psychisch Kranken. Insofern stand für ihn das diskutierte Ziel der Vermeidung der Vermehrung von „Geisteskranken“ außer Frage. Nur das Mittel der Sterilisation schien ihm wenig geeignet zu sein, dieses Ziel zu erreichen. Er verwies darauf, dass die meisten Geisteskrankheiten nicht das Ergebnis einer nicht verhüteten Fortpflanzung, sondern viele Faktoren für deren Entstehung in Rechnung zu stellen seien. Dennoch wies er wohl vor dem Hintergrund auch seiner sächsischen Erfahrungen darauf hin, dass man 15  Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform 1920–1950, Oxford u. a. 1995, S. 204–211. Biographiemappe Hans Harmsen, in: ADE, BIO-S 84. 16  Kritische Besinnung auf die Grenzen unseres Eingreifens in das Wachsen der Natur (Med. Rat Dr. Schneider, Bethel), in: ADE, CA, G 381, fol. 43–94 und ADE, CA/G-S 33 (unpag.).



Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission47

durch Trennung der Geschlechter und versagte Anstaltsbeurlaubungen dieses Ziel besser erreiche. Carl Schneider blieb nur bis 1933 in Bethel, wechselte dann auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Heidelberg, wo er auch Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP war. Er wurde nach 1939 „T4-Gutachter“ im Rahmen der „NS-Euthanasie“ und war Leiter einer Forschungsabteilung zur Untersuchung von Gehirnen ermordeter Anstalts­ patienten in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch. Nach seiner Internierung 1945 nahm er sich 1946 das Leben.17 Walter Schadeberg – ein stiller Abwiegler in der „rassenhygienischen“ Debatte Der sächsische Vertreter der Inneren Mission, Walter Schadeberg (1903– 1949), nahm sechsmal an den dreizehn Sitzungen des „Eugenischen Ausschusses“ teil. Er war 1903 in Torgau geboren und hatte in Marburg und Leipzig neben Theologie noch Philosophie und Psychologie studiert und 1932 mit einer Arbeit „Über den Einstellungscharakter komplexer Erlebnisse“ an der philosophischen Fakultät promoviert. Nach einem ersten Pfarramt in Dresden-Löbtau von 1928 bis 1933 wurde er im Oktober 1933 dritter Vereinsgeistlicher des Landesvereins für Innere Mission Sachsen.18 In dieser Eigenschaft war er auch seit dem Ende 1934 Mitglied des „Eugenischen Ausschusses“. Ab Ende 1944 übernahm er von Adolf Wendelin die Leitung der Inneren Mission Sachsen und wurde zugleich Bevollmächtigter für das Hilfswerk. 17  Vgl. Christine Teller, Carl Schneider. Zur Biographie eines deutschen Wissenschaftlers, in: Geschichte und Gesellschaft (16) 1990, S. 464–478; Peta Becker-v. Rose, Carl Schneider – wissenschaftlicher Schrittmacher der Euthanasieaktion und Universitätspsychiater in Heidelberg 1933–1945, in: Gerrit Hohendorf, Achim Magull-Seltenreich (Hg.), Von der Heilkunde zur Massentötung. Medizin im Nationalsozialismus, Heidelberg 1990, S. 91–108; Maike Rotzoll/Gerrit Hohendorf, Die Psychiatrisch-Neurologische Klinik, in: Wolfgang U. Eckart/Volker Sellin/Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, S. 909– 939, bes. S. 914–925. Hans-Walter Schmuhl, Ärzte in der Anstalt Bethel 1870–1945, Bielefeld 1998, S. 76–80; ders. Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005, S.  131 f.; ders., Die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater im Nationalsozialismus, Berlin 2015, S. 64. 18  Vgl. zu biografischen Angaben Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017, S. 119; zeitgenössisch: Landeskirchliches Amt für Innere Mission u. Hilfswerk der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (Hg.), Weil uns Barmherzigkeit widerfahren ist. Oberkirchenrat Dr. Walter Schadeberg zum Gedächtnis, o. O., o. D. [1949].

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Bei seiner ersten Teilnahme im „Eugenischen Ausschuss“ im November 1934 wurde über die Durchführung von Schulungskursen zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in den Landesverbänden berichtet. Bereits im September 1934 war es in Sachsen zu Schwierigkeiten gekommen, da das Rassenpolitische Amt der NSDAP sich das Recht vorbehalten wollte, Redner zu diesen Themen zu autorisieren.19 Auch in Schneidemühl musste im Oktober 1934 ein Vortrag der Gefährdetenreferentin des Centralausschusses, Hermine Bäcker, abgesagt werden, und schließlich traf dieses Schicksal auch den zusammen mit der Sitzung des „Ständigen Ausschusses“ geplanten Lehrgang des Centralausschusses für Innere Mission Mitte November 1934. Hans Harmsen protestierte dagegen in einer Eingabe beim Reichsinnenministerium Anfang November 1934 und regte die Landes- und Provinzialverbände für Innere Mission ebenfalls zum Protest an.20 Es war eine grundsätzliche Frage, wie Vertreter wie Hans Harmsen betonten, die darauf zielte, ob überhaupt noch die Mitarbeit konfessionell gebundenen Personals in diesem Feld erwünscht war. Schadeberg spielte den Konflikt vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen in Sachsen allerdings herunter: „Wir wollen keine Parteiredner werden, aber wir haben die Möglichkeit, im Einverständnis mit dem Rassenpolitischen Amt zu sprechen. Die Kurse sind nicht als ­Orientierungskurse, sondern als Bildungskurse einer gemeinsamen Willensrichtung anzusehen. Das Ganze ging in Form eines Lagers vor sich. Die verschiedensten Interessen, Schule, SA, Kirche usw. waren vertreten.“21

Er hoffte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch, eine „gemeinsame Willensrichtung“ von NSDAP und Innerer Mission harmonisieren zu können. In der Diskussion wurde allerdings klar, dass die ja durchaus zur Mitarbeit an der Vermittlung der Lehre von der Rassenhygiene bereiten evangelischen Vertreter angesichts des Monopolanspruches der NSDAP tief verunsichert waren. Ein weiterer Vertreter aus Sachsen, der Leiter der ab 1934 unter dem Dach der Inneren Mission Sachsen arbeitenden Anstalt Großhennersdorf, Ewald Meltzer, fragte:

19  Siehe zum Rassenpolitischen Amt der NSDAP, das 1934 zur Vereinheitlichung der Propaganda über die „Rassenhygiene“ gegründet worden war: Roger Uhle, Neues Volk und reine Rasse. Walter Gross und das Rassenpolitische Amt der NSDAP (RPA). Diss. Aachen 1999. 20  Vgl. insgesamt Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 360–365; Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“, S. 172 f. u. 665–668. 21  Diskussionsprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege des Centralausschusses für Innere Mission, 16. November 1934 in Berlin (Haus Tabea), in: ADE CA, G 387, fol. 147–191.



Der „Fachausschuss für Eugenik“ der Inneren Mission49 „Gilt eine christliche Elternversammlung als öffentliche oder private Veranstaltung? Als Führer der christlichen Elternversammlung habe ich etwas zu sagen über die Ster[ilisierung]. Es ist doch wünschenswert, daß man darüber etwas erfährt. Auf Grund der Erfahrungen in Dresden schrieb ich, es täte mir leid, ich möchte nicht den verschiedenen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein wie Pastor Knabe.22 Deswegen meine ich, es muß hier ganz scharf auseinandergehalten werden, was öffentlich und was privat ist. Mir wurde gesagt, wenn ich in meiner Anstalt irgendetwas sage, z. B. wenn ich Gymnasiasten durch die Anstalt führe, das ist mir unverwehrt. Etwas anderes wäre es aber schon, wenn wir unsere Diakonissen und Personal schulen wollen. Es käme dabei vielfach Unsinn heraus. M. E. ist ein Vortrag vor der christlichen Elternvereinigung eine private Sache. Ich habe den Vortrag vorläufig nicht gehalten, stehe aber noch weiter in Verbindung, damit ich ihn später halten kann.“23

Anfang 1935 konnte der von Harmsen deswegen angeschriebene Gestalter des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, Ministerialrat ­Arthur Gütt, schließlich mitteilen, dass die regional geplanten Lehrgänge für das Personal der Inneren Mission stattfinden könnten, sofern die Referenten zuvor einen Schulungslehrgang bei der NSDAP besucht hätten, was ganz den Forderungen des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP entsprach. Die Interessen des NS-Staates und diejenigen der Inneren Mission liefen im Feld der Erbgesundheitspolitik und Rassenhygiene zunehmend auseinander. Dies zeigte sich an der Vorbereitung einer Stellungnahme gegen die Einführung einer eugenischen Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch auf der gleichen Sitzung des „Eugenischen Ausschusses“ im November 1934. Hier hatte es zwar auch Stimmen für eine eugenische Indikation gegeben. Doch Hans Harmsen und die Vertreter der Inneren Mission im Hauptausschuss der Inneren Mission beschlossen am 18. Dezember 1934 eine ablehnende Stellungnahme, die Anfang 1935 veröffentlicht wurde.24 Sie erkannten 22  Pastor Erich Knabe wie auch der protestantische Vorkämpfer für die freiwillige Sterilisierung, Pfarrer Johannes Hünlich, fielen ebenso unter das polizeiliche Verbot, sich zu Fragen der Rassenpolitik zu äußern. Knabe durfte sich nicht einmal auf einer internen Konferenz der Taubstummen- und Irrenseelsorger zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ äußern. 23  Diskussionsprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege des Centralausschusses für Innere Mission, 16. XI. 1934 in Berlin (Haus Tabea), in: ADE CA, G 387, fol. 147–191. 24  Die Schwangerschaftsunterbrechung Erbbelasteter bei gleichzeitiger Unfruchtbarmachung. Eine Erklärung des Hauptausschusses (18. Dezember 1934) (zugleich Rundschreiben 5 der Auskunftsstelle des Central-Ausschusses für Innere Mission, betr. das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Berlin-Dahlem an die Landes- und Provinzialverbände der Inneren Mission und die evangelischen Heil- und Pflegeanstalten), in: ADE, CA/G 372, fol. 59; gedrucktes Exemplar, vgl. auch Gesundheitsfürsorge 9. 1935, 2–4; Die Innere Mission 30. 1935, 19–21. (abgedruckt in: Jochen-Christoph Kaiser/Kurt Nowak/Michael Schwartz, Eugenik, Sterilisation, „Eu-

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in der Einführung einer eugenischen Indikation zum Schwangerschafts­ abbruch den ersten Schritt zur „Euthanasie“ und dies stellte eine der wenigen öffentlichen Stellungnahmen einer gesellschaftlichen Großorganisation im ­ Nationalsozialismus gegen eine Radikalisierung der NS-Rassenhygiene dar. In dieser wird deutlich, wie stark man hoffte, die Geschicke der Erbgesundheitspolitik im eigenen Sinne noch mitsteuern zu können. Hans Harmsen setzte die Frage der Sterilisierung und Schwangerschaftsunterbrechung auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des „Ständigen Ausschusses“ im April 1935. Er beraumte Referate aus biologischer – hierfür konnte er den renommierten Biologen und Vorsitzenden des Keplerbundes Bernhard Bavink gewinnen25 – und theologischer Sicht an, um dann in der Diskussion eine möglichst gemeinsame Position zu entwickeln. Bei dem Komplex der Eheschließung Zwangsterilisierter sollten aus juristischer und evangelischer Sicht Fragen nach Ehehindernissen, Ehescheidung und dem „Zeugungshelfer“ (nach Luther) referiert werden. Als Theologe referierte der Leipziger Professor für Praktische Theologie, Ethik und Pädagogik, Alfred Dedo Müller. Müller war 1890 in Hauptmannsgrün (Vogtland) geboren, hatte Theologie in Leipzig, Marburg, Berlin und Zürich studiert. Er war 1917 Pfarrer in Ziegra bei Döbeln/Sachsen und nach seiner Promotion 1924 im Jahre 1927 Pfarrer in Leipzig-Connewitz geworden. Von 1930 bis 1957 war er dann Professor an der Universität Leipzig.26 Zudem war er Mitglied im Berneuchener Kreis (Michaelsbruderschaft), dem auch Hans Harmsen zugehörig war. Müller widersprach in seinem Referat wie auch Diskussionsbemerkungen ebenso wie Harmsen einer Aufweichung der Grenze zwischen Verhütung und Vernichtung, wohingegen das Referat des Biologen Bernhard Bavink und die Diskussionsbemerkungen von Pastor Hermann Wagner die eugenische Indikation unter „rassenhygienischen“ Erwägungen durchaus zulassen wollten.27 Harmsen war angesichts der Uneinig­ thanasie“. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. 175–177). 25  Vgl. zu Bavink das im Auftrag der Stadt Bielefeld entstandene Gutachten von Michael Schwartz, Bernhard Bavink: Völkische Weltanschauung  – Rassenhygiene  – „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Bielefeld 1993. 26  Zu den biographischen Angaben Michael Böhme, Art. „Müller, Alfred Dedo“, in: Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon, Bd. 20 (2002), Sp. 1056–1059. 27  Die gehaltenen Referate sind als Zusammenfassungen in zwei in der „Gesundheitsfürsorge“ veröffentlichten Ergebnisprotokollen und als nachträgliche Publikationen überliefert. „Arbeitstagung über Fragen der Sterilisierung und Eheschließung Sterilisierter“, in: Gesundheitsfürsorge 9, 1935, 174–176. Vgl. zudem die Referate von Anna Mayer und Walter Staats zusammengefasst in: Hans Harmsen (Hg.), Eheschließung Sterilisierter. Vom evangelischen und rechtlichen Standpunkt aus gesehen, Berlin 1935; ferner Bavink, Über Sterilisation, Schwangerschaftsverhütung und



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keit der Teilnehmer enttäuscht, half ihm dies doch nicht bei seinen Versuchen, namens der Inneren Mission gegen die eugenische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch mobil zu machen.28 Die zuvor bereits durch Geheimverfügungen möglich gemachte Abtreibung bei Sterilisationsopfern wurde durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 26. Juni 1935 kodifiziert.29 Ewald Meltzer – Eugenikvorkämpfer und Euthanasiegegner Gerade gegen die Verwischung der Grenze zwischen der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“ sind einige Äußerungen der sächsischen Vertreter im „Eugenischen Ausschuss“ der Inneren Mission überliefert, die alle mit Vehemenz die Politik der Zwangssterilisation vertraten, aber eine „Euthanasie“ ablehnten. Eine besondere Rolle als „Fachmann“ nahm in dieser Frage der Medizinalrat Ewald Meltzer (1869–1940) ein. Der 1869 geborene Meltzer gehörte zu der Riege älterer „Mentoren“, die in verschiedenen Sozialmilieus – sei es protestantisch-konservativ, katholisch oder sozialdemokratisch – als „Vorkämpfer“ der Eugenik wirkten. Er gehörte zu den ersten Stimmen, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Sachsen für eine Sterilisierung vermeintlich erbkranker Menschen aussprachen. Neben Meltzer tat sich zunächst der Zwickauer Medizinalrat Gustav Boeters hervor, der seit 1923 nicht nur einen Aufruf an die deutsche Ärzteschaft zur zwangsweisen „rassenhygienischen“ Unfruchtbarmachung von „Blödsinnigen“, Epileptikern oder Taubstummen erließ, sondern auch versuchte, die sächsische Landesregierung wie auch die Reichsregierung zur Tat zu drängen. Dies hatte zu diesem Zeitpunkt keinen Erfolg.30 Er fand allerdings Gehör, nicht nur beim Pfarrer Hünlich aus Stangengrün (bei Zwickau), der die Sterilisation auch für den protestantischen Wohlfahrtsverband Innere -­unterbrechung vom biologischen Standpunkt, S. 20–22. Zu Bavink vgl. Schwartz, Bavink; zu Hermann Wagner siehe Genkel, Umgang mit Leben. 28  Vgl. Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 375 f.; Genkel, Umgang mit Leben, S. 140–148. So kritisierte Harmsen wenig später auch einen Beitrag des Religionswissenschaftlers Friedrich Delekat, Warum und in welcher Weise ist in der christ­ lichen Kirche vom Gesetz zu lehren, in: Deutsches Pfarrerblatt (39) 1935, S. 424, da dieser den Unterschied zwischen Verhütung und Vernichtung nicht klar genug gemacht habe, Harmsen, Die Verhütung erbkranken Nachwuchses eine sittlich religiös begründete Pflicht, in: Deutsches Pfarrerblatt 39. 1935, S. 585. Harmsen übersandte im September 1935 diesen Beitrag auch Oberregierungsrat Linden im Reichsinnenministerium, Harmsen an Linden 16. September 1935, in: ADE, CA/G 251 [unpag.]. 29  Vgl. Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 26. Juni 1935, in: Reichsgesetzblatt I, 1935, S. 773. 30  Siehe zur Boeters-Kontroverse Schwartz, Sozialistische Eugenik, S. 274–293.

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Mission befürwortete, sondern auch beim Leiter der Landesanstalt Großhennersdorf, Medizinalrat Ewald Meltzer.31 Der in Auerbach/Vogtland geborene Meltzer hatte in Jena, Leipzig und Würzburg Medizin studiert. Nach seiner Promotion 1894 in Jena arbeitete er als Arzt an der dortigen Universitäts-Poliklinik, an der städtischen Heil- und Pflegeanstalt in Dresden und dem Krankenhaus Friedrichstadt. Seit 1911 war er Direktor der Landesanstalt für „bildungsunfähige schwachsinnige Kinder“ in Großhennersdorf (bei Herrnhut).32 Meltzer war Vorsitzender des „Deutschen Vereins für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher“ und trat seit 1908 auch als Herausgeber der „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger“ hervor. Mit seinem glühenden Engagement für die Sterilisation aus „rassenhygienischen“ Gründen33 erreichte er bereits 1926 in seinem „Deutschen Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher“ die Verabschiedung einer Resolution zur Freigabe der eugenischen Abtreibung, die als Petition an den Reichstag weitergegeben wurde. Meltzer entstammte dem protestantisch-konservativen Milieu in Sachsen. Seine Nähe zu evangelischen Anstalts- und Hilfsschulleitern, die in seinem Verband Mitglied waren, äußerte sich einmal darin, dass er den geschrumpften Verband 1935 mit der „Konferenz der Vorsteher evangelischer Anstalten für Geistesschwache und Epileptische“ sowie der „Arbeitsgemeinschaft evangelischer Anstalten für Geistesschwache und Epileptiker“ zusammenschloss, zum zweiten darin, dass die von ihm geleitete Anstalt „Katharinenhof“ in Großhennersdorf in Sachsen als einzige Einrichtung während des Nationalsozialismus, auch auf sein Betreiben hin, 1934 „konfessionalisiert“ und an die Innere Mission Sachsen als neuen Träger übergeben wurde.34 Dies war für die ansonsten auf Entkonfessionalisierung des Wohlfahrtswesens drängende NS-Zeit ein bemerkenswerter Trägerwechsel.35 31  Siehe hierzu die Beiträge von Hünlich, Meltzer, Anselmo Müller (der als einziger ablehnend blieb) und Boeters unter dem Titel „Die Sterilisierung im Dienste der Inneren Mission“, in: Bausteine 56 (1924), S. 126–130 u. 57 (1925), S. 4–8. 32  Vgl. Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte der letzten fünfzig Jahre, hg. u. bearb. von I. Fischer, Berlin u. Wien 1932, S. 1020; Klee, Personenlexikon, 402; Detlev Krell, Kinder Material. Der Katharinenhof in Großhennersdorf und die nationalsozialistische Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“, Dresden 1996, S. 15 f. 33  Zu Meltzers rassenhygienischem Engagement siehe beispielsweise seine Beiträge: Der derzeitige Stand der Frage der Unfruchtbarmachung Minderwertiger, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger (48) 1928, Nr. 10, S. 145–155; ders., Arzt und Rassenhygiene, in: Die Medizinische Welt 5 (1931), S. 1761–1763 und 1796–1797. 34  Vgl. Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 318; Ewald Meltzer, Die Bedeutung der Übernahme der Anstalt Großhennersdorf durch die Innere Mission, in: Gesundheitsfürsorge 8 (1934), S. 163–168; Westfeld, Innere Mission, S. 111–113.



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Meltzer war trotz aller rassenhygienischer Überzeugung ein unermüdlicher Gegner der „Euthanasie“. Er verfasste eine der zentralen Gegenschriften gegen das Buch von Binding und Hoche über die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. In seinem 1925 erschienenen Buch „Das Problem der Abkürzung ‚lebensunwerten‘ Lebens“ wie in verschiedenen Aufsätzen betonte er das ärztliche wie ethische Tötungsverbot.36 Die praktische Relevanz der „Euthanasie“ im Sinne der Sterbehilfe wurde seiner Meinung nach sehr übertrieben, denn in dreizehn Jahren Anstaltsleitung seien ihm bei ca. 220 Todesfällen nur zwei Fälle bewusst, „in denen ich narkotische Mittel angewendet habe, um die beim Sterben bestehenden Beschwerden und Schmerzen zu lindern“.37 Meltzer setzte gerade nicht auf die von ihm so bezeichnete „Desperado­ politik“ der „Euthanasie“38, sondern ganz auf die Rassenhygiene mit ihrem Instrument der Sterilisation, um die in seinen Augen „minderwertigen“ Menschen auszumerzen. Bereits Boeters hatte illegale eugenische Sterilisationen – offenbar im Einverständnis mit behördlichen Stellen in Sachsen – in den 1920er Jahren durchgeführt.39 Der Leiter der Ehe- und Sexualberatungsstelle in Dresden, Rainer Fetscher, oder der Leiter der Anstalt Stadtroda, Erwin Friedel, taten es ihm genauso gleich wie Ewald Meltzer.40 Meltzer hatte Sterilisationen offenbar nur bei Mädchen durchführen lassen, „die in Fami­ lienpflege entlassen werden, wo also die Gefahr besteht, dass sie einmal das Opfer eines sexuellen Attentats werden können, oder die andere, dass sie sich

35  Vgl. Hagen Markwardt, Ewald Meltzers Beiträge zu den rassenhygienischen Debatten während der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, in: Boris Böhm/Hagen Markwardt/Jürgen Trogisch (Bearb.), „nun liesse sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934– 1941, Dresden 2017, S. 23–46. 36  Ewald Meltzer, Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens, Halle 1925; ders., Das Binding’sche Problem, in: Klinische Wochenschrift 2 (1923), S. 1911; ders., Arzt und Rassenhygiene, S. 1761–1763 und 1796–1797, bes. 1761; ders., Die Frage des unwerten Lebens (Vita non iam vitalis) und die Jetztzeit, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 34 (1932), S. 584–591; ders., Die Stellung des praktischen Arztes zur Euthanasie, in: Fortschritte der Medizin 51 (1933), S. 475–482; ders., Zur Frage der Euthanasie beim normalen Menschen, in: Ethik 10 (1933/34), S. 34–40; ders., Euthanasie auch bei Geisteskranken?, in: Ethik 10 (1933/34), S. 82–90; ders., Die Euthanasie, die Heiligkeit des Lebens und das kommende Strafrecht, in: Christliche Volkswacht 18 (1936), S. 135–143. 37  Meltzer, Das Problem, S. 20. 38  Meltzer, Arzt und Rassenhygiene, S. 1761. 39  Im März 1933 bezifferte er die Anzahl der durch ihn in den letzten zehn Jahren Sterilisierten mit 250. Gustav Boeters, Die eugenische Sterilisierung nach geltendem Recht, in: Deutsches Ärzteblatt 62 (1933), S. 93. 40  Vgl. die Erwähnungen bei Joachim Müller, Sterilisation und Gesetzgebung bis 1933, Husum 1985, S. 86–88; Markwardt, Ewald Meltzers Beiträge, S. 23–46.

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bei zu starker Libido zu leicht hingeben“,41 wie er es in einem Vortrag im Mai 1931 vor den Ärzten des Zittauer, Löbauer und Görlitzer Bezirks betonte. Gerade auch angesichts der Unrechtmäßigkeit des Vorgehens betonte Meltzer, dass er sich dabei in Einklang mit Behörden wie Eltern befunden habe. Sah er 1931 in Deutschland einen Konsens nur zur freiwilligen eugenischen Sterilisation, so schwenkte er wie viele andere im protestantischen Milieu im Jahr 1933 zur unumschränkten Zustimmung zum nationalsozialistischen Zwangssterilisationsgesetz über.42 Er war ein gern gesehener „Fachmann“ im „Ständigen Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ der Inneren Mission, an dem er in den Jahren 1934, 1936 und 1937 teilnahm. Er diskutierte 1937 über die in Rede stehende „Euthanasie“. Dabei äußerte er ebenso wie schon 1925 in seiner euthanasiekritischen Schrift, „wenn 1916 angeordnet worden wäre, dass die Idioten auf sanftem Wege aus dem Leben kommen müssten, so würde man schon damals den Notstandsparagraphen habe anwenden können. Das ist wohl von dem neuen Strafrecht beabsichtigt. Es steht da, die Vernichtung interessiert uns hier nicht, sie wird einer besonderen Verordnung vorbehalten. Da würde ich in schweren Fällen von Lebensmittelknappheit oder wo dringend Räume gebraucht werden für Verwundete, solchen Schritt begreifen. Der Gesunde und Kräftigste muss hinaus, da sollte auch der Kranke seinen Zoll dem ­Vaterland zahlen. In solchem Fall würde ich es für erlaubt [halten]. Gott gebe, daß wir niemals in solche schwere Lage kommen.“43 Meltzer, der sich dabei auf zeitgenössische Diskussionen im Strafrechtsausschuss des Reichstags bezog, machte eine Wertgliederung deutlich, die in Notstandssituationen durchaus Zustimmung zu einer Vernichtung der „Kranken“ zeigte. Meltzer vertrat diese Meinung auch in publizierter Form44 und verwies damit auf eine konsensfähige Bedingung für konservativ-christliche Eliten. In der damaligen Situation allerdings hielt er die Begründung nicht für zugkräftig.

Arzt und Rassenhygiene, S. 1763. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Zeitschrift für die Behandlung Anomaler 53. 1933, S. 113–119. „Es wäre doch wirklich blöd, wenn vom Erbgesundheitsgericht auf Grund ausreichender Unterlagen erklärte erbkranke Menschen nun ihrerseits das Gesetz aus Eigensinn unwirksam machen könnten. Wie sehr hat man sich gerade seitens hochstehender Wissenschaftler gegen diesen Zwang gesträubt!“ (ebd., S. 116). 43  Wortprotokoll vom 14. April 1937, in: ADE CA/G 388, Bl. 91–96, Bl. 92–93. Vgl. auch Schwartz, „Euthanasie“-Debatten in Deutschland, S. 650–654. Ebenfalls zitiert bei Ernst Klee, „Die SA Jesu Christi“. Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt/ Main 1989, S. 97. 44  Vgl. Meltzer, Die Euthanasie, die Heiligkeit des Lebens, S. 135–143. 41  Meltzer, 42  Meltzer,



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Erich Karl Knabe – versuchte Aufwertung der „Schwachen“ Auch andere sächsische Anstaltsgeistliche wie Erich Karl Knabe, der bis 1936 Pfarrer in der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen gewesen war, äußerten sich in jenen Jahren gegen eine Vernichtung der „Schwachen“ bei gleichzeitiger Zustimmung zur NS-Erbgesundheitspolitik. Knabe hatte, wie im Ausschuss (siehe oben) berichtet worden war, 1934 Schwierigkeiten, als Redner zu dem Thema zugelassen zu werden. Der 1882 geborene Erich Karl Knabe (gest. 1940) war seit 1906 Pfarrer in Leipzig, 1908 in Leipzig-GohlisNord, 1910 in Wendischrottmannsdorf (Zwickau) und wurde 1915 der zweite Anstaltspfarrer in der Landesanstalt Hubertusburg (Wermsdorf). Weitere Stationen waren die zweite Anstaltspfarrerstelle in Arnsdorf seit 1921 und die Anstaltspfarrerstelle in der Anstalt Leipzig-Dösen seit 1928. Im Jahre 1936 wurde er dann Rektor der Diakonenanstalt Moritzburg.45 Knabe trat auf der Görlitzer Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses 1938 mit Leitsätzen über „Die Bedeutung der Schwachen für die Volks­ gemeinschaft“ hervor. Er zeichnete dabei die „Alternative“ in der damaligen Zeit auf: „Entweder Befreiung der Volksgemeinschaft von der Last der Schwachen eventuell durch Ausmerzung, oder Anerkennung der Schwachen als einer von Gott uns gegebenen Aufgabe, die unbedingt zu lösen ist. […] Und so gebar unsere Zeit die große Abwehrmaßnahme gegen ein Stück des Elends, gegen die Erbkrankheit, der man, ohne vorhandenes Leben vernichten zu müssen, die Fortpflanzung vereitelt. Ich nenne dies eine Teillösung zum Ziele der Befreiung der Volksgemeinschaft von der Last der Schwachen, die die Zustimmung der evangelischen Kirche sofort fand, zumal sie in der Innern Mission längst erörtert war. Soll man ein Weiterschreiten zur Verwehrung jeglicher Hilfe an die Schwachen befürworten?“46 Die „Ausmerzung“ lehnte Knabe mit zahlreichen Hinweisen auf die Schuld der „Volksgemeinschaft an den erworbenen Mängeln“ ab. Zudem wies er auf die Funktion der Schwachen für die Gesunden hin, dadurch, dass ihr Leiden wissenschaftlichen Fortschritt fördern würde. Ähnlich argumentierte wiederholt auch Ewald Meltzer. Weiterhin betonte Knabe den Humor oder aber auch die Ernsthaftigkeit schwergeschädigter Menschen sowie dass die Unheilbaren „Prüfstein unserer Demut und unseres Gehorsams“ seien. Schließlich hob er auch noch die Leistungen von „Schwachen und Krüppeln“ hervor 45  Vgl. zur Biographie: Konstantin Hermann (unter Mitarbeit von Wilhelm Knabe), Wandlungen: Erich Knabe, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz, Göttingen 2017, S. 19–33 und den Beitrag von Christoph Hanzig in diesem Band. 46  Siehe den Bericht über die Görlitzer Kongresstagung und den Vortrag von Rektor Erich Knabe, Die Bedeutung der Schwachen für die Volksgemeinschaft, in: Evangelisch-Sozial, 44 (1938), S. 67 ff. und S. 76–87, hier S. 79–80.

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und meinte: „Auch Geistesschwache und Geistesgestörte sind zu volkswirtschaftlicher Leistung zu bringen.“47 An dieser sicher auch taktisch gemeinten Betonung des Leistungsgedanken machte sich in der anschließenden Aussprache auf der Tagung Kritik durch Dr. Liebster aus Leipzig fest, der meinte, dass doch die Pioniere der Anstaltsgründungen für Schwache nicht von den Erfolgen ihrer Arbeit, sondern von der gottgegebenen Tatsache der Schwachheit ausgegangen wären: „Es ist vielleicht zu wenig bekannt, wie groß die Erfolge sind. Aber wir sehen ja gerade heute, dass auch die Erfolge missachtet werden können, weil ihnen gegenüber Misserfolge stehen.“ Dr. Liebster schloss mit dem Fazit, „dass durch Streuung der Vererbung, durch Schuld, durch Alter, durch Schicksal und die anderen im Vortrage genannten Ursachen die Zahl der Schwachen so groß ist, dass die gewaltsame Ausmerzung aller dieser Schwachen über die Menschen einen gefährlichen Grad von Unsicherheit bringen würde, weil ja alle Menschen in Gefahr sind, einmal ‚schwach‘ zu werden, und sei es erst im Alter.“48 In diesen Einwänden von Dr. Liebster spiegelte sich die Skepsis, mit Erfolgsbilanzen gegen die Vergötzung der „Volksgemeinschaft“ als letzten Bezugspunkt vorzugehen. Mit utilitaristischen Argumenten gegen den das Lebensrecht der Schwachen bestreitenden Utilitarismus zu wirken, erschien auch angesichts der Erfahrungen auf anderen Gebieten der Fürsorge wenig erfolgreich zu sein. Der Leiter der Leipziger Stadtmission Helmuth Materne49 veröffentlichte 1936 einen Artikel mit dem Titel „Die anderen“ in der Zeitschrift „Christ­ liche Volkswacht“50, in dem er aufgrund seiner Erfahrungen behauptete, dass 47  Ebd., S. 86. Ähnlich argumentierte auch der Landesführer der Inneren Mission Sachsens, Adolf Wendelin, der in einem Artikel 1934 fragte, „Soll man sie wirklich töten?“ und die Rede von „minderwertige[m] Leben“ nicht gelten lassen wollte. Vgl. Adolf Wendelin, Warum Innere Mission, in: Christenkreuz und Hakenkreuz, 1934, S. 6–9, hier S. 7. 48  Knabe, Bedeutung der Schwachen, S. 69. 49  Helmuth Materne, geb. 1895 in Breslau, war zunächst Pfarrer in Schlesien und wechselte 1925 in ein Pfarramt in Ilmenau (Thüringen). Seit 1930 war er Leiter der Stadtmission in Leipzig und wechselte zum 1. Mai 1936 als Leiter der Stadtmission nach Magdeburg. In der Kirchenprovinz Sachsen wurde er Provinzialpfarrer und Leiter der Inneren Mission. Er starb 1965 in Wuppertal. Vgl. Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“, S. 768; Johannes Michael Wischnath, Kirche in Aktion. Das Evangelische Hilfswerk 1945–1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission, Göttingen 1986, S. 457; Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission 7 (1936), S. 98; Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539–1939), bearb. von Reinhold Grünberg, Freiberg 1940, S. 575. 50  Helmuth Materne, „Die andern“, in: Christliche Volkswacht 18 (1936), S. 74– 77. Vgl. auch Genkel, Umgang mit Leben, S. 155–156. Der „Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst“ war der zur Gleichschaltung 1933 gegründete Nachfolger



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„durch die Sterilisierung eine neue Kategorie von Menschen entstände, die der Fürsorge bedürften, so dass zu den bisherigen Fürsorgebedürftigen eine neue Kategorie geschaffen würde“. Sein Artikel führte zu einer Aussprache zwischen dem „Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst“ und der „Christ­ lichen Volkswacht“. Der „Reichsausschuss“ meinte, dass Fürsorgebedürftigkeit nur bei solchen Sterilisierten bestehe, die schon vorher fürsorgebedürftig waren. So wurde die Innere Mission aufgefordert, über die vermeintliche Gefährdung von Menschen nach ihrer Sterilisierung Material beizubringen.51 Das Denken in Kategorien von Volkssittlichkeit auf Seiten der Inneren Mission markierte die typische protestantische Herangehensweise an die Sterilisation. Zugleich verwies dies auf die alte Debatte über die Bewahrung im Bereich der Wohlfahrtspflege. Hier hatten bereits 1933 Vertreter der Inneren Mission wie Paul Gerhard Braune oder der rheinische Geschäftsführer Otto Ohl befürchtet, dass das Zwangssterilisationsgesetz ein angestrebtes Bewahrungsgesetz für Gefährdete unmöglich machen würde.52 Insbesondere Heimleiterinnen wie die Diakonisse Gertrud Wüstenhagen vom Zehlendorfer Verband, die ein Evangelisches Frauenheim in Leipzig-Borsdorf leitete, reflektierten über die „pädagogisch-fürsorgerische Lage unserer Heime den Sterilisierten gegenüber“ und die „Seelsorge an Sterilisierten“.53 Wüstenhagen teilte in ihren Aufsätzen ihre Erfahrungen aus dem Mädchenheim in Borsdorf mit und machte sie zu einem Prototyp für die Erfahrungen mit der Sterilisation im Bereich der Inneren Mission generell. In eides früheren „Reichsausschusses für hygienische Volksbelehrung“, in dem verschiedene Organisationen und Verbände in Form von Reichsarbeitsgemeinschaften zusammengefasst waren, vgl. Hans Harmsen, Die neue Organisation der Wohlfahrtspflege unter besonderer Berücksichtigung der Gesundheitsfürsorge, in: Gesundheitsfürsorge 7 (1933), S. 157–161; ders., Der gegenwärtige Stand der Organisation des Gesundheitswesens, in: Gesundheitsfürsorge 9 (1935), S. 229–231. 51  Diskussionsprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege des Centralausschusses für Innere Mission, 17. IX. 1936 in Bethel, in: ADE, CA/G 388, fol. 37–50. Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst an Wagner 13. August 1936, in: ADE, CA/G 356 [unpag.]. Vgl. auch Genkel, Umgang mit Leben, S. 155–156. 52  Hermine Bäcker hatte seitens der Evangelischen Konferenz für Gefährdetenfürsorge am 26. März 1936 durch eine Rundfrage um Material über die „nachgehende Betreuung der Sterilisierten“ gebeten und einen Bericht darüber gefertigt. Siehe Rundschreiben vom 26. März 1936 und „Bericht über eine Umfrage über die nachgehende Betreuung Sterilisierter unter besonderer Berücksichtigung der Eheberatung bzw. Eheanbahnung“, in: ADE, CA, GF/St 339, Bl. 49 u. 122–137. 53  Gertrud Wüstenhagen, Die pädagogisch-fürsorgerische Lage unserer Heime den Sterilisierten gegenüber, in: Hans Harmsen (Hg.), Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 37–45; dies., Seelsorge an Sterilisierten, in: Evangelische Jugendhilfe 14 (1938), S. 70–80. Siehe allgemein zur Borsdorfer Arbeit Schumann, Die Geschichte der Inneren Mission in Leipzig, bes. S. 46–50, 107–109 u. 200–210.

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nem ersten Bericht im Jahre 1935 schrieb sie, dass von 134 Mädchen und jungen Frauen in Borsdorf 30 dem Bezirksarzt als „mit Bestimmtheit oder mit Wahrscheinlichkeit unter das Gesetz fallende Erbkranke gemeldet“ worden seien.54 Die Betroffenheit von fast einem Drittel der Heimbewohnerinnen war in Einrichtungen der Erziehungsfürsorge nicht ungewöhnlich. Wüstenhagen unterschied drei Gruppen Betroffener aufgrund ihrer Reaktion auf die Ankündigung zur Sterilisation. Erstens diejenigen, die kaum ergriffen von ihrer Betroffenheit waren und sich im Gegenteil noch darauf freuten, dass sie „in um so größerer Hemmungslosigkeit und Triebhaftigkeit das bisherige Leben weiterleben“ könnten. Zweitens diejenigen, die nur vor dem opera­ tiven Eingriff an sich Angst hatten und drittens diejenigen, die „im tiefsten Grunde innerlich erschüttert worden sind“. In allen drei Gruppen meinte Wüstenhagen erklärend und pädagogisch-fürsorgerisch wirken zu müssen. Insbesondere Mädchenheime wurden in der Begleitliteratur zum Zwangssterilisationsgesetz zum Thema gemacht, weil besonders für Mädchen und junge Frauen die Sterilisation einen Angriff auf ihre Geschlechtsrollenidentität als künftige Mütter bedeutete und dies das christliche Idealbild von Familie zu zerstören geeignet war. So wurde die Abfederung des Zwangscharakters des Gesetzes durch das eigene Vorbild der Diakonisse als kinderlose Frau und trotzdem ideelle Mutter im Feld der Erziehungsfürsorge versucht. Zudem projizierte man auf die betroffenen Mädchen und jungen Frauen das eigene Volkssittlichkeitsideal, das sich in der vermeintlichen Gefährdung durch eine nachfolgende Promiskuität der Sterilisierten spiegelte. Damit wurde die Bewahrungsbedürftigkeit der eigenen Klientel auch nach einer Sterilisation unterstrichen, die ansonsten eine sittliche Gefährdung für ihre Umwelt darstellen würde. Auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP Mitte September 1935 wurden das „Reichsbürger“-Gesetz und das „Blutschutz“-Gesetz, welche ein Verbot von Ehen und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden aussprachen, zusammen beraten. In den Planungen waren diese rechtlichen Regelungen zusammen mit dem Ehegesundheitsgesetz, welches auch ein Verbot der Ehe zwischen „Erbgesunden“ und „Erbkranken“ festlegte, vorbereitet worden.55 Die hiermit erlassenen neuen Gesetze mussten im Bereich der Inneren 54  Siehe zu den folgenden Angaben Wüstenhagen, Die pädagogisch-fürsorgerische Lage. 55  Siehe hierzu Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Unter­ suchungen zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 100–103. Die ­Darstellung Christian Ganssmüllers, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln/Wien 1987, S. 133–139) erscheint dagegen unvollkommen; siehe auch Johannes Vossen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900–1950, Essen 2002, S. 325–334.



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Mission zunächst in ihren praktischen Konsequenzen vermittelt werden. Auf der nächsten Sitzung des „Ständigen Ausschusses“ wurden die Konsequenzen für das eigene fürsorgerische Wirken beraten. Angesichts der Diskussionen nach der Veröffentlichung des Ehegesundheitsgesetzes, das Ehezeugnisse für sich verheiratende Partner vorschrieb, meinte Ewald Meltzer vor seinem eigenen Erfahrungshintergrund in Sachsen, dass diese wohl wenig Wirkung haben würden, weil die Menschen erst sexuell zusammenkommen würden und dann erst bei einer schon erfolgten Zeugung an eine Heirat dächten. „Wird das Ehegesundheitszeugnis nicht vielfach dadurch unmöglich gemacht, dass von Verlobten gar nicht die Rede sein kann, sondern dass die Leute tatsächlich schon lange miteinander verheiratet sind? Im Sächsischen hat der außereheliche Verkehr gewöhnlich schon lange vorher stattgefunden. Sie sind gewöhnlich so anständig und heiraten dann später. Dann kommen sie und wollen ein Zeugnis haben. Wenn dann der eine nicht erbgesund ist, verwehrt man ihnen die Heirat, und sie verkehren doch miteinander und zeugen unter Umständen auch Kinder. In andern Landesteilen wird das ähnlich sein.“56

Die hier ausgesprochene Hilflosigkeit, das Sexualverhalten der Menschen und auch ihr generatives Verhalten zu steuern, markierte eine realitätsbezogene Perspektive, die nicht nur die volkssittlichen Steuerungsbemühungen der christlichen Kirchen, sondern auch die Biologiepolitik des NS-Regimes in Frage stellte. In den dreitägigen Januarverhandlungen des „Ständigen Ausschusses“ 1936 wurden jedoch auch die anderen Themen der neuen Gesetzeslage über die Ehefrage und die Ehevermittlung behandelt. Die Juristin Anna Mayer, selbst nach den neuen Gesetzen „Vierteljüdin“57, trug die komplizierte Rechtslage nach den Rassegesetzen und dem Ehegesundheitsgesetz vor. Harmsen sah für die Innere Mission keinen Handlungsbedarf, doch meinte er, im Einvernehmen mit dem Reichsinnenministerium eine Entschließung des Reichskirchenausschusses anregen zu sollen, die auf die gesellschaftliche Integration der Mischlinge zweiten Grades – das bedeutete ein „volljüdisches“ Großelternteil zu haben – hinzielen würde.58 56  Diskussionsprotokoll der Sitzung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege des Centralausschusses für Innere Mission, 14.– 16. Januar 1936 in Berlin (Haus Tabea), in: ADE CA/G 387, fol. 312–355. 57  Vgl. Kaiser, Sozialer Protestantismus, S. 380. 58  Siehe allgemein zur Geschichte von jüdischen Mischlingen Franklin A. Ober­ laender, „Wir aber sind nicht Fisch und nicht Fleisch“. Christliche „Nichtarier“ und ihre Kinder in Deutschland, Opladen 1996; Aleksandar-Saša Vuletic, Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich. Verfolgung und organisierte Selbsthilfe 1933–1993, Mainz 1999; Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungs­ erfahrung, Hamburg 2007; dies., Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2011.

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Durch das „Ehegesundheitsgesetz“ war formal ein „Ehetauglichkeitszeugnis“ vorgeschrieben worden, das im Rahmen einer Beratung von den bereits im Frühjahr 1935 geschaffenen „Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege“ bei den Gesundheitsämtern auszustellen war.59 Das Thema der Eheberatung blieb auch in der Folge virulent, da die Frage der Ehevermittlung Sterilisierter als Folgeproblem des Ehegesundheitsgesetzes immer drängender wurde.60 Horst Fichtner – Nachfolger Hans Harmsens im Referat Gesundheitsfürsorge des Centralausschusses für Innere Mission Hans Harmsen gab im Oktober 1937 seine Funktion als Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission auf. Er übernahm zum ersten Oktober 1937 die Stelle des leitenden Arztes der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege. Harmsen nahm noch bis in das Jahr 1938 hinein seine nebenamtlichen Posten als Vorsitzender verschiedener Ausschüsse etc. weiter wahr und bereitete die nächste Sitzung des „Ständigen Ausschusses“ im Februar 1938 vor. Er hatte zudem noch einen „Vorschlag für die Neuordnung der Bearbeitung der gesundheitsfürsorgerischen Fragen im Central-Ausschuss für die Innere Mission“ mit Personalvorschlägen hinterlassen. Hier schlug er u. a. vor, dass der Betheler Chefarzt Werner Villinger, einer der eifrigsten Teilnehmer an den Ausschusstagungen bis dahin, sein Nachfolger im Vorsitz des „Ständigen Ausschusses“ werden sollte. Er regte zudem einen unabhängigen ärztlichen Beirat aus acht bis zwölf Ärzten für den Vorstand des Centralausschusses an, der diesen aus ärztlicher Sicht beraten sollte.61 Hierin spiegelte sich Harmsens mangelndes Vertrauen in den Fortgang der erbbiologischen Diskussion in der Inneren Mission, sofern sie nur theologisch und nicht ärztlich begleitet würde. Neuer Leiter der Abteilung Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss wurde schließlich der sächsische Arzt und Theologe Dr. med. und Dr. phil. 59  Vgl. die Wiedergabe eines Runderlasses des Preußischen Ministers des Innern vom 19. Oktober 1935 „Durchführung des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz)“, in: Gesundheitsfürsorge 9 (1935), S. 362–363. 60  Für die nächste Tagung des Ständigen Ausschusses im September 1936 wurde dann auch ein entsprechender Themenblock für diese Fragen der Nachsorge für Sterilisierte reserviert. Vgl. die beiden Fassungen der Einladungen vom 22. Juli 1936 und 20. August 1936, (ADE, CA/G 388, Bl. 18 u. 19). 61  Für diese Angaben aus der aufgrund des Personenschutzes noch gesperrten Personalakte Harmsens danke ich Dr. Michael Häusler vom Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung.



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Horst Fichtner (1893–1961), der sich u. a. mit verschiedenen Arbeiten über die Krankenhausseelsorge profiliert hatte. Damit war eine Trennung des Vorsitzes des „Ständigen Ausschusses“ von der Abteilungsleitung im Centralausschuss durchgeführt. Fichtner nahm allerdings an der nächsten Sitzung des Ausschusses teil. Er hatte Theologie und Medizin studiert, im Diakonissenhaus in Leipzig-Lindenau als Medizinalpraktikant gearbeitet und war von 1919 bis 1921 als Mitarbeiter der Inneren Mission Leipzig tätig. Er wurde Domprediger an der Sophienkirche in Dresden und in den 1930er Jahren für die Deutschen Christen Mitglied des Landeskirchenausschusses in Sachsen. Von 1938 bis 1940 leitete er das Referat Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission. Seit Juni 1940 war er Superintendent in Lübben, ab 1943 Oberkonsistorialrat und Propst am Evangelischen Konsistorium Berlin-Brandenburg. Nach 1945 übte er einen Lehrauftrag für Evangelische Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Humboldt Universität Berlin aus. In seinen letzten Lebensjahren war er seit 1955 Vorsitzender der Berliner Stadtmission. Villinger lud im Januar 1938 als neuer Vorsitzender ein und verband diese Tagung mit einer Sitzung der Arbeitsgemeinschaft leitender Ärzte der evangelischen Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten.62 Als Folge der ausdrücklichen Aufforderung Villingers an die Mediziner der Arbeitsgemeinschaft, auch an der Tagung des „Ständigen Ausschusses“ teilzunehmen, kamen überdurchschnittlich viele Anstaltsärzte zu dieser letzten überlieferten Sitzung im Februar 1938.63 Villinger machte Bemerkungen über die neuen Auslegungen des Sterilisationsgesetzes, wobei er die einzelnen Diagnosen durchging und dabei immer wieder in Diskussionen mit den Teilnehmern eintrat. Die längsten Ausführungen wurden der Diagnose des „angeborenen Schwachsinns“ gewidmet. Die Erbgesundheitsgerichte sollten verstärkt die „Lebensbewährung“ in Anschlag bringen. Die einzige Äußerung, die von Horst Fichtner überliefert ist, lautet, wenn „das Urteil des Theologen relativ günstig ausfällt, so ist das doch nicht als 62  Einladungsschreiben Prof. Villinger zur Sitzung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege am 19. Januar 1938 in Berlin (8. Januar 1938), in: ADE, CA/G 388, fol. 110; maschinenschriftlicher Durchschlag Dokument 61 und Entwurf der Einladung „Arbeitsgemeinschaft leitender Ärzte der evangelischen Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten, Bethel (Prof. Villinger [o. D.], in: ADE, CA/G 388, fol. 110 und die Einladung zur „Arbeitsgemeinschaft leitender Ärzte der evangelischen Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten, Bethel (Prof. Villinger) 7. Februar 1938“, in: ADE, CA/G 368 [unpag.]. 63  So waren von den 28 Anwesenden zehn Anstaltsärzte (siehe die Teilnehmerliste, Diskussionsprotokoll der Tagung des Ständigen Ausschusses für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege, 24. Februar 1938 in Berlin, in: ADE, CA/G 388, fol. 120– 133).

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unsachlich zu bezeichnen“. Er hoffte auf eine Mäßigung der Urteilspraxis, die faktisch durch die Einbeziehung der „Bewährung im L ­ eben“ bereits eingesetzt hatte. Pastor Hermann Wagner, seit 1929 Leiter des „Volkswachtbundes“ und Herausgeber der Zeitschrift „Christliche Volks­wacht“64, sah in den neuen Auslegungen gar eine Wende zum „Primat des Herzens gegenüber dem Primat des Verstandes“. Auch bei anderen Diagnosen wurde die Vorsicht in der Auslegungspraxis angesprochen. Insbesondere bei körperlichen Missbildungen sollte mit Rücksicht auf die ansonsten befürchtete Diskreditierung des Sterilisationsgesetzes in der Bevölkerung nachsichtig mit den Betroffenen umgegangen werden. Der weitere sächsische Teilnehmer in der Sitzung, der Theologe Fritz Hermann Mieth (1897–1963), der von 1931 bis 1946 Direktor des Vereins für Innere Mission in Leipzig war, machte keine Wortäußerungen in der Sitzung.65 Die anschließend vorgetragenen Referate von Hermine Bäcker über den Stand des Bewahrungsgesetzes und von Anstaltsarzt Dr. Wilhelm Wittneben über Homosexualität in den Anstalten sind nicht überliefert. Die Chancen für ein Bewahrungsgesetz wurden jedoch gerade von Villinger als schlecht eingeschätzt. Ende 1937 hatte das Reichsinnenministerium in einem Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei stark in die bisher als fürsorgerische Frage betrachtete Diskussion eingegriffen. Im ­ ­April 1938 regelten Richtlinien des Reichskriminalpolizeiamtes den Kreis mög­licher Vorbeugehäftlinge, zu denen auch sogenannte „Asoziale“ gezählt wurden. Im Juni sollten im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ pro Stapoleitstellenbezirk 200 sogenannte Vagabunden, Bettler und als Zuhälter Verdächtige verhaftet und in Konzentrationslager überführt werden.66 64  Vgl.

zu Wagner die Arbeit von Genkel, Umgang mit Leben, S. 1 f. Mieth und seinem Organisationstalent siehe die Bemerkungen bei Heinrich Schumann, Die Geschichte der Inneren Mission in Leipzig 1869–1959, o. O., o. D. [1960], S.  162 f. 66  Die Debatte über ein Bewahrungsgesetz führte weiter zu Entwürfen eines „Gemeinschaftsfremdengesetzes“ im Kriege, in dem für die einbezogenen Merkmalsgruppen („Arbeitsscheu“, „Liederlichkeit“, „Betteln“, „Landstreichen“, „Arbeitsbummelei“, „Dieberei“, „Unverträglichkeit oder Streitlust“, „Neigungsverbrecher“) auch die Zwangssterilisation vorgesehen war. Aufgrund von Ressortstreitigkeiten wurde es allerdings bis zum Kriegsende nicht mehr erlassen. Vgl. die Beschreibungen bei Detlev Peukert, Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986, S. 274–291; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 258–298; Eckhardt Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Augsburg 1991, S. 277–288; Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 139–165. 65  Zu



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Der Beitrag von Wittneben über Homosexualität in den Anstalten stand vor dem Hintergrund der sich bis 1938 voll entfaltenden antiklerikalen Propaganda gegen Einrichtungen der katholischen Kirche. Umfangreiche staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen katholische Ordensangehörige hatten zu Verurteilungen und Schließung katholischer Anstalten geführt.67 Hier hatte man Angst, ebenfalls betroffen zu werden und wollte wie bereits 1935 prophylaktisch wirken. Der abschließende Bericht von Pfarrer Wagner über die angeschlagene Lage des Organs des „Ständigen Ausschusses“, der Zeitschrift „Christliche Volkswacht“, machte symbolträchtig klar, dass das Interesse für die hier behandelten sittlichen oder auch erbbiologischen Themen geringer geworden war. Dies galt auch für die Bedeutung des „Ständigen Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege“. Er trat danach nicht mehr zusammen. Die Sitzung des Ständigen Ausschusses vom 24. Februar 1938 ist die letzte dokumentierte Sitzung. Es lassen sich allerdings für die Folgejahre erfolglose Versuche nachweisen, eine weitere Sitzung des Ausschusses zustande zu bringen. Die Gründe sind zahlreich. Neben Terminproblemen war es die abnehmende Bedeutung dieses Gremiums, in dem die Ärzte immer dominanter wurden. Zudem schob sich seit 1939 bereits das Thema der „Euthanasie“ immer stärker in den Vordergrund. Für eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der leitenden Ärzte evangelischer Heilerziehungs- Heil- und Pflegeanstalten sollte nicht nur von Villinger über „Das Erbkrankheitenverhütungsgesetz und seine Durchführung“ wie über „Das neue Ehegesetz und seine Auswirkungen“ berichtet werden. Der leitende Arzt der Neuendettelsauer Anstalten, Rudolph Boeckh, war für ein Referat über „Euthanasie“ eingeplant. Die von Boeckh bekannten Entwürfe und Vorträge über das Euthanasiethema deuten auf eine bejahende Haltung dieses 1936 aus Bethel an die Neuendettelsauer Anstalten gekommenen Arztes.68 In einem auf den 23. Februar 1939 datierten Entwurf „Zur EuthanasieFrage“ sprach er sich in Anlehnung an die Schwangerschaftsunterbrechung 67  Vgl. Hans-Günther Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971. 68  Siehe die Beiträge von Christine-Ruth Müller, Die Neuendettelsauer Anstalten und die Verlegung der Pfleglinge in staatliche Heil- und Pflegeanstalten während der Euthanasiemaßnahmen in den Jahren 1940/41 (eine theologie- und diakoniegeschichtliche Analyse), in: Christine-Ruth Müller/Hans-Ludwig Siemen (Hg.), Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im „Dritten Reich“, Neustadt/Aisch 1991, S. 3–122, S. 54–58; Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Im Zeitalter der Weltkriege. Die Diakonissenanstalt Neuendettelsau unter den Rektoren Hans Lauerer (1918–1953) und Herman Dietzfelbinger (1953–1955), Neustadt/Aisch 2014, S. 292–295.

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für die Berechtigung der „Euthanasie“ in Einzelfällen aus. „Euthanasie ist die letzte Konsequenz der Eugenik.“69 In einem Vortragsmanuskript „Über die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sprach er dem „Führer“ das Recht auf die Entscheidung über die Vernichtung lebensunwerten Lebens zu. Mit Villingers Berufung zum Ordinarius und Direktor der UniversitätsNervenklinik Breslau Anfang 1940 und damit Weggang von Bethel versiegte auch der Elan dieses Ersatzgremiums. Dabei wurde gerade im Jahre 1940 die Frage der „Euthanasie“ im Sinne der nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmorde aktuell. Der Nachfolger Harmsens in der Leitung der Abteilung Gesundheitsfürsorge beim Centralausschuss für Innere Mission, Horst Fichtner, regte gegenüber Villinger im August 1940 eine Sitzung des „Ständigen Ausschusses“ an: „Insbesondere müssten wir wohl die Fragen der Euthanasie einmal neu durchdenken.“70 Es war ihm jedoch fraglich, ob sich „unter den heutigen Umständen“ die Ärzte und Anstaltsleiter würden freimachen können. Eine Tagung kam schließlich nicht zustande. Der konkrete Hintergrund des Auftauchens der Frage der „Euthanasie“ im August 1940 lag in der Konfrontation der evangelischen Einrichtungen mit Abtransporten von Patient/innen im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ im Frühjahr und Sommer 1940. Der Lobetaler Anstaltsleiter und Vizepräsident des Centralauschusses, Paul Gerhard Braune, stellte bis zum Juli 1940 eine Denkschrift gegen die NS-„Euthanasie“ zusammen. Dabei informierte Walter Schadeberg den Autor u. a. über die frühen Krankenmorde durch Nahrungsentzug in Sachsen, was diese Form der Tötung bereits früh auf protestantischer Seite bekannt machte.71 69  Hans Rößler, Ein neues Dokument zur „Euthanasie“-Diskussion in Neuendettelsau 1939, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, 57 (1988), S. 87–91, S. 89. 70  Fichtner an Villinger 23. August 1940, in: ADE, CA/G 389, fol. 208. Der im Januar 1938 zum Nachfolger Harmsens bestimmte Horst Fichtner blieb zunächst noch Domprediger an der Sophienkirche in Dresden und wurde zum ersten Juni 1940 Superintendent in Lübben. Zeitgleich scheint ein Wechsel im Referat Gesundheitsfürsorge vorgesehen gewesen zu sein, denn der Geschäftsführer des Landesvereins für Innere Mission in Hessen-Kassel, Werner Karig, rechnete Anfang August 1940 fest mit einer Berufung in den Centralausschuss, die offenbar mit Blick auf die „neuesten Ereignisse“ (damit war die Eingabe des Centralausschusses mit der Denkschrift Braunes gegen die Krankenmorde gemeint) nicht stattfand. Vgl. Schirmacher an Präsident Frick, 14. August 1940, in: ADE, CA 2892 [unpag.] u. CA/P II 51 (Personalakte Horst Fichtner). 71  Vgl. LeRoy Walters, Paul Braune Confronts the National Socialist’s „Euthanasia“ Program, in: Holocaust and Genocide Studies 21 (2007), S. 454–487. Schadeberg gab dabei die Berichte von Fürsorgerinnen wie Therese von Helmolt u. a. weiter, die verlegte Mündel aus sächsischen Anstalten in z. B. der Zwischenanstalt Waldheim besucht hatten. Schadebergs eigene Haltung geht aus seinen Bemerkungen gegen jede



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Der „Ständige Ausschuss für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege der Inneren Mission“ hatte damit nichts Entscheidendes mehr zu tun. Er wurde wohl auch vom zuständigen Referenten des Centralausschusses, Fichtner mehr als Gremium zur Auseinandersetzung über die wissenschaftlichen Hintergrundfragen gesehen denn als ein Widerstandszirkel von Anstaltsleitern und Ärzten. In der letzten überlieferten Einladung zu einer „Arbeitsbesprechung“ heißt es, die in den „wissenschaftlichen Arbeiten“ von Wilhelm Kranz, Fred Dubitscher, Hans Löhr und Wolfgang Stroothenke72 „aufgeworfene Problematik erfordert auch im Raum der Inneren Mission erneutes systematisches Durchdenken“.73 Von den angeschriebenen fünfzehn Personen sagte allerdings die Mehrzahl ab.74 Die Gründe dafür sind nicht überliefert. Neben den Schwierigkeiten des Reisens insbesondere in der zweiten Kriegshälfte deuten die Absagen auch auf die Irrelevanz einer solchen „Arbeitsgemeinschaft“ unter Kriegsbedingungen hin. Die erste Krankenmordwelle war bereits durch die Anstalten durchgelaufen und Reflexionen über wissenschaftliche Hintergrundfragen von „Gemeinschaftsunfähigkeit“ und „Euthanasie“ besaßen keinerlei Praxisrelevanz mehr. Im Kampf um ihre Patienten waren die Anstaltsleiter der Einrichtungen der Inneren Mission im allgemeinen auf sich allein gestellt und versuchten nur in manchen Fällen, regionale Koalitionen (so in Westfalen und Rheinland) zu gemeinsamem Handeln zu bilden oder Einzelabsprachen mit der großen Anstalt Bethel zu treffen.

Form der „barmherzigen Spritze“ und die Funktion der Inneren Mission für die Pflege der Elenden in einer Schrift 1938 hervor. Vgl. Erich Bodenstein/Walter Schadeberg, Unsere Innere Mission. Arbeitsberichte aus der sächsischen Inneren Mission, Dresden 1938, S.  34 f. 72  Vgl. Heinrich Wilhelm Kranz, Die Gemeinschaftsunfähigen. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen und praktischen Lösung des sogenannten „Asozialenproblems“, 3 Bde., Gießen 1939–1941, Fred Dubitscher, Asoziale Sippen. Erb- und sozialbiologische Untersuchung, Leipzig 1942, Hanns Löhr, Aberglaube und Medizin, Leipzig 1942; Wolfgang Stroothenke, Erbpflege und Christentum, Leipzig 1940. 73  Einladung zu einer „Arbeitsgemeinschaft“ über Fragen der Erb- und Rassenpflege zum 10. IX. 1942 (13.  Juni 1942), in: ADE, CA/G 388, fol. 138, maschinenschriftliche Durchschrift. 74  Siehe hierzu die Notiz „Es ist vorgesehen, folgende Herren einzuladen …“, in: ADE, CA/G 388, zu fol. 136. Hier wurden die Namen Frick, von Bodelschwingh, Braune, Weiss, Happich, Nell, Behr, Vietor, Kracht, Heyne, Depuhl, Hagen, Boeckh, Philipps und Fichtner genannt. Auch spätere Versuche, eine Zusammenkunft zu organisieren (siehe Fichtner an Bodelschwingh 26. November 1942 und Fichtner an Nell, 9. Januar 1943, in: ADE, CA/G 389, fol. 221–222) scheiterten offenbar. Mit diesen Schreiben enden die Akten.

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Fazit Die evangelischen Vertreter nahmen eine die Eugenik und Erbgesundheitspolitik des Nationalsozialismus befürwortende Haltung und eine die „Euthanasie“ ablehnende Position ein, wofür insbesondere die in Sachsen als Ärzte oder Theologen sozialisierten und/oder agierenden Teilnehmer zeugen. An dem frühen Skeptiker gegenüber dem Mittel der Sterilisation zur Verbesserung des „Volkskörpers“ und späteren Euthanasietäter Carl Schneider wird die Spannweite deutlich, die dennoch im Einzelfall bis zur Vernichtungspolitik reichen konnte. Eugenikbefürworter wie Ewald Meltzer, Alfred Dedo Müller, Erich Karl Knabe oder auch Gertrud Wüstenhagen lehnten dagegen die „Euthanasie“ ab. Die eigene Haltung entsprach der Orientierung an einem Konzept von Volkssittlichkeit, das die Sterilisation nicht nur als eugenische Politikmaßnahme wahrnahm, sondern auch als Strafe für sittliches Fehlverhalten. Hier hoffte man, im eigenen Sinne einer volkssittlichen Stärkung die NS-Politik mitsteuern zu können. Insbesondere die Ausweitung zu einer eugenischen Indikation für den Schwangerschaftsabbruch 1935 zeigte jedoch die nur begrenzten eigenen Einflussmöglichkeiten. Die eine Partnerwahl einschränkenden Ehegesetze waren eine direkte Folge der NS-Rassenpolitik. Auch der Wandel in der Auslegungspraxis des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ging auf Machtkämpfe zwischen Vertretern von Staat und Partei zurück, wobei die Innere Mission keine Rolle mehr spielte. Man hinkte hinter der Rechtspraxis her und hoffte, die selbst mitgeschaffenen Opfer der Zwangssterilisation in einem fürsorgerischen Sinne „betreuen“ zu können und den von diesen erfahrenen Zwang abzufedern. Die Debatten über eine Ehevermittlung für Sterilisierte zeigen die Versuche, das eigene christliche Familienideal mit der rassistischen Biologiepolitik des Nationalsozialismus zu versöhnen. So konnten die Vertreter im „Ständigen Ausschuss für Rassenhygiene und Rassenpflege“ der Radikalisierung der NS-Rassenpolitik keinen ausreichenden Widerstand entgegensetzen. Der eugenische Fachausschuss tagte nach dem Ausscheiden seiner antreibenden und organisierenden Persönlichkeit, Hans Harmsen, nur noch einmal im Jahre 1938. Wesentliche Impulse zur Trennung der Bereiche der Eugenik von der „Euthanasie“ gingen von hier nicht mehr aus. Überlegungen zur modernen Euthanasieliteratur wirkten hilflos angesichts des anlaufenden Mordes an den kranken und behinderten Anstaltsinsassen. Die sächsischen Vertreter stellten dabei keine Ausnahme dar. Nur in Einzelfällen, wie von Walter Schadeberg überliefert, konnte durch Informationsbeschaffung zumindest der nichtöffentliche Versuch Paul Gerhard Braunes im Jahr 1940, durch eine Denkschrift an die Reichskanzlei eine Einschränkung des Massenmordes an den kranken und behinderten Men-



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schen zu erreichen, gestärkt werden. Andere Teilnehmer der Ausschussberatungen bis 1938 wie Carl Schneider oder Werner Villinger fanden sich 1940 bereits auf der anderen Seite einer die Menschen mittels Gas, Medikamenten oder Hunger ausmerzenden Mordpolitik des Nationalsozialismus wieder. Literatur Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995. Bäcker, Hermine: Verwahrung und Bewahrung, in: Die Innere Mission 27 (1934), S. 22–25. Becker-v. Rose, Petra: Carl Schneider – wissenschaftlicher Schrittmacher der Euthanasieaktion und Universitätspsychiater in Heidelberg 1933–1945, in: Gerrit Hohendorf/Achim Magull-Seltenreich (Hg.), Von der Heilkunde zur Massentötung. Medizin im Nationalsozialismus, Heidelberg 1990, S. 91–108. Binding, Karl/Hoche, Alfred E.: Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Untersuchungen zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. Bodenstein, Erich/Schadeberg, Walter: Unsere Innere Mission. Arbeitsberichte aus der sächsischen Inneren Mission, Dresden 1938. Böhm, Boris/Jehne, Stefan: Die Rolle der Justiz in der NS-Zwangssterilisationspolitik in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen 1933–1945, Dresden 2016, S. 20– 28. Böhme, Michael: Art. „Müller, Alfred Dedo“, in: Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon, Bd. 20 (2002), Sp. 1056–1059. Boeters, Gustav: Die eugenische Sterilisierung nach geltendem Recht, in: Deutsches Ärzteblatt 62 (1933). Corsten, Michael: Biographie, Lebensverlauf und das „Problem der Generation“, in: BIOS 14 (2001), H. 2, S. 32–57. Dietzel, Stefan: Reinhold Seeberg als Ethiker des Sozialprotestantismus. Die „Christliche Ethik“ im Kontext ihrer Zeit, Göttingen 2013, S. 213–223. Dubitscher, Fred: Asoziale Sippen. Erb- und sozialbiologische Untersuchung, Leipzig 1942. Ganssmüller, Christian: Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln/Wien 1987. Genkel, Ingrid: Vom Umgang mit Leben. Bevölkerungs-, Familienpolitik und Sexualethik im Rahmen der Inneren Mission, Hamburg 2002. Grossmann, Atina: Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform 1920–1950, Oxford 1995, S. 204–211.

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Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“ Von Bettina Westfeld Einführung Auf den ersten Blick mag es überraschen, in einer Publikation, die sich ausdrücklich mit Vorgängen und Einstellungen von Verantwortlichen in ­konfessionellen Heimen und Einrichtungen während der Zeit des National­ sozialismus vor Ort beschäftigen will, den sächsischen Landesverein für Innere Mission, verantwortlich für die Organisation der sozialen Arbeit in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, zu untersuchen. Zwei Gründe sprechen dafür: Zum einen fungierte der 1867 gegründete Landesverein für Innere Mission in Sachsen1 als Netzwerkverein für 42 Stadt- und Kreisvereine2 und Dutzende weitere Vereine, die Träger von Altersheimen, Erholungsheimen oder Ausbildungseinrichtungen waren. So sorgte er für einen Austausch zwischen den ihm verbundenen Einrichtungen, Heimen und missionarischen Initiativen. Beispielsweise wurden seit 1916 in der „Sozialen Frauenschule Dresden.“ Frauen ausgebildet, die vor Ort in den Gemeinden halfen, die soziale Not zu lindern, aber auch in staatlichen Ämtern als Sozialarbeiterinnen gefragt waren.3 Ebenso unterstützte die „Posaunen­mission“4 volksmissionarische Aktivitäten von Vereinen und Kirchgemeinden, in denen versucht wurde, der Abwendung und dem Desinteresse zahlreicher Bevölke1  Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017. 2  Stand 1932, siehe Landesverein für Innere Mission Sachsen (Hg.), Jahresbericht des Landesvereins für Innere Mission 1929–1932, Dresden 1933. 3  Heike Seickel, Die Soziale Frauenschule des Landesverbandes für christlichen Frauendienst in Sachsen. Geschichte einer kirchlichen Ausbildungsstätte für Frauenbildung, Dresden (unv. Diplomarbeit) 1998 und Angelika Engelmann, Die Anfänge der Professionalisierung sozialer Arbeit in Dresden am Beispiel der sozialen Frauenschule des Landesverbandes für christlichen Frauendienst in Sachsen, in: Holger Starke (Hg.), Aus der jüngeren Dresdner Kirchengeschichte. 7. Kolloquium zur dreibändigen Dresdner Stadtgeschichte 2006 vom 29. März 2003, Dresden 2004, S. 41–47. 4  Karl-Ernst Müller, Geschichte der Sächsischen Posaunenmission aus Anlass des Gesamtdeutschen Posaunentages am 31. Mai 2008 in Leipzig, in: Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e. V. 48 (2008) 1, S. 55–59.

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rungsgruppen gegenüber den Ideen des Christentums etwas entgegenzusetzen. Zusätzlich dienten eigene Ausbildungsstätten für Frauen und Männer, die in Kindergärten, Horten oder Heimen verschiedener diakonischer Vereine vor Ort arbeiteten, der Qualitätssicherung der sozialen Arbeit der evangelischen Kirche. Sichtbares Zeichen der Vernetzung war die Zeitschrift „Bausteine“, die seit 1868 vom Landesverein für Innere Mission in Sachsen herausgegeben und monatlich an alle Mitgliedsvereine und Kirch­gemeinden in Sachsen verteilt wurde. Zum anderen lag in den Händen des sächsischen Landesvereins, anders als bei seiner Gründung gedacht, auch die unmittelbare Verantwortung für diakonische Einrichtungen. Neben dem Kindererholungsheim „Bethlehemstift“ in Augustusbad bei Radeberg, dem „Frauenheim“ Tobiasmühle bei Radeberg, dem Mädchenheim Berthelsdorf bei Herrnhut und dem Altersheimstift „Wilhelma“ in Weinböhla betrieb er seit 1889 in Eigenregie die „Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische“ in Kleinwachau, unweit von Radeberg bei Dresden.5 Weiterhin kam im Jahre 1934 noch der „Katharinenhof“ in Großhennersdorf in der sächsischen Oberlausitz hinzu.6 Diese Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit schwersten geistigen und körperlichen Behinderungen wurde vom Land Sachsen für 20 Jahre an den Landesverein für Innere Mission verpachtet. Durch die Doppelfunktion als Vernetzungsorganisation und Träger von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen eignet sich daher der Landesverein für Innere Mission in Sachsen auf besondere Weise, die Herausforderungen für die diakonische Arbeit im Nationalsozialismus für Sachsen zu beschreiben.7 So fallen die Verantwortung für die Existenz der gesamten sozialen Arbeit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und die Verantwortung für den einzelnen betreuten Menschen zusammen.

5  http://geschichte.kleinwachau.de/

abgerufen am 22. Januar 2020. Böhm/Hagen Markwardt/Jürgen Trogisch (Bearb.), „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934–1941, Dresden 2017. 7  Die Geschichte des Landesvereins für Innere Mission Sachsen im Nationalsozialismus zu schreiben, ohne auf die bewegten Entwicklungen in der sächsischen Landeskirche einzugehen, ist unmöglich. Dennoch fokussiert sich der Artikel auf die Vorgänge in der Inneren Mission und erwähnt konkrete Entwicklungen in der Kirche nur, wenn es unmittelbare Folgen für die diakonische Arbeit hatte. Prinzipiell gilt, dass der Kirchenkampf zwischen Bekennender Kirche, Mitte und Deutschen Christen in Sachsen mit besonderer Härte ausgetragen wurde und damit die mögliche Schutzfunktion der Amtskirche für die Arbeit der Inneren Mission gegenüber den sich immer mehr verstärkenden Eingriffen des NS-Staates weitgehend ausfiel. 6  Boris



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“75

Innere Mission Sachsen und der Nationalsozialismus Die Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurde in weiten Teilen des Landesvereins freudig begrüßt. Wie viele evangelische Christen in Sachsen hoffte die Mehrheit der Vereinsgeistlichen, die diakonische Tätigkeit der Kirche ausweiten zu können und vor allem wieder mehr Menschen mit der Botschaft des Christentums zu erreichen. Die Zeit der „Vernunftrepublikaner“ war vorbei.8 Bereits im Jahre 1931 waren drei der fünf Vereinsgeistlichen des Landesvereins in die NSDAP eingetreten. Die Pfarrer Adolf Müller, Adolf Wendelin und Friedrich Coch, der spätere „braune“ Landesbischof,9 förderten deshalb die Beschäftigung mit der Ideologie des Nationalsozialismus und standen Pate für das Thema der jährlichen Vereinstage des Landesvereins im ­April 1931: „Was haben wir als evangelische Christen zum Rufe des Nationalsozialismus zu sagen?“10 Folgerichtig liest sich die Erklärung von den Vereinstagen zwei Jahre später am 2. Mai 1933: „Die Innere Mission Sachsens, zu ihrer 67. Jahrestagung in Dresden versammelt, begrüßt freudig das neue Reich, dass sich auf christlichen Glauben und deutsches Volkstum gründet. Die Innere Mission, die an ihrer hundertjährigen Geschichte in diesem Sinne gearbeitet hat, ruft alle ihre Mitglieder und Mitarbeiter zum freudigen Dienst am Neuaufbau der Volks­ gemeinschaft.“11 Die Loyalitätserklärung an die Nationalsozialisten war kein sächsisches Phänomen, sondern ähnlich lautende Äußerungen ließen sich fast im gesamten „Dritten Reich“ nachweisen. So stellten sich hochrangige Vertreter der evangelischen Kirchen in Deutschland willfährig in den Dienst der Nationalsozialisten, als es um die Inszenierung der Versöhnung von monarchistischen 8  Zur Entwicklung der sächsischen Landeskirche in der Weimarer Republik: Gerhard Lindemann, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche im gespaltenen Freistaat Sachsen, in: Konstantin Hermann/Mike Schmeitzner/Swen Steinberg (Hg.), Der gespaltene Freistaat. Neue Perspektiven auf die sächsische Geschichte 1918–1933, Leipzig, Dresden 2019, S. 303–324. 9  Gerhard Lindemann, Friedrich Coch, Ein aktiver Parteigenosse als sächsischer Landesbischof, in: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 202–207; Gerhard Lindemann, Friedrich Coch. Der Weg einer „braunen Karriere“ in der Landeskirche, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz. Biografien der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017, S. 61–86. 10  Bausteine. Blätter für Innere Mission in Sachsen 63 (1931), S. 70. 11  Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung (ADE), Bestand A. I. Centralausschuss (Landesverein für Innere Mission der Evangelisch-­ Lutherischen Landeskirche Sachsens in Dresden), Nr. 621 Vol. III.

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und nationalsozialistischen Anhängern beim „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 ging.12 Als Versicherung, dass die neuen Machthaber die Kirche und ihre Innere Mission achten und ihren Aktivitäten einen größeren Raum einräumen würden, galt vielen Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP.13 Nach dem plötzlichen Tod von Landesbischof Ludwig Ihmels am 7. Juni 1933 begann ein langwieriges Ringen innerhalb der sächsischen Landeskirche sowie zwischen Staat und Kirche um dessen Nachfolge. Der langjährige Vorsitzende des Landesvereins für Innere Mission in Sachsen, Generalleutnant a. D. Woldemar Graf Vitzthum von Eckstädt, versuchte bis zum Schluss seiner Amtszeit, auch als Präsident der 15. Landessynode der EvangelischLutherischen Landeskirche Sachsens, eine Übertragung des Bischofsamtes auf „seinen Vereinsgeistlichen“ Friedrich Coch zu verhindern. Als letzter Nichttheologe auf dem Posten trug Graf Vitzthum von Eckstädt den eingeschlagenen Kurs seiner drei Vereinsgeistlichen nicht mit. Sein Engagement speiste sich weniger aus einem Bekenntnis zur Demokratie als aus seiner monarchistischen Gesinnung. Er erklärte am 1. Juni 1933, dass er bis spätestens zum 1. Oktober zurücktreten werde.14 Obwohl er schon ein hohes Alter erreicht hatte, waren es vermutlich kirchenpolitische Gründe, die zu seinem Rücktritt führten. Der Präsident der ersten Landessynode nach dem Zweiten Weltkrieg in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Reimer Mager, würdigte Graf Vitzthum von Eckstädt am 5. April 1948: „So kam ich mit ihm in Berührung, als es nach 1933 galt, für die echte Kirche gegenüber der Unkirche einzutreten. Er wie ich wurden damals Brüder der Bekennenden der ev.-luth. Kirche und ihres Vorläufers, der Gemeindebewegung der ev.luth. Volkskirche Sachsens.“15

Schließlich entschied die sächsische Regierung die innerkirchliche Frage. Der sächsische Innenminister Karl Fritsch ernannte den Vereinsgeistlichen der Inneren Mission Sachsen Coch am 30. Juni 1933 zum kommissarischen Landesbischof. Das Amt hatte er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges inne. Zu Graf Vitzthum von Eckstädts Nachfolger wurde der seit 1911 als Vereinsgeistlicher im Landesverein tätige Pfarrer Adolf Wendelin vom Di12  Manfred Gailus, Ein großes freudiges „Ja“ und ein kleines, leicht überhörbares „Nein“. Der „Tag von Potsdam“ (21. März 1933) und die Kirchen, in: Manfred G ­ ailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015, S. 32–50. 13  „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.“ Parteiprogramm der NSDAP 1920 https://volksberichtshof.wordpress.com/25-punkte-programm-dernsdap/ abgerufen am 5. Februar 2020. 14  Bausteine 780 (1933), S. 96. 15  Landeskirchenarchiv Dresden (LKADD), Bestand 1 Landessynode der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Nr. 1, Bl. 75.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“77

Abb. 1: Adolf Wendelin. Nach 1945 wurde offenbar versucht, sein Parteiabzeichen der NSDAP zu retuschieren, Archiv des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.

rektorium gewählt. Seit dieser Zeit werden die Geschicke der Inneren Mission in Sachsen nicht mehr von Laien, sondern maßgeblich von ordinierten Geistlichen bestimmt.16 Der Landesverein der Inneren Mission wurde unter Wendelin nach dem „Führerprinzip“ umorganisiert. Er übernahm die Position des „Landesführers“. Mit der „Verordnung über die Führung des Landesvereins für die I. M. vom 29. August 1933“ wurde Wendelin ernannt.17 Das „Führerprinzip“ wurde auch auf weitere Einrichtungen der sächsischen Inneren Mission übertragen. So ist in der Anstaltschronik der Moritzburger Bruderanstalt für den 10. September 1933 vermerkt: „Der Rektor wird durch den Landesführer für Innere Mission zum Führer für den Verein Brüderanstalt berufen.“18 16  Der massive Eingriff ist bis heute nicht behoben worden, wenn auch nach der Neugründung des Landesverbandes nach 1990 versucht wurde, die Beteiligung von Laien an der Leitung der sächsischen Diakonie zu erhöhen. 17  Bausteine 65 (1933), S. 146. 18  Ev.-Luth. Diakonenhaus Moritzburg e. V. (Hg.), Geschichte und Geschichten. Textsammlung aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums des Ev.-Luth. Diakonenhaus Moritzburg e. V. und der Gemeinschaft der Moritzburger Diakone und Diakoninnen am 1. Mai 1997, Moritzburg 1997, S. 10.

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Mit der Übernahme des „Führerprinzips“ folgte der sächsische Landesverein wie in der Weimarer Republik Entwicklungen auf der gesamtdeutschen Ebene. Gravierend an der Entwicklung in Sachsen war, dass nur wenige Landes- und Provinzialvereine der Inneren Mission im nationalsozialistischen Deutschland sich dem „Führerprinzip“ unterstellten. Die Innere Mission in Sachsen übernahm dieses Prinzip offensichtlich ohne interne Diskussionen.19 Der neue „Landesführer“ gehörte wie auch die beiden in der Mitte des Jahres 1933 aus der Inneren Mission ausscheidenden Vereinsgeistlichen Adolf Müller und Friedrich Coch der innerevangelischen Kirchenpartei Deutsche Christen (DC) an. Im November 1933 wurde Wendelin als außerordentliches Mitglied in das nun von Landeskonsistorium in Landeskirchenamt (LKA) umbenannte Amt als Oberkirchenrat (OKR) berufen. Seine Funktion als „Landesführer“ des Landesvereins für Innere Mission blieb davon unberührt. Die Berufung verdeutlichte die Verbundenheit von Wendelin zum Landesbischof Coch und bedeutete eine stärkere Einbindung des Landesvereins in die Strukturen der sächsischen Landeskirche. Die kam für die Innere Mission zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, da die sächsische Landeskirche durch den „Kirchenkampf“ geprägt und geschwächt war. Als Nachfolger von Friedrich Coch wurde Dr. Walter Schadeberg in das Amt eines Vereinsgeistlichen im Landesverein berufen. Schadeberg war kein Mitglied der NSDAP, aber von 1933 bis 1934 Mitglied bei den Deutschen Christen. Nach Kriegsende erklärte er im November 1945: „Als ich 1933 den Deutschen Christen beigetreten bin, habe ich gemeint, dies als Pfarrer einer Arbeitergemeinde aus volkskirchlicher Verantwortung tun zu müssen. Ich habe den Irrtum ebenso wie auf politischem Gebiet bald erkannt und bin im Sommer 1934 unter Protest ausgetreten.“20

Die Auseinandersetzung um den kirchenpolitischen Kurs in Sachsen war nicht nur im Kampf um das Bischofsamt sichtbar, sondern griff auch unmittelbar auf die Reihen der Inneren Mission über. So stritten die beiden ehemaligen Weggefährten im Dienst der Inneren Mission, „Landesführer“ Wendelin und der Vereinsgeistliche der Stadtmission aus Plauen im Vogtland, Pfarrer Adolf Amelung, erbittert um die Ausrichtung der evangelischen Kirche in Sachsen, die ihre diakonische Arbeit maßgeblich beeinflusste. Pfarrer Amelung schrieb am 2. Juni 1934 an Wendelin: „Ich danke es meinem Gott, dass er mich in die Gemeinschaft der Bekennenden Kirche hineingeführt hat, dass er mich in ihr nun auch den Kreis der IM-Leute hat 19  Georg Hinrich Hammer, Geschichte der Diakonie in Deutschland. Stuttgart 2013, S. 251. 20  LKADD, Bestand 2 Landeskirchenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Nr. 965 Erklärung von Dr. Walter Schadeberg am 4. November 1945.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“79 finden lassen, die sich mit dem besonderen Dienst in den Aufbau der Bekennenden Kirche hineinstellen wollen. Zu denen, mit denen ich einst in einer Front in der IM gestanden, jetzt das richtige Verhältnis zu finden, ist ungeheuer schwer […] aber es ist erst mal so viel zerrissen, zerschlagen, zertrümmert, dass erst mal eine zeitliche Distanz zu den Ereignissen nötig ist, um alles dessen Herr zu werden, was sich da an Enttäuschung aufgehäuft hat.“21

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden spitzte sich so zu, dass Wendelin 1934 als Zeuge gegen Amelung in einem Dienststrafverfahren des von Deutschen Christen dominierte Landeskirchenamtes auftrat und folgendes über das Verhalten von Pfarrer Amelung zu Protokoll gab. Amelung habe „durch sein starkes Hervortreten im kirchenpolitischen Kampf derartig stark in seiner Arbeit auf dem Gebiet der Inneren Mission behindert, dass diese darunter leiden muss. Sein erwähntes politisches und kirchenpolitisches Hervortreten hat dazu geführt, dass er bei […] der NS-Volkswohlfahrt kein Vertrauen gewonnen hat.“22

Pfarrer Adolf Amelung widersetzte sich bis zum Kriegsende erfolgreich gegen immer wieder gegen ihn verhängte Sanktionen, die von Seiten des Landeskirchenamtes ausgesprochen wurden.23 Bedeutsam in der Argumentation von Wendelin gegenüber Amelung war die Frage nach dem Umgang mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), die als neuer zentraler Akteur auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege in zunehmende Konkurrenz zur Inneren Mission trat. Dass der nationalsozialistische Staat die soziale Arbeit der evangelischen Kirchen langfristig verdrängen wollte, sah Adolf Wendelin in den Jahren 1933 und 1934 noch nicht. Im Dienst des NS-Staates 1933–1937 Anfänglich gab es ein überwiegend wohlwollendes Miteinander zwischen dem sächsischen Landesverein und dem NS-Staat. Auch nach der Auflösung der Liga für Freie Wohlfahrtspflege24 und der Umwandlung in die Reichsgemeinschaft konnte die Innere Mission zunächst ihre Arbeit ungehindert fortsetzen und teilweise ausweiten. Ein Beispiel dafür war die Verpachtung der Landesanstalt für sogenannte bildungsunfähige schwachsinnige Kinder in Großhennersdorf im Jahre 1934 durch das sächsische Ministerium des Innern, Abteilung Gesundheitswesen, für 20 Jahre an die Innere Mission. Die 21  LKADD,

Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Nr. 334, 1, Bl. 44. Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Nr. 334, 1, Bl. 49 f., Zeugenvernehmung am 29. Juni 1934. 23  Markus Hein, Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft, Leipzig 2002, S. 239 f. 24  Zusammenschluss wichtiger Träger der Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, z. B. Caritas, Innere Mission, Arbeiterwohlfahrt usw. 22  LKADD,

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Einrichtung, ursprünglich als Armen- und Waisenhaus ins Leben gerufen, führte seit ihrem Bestehen zur Ehrung der Mutter der Gründerin Henriette Sophie von Gersdorff (1648–1726)25 den offiziellen Namen „Katharinen­ hof“.26 Ein Ziel der Übernahme war die finanzielle Entlastung des Staates durch die Senkung der Pflegesätze durch den neuen Träger – die Innere Mission Sachsen. Treibende Kraft bei der Übernahme war der damalige Direktor der Landesanstalt, Dr. Ewald Meltzer, der in mehreren Schreiben gegenüber dem sächsischen Innenministerium für eine Übergabe an den Landesverein warb. Erschreckend war das Vokabular, mit dem er über die Kinder schrieb, die er betreute. So ist von „lästigen Kostgängern“ die Rede und er argumentierte weiter: „Es kann ihm [dem Staat] daher nur Recht sein, wenn die Innere Mission solche Anstalten übernimmt und dabei noch erreicht, dass die Lasten, die die Öffentlichkeit für die Minderwertigen nun einmal nicht ganz abschütteln kann, möglichst gering sind.“27

Nach dem Trägerwechsel am 1. Juli 1934 übernahm der Landesverein Dr. Ewald Meltzer in seine Dienste. Über die Beweggründe der Übernahme seitens des Landesvereins schrieb „Landesführer“ Wendelin in der Vereinszeitschrift „Bausteine“ im Juli 1934: „Wenn ich recht sehe, beginnt sich hier eine Art Arbeitsteilung abzuzeichnen. Der Staat sucht seine Aufgabe vor allem in der Erziehung und Förderung des rassisch Wertvollen. Das der andere Zweck, möglichst billig zu arbeiten, auch erreicht wird, sei nebenbei bemerkt. Denn jede Mark, die hier erspart wird, kann für die gesunde Volksgemeinschaft mit verwandt werden.“28

Obwohl sich der Landesverein für Innere Mission der rassischen und ökonomischen menschenverachtenden Logik der nationalsozialistischen Ideologie erschreckend anpasste, in einem Punkt widersprach Wendelin entschieden: „Wir gebrauchen nicht gern den für diese Kranken so oft gebrauchten Namen ‚minderwertiges Leben‘; Wir haben – Gott sei Dank – gelernt, dass es zwar sehr verschiedenartige Menschen, aber im Volksganzen keine verschiedenwertige Menschen gibt.“29 25  Robert Langer, Pallas und ihre Waffen. Wirkungskreise der Henriette Catharina von Gersdorff, Dresden 2008. 26  Alexander Wieckowski (Hg.), Der Katharinenhof und sein Inspektor Diaconus Heinrich Melchior Mühlenberg (Großhennersdorfer-Rennersdorfer Kirchengeschichten Heft 3), Großhennersdorf 2011, S. 7. 27  Brief Ewald Meltzer an Ministerialrat Brunst, 18. März 1933, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD), 10736/16999. 28  Grußwort OKR Wendelin am 1. Juli 1934 zur Übergabe des „Katharinenhofes“ an den Landesverein der IM, in: Zeitschrift der evangelischen Kranken- und Pflegeanstalten, August 1934, Nr. 8, S. 162. 29  Ebd.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“81

Weiterhin sprach Wendelin im Zusammenhang mit der Übergabe des „Katharinenhofes“ von einem „kameradschaftlichen Zusammenarbeiten mit der N. S. V. und dem Versuch einer Arbeitsteilung mit ihr“.30 Auch bei der versprochenen Absenkung des Pflegesatzes hielt der Landesverein Wort. Schon am 5. Februar 1935 konnte Wendelin dem sächsischen Ministerium des Innern vermelden, „dass es möglich ist, unser Versprechen, möglichst schon vor dem 1. Oktober 1935 eine Senkung des Verpflegungssatzes eintreten zu lassen, einhalten zu können.“31 Die Absenkung des Pflegesatzes wurde nach bisherigen Kenntnissen nicht durch die Absenkung von Verpflegung oder hygienischen Standards, sondern vor allem durch den Einsatz von Diakonissen in der Pflege erreicht, die im Unterschied zu angestelltem Pflegepersonal kein Gehalt bezogen. In Großhennersdorf waren Diakonissen aus dem Diakonissenhaus Borsdorf tätig, dass durch den Verein für Innere Mission Leipzig unterhalten wurde.32 Statistiken oder Berichte über ein Ansteigen der Sterblichkeitsrate im „Katharinenhof“ durch die verringerten Pflegesätze liegen nicht vor. Bei den Vorbesprechungen und Verhandlungen über den „Katharinenhof“ zwischen Vertretern des Innenministeriums und dem Landesverein war von Seiten des sächsischen Staates auch Oberregierungsrat Friedrich August Neefe anwesend. Diese Begegnung zwischen Neefe und Wendelin war Voraussetzung für die späteren zaghaften Versuche des Landesvereins, einige der ihr anvertrauten Menschen vor dem Tod im Rahmen der „Euthanasie“ zu bewahren. Offenbar erwuchs daraus ein Vertrauensverhältnis, das dazu führte, dass Neefe später wichtige Informationen über die geplanten Mordaktionen an den Landesverein weitergab. Bereits Ende 1934 zeichnete sich mit dem Erlass eines neuen Sammlungsgesetzes durch den nationalsozialistischen Staat ein Ende des Einvernehmens zwischen staatlichen Stellen und dem Landesverein ab. Die für die Finanzierung der Arbeit der Inneren Mission wichtigen Straßensammlungen wurden stark eingeschränkt, bis sie 1937 völlig verboten wurden und nur noch für die NS-Winterhilfe veranstaltet werden durften. Die ab September 1935 bereits gekürzten Staatsleistungen an die sächsische Landeskirche ließ Reichsstatthalter Martin Mutschmann im April 1937 völlig einstellen.33 Damit verschlechterte sich die finanzielle Lage für die diakonische Arbeit in Sachsen weiter. 30  Ebd.

31  Schreiben Wendelin an das Sächsische Ministerium des Innern, 5. Februar 1935 SächsHStAD, 10736/16999. 32  Zur Geschichte des Diakonissenhauses Borsdorf vgl. Bettina Westfeld, Teil 1 Vielfältige Geschichte, in: Diakonie Leipzig (Hg.): 150 Jahre unsere Mission: Vielfalt für das Leben. 1869–2019 Von der Inneren Mission zur Diakonie Leipzig, Leipzig 2019, S.  39 ff. 33  Mike Schmeitzner, Martin Mutschmann und Manfred von Killinger. Die Führer der Provinz, in: Pieper u. a. (Hg.), Braune Karrieren, S. 22–31.

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Befriedungsversuche – Innere Mission als Förderin der „Mitte“ Die immer stärkeren Einschränkungen der diakonischen Arbeitsmöglichkeiten veranlassten vermutlich den Vereinsvorsitzenden der Inneren Mission Leipzig, Pfarrer Heinrich Schumann, sich für eine Überwindung der Spaltung der sächsischen Landeskirche zu engagieren. Aus diesem Engagement erwuchs die dritte und größte Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus. Erst als „Zwischenfrontler“ und später als „Mitte“ bezeichnet, setzten sich deren Anhänger gegen eine Aufspaltung in Deutsche Christen und Bekennende Kirche und für eine Einheit der Landeskirche ein.34 Gemeinsam mit drei weiteren Leipziger Pfarrern bildete Heinrich Schumann das „Kleeblatt“, das Leitungsgremium der „Mitte“. Mit seinen Amtsbrüdern Johannes Herz35, Fritz Hermann Mieth, Direktor der Inneren Mission in Leipzig36, und Oskar Bruhns verfasste er am 9. November 1934 ein Schreiben an alle sächsischen Pfarrer, in dem er vor einer drohenden Spaltung der sächsischen Landeskirche warnte. Neben einer Forderung nach der Änderung des Kurses und dem Austausch der kirchenleitenden Personen beinhaltete das Schreiben auch die Frage: „Schließen Sie sich unserer Überzeugung an, dass der Herr Landesbischof Coch und seine Kirchenregierung das Opfer bringen und ihre Ämter niederlegen müssen?“37 Die Auszählung der Stimmzettel durch den Leipziger Rechtsanwalt Dr. Rudolf Junghanns, dem 2. Vorsitzenden des Vereins der Inneren Mission Leipzig, ergab, dass von ungefähr 1.200 sächsischen Pfarrern 769 dieser Frage zustimmten. Das eindeutige Ergebnis wurde am 8. Januar 1935 an Landesbischof Friedrich Coch übermittelt, der darauf erwiderte, nun erst recht das Opfer zu bringen und im Amt zu bleiben. Adolf Wendelin schloss sich ebenfalls der „Mitte“ an, mit deren Leitung er engen Kontakt hielt.38 Auch der Vereinsgeistliche Schadeberg engagierte sich für die „Mitte“. In deren Anfangsphase Ende 1934 machte er das Anliegen der Leipziger Pfarrer in Dresden bekannt.39 Das Netzwerk der Inneren 34  Mandy Rabe, Zwischen den Fronten. Die „Mitte“ als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017. 35  Biographie siehe: Nikola Schmutzler, Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wirken von Pfarrer Johannes Herz (1877–1960), Leipzig 2013. 36  Heinrich Schumann, Die Geschichte der Inneren Mission in Leipzig 1869–1959, Leipzig 1959, S. 83, Archiv des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens (ADWS), Bestand 1003/1. 37  Nikola Schmutzler, Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand. Gab es einen Weg der „Mitte“?, in: Günther Heydemann/Jan Erik Schulte/Francesca Weil (Hg.), Sachsen und der Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 283–299, S. 288. 38  Rabe, Mitte, S. 119. 39  Ebd., S. 51.



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Mission war für die Verbreitung der Anliegen der „Mitte“ von großer Bedeutung. Mittler im Landeskirchenausschuss 1935–1937 Einen wichtigen Vermittlungsversuch zwischen den drei kirchenpolitischen Lagern innerhalb der sächsischen Landeskirche stellte der am 21. November 1935 eingesetzte Landeskirchenausschuss dar. Nach dem Vorbild des Reichskirchenausschusses, gebildet durch Reichskirchenminister Hanns Kerrl, sollte er zur Befriedung innerhalb der sächsischen Landeskirche beitragen. Vorsitzender war der Dresdner Superintendent Hans Ficker, führender Vertreter der Bekennenden Kirche. Sowohl die Vertreter der Deutschen Christen, als auch die Vertreter der „Mitte“ stimmten dem Ausschuss zu und billigten seine Befugnisse. Ob die Benennung Adolf Wendelins als Vertreter der „Mitte“ auf den starken Einfluss der Leipziger Inneren Mission bei der Bildung der „Mitte“ zurückzuführen ist, lässt sich nicht nachweisen, liegt aber nahe. Bis auf seinen Vorsitzenden Superintendent Ficker waren alle vier übrigen Ausschussmitglieder NSDAP-Mitglieder. Der Ausschuss bekannte sich zu den Grundsätzen des nationalsozialistischen Deutschlands, beschnitt aber die Machtbefugnisse des sich selbst eingesetzten Landesbischofs Friedrich Coch deutlich. Mit Geheimrat Erich Kotte40 wurde ein Vertreter der Bekennenden Kirche zum Leiter des Landeskirchenamtes ernannt. Die Finanzabteilung übernahm ein Mitglied der Deutschen Christen, Willy Kretzschmar. Diese Personalie spielte in den Folgejahren im Streit zwischen Landeskirchenamt und Landesverein für Innere Mission eine Rolle. Die unterschiedliche kirchenpolitische Verortung von Willy Kretzschmar bei den DC und Adolf Wendelin bei der „Mitte“ erhöhte das Konfliktpotential und verringerte die Chancen einer geregelten Finanzausstattung der diakonischen Arbeit in Sachsen. Die nationalsozialistische Reichsregierung trieb die Entkirchlichung des öffentlichen Lebens unvermindert voran und so scheiterte der Reichskirchenausschuss, deren Pendant der sächsische Landeskirchenausschuss war, im Februar 1937. Daraufhin wurden auf Betreiben der sächsischen NS-Gauleitung die Vertreter des sächsischen Landeskirchenausschusses am 9./10. August 1937 abberufen und mit Polizeigewalt aus dem Landeskirchenamt vertrieben. Mit Johannes Klotsche (1895–1965)41 setzte der NS-Staat einen 40  Andreas P. Seidel, Erich Kotte (1886–1961). Kirchen- und Staatsrechtliche Entwicklungen von der Weimarer Republik bis zum Ende der fünfziger Jahre in der DDR, Tübingen 2016. 41  Gerhard Lindemann, Johannes Klotsche. Ein Vertrauensmann Mutschmanns an der Spitze der Sächsischen Landeskirche, in: Pieper u. a. (Hg.), Braune Karrieren, S. 208–213.

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Vertrauten von Friedrich Coch und Anhänger der Deutschen Christen als Präsident des Landeskirchenamtes ein. Er übte dieses Amt bis zum Kriegsende 1945 aus. Da der neue Präsident des Landeskirchenamtes bei seiner „Machtübernahme“ eine Waffe bei sich trug und diese auch deutlich zeigte, trug er im Volksmund den Spottnamen „Revolver-Klotsche“.42 Die knapp zwei Jahre der Existenz des Ausschusses waren für die Innere Mission in Sachsen von großer Bedeutung, da nur eine einheitlich agierende Landeskirche die Chance bot, sie vor weiteren staatlichen Eingriffen zu schützen. Daher erinnerte sich Adolf Wendelin nach Kriegsende rückblickend sehr positiv an seine Arbeit im Landeskirchenausschuss. Er habe „mit Freuden an der Befriedung der Landeskirche und an der Wiedergewinnung des Vertrauens in der Pfarrerschaft gearbeitet.“43 Angesichts der gravierenden Auswirkungen des „Kirchenkampfes“ auf die Arbeitsfähigkeit der Inneren Mission wog die Auflösung des Landeskirchenausschusses umso schwerer. Mit dem Verlust der Teilhabe an kirchenleitendem Handeln verlor der Landesverein an Einfluss. Central-Ausschuss – Drehscheibe für Informationen Dem Engagement von Pfarrer Adolf Wendelin für die Befriedung der kirchlichen Verhältnisse im Landeskirchenausschuss ab 1935 war schon Ende 1934 die Ernennung zu einem der acht neuen Vizepräsidenten des CentralAusschusses der Inneren Mission vorausgegangen. Wie der Landesverein für Innere Mission in Sachsen vernetzte auch die Central-Ausschuss für Innere Mission die diversen Landes- und Provinzialvereine aus ganz Deutschland miteinander. Nach dem erzwungenen Rücktritt des „Reichsführers für Innere Mission“, Pfarrer Themel, Ende 1934, wurde Wendelin unter der Präsidentschaft von Constantin Frick zu einem der Vizepräsidenten bestimmt. Unter diesen Vizepräsidenten waren sowohl Anhänger der BK als auch der DC und der „Mitte“ wie Wendelin. Ähnlich wie der Landesverein versuchte sich der Central-Ausschuss in den Folgejahren aus den großen kirchenpolitischen Debatten herauszuhalten, um die Arbeitsfähigkeit der Inneren Mission nicht zu gefährden.44 Die Verankerung von Wendelin auf Reichsebene war für das Agieren des sächsischen Landesvereins im Zusammenhang mit den 1939 einsetzenden NS-Krankenmorden von großer Bedeutung. Informationen über die Durch42  Lindemann,

Johannes Klotsche, S. 209. und Lebensläufe für den Amtskalender, LKADD, Bestand 42,

43  Pfarrerbilder-

Nr. 407, Bl. 4. 44  Siehe den Aufsatz von Uwe Kaminsky in diesem Band.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“85

führung der „Euthanasie“ konnten auf diese Weise unverzüglich nach Sachsen gelangen und Gegenmaßnahmen erwogen werden. Außerdem führte die Arbeit im Central-Ausschuss zu einer Mäßigung von Adolf Wendelin. Vermutlich war es die Zusammenarbeit mit den anderen Vizepräsidenten und auch der Einblick in die immer stärkeren staatlichen Eingriffe in das kirch­ liche Leben und die Arbeit der Inneren Mission, die seine langsame Distanzierung von der nationalsozialistischen Ideologie bewirkten. Auf Grund der Arbeitsbelastung im Landeskirchenausschuss und als Vizepräsident im Central-Ausschuss übertrug Wendelin einem weiteren Vereinsgeistlichen des Landesvereins für Innere Mission, Pfarrer Walter Schadeberg, die Aufgabe, die Heime und Anstalten des Landesvereins zu betreuen. Zwischen allen Fronten Je länger die Herrschaft der Nationalsozialisten dauerte, umso weniger wurden die Arbeitsgebiete der Inneren Mission in Sachsen, die ihr der NSStaat noch zubilligte. Adolf Wendelin versuchte, sich möglichst aus den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen in Sachsen herauszuhalten und seinen Befriedungskurs aus der Zeit des Landeskirchenausschusses fortzusetzen. Dadurch distanzierte er sich immer stärker von der Ideologie der Deutschen Christen, und der Bruch zu seinen alten Weggefährten aus der Inneren Mission, Adolf Müller und Friedrich Coch, war unausweichlich. Da mit dem seit August 1937 im Landeskirchenamt regierenden Präsidenten Johannes Klotsche ein Vertrauter Cochs saß, kam es in der Folgezeit immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen dem Landesverein und dem Landeskirchenamt. Der Landesverein für Innere Mission geriet zwischen alle Fronten. Pfarrer Adolf Wendelin beschrieb die immer schwierigere Situation in einer Denkschrift am 28. Februar 1941: „Erst seit 1939 machen sich nun in immer stärkerem Maße die Kräfte geltend, die die Innere Mission aus ihrer Arbeit zurückdrängen wollen. So ist die Lage z. Zt. die, das die Innere Mission Sachsens bereits einen großen Teil ihrer Arbeitsgebiete verloren hat.“45

Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, wie positiv er die Lage nicht nur von 1933 bis 1934, sondern bis 1939 einschätzte, obwohl schon bis dahin schwere Angriffe des Staates auf die Arbeit der Inneren Mission zu verzeichnen waren, vor allem durch das Verbot der Straßensammlungen. Nur durch innerkirchliche „Opfertage“ konnte ein Teil des Haushaltsloches geschlossen werden. Eine Bedrohung für die Arbeitsfähigkeit der Inneren Mission ging 45  Denkschrift vom 28. Februar 1941, Archiv Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e. V. (Archiv RWL), Bestand Ohl, Landesverein für Innere Mission Sachsen, 11. 20. 1., S. 1.

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zusätzlich von der ab dem 1. Januar 1938 geltenden neuen steuerlichen Gesetzgebung aus. Der Landesverein hielt eine außerordentliche Mitgliederversammlung ab, auf der die Gemeinnützigkeit der Inneren Mission gesondert beschlossen werden musste. Im Zuge dieser Gesetzgebung wurde den Einrichtungen der Inneren Mission außerdem mit dem Entzug der Gemein­ nützigkeit gedroht, wenn sie „nichtarische“ Hilfsbedürftige aufnehmen. Der Vizepräsident des CA, Pastor Paul Gerhard Braune, konnte in informellen Gesprächen im Reichsinnenministerium erreichen, dass diese Praxis nicht umgesetzt wurde, auch wenn das Gesetz unverändert in Kraft blieb. Dennoch blieben viele Einrichtungen der Inneren Mission zögerlich bei der Aufnahme von „Nichtariern“. Im Mai 1938 widmete Adolf Wendelin den neuen Steuergesetzen in seinem Jahresbericht auf den jährlichen Vereinstagen große Aufmerksamkeit, freilich ohne auf die Problematik der Aufnahme von „nichtarischen“ Personen einzugehen. Wendelin betonte auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung die kirchenpolitische Neutralität des Landesvereins und teilte mit, dass eine Rechtsberatungsstelle eingerichtet sei, um Einrichtungen und Vereine bei Steuerfragen zu beraten und zu unterstützen. Diese Treuhandstelle des Landesvereins für Innere Mission diente als Rechtsberatung für alle Einrichtungen, die plötzlich Steuern zahlen sollten. Viele Satzungen von Vereinen mussten im Laufe des Jahres 1939 geändert werden, um diesen zu entgehen. Der Arbeitsaufwand für den Landesverein war sehr groß. An dem Beispiel zeigt sich eine typische Vorgehensweise der Verantwortlichen der Inneren Mission, sowohl auf der Ebene des Deutschen Reiches wie auf Landesebene. Obwohl die neuen Steuergesetze existenzgefährdend und mit ihrer Einschränkung der Gemeinnützigkeit den Grundlagen der Arbeit der Inneren Mission widersprachen, erhob diese keinen öffentlichen Protest. Stattdessen wurde versucht, mit informellen Absprachen und internen Strukturänderungen der Anfechtung zu begegnen. Ein Handlungsmuster, das sich auch im Umgang mit den Krankenmorden wiederholen sollte. Niedergang Die Heftigkeit der staatlichen Angriffe auf die Arbeit des Landesvereins der Inneren Mission Sachsen nahm mit Kriegsbeginn weiter zu. Im Oktober 1939 musste die Adoptionsvermittlungsstelle des Landesvereins schließen.46 Zu Ostern 1941 schloss die Innere Mission auf staatliche Anordnung ihr Kindergärtnerinnen- und Hortleiterinnenseminar und ab 1942 auch alle Haushaltsschulen. Die Trägerschaft für alle Kindergärten verlor der Landes46  Walter Vogel, Geschichte der Inneren Mission seit 1917, Radebeul 1952, ADWS, Bestand 1002, S. 25.



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verein durch einen Runderlass des sächsischen Innenministeriums am 12. Dezember 1940. Vom Landesverein wurden 72 Einrichtungen mit 4.200 Plätzen in Kindertagesheimen (Kindergärten und Horte) beschlagnahmt und der NSV übergeben.47 Die Soziale Frauenschule in Dresden, ein Vorzeigeprojekt vor allem in der Weimarer Republik, verlor bereits am 25. Juni 1936 ihre staatliche Lizenz. Alle Schülerinnen wurden an die NSV-Wohlfahrtsschule übernommen. Brisant war, dass die einzige hauptamtliche Lehrkraft der Sozialen Frauenschule, Ida Rost, ebenfalls von der NSV übernommen wurde und an der NSVWohlfahrtsschule die Schulleitung übernahm. Ida Rost war bereits seit dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Eine weitere ehemalige Lehrerin, Käthe Ehrhold, baute im Auftrag des Landesverbandes für christlichen Frauendienst eine neue Schule auf. Dort wurden Frauen ausschließlich für den kirchlichen Dienst ausgebildet. Im Jahre 1942 übernahm der Landesverein der Inneren Mission die alleinige Trägerschaft und benannte die Ausbildungsstätte in „Amalie-Sieveking-Haus“ um.48 Die Abschlüsse der Absolventinnen waren anders als bei der Sozialen Frauenschule nicht mehr staatlich anerkannt, ein Wechsel des Arbeitgebers nicht so leicht möglich. Im Jahre 1941 musste das Erscheinen der Verbandszeitschrift „Bausteine“ eingestellt werden. Als Begründung ließ der Landesverein folgende Mitteilung drucken: „Die Kriegswirtschaft erfordert stärkste Konzentration aller Kräfte. Diese Zusammenfassung macht es notwendig, dass die ‚Bausteine‘ mit dem heutigen Tage bis auf weiteres ihr Erscheinen einstellen, um Menschen und Material für andere, kriegswichtige Zwecke freizumachen.“49

Noch immer glaubten die Verantwortlichen der Inneren Mission, durch die Hinnahme von staatlichen Eingriffen die existenzielle Gefährdung ihrer Arbeit aufhalten zu können. In seinem letzten Jahresbericht, den Wendelin am 25. April 1944 auf der Vereinsversammlung gab, zog er eine bittere Bilanz: Der Landesverein hatte zusätzlich zu den beschlagnahmten Kindereinrichtungen 47 Einrichtungen mit 3.300 Mitarbeitern dem Staat zur Verfügung stellen müssen. Weiterhin waren 14 „Herbergen zur Heimat“ als Wohnheime für „Rüstungsarbeiter“ und Kriegsgefangene in Nutzung. Sieben Altersheime dienten als Unterkunft für baltendeutsche Umsiedler. Schmerzlich konstatierte er weiterhin, dass die Innere Mission die geschlossene Heimfürsorge nicht mehr leisten dürfe. Er47  Ebd.,

S. 27.

Soziale Frauenschule S. 46. 73 (1941), S. 52.

48  Engelmann, 49  Bausteine

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mutigend sei hingegen das Sammlungsergebnis der Kollekte am Tag der Inneren Mission, die als Ersatz für die Straßensammlung eingeführt wurden. Fast 100.000 Reichsmark wurden für die diakonische Arbeit in Sachsen gespendet.50 Aus dem Bericht von Adolf Wendelin ging weiter hervor, dass die Einrichtungen der Inneren Mission auch für die Unterbringung von sogenannten „Rüstungsarbeitern“, also von Fremd- und Zwangsarbeitern, genutzt wurden. Eine genaue Untersuchung des Umfangs der Unterbringung und auch der Beschäftigung von Zwangsarbeitern auf dem Gebiet der Inneren Mission in Sachsen ist auf Grund der Überlieferungslücken ausgesprochen schwierig. Bekannt ist der Einsatz von einigen Kriegsgefangenen als Unterstützung in der Landwirtschaft in der Diakonenanstalt Moritzburg und in den „Werkstätten für Arbeitslose“ in Leipzig. Dort entluden sie Holz- und Kohlewaggons und verrichteten körperlich anstrengende Arbeiten als Ersatz für zum Kriegsdienst eingezogene deutsche Arbeiter.51 Ende 1944 legte Adolf Wendelin sein Amt aus Altersgründen nieder. Seine Nachfolge übernahm am 12. Januar 1945 Walter Schadeberg. Wendelin blieb als Vorsitzender des Direktoriums der Arbeit des Landesvereins eng verbunden.52 Ein Tätigkeitsfeld des Landesvereins der Inneren Mission war während der Zeit des Nationalsozialismus von besonderer Herausforderung für die leitenden Personen und wird daher im Anschluss ausführlicher dargestellt: Die Konfrontation mit den „rassenhygienischen“ Maßnahmen des NS-Staates, der Zwangssterilisation und der „Euthanasie“, die ein ureigenes Handlungsfeld der Inneren Mission, die Fürsorge für kranke Menschen und Menschen mit Behinderungen, grundlegend in Frage stellte. Umgang mit den „rassenhygienischen Maßnahmen“ des NS-Staates Die größte ethische Herausforderung für den Landesverein in der Zeit des Nationalsozialismus war der Umgang mit der gesetzlich verfügten Zwangssterilisierung und der „Euthanasie“, der Tötung von alten, kranken oder politisch unbequemen Menschen und Menschen mit Behinderungen. 50  Jahresbericht

des Landesvereins für Innere Mission 1944, ADWS, Bestand 2. Winkler, Die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und ihre Innere Mission, S. 153–188, in: Jochen-Christoph Kaiser (Hg.), Zwangsarbeit in Diakonie und Kirche, Stuttgart 2005. 52  Schreiben Wendelins vom 12. Januar 1945, ADE, Bestand A. I. Centralausschuss (Landesverein für Innere Mission der evangelisch lutherischen Landeskirche in Dresden), Nr. 621, Vol. II. 51  Ulrike



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Abb. 2: Walter Schadeberg, undatiert, Archiv des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.

Es oblag neben dem Landesleiter Adolf Wendelin vor allem dem dritten Vereinsgeistlichen Walter Schadeberg, die zur Inneren Mission gehörenden Heime in ihrem Betrieb und damit auch bei der Durchführung der von den Nationalsozialisten angeordneten Maßnahmen zu beraten, zu unterstützen und mögliche Rettungsmaßnahmen für bedrohte Heimbewohner einzuleiten. Diskussion über Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in der Inneren Mission Ausgehend von der 1920 erschienenen Schrift von Karl Binding und ­ lfred Hoche „Über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ A wurden Fragen der Eugenik und „Euthanasie“ sowohl im Landesverein für Innere Mission in Sachsen als auch in der Gesellschaft der Weimarer Republik diskutiert.53 Die Diskussion fand auf der Gesamtebene der Inneren Mission in der Weimarer Republik einen entscheidenden Abschluss auf der Evangelischen Fachkonferenz für Eugenik vom 18. bis 20. Mai 1931 in Treysa. In der Aussprache auf der Konferenz über die Anwendung der Sterilisation, möglicherweise auch 53  Die gesellschaftlichen und auch die innerdiakonischen Debatten werden im Beitrag von Uwe Kaminsky ausführlich beschrieben.

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unter Zwang, machten viele Teilnehmer deutlich, dass sie dieser positiv gegenüberstehen. Es wurde deutlich verneint, dass Zwangssterilisation eine Körperverletzung sei. Die Konferenz von Treysa gilt heute als Scheidelinie zwischen alter und neuer Diakonie. Aus falsch verstandener Sorge um das Gemeinwohl rechtfertigte die Innere Mission Maßnahmen der negativen Eugenik. Verschiedene Faktoren beförderten diese Zustimmung: die Faszination von neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten, der wirtschaftliche Druck in der Endzeit der Weimarer Republik und sicher auch die protestantische Denkfigur der Sorge um das bonum commune – das Gemeinwohl.54 Die angebliche Bedrohung des Gemeinwohls durch die ausufernden Kosten und Ressourcen für die Pflege von kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen rechtfertigte bei der Mehrheit der Verantwortlichen der Inneren Mission die Zustimmung zur Zwangssterilisation. Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in der sächsischen Diakonie Es soll nun genauer untersucht werden, wie sich die Geschehnisse auf die Heime der Inneren Mission in Sachsen ausgewirkt haben. Der Fokus der nachfolgenden Darstellung liegt auf den Einrichtungen Kleinwachau und dem „Katharinenhof“ in Großhennersdorf, da diese direkt vom Landesverein verwaltet wurden. Weiterhin werden Vorgänge um das „Siechenhaus Bethesda“ in Radebeul untersucht. Diese Einrichtung war dem Diakonissenhaus in Dresden angeschlossen55 und Diakonissen aus dem Mutterhaus in Dresden haben nicht nur in „Bethesda“, sondern auch in Kleinwachau gearbeitet. Zusätzlich liegen Informationen über Personen vor, die im Diakonissenhaus in Borsdorf bei Leipzig betreut wurden und Opfer der „rassenhygienischen Maßnahmen“ wurden. Zwangssterilisation Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen unterstützte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wie der CA in Berlin und sprach sich gleichzeitig gegen die „Euthanasie“ aus. Bis zum Jahre 1937 erschienen in seiner Verbandszeitschrift „Bausteine“ dazu jährlich Artikel. Im Dezember 1933 veröffentlichte der Landesverein eine Erklärung, die auch nachfolgende Zeilen enthielt: 54  Kurt Nowak, Eugenik, Zwangssterilisation und „Euthanasie“, in: Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998, S. 237. 55  Zur Situation in Diakonissenhaus Dresden siehe den Beitrag von Annett Büttner in diesem Band.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“91 „Wir begrüßen, wenn durch eine planmäßige vor Gott und unserem Gewissen verantwortbare Eugenik hier eine Abhilfe geschaffen wird.“56

Nur wenig später verteidigte der Vereinsgeistliche Walter Schadeberg im April 1934 die Zustimmung zur Zwangssterilisation mit einer damals typischen Argumentationsführung. „So wird aus der gegenwärtigen Lage heraus vom evangelischen Ethos her kaum etwas gegen die Durchführung des Gesetzes gesagt werden können. Notstand verlangt Notstandsgesetze. Sie wird sich des Wagnisses ihres Ja bewusst bleiben. Aber sie wird aus Verantwortung dieses Ja wagen.“57

Diese Stellungnahme wurde im Mai 1934 auf den Vereinstagen der Inneren Mission durch Landesführer Wendelin mit einem klaren Nein zur „Euthanasie“ ergänzt und wiederholt bis 1937 öffentlich abgegeben und in den „Bausteinen“ veröffentlicht. Bekräftigt wurde diese Absage durch den Leiter des „Katharinenhofes“, Dr. Ewald Meltzer,58 der kurz nach seinem Ausscheiden aus Großhennersdorf Ende 1937 in den „Bausteinen“ zur Frage von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ schrieb: „Man kann diese Menschen nicht einfach wie todeswürdige Schwerverbrecher oder Hochverräter in das Jenseits schicken, selbst nicht auf eine sanftere Art, wie das bei den Letztgenannten üblich ist. Wenn nur Zweckmäßigkeitsgründe für eine solche Lebensabkürzung bestimmend sein würden, so würden wir bald im bolschewistischen Fahrwasser segeln. Der Bolschewismus tötet nämlich jeden, der ihn aus dem oder jenem Grunde nicht in den Streifen passt. Der Nationalsozialismus fasst das Problem von ganz anderer Seite an. Er will es auf natürliche, kulturelle Art und Weise lösen.“59

Konkrete Zahlen über durchgeführte Sterilisationen für Sachsen liegen nicht vor, da nicht mehr alle Akten vorhanden sind und die Zahlen ab dem Jahre 1936 nicht mehr veröffentlicht wurden. Schätzungen gehen von 25.000 Personen aus, die dieser Maßnahme in Sachsen zum Opfer gefallen sind.60 Statistische Angaben über Personen aus Heimen der Inneren Mission in Sachsen sind nur wenige bekannt. In einer Einzelstudie über die Praxis der Zwangssterilisierungen an der Frauenklinik im Dresdner Krankenhaus Friedrichstadt für die Jahre 1933 bis 1939 konnten 708 Akten ausgewertet wer-

56  Bausteine,

786 (1933), S. 182. 790 (1934), S. 51. 58  Hagen Markwardt, Ewald Meltzers Beiträge zu den rassenhygienischen Debatten während der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, in: Böhm u. a. (Bearb.), „Nun ließe sich viel erzählen von alle den Tagesereignissen …“, S. 23–46. 59  Bausteine, 834 (1937), S. 159. 60  Boris Böhm/Stefan Jehne, Die Rolle der Justiz in der NS-Zwangssterilisationspolitik in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen 1933–1945, Dresden 2016, S. 26. 57  Bausteine,

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den.61 Von den 708 zwangssterilisierten Personen kamen 346 aus Heimen und Anstalten. Davon waren 33 Menschen in Heimen der Inneren Mission untergebracht. Die größte Gruppe kam aus der Brüderanstalt Moritzburg. Die 19 Mädchen wurden unter dem Vorwand sterilisiert, dass sie angeblich aus überwiegend „asozialen“ Verhältnissen stammten.62 Aus Kleinwachau waren sieben Personen in Dresden-Friedrichstadt zwangssterilisiert worden. Weitere sieben Personen aus Kleinwachau sind bekannt, die in anderen Krankenhäusern operiert wurden.63 Für den „Katharinenhof“ liegen keine genauen Zahlen vor. In den überlieferten Aufzeichnungen der dort arbeitenden Borsdorfer Diakonisse Gertrud Oberlein ist lediglich einmal von einer Anzahl von Betroffenen die Rede. „Von unseren großen Mädchen waren zehn zur Sterili­ sierung im Bezirkskrankenhaus Ebersbach. Eine von ihnen, Hilde Matthes, ist dort verstorben, die anderen sind wieder gesund und fröhlich auf den Abteilungen.“64 Wenige Wochen später notierte sie: „Ab und zu kommt ein größerer Knabe oder Mädchen ins Ebersbacher Bezirkskrankenhaus zur Sterilisation. Hilde Matthes von Abteilung V ist dort verstorben, war besonders unruhig.“65 Der Tod der einen Heimbewohnerin hatte offenbar Spuren bei der Diakonisse hinterlassen, dass sie diesen zweimal in ihren Aufzeichnungen erwähnte. Außerdem waren in Großhennersdorf überwiegend Kinder bis 14 Jahren untergebracht, die noch nicht unter das Gesetz fielen. Aber nicht nur im „Katharinenhof“ waren die Diakonissen aus Borsdorf bei Leipzig mit den Auswirkungen der „rassenhygienischen Maßnahmen“ der Nationalsozialisten konfrontiert. In Borsdorf gab es das „Frauenheim“. Die dort betreuten Frauen litten ebenso unter den verstümmelnden Operationen bzw. waren von ihnen bedroht. Kommunalen Behörden wiesen die Bewohnerinnen in der Regel als „Fürsorgezöglinge“ in die Einrichtung ein. Sie waren teilweise straffällig geworden, ihr Lebenswandel entsprach nicht den moralischen Vorstellungen der Zeit oder sie konnten auf Grund einer geistigen Behinderung keine reguläre Arbeit aufnehmen und standen ohne Per­ spektive da. Bis zur Mitte der 1930er Jahre waren überwiegend Frauen aus ganz Sachsen im „Frauenheim“ untergebracht. Im Zuge der Konfrontation gegenüber den Kirchen und auch Einrichtungen der Inneren Mission, vor allem durch den Gauleiter Martin Mutschmann, wurden immer weniger 61  Birgit Töpolt, Vorgeschichte und Praxis der Zwangssterilisation im Dresdner Raum 1933–1945, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisation, S. 119. 62  Silke Teuerle, Historische Aufarbeitung der Auswirkungen der rassenhygienischen Gesetze auf die Bewohner der größten Einrichtungen der Inneren Mission in Sachsen 1933–1945 (unv. Diplomarbeit Hochschule Mittweida), Roßwein 2007, S. 34. 63  Ebd. 64  „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“, S. 63. 65  Ebd., S. 79.



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Frauen von sächsischen Behörden in das „Frauenheim“ eingewiesen. Auf Grund guter Beziehungen zur Kommune Frankfurt/Main konnte die finan­ ziell bedrohliche Lücke geschlossen werden und junge Frauen und Mädchen aus dieser Region zählten mehr und mehr zu den Bewohnerinnen. Auf Grund der schwierigen Überlieferungslage können keine abschließenden Zahlen genannt werden, wie viele Bewohnerinnen der Einrichungen von Borsdorf der Zwangssterilisation unterzogen wurden. Nur für das Jahr 1935 liegen exakte Angaben vor, die von der Borsdorfer Diakonisse und Leiterin des „Frauenheims“, Schwester Gertrud Wüstenhagen, in einem Artikel 1937 abschließend veröffentlicht wurden. Von 59 Fürsorgezöglingen, die 1935 aufgenommen wurden, fielen 19 unter das Gesetz und wurden zwangssterilisiert.66 Zusätzlich konnten zwei Verzeichnisse des Gesundheitsamtes Grimma über „erbkranke“ Personen ermittelt werden, in denen Frauen verzeichnet sind, die in Einrichtungen in Borsdorf wohnten und ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beraubt wurden. Im ersten Verzeichnis, das von 1934 bis 1937 geführt wurde, stehen die Namen von 61 Frauen, die als „erbkrank“ angezeigt wurden. Davon wurden 45 nach Urteilen vor allem der Erbgesundheitsgerichte Leipzig und Dresden sterilisiert.67 In der zweiten Liste, in der Personen ab 1939 registriert wurden, sind lediglich 17 Frauen aufgelistet, von denen eine sterilisiert wurde.68 Zum einen wird deutlich, dass mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges erheblich weniger Menschen sterilisiert wurden, zum anderen waren auch schon etliche Bewohnerinnen vor ihrer Einweisung ins „Frauenheim“ operiert worden. Nur im zweiten vorhandenen Journal lässt sich ablesen, wer die Frauen als „erbkrank“ anzeigte. Bei fünf von siebzehn Frauen ist explizit „Frauenheim“ oder „Anstalt der Inneren Mission“ angegeben. Die übrigen wurden von den einweisenden kommunalen Behörden oder anderen Ärzten gemeldet. Angesichts der Bejahung der Zwangssterilisation durch die gesamte Innere Mission im Deutschen Reich verwundert diese Praxis nicht. Die Operationen hatten neben den unmittelbaren Risiken gravierende Auswirkungen auf das Leben der Frauen und auch auf die Arbeit in Borsdorf. Die Leiterin des Frauenheims beschäftigte sich in mehreren publizierten Artikeln damit.69 Dabei ließ sie keinen Zweifel an ihrer Zustimmung zu den verstüm66  Vgl. Gertrud Wüstenhagen, Die pädagogisch fürsorgerische Lage unserer Heime den Sterilisierten gegenüber, in: Hans Harmsen (Hg.), Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. 2. Erw. Aufl., Berlin 1937, S. 45–54. 67  Vgl. Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SächsStAL), 20044/1980. 68  Vgl. SächsStAL, 20044/1979. 69  Vgl. Gertrud Wüstenhagen, Fliedners Erziehungsmittel und die heutige Ausgestaltung unserer Erziehungsarbeit an der sittlich gefährdeten weiblichen Jugend, in: Evangelische Jugendhilfe 9 (1933), S. 179–187; dies., Seelsorge an Sterilisierten, in: Evangelische Jugendhilfe 14 (1938), S. 70–80; dies., Die pädagogisch fürsorgerische Lage.

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melnden Operationen. Obwohl die fehlende Aussicht für die betreuten Frauen, einmal eine Familie haben zu können, eine entscheidende Perspektive in der täglichen Arbeit nehme. Erschreckend positiv stellte Schwester Gertrud Wüstenhagen fest, dass bei einigen Frauen die bevorstehende Sterilisation „eine Erschütterung auslöste, die für uns der Anknüpfungspunkt zu einem wirklich seelsorgerlichen Gespräch, zu wirklich fürsorgerischen Dienst an ihrem Leben wurde.“70 Weiterhin bekräftigte sie das Motiv, das die Diakonissen leitete, die Zwangssterilisationen zu unterstützen: „Es gilt für uns, dass wir in dem einzelnen von dem Gesetz betroffenen Jugendlichen durch erzieherische Beeinflussung und seelsorgerlichen Dienst den Sinn dafür wecken müssen, dass das Erleben der Durchführung des Gesetzes getragen werden soll und erkannt werden muss als ein für die Gesamtheit des Volkes gebrachtes Opfer.“71 Zudem wurde in Borsdorf 1937 der in Bethel gedrehte Film „Saat und Segen“ gezeigt. Der in enger Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Propagandaministerium entstandene Film rechtfertigte die Zwangssterilisationen und beförderte offenbar den positiven Umgang bei den Borsdorfer Diakonissen: „Einen wichtigen Dienst leistete uns besonders der letzte Teil des Films, der sich mit den gesundheitsgesetzgeberischen Maßnahmen der letzten Jahre befasst.“72

Beispielhaft für das Schicksal der zwangssterilisierten Frauen steht Frida Carl, Jahrgang 1920. Der Landrat des Kreises Calbe in der Nähe von Magdeburg wies sie am 28. November 1942 in die Borsdorfer Anstalten ein wegen „Arbeitsunlust“ und „Gefahr von Verwahrlosung“. Frau Carl war geistig behindert und daher nicht in der Lage, den Normen des nationalsozialistischen Staates zu entsprechen. Noch vor ihrer Einweisung nach Borsdorf wurde beim Erbgesundheitsgericht Magdeburg ein Antrag auf Zwangssterilisation gestellt, der auf Grund einer langsamen körperlichen Entwicklung aber zurückgestellt wurde. Am 1. März 1944 erbat das Gesundheitsamt Calbe eine ärztliche Untersuchung von Frida Carl, die ergab, dass sie inzwischen „fortpflanzungsfähig“ sei. Daraufhin erging am 22. April 1944 der Bescheid vom Erbgesundheitsgericht Magdeburg, dass Frida Carl zu sterilisieren sei. Nachdem die Akten dem Erbgesundheitsgericht Leipzig übergeben worden waren, teilte das zuständige Stadtkrankenhaus Wurzen den Verantwortlichen in Borsdorf mit, dass Frida Carl sich zur Operation einzufinden habe. Die Operation wurde am 12. Oktober 1944 vorgenommen, und sie kehrte danach nach Borsdorf zurück. Über eine Veränderung oder Konsequenzen ist nichts in ihren Akten verzeichnet.73 Seelsorge an Sterilisierten, S. 71. S. 75. 72  Jahresbericht Verein für Innere Mission Leipzig 1937, S. 10. 73  Bewohnerakte Frida Martha Carl, Archiv Diakonissenhaus Borsdorf (ADBO). 70  Wüstenhagen, 71  Ebd.,



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Seit 1935 engagierte sich der Landesverein für Innere Mission in der Eheberatung für sterilisierte Menschen, da immer deutlicher zu Tage trat, welche schwere Bürde diese menschenfeindliche Maßnahme für den Einzelnen im Alltag bedeutete. So war auch ein Artikel in der Verbandszeitschrift „Bausteine“ im August 1936 zu verstehen. Unter der Überschrift „Fürsorgerische Betreuung der Sterilisierten“ von Oberin Toni Keßler, Leiterin des Dorotheen­ heims in Düsseldorf, wurde dieses Thema umfassend diskutiert und für diese Arbeit auf dem Gebiet der Inneren Mission in Sachsen geworben.74 Zu einem geänderten Verhalten der Verantwortlichen der Inneren Mission gegenüber der Zwangssterilisation führten die gemachten Beobachtungen nicht. „Euthanasie“ Als erstes Heim der Inneren Mission in Sachsen war der erst 1934 übernommene „Katharinenhof“ von der „Euthanasie“ betroffen. Bereits im Herbst 1939 übersandte das Sächsische Ministerium des Inneren Meldebogen, die der Erfassung und Selektion der Opfer der Krankenmorde dienten. Der neue Direktor des „Katharinenhofes“, Dr. Karl Daniel, sandte diese wenig später ausgefüllt zurück. Im Mai 1940 wurde die Einrichtung als Heim für die Unterbringung von umgesiedelten Bessarabiendeutschen beschlagnahmt. Vorher war der „Katharinenhof“ im Auftrag von Dr. Alfred Fernholz75 von der Abteilung Volkspflege im Sächsischen Ministerium des Innern besichtigt worden. Über die im „Katharinenhof“ untergebrachten Kinder hieß es abfällig in der Niederschrift zum Besuch: „Bei den Kranken handelt es sich ausschließlich um vollständig erziehungsunfähiges und bildungsunfähiges Material, das dauernd unter Aufsicht stehen muss und trotzdem in Einzelfällen gefesselt werden muss.“76

Es gelang den Verantwortlichen der Inneren Mission Sachsen77, durch ihr Wissen um den tödlichen Zweck der Verlegungen der Kinder vor dem staatlichen Vollzug der Beschlagnahme des „Katharinenhofes“ vier Kinder nach Hause zu entlassen und weitere 32 Kinder nach Kleinwachau zu verlegen. Sieben arbeitsfähige Männer kamen in der noch funktionierenden Arbeitsko74  Bausteine

828 (1936). Böhm, Alfred Fernholz. Ein Schreibtischtäter im Dienste der Volksgesundheit, in: Schmeitzner u. a. (Hg.), Braune Karrieren, S. 154–161. 76  Niederschrift über die Besichtigung des „Katharinenhofes“, 17. August 1940, SächsHStAD, 10736/16999, S. 1. 77  Überblick zur „Euthanasie“ in Sachsen siehe: Schulze, Dietmar/Fiebrandt, Maria (Hg.) (2016): „Euthanasie“ in Großschweidnitz: regionalisierter Krankenmord in Sachsen 1940–1945. 1. Auflage. Köln: Psychiatrie Verlag. (= Berichte des Arbeitskreises zur Erforschung der Nationalsozialistischen Euthanasie und Zwangssterilisation Band 11). 75  Boris

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Abb. 3: Kinder im „Katharinenhof“, vor 1940, Archiv Diakoniewerk Oberlausitz.

lonie in Großhennersdorf unter und waren damit dem staatlichen Zugriff entzogen. Bis zum Kriegsende lebten dort insgesamt 53 Männer in ungeheizten Zimmern über dem Kuhstall. Ihre Einstufung als „arbeitsfähig“ bewahrte sie vor der „Euthanasie“.78 Die widrigen Umstände ihrer Unterbringung bedrohten dennoch ihr Leben. Für 69 Mädchen und 104 Jungen gab es am 27. September 1940 keine Rettung. Sie wurden alle in die Landesanstalt Großschweidnitz gebracht, die damals wie Zschadraß, Arnsdorf und Waldheim als sogenannte „Zwischen­ anstalt“ vor der Verbringung in die Vergasungsanstalt diente. Mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ wurden 148 Bewohner des „Katharinenhofes“ in Pirna-Sonnenstein getötet.79 Die übrigen verstarben an den Folgen der „Medikamenteneuthanasie“ in Großschweidnitz. Unter ihnen war auch eine Nachfahrin der Gründerin des „Katharinenhofes“. Helene von Gersdorff verstarb am 22. August 1943 genau an ihrem 20. Geburtstag80 an den Folgen 78  Beispielhaft für diese Menschen ist das Schicksal von Heinz Höppler, vgl: Boris Böhm, Zum Gedenken: Opfer der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen, S. 124 f. 79  Teuerle, Aufarbeitung, S. 56. 80  https://www.diakoniewerk-oberlausitz.de/helene-von-gersdorff-haus.html, abgerufen am 23. Januar 2020.



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der unmenschlichen Behandlung in Großschweidnitz.81 Von insgesamt 250 in Großhennersdorf lebenden Menschen mit geistiger Behinderung wurden bis 1943 über 200 in Zwischenanstalten abtransportiert und fielen verschiedenen Krankenmordaktionen zum Opfer.82 Im Mai 1941 äußerte sich Adolf Wendelin auf der jährlichen Vereinsversammlung in seinem Jahresbericht 1940 zur Beschlagnahme des „Katharinenhofes“ am 27. September 1940: „Die dort befindlichen Kinder wurden anordnungsgemäß nach der Landesanstalt Großschweidnitz überführt.“83 Es fiel kein dokumentiertes Wort über den Tod der Kinder. Im Hintergrund versuchte Wendelin intensiv, den „Katharinenhof“ für die Arbeit der Inneren Mission zurückzubekommen. So schrieb er am 2. März 1942 an den Landrat von Löbau, dass es einen gültigen Mietvertrag für den „Katharinenhof“ gäbe und für eine Beschlagnahme keine Grundlagen beständen.84 Aber alle Bemühungen blieben erfolglos, mit dramatischen Folgen für die ehemaligen Bewohner. Eine weitere Bedrohung für die Arbeit der Inneren Mission in Sachsen ergab sich durch die Beschlagnahme des „Siechenhauses Bethesda“ in Radebeul, das bis dahin vom Dresdner Diakonissenhaus betreut wurde. Diakonissen aus Dresden und Diakone der Moritzburger Brüderanstalt pflegten dort Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen. Vor der Beschlagnahme besichtigten der sächsische Gauleiter Martin Mutschmann und der sächsische Innenminister Fritsch die Anstalt (so die Erinnerung des damaligen Leiters, Pfarrer Rau).85 Von den insgesamt 267 Bewohnern, die dort Mitte 1941 vor der Beschlagnahme betreut wurden, konnten nur drei Personen nach Hause zu ihren Angehörigen entlassen und 13 weitere nach Kleinwachau verlegt werden. Die übrigen wurden in staatliche Anstalten überstellt und sind überwiegend der „Euthanasie“ zum Opfer gefallen. Die damalige Oberin von Bethesda, Ilse von Löwenklau, erinnerte sich 1961: „Als zu befürchten war, dass die debilen Kranken abgeholt würden, hat sich die Leitung des Hauses an die Verwandten mit der Bitte gewandt, die Kranken nach Hause zu nehmen. Dies erfolgte nur in wenigen Fällen. Es war dann erschütternd mit anzusehen, dass die Kranken sich kindlich freuten in der Annahme, sie machten einen Ausflug, als sie mit den Autobussen nach Arnsdorf abtransportiert wurden.“86 81  Ev.-Luth. Kirchenvorstand Großhennersdorf-Rennersdorf Pfarrer Alexander Wieckowski, Der Katharinenhof und sein Inspektor Diaconus Heinrich Melchior Mühlberg, Großhennersdorfer-Rennersdorfer Kirchengeschichten, Großhennersdorf 2011, S. 65. 82  Ebd. 83  Bausteine 875 (1941), S. 52. 84  Brief OKR Wendelin an den Landrat von Löbau, 2. März 1942, Sächs­ HStAD,10736/16999. 85  LKADD, Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Nr. 18003R-Sch, S. 58. 86  LKADD, Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Nr. 710 bei 700, S. 19.

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Einer der abtransportierten Menschen war Johannes Petzold, der 1878 als Zwillingskind in Dresden geboren wurde und in Folge einer Verschüttung durch einen Granatangriff an der Front im Ersten Weltkrieg gesundheitlich stark beeinträchtigt war. Er bekam eine Schüttellähmung und konnte ab Mitte der zwanziger Jahre nicht mehr arbeiten. Seine Familie brachte ihn im „Siechenhaus Bethesda“ unter. Im Februar 1941 kam eine Ärztekommission nach „Bethesda“. Auf Nachfrage über den Zweck des Besuches, erhielten die Angehörigen die Antwort, dass das Heim geräumt werden solle. Vorerst genehmigte die Heimleitung, dass Petzold in „Bethesda“ bleiben könne. Dennoch begann die Familie nach einer privaten Pflegestelle zu suchen. Der Anstaltspfarrer von „Bethesda“, Pfarrer Rau, hatte der Familie deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf einen langfristigen Verbleib im kirchlichen Heim erfolglos wäre und von einer Verlegung in die staatlichen Anstalten eine existenzielle Gefahr ausgehe. Die Suche nach einer privaten Pflegestelle blieb erfolglos, und eine Unterbringung bei Verwandten schien nicht möglich. ­Johannes Petzold wurde am 23. Juli 1941 ins Kreisheim Pirna verlegt und erhielt dort noch regelmäßigen Besuch der Verwandtschaft. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rasch und er verstarb nach 45 Tagen Anfang Oktober 1941. Er wurde am 10. Oktober 1941 auf dem Johannisfriedhof in Dresden beerdigt.87 Nach der Auflösung von „Bethesda“ in Radebeul verbrachten die beiden Diakonissen Ilse von Löwenklau und Paula Reichel die restlichen Lebensmittel in das Diakonissenmutterhaus nach Dresden. Das wurde ihnen von der nationalsozialistischen Justiz als Straftat ausgelegt und beide wurden vom 15. Juli 1942 bis zum 10. August 1942 in Haft genommen. Sie waren in Dresden am Münchner Platz88 inhaftiert. Die Anklageschrift war angesichts der „Euthanasie“-Morde und des Hungersterbens in den sächsischen Anstalten an Heuchelei nicht zu überbieten. Den beiden Frauen wurde vorgeworfen: „An den unglücklichsten Menschen haben sie sich bereichert, an wehrlosen Verblödeten, die sich überhaupt nicht beschweren konnten.“89 Gegen die beiden Diakonissen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Lebensmittelschieberei und Verstoß gegen die Kriegswirtschaftsordnung eingeleitet. Ihre Haftentlassung verdanken beide der Intervention des einflussreichen Konteradmirals Friedrich Ruge, der sich bei Gauleiter Mutschmann90 für sie ein87  LKADD, Bestand 34 Handakten Hermann Klemm, Nr. 115, S. 81 ff., Sein Neffe schrieb 1981 die Lebensgeschichte seines Onkels anhand von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen auf. 88  Birgit Sack, Gerald Hacke, Verurteilt. Inhaftiert. Hingerichtet. Politische Justiz in Dresden 1933–1945, 1945–1957, Dresden 2016. 89  SächsHStAD, 11647/439. 90  Mutschmann agierte kirchenfeindlich, auch gegen die Diakonissenhäuser. Das ist umso erstaunlicher, als seine Schwester Diakonisse im Diakonissenhaus Leipzig-



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setzte. Beide Diakonissen erhielten nach der Freilassung am 14. Januar 1943 einen Strafbefehl über jeweils 500 Reichsmark nach Paragraph 1 Ziffer 3 der Verordnung vom 6. April 1940.91 Es ist naheliegend, dass die Einleitung dieses Wirtschaftsstrafverfahrens nur ein Vorwand war, um das Agieren der Diakonissen im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von „Bethesda“ zu ahnden, dabei aber keinen öffentlichen politischen Prozess anzustrengen. Vermutlich steckte auch das Verbergen von Kranken und Behinderten durch Diakonissen vor dem staatlichen Zugriff dahinter. Bei der Beschäftigung mit der „Euthanasie“ stößt man vereinzelt auf Berichte, dass Diakonissen mit einigen ihrer anvertrauten Menschen vor den „Euthanasiemaßnahmen“ in abgelegene Gebäude oder Heime gingen, um sie zu schützen.92 So sind mündliche Überlieferungen von Diakonissen aus dem Dresdner Diakonissenhaus bekannt. Diese Berichte gibt es nicht in schriftlicher Form und sie können auch nicht durch andere Schriftstücke belegt werden. Angesichts der Gefahr, in der sich die Diakonissen mit ihrem Handeln begaben, ist das auch nicht verwunderlich. Ebenso sind Zeugnisse von Diakonissen überliefert, die ihr Leben lang unter der Last litten, vielen Menschen, die ihnen anvertraut waren, nicht das Leben gerettet zu haben. So ist ein Erinnerungsbericht von Hilma Zerche überliefert, den sie 1985 kurz vor ihrem Tod verfasst hat. Sie war als Diakonisse aus dem Diakonissenhaus Borsdorf für die Pflege der behinderten Kinder im „Katharinenhof“ eingesetzt. „Oft habe ich in all den Jahren meine K ­ inder vor mir gesehen, wie sie mich anblickten und fragten: ‚Warum bist du damals nicht mit uns gegangen?‘ Jetzt weiß ich, es war seine [Gottes] große Barmherzigkeit, die mich weiter im Dienst gebrauchen wollte.“93

Die „Epileptischen-Anstalt“ in Kleinwachau bei Radeberg war zweimal von den Krankenmorden betroffen und konnte am längsten im Besitz des Landesvereins gehalten werden. Auch hier kamen im Oktober 1939 die Fragebögen der Krankenmordorganisation an. Von 160 Bewohnern mussten für 96 Personen Meldebögen ausgefüllt werden.94 Im November 1940 transportierten die nationalsozialistischen Behörden 44 Bewohner in ZwischenanstalLindenau war. Siehe dazu ausführlich Fruzsina Müller, Geschichte des Diakonissenhauses in Leipzig-Lindenau, Schwesternschaft im Nationalsozialismus, Leipzig 2021 (erscheint im Frühjahr 2021). 91  Ebd. 92  Werner Fink, Esther Selle, Zuwendung leben. Ein Streifzug durch die Geschichte der Diakonissenanstalt Dresden 1844–2004. Diakonissenschwesternschaft Dresden, Dresden 2004, S. 25; Anett Büttner, Diakonissenanstalt Dresden 1844–2014, Essen 2014, S. 105 und Artikel im vorliegenden Sammelband. 93  ADWS, Bestand 1002, Erinnerungsbericht Hilma Zerche. 94  Teuerle, Aufarbeitung, S. 63.

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ten und damit in das perfide System der „Euthanasie“ ab.95 Dennoch nahm Kleinwachau nach dem Abtransport einiger seiner Bewohner im Jahre 1940 weiter neue Pfleglinge auf, auch aus anderen Heimen wie dem Siechenhaus „Bethesda“. Im Mai 1943 beschlagnahmte das Innenministerium Kleinwachau. Die sächsische Regierung plante dort einen Landesjugendhof für schwer­erziehbare Jugendliche. Im Zuge der Beschlagnahme wurden die letzten 80 Bewohner nach Großschweidnitz gebracht. Davon waren bis Kriegsende 60 verstorben. Die meisten wurden vermutlich im Rahmen der „Medikamenten­ euthanasie“ sowie der „Kindereuthanasie“ ermordet. Bei zehn Personen gelang die Entlassung nach Hause. Das Schicksal der Übrigen ist nicht bekannt. Drei der 80 Bewohner lebten nach Kriegsende wieder in Kleinwachau. Weiterhin konnten 21 Männer durch eine Verlegung nach Kemnitz, 20 Frauen nach Oppach und 10 Kinder in das Haus Böhme nach Dresden-Loschwitz gerettet werden.96 Diakon Bruno Grützner, Leiter und „Hausvater“ des ehemaligen Wandererheims in Oppach, erinnerte sich 1949 an die Aufnahme der Frauen: „Am 1. Oktober 1942 stellte der Staat die Verpflegungskosten für das kleine Heim [gemeint ist das Wandererheim] ein, damit wollte es scheinen, dass wir in neue Schwierigkeiten kommen sollten. Erfreulicherweise nahm sich der Landesverein für Innere Mission an und die Arbeit konnte fortgehen, bis zu dem Zeitpunkt, da der Landesverein mit einer ihrer Anstalten selbst durch den Druck des Staates in Not kam. Es wurde beschlossen, die in Not geratene Anstalt in Kleinwachau zu unterstützen und das Heim als Wandererheim aufzulösen. Die letzten Wanderer [Obdachlose] zogen daraufhin am 17. Mai 1943 ab. […] Fast 2 Jahre fanden die Kranken ihre Heimat im Rettungshaus Oppach.“97

Das „Wandererheim“ stand zur Verfügung, da die Nationalsozialisten schon zu Beginn ihrer Regierungszeit sehr restriktiv gegen die poten­tiellen Bewohner solcher Heime vorgingen. Die „Landstreicher“, wie sie damals genannt wurden, standen durch die Behörden unter starkem Verfolgungsdruck.98 Unter den Geretteten von Oppach war auch Martha Reinelt, deren Schicksal die sicherste Möglichkeit zeigt, der „Euthanasie“ zu entkommen: das Engagement der Angehörigen. Martha Reinelt, geboren am 20. März 1891 als Martha Schubert in Dresden99, war schon in den Jahren 1924/25 das erste Mal kurz in Kleinwachau wegen ihrer Epilepsie. Seit dem 5. Dezember 1940 lebte sie er95  Ebd.

Aufarbeitung, S. 66. Bestand 580/1, Geschichtliche Tage des Rettungshauses zu Oppach nach dem 75-jährigen Jubiläum am 4. Juli 1928 vom 25. Januar 1949, S. 2. 98  Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/Main 2014, S. 53. 99  Archiv Kleinwachau (Archiv KW), Bestand Bewohnerarchiv, Nr. 548: Reinelt, Martha. 96  Teuerle, 97  ADWS,



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neut in Kleinwachau und wurde nach der Beschlagnahme am 23. Mai 1943 nach Großschweidnitz verlegt. In einem Brief vom 16. Oktober 1943 an die leitende Diakonisse Frieda Koch schrieb Walter Schadeberg, dass Angehörige von Martha Reinelt ihn „schon seit Monaten bestürmen“, sie nach Oppach zu nehmen. Vetter Karl Schulze erhielt am 6. November 1943 die erlösende Nachricht, dass seine Tante ab dem 20. November 1943 in Oppach aufgenommen werden könne. Es sind keine Unterlagen über mögliche Proteste von Großschweidnitz vorhanden, dass Martha Reinelt entlassen werden sollte. Das war ein übliches Vorgehen. Bei einem Engagement der Angehörigen wurde der Betreffende in der Regel den Verwandten übergeben. Die Nationalsozialisten fürchteten eine öffentliche Debatte über die „Euthanasie“. Martha Reinelt wurde von Großschweidnitz nach Oppach verlegt und damit gerettet. Später lebte sie wieder in Kleinwachau und starb dort am 27. März 1956.100 Im Jahresbericht der Inneren Mission Pirna 1943 war öffentlich von einem Jugendlichen zu lesen, der durch den Einsatz der Inneren Mission vor der „Euthanasie“ bewahrt wurde. Wenn es auch verklausuliert formuliert wurde, ist es doch im Nachhinein erstaunlich, wie deutlich der Bericht den Sachverhalt darstellte: „Einem gelähmten Jugendlichen, der aus Kleinwachau in eine Landesanstalt verlegt worden war, konnten wir zu seiner und seiner Eltern Freude in einem Heim der IM in Schlesien Aufnahme erwirken. Der Junge hatte sich in den Heimen der IM zuerst in Großhennersdorf und später Kleinwachau sehr wohlgefühlt. In der ‚kalten Pracht‘ [Ausdruck der Mutter des Jungen] der Landesanstalt litt er qualvoll unter Heimweh. Jetzt ist er wieder ruhig und gern in dem kleinen, sehr primitiven Heim der IM in Schlesien.“101

Die bevorstehende Beschlagnahme von Kleinwachau war den dort eingesetzten Diakonissen bereits seit Jahresbeginn 1943 bekannt. Wahrscheinlich durch eine Information des Ministerialbeamten Neefe an Schadeberg und Wendelin konnte wertvolle Zeit gewonnen werden, wenigstens einige Bewohner zu retten. Die Pflegekräfte informierten die Angehörigen über den möglichen Abtransport und versuchten so, das Leben ihrer Schützlinge zu retten. So schrieb die Mutter von Eckhard Goldenberg, geboren am 26. Fe­ bruar 1937, in ihrem Tagebuch im Februar 1943 für ihren Sohn: „Und wirklich sagte mir Schwester Anna: ‚Frau Goldenberg, jetzt muss ich ihnen noch etwas ganz Schreckliches sagen: Unser Heim wird aufgelöst. Die Kinder kommen alle nach Großschweidnitz in die Landesanstalt.‘ Mir fuhr der Schreck in alle Glieder!“102 100  Ebd.

101  Archiv

Diakonisches Werk Pirna (DWP), Jahresbericht 1943. Erinnerung an Eckhard Goldenberg von seiner Schwester Gisela Goldenberg 2001, Archiv KW, Bestand Schrank. 102  Zur

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Trotz dieser offenbar aufrüttelnden Nachricht holte die Mutter vermutlich wegen eigener existentieller Nöte angesichts des fortgeschrittenen Krieges ihren Sohn nicht nach Hause, und der Junge verstarb am 21. November 1943 in Großschweidnitz. Zu den wenigen Personen, die die Tortur in Großschweidnitz überlebt haben, zählt Marianne Kühn, geboren am 3. Januar 1931 in Dresden. Seit 1941 lebte sie in Kleinwachau und erinnerte sich an die Ankunft und das Leben in Großschweidnitz nach dem Abtransport im Mai 1943: „Die ersten Wochen konnten wir uns gar nicht wohlfühlen. Die Schwestern waren oft hart und streng zu uns. Wir wären am liebsten weggelaufen. Doch das war ja nicht möglich, wir saßen ja hinter Schloss und Riegel. Für uns, die wir an Freiheit gewöhnt waren, war das eine harte Strafe. Es war oft sehr langweilig für uns und wir vermissten den Schulunterricht sehr. Als es immer kritischer mit der Politik wurde, wurde das Elend noch schrecklicher und schlimmer für uns. Die armen kranken Kinder starben in den letzten Wochen häufiger und nacheinander als bisher. Darunter waren auch Kinder aus Kleinwachau, von denen ich als einzige übrig blieb. Ich schwebte täglich in Angst und Gefahr, denn woran konnte ich merken, wenn sie auch mir irgendwelche Mittel ins Essen gaben, um einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen?“103

Neben den Heimen Kleinwachau und dem „Katharinenhof“ waren auch weitere Heime der Inneren Mission in Sachsen betroffen, die nicht direkt vom Landesverein verwaltet, aber mit ihm verbunden waren. Zwei sollen hier beispielhaft erwähnt werden. Zum einen Einrichtungen der Inneren Mission Leipzig, zum anderen das Taubstummenheim in Zwickau. Ermittelt werden konnten bisher zehn Personen, darunter zwei Kinder (Zwillinge), die der „Euthanasie“ aus Einrichtungen der Leipziger Diakonie, vor allem in Borsdorf, zum Opfer fielen. Die beiden Zwillinge Olaf und Wolfram Eder wurden am 7. Juni 1940 in der Universitätsklinik Leipzig als uneheliche Kinder geboren. Daher übernahm das Jugendamt der Stadt Leipzig deren Vormundschaft. Im Jahre 1942 wurden sie in ein städtisches Kinderheim in Leipzig aufgenommen. Ihr vorheriger Aufenthaltsort ist unbekannt. Im Fe­ bruar 1943 wurden sie in das Kinderheim in Borsdorf verlegt und verblieben dort bis zum 12. Januar 1944. Da sich offenbar Entwicklungsverzögerungen oder weitergehende Handicaps bei Ihnen herausstellten, sollten sie auf Anordnung des Jugendamtes Leipzig in die Kinderfachabteilung Leipzig-Dösen104 verlegt werden. Sie wurde aber auf Grund des Krieges aufgelöst und in die Landesanstalt Großschweidnitz verlegt. Bereits am 18. Dezember 1943 fragte die Verwaltung der „Borsdorfer Anstalten“ in Großschweidnitz an, 103  Erinnerung von Marianne Kühn, aufgeschrieben von Silke Teuerle, Archiv KW, Bestand Schrank, S. 1 ff. 104  Frank Schneider (Hg.), erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus. Die Dokumentation zur Ausstellung, Berlin 2019.



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wann die Kinder dorthin zu verlegen seien. Unmittelbar nach der Einlieferung wurde bei beiden Kindern „angeborener Schwachsinn“ diagnostiziert. Am 24. September 1944 erhielt die Mutter die erschütternde Nachricht, dass ihr Sohn Wolfram an Bronchopneumonie verstorben sei. Daraufhin spielte die Mutter offenbar mit dem Gedanken, ihren zweiten Sohn Olaf zu sich zu holen. Daher fragte das Jugendamt Leipzig als Vormund am 4. Dezember 1944 in Großschweidnitz an, ob der Junge in „Familienpflege“ leben könne. Das wurde mit Verweis auf seinen Zustand verneint. Am 18. Februar 1945 erhielt die Mutter dann die gefürchtete Nachricht, dass auch ihr zweiter Sohn Olaf an Bronchitis und Kreislaufschwäche verstorben sei. Die Mutter schrieb daraufhin einen anklagenden Brief an die Anstalt, warum man sie nicht benachrichtigt und sie ihren Sohn nicht zur Pflege erhalten habe. Der Antwortbrief am 28. März 1945 von der Anstaltsleitung enthielt die üblichen Argumente der Rechtfertigung zur Tötung von Menschen mit Behinderungen: „Auch charakterlich war er sehr schwierig. […] Wahrscheinlich hätte er dauerhaft in einer Anstalt leben müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass er jemals so weit gekommen wäre, im freien Leben bestehen zu können. Wir teilen Ihnen dieses mit; vielleicht kann es Ihnen ja in ihrem Schmerz einen kleinen Trost bedeuten.“105

Zu den Frauen, die aus den Borsdorfer Einrichtungen der Inneren Mission Leipzig der „Euthanasie“ zum Opfer fielen, gehörte auch Frieda Landgraf, Jahrgang 1901. Sie war als Arbeiterin tätig und litt 1927 das erste Mal an einer psychischen Erkrankung. In deren Folge wurde ihre Arbeitsfähigkeit immer weiter eingeschränkt. Im Jahre 1940 wurde sie in den „Borsdorfer Anstalten“ aufgenommen und Ende November 1940 in das „Schutzheim für Arbeiterinnen“ nach Leipzig verlegt, um sie dort in Arbeit vermitteln zu können. Das blieb offenbar erfolglos und so wurde sie am 3. Dezember 1940 in die Landesanstalt nach Zschadraß verbracht, eine der Zwischenanstalten in die Vergasungsanstalt in Pirna-Sonnenstein. Da sie offenbar in Zschadraß zumindest kurzzeitig Hilfsarbeiten verrichten konnte, verblieb sie dort. Am 21. April 1943 erhielten ihre Eltern aber die Nachricht, dass sie verstorben sei. Ihre Angehörigen schrieben einen Brief voller Misstrauen gegenüber der Todesursache an die Anstalt und erhielten am 11. Juni 1943 die lapidare Antwort: „Sie können vollkommen beruhigt sein. Ihre Anverwandte ist an Herzschwäche und hochgradiger Abmagerung sanft entschlafen.“106

Weiterhin wurden drei Personen kurz vor dem Ende der Vergasungsaktion Mitte Juli 1941 auf dem Sonnenstein in Pirna Anfang September 1941 aus Borsdorf abgeholt, verblieben dann aber in der für sie nur als Zwischenstation vorgesehenen Anstalt in Zschadraß, da sie doch als arbeitsfähig einge105  SächsHStAD, 106  SächsStAL,

10822/8791 und 8792. 20055/1533.

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stuft wurden. Am 8. August 1941 hatte das sächsische Ministerium des Inneren eine Verordnung erlassen, die diese Möglichkeit zuließ. Zu diesen Frauen gehörte Gertrud Reinhardt, Jahrgang 1908. Seit 1934 wurde sie immer wieder mit kurzen Unterbrechungen in Borsdorf aufgenommen. Am 25. Juli 1941 verlegte man sie auf staatliche Anordnung nach Zschadraß. Im Aufnahmeprotokoll ist vermerkt, dass die „Borsdorfer Anstalten“ ihre Rückführung nach Borsdorf beantragt hätten. Auch ihre Mutter wandte sich sofort an die Landesanstalt Zschadraß und teilte ihre Bereitschaft mit, ihre Tochter umgehend aufzunehmen. Daraufhin gelang es, Frau Reinhardt am 2. September 1941 wieder nach Borsdorf zurückzuverlegen und sie so vor den Krankenmorden zu bewahren.107 Am Schicksal von Frau Reinhardt wird, wie bei Frau Reinelt aus Kleinwachau, deutlich, dass die Bereitschaft der Familie, Angehörige wieder aufzunehmen, eine realistische Möglichkeit der Rettung war. In der übergroßen Mehrheit gaben die staatlichen Anstalten dann die Menschen wieder frei. Warum das nicht bei dem Zwilling Olaf Eder passiert ist, lässt sich nicht mehr ermitteln. Vermutlich war sein Gesundheitszustand schon so schlecht und hätte die durchgeführte „Medikamenteneuthanasie“ in Großschweidnitz öffentlich gemacht. Über Aktivitäten der Verantwortlichen der Inneren Mission Leipzig zu diesen Themen sind keine Schriftstücke erhalten. Es ist aber anzunehmen, dass die Rückholbitte, beispielsweise bei Frau Reinhardt, durchaus aus der Kenntnis entstand, welchem Schicksal die abgeholten Bewohner entgegengehen würden. Im Jahre 1943 wurde Borsdorf von Vertretern der Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstalten (T4-Tarnorganisation – verantwortlich für die „Euthanasie“) besichtigt. Dabei sollte u. a. überprüft werden, ob Pflegebedürftige aus den damals schon von den Bombenangriffen betroffenen Gebieten im Ruhrgebiet verlegt werden konnten. Für die „nichtarbeitsfähigen“ Bewohner von Borsdorf hätte das den Abtransport in eine sächsische Landesanstalt bedeutet. Nach bisherigen Erkenntnissen konnten sie in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben. Ein intensiver Kontakt des Vorstandes des Landesvereins für Innere Mission Sachsen in das sächsische Innenministerium ermöglichte offenbar ein Aussetzen des Beschlusses. Im Sommer 1941 wurden vier Bewohner aus dem Taubstummenheim Zwickau in die Landesanstalt Zschadraß „verlegt“. Der Leiter des Taubstummenheims, Pfarrer Gocht, wollte sich damit nicht abfinden und argumentierte gegenüber den nationalsozialistischen Behörden, wie sich sein Sohn rückblickend erinnert: „Taubstumme sind in einer Geisteskrankenanstalt völlig fehl am Platze, sie können sich mit niemandem verständigen, auch das Pflegepersonal einer solchen Anstalt 107  SächsStAL,

20055/1376.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“105 kann hinsichtlich der Verständigung mit diesen armen Leuten nur in einer völlig hilflosen Lage sein. Er [Sohn über seinen Vater] richtete daraufhin an alle beteiligten Stellen unermüdlich einen schriftlichen Antrag nach dem anderen und ersuchte um sofortige Berichtigung des offensichtlich unterlaufenen ‚Irrtums‘ und um die Entlassung und Rückführung der vier Pfleglinge. Den Anträgen wurde stattgege­ ben.“108

Zu den Opferzahlen aus den Heimen der Inneren Mission in Sachsen ist bislang folgendes bekannt: Aus Kleinwachau, Großhennersdorf, dem Martinstift in Sohland und dem Bethesda-Heim in Radebeul wurden nach bisherigen Erkenntnissen 255 Personen bei der „Aktion T4“ getötet, und weitere 177109 ehemalige Bewohner von Heimen der Inneren Mission verstarben in Großschweidnitz im Rahmen der „Medikamenten- und Kindereuthanasie“. Neben der Opfergruppe von Personen, die direkt in Heimen der Inneren Mission betreut wurden, gab es noch eine weitere. Die Innere Mission Sachsen hatte über ihre Stadtmissionen und Vereine vor Ort für viele kranke und behinderte Menschen die Vormundschaft. Auch aus diesem Personenkreis sind zahlreiche Menschen getötet worden. Wie groß diese Opferzahl war, ist derzeit nicht zu ermessen. Protestversuche auf der Ebene des Deutschen Reiches Nach der Versendung der Fragebögen im Oktober 1939 verdichteten sich die Hinweise auf den wirklichen Sinn dieser Bögen zu Beginn des Jahres 1940. Immer mehr Nachrichten, die auf eine Ermordung der ehemaligen Heimbewohner hindeuteten, kamen in Berlin beim Central-Ausschuss der Inneren Mission an. Nach einer ersten Beschäftigung mit dem Thema im Februar 1940 erhielt der stellvertretende Vorsitzende des CA, Pastor Braune, den Auftrag, weitere Indizien zur „Euthanasie“ zu sammeln und in einer Denkschrift zu verarbeiten. Diese Vorgehensweise war prägend für das weitere Verfahren.110 Der Central-Ausschuss protestierte nicht offiziell und öffentlichkeitswirksam, sondern mit Hilfe einer Denkschrift und inoffiziellen Gesprächen. Grund war sicher die Sorge vor dem Verlust aller Arbeitsmöglichkeiten für die Innere Mission bei einem öffentlichen Protest. Hinter der Inneren Mission standen keine starken, sondern vielfach durch den „Kirchenkampf“ zerriebene evangelische Landeskirchen, die kaum Unterstützung im Kampf gegen die „Euthanasie“ bieten konnten. Auch die zustimmende Hal108  LKADD, Bestand 5, Nr. 710, 1, S. 422, Bericht vom 8. Oktober 1962 des Sohnes Gotthold Gocht. 109  Zahlen nach Teuerle, Aufarbeitung, S. 70 und Westfeld, Vielfältige Geschichte, S.  77 f. 110  Jan Cantow, Pastor Gerhard Braune im „Hausgefängnis“ der Gestapo-Zentrale in Berlin. Kurzbiographie und Dokumente, Berlin 2012, S. 47 f.

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tung der Inneren Mission zur Zwangssterilisation schwächte ihre Position im Kampf gegen die „Euthanasie“, da diese Maßnahmen in der nationalsozialistischen Logik lediglich eine Fortführung ihrer „rassenhygienischen“ Maßnahmen darstellten. Pastor Braune beriet sich für seine Denkschrift mit Friedrich von Bodelschwingh, dem Leiter der „von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel“111, und erhielt Zuarbeiten von Vertrauenspersonen wie Pastor Funke aus Brandenburg und einem der Vereinsgeistlichen des Landesvereins für Innere Mission in Sachsen, Walter Schadeberg und Hans von Dohnanyi112, der später von den Nationalsozialisten auf Grund seines Widerstandes zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Obwohl Wendelin mit Pastor Braune durch seine Leitungstätigkeit im CA in ständigem Kontakt stand, überließ er dem Vereinsgeistlichen Schadeberg die Zuarbeit zur Denkschrift. Seine Informationen über die „Euthanasie“ in Sachsen verdankte Schadeberg der aufmerksamen Beobachtung von Mitarbeiterinnen des Wohlfahrtsdienstes der Inneren Mission für den Kirchenkreis Grimma. Die dortigen Mitarbeiterinnen hatten sich Anfang Mai 1940 in Leipzig an Schadeberg gewandt und mündlich von für sie erschütternden Besuchen bei ihren Mündeln in den Anstalten Waldheim und Zschadraß berichtet. Am 11. und am 18. Mai 1940 legten sie diese Erlebnisse schriftlich nieder und gaben sie an Schadeberg weiter, der am 8. Juni 1940 die Unterlagen an Pastor Braune weiterleitete. Die darin enthaltene Bitte „die Unterlagen in der vorliegenden Form nicht aus der Hand zu geben, insbesondere von den darin genannten Namen keinen Gebrauch zu machen“113 verdeutlichte den konspirativen Charakter. Die von Pastor Braune am 9. Juli 1940 fertiggestellte Denkschrift „Betrifft: Planwirtschaftliche Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ wurde von ihm persönlich mit einem Brief des Präsidenten des CA, Constantin Frick, der Reichskanzlei übergeben. Weitere Proteste gegen die „Euthanasie“ kamen neben dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm auch aus Sachsen. Bereits im Juli 1940 stellte der in der Bekennenden Kirche organisierte Richter Lothar Kreyssig114, der spätere Begründer der „Aktion Sühnezeichen“, Anzeige wegen 111  Anneliese Hochmuth, Spurensuche, Eugenik, Sterilisation und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929–1945, Bielefeld 1997, S. 63–84. 112  Fritz Stern/Elisabeth Sifton, Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler. München 2013. 113  Einschreiben von Pfarrer Dr. Schadeberg an Pastor Braune vom 8. Juni 1940, Archiv der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal (AHSL), Bestand EA 599–1/2. 114  Susanne Willems, Lothar Kreyssig. Vom eigenen verantwortlichen Handeln. Eine biographische Studie zum Protest gegen die Euthanasieverbrechen in Nazideutschland, Berlin 1995; Hans-Joachim Döring/Michael Haspel (Hg.), Lothar Kreys-



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Mordes gegen Philipp Bouhler.115 Daraufhin wurde Kreyssig in den Ruhestand versetzt. Wenig später, im November 1940, wandte sich der Leipziger Pfarrer Johannes Herz116 an den Reichsgerichtsrat Eberhard Teuffel und bezog deutlich Stellung gegen die „Euthanasie“.117 Nach der Predigt von Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941, dem katholischen Bischof von Münster,118 in der er die Morde an kranken und behinderten Menschen öffentlich anprangerte, ließ Hitler die zentralen Krankenmorde am 24. August 1941 stoppen. Die „Medikamenteneuthanasie“ wurde fortgesetzt, und Zehntausende fielen ihr bis zum Kriegsende zum Opfer. Protestversuche von Seiten des Landesvereins in Sachsen Neben der Zuarbeit zur Denkschrift von Pastor Braune versuchten die Verantwortlichen des Landesvereins für Innere Mission in Sachsen, auch mit eigenen Aktionen die verbrecherischen Krankenmorde aufzuhalten. Eine Form des Protests war die Bekräftigung der Absage an die „Euthanasie“, verbunden mit der problematischen Bejahung der Zwangssterilisation durch Walter Schadeberg. In seinem 1940 veröffentlichten Buch „Die Epileptischen- Heil- und Pflegeanstalt Kleinwachau“ schrieb er: „Weil die IM um diese völkische Verantwortung [Kosten zur Pflege der Epileptiker] weiß, ist es ihr auch eine innere Selbstverständlichkeit gewesen, der rassenpolitischen Gesetzgebung zuzustimmen und sie, insofern es sich um eine Erbkrankheit handelt, durchzuführen. Freilich, einem Gedanken kann die Innere Mission nicht zustimmen, der ihr bei Besichtigungen zwar selten, aber doch immer wieder einmal ausgesprochen wird: ‚Wäre die Spritze, die den einzelnen Kranken schmerzlos von seinem Leiden befreit, nicht richtiger, ja barmherziger als die viele mühevolle Pflege?‘ Wer in dem Dienst an Epileptikern steht, weiß, dass sie am Leben hängen wie jeder andere auch. Schließlich wollen wir auch als Christen antworten: Alles Leben ist Gottes Schöpfung. Gott selbst hat sich das Recht darüber vorbehalten. Es ist darum etwas Heiliges.“119

Neben dieser öffentlichen Äußerung versuchten Adolf Wendelin und Walter Schadeberg mit Protesten bei der sächsischen Regierung einen Stopp der „Euthanasie“ zu erreichen. Sie suchten das Gespräch mit den Verantwort­ sig und Walter Grundmann. Zwei kirchenpolitische Protagonisten des 20. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, Weimar 2014. 115  Schmutzler, Evangelisch-sozial, S. 311. 116  Ebd. 117  Ebd., S.  309 f. 118  Markus Trautmann, Clemens August von Galen. Ich erhebe meine Stimme, Ostfildern 2010. 119  Die Epileptischen-Heil und Pflegeanstalt Kleinwachau, Dr. Walter Schadeberg, Dresden 1940, S. 16 ff.

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lichen im Innenministerium. In seiner Denkschrift vom 28. Februar 1941 über die Veränderungen im Anstaltswesen der Inneren Mission Sachsens seit dem 1. September 1939 schrieb Adolf Wendelin: „Bei dieser Besprechung [am 9. April 1940 beim sächsischen Innenminister Fritsch] ist dann weiter auch die Frage der Heil- und Pflegeanstalten angesprochen worden.“120

Neben diesem zeitgenössischen Zeugnis erinnern sich die beiden rückblickend nach dem Zweiten Weltkrieg an ihre Bemühungen. Der Wert dieser Erinnerungen ist schwierig einzuschätzen, da ein Ziel die möglichst positive Darstellung des eigenen Handelns während der nationalsozialistischen Diktatur war. Schließlich ging es um die Frage der Weiterbeschäftigung und damit der persönlichen Existenz. Adolf Wendelin schrieb kurz nach Kriegsende: „Gegen die Tötung der in unseren Anstalten der IM untergebrachten Pfleglinge habe ich bei den zuständigen Stellen der Regierung Einspruch erhoben, trotzdem das sehr missliebig war. Es hat zwar Eindruck gemacht, weil die IM die einzige Stelle war, die das in der damaligen Zeit gewagt hat, aber es hat leider keinen Erfolg gehabt.“121

Schadeberg erinnerte sich ebenfalls kurz nach Kriegsende: „Abgesehen von den vielfachen Verhandlungen und Auseinandersetzungen um einzelne Anstalten und Einrichtungen der IM habe ich z. B. wiederholt, in einem Fall zusammen mit OKR Wendelin, offiziellen Einspruch gegen die Abtötungsmaßnahmen beim damaligen Ministerium des Innern erhoben.“122

Die beiden konnten sich offenbar auf die Unterstützung eines in der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen im sächsischen Ministerium des Innern tätigen Ministerialbeamten, Friedrich August Neefe verlassen. Er schrieb in seiner Schrift „Kirche und Euthanasie“ im Jahre 1965 „Als nach den ersten Sammeltransporten in zunehmendem Maße Todesanzeigen über die Verlegten erschienen und die Angehörigen auch solche erhielten, […] sprachen für die sächsischen kirchlichen Anstalten die Herren Oberkirchenräte Wendelin und Dr. Schadeberg bei dem Reichsstatthalter Mutschmann sowie bei dem Innenminister Fritsch vor. […] Ich habe, als ich von dem Plan [Beschlagnahme von Kleinwachau] durch einen Zufall hörte, auch von ihm den Herren Oberkirchenräten Wendelin und Dr. Schadeberg vertraulich Kenntnis gegeben. Der Inneren Mission blieb dadurch Zeit, den Restbestand ihrer Kranken in drei ihrer Pflegestätten zu verlegen.“123 120  Landesverein für Innere Mission Sachsen, Denkschrift, 28. Februar 1941, ­Archiv RWL, Bestand Ohl, 11. 20. 1., S. 1. 121  Wendelin in einer Erklärung, 18. Oktober 1945, LKADD, Bestand 2, Nr. 645, S. 1. 122  Schadeberg in einer Erklärung, 4. November 1945, LKADD, Bestand 2, Nr. 965, S. 1. 123  Friedrich August Neefe, Kirche und Euthanasie, ADWS, Bestand 1002, S. 5.



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Die hier vorgestellten drei Aussagen sind schwer zu verifizieren, besonders die von Friedrich August Neefe. Er war seit 1937 Mitglied der NSDAP und als Oberregierungsrat in der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen im sächsischen Ministerium des Innern tätig. Nach seiner Entlassung am 31. Oktober 1945 aus dem Staatsdienst wegen seiner Parteizugehörigkeit übernahm ihn der Landesverein für Innere Mission am 15. November 1945 in seinen Dienst. Es könnte sich also bei der Aussage von Neefe um eine Gefälligkeit handeln, und die kriegsbedingten Aktenverluste erschweren eine Bewertung erheblich. Dennoch gibt es mindestens zwei Hinweise in weiteren Quellen, die nicht aus dem kirchlichen Kontext stammen. Sie stützen die vorherigen Aussagen, dass es aus den Reihen der Inneren Mission und auch von Neefe Versuche gab, die „Euthanasiemaßnahmen“ zumindest zu behindern und Menschen vor den Krankenmorden zu bewahren. Zum einen ist das der Bericht der Ärztekommission um Dr. Gerhard Wischer, die 1942/43 in Vor­ bereitung der „Medikamenteneuthanasie“ im Auftrag des sächsischen Innenministeriums die Heime besichtigte und konstatierte, „dass die Leiter der Anstalten, abgesehen von wenigen klerikalen, wie der Epileptikeranstalt der Inneren Mission Kleinwachau, dem Euthanasieproblem positiv gegenüber stehen. Auch dort, wo man der Euthanasiefrage gegenüber aus religiösen Bedenken heraus negativ eingestellt ist, fanden wir keine nennenswerte Obstruktion.“124

Zum anderen existiert ein Antwortschreiben von Neefe in seiner Eigenschaft als Oberregierungsrat am 10. Juli 1943 an den Reichsbeauftragten für Heil- und Pflegeanstalten, Herbert Linden, der als Verantwortlicher für die „Euthanasie“ agierte: „Die Frage der stärkeren Belegung der Heil- und Pflegeanstalten des Landes Sachsen ist von mir schon selbst in den letzten Monaten erwogen und erörtert worden. Ich habe dabei feststellen müssen, dass es völlig unmöglich ist, dort noch weitere Kranke aufzuneh­men.“125

Eine weitere Aufnahme von behinderten und kranken Menschen aus anderen deutschen Gebieten, die beispielsweise vom Bombenkrieg getroffen waren, hätte nichts weiter bedeutet, als dass die bisherigen Bewohner der Heime und Anstalten zur „Medikamenteneuthanasie“ z. B. nach Großschweidnitz verlegt worden wären. Die Weigerung von Neefe bedeutete zumindest einen Aufschub und passt in das „Protestschema“ der Inneren Mission gegen die „Euthanasie“. Keine fundamentalen öffentlichen Proteste, sondern Behinderung der Vernichtungsmaschinerie beispielsweise durch Verweigerung von Verlegungsmaßnahmen vor Ort waren die Mittel der Wahl. 124  Bericht der Ärztekommission in Sachsen, 18. Februar 1943, SächsHStAD, 10736/16849, Bl. 48. 125  Benutzung der Landesanstalten, SächsHStAD Bestand 10736/16850, unpg.

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Eine Verlegung von bedrohten Pfleglingen in andere Heime der Inneren Mission war aber nur selten möglich, da es kaum freie Plätze gab. Resümee Verschiedene Faktoren beeinflussten das Handeln der Verantwortlichen im Landesverein für Innere Mission in Sachsen in der Zeit des Nationalsozialismus. Unmittelbar nach der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten und auch schon einige Zeit vorher sah die Mehrheit der Vereinsgeistlichen der sächsischen Diakonie in der neuen Ideologie eine Möglichkeit, nach den intensiven Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche in der Weimarer Republik und den seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stark ansteigenden Kirchenaustrittszahlen, wieder mehr Menschen mit der Botschaft des Christentums erreichen zu können und als Christen in der Gesellschaft wirksam zu werden. Die ausgedehnten Wirkmöglichkeiten zumindest der Inneren Mission im Sozialstaat Weimarer Republik blendeten sie aus. Die Bedrohung diakonischen Handelns durch die menschenfeindlichen Ansichten des Nationalsozialismus wurden zunächst nicht erkannt. Besonders herausfordernd waren die „rassenhygienischen Maßnahmen“. Die frühe Befürwortung der Zwangssterilisation durch die Innere Mission schwächte die Argumentationsmöglichkeiten gegenüber dem NS-Staat beim Thema „Euthanasie“. Für die Nationalsozialisten bestand zwischen diesen beiden Maßnahmen ein direkter Zusammenhang. Die verbrecherische Logik führte zum Tod Hunderttausender Menschen, der die Innere Mission auch aus Angst um die eigene Arbeitsfähigkeit wenig entgegenstellte. Zu einer Schwächung der Position des Landesvereins für Innere Mission führte auch die stark vom „Kirchenkampf“ betroffene sächsische Landeskirche, die keine Stütze bei der Abwehr gegen die staatlichen Eingriffe in die Arbeit war. Je länger die „Euthanasie“ anhielt und je mehr Informationen der Landesverein über das mörderische Vorgehen des NS-Staates hatte, um so größer waren die Bemühungen, durch eine Verlegung und das Freiräumen von eigenen Einrichtungen wenigstens einige Menschen zu retten. Dennoch war das kein Agieren in der Öffentlichkeit, da sich sofort die Frage nach dem Fortbestand des gesamten sächsischen Landesvereins der Inneren Mission stellte. Verantwortliche vor Ort konnten freier handeln, da sie nicht für die Existenz der Inneren Mission zuständig waren. Ihr Verhalten wie das Benachrichtigen der Angehörigen über den Zweck der Verlegungen oder gar die Verbringung von bedrohten Menschen an einen sicheren Ort bedeutete ein großes persönliches Risiko. Die einzige realistische Möglichkeit der Rettung vor der „Euthanasie“ war die Rückführung der Pfleglinge nach Hause in die Obhut der Verwandten. Aus sehr verschiedenen Gründen haben Angehörige nur selten von dieser



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Möglichkeit Gebrauch machen können – und nicht immer wurde ihnen die Option gewährt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren viele Einrichtungen der Inneren Mission Sachsen kriegszerstört und standen symbolisch für die Handlungsunfähigkeit der wichtigen Arbeit eines großen Trägers von sozialer Arbeit. Die Verstrickungen in den Nationalsozialismus, die im Kirchenkampf zerrissene sächsische Landeskirche und die aufziehende neue Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone erschwerten den Neubeginn erheblich. Eine Auseinandersetzung und vor allem die systematische Suche nach Opfern begann langsam erst seit dem Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Bis heute dauert die Recherche nach Opfern der „rassenhygienischen Maßnahmen“ von Menschen, die in Heimen der Inneren Mission lebten oder als Mündel von ihr betreut wurden, an. Literatur Böhm, Boris: Alfred Fernholz. Ein Schreibtischtäter im Dienste der Volksgesundheit, in: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 154–161. Böhm, Boris: Zum Gedenken: Opfer der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisation in Sachsen 1933–1945. Struktur und Praxis – Täter und Opfer, Dresden 2016, S. 124–138. Böhm, Boris/Jehne, Stefan: Die Rolle der Justiz in der NS-Zwangssterilisationspolitik in Sachsen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisation in Sachsen 1933–1945. Struktur und Praxis – Täter und Opfer, Dresden 2016, S. 26–34. Böhm, Boris/Markwardt, Hagen/Trogisch, Jürgen (Bearb.): „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934–1941 Dresden 2017. Büttner, Annett: Diakonissenanstalt Dresden 1844–2014, Essen 2014. Cantow, Jan: Pastor Gerhard Braune im „Hausgefängnis“ der Gestapo-Zentrale in Berlin. Kurzbiographie und Dokumente, Berlin 2012. Döring, Hans-Joachim/Haspel, Michael (Hg.): Lothar Kreyssig und Walter Grundmann. Zwei kirchenpolitische Protagonisten des 20. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, Weimar 2014. Engelmann, Angelika: Die Anfänge der Professionalisierung sozialer Arbeit in Dresden am Beispiel der sozialen Frauenschule des Landesverbandes für christlichen Frauendienst in Sachsen, in: Holger Starke (Hg.), Aus der jüngeren Dresdner Kirchengeschichte. 7. Kolloquium zur dreibändigen Dresdner Stadtgeschichte 2006 vom 29. März 2003. Dresden 2004, S. 41–47.

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Ev.-Luth. Diakonenhaus Moritzburg e. V. (Hg.), Geschichte und Geschichten. Textsammlung aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums des Ev.-Luth. Diakonenhaus Moritzburg e. V. und der Gemeinschaft der Moritzburger Diakone und Diakoninnen am 1. Mai 1997, Moritzburg 1997. Fink, Werner/Selle, Esther: Zuwendung leben. Ein Streifzug durch die Geschichte der Diakonissenanstalt Dresden 1844–2004. Diakonissenschwesternschaft Dresden, Dresden 2004. Gailus, Manfred: Ein großes freudiges „Ja“ und ein kleines, leicht überhörbares „Nein“. Der „Tag von Potsdam“ (21. März 1933) und die Kirchen in: Manfred Gailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015, S. 32–50. Hammer, Georg Hinrich: Geschichte der Diakonie in Deutschland. Stuttgart 2013. Hein, Markus: Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945–1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrer­ schaft, Leipzig 2002. Hochmuth, Anneliese: Spurensuche, Eugenik, Sterilisation und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929–1945, Bielefeld 1997, S. 63–84. Klee, Ernst: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/Main 2014. Langer, Robert: Pallas und ihre Waffen. Wirkungskreise der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden 2008. Lindemann, Gerhard: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche im gespaltenen Freistaat Sachsen, in: Konstantin Hermann/Mike Schmeitzner/Swen Steinberg (Hg.), Der gespaltene Freistaat. Neue Perspektiven auf die sächsische Geschichte 1918– 1933, Leipzig, Dresden 2019, S. 303–324. Lindemann, Gerhard: Friedrich Coch, Ein aktiver Parteigenosse als sächsischer Landesbischof, in: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 202–207. Lindemann, Gerhard: Friedrich Coch. Der Weg einer „braunen Karriere“ in der Landeskirche, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz. Biografien der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017, S. 61–86. Lindemann, Gerhard: Johannes Klotsche. Ein Vertrauensmann Mutschmanns an der Spitze der Sächsischen Landeskirche, in: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 208–213. Markwardt, Hagen: Ewald Meltzers Beiträge zu den rassenhygienischen Debatten während der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, in: Boris Böhm/Hagen Markwardt/Jürgen Trogisch (Bearb.) „Nun ließe sich viel erzählen von alle den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934–1941, Dresden 2017, S. 23–46.



Der Landesverein für Innere Mission in Sachsen im „Dritten Reich“113

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Bettina Westfeld

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Seelsorger der Patienten oder Helfer des Regimes? – Die Anstaltspfarrer in den sächsischen Heil- und Pflegeanstalten 1933–1945 Von Christoph Hanzig Einführung Die meisten großen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Sachsen waren staatliche und keine kirchlichen Anstalten. Dennoch verfügten die sächsischen Landesanstalten auch über Anstaltsgemeinden, die die Patien­ tinnen und Patienten sowie das Anstaltspersonal umfassten und denen ein evangelisch-lutherischer Pfarrer vorstand. Bereits im Königreich Sachsen befanden sich diese Pfarrer nicht im landeskirchlichen Dienst, sondern es waren Landesbeamte. Neben die religiös-moralischen Vorstellungen mischte sich ein zwingendes Loyalitätsverhältnis dem Staat gegenüber in das Berufsleben der Anstaltsgeistlichen. Waren rassenhygienische Maßnahmen bis dato in breiten gesellschaftlichen Kreisen nur diskutiert worden, schritten die neuen nationalsozialistischen Machthaber 1933 schnell zur legislatorischen Umsetzung ihrer biologistischen Bevölkerungspolitik. Auch innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche und in der Inneren Mission fanden rassen­ hygienische Maßnahmen, insbesondere die Sterilisation von psychisch erkrankten und geistig behinderten Menschen, nicht wenige Befürworter.1 Ideologische Anknüpfungspunkte an die NS-Gesundheitspolitik waren für die sächsischen Anstaltspfarrer also durchaus gegeben. Der Beitrag wirft besonders anhand von Personalunterlagen einen kollektiv-biografischen Blick auf die sächsischen Anstaltspfarrer während des Nationalsozialismus. Es geht also nicht in erster Linie um konfessionelle Anstalten, sondern um die Pfarrer als konfessionelle Vertreter in den Landes­ anstalten. Wie stellten sich die sächsischen Anstaltspfarrer zu „rassenhygie­ nischen“ Maßnahmen und zur NS-„Euthanasie“? Waren Sie sogar in die verbrecherische Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus verstrickt oder unternahmen sie Schritte dagegen? Bevor diese zentralen Fragen beantwortet 1  Vergleiche dazu die Beiträge von Uwe Kaminsky und Bettina Westfeld in diesem Band.

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Christoph Hanzig

werden, sollen die Lebensläufe der verbeamteten Anstaltspfarrer2 der sächsischen Heil- und Pflegeanstalten zunächst kurz beschrieben werden. Biographien sächsischer Anstaltspfarrer Johannes Axt3 Der langjährige Anstaltspfarrer der Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz bei Löbau, Johannes Axt, wurde am 21. April 1883 in Dresden geboren. Seit 1893 besuchte er das Gymnasium zum Heiligen Kreuz in Dresden, wo er im Kreuzchor sang und sein Abitur ablegte. An der Universität Leipzig studierte Axt seit 1903 evangelische Theologie, wo er auch 1907 die Erste Theologische Prüfung ablegte. Nach einer halbjährigen Tätigkeit als Hauslehrer in der Schweiz leistete er 1907/1908 seinen einjährigen Militärdienst in Dresden ab und kehrte anschließend nach Leipzig zurück. Dort war er am Predigerkollegium St. Pauli und an der Universitätskirche tätig. 1909 schloss Axt seine Ausbildung mit dem Zweiten Theologischen Examen ab. Am 1. Juli 1910 übernahm er die Stelle als Hilfspfarrer in der Landesanstalt Waldheim und trat damit in den staatlichen Anstaltsdienst ein. Von 1911 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war er Pfarrer in der Strafanstalt Zwickau. Seit August 1914 nahm Axt aktiv am Krieg teil und wurde 1915 zum Offizier befördert und bis 1917 als Divisionspfarrer eingesetzt. 1917 holte ihn das sächsische Innenministerium in den Anstaltsdienst zurück und setzte ihn als Anstaltspfarrer und stellvertretenden Anstaltsdirektor in der Erziehungsanstalt Bräunsdorf bei Freiberg ein. Den neuen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten nach dem verlorenen Krieg konnte Axt sich nur schwer anpassen. Mit dem progressiven, seit 1923 amtierenden Anstalts­ direktor von Bräunsdorf, Herbert Hesselbarth, gerieten Axt und seine Frau Gertrud wiederholt in heftige persönliche Konflikte.4 2  Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die Anstaltspfarrer der sächsischen Landesanstalten, die beim Versuch der Auflösung der Anstaltsgemeinden im Herbst 1938 durch den sächsischen Innenminister Fritsch noch im Beamtenverhältnis standen. Lediglich der bereits zwei Jahre zuvor ausgeschiedene Pfarrer, Erich Knabe, wird zusätzlich einbezogen. Verbeamtete Anstaltspfarrer waren zu diesem Zeitpunkt noch in den Anstalten Arnsdorf, Chemnitz-Altendorf, Großschweidnitz, Hubertusburg, Pirna-Sonnenstein und Zschadraß tätig. In den weiteren sächsischen Landesanstalten gab es bereits keine Anstaltspfarrer im Staatsdienst mehr. 3  Alle Angaben zu Axt beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakten im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden (künftig: SächsHStAD), 13859/148 und im Landeskirchenarchiv der Ev. -Luth. Landeskirche Sachsen in Dresden (künftig: LKADD) 2/1023. 4  Ausführlicher zu den Konflikten von Axt in Bräunsdorf sowie seiner Tätigkeit in Großschweidnitz bei: Christoph Hanzig: „Wir haben nichts zu verbergen!“ – Der



Seelsorger der Patienten oder Helfer des Regimes?117

Abb. 1: Johannes Axt, um 1935, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden.

Zum 1. Juli 1926 versetzte das sächsische Innenministerium Axt als Pfarrer in die Landesanstalt Großschweidnitz. In dieser Position verblieb er bis zum Ende seines beruflichen Lebens, bis 1945 als Landesbeamter und von 1946 bis 1959 im Dienst der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. Danach blieb er als Altersvikar zwei weitere Jahre in Großschweidnitz tätig. Auf seine Rolle während der „Euthanasie“-Morde in Großschweidnitz soll später noch eingegangen werden. Johannes Axt starb 1970 als Patient in der Landesanstalt Arnsdorf, da er in seinen letzten Lebensjahren an Altersdemenz litt. Beerdigt wurde er auf dem Anstaltsfriedhof in Großschweidnitz. Johannes Jauck5 In Chemnitz wurde Johannes Jauck am 30. August 1900 als Sohn des Juristen Gustav Jauck und seiner Frau Elise geboren. Jauck ging in Riesa und Chemnitz zur Schule. Nach der Schulzeit meldete er sich 1918 als Kriegsfreiwilliger und kam zur Ausbildung nach Belgien, wo er von Mai bis Kriegsende wohl nicht mehr an der Front eingesetzt wurde. Jauck studierte anschließend in Tübingen und Leipzig und legte seine Erste Theologische Prüfung 1924 ebenfalls in Leipzig ab. Danach blieb er drei Semester am Anstaltspfarrer Johannes Axt und die NS-„Euthanasie“ in der Landesanstalt Großschweidnitz, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz – Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017, S. 117–132. 5  Alle Angaben zu Jauck beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakte, SächsHStAD, 13859/3711.

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Christoph Hanzig

Abb. 2: Johannes Jauck in der Uniform des SA-Sturmbanns 179, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden.

Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig. 1926 bestand er auch die Zweite Theologische Prüfung vor dem Ev.-luth. Landeskonsistorium in Dresden. Bereits seit 1925 arbeitete er erst als Pfarrvikar in Oberbobritzsch und dann als Ephoralhilfsgeistlicher in Auerbach im Vogtland. Von 1926 bis 1931 hatte er die Pfarrstelle in Cämmerswalde inne, bevor er am 1. Oktober 1931 als Anstaltspfarrer der Landesanstalt Zschadraß in den Staatsdienst wechselte. Knapp drei Jahre später kam er in gleicher Funktion in die Landesanstalt Arnsdorf, wo er außerdem nebenamtlich als Lehrer an der Staatlichen Schwesternschule arbeitete. Jauck trat am 22. April 1933 in die NSDAP und am 15. September 1933 in die SA ein. In den Folgejahren wurde er außerdem Mitglied des Reichsbunds der Deutschen Beamten (RDB), des Opferrings, der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und des Reichsluftschutzbunds (RLB). Obwohl Jauck sich schnell den neuen Machthabern angedient hatte, war auch er von dem geringen Stellenwert der geistlichen Betreuung der Kranken in den sächsischen Landesanstalten betroffen. Einer möglichen Versetzung des Anstaltspfarrers in den Ruhestand versuchte der Vorsteher des Schwesternhauses, Dr. Rudolf Klaubert, vorzubeugen, indem er vorschlug, Jauck



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weiter in der Schwesternschule einzusetzen. Tatsächlich übernahm ihn das sächsische Innenministerium am 31. Januar 1940, rückwirkend zum 1. April 1939, hauptamtlich als wissenschaftlichen Lehrer in die Pfleger- und Schwesternschule in Arnsdorf. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde Jauck eingezogen und als Sanitätsunteroffizier in einem Lazarett eingesetzt. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt. Erich Knabe6 Erich Knabe wurde am 21. Mai 1882 in Böhrigen (Striegistal) geboren. Seine Schulzeit absolvierte er an der Fürstenschule in Meißen und am KönigAlbert-Gymnasium in Leipzig. Anschließend studierte er von 1902 bis 1906 Theologie und Philologie in Leipzig, Tübingen und Besançon. Nach einer Tätigkeit als Lehrer an der Petrischule und am Progymnasium Leipzig-Lindenau legte Knabe 1908 die Zweite Theologische Prüfung ab und wurde Hilfsgeistlicher in Leipzig-Gohlis. Von 1910 bis 1915 war er Pfarrer in ­Wendischrottmannsdorf. Dann übernahm er die Stelle als Anstaltspfarrer in der Landesanstalt Arnsdorf. 13 Jahre später wurde er in die Landesanstalt Leipzig-Dösen versetzt. Bereits ein Jahr vor dem Ende der Weimarer Republik war Knabe am 1. Februar 1932 der NSDAP beigetreten. Außerdem gehörte er nach 1933 der NS-Volkswohlfahrt und dem NS-Lehrerbund an. Kirchenpolitisch engagierte er sich bei den Deutschen Christen. Knabes Ansehen wird auch deutlich durch seine Berufung als DC-Vertreter in den Landeskirchenausschuss, der 1935 von Reichskirchenminister Hanns Kerrl gebildet wurde, um die kirchenpolitische Lage in Sachsen zu befrieden. Das Jahr 1936 stellte für Knabe einen Wendepunkt dar. Er löste sich von den Deutschen Christen und verließ auch den Staatsdienst. Statt seines Amtes als Anstaltspfarrer in Leipzig-Dösen, übernahm er nun mit dem Rektorenamt der Brüderanstalt Moritzburg eine konfessionelle Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Nun setzte er sich verstärkt für seine Betreuten ein. Erich Knabe starb bereits am 24. April 1940 an den Folgen einer Lungenentzündung.

6  Alle Angaben zu Knabe beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf: Kon­ stantin Hermann (unter Mitarbeit von Wilhelm Knabe): Wandlungen: Erich Knabe, in: Hermann/Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz, S. 19–33.

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Franz Möckel7 In der Landesanstalt Hubertusburg war von 1933 bis zu ihrer Auflösung 1940 Franz Möckel als Anstaltspfarrer tätig. Er wurde am 18. November 1886 in Leipzig geboren. Nach seiner Schulzeit und dem Theologiestudium wurde Möckel 1913 ordiniert. Bereits 1911/12 absolvierte er seinen einjährigen Militärdienst. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Möckel eingezogen und diente bis 1918 an der Front als Leutnant und Kompanieführer. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse ausgezeichnet. 1919 übernahm Möckel eine Pfarrstelle in Roßwein, bevor er am 15. September 1923 als erster Pfarrer nach Neuhausen im Erzgebirge ging, wo er zehn Jahre blieb. Dann wechselte er am 5. November 1933 als Anstaltspfarrer der Landesanstalt Hubertusburg in den Staatsdienst. In dieses neue Amt wurde er vom Dösener Anstaltspfarrer Erich Knabe eingewiesen. Möckel trat nicht in die NSDAP ein, gehörte jedoch dem NS-Opferring, der NSV, dem NS-Pfarrerbund und dem RLB an. Seine neue Position als Anstaltspfarrer füllte er gut aus, wie eine kurze Bewertung durch den Hubertusburger Anstaltsdirektor Dr. Martin Weicksel belegt: „Betreut seine Krankengemeinde mit viel Verständnis, guter Kanzelredner.“8 Mit der Auflösung der Landesanstalt Hubertusburg 1940 wurde auch Möckels Pfarrstelle überflüssig. Er selbst beantragte dann am 16. April 1940 seine Versetzung in den Ruhestand. Allerdings erfolgte zunächst lediglich eine Versetzung in den Wartestand. In der Folge entstand eine Korrespondenz zwischen Möckel, dem sächsischen Innenministerium und der Landeskirche über eine Beschäftigung im landeskirchlichen Dienst. Die Ev.-luth. Landeskirche Sachsens war bereit, Möckel wie einen Vikar einzusetzen. Möckel stimmte einer solchen Verwendung unter der Bedingung zu, dass er seine Versorgungsansprüche gegenüber dem Land Sachsen nicht verlieren würde und nach seinem Umzug nach Radebeul dort in der Nähe eingesetzt würde. Obwohl Möckel sogar zu einer persönlichen Unterredung in die Staatskanzlei bestellt wurde, fanden die Beteiligten keine abschließende Regelung. Bis zum Kriegsende bekam Möckel weiter seine Beamtenbezüge gezahlt. Gleichzeitig stand er der Gemeinde in Bannewitz vikarisch zur Verfügung. Von 1947 bis zu seinem Ruhestand 1955 hatte er die zweite Pfarrstelle in der Lutherkirche in Radebeul inne.9 Er starb am 1. Dezember 1979.

7  Alle Angaben zu Möckel beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakte, SächsHStAD, Reichsstatthalter in Sachsen, Personalamt 13859/5649. 8  Beurteilung Möckels durch Dr. Weicksel 7. Januar 1937, ebd., o. Bl. 9  Vgl. Karteikarte Möckels, LKADD, 2/4163, Bl. 1.



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Erwin Niedner10 Am 22. Mai 1885 wurde Erwin Niedner in Jerisau, einem heutigen Ortsteil von Glauchau, in eine Pfarrersfamilie hineingeboren. Sowohl sein Vater als auch sein Großvater hatten vor ihm diesen Berufsweg eingeschlagen. Niedner besuchte zunächst vier Jahre die Volksschule in Knauthain bei Leipzig. Anschließend besuchte er das König-Albert-Gymnasium in Leipzig und machte dort 1905 sein Abitur. In Leipzig und Erlangen studierte er danach Theologie und klassische Philologie. Nach seinem bestandenen Ersten Staatsexamen 1909 meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger und diente bei der 19. bayerischen Infanteriedivision in Erlangen. Im Oktober 1910 wurde er als Hilfsgeistlicher in Leipzig-Großzschocher ordiniert. 1912 legte er das Zweite Theologische Staatsexamen in Dresden ab. Niedner entschied sich als Militärseelsorger tätig zu werden und wirkte seit dem 1. September 1913 als Divi­ sionspfarrer an der Garnisonskirche in Dresden. Den Ersten Weltkrieg machte er in seiner Funktion von Beginn an mobil und an der Front beim Stab der 23. Reserve-Division mit. Nach dem verlorenen Krieg und der Reduzierung der Divisionspfarrer schied er am 1. April 1919 hochdekoriert aus dem Militär aus. Er hatte sowohl das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse als auch den Albrechtsorden erster Klasse mit Schwertern und Krone verliehen bekommen. Nach etwas mehr als einem Jahr als Lehrer für Deutsch und Religion am DreiKönigs-Gymnasium in Dresden übernahm Niedner am 1. Juni 1920 die Stelle als Anstaltspfarrer in der sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch. Es folgten später Versetzungen in die sächsischen Landesanstalten Hochweitzschen (1927), Pirna-Sonnenstein (1929) und schließlich Zschadraß (1934). Im Frühjahr 1933 trat Niedner in die NSDAP und den RDB ein. Weiterhin wurde er Mitglied der NS-Volkswohlfahrt und des Opferrings. Er engagierte sich aktiv in der NS-Bewegung, indem er Leiter der Fachschaft Sonnenstein und Schulungsleiter des Amtes für Beamte der NSDAP in Pirna wurde. ­Allerdings endete sein Werdegang in der NSDAP 1934 jäh. Niedner wurde Ende Mai 1934 aus der NSDAP ausgeschlossen, da er von Juni 1931 bis April 1933 Freimaurer der „Loge zur Leuchte am Strom“ in Pirna gewesen war. Bis Kriegsende bedauerte er stets seinen Ausschluss aus der NSDAP und beteuerte immer wieder sein positives Verhältnis zur Partei und ihren Funktionären. Starkes Interesse zeigte Niedner am Luftschutz. Im von Hermann Göring gegründeten Reichsluftschutzbund ließ er sich in Lehrgängen u. a. in Leipzig, Dresden und Berlin zum Luftschutzlehrer, Redner und Schulungsleiter im RLB ausbilden. 1937 hatte er den Rang eines Obertruppmeisters im RLB erlangt. 10  Alle Angaben zu Niedner beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakten, SächsHStAD, 13859/6074 und 6075.

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Ein Fehler in der Verwaltung der Landesanstalt Zschadraß hätte Niedners Karriere als Anstaltspfarrer 1935 beinahe beendet. Nachdem ein noch nicht vollständig ausgefüllter Personalfragebogen beim sächsischen Innenministerium vorzeitig eingereicht wurde, teilte dieses am 7. Mai 1935 mit: „Der Anstaltspfarrer Niedner hat […] die Frage 15: ‚frühere Zugehörigkeit zu anderen politischen Parteien pp. Freimaurerlogen‘ zunächst nicht beantwortet. […] Der Herr Minister hat deshalb angeordnet, dass Pfarrer Niedner aus dem Anstaltsdienste ausscheiden und der Landeskirche zur Verfügung gestellt werden soll.“11 Jedoch stand relativ schnell nur noch ein mögliches Dienststrafverfahren gegen ihn im Raum, welches Anfang Juni doch nicht eröffnet wurde, nachdem sich Niedner selbst und auch Anstaltsdirektor Dr. Liebers an das Ministerium wandten. Liebers schrieb: „Herr Pfarrer Niedner hat hier immer in aller Öffentlichkeit erklärt, dass er es sehr bedauere, infolge seiner früheren Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge aus der NSDAP. ausgeschieden worden zu sein. Das bestätigte mir auch heute wieder der hiesige Ortsgruppenleiter Sinnß, und auch Verwaltungsinspektor Fey war das bekannt.“12 Damit hatte sich das Problem seiner vormaligen Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge endgültig erledigt. 1938 erhielt Niedner dann die 2. Stufe des Treudienst-Ehrenzeichen für seine 25-jährige Tätigkeit im Staatsdienst. Als 1939 eine Einigung zwischen sächsischer Landesregierung und Evangelisch-lutherischem Landeskirchenamt in Bezug auf die Übernahme der Anstaltspfarrer und -gemeinden in den landeskirchlichen Dienst in Aussicht stand, bat Niedner das sächsische Innenministerium inständig, ihn im Staatsdienst zu belassen. Er begründete sein Anliegen damit, dass er nie „normaler“ Gemeindepfarrer gewesen war und diese Arbeit dementsprechend nicht kennen würde. Stattdessen bat er ihn anderweitig im Staatsdienst einzusetzen. Einen Wechsel als Anstaltspfarrer in den Strafvollzug hatte er in der Vergangenheit bereits mehrfach angestrebt, aber auch eine Verwendung für genealogische Arbeiten in einer Bibliothek oder im Luftschutz konnte er sich vorstellen, solange er dadurch im Staatsdienst verbleiben könne. Nach einem Gespräch mit dem Leiter der Abteilung Volkspflege im Sächsischen Innenministerium, Alfred Fernholz, im Juni 1939 wurde Niedner zum 1. September 1939 in die Landesanstalt Arnsdorf versetzt. Allerdings nicht als Anstaltspfarrer, sondern als Mitarbeiter der dort untergebrachten Landeszentrale für erbbiologische Bestandsaufnahme, deren Leitung er während des Zweiten Weltkrieges innehatte.

11  Nachricht vom Sächsischen Ministerium des Inneren, 7. Mai 1935, 13859/6074, Bl. 49. 12  Dr. Liebers an das Sächsische Ministerium des Inneren, 1. Juli 1935, 13859/ 6075, o. Bl.



Seelsorger der Patienten oder Helfer des Regimes?123

Nach eigener Angabe kümmerte sich Niedner auch während des Krieges seelsorgerisch um die Arnsdorfer Patienten und versuchte nach Kriegsende das Anstaltspfarramt wieder aufzubauen, jedoch ohne Erfolg.13 Im September 1945 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen, arbeitete bis 1949 als Lehrer und nahm schließlich ab 1950 die Pfarrstelle in Kieritzsch bei Borna an.14 1958 ging er in den Ruhestand und siedelte ein Jahr später nach Ingelheim in die Bundesrepublik über, wo er 1967 starb. Joachim Quodbach15 Einen eher ungewöhnlichen Weg in den Pfarrberuf ging Joachim Quodbach. Geboren am 1. März 1896 in Stettin legte er dort am Schillerrealgymnasium 1914 sein Abitur ab. Unmittelbar im Anschluss meldete er sich freiwillig für den Kriegsdienst. Den Ersten Weltkrieg machte er bis Kriegsende mit und wurde mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet. Zuletzt diente er als Führer einer Flugabwehrkanonenbatterie und schied 1918 als Leutnant der Reserve aus dem Militär aus. Nach Kriegsende begann er eine kaufmännische Lehre in einer Schiffsreederei in Stettin und war bis 1921 kaufmännischer Angestellter in einer Werft. Durch eine neue Anstellung als Abteilungsleiter im Sachsenwerk Niedersedlitz kam er dann nach Sachsen. Ein Jahr später übernahm er den Posten des kaufmännischen Büro­leiters einer Schokoladenfabrik in Freital. Gleichzeitig absolvierte er ab 1921 ein wirtschaftswissenschaftliches Studium an der Technischen Hochschule Dresden, das er 1924 als Diplom-Volkswirt abschloss. 1930 entschloss Quodbach seine Stelle in der Privatwirtschaft aufzugeben und noch ein Theologiestudium in Leipzig zu beginnen. Nach Bestehen seiner Ersten Theologischen Prüfung 1933 war er zunächst als Vikar an der sächsischen Landesanstalt Untergöltzsch tätig, bevor er am 15. Januar 1934 als Hilfsgeistlicher in die Landeserziehungsanstalt Chemnitz-Altendorf wechselte. Nachdem er auch seine zweite Theologische Prüfung bestanden hatte, übernahm er ab dem 1. Dezember 1934 die Stelle als regulärer Anstaltspfarrer in Chemnitz-Altendorf. In seinem Bewerbungsschreiben hatte Quodbach nicht nur erklärt, dass er bereits als Kind den Wunsch hatte, Theologe zu werden, sondern begründete auch seinen beruflichen Wechsel: „Durch meine 12-jährige Tätigkeit in der Industrie einerseits und durch den Abschluss des zwischenzeitlich durchgeführten Studiums der Wirtschaftswissenschaften andererseits drängte sich mir je länger je mehr die Erkenntnis auf, dass nur vom 13  Vgl.

handschriftlicher Lebenslauf, LKADD, 2/1159, Bl. 5. Karteikarte Niedners, ebd. Bl. 1. 15  Alle Angaben zu Quodbach beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakte, SächsHStAD, 13859/6668. 14  Vgl.

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christlichen Ethos her eine radikale Wandlung des fatalen Denkens der Nachkriegszeit erfolgen könne. In dieser Erkenntnis glaubte ich, als Theologe besser wirken zu können als in meinem industriellen Beruf […]. Dieses Wirkenwollen als Theologe sehe ich für mich vornehmlich in Predigt und Seelsorge. Es ist daher mein sehnlichster Wunsch, als Geistlicher meinen Mitmenschen, die leiden müssen, zu dienen.“16

Handschriftlich ergänzte er noch, dass er 1933 in die NSDAP eingetreten ist. Dem „fatalen Denken der Nachkriegszeit“ wollte Quodbach nicht nur als Pfarrer entgegentreten, sondern unterstützte eben auch den politischen und gesellschaftlichen Wandel im nationalsozialistischen Sinn. 1934 wurde er außerdem Mitglied der NSV und des RLB. Auch den Deutschen Christen gehörte Quodbach an. Im August 1936 gab es im sächsischen Innenministerium Überlegungen, die Anstaltspfarrer Jauck (Arnsdorf) und Quodbach (Chemnitz-Altendorf) zu tauschen. Die Initiative für den Tausch ging jedoch vom „geistlichen Beauftragten“ für die Landesanstalten und „Landesführer“ der Inneren Mission in Sachsen, Oberkirchenrat Adolf Wendelin, aus. Alternativ schlug Wendelin vor Quodbach als Nachfolger Knabes in Leipzig-Dösen einzusetzen. Die Gründe für den vorgeschlagenen Tausch sind nicht bekannt. Beides kam letztlich nicht zur Durchführung. Aus dem sächsischen Innenministerium kam die Nachricht, von einer Versetzung Quodbachs abzusehen, „da bekanntlich Bestrebungen im Gange seien, die kirchliche Betreuung der Landesanstalten neu zu regeln. Es empfiehlt sich nicht, während dieses Zustandes Versetzungen vorzunehmen.“17

Quodbach verstand offensichtlich, dass im Innenministerium kein Interesse an den Anstaltsgemeinden mehr bestand. Am 27. Januar 1937 bat er das Innenministerium um einen einjährigen unbezahlten Urlaub. Er begründete sein Anliegen, wie folgt: „Mit Rücksicht auf das zur Zeit noch ungewisse Schicksal des hiesigen Landesanstalt habe ich geglaubt, die mir angebotene 3. Pfarrstelle an der Marienkirche zu Pirna nicht ausschlagen zu dürfen. Ich möchte diese Stelle am 1. April d. J. aber zunächst, da ich bisher nur Anstaltsgeistlicher gewesen bin, Zeit haben, mich in die völlig anders gelagerten Verhältnisse eines Gemeindepfarramtes einzuleben.“18

Das Innenministerium gewährte ihm seinen Wunsch. Quodbach kehrte nicht in den Anstaltsdienst zurück, sondern blieb auch nach Ablauf des Jahres in Pirna. Im Juli 1939 leistete er eine Übung bei der Wehrmacht ab und wurde wohl bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn eingezogen. Er geriet 16  Bewerbungsschreiben

von Quodbach, ebd., Bl. 4. von Lampert, ebd., Bl. 36. 18  Schreiben Quodbachs an das Sächsische Ministerium des Inneren, 27.  Januar 1937, ebd., Bl. 32. 17  Nachricht



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1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst Ende 1949 zurückkehrte und seine Pfarrstelle in Pirna wieder ausfüllte.19 Er trat 1966 in den Ruhestand und starb 1971.20 Dr. Hermann Rothe21 An der heutigen thüringisch-sächsischen Grenze wurde Hermann Rothe am 18.  März 1900 in Altmörbitz geboren. Das Gymnasium schloss er mit dem Notabitur ab und wurde 1918 noch zum Militärdienst eingezogen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs studierte er an der Universität Leipzig Theologie und Philologie sowie später noch Geschichte und Philosophie. Schließlich promovierte er in Leipzig zum Dr. phil. Bevor er 1927 als Pfarrer in Untergöltzsch in den Anstaltsdienst eintrat, arbeitete er zwei Jahre als Religionslehrer in Dresden. Im November 1928 wurde Rothe nach Arnsdorf versetzt. Knapp sechs Jahre später übertrug ihm der sächsische Innenminister Fritsch das Amt des Rektors der Pflegeschule Sonnenstein in Pirna. Gleichzeitig übernahm er nebenamtlich die Anstaltsgemeinde auf dem Sonnenstein. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit auf dem Sonnenstein sollte also nicht die Seelsorge der Patienten stehen, sondern die Ausbildung der Pfleger für die sächsischen Landesanstalten. Bereits am 10. Januar 1932 trat Rothe der NSDAP bei. Er war für diese auch als Redner und Kreisschulungswalter des Amtes für Beamte tätig. Hermann Rothe verließ im Mai 1939 den Anstaltsdienst und ging als Lehrer an das Pirnaer Gymnasium. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er ab 1947 das Gemeindepfarramt in Börnersdorf im Osterzgebirge. 1969 ging er in den Ruhestand und starb am 24. Mai 1979 in Börnersdorf. Einstellung der Anstaltspfarrer zum Nationalsozialismus Um sich den Einstellungen der sächsischen Anstaltspfarrer zu nähern, muss ein erster Blick auf ihre Sozialisation geworfen werden. Alle verbrachten ihre Kindheit und Jugend im Deutschen Kaiserreich unter Wilhelm II. Das prägendste Ereignis dieser Generation war der Erste Weltkrieg, den die meisten Anstaltspfarrer aktiv mitmachten, teilweise als ausgezeichnete Offiziere. Durch die Novemberrevolution und der folgenden politischen und gesellschaftlichen Transformation veränderte sich auch die Stellung der sächsischen Pfarrer in den Landesanstalten. Strenge Disziplin und religiöse Erzie19  Vgl.

Lebenslauf Quodbach vom 14. Mai 1956, LKADD, 2/1539, Bl. 23. Personalbogen Quodbach, ebd., Bl. 1. 21  Alle Angaben zu Rothe beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf seine Personalakte, LKADD, 2/1158. 20  Vgl.

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hung verloren an Bedeutung. Die sächsische Sozialdemokratie setzte auf eine strikte Trennung von Kirche und Staat.22 Das Verhältnis zwischen der evangelischen Landeskirche und dem sächsischen Staat gestaltete sich dadurch in der Weimarer Republik schwierig.23 Auch um die staatlichen Anstaltspfarrer entwickelten sich wiederholt politische Diskussionen.24 Inwiefern die Pfarrer der Landesanstalten ihre geminderte Rolle auf die Weimarer Republik bzw. die Demokratie als Ganzes übertrugen, ist schwer nachvollziehbar. Zumindest engagierte sich keiner der untersuchten Anstaltspfarrer vor 1933 in einer demokratischen Partei.25 Im Gegenteil wandten sich Knabe und Rothe schon 1932 der NSDAP zu. Doch lässt sich auch bei anderen eine Distanz zur Weimarer Republik vermuten. Johannes Axt geriet während seiner Zeit als Anstaltsgeistlicher in Bräunsdorf 1924 in einen heftigen Konflikt mit dem neuen progressiven Direktor Herbert Hesselbarth. Die Ablehnung militärischen Drills und religiöser Tendenzen in der Erziehung der Bräunsdorfer Zöglinge durch Hesselbarth führte auch zu persönlichen Diffamierungen des Direktors durch Axt und seine Ehefrau. So warfen die Eheleute Axt Hesselbarth u. a. die Einstellung eines Lehrers lediglich aufgrund seiner politischen Einstellung vor, da dieser auch „sozial“ und ein „Roter“ sei.26 Nach 1933 versuchten die Anstaltspfarrer, selbst eine Distanz zur Weimarer Republik bzw. Nähe zum Nationalsozialismus zu betonen. Wie bereits oben gesehen, betonte Quodbach in seinem Bewerbungsschreiben das „fatale Denken der Nachkriegszeit“, das ihn trotz seines fortgeschrittenen Alters noch zum Theologiestudium brachte. In einem Gespräch in der sächsischen Staatskanzlei erläuterte Möckel, warum er nie der NSDAP beigetreten war. Seine Aussage wurde schriftlich festgehalten: 22  Vgl. Mike Schmeitzner, Wilhelm Buck – Moderator des „linksrepublikanischen Projekts“ (1920–1923), in: Mike Schmeitzner/Andreas Wagner (Hg.), Von Macht und Ohnmacht – Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 89–124, hier 96. 23  Vgl. Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017, S. 78 ff. 24  So z. B. die zeitweilige Ablösung des Arnsdorfer Anstaltspfarrers Johannes Naumann, vgl. Konstantin Hermann, Der Individualpsychologe Erhard Starke, in: Hermann/Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz, S. 283–299, hier S. 290 f. Auch der Beamtenstatus von Pfarrern in den Anstalten stand im sächsischen Landtag mehrfach zur Diskussion, allerdings ohne dass die Positionen abgeschafft worden wären. 25  Lediglich der Vorgänger von Johannes Axt als Anstaltspfarrer in Großschweidnitz, Oskar Wehrmann, war Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und saß für diese auch von 1920 bis 1926 im sächsischen Landtag. Er starb bereits 1932. Vgl. Boris Böhm/Thomas R. Müller, „Welch Fülle von Elend, aber auch welche Gelegenheit zu helfen und zu dienen!“  – 125 Jahre Ausbildung von psychiatrischem Pflegepersonal in Sachsen, Pirna 2013, S. 42. 26  Vgl. Hanzig, „Wir haben nichts zu verbergen!“, S. 120 f.



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Abb. 3: Personal der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein vor der Anstaltskirche, in der Bildmitte mit dem erhobenen Arm der spätere medizinische Leiter der NS-Krankenmorde, Direktor Paul Nitsche, zwischen 1933 und 1936, Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. „Er steht der Partei schon seit 1930 sehr nahe. Er wurde in seiner früheren Gemeinde Neuhausen sogar als der Hakenkreuzpfarrer in der Roten Presse bezeichnet. Er ist 1933 nicht zur Partei übergetreten, um nicht als Konjunkturmann angesehen zu werden; er ist jedoch damals dem Opferring sofort nach dem Umbruch beigetreten. Der Partei konnte er dann später nicht mehr beitreten, weil sie dann geschlossen war und als sie wieder geöffnet wurde, Pfarrer nicht mehr aufgenommen wurden.“27

Auch Jauck gab an, dass er bereits am 29. Juli 1932 erstmals als Redner für die NSDAP aufgetreten ist.28 Parteigenosse wurde er erst im Frühjahr 1933. Mögen solche Aussagen nach 1933 unter den nationalsozialistischen Herrschaftsbedingungen teilweise auch aus opportunistischen Motiven heraus geäußert worden sein, lässt sich doch bei den meisten betrachteten sächsischen Anstaltspfarrern mindestens eine Distanz zur Weimarer Demokratie erkennen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stellten sich die Anstaltsgeistlichen der sächsischen Landesanstalten schnell in den Dienst der neuen Machthaber. Im Frühjahr 1933 traten nun auch Jauck, Quodbach und Niedner in die NSDAP ein. Nur Axt und Möckel wurden nie NSDAP-Mit27  Abschrift der Besprechung, SächsHStAD, 13859/5649, Bl. 54  f. Tatsächlich wies Martin Bormann 1937 an, keine Pfarrer mehr in die NSDAP aufzunehmen. Vgl. Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche – Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, S. 171. 28  Personalbogen von Jauck, SächsHStAD, 13859/3711, o. Bl.

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glieder. Wenig verwunderlich ist, dass alle Anstaltspfarrer nach 1933 in diverse NS-Organisationen, wie der NSV oder den RLB eintraten. Wesentlich relevanter als die formale Zugehörigkeit zur NSDAP oder den NS-Massen­ organisationen, insbesondere wenn der Eintritt ab 1933 erfolgte, ist die Frage, ob sich die untersuchten Pfarrer auch aktiv für den Nationalsozialismus einsetzten. Die NSDAP-Kreisleitung Chemnitz beurteilte Anstaltspfarrer ­ Quodbach 1936 für das sächsische Innenministerium: „Der Leiter der Blinden-Anstalt Chnz.[Chemnitz]-Altendorf, Pg. Stadtrat Ritter, schildert Pfarrer Quodbach als guten Nationalsozialisten, der sich viel Mühe gibt das Ideengut der Bewegung in die ihm anvertraute Schwesternschaft zu tragen. Er ist sehr opferbereit, besucht alle Veranstaltungen der NSDAP.“29

Trotz seiner relativen kurzen Zugehörigkeit zur NSDAP, engagierte sich Erwin Niedner in seiner Zeit in der Landesanstalt Pirna-Sonnenstein für die Partei und ihre Institutionen auf lokaler Ebene. Er war bis zu seinem Parteiausschluss im Sommer 1934 für die Schulungen der Ortsgruppe und des Amtes für Beamte der NSDAP in Pirna verantwortlich.30 In seiner Zeit in Zschadraß setzte sich Niedner dann ab 1935 verstärkt im Reichsluftschutzbund ein, in dem er Luftschutzlehrer, -redner und Schulungsleiter der Ortsgruppe Colditz tätig war.31 Am stärksten integrierte sich zweifelsohne Johannes Jauck in die national­sozialistische „Bewegung“. Nachdem er im Frühjahr 1933 in die NSDAP eingetreten war, wurde er im September desselben Jahres auch Mitglied der SA, in der er 1939 zum Scharführer befördert wurde.32 Seine nationalsozialistische Einstellung beeinflusste auch seine Arbeit im Anstaltsdienst, was wohl nicht von allen positiv aufgenommen wurde. Noch in seiner Zeit in der Landesanstalt Zschadraß, wo er als Anstaltspfarrer auch Vorsteher des Schwesternheimes war, stieß sein Auftreten auf Kritik, deren genauer Inhalt in seiner Personalakte allerdings nicht mehr rekonstruierbar ist. Die Mehrheit der Zschadraßer Schwesternschaft stand jedoch hinter ihm, was aus einem diesbezüglichen Brief der Zschadraßer Oberschwester und NS-Kreisfrauenschaftsleiterin Luisa Weidlich an den Geistlichen Beauftragten für die Landesanstalten D. Dr. Siedel vom 2. August 1933 hervorgeht: „Eine Anklage oder auch nur irgendeine Beschwerde aus unseren Reihen kann unmöglich erfolgt sein, denn von 81 Schwestern unserer Anstalt sind 45 eingetragene Mitglieder der NSDAP und 10 Schwestern bekennen sich zum Opferring. Die Zahlen sprechen selbst und wir können nur noch hinzufügen, dass wir glücklich sind, unseren Pfarrer als Mitglied der NSDAP zu wissen und als unseren Schwes29  NSDAP-Kreisleitung Chemnitz an das Sächsische Ministerium des Inneren, 29. Juli 1936, SächsHStAD, 13859/6668, Bl. 23. 30  Personalbogen von Niedner, SächsHStAD, 13859/6074, o. Bl. 31  Ebd. 32  Vgl. Personalbogen von Jauck, SächsHStAD, 13859/3711, o. Bl.



Seelsorger der Patienten oder Helfer des Regimes?129 ternheimvorsteher zu haben. […] Wir sind stolz auf unseren Pfarrer im Braunhemd und lassen ihn von keiner Seite aber auch von niemanden in so schmählicher Weise angreifen!“33

59 weitere Schwestern der Landesanstalt hatten den Brief unterschrieben. Jauck entfernte sich in den folgenden Jahren zunehmend von traditionellen theologischen Ansichten und wandte sich stark den nationalsozialistischen Glaubensvorstellungen zu. Dies wird in einer kurzen Beurteilung aus Arnsdorf deutlich: „Lehrt Ethik und Religion am Krankenbett vollkommen überkonfessionell und auf N. S. Weltanschauung und Alfred Rosenberg fußend. Wertvoll als Lehrer und Erzieher. Auch in der Anstaltsgemeinde beliebt. Gut als Prediger. Pg. Aufrichtig und zuverlässig, unerschrocken. Kameradschaft­lich.“34

Seine ideologische Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus ermöglichte es Jauck ohne weiteres im Staatsdienst zu bleiben, als die s­ächsische Landesregierung versuchte, die Anstaltsgemeinden aufzulösen. Klaubert übernahm ihn als Lehrer in das Schwesternschule Arnsdorf. Dort sollte Jauck Unterricht in den Fächern „Ethik am Krankenbett“ (Inhalt u. a. „Grundlagen einer nationalsozialistischen Ethik überhaupt“, „unsere Stellung zu Schuld, Leid, Tod“, „Rasse und Seele nach A. Rosenberg und L. F. Clauß“), NS-Weltanschauung (Inhalt u. a. „Leben des Führers“, „Geschichte der Bewegung“, „gemeinsames Lesen ausgewählter Kapitel des ‚Mythus‘ “), Kulturgeschichte (Inhalt u. a. „Bilder aus der deutschen Vorgeschichte“, „Große deutsche Persönlichkeiten“) und Feiergestaltung geben. Weiterhin sollte er einen Abend pro Woche eine „politische Umschau“ geben, sowie Vorträge vor auswärtigen Schwesternschaften und „NS-Morgenfeiern am Sonntag“ abhalten.35 Der Schwerpunkt seiner Arbeit hatte sich deutlich von der religiösen Betreuung hin zur ideologischen Schulung verschoben. Patientenseelsorge, als eigentliche Kernaufgabe eines Anstaltspfarrers, spielte nach Jaucks Übernahme in die Schwesternschule keine Rolle mehr. Stattdessen wandte er sich komplett von der Kirche ab, wie der Bericht des Pfarrers aus Wallroda belegt: „Er [Jauck] hat auch in Arnsdorf die erste weltanschauliche Eheweihe gehalten, hält Lebensweihen anstelle der christlichen Taufe, und seit Aufgabe seines geistlichen Amtes ‚Jugendleiten‘ für Kinder aus Arnsdorf Anstalt und Ort und auch aus umliegenden Gemeinden anstelle der Konfirmation.“36

Mit seiner Tätigkeit in der Schwesternschule war deren Leiter, Klaubert, äußerst zufrieden, was aus einer längeren Beurteilung aus dem Sommer 1944 hervorgeht: 33  Ebd.,

o. Bl. o. Bl. 35  Vgl. Schreiben von Klaubert an sächsisches Ministerium des Inneren, 25. Juni 1937, ebd., Bl. 24. 36  Pfarrer Friedrich an sächsisches Landeskirchenamt, LKADD, 94/11, Bl. 64. 34  Ebd.,

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„Der wissenschaftliche Lehrer am Staatlichen Schwesternhaus in Arnsdorf Johannes Jauck hat vor seiner Einberufung […] Unterricht erteilt in Geschichte, Kulturgeschichte, Schwestern-Ethik, Literaturgeschichte und mit Genehmigung des Kreisschulungsamtes Dresden NS-Weltanschauung sowie mit Genehmigung des Rassenpolitischen Amts in Rassenhygiene. […] Er hat außerdem Vorträge in Heimabenden gehalten, Morgenfeiern gestaltet und ist an einzelnen Sonntagen mit dem Musiklehrer des Hauses in die einzelnen Arbeitsgebiete gefahren und hat den Schwestern, die infolge starker dienstlicher Beanspruchung nicht ins Mutterhaus kommen konnten, nationalsozialistisches Ideen- und Liedgut vermittelt. Im Auftrage des Kreisschulungsamtes hat er zuletzt auch die weltanschauliche Schulung bei den Lernschwestern des Roten Kreuzes, des Gerhard-Wagner-Krankenhauses und des Diakonissenhauses übernommen. Lehrer Jauck ist überdurchschnittlich belesen im nationalsozialistischen Schrifttum. Er hat zahlreiche Buchbesprechungen für die Reichsleitung des Rassenpolitischen Amtes gemacht. Sein Unterricht ist rege und lebhaft, seine Art der Feiergestaltung war wegweisend und sehr geschätzt. Er wurde zu Eheweihen und Totenfeiern nicht nur nach Dresden und in die engere Umgebung von Arnsdorf, sondern auch nach Leipzig und in das Erzgebirge geholt. Weltanschaulich hat er sich in dem oben angeführten Dienst ebenso wie in seinem Familienleben und in seiner persönlichen Lebensführung als zuverlässig erwiesen. Lehrer Jauck ist Vater von 5 gesunden Kindern und tut jetzt als Sanitätsunteroffizier Dienst in einem Kriegslazarett des Südostens.“37

Ein gerade in geistlichen Kreisen Sachsens virulentes Thema nach 1933 war der „Kirchenkampf“ innerhalb der evangelischen Kirche. In der sächsischen Landeskirche kam es teils zu heftigen Konflikten. Von denen war auch die Innere Mission Sachsen stark betroffen, die als Netzwerkverein und als Träger von Heimen und Einrichtungen agierte.38 Vor diesem Hintergrund ist auch ein Blick auf die kirchenpolitische Stellung der sächsischen Anstaltspfarrer von Interesse. Keiner der betrachteten Anstaltspfarrer der sächsischen Landesanstalten gehörte der Bekennenden Kirche an. Drei der Anstaltsgeistlichen (Möckel, Knabe, Quodbach) gehörten den Deutschen Christen an. Außerdem waren Axt, Möckel und Rothe Mitglieder im NS-Pfarrerbund. Im „Kirchenkampf“ stärker in Erscheinung getreten ist von den Anstaltspfarrern lediglich Erich Knabe. Um die Situation innerhalb der sächsischen Landeskirche zu befrieden, setzte das Reichskirchenministerium unter Hanns Kerrl in Sachsen einen Landeskirchenausschuss ein. Als einer von zwei DC-Vertretern wurde Knabe in den Ausschuss berufen, in dem er eine Mittlerrolle einnahm.39 Knabe distanzierte sich zunehmend vom Nationalsozialismus und 37  Klaubert an sächsisches Ministerium des Inneren 14. Juli 1944, ebd., Bl. 33. Die Anfrage zur Beurteilung kam eigentlich am 1. Juli 1944 aus dem Gaustabsamt der NSDAP in Dresden, die wiederum als Grund dafür angab: „Die Partei-Kanzlei hätte gern näheres gewusst“, ebd., Bl. 30. 38  Siehe dazu den Beitrag von Bettina Westfeld in diesem Band. 39  Zur Tätigkeit Knabes im Landeskirchenausschuss vgl. Hermann, Wandlungen, S.  28 f.



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verließ 1936 auch die Deutschen Christen.40 Ebenso blieb Möckel nicht dauerhaft bei den Deutschen Christen. 1940 erklärte er, dass „er nicht Bekenntnispfarrer ist, sondern Gegner der Bekenntniskirche aus seiner nationalsozialistischen Einstellung heraus immer gewesen und noch ist. Allerdings hat ihm auch die religiöse Einstellung der Deutschen Christen nicht gefallen. Er ist deshalb aus der Bewegung der Deutschen Christen ausgetreten.“41

Unabhängig von der kirchenpolitischen Positionierung der Anstaltspfarrer dürfte ein Kommentar über Pfarrer Quodbach stellvertretend für die meisten der untersuchten Geistlichen gelten. „Quodbach ist Anhänger der Deutschen Christen ohne sich in die Kämpfe innerhalb der Landeskirche einzumischen.“42 Mit Ausnahme von Knabe engagierte sich wohl keiner der Anstaltspfarrer über eine formale Mitgliedschaft hinaus kirchenpolitisch. Durch die Besonderheit der relativ abgeschlossenen Anstaltsgemeinden, in der der jeweilige Pfarrer recht frei agieren konnte, war der Konflikt innerhalb der evangelischen Kirche nur von untergeordneter Bedeutung. Schließlich waren die Anstaltspfarrer Staatsbeamte und damit weitgehend unabhängig von der Situation innerhalb der Landeskirche. Enttäuschung bei den sächsischen Anstaltspfarrern verursachte ab Mitte der 1930er Jahre das offenkundige Desinteresse der sächsischen Regierung an den Anstaltsgemeinden. Freiwerdende Stellen wurden teilweise nicht mehr besetzt und Versetzungen nicht mehr durchgeführt. Im Sommer 1938 verfügte der sächsische Innenminister, Karl Fritsch, die Auflösung der Anstaltsgemeinden, die von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche weitergeführt werden sollten und die Versetzung der verbliebenen sechs Anstaltspfarrer (Axt, Jauck, Niedner, Möckel, Quodbach und Rothe) in den Wartestand.43 Allerdings gestaltete sich die Maßnahme von Fritsch nicht so einfach wie gedacht und das Reichsinnenministerium untersagte zumindest die Wartestandversetzung der Pfarrer.44 Dennoch war letztlich das Ergebnis, dass es, mit Ausnahme von Johannes Axt in Großschweidnitz, während des Krieges keine staatlichen Pfarrer in den sächsischen Landesanstalten mehr gab. Doch bereits ab 1933 wirkte sich die Diskussion um rassenhygienische Maßnahmen unmittelbar auf das Arbeitsgebiet der sächsischen Anstaltsgeist40  Vgl.

ebd., S. 30. einer Besprechung mit Möckel in der Sächsischen Staatskanzlei, SächsHStAD, 13859/5649, Bl. 54 f. 42  NSDAP-Kreisleitung Chemnitz an das Sächsische Ministerium des Inneren 29. Juli 1936, SächsHStAD, 13859/6668, Bl. 23. 43  Vgl. Fritsch an die sächsische Staatskanzlei, 29. September 1938, Sächs­HStAD, 13859/148, o. Bl.  44  Vgl. Reichsinnenministerium an Reichsstatthalter in Sachsen, 24. Dezember 1938, o. Bl. 41  Abschrift

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lichen aus. Innerhalb der evangelischen Kirche stieß insbesondere die Sterilisation „erblich“ belasteter Personen auf Resonanz. Im Mai 1931 begrüßten die Teilnehmer der evangelischen Fachkonferenz für Eugenik in Treysa die Sterilisation, auch unter Anwendung von Zwang, während die Gedanken zur Tötung von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen zurückgewiesen wurden.45 Dementsprechend wenig Widerspruch kam aus der evangelischen Kirche, nachdem die Nationalsozialisten ab 1933 mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) Zwangsterilisationen von „Erbkranken“ legalisierten. Auch die sächsischen Anstaltspfarrer dürften keine Ausnahme gebildet haben, auch wenn nicht bei jedem Einzelnen Äußerungen zum GzVeN nachweisbar sind. Einige der Pfarrer beteiligten sich jedoch an den „rassenhygienischen Maßnahmen“ der Nationalsozialisten. Einer von ihnen war der Großschweidnitzer Anstaltspfarrer Johannes Axt. Das Erbgesundheitsgericht Bautzen ernannte ihn am 5. August 1937 zum Sammelpfleger für die Landesanstalt Großschweidnitz.46 Von nun an oblag es also Axt, die allgemein geringen Rechte der Patienten der Landesanstalt Großschweidnitz im Sterilisationsverfahren zu wahren, soweit sie keinen anderweitigen gesetzlichen Vormund besaßen. Bei der Erfassung aller im Zweiten Weltkrieg in der Landesanstalt Großschweidnitz verstorbenen Patientinnen und Patienten konnten 13 Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht Bautzen nachgewiesen werden, in denen Axt die Rechte der Frauen und Männer vertreten sollte.47 Nur ein Fall ist überliefert, bei dem er seine Möglichkeit als Verfahrenspfleger nutzte und gegen einen Sterilisationsbeschluss Beschwerde einlegte, dies aber immerhin mit Erfolg.48 Ein Verfahrenspfleger im Sterilisationsverfahren war also nicht einfach nur Statist, sondern konnte im besten Fall durchaus Einfluss auf das Schicksal der Pfleglinge haben. Axt freilich nutzte diese Möglichkeit in der Regel nicht. Da bei einigen dieser Fälle nicht nur die Anzeige sowie das Gutachten von einem Arzt aus Großschweidnitz gestellt wurde, und Pfarrer Axt als Verfahrenspfleger die betroffene Person vertreten sollte, sondern zum Teil auch die Großschweidnitzer Anstaltsdirektoren als Beisitzer am Erbgesundheitsgericht über die Zwangssterilisation mitentschieden, war ein häufiger Dissens in der Beurteilung kaum zu erwarten. Als das Erbgesundheitsgericht Bautzen im Dezember 1944 kriegsbedingt die Arbeit einstellen musste, nahm Axt die Gelegenheit 45  Vgl.

Westfeld, Innere Mission, S. 127 f. Ernennungsbeschluss des Erbgesundheitsgerichts Bautzen, 5. August 1937, Staatsfilialarchiv Bautzen (künftig StFilA Bautzen), 50047/4.9, Bl. 5. 47  Vgl. Opferdatenbank Großschweidnitz 1939–45, Archiv Gedenkstätte Großschweidnitz e. V. 48  Vgl. Beschluss Erbgesundheitsobergericht Dresden, 15. September 1939, 10822/ F4635, Bl. 34. 46  Vgl.



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wahr, seine persönliche und berufliche Sicht auf die Zwangssterilisationen mitzuteilen: Es habe ihm „innere Genugtuung bereitet, im Dienste einer Sache stehen zu dürfen, die sich so segensreich erwiesen hat, wie das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Wir Anstaltspfarrer haben es herbeigesehnt bereits seit 1915! […] Besonders wertvoll ist es mir aber gewesen, gerade als Pfarrer immer wieder darauf hinweisen zu können, dass die Sterilisation nicht dem Wesen des Christentums widerspricht, sondern dass das Christentum, zu dessen Ethik das Hauptmotiv die Rücksicht auf den anderen, die selbstverleugnende Liebe‘, das Opfer geradezu gebietet, welches das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von dem Einzelnen fordert.“49

Für die Gesunderhaltung des „Volkskörpers“ empfand Axt die Zwangssterilisationen als notwendiges „Opfer“ der Betreffenden, das sich mit der christlichen Nächstenliebe für ihn ohne Probleme vereinbaren ließ. Die Aussage ist, unabhängig davon, ob die angegebene Jahreszahl korrekt ist oder nicht, durchaus ein Indiz dafür, dass die Sterilisation von vermeintlich „Erbkranken“ von den Anstaltspfarrern begrüßt wurde. Johannes Jauck stellte sich ebenfalls in den Dienst der NS-Rassenpolitik. Seit einem rassenpolitischen Lehrgang auf der sächsischen Gauführerschule Augustusburg im Dezember 1934 war er als Schulungsredner für das Rassenpolitische Amt der NSDAP im Kreis Dresden tätig.50 Als das langsame Ende der Anstaltsgemeinden absehbar war und damit auch die Anstaltspfarrer überflüssig wurden, bemühten sich der Rektor der Schwesternschule Arnsdorf, Dr. Rudolf Klaubert, und Anstaltsdirektor Dr. Wilhelm Sagel, Jauck in Arnsdorf in anderer Funktion zu behalten. Im Juni 1937 schlug Klaubert dem sächsischen Innenministerium u. a. vor, Jauck in der erbbiologischen Abteilung unterzubringen, „da Pg. Jauck auch rassenpolitisch gut geschult ist und sehr gute Begabung zeigt für erbbiologische Familienforschung. Dieser letzte Vorschlag wird nach vorheriger Rücksprache mit Herrn Chefarzt Dr. Sagel gemacht, der ihn ebenfalls als tüchtigen Mitarbeiter in der Erbbiologie begrüßen würde.“51

Wie bereits oben gesehen, wurde Jauck später in die Schwesternschule und nicht in die erbbiologische Abteilung übernommen. Allerdings bekam ein anderer Anstaltspfarrer eine Anstellung in der sich in der Landesanstalt Arnsdorf befindlichen erbbiologischen Landeszentrale. Zum 1. September 1939 versetzte das Sächsische Innenministerium Erwin Niedner von Zschadraß

49  Axt an das Erbgesundheitsgericht Bautzen, 5. Januar 1945, StFilA Bautzen, 50047/4.9, Bl. 7. 50  Vgl. Personalbogen von Jauck, SächsHStAD, 13859/3711, o. Bl. 51  Klaubert an sächsisches Ministerium des Inneren, 25. Juni 1937, ebd., Bl. 23.

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nach Arnsdorf in die Landeszentrale für erbbiologische Bestandsaufnahme.52 Anstaltsdirektor Sagel setzte sich im November 1943 dafür ein, Niedner für unabkömmlich zu erklären und somit seine Einberufung zu verhindern, damit die Arbeit der Landeszentrale nicht vollkommen zum Erliegen kommt: „Ist als Leiter der Landeszentrale für die erbbiologische Bestandsaufnahme ohne jeden verantwortlichen Mitarbeiter tätig, als Hilfen hat er nur einige Geisteskranke zur Verfügung. Er ist in dieser wichtigen Abteilung unentbehrlich. Bei seiner Einberufung würde die Abteilung geschlossen werden müssen. Das sollte bei der Wichtigkeit dieser Abteilung in Bezug auf Ehefähigkeitsfragen vermieden werden.“53

Erich Knabe begrüßte ebenfalls die Möglichkeit der Sterilisation vermeintlich „erbkranker“ Personen durch das GzVeN. In mehreren Vorträgen zum Thema „Rassenpolitik“ positionierte er sich 1934/35 deutlich für das Gesetz und verteidigte es gegen Einwände der katholischen Kirche.54 Ähnlich wie für Axt stellte auch für Knabe die zwangsweise Sterilisation ein notwendiges Opfer dar, das die betroffenen Personen für die Erhaltung des Volkes erbringen müssten. Damit stellten sich die Pfarrer hinter die Argumentationslinie der Inneren Mission, die schon 1931 auf der Konferenz von Treysa verabredet worden war. Wie gefährlich diese Argumentation war, zeigt das Agieren des Großschweidnitzer Anstaltspfarrers während des Zweiten Weltkrieges. Johannes Axt verblieb als einziger sächsischer Anstaltsgeistlicher nach Kriegsbeginn mehr oder weniger in seiner alten Position in der Landesanstalt. Großschweidnitz diente 1940/41 nicht nur als Zwischenanstalt für die T4-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein, sondern auch in der Anstalt selbst wurden Patientinnen und Patienten seit Kriegsbeginn mit überdosierten Medikamenten und Mangelversorgung zu Tode gebracht. Mehr als 5500 Menschen starben im Zweiten Weltkrieg in der Landesanstalt Großschweidnitz. Axt wurde als Anstaltspfarrer über jeden Todesfall informiert, wodurch ihm die Vorgänge auf den Krankenstationen bekannt gewesen sein müssen. Statt den „Euthanasie“-Maßnahmen zu widersprechen, beteiligte sich Axt an der Abwicklung der Todesfälle und der Täuschung der Angehörigen. Stellten Angehörige nach dem Ableben der Kranken Fragen, war es in der Regel Axt, der antwortete. Seine Briefe folgten oft einem bestimmten Schema. Dabei fehlte nie der Hinweis darauf, dass der Tod für die Person eine „Erlösung“ gewesen wäre, wie z. B. in einem Brief an die Mutter der am 7. April 1945 gestorbenen zehnjährigen Helga: Der „Tod war für das arme Kind eine Erlösung von einem Dasein, das nicht mehr lebenswert war“.55 Für Axt war es offensicht52  Versetzungsanweisung,

15. August 1939, SächsHStAD, 13859/6064, Bl. 76. Sagel auf UK-Stellung Niedners, 24. November 1943, ebd., o. Bl. 54  Hermann, Wandlungen, S.  26 f. 55  Schreiben Axt, 17. April 1945, SächsHStAD, 10822/F6732, o. Bl.  53  Antrag



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lich kein großes Problem, die „Euthanasie“-Maßnahmen in der Landesanstalt zu verschleiern. Gleichzeitig rechtfertigte er indirekt die Tötungen durch die Verbindung der Begriffe „Erlösung“ und „lebensunwertes Leben“ in seinen Briefen. Letztlich konnte Axt die Vorgänge in Großschweidnitz für sich selbst mit derselben Begründung rechtfertigen, wie das GzVeN. Die Kranken, die in der Anstalt nicht arbeiteten, mussten in der für das ganze Volk bedrohlichen Kriegssituation Opfer bringen. In diesem Sinne war das zu erbringende Opfer für Axt schlicht ihr Leben. Natürlich war der Schritt von der Befürwortung von Zwangssterilisationen hin zur Ermordung von Anstalts­ patienten nicht zwangsläufig, aber für einige Anstaltspfarrer wie Pfarrer Axt offenbar nicht unüberwindlich. Im Gegensatz zu den Zwangssterilisationen lehnten die allermeisten Vertreter der evangelischen Kirche und der Inneren Mission stets die Tötung von Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen ab.56 Erich Knabe erkannte schnell nach Kriegsbeginn, dass seine Pfleglinge in der Brüderanstalt Moritzburg in Gefahr waren. Als die „Euthanasie“-Maßnahmen anliefen, versuchte Knabe die Bewohner seiner Einrichtung zu schützen, indem er erfolglos probierte, im April 1940 ein Gespräch mit Hitler in Berlin zu erwirken. Allerdings verwehrte Staatssekretär Hans-Heinrich Lammers Knabe den Zugang zu Hitler.57 Kurz darauf verstarb Knabe und erlebte somit die Tötung von Menschen aus der Brüderanstalt in die NS-„Euthanasie“ nicht mehr. Die Positionierung der anderen ehemaligen Anstaltsgeistlichen zur NS„Euthanasie“ ist schwer einzuschätzen. Allerdings muss ihnen allen zumindest früher oder später bekannt gewesen sein, dass Patienten der Heil- und Pflegeanstalten getötet werden. Jauck und Niedner waren nicht mehr als Pfarrer tätig, arbeiteten aber weiterhin im unmittelbaren Umfeld der Landesanstalt Arnsdorf, die ebenfalls 1940/41 als Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt in Pirna diente. Rothe wohnte auch nach seinem Übertritt in den Schuldienst noch bis September 1941 in seiner alten Dienstwohnung im Pflegerhaus auf dem Sonnenstein, also praktisch in der Nachbarschaft der Tötungsanstalt.58 56  Vgl.

Westfeld, Innere Mission, S. 139. Vorgehen Knabes ist nur durch seine Tochter überliefert, vgl. Eberhard Keil, Die Sachsenwerk-Saga 1914–1945. Eine Industrie-Geschichte aus Böhrigen, Chemnitz und der ganzen Welt. Marbach/Neckar 2006, S. 254. Der Zeitpunkt wäre bemerkenswert früh, da in Sachsen zwar bereits ein frühes Hungersterben in den Landesanstalten eingesetzt hatte, die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein jedoch noch nicht arbeitete. Zur selben Zeit arbeitete Pastor Braune im Auftrag des Central-Ausschusses der Inneren Mission an seiner bekannten Denkschrift zur „Euthanasie“, die er im Juli 1940 an Hitler richtete. Zu Braune vgl. bspw. Westfeld, Innere Mission, S. 147 f. 58  Schreiben Rothe an Kassenverwaltung Arnsdorf, 19. November 1941, Sächs­ HStAD, 19116/365, o. Bl. 57  Das

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Christoph Hanzig

Fazit Der Blick auf die Tätigkeit der Pfarrer der sächsischen Landesanstalten während des Nationalsozialismus ist recht ernüchternd. In der Weimarer Republik verringerte sich die Bedeutung der Anstaltsgeistlichen im Anstalts­ gefüge, insbesondere in Sachsen, wo verstärkt die Trennung von Kirche und Staat vollzogen werden sollte. Obwohl der Bestand der Anstaltsgemeinden nicht existentiell gefährdet war, hielten die Anstaltspfarrer Distanz zur ersten deutschen Demokratie, die letztlich auch zur Begrüßung des Nationalsozialismus Anfang der 1930er Jahre durch sie führte. Jedoch enttäuschten die neuen Machthaber die Hoffnung der Seelsorger, im Anstaltsgefüge wieder bedeutender zu werden, was, in Kombination mit dem „Kirchenkampf“ und den offensichtlichen Verbrechen der Nationalsozialisten, bei manchen zumindest zur inneren Abkehr vom Nationalsozialismus führte. Ein hohes Interesse für die Psychiatrie und auch für die seelsorgerische Betreuung der Kranken kann den sächsischen Anstaltspfarrern nicht grundsätzlich abgesprochen werden. Allerdings erkannten sie den verbrecherischen Charakter der durch das GzVeN ermöglichten Zwangssterilisationen offensichtlich nicht. Im Gegenteil begrüßten und rechtfertigten sie die Maßnahme. Axt wirkte als Verfahrenspfleger direkt an „Erbgesundheitsverfahren“ mit, Jauck war für das Rassenpolitische Amt der NSDAP tätig, Knabe unterstützte die Sterilisation publizistisch und durch Vorträge, und Niedner war im Krieg Leiter der Landeszentrale für erbbiologische Bestandsaufnahme. Ein Urteil zur Stellung der sächsischen Anstaltspfarrer zur NS-„Euthanasie“ fällt deutlich schwerer, da die meisten während des Krieges nicht mehr im Anstaltsdienst verblieben. An den Beispielen von Axt und Knabe wird aber deutlich, dass sowohl Bejahung und Mitwirkung als auch Ablehnung des Krankenmordes vorkamen. Eine erhöhte Resistenz gegen den Nationalsozialismus und die „Rassenhygiene“, mit letztlich allen Konsequenzen, lässt sich für die sächsischen Anstaltspfarrer zwischen 1933 und 1945 nicht feststellen. Auffällig ist auch, dass in keiner der Personalakten nach dem Zweiten Weltkrieg Aussagen der Anstaltsgeistlichen zum Krankenmord zu finden sind, obwohl sie andere Vorgänge, wie die Auflösung der Anstaltspfarrämter, ausgiebig erläuterten. Lediglich der nur relativ kurze Zeit als Anstaltsgeistlicher tätige Pfarrer Erich Bodenstein äußerte sich nach dem Krieg selbstkritisch: „Als der Krieg ausbrach, war es mir inneres Anliegen, zu meinem Volk […] zu stehen, für dasselbe zu beten und ihm durch Mobilisierung der sittlichen Kräfte zu dienen. Dass der Krieg mit einem Gottesgericht enden würde, wurde mir immer klarer, zumal die verübten Gewalttaten, unter denen mich als Anstaltspfarrer von Hochweitzschen die Abtötung der Geisteskranken besonders bewegte, immer deutlicher wurden. Ich empfinde es jetzt als Schuld, dass ich nicht mutiger und deut­ licher diese Übertretung der göttlichen Gebote in meiner Verkündigung getadelt habe.“59



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Die seelsorgerische Betreuung der Kranken in den Landesanstalten war zwar eine Kernaufgabe der Anstaltspfarrer, die sie aus Überzeugung wahrnahmen, aber sie lag nicht im Interesse des sächsischen Innenministeriums als vorgesetzte Behörde. Für das Innenministerium hatte die Umsetzung „rassenhygienischer“ Maßnahmen höchste Priorität. Dieser ordneten sich die sächsischen Anstaltspfarrer für verschieden lange Zeiträume und in unterschiedlicher Ausprägung unter, wodurch sie auch zu Helfern der NS-Gesundheitspolitik wurden. Literatur Böhm, Boris/Müller, Thomas R.: „Welch Fülle von Elend, aber auch welche Gelegenheit zu helfen und zu dienen!“ – 125 Jahre Ausbildung von psychiatrischem Pflegepersonal in Sachsen, Pirna 2013. Hanzig, Christoph: „Wir haben nichts zu verbergen!“ – Der Anstaltspfarrer Johannes Axt und die NS-„Euthanasie“ in der Landesanstalt Großschweidnitz, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz – Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017. Hermann, Konstantin (unter Mitarbeit von Wilhelm Knabe): Wandlungen: Erich Knabe, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz – Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017. Hermann, Konstantin: Der Individualpsychologe Erhard Starke, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz – Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus, Göttingen 2017. Keil, Eberhard: Die Sachsenwerk-Saga 1914–1945. Eine Industrie-Geschichte aus Böhrigen, Chemnitz und der ganzen Welt. Marbach am Neckar 2006. Schmeitzner, Mike: Wilhelm Buck – Moderator des „linksrepublikanischen Projekts“ (1920–1923), in: Mike Schmeitzner/Andreas Wagner (Hg.), Von Macht und Ohnmacht – Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006. Westfeld, Bettina: Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017. Wilhelm, Georg: Die Diktaturen und die evangelische Kirche – Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004.

59  Bodenstein war ab 1934 Anstaltspfarrer und übernahm bereits 1937 ein Pfarramt in Döbeln, weshalb er nicht weiter in die Untersuchung einbezogen wurde. Das Zitat von Bodenstein vom 10. November 1945, LKADD, 2/1120, Bl. 12.

Ambivalente Mutterhausdiakonie. Zur Anhaltischen Diakonissenanstalt 1933 bis 1945 Von Jan Brademann Einführung „Ich freue mich“, schrieb Otto Dibelius an die Oberin der Anhaltischen Diakonissenanstalt (ADA), „dass Sie tapfer Widerstand leisten, und kann nur bitten, an diesem Widerstand unter allen Umständen festzuhalten und nur der Gewalt zu weichen. Was Sie erleben, ist eines der vielen Beispiele dafür, dass eine gewisse politische Richtung, unbekümmert um alle grundsätzlichen Vereinbarungen, die kirchliche Arbeit zu sabotieren gewillt ist.“1 Die „politische Richtung“, derer sich Renate Lange, die Oberin, zu erwehren hatte, war im Januar 1946 die von der Militäradministration kontrollierte Verwaltung der Sowjetischen Besatzungszone: Der Mansfelder Gebirgskreis hatte im Zuge der Bodenreform das als Altenheim genutzte Schloss Meisdorf (heute Stadt Falkenstein/Harz) enteignet, das die ADA im Juli 1945 vom Grafen von der Asseburg erworben hatte. Die Oberin hatte Unterstützung nötig, war sie doch mit der Leitung ihres Hauses auf sich allein gestellt, seit der Vorsteher, Pastor Heinrich Leich, 1939 zur Wehrmacht einberufen worden war. Mit dieser Episode richten wir den Blick auf das Fallbeispiel ADA. Wir begegnen dabei in Renate Lange einer regionalgeschichtlich kaum bekannten Frau, die die Geschicke ihres Mutterhauses 35 Jahre lang, von 1929 bis 1964, lenkte. Doch wir treffen auch zwei bekannte Männer: Otto Dibelius, 1926 bis 1933 Generalsuperintendent der Kurmark, 1945 bis 1966 Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und 1949 bis 1961 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, gehörte zu den prägendsten Persönlichkeiten des deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert.2 Für Heinrich Leich darf diese Charakterisierung cum grano salis auf die Diakonie resp. die Innere Mission bezogen werden, indem er von 1949 1  Der Evangelische Bischof von Berlin Dibelius an Oberin Renate Lange in Dessau, Berlin-Dahlem, 5. Januar 1946 (Abschrift), in: Archiv der Evangelischen Landeskirche Anhalts [künftig AELKA], Bestand Kreisoberpfarramt Dessau, Nr. 71/152 (Diakonissenhaus 1924–1953). 2  Albrecht Beutel, Otto Dibelius, in: Otto Dibelius 1880–1967. Materialien vorgelegt vom Arbeitskreis Otto Dibelius, Berlin 2009, S. 35–46. Online verfügbar: URL:

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Abb. 1: Oberin Renate Lange (1892–1975), Aufnahme 1929, Archiv ADA.

bis 1962 als Direktor den Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissenmutterhäuser (KWV) leitete und dabei so früh und deutlich wie kein zweiter auf die Notwendigkeit einer Reform der Mutterhausdiakonie aufmerksam machte.3 Noch etwas anderes eint beide: ihre Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche (BK). Während dieses Faktum mit Blick auf Dibelius’ historiographische Deutung eine wichtige Rolle spielt,4 ist darüber im Hinblick auf ­Heinrich Leich nichts bekannt. Das ist nicht verwunderlich: Eine Biographie dieses Mannes steht aus. In den 1930er Jahren lebte er in Dessau. Das dortige Diakonissenmutterhaus hat lange Zeit kein Forschungsinteresse geweckt.5 Selbst bei einer Konzentration auf allgemeine diakoniegeschichtliche Fragen ist das zu bedauern. Leich baute als Verbandsdirektor auf die Erfahrungen

http://anettedetering.blogspot.com/2010/09/otto-dibelius-materialmappe-jetzt-im.html (Stand 8. April 2020, abgerufen am 8. April 2020). 3  Rajah Scheepers, Transformationen des Sozialen Protestantismus. Umbrüche in den Diakonissenmutterhäusern des Kaiserswerther Verbandes nach 1945, Stuttgart 2016, S. 225–231. 4  Beutel, Dibelius, S. 35. 5  Vgl. Jan Brademann (Hg.), Weibliche Diakonie in Anhalt. Zur Geschichte der Anhaltischen Diakonissenanstalt Dessau, Halle/Saale 2019.



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Abb. 2: Das Mutterhaus der Anhaltischen Diakonissenanstalt, Zeichnung 1930, Archiv ADA.

seiner Dessauer Zeit.6 Auch spätere Dessauer Hausleitungen meldeten sich in überregionalen Zusammenhängen zu Wort.7

6  Leich schrieb 1959: „Mir wurde in den letzten Tagen, die ich verhältnismäßig ruhig hier in Kaiserswerth verbringen konnte, nachträglich sehr deutlich, dass der Titel ‚getrostes Dienen‘, den ich dem Bericht über die Generalkonferenz 1956 in Bethel gab, zurückgeht auf alles das, was ich bei und mit Ihnen und den Dessauer Schwestern gesehen und erlebt habe. Ich denke oft, dass in meinem jetzigen Amt Sie persönlich und die Dessauer heimgegangenen und lebenden Schwestern zu Worte kommen und fruchtbar werden in einem viel größerem Maße, als Sie vielleicht und auch ich selbst ahne“. Heinrich Leich an Renate Lange 17. Januar 1959, in: Archiv der Anhaltischen Diakonissenanstalt Dessau [künftig: ArchADA], Büro der Oberin, Ordner Verstorbene Schwestern L–Z. 7  Auch die Nachfolgerin von Renate Lange, Brigitte Daase, und Vorsteher Werner Strümpfel brachten anhaltische – ostdeutsche – Erfahrungsbestände in größere – gesamtdeutsche – Diskussionen um die Zukunft der Mutterhausdiakonie ein. Vgl. die Beiträge beider in: Präsidium der Kaiserswerther Generalkonferenz (Hg.), Übergänge. Mutterhausdiakonie auf dem Wege, Breklum 1984.

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Im Hinblick auf die NS-Zeit ist eine bescheidene Quellenlage zu beklagen: Die Registratur des Mutterhauses ging 1945 fast vollständig verloren, und auch auf staatlicher Seite sind Unterlagen, die nähere Aufschlüsse über das Verhältnis der nationalsozialistischen Organisation für Wohlfahrtspflege (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, NSV) zur ADA und ihren Tochter­ anstalten geben könnten, nicht vorhanden. Umso klarer sind die leitenden Perspektiven einzugrenzen, und damit erklärt sich auch unser Einstieg: Zu betonen ist die Verve, mit der der Bischof von Berlin seinen Auftrag zum „Widerstand“ unterlegte. Ein Konflikt würde die Angelegenheit öffentlich machen und die Wahrscheinlichkeit steigern, dass er sich zugunsten der ADA lösen lasse, argumentierte er. Dibelius machte der Oberin unmissverständlich klar: „Wer hier einfach nachgibt, macht sich daran mitschuldig, dass alles wieder in die alte nationalsozialistische Bahn einmündet.“8 Damit deuten sich zwei Spannungsfelder an, die für die Studie zentral sind. Erstens: So vehement sich Dibelius für „Widerstand“ einsetzte, so ambivalent ist doch das Verhältnis der Evangelischen Kirche zum Nationalsozialismus einzuschätzen. Weite Teile ihrer Verantwortungsträger ließen sich für eine „authentische Partizipation“9 vereinnahmen und agierten im offenen Konsens mit dem System. Die historische „Crux“ für die Kirche besteht indes darin, dass sie selbst dort, wo sie sich den Gleichschaltungsbemühungen entgegenstellte, sich auf sich selbst konzentrierte und ihr „Widerstand“ an den Grenzen ihrer Organisation endete.10 Das hatte vielfältige Gründe; neben drohenden Repressalien sind hier politische und ideologische Schnittmengen zu nennen: Auch der politisch wie theologisch konservative, lange Jahre antisemitisch denkende BK-Mann Dibelius, der der „Deutschen Revolution“ der Nazis am Tag von Potsdam 1933 „auf der Linie eines radikalisierten, völkisch infizierten Nationalprotestantismus die religiöse Weihe“11 gegeben hatte, gehört in diesen Zusammenhang.

8  Dibelius an Lange, 5. Januar 1946 (Abschrift), in: AELKA, Bestand Kreisoberpfarramt Dessau, Nr. 71/152 (Diakonissenhaus 1924–1953). 9  Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014, S. 199. Gemeint ist aktive, überzeugungsfundierte Kollaboration auf der Grundlage einer „Symbiose von Christentum und Nationalsozialismus“. 10  Klaus Fitschen, Ambivalenzen des Kirchenkampfes, in: Thomas Brechenmacher/Harry Oelke (Hg.), Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozialistischen Staat, Göttingen 2011, S. 113–122, hier S. 120. 11  Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, 3. Aufl., München 2003, S. 607; vgl. Manfred Gailus, Ein großes, freudiges „Ja“ und ein kleines, leicht überhörbares „Nein“. Der „Tag von Potsdam“ und die Kirchen, in: ders. (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015, S. 32–50, hier: S. 48–50.



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Zweitens: Für die Innere Mission, die organisatorisch und funktional eher außerhalb von Kirche zu verorten ist12, sich aber aus dem gleichen Milieu rekrutierte und daher 1933 analog reagierte, sind vergleichbare Beobachtungen gemacht worden: Die erfolgreiche Verteidigung diakonischer Selbstorganisation und Identität mit den Mitteln einer Politik der pragmatischen Kooperation mit dem NS-Regime erfolgte zum Preis einer schleichenden Übernahme von dessen politischen Vorgaben und einer kontinuierlichen Beschränkung diakonischer Handlungsfelder.13 Hier kommt jene „nationalsozialistische Bahn“ in den Blick, vor der Dibelius 1946 warnte. Dass die Mutterhausdiakonie dem Regime diese Bahn zu einem Gutteil aus freien Stücken geebnet hatte, blieb freilich ungesagt: Der KWV ergriff gerade nicht für die BK, sondern die Deutschen Christen (DC) und die von ihnen dominierte verfasste Kirche Partei. Die Behauptung seiner organisatorischen Eigenständigkeit erfolgte gar auf dem Boden einer „inneren Zustimmung“ zum Nationalsozialismus.14 Vor dem Hintergrund dieser zum Teil jüngeren Forschungsthesen sollen, auch wenn das Bild quellenbedingt unscharf bleiben wird, im Folgenden die Mutterhausdiakonie als Organisation und als Praxis am Beispiel der ADA von 1933 bis 1945 untersucht werden. Den Bezugsrahmen bilden der etablierte NS-Staat mit seinem totalen Anspruch auf konformes Verhalten sowie ein funktionales und gesellschaftliches Verständnis von Konsens und Resistenz: Es wird danach gefragt, was in bestimmten Interaktionszusammenhängen getan wurde und inwieweit darin der Totalitätsanspruch des Regimes realisiert wurde oder nicht.15

12  Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus und „Zweitkirche“, in: Volker Herrmann/Martin Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 2: Diakonisches Handeln  – diakonisches Profil  – diakonische Kirche, Neukirchen-Vlyn 2006, S. 259–279. 13  Jochen-Christoph Kaiser, Diakonie in der Diktatur. Anmerkungen zur Geschichte der Inneren Mission zwischen 1933 und 1989, in: ders./Ingolf Hübner (Hg.), Diakonie im geteilten Deutschland. Zur diakonischen Arbeit unter den Bedingungen der DDR und der Teilung Deutschlands, Stuttgart 1999, S. 62–76. 14  Siehe den Beitrag von Norbert Friedrich im vorliegenden Band. 15  Vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, 4. Aufl., Reinbek 2006, S. 65–68, 295–307. Zu Kontroverse über angemessene Begriffe und Analysekriterien des Handelns kirchlicher und kirchennaher Akteure im Besonderen Blaschke, Kirchen, S. 191–202; Christoph Strohm, Die Kirchen und das Dritte Reich, München 2011, S. 105–109.

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Vorgeschichte und Kontext Die ADA war 1894 auf Initiative höherer Staatsbeamter als selbständige juristische Person zur Ausbildung und Bereitstellung von Diakonissen im Herzogtum Anhalt gegründet worden. In der Tat ging sie nach und nach mit Kirchengemeinden, politischen Gemeinden und Vereinen Gestellungsverträge für Gemeindestationen, Einrichtungen der Kleinkinder- und Waisenpflege sowie der Frauenfürsorge ein; hinzu kamen die Kreise, deren Krankenhäuser sie in Dessau (1894–1897), Zerbst (seit 1901), Köthen (seit 1919) und Ballenstedt (seit 1922) mit Schwestern beschickte. Ein eigenes Krankenhaus auf dem Anstaltsgelände wurde 1916 eröffnet und als Ausbildungsstätte genutzt.16 Die Leitungsstruktur der ADA entsprach einer staatskirchlichen Form von Diakonie, die der zentralen Wohlfahrts- und Kirchengemeindepflege diente. Staatsregierung und Konsistorium, die im Kuratorium der ADA den Ton angaben, konnten vor allem über den „Anstaltsgeistlichen“, der formal vom Herzog ernannt wurde, Einfluss auf die Anstaltspolitik ausüben. Erst mit der Aufnahme in den Kaiserswerther Verband 1917 wurden weitergehende Eingriffsmöglichkeiten der Staatskirche in die inneren Angelegenheiten des Hauses gedeckelt.17 Nachdem die Anstaltsstatuten im Übergang zur Republik zunächst unverändert geblieben waren, gelang in dem kurzen Zeitfenster einer rechtskonservativen Minderheitsregierung im Herbst 1924 ihre Reform dergestalt, dass die ADA gegenüber Staat und Kirche an Eigenständigkeit gewann und die Schwestern – über einen Schwesternrat – in der Leitung repräsentiert wurden. Der Vorsteher wurde künftig vom Landeskirchenrat, dem permanenten Leitungsgremium der seit 1920 vom Staat unabhängigen Landeskirche, ernannt (und weiter aus ihrer Pfarrbesoldungskasse bezahlt), aber vom Verwaltungsrat (vormals Kuratorium) nach Anhörung der Schwesternschaft vorgeschlagen (präsentiert).18 In die theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Landeskirche, die seit dem Herbst des Jahres 1923 an Schärfe gewannen, wurde die ADA mit der Frühpensionierung ihres langjährigen Vorstehers Fritz Werner zum 1. Februar 1924 unmittelbar hineingezogen. Werner war einer der Köpfe der liberalen Kirchenpartei „Freunde evangelischer Freiheit in Anhalt“, die innerhalb der Amtskirche eine Minderheit repräsen16  Hermann Seeber, Die Baugeschichte des Krankenhauses der ADA, in: Brademann (Hg.), Weibliche Diakonie, S. 157–179. 17  Jan Brademann, Ein Haus – drei Zeiten: Mutterhausdiakonie in Anhalt zwischen 1894 und 1945, in: Brademann (Hg.), Weibliche Diakonie, S. 62–123, hier: S.  76 ff. 18  Ebd., S. 85–90.



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tierte. Der Landeskirchenrat hatte ohne Rücksprache den nationalkonservativ-völkischen Pfarrer Willy Friedrich als Vorsteher durchsetzen wollen. Friedrich war aktiv im Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, dessen Gauvorsitzender er 1927 wurde. Mit Unterstützung der Regierung und nach langen Querelen gelang es schließlich, in Johannes Hoffmann einen Vorsteher zu berufen, mit dem sich die liberale Tradition in der Hausleitung fortsetzte. Sie implizierte eine deutliche Distanz zum Landeskirchenrat, der theologisch und politisch konservativ dominiert wurde. In den späten 1920er Jahren erreichte die ADA, gemessen an den ökonomischen Kennzahlen und der Vielfalt ihrer Arbeitsfelder und Organisationseinheiten, ihre größte Ausdehnung und Bedeutung. Trotzdem setzte bereits jene Zangenbewegung ein, die Mitte der 1930er Jahre auch zu einem zähl­ baren Rückgang führen sollte: Der Nachwuchs wurde angesichts der immer noch zunehmenden Aufgaben knapp, da das Lebensmodell der Diakonisse an Attraktivität verloren hatte und immer öfter auch offen abgelehnt wurde; in Dessau agierte als direkte Konkurrenz die freie Schwesternschaft des Evangelischen Bundes, deren Schwesternheim 1901 gegründet und 1913 erweitert worden war.19 Zugleich wuchsen bei öffentlichen Trägern der Wohlfahrtspflege die Vorbehalte gegenüber der Mutterhausdiakonie. Die Resignation des Vorstehers Hoffmann 1930 folgte längeren diesbezüglichen Auseinandersetzungen im Kontext einer zunehmenden Polarisierung des politischen Systems zwischen antikirchlichen (prorepublikanischen) Linken und kirchenfreundlichen (republikskeptischen) Rechten. Der Verwaltungsrat suchte bezüglich der Nachfolgeregelung die Unterstützung des KWV – man wünschte sich angesichts der politischen Schwierigkeiten einen Mann mit Erfahrung in der Mutterhausdiakonie – und präsentierte auf dessen Vermittlung hin Heinrich Leich als neuen Vorsteher. Er hatte zuvor das Johannisstift in Schildesche bei Bielefeld geleitet und wurde Anfang August 1931 schließlich in Dessau in sein Amt eingeführt. Im Freistaat Anhalt gelang den Nationalsozialisten infolge der Wahlen am 24. April 1932 die im Reichsvergleich früheste Regierungsübernahme in einer Koalition mit einem Zusammenschluss bürgerlich-nationalkonservativer Parteien und Gruppierungen (der „Nationalen Arbeitsgemeinschaft“).20 Mit Oberkirchenrat Willy Knorr (DNVP) wurde ausgerechnet der Vorsitzende des Landeskirchenrats und vormalige Präsident des Landeskirchentags Staatsminister 19  Der

Versuch, beide zu vereinigen, scheiterte 1910; siehe ebd., S. 76 f. politischen Geschichte vgl. Alexander Sperk, Vorgezogene Gleichschaltung? Anhalt unter der ersten NSDAP-geführten Landesregierung im Deutschen Reich, in: Justus H. Ulbricht (Hg.), Anhalts Weg ins „Zeitalter der Extreme“ 1871–1945, Halle/ Saale 2014, S. 141–156; ders., Anhalt im Nationalsozialismus (1932–1945), in: Anhaltischer Heimatbund e. V. (Hg.), 800 Jahre Anhalt. Geschichte, Kultur, Perspektiven, Dößel 2012, S. 403–423. 20  Zur

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Abb. 3: Vorsteher Heinrich Leich (1894–1965), Aufnahme 1960, Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth.

(Innenminister) unter Ministerpräsident Alfred Freyberg (­NSDAP). Knorr, der damit noch 1932 am Erlass antiliberaler (z. B. Schließung des Bauhauses) und antijüdischer Gesetze beteiligt war, beschwor am Volkstrauertag 1933 das „Morgenrot einer besseren Zeit“, in der „ein deutsches Reich in Freiheit, Wehrhaftigkeit und Macht, ein deutsches Volk in Einigkeit, Treue und Gottesfurcht, in Zucht und Arbeitsamkeit, in Bruderliebe und Gerechtigkeit“ wiedererstehen würde.21 Analog überwogen auch in der Pfarrerschaft und im Landeskirchenrat die Freude über das Ende der – aus ihrer Sicht – ungeliebten Weimarer Republik und das Wohlwollen gegenüber der revolutionären Vision der Nazis.22 Doch die Versuche der nationalkonservativen Kräfte, mit den Natio21  Vgl.

„Die Ehrung unserer toten Helden“, in: Anhalter Anzeiger, 13. März 1933. war eine außerordentliche Tagung am 28. April 1933 in Köthen, auf der der Landeskirchenrat die Pfarrer auf „die Bereitschaft zu positiver Mitwirkung“ einschwor („Wir wollen uns durch nichts den Blick für das Große trüben lassen, das Gott uns und unserem Volk in dieser nationalen Bewegung und Erneuerung geschenkt hat!“) und sich diesen Kurs ausdrücklich durch die nahezu vollständig ver22  Zentral



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nalsozialisten zu kooperieren, misslangen nicht nur im Staat, sondern auch in der Kirche: Die in Reaktion auf das Auftreten der DC in Anhalt gebildete konservative Sammelfraktion „Evangelische Kirche“ scheiterte im Juli 1933 bei dem Versuch, mit den DC gemeinsam eine Einheitsliste für die Wahlen zum Landeskirchentag aufzustellen und beide Fraktionen am Landeskirchenrat zu beteiligen. Stattdessen wählte der aufgrund einer von der NSDAP gesteuerten DC-Einheitsliste gewählte Landeskirchentag einen DC-Landeskirchenrat.23 Dieses von dem juristischen Oberkirchenrat Rudolf Wilkendorf geleitete Gremium schloss sich 1937 den Thüringer Deutschen Christen an, die einen radikalen völkisch-rassischen Mystizismus vertraten. Wilkendorf setzte das Führerprinzip durch. Seit 1938, als alle anhaltischen Pfarrer auch den Eid auf den Führer abzulegen hatten (ein Zeichen für die besonders große Emphase der Kirchenleitung für den NS-Staat), trug die Kirchenpolitik antijüdische Züge. War die Haltung der Kirchenleitung zum NS damit durch „authentische Partizipation“24 geprägt, separierte sich nur ein kleiner Teil der Pfarrerschaft in der Bekennenden Kirche. Letztere stellte sich der organisatorischen und theologischen Gleichschaltung entgegen und bildete in Ansätzen eigene Organisationsstrukturen aus, wobei neben dem „Landesbruderrat“ als Leitungsgremium ein eigenes Predigerseminar zumindest bis 1937 Bestand hatte. Auf die Leitungsebene bezogen ist Anhalt dem „deutschchristlichen Weg“ zuzuordnen25; anhand von Belegen nonkonformistischen Handelns wäre aber die Frage nach der Intensität der Gleichschaltung auf Gemeindeebene erst noch zu untersuchen.

sammelte Pfarrerschaft mandatieren ließ; Christentum der Tat. Kirchliches Gemeindeblatt für Anhalt – Amtsblatt des Ev. Landeskirchenrats 59 (1933), Nr. 10, S. 2–4 (Zitat S. 3). 23  Kurt Meier, Evangelische Landeskirche Anhalts, in: ders. (Hg.), Der evangelische Kirchenkampf, Bd. I: Der Kampf um die „Reichskirche“, Halle/Saale 1976, S. 329–334, hier: S. 332 f. Vgl. ferner die in weiten Teilen deskriptive Darstellung: Kirchengeschichtliche Kammer der Evangelischen Landeskirche Anhalts (Hg.), Die Evangelische Landeskirche Anhalts in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945), Dessau 2019. 24  Blaschke, Die Kirchen. 25  Vgl. Manfred Gailus, Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im „Dritten Reich“, in: ders./Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 96–121, hier: S.  111 f.

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Grundhaltungen und Konstellationen Für die weitere Entwicklung der ADA war eine bestimmte Konstellation 1933 von zentraler Bedeutung, die sich im Kontext der politischen Auseinandersetzungen der 1920er Jahre angebahnt hatte und der ADA einen Spielraum für eigen- und widerständige Denk- und Handlungsweisen ermöglichen sollte. Bemerkenswert ist der Befund, dass der DC-Landeskirchenrat die Innere Mission als nicht „artgemäß“ einschätzte.26 Vonseiten der Landeskirche war damit keine Unterstützung der ADA gegen die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und ihre Versuche, die christlichen Institutionen aus der Wohlfahrtspflege zugunsten einer rassistischen und eugenischen „Volkskörperpflege“ zu verdrängen27, zu erwarten. Doch ebenso wenig wahrscheinlich war auch ein vertieftes Engagement der DC-Kirchenleitung für eine Gleichschaltung der ADA. Letzterem standen aber auch seitens der ADA Barrieren entgegen. Zuerst zu nennen ist die Haltung der Hausleitung. Im Schwesternbrief vom Mai 1933 beschwor die Oberin mit einem Luther-Zitat das protestantische Schriftprinzip, das ihr aktuell besonders relevant erschien: „in den Sachen, die der Seelen Seligkeit betreffen, soll nichts denn Gottes Wort gelehrt und angenommen werden“. Dem vaterländischen Jubel der Zeit könne man sich kaum verschließen; „Begeisterung“ aber sei etwas anderes als die „Gabe des Geistes“, und diese von Gott zu erbitten, sei nötig, damit „wir nicht das Vaterland, geschweige denn einen Menschen zu einem Abgott machen, um den sich all unser Denken und Sein dreht. Das ist nämlich jetzt eine große Gefahr. Nicht, als ob wir nun bei allem Geschehen sauertöpfisch zusehen sollten, aber dass wir doch ja unterscheiden lernen zwischen dem, was ein Anrecht hat an unsere letzte Hingabe, und dem, was uns zum Verhängnis werden muss, wenn wir uns ihm mit Haut und Haar verschreiben“.28 26  Wilkendorf lehnte die Innere Mission als Institut des antiquierten, „alten Kirchtums“ ab, das, so äußerte er 1942 in einem Brief an den Staatssekretär Hermann Muhs, „dem deutschen Volke nicht mehr zugemutet werden kann. Wir haben alle Mittel dafür abgesetzt, soweit sie nicht unbedingt noch zur Erhaltung von Instituten gebraucht wurden, deren Eingehen nicht zu rechtfertigen wäre (Krankenanstalten, Altersheime)“. Zitiert nach: Arno Sames (†), Selbstgleichschaltung oder Selbstbehauptung? Rudolf Wilkendorf und August Körner über den Weg der Evangelischen Landeskirche Anhalts in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Kirchengeschichtliche Kammer, Nationalsozialismus, S. 115–140, hier S. 116–121. 27  Für Anhalt bzw. den Gau Magdeburg-Anhalt fehlt es an Studien. Vgl. aber die Ausführungen zu den Rahmenbedingungen in einem vergleichbaren Kontext von Elena M. E. Kiesel, Kinderpflege im göttlichen Auftrag. Das Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift in Halberstadt und sein Verhältnis zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 29 (2017), S. 257–292, hier S. 261–264. 28  Schwesternbrief mit einer Predigt, 14. Mai 1933, in: ArchADA, Nr. 38.



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Hier wird die Grundhaltung der Oberin zum politischen Umschwung 1933 sehr deutlich. Die Bestimmtheit freilich, mit der hier sowohl vor einer Vergötterung Hitlers als auch davor gewarnt wurde, politische Inhalte zu einem Gegenstand religiösen Glaubens zu machen, blieb singulär. Dies darf zumindest anhand der überkommenen Quellen  – die Schwesternbriefe sind fast vollständig überliefert – festgehalten werden. Auch die Predigt vom Sonntag Cantate, die die Oberin im Schwesternbrief vom Mai 1933 beilegte, war von dieser Distanz zum neuen Regime geprägt, auch wenn sie nicht explizit wurde. Sie warnte vor einer pseudoreligiösen Hoffart, die das eigene Volk über andere („Wir sollen uns in Deutschland doch gar nicht einbilden, dass wir das Evangelium in Erbpacht hätten“) erhebe, und beschwor den Glauben aus dem Wort heraus. Dieser sei nötig, um zu erkennen, in welcher Gefahr sowohl die Kirche als auch das Mutterhaus aktuell stecke. Die Frage Jesu an seine Jünger „Wollt ihr auch weggehen?“ (Joh. 6,60–69) war direkt auf die Kirche zu beziehen, deren Schicksal jetzt „auf des Messers Schneide“ stehe.29 Eine authentische Partizipation von Christen am Nationalsozialismus könne es nicht geben; sie würde ein „Weggehen“ – und damit den Verlust evangelischer Identität – implizieren. Der Prediger forderte folglich, „in dieser Entscheidungszeit“ für die „Zukunft unseres Volkes“ könne die Entscheidung nur für das Wort und für die Kirche fallen. Sie müsse vollständig sein und den ganzen Menschen erfassen. Dabei dürfe nicht das Private vom Politischen getrennt und so dem Einzelnen und seinem „alten Adam“ eine „Hintertür“ dafür offengelassen werden, sich einzurichten: „Wer sich auf das Wort verlässt, der wagt es, unter dem Kreuz zu bleiben“. Zweifellos stammte die hektographisch vervielfältigte Predigt aus der Hand des Vorstehers.30 Heinrich Leich war bereits kurz nach seiner Ankunft in Dessau 1931 Mitglied des von Martin Müller, dem späteren Vorsitzenden des Bruderrats der BK in Anhalt, gebildeten „Jungevangelischen Kreises“ geworden.31 Diese Gruppe von vornehmlich jüngeren Theologen sprach sich gegen eine politische Festlegung der Kirche auf das nationalkonservative Lager sowie einen zu starken Einfluss des Politischen auf die Kirche aus; aus 29  Ebd., Predigt vom Sonntag Cantate, dem 14. Mai 1933. Denn so, wie die „Wellen der nationalsozialistische[n] Revolution auch das abgelegenste und stillste Dörfchen erreicht haben, so werden auch die kirchlichen Entscheidungen, um die zur Zeit in Berlin gerungen wird, ausschlaggebend die Zukunft unseres Mutterhauses beeinflussen“. 30  Zum einen bezog sich die Oberin auf den Wunsch der Diakonissen, dann und wann mal eine gehörte Predigt nachlesen zu können; zum anderen war in dem Text eine Mutterhausgemeinde angesprochen. 31  Adressenliste 1931, AELKA, B 27 (Nachlass Martin Müller), Dokumentation zur Geschichte des Kirchenkampfes, Nr. 1.

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ihr ging, auch wenn einige ihrer Vertreter später DC-Mitglieder wurden, im Dezember 1933 die Landesgruppe des Pfarrernotbundes hervor, in der Leich ebenfalls Mitglied wurde.32 Die Oberin und der Vorsteher waren sich in ihrer Grundhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus einig; politisch war mindestens ebenso wichtig, dass sie die Mehrheit des Verwaltungsrats auf ihrer Seite hatten. Das Gremium bestand 1934 aus zehn Personen, darunter satzungsmäßig ein Mitglied des Landeskirchenrates (Wilkendorf), ein von diesem ernannter Kreisoberpfarrer (Oskar Pfennigsdorf), ein Vertreter des Staatsministeriums (seit 1920 Oberregierungsrat Karl Lüdicke), der Hausvorstand (Oberin und Vorsteher), zwei vom Schwesternrat entsendete Diakonissen sowie drei institutionell ungebundene, kooptierte Personen.33 Auf die Stimmen der Schwestern war Verlass; der Schwesternrat blieb in diesen Fragen gegenüber der Hausleitung absolut loyal. Die Personalentscheidungen, die in den nächsten Jahren in diesem Gremium getroffen wurden, lassen ebenfalls eindeutige Schlüsse zu. Nachdem infolge des politischen Umschwungs 1933 Regierungspräsident a. D. Philipp Mühlenbein sein Amt als Vorsitzender niedergelegt hatte und aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden war, wurde der im März 1931 kooptierte ehemalige Dessauer Stadtrat Dr. Franz Neumann zum Vorsitzenden gewählt. Der Jurist war als DDP-Mitglied lange Jahre Stadtrat sowie bis 1930 Bürgermeister gewesen und hatte sich einen Ruf als besonnener Kommunalpolitiker erarbeitet.34 Seine Wiederwahl als Vorsitzender erfolgte 1937.35 An diesem Tag wurde mit Dipl.-Ing. Johannes Plath ein nicht näher bekannter Dessauer hinzugewählt, der Neumann, welcher 1942 starb, schließlich 1944 als Vorsitzender folgte (und dies bis 1949 blieb). Vor allem die Zuwahl des Rechtsanwalts Friedrich Körmigk im Dezember 1944 spricht eine eindeutige Sprache, denn mit ihm rückte ein Vertreter des Landesbruderrats der BK in eine Leitungsposition.36 Auch die Frau des BK-Pfarrers Georg Fiedler, die 1930 in 32  Ebd., Nr. 28 (Mitgliederliste 20. Dezember 1933); zu den Jungevangelischen vgl. Meier, Evangelische Landeskirche Anhalts, S. 331. 33  Vgl. das Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrats vom 16. März 1934, ­ArchADA, Nr.  77. 34  Günther Ziegler, Kommunale Spitzenbeamte Anhalts. Biographische Skizzen 1832–1933, Dessau 1995, S. 56; Bernd G. Ulbrich, 800 Jahre Dessau-Roßlau. Eine Stadtgeschichte, Bd. 2: Dessau im 20. Jahrhundert, Halle/Saale 2013, S. 100. 35  Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 30. November 1937, ArchADA, Nr. 77, bei der neben Neumann selbst ORR Lüdicke, Kirchenrat Franz Lindau (Landeskirchenrat), Vorsteher Leich, Oberin Lange und eine Schwester A. Werner anwesend waren. 36  Peter Rauch, Dr. theol. Martin Müller, Dessau (Eine biographische Skizze), in: Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Landeskunde 12 (2003), S. 60–93, hier: S. 74.



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den Verwaltungsrat gewählt worden war, wurde 1937 wiedergewählt. Sowohl Fiedler, der 1939 zu den 27 Unterzeichnern des Protests der BK gegen die Einführung des Arierparagraphen in der Kirche gehörte, als auch Körmigk, der Leich 1934 gegen den Landeskirchenrat juristisch beistand, gehörten später der ersten Nachkriegsleitung der Landeskirche an. Tatsächlich wurden die Verwaltungsratssitzungen seit 1933 nicht nur immer weniger, sondern auch kürzer. Die Einladungen und Protokolle zeigen, dass hier eine extreme Formalisierung eintrat, indem man sich auf satzungsmäßig-turnusmäßige Aufgaben – wie die Vorlage von Jahresrechnungen und -berichten – beschränkte. Die Vertreter des Landeskirchenrats fehlten seit 1935 häufig in den Sitzungen37, wohl weil sie hier nichts zu bewegen hatten. Die wichtigsten Leitungsentscheidungen wurden durch Vorsteher und Oberin – seit März 1938 war die Oberin allerdings aufgrund einer Erkrankung des Vorstehers zunehmend auf sich allein gestellt38 – getroffen. Der Einfluss der Regierung und des Landeskirchenrats auf die ADA über den Verwaltungsrat blieb damit gering. Damit sind in einem ersten Schritt zwei Indizien im Hinblick auf eine Positionierung der ADA gegenüber dem Totalitätsanspruch des NS-Staates und der deutschchristlichen Kirche festzustellen: erstens der Widerspruch der Hausleitung gegen die pseudoreligiösen Geltungsansprüche des Nationalsozialismus, zweitens eine Prägung der höchsten Leitungsebene der ADA durch BK- und BK-nahe Akteure. In ihr setzte sich das bestehende Verhältnis zum Landeskirchenrat als Antagonist im Kirchenkampf fort. Die Grenzen, die der Hausleitung dort gezogen wurden, wo sie vor diesem Hintergrund konsequent handeln wollte, zeigten sich freilich schnell. Leich war von Kreisoberpfarrer Oskar Pfennigsdorf bereits 1931 zweimal unangekündigt visitiert worden39, ohne dass größere Differenzen aktenkundig ge37  Dies geht aus den nur unvollständig überlieferten Protokollen hervor, aber auch aus einer Bemerkung Renate Langes gegenüber dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats Neumann in Bezug auf eine anstehende, aber möglicherweise ohne Beschlussfähigkeit stattfindende Verwaltungsratssitzung Anfang 1941, in der es um die Änderung der Satzung gehen sollte: „die Herren von der Kirche glänzen ja meist durch Abwesenheit“ (28. Februar 1941), ArchADA, Nr. 79. 38  Pastor Leich fiel zunächst aufgrund von Kreislaufproblemen und Schwächezuständen entweder ganz aus oder musste seinen Dienst insbesondere bezüglich der seelsorglichen, geistlichen Leitung stark vernachlässigen, bevor er Ende 1939 zum Kriegsdienst einberufen wurde. Aufschlussreich ist der sehr offene, verständnisvolle, aber doch klar die Belange der Anstalt betonende Brief der Oberin an Leich vom 27. Januar 1939, ArchADA, Nr. 77. 39  Siehe die Berichte Pfennigsdorfs vom 2. August 1931 und vom 29. November 1931, in: AELKA, B 30 (Superintendentur Dessau, Neuere Abteilung), II J, Bd. I, fol. 86r–v, 89r–v. Die Predigtbeurteilungen sind positiv gehalten, Pfennigsdorf betont die außergewöhnlich hohen Besuchszahl des Gottesdienstes und sieht Leich in seiner

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worden waren. Mitte Oktober 1934 widersetzte er sich einer neuerlichen, diesmal angekündigten Visitation. Pfennigsdorf hatte sich seit Juli 1933 als Befürworter einer politischen und weltanschaulichen Öffnung der Kirche zum Nationalsozialismus erwiesen.40 Als er am 17. Oktober 1934 ankündigte, die ADA visitieren zu wollen, lehnte Leich dies unter Verweis auf den Zweck der Visitation ab, nämlich gerade den geistlichen Bereich seines, Leichs, Vorsteherdienstes zu prüfen.41 Aufgrund von Pfennigsdorfs Haltung gegenüber den „kirchlichen Ereignissen des letzten Jahres“ – damit war die Gleichschaltung von Landeskirchentag und -rat gemeint – sei „die Möglichkeit eines seelsorgerlichen Vertrauensverhältnisses und eines gemeinsamen Stehens vor den Schwestern“ nicht mehr gegeben.42 Leich machte unmissverständlich klar, dass die Differenz nicht in jenen theologischen und kirchenpolitischen Standpunkten bestand, die beide – er als liberaler, Pfennigsdorf als konservativer Theologe – bereits 1931 grundhaft getrennt hatten, sondern dass sie viel tiefer gehe. Pfennigsdorf signalisierte zwischenzeitlich Entgegenkommen; doch die Kirchenleitung43 in Gestalt von Oberkirchenrat Wilkendorf drohte in Reaktion auf Leichs Brief, aus dem Verwaltungsrat der ADA auszuscheiden und die Gehaltszahlungen für den Vorsteher einzustellen44, wenn Leich nicht gehorche. Dem Vorsteher wurden dann seine Dezemberbezüge vorenthalten, was gegenüber seinem Rechtsanwalt, Friedrich Körmigk, mit einem Missver„westfälisch rührigen, ernsten und tiefgründigen Art“ und seiner Kriegserfahrung (er war „von Anfang bis Ende mit der Waffe“ im Krieg) als den richtigen Mann an der richtigen Stelle. 40  Dieser, Jahrgang 1865, war seit dem Kaiserreich einer der Vordenker des konservativen theologischen Lagers in Anhalt gewesen. Bis Juli 1933 Mitglied im Landeskirchenrat, schloss er sich zunächst nicht den Deutschen Christen, sondern der Fraktion „Evangelische Kirche“ an. Bevor er bald darauf den konsequenten Weg zum nationalsozialistischen Christentum ging und auch entsprechend publizierte, hatte er Anfang 1934 ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit einer „vertrauensvollen Verbindung [der Kirche] mit dem nationalsozialistischen Staat“ und gegen die BK abgelegt. Vgl. sein Schreiben an Martin Müller vom 20. Januar 1934, in: Dokumentation zur Geschichte des Kirchenkampfes, Nr. 43, sowie Pfennigsdorfs Zeitungsartikel „Die Entwicklung des anhaltischen Kirchenwesens in den letzten 175 Jahren“ im Anhalter Anzeiger, in: ebd., Nr. 64 (Kopie). 41  Siehe das Schreiben Leichs an Pfennigsdorf vom 22. Oktober 1934, AELKA, B6 (Evangelischer Landeskirchenrat für Anhalt), L 15, Nr. 6, Bd. 1 (Personalakte Leich), fol. 36II–36IV. 42  Ebd., fol. 36III. 43  Der Landeskirchenrat war Juni 1934 in einen „Kreissynodalvorstand“ umgewandelt worden, als die Landeskirche durch denselben im Konsens mit Reichsbischof Ludwig Müller zu einer Propstei der Altpreußischen Union erklärt worden war; dieser Zustand hielt aber nur bis Juli 1935. 44  Siehe den Entwurf des Schreibens vom 5. November 1934, in: ebd., fol. 36V.



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ständnis begründet wurde. Der Verwaltungsrat schaltete schließlich den Kaiserswerther Verband ein: Auguste Mohrmann, seit September 1933 die Leiterin der Diakoniegemeinschaft, des neu gegründeten Dachverbandes der Evangelischen Schwesternschaften, und Graf Siegfried von Lüttichau, der Vorsteher des Verbandes, kamen am 11. Dezember eigens nach Dessau. Nach zwei getrennten Gesprächen mit Wilkendorf sowie mit der Hausleitung beim Kreisoberpfarrer wurde ein Kompromiss gefunden. Das angedachte Disziplinarverfahren gegen Leich wurde fallengelassen. Eine Visitation durch Pfennigsdorf sollte stattfinden – sie war nach der kirchlichen Rechtslage unabdingbar, denn diese verlangte die Unterordnung des Anstaltsgeistlichen unter die Disziplinargewalt der Landeskirche. Bei der Visitation sollte aber auf ein rituelles und liturgisches Gepräge verzichtet werden. Als Begründung hieß es, dass im Februar 1935 eine Festveranstaltung der Diakoniegemeinschaft in Dessau geplant sei, die Gelegenheit für vergleichbares bieten würde.45 In der Tat war es dem Vorsteher mit dem Wegfall des festlichen Elements leichter, sein Gesicht zu wahren, denn so musste er sich nicht in ostentativem Einklang mit dem NS-konformen Pfennigsdorf zeigen. Das Staatsministerium meinte einige Tage später gegenüber der Kirchenleitung verdeutlichen zu müssen, dass es „die ordnungsgemäß eingesetzte Kirchenregierung gegenüber den geltend gemachten Sonderbestrebungen des Anstaltsgeistlichen nachdrücklich […] unterstützen“46 würde. Das war aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nötig. Auf der „nationalsozialistischen Bahn“ Interessanterweise führte der Konflikt Leichs und Pfennigsdorfs jedoch nicht zu einer längerfristigen Verstimmung. Vom Oktober 1936 liegt gar ein Briefwechsel beider vor, der neben dem Austausch von Freundlichkeiten und Glückwünschen – Leich war Vater geworden, Pfennigsdorf altersbedingt aus dem Amt als Kreisoberpfarrer geschieden – auch ein sachliches Zusammenrücken beider erkennen lässt, obschon die weltanschaulichen Differenzen – Pfennigsdorf hatte 1935 eine deutschchristliche Religionslehre für Kinder veröffentlicht47 – weiter bestanden. Im Brief des Kreisoberpfarrers a. D. an Leich ist davon die Rede, diesem sei im Fall des von der ADA vor wenigen Wochen aufgegebenen Kreiskrankenhauses Köthen „in der Haltung der dortigen Schwesternschaft bittere Enttäuschung erwachsen“. Er selbst, Pfennigs45  Vgl. das Schreiben Lüttichaus an Wilkendorf vom 11. Dezember 1934, in: ebd., fol. 41r. 46  Vgl. das Schreiben vom 20. Dezember 1934 in: ebd., fol. 47r. 47  Oskar Pfennigsdorf, Luthers Katechismus für die deutsche Gegenwart. Eine deutsche Christenlehre im Dritten Reich, Schwerin 1935.

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dorf, der Mitglied vom Verwaltungsrat gewesen und zugleich Vorsitzender des Anhaltischen Landesamts für Innere Mission war, mache sich Vorwürfe, der Aufgabe des Krankenhauses nicht mehr Widerstand entgegengesetzt zu haben: „Als Innerer Missionsmann fühle ich tief mit ihnen und der Oberin.“48 Bevor wir uns dem Gegenstand des Mitgefühls widmen, gilt es, sich den Umständen zu nähern, die das Zusammenrücken dieser beiden Männer begünstigten, ja erzwangen. In den eigenen, wesentlich durch angestelltes Personal mitgetragenen Anstalten der ADA waren vordergründig kaum Veränderungen zu spüren49: Das Krankenhaus florierte mit zwischen 1.700 und über 1.900 Patienten und einer durchschnittlichen Auslastung von zwischen 75 und 97 Prozent der Betten jährlich; auch das Marienheim, ein Altersheim, war mit seinen 30 Plätzen zumeist ausgelastet. Das Kindergärtnerinnenseminar betreute zwischen sieben und zwölf Seminaristinnen, die ihm vorgeordnete Kinderpflegerinnenund Haushaltsgehilfinnen-Schule zwischen 10 und 15 Schülerinnen; der Kinderhort der ADA hatte 1937 vormittags zwischen 30 und 35 Klein- und nachmittags durchschnittlich 45 Schulkinder zu versorgen. Die gleiche Zahl von Kindern ging in diesem Jahr in den Kindergarten auf dem Anstaltsgelände. Das Zufluchtsheim für gefährdete Frauen und Mädchen, das über 16 Betten verfügte, war in der Regel voll, zeitweise auch überbelegt; die Insassen wurden überwiegend von Jugendämtern, in zweiter Linie von der Polizeifürsorge, Gesundheitsbehörden und der NSV zugewiesen. Deutlich rückläufig waren seit Mitte der 1930er Jahre die Schwesternzahlen.50 So sank 1934 erstmals, zunächst noch langsam, die Zahl der eingesegneten sowie der auf eine Einsegnung orientierten Schwestern, und ab dem nächsten Jahr lag die Zahl der Neueintritte deutlich unter der Summe der Sterbefälle und Austritte: Waren es im Berichtsjahr 1934/35 noch 106, so konnten am 1. April 1939 – quellenbedingt lässt sich der Zeitraum nicht präzisieren – nur noch 81 Diakonissen und Novizen gezählt werden (von den Diakonissen waren 69 aktiv und 12 im Feierabend), was einem Rückgang von über 24 Prozent entspricht. Austritte hatte es schon in den 1920er Jahren gegeben, aber – bis auf 1928 – nicht so massiv51 und vor allem nicht unter den Diakonissen, die eine jahrelange Probezeit hinter sich hatten, aber von denen sich laut Statistik der Jahresberichte 1935/36 sechs und 1937/38 vier 48  Pfennigsdorf 49  Das

50  Ebd.

an Leich, 22. Oktober 1936, ArchADA, Nr. 79. folgende nach den Jahresberichten in ArchADA, Nr. 139.

51  In dem Bericht an den KWV vom Dezember 1936 werden von Leich folgende Zahlen angeführt (erste Zahl Gesamtzahl der Austritte, zweite Zahl davon die Sterbefälle): 1925: 3/1; 1926: 3/–, 1927: 4/–, 1928: 9/–, 1929: 3/–, 1930: 6/1; 1931: 3/2; 1932: 11/4; 1933: 2/–, 1934: 8/3, 1935: 9/-, 1936: 9/–; vgl. ArchADA, Nr. 94.



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für den Austritt entschieden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Feierabendschwestern an. Kompensiert wurden die Verluste durch freie Hilfsschwestern, Krankenpflegeschülerinnen und diakonische Hilfskräfte. Den 81 Schwestern standen 1938 34 diakonische Arbeitskräfte zur Seite (zehn Jahre zuvor hatte das Verhältnis 98:23, 1934 noch 106:42 gelautet). Die Mitte der 1930er Jahre gilt in der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie allgemein als Wendepunkt bei den Schwesternzahlen; anstelle von Stagnation ist aber in Anhalt eine rückläufige Entwicklung festzustellen.52 Auch bezüglich der für verschiedene Träger betriebenen Außenstationen waren seit 1934/35 fast jährlich Rückgänge zu vermelden.53 Dies betraf vor allem kommunale Gemeindepflegestationen; die größten Einbußen stellten aber die Kreiskrankenhäuser in Köthen (1936) und schließlich Ballenstedt (1939) dar. Wurden am 1. April 1934 noch 34 Außenstationen mit 76 Schwestern und 14 Schülerinnen versorgt – darunter vier Krankenhäuser, 14 kirchliche und kirchennahe sowie zwölf kommunale Gemeindepflegestationen –, so waren es 1939 nur noch 26 (versorgt von 52 Schwestern), darunter nur noch ein Krankenhaus (Zerbst) und sieben kommunale Gemeindepflegestationen. Demnach gingen in fünf Jahren fünf kommunale Stationen und zwei Krankenhäuser verloren. Die genauen Umstände dieser Entwicklung lassen sich leider aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht nachvollziehen. Die nationalsozialistische Wohlfahrtspolitik und Umgestaltung der Gesellschaft verstärkten jedenfalls die etwa 1920 eingesetzte Zangenbewegung, der sich die Mutterhausdiakonie zwischen einer Ablehnung der (weiblichen) Diakonie durch Träger einerseits und dem Nachwuchs- bzw. Austrittsproblem aufgrund der gesunkenen Attraktivität des Diakonissen-Lebensmodells andererseits ausgesetzt sah. Hinzu kam die aktive Abwerbung von Schwestern durch die NSV.54 Das Schwesternbuch enthält lediglich bei zwei Schwestern den Vermerk „freie Hilfe geworden“; dabei handelte es sich um Probeschwestern, die zuvor jeweils nur einige Monate im Mutterhaus gelebt hatten und sich dann dagegen entschie52  Scheepers, Transformationen, S. 84. Bis in den Krieg hinein blieb es bei diesem Niveau, doch stieg der Anteil von Feierabendschwestern; die 1942 an den Kaiserswerther Verband gemeldete Statistik (die letzte vor 1945, die überliefert ist) führt zum 31. Dezember 1942 55 arbeitende Diakonissen, 18 Feierabendschwestern und 4 Jungschwestern an. Vgl. den Fragebogen über die Veränderungen im Mutterhausbetrieb im III. Quartal 1942 (später zum IV. Quartal ergänzt), ArchADA, Nr. 94. 53  Das folgende nach den Jahresberichten in ArchADA, Nr. 139. 54  Personalunterlagen sind nur von verstorbenen Schwestern erhalten; die Karteikarten der meisten ausgetretenen Schwestern (diese Information steht im Schwesternbuch) enthalten nicht einmal das Austrittsdatum geschweige denn Informationen zu Beweggründen und weiterer Vita. Gleiches gilt selbst für eine 1936 nach zehn Jahren eingesegnete und 1937 ausgetretene Diakonisse.

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den, Diakonisse zu werden. Doch auch ihren Dienst als freie Hilfsschwestern in der ADA quittierten beide nach ca. einem Jahr.55 Eine bereits eingesegnete Schwester verließ die ADA zum 15. Oktober 1937 und ging später zur Schwesternschaft des Evangelischen Bundes.56 Nicht zuletzt aufgrund der korrelierenden Verluste der ADA bei den weltlichen Gemeindestationen und Krankenhäusern ist anzunehmen, dass eine Reihe von Schwestern die ADA in Richtung nationalsozialistischer Schwesternschaft verließ, auch wenn im Allgemeinen der Erfolg der Nazis, die so genannten „Braunen Schwestern“ auf Kosten der konfessionellen Schwesternschaften zu erweitern, als gering eingeschätzt wird.57 Selbstbehauptung und Waffenstillstand im Kirchenkampf Bereits bis zum Sommer 1933 war, wie entsprechende Vermerke auf den Schwesterkarteien ausweisen, die überwiegende Zahl der Schwestern persönlich Mitglied in der „Reichsfachschaft deutscher Schwestern“ der NSV geworden, obschon für die Mutterhäuser durch die Kaiserswerther Generalkonferenz im Juli nur eine korporative Mitgliedschaft der „Schwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes“ vorgesehen worden war.58 Die NSV versuchte, die Schwestern quasi an der Leitung vorbei zu kontrollieren. Im Schwesternbrief der Oberin vom 12. August 1942 – er ist der einzige aus diesen Jahren, der neben theologischen Reflexionen auch organisatorische Maßnahmen enthält – heißt es: Aus Berlin – offenbar von der Diakoniegemeinschaft – sei 55  B. W., eingetreten am 16. Mai 1933, ausgetreten am 1. April 1936; H. B., eingetreten am 15. Oktober 1935 und ausgetreten am 1. März 1936, vgl. Schwesternbuch und Schwesternkartei ArchADA, Büro der Oberin. 56  E. N. war im Januar 1928 eingetreten und 1930 eingesegnet worden; sie trat am 1. November (resp. 15. Oktober) 1937 aus der ADA aus und ging laut ihrer Kartei zum Evangelischen Bund; die Oberin glaubte, dass Schwester E., der sie später ein tadelloses Zeugnis ausstellte, nach spätestens drei Jahren zurückkehren würde, was aber unterblieb; vgl. Schwesternbuch und Schwesternkartei in: ArchADA, Büro der Oberin. Interessanterweise meldete der Vorsteher an den Verband, Schwester E. sei „wegen 1 Strafverfahrens gegen das Heimtückegesetz“ ausgetreten und zu keiner anderen Schwesternschaft gewechselt. 57  Hans-Walter Schmuhl, Evangelische Krankenhäuser und die Herausforderung der Moderne. 75 Jahre Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (1926–2001), Leipzig 2002, S. 98–100. In den (quantitativ überhaupt nicht repräsentativen) Akten findet sich lediglich ein Fall: Zum IV. Quartal 1937 wurden an den Verband zwei Austritte gemeldet: der o. g. von E. N. sowie der einer weiteren Schwester F. G.: Sie sei aufgrund von „Differenzen mit dem Mutterhaus“ gegangen und in die freie Schwesternschaft der NSV eingetreten (im Schwesternbuch fehlt diese Information wiederum). Vgl. die beiden vom Vorsteher ausgefüllten Bögen für den Kaiserswerther Verband (Dezember 1937), ArchADA, Nr. 94. 58  Vgl. den Beitrag von Norbert Friedrich im vorliegenden Band.



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mitgeteilt worden, dass die NSV Personalbögen an die Gemeindeschwestern schicke. Renate Lange wies diese jedoch an, die Bögen nicht auszufüllen, sondern an die Mutterhausleitung weiterzuleiten. Es handele sich „nicht um Belange des Dienstes“.59 Gegen eine Einflussnahme der NSV auf die Schwestern über das Mutterhaus konnte sich die Hausleitung wohl vergleichsweise gut zur Wehr setzen. Anders sah es dort aus, wo das diakonische Handeln etwa in Krankenhäusern Interaktionszusammenhänge produzierte, in denen die Schwestern direkt mit Ansprüchen und Anreizen des Systems konfrontiert wurden. Damit kommen wir zurück zu jenem Fall, der 1936 das Mitleid des nationalsozialistischen Christen Pfennigsdorf für den BK-Mann Leich erweckte: Mit der Kündigung des Vertrags mit dem Kreiskrankenhaus in Köthen – wohl aufgrund von zunehmendem Schwesternmangel – waren mehrere dort eingesetzte Schwestern an ihren Arbeitsplätzen geblieben und aus der ADA ausgetreten. Leich entgegnete Pfennigsdorf: „Nach unserer Beurteilung der Lage des Mutterhauses blieb kein anderer Weg übrig [als den Vertrag zu kündigen; JB] […] Wir halten noch heute den Beschluss für richtig, zumal die Kündigung der Schwestern uns innerlich nicht völlig unvorbereitet traf. Es ist hier – um ein Bild aus dem Krankenhaus zu gebrauchen – ein Geschwür aufgebrochen, das den Körper der Schwesternschaft schon seit Jahren schädigte. So unangenehm die äußeren Umstände hierbei sind, so wohltuend ist solch eine Reinigung für die Zukunft.“60 Die „Reinigung“ bezog sich auf Schwestern, die den Anspruch des Mutterhauses auf organisatorische Selbstbehauptung auf der Basis einer glaubensbegründet resistenten Grundhaltung nicht geteilt hatten. Leich forderte – und die Andeutung, man sei nicht unvorbereitet gewesen, bezog sich auf entsprechende Erfahrungsräume – von den Schwestern, ganz im Sinne seiner Cantate-Predigt von 1933, immer wieder eine klare Entscheidung für die ADA. Zwar sprach er weltanschaulich-religiöse Differenzen zumindest schriftlich nicht an, bestand aber darauf, dass die innere Bindung an die Gemeinschaft und der Gehorsam gegenüber der Hausleitung, die die Schwestern mit der Einsegnung zugesagt hatten, sowohl den Anreizen der NSV, als auch den Verunsicherungen aufgrund des politischen Drucks auf Kirche und Diakonie widerstehe.61 Genau dies misslang aber offenbar immer wieder. 59  Schwesternbrief von Renate Lange an die Schwesternschaft, 12. August 1942, ArchADA, Nr. 37. 60  Leich an Pfennigsdorf, 27. Oktober 1936, ArchADA, Nr. 79. 61  Vgl. den Brief an eine der Köthener Schwestern: „Liebe Schwester, ich weiß, dass Ihnen die Entscheidung schwerfällt und dass wir alle uns immer wieder so leicht treiben lassen nach der Seite, auf der wir selber keine Entscheidung zu treffen brauchen. So soll von mir aus gesehen es eine Hilfe für Sie sein, wenn ich Sie in dieser

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Die hierauf reagierende Strategie, die eigenen Reihen zu schließen, ist auch dort erkennbar, wo die ADA angesichts des zunehmenden Schwesternmangels in Betreuungsfragen zugunsten von Kirchengemeinden die Kooperation mit weltlichen Trägern aufgab.62 Sie darf freilich nicht als Ausdruck einer konsistenten Resistenz des Mutterhauses missverstanden werden. Oberstes Ziel blieb die organisatorische und geistige Selbstbehauptung; sie sollte resistentes Verhalten ermöglichen, war aber nur auf der Basis von Anpassungen politischer und weltanschaulicher Art möglich. Eine Kooperation mit NS-konformen Akteuren in Kirche und Innerer Mission gewann in diesem Zusammenhang seit Mitte der 1930er Jahre an Plausibilität und auch Notwendigkeit. So wurde der Rechtsstatus der ADA seitens des Staates immer wieder angefragt. 1939 empfahl das Landesamt für Innere Mission „im Falle der Gefahr für den Fortbestand der Anstalt oder der Gefährdung des evangelischen Charakters derselben“ den Central-Ausschuss für Innere Mission mit der Interessensvertretung zu beauftragen63, wozu es – wohl aufgrund der Zugehörigkeit der ADA zum KWV – nicht kam. 1941, als die Gauleitung ihre Bemühungen wiederholte, die ADA unter ihre Kontrolle zu bringen, nahm man die Diskussion von 1932 darüber wieder auf, ob nicht eine Verleihung von Parochialrechten der ADA mehr Rechtssicherheit böte.64 Sie wäre damit stärker zu einem Teil der Landeskirche geworden. Die Anerkennung der Inneren Mission resp. Mutterhausdiakonie als Teil der Kirche lag durchaus auf Verbandslinie65; sie beinhaltete aber auch die Gefahr eines Wegfalls der lebensnotwendigen steuerlichen Begünstigung. Der satzungsmäßigen Absicherung der Gemeinnützigkeit galten daher zwei Satzungsänderungen 1937 und 1942; sie reagierten auf das Steueranpassungsgesetz 1934 und die Stunde noch einmal erinnere an Ihre Einsegnung vor 3 Monaten und an den neuen Anlauf, den Sie dort genommen haben. Zugleich aber muss ich Ihnen als der für das Mutterhaus verantwortliche Vorsteher sagen, daß es höchst bedenklich ist, wenn Sie sich bei jedem Schritt des Mutterhauses aus dem Gleichgewicht bringen lassen, wenn Sie diesen Schritt nicht verstehen. Gerade unsere Zeit fordert von jedem Menschen klare Entscheidungen. Und wir können nicht durchkommen, wenn wir nicht wissen, wo wir hingehören…“. Zit. n. Brigitte Daase, Segen ererben und weitergeben. Aus der Geschichte der Schwesternschaft der ADA, in: Gotthelf Hüneburg, Susanne Werner (Hg.), 100 Jahre Anhaltische Diakonissenanstalt (1894–1994). Festschrift, o. O. 1994, S. 6–27, hier S. 15. 62  So meldete die Oberin 1940 an den Verband, dass vier Arbeitsplätze infolge von Invalidität frei seien, „und 2 kirchliche Stationen mussten durch Kündigung anderer Stationen besetzt werden“, Oberin an Kaiserswerther Verband (4. Dezember 1940), ArchADA, Nr. 94. 63  Vgl. das Rundschreiben Oskar Pfennigsdorfs vom 10. November 1939, ­ArchADA, Nr.  79. 64  Vgl. die Aktennotiz des Vorstehers über ein entsprechendes Gutachten von Oberregierungsrat Lüdicke aus dem Verwaltungsrat vom 20. September 1932, ebd. 65  Siehe den Beitrag von Norbert Friedrich im vorliegenden Band.



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Gemeinnützigkeitsverordnung 1941, mit denen der NS-Staat das Gemeinnützigkeitsrecht gegenüber der freien Wohlfahrtspflege instrumentalisierte.66 Eine Aberkennung der Gemeinnützigkeit hätte die ADA und ihre Anstalten zweifellos der NSV ausgeliefert. Die Satzungsänderung von 1937 setzte aber auch einen anderen Akzent und profilierte neben dem Kaiserswerther Verband die Landeskirche als Schutzmacht: So wurden Regelungen für den Fall einer Auflösung der Anstalt getroffen (§ 10): Das Kapital, das nach Abzug der Verbindlichkeiten sowie der für die Versorgung der Schwestern noch benötigten Mittel übrig blieb, solle für benachbarte „kirchliche, gemeinnützige oder mildtätige Zwecke“ verwendet werden. Die „treuhänderische Überwachung“ habe durch den Landeskirchenrat unter Mitwirkung des Kaiserswerther Verbands zu erfolgen.67 Angesichts des Drucks auf die konfessionelle Wohlfahrtspflege wollte man also den materiellen Grundbestand der ADA für Kirche und Diakonie retten. Schließlich wurde in den Paragraphen noch ein Absatz eingefügt, der künftige Satzungsänderungen bezüglich des Zweckes, Bestandes und Vermögens der ADA von einer „Genehmigung des Landeskirchenrates für Anhalt unter Mitwirkung des Kaiserswerther Verbandes“ abhängig machte.68 Der Schutz des Kaiserswerther Verbandes war wohl auch in einem BKdominierten Mutterhaus unstrittig; dass zusätzlich eine Annäherung an die DC-Landeskirche erfolgte, entsprach den typischen „Verkirchlichungstendenzen“ der Inneren Mission; die dafür ursächliche Verdrängungspolitik des NS-Staates führte ganz konkret zur Überbrückung der Differenzen im Kirchenkampf. Während in anderen Mutterhäusern zur gleichen Zeit Satzungen rassistisches Gedankengut ganz offen rezipierten69, haben wir vor diesem Hintergrund lediglich die stärkere Kooperation eines resistent eingestellten christlichen Akteurs – der ADA – mit einem konsentierenden (nationalsozialistisch-)christlichen Akteur – dem Landeskirchenrat – festzuhalten. Zwischen partialer Resistenz und partialem Konsens Auf organisatorischer Ebene kommt darin eine zwiespältige Mischung aus partialer Resistenz und partialem Konsens zum Nationalsozialismus zum Ausdruck.70 Schaut man auf die Dessauer Mutterhausdiakonie als Praxis, 66  Siehe die Vorgänge in ArchADA, Nr. 30 (Statuten betr.). Zum steuerlichen Kontext vgl. Michael Droege, Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat, Tübingen 2010, S. 46–55. 67  Vgl. den mit staatlichem Genehmigungsvermerk versehenen Entwurf der Satzungsänderung vom 28. April 1937, ArchADA, Nr. 30. 68  Ebd. 69  Scheepers, Umbrüche, S. 96 f. 70  Blaschke, Kirchen, S. 189.

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wird diese Ambivalenz noch klarer. Dabei ist auf der einen Seite ein Schweigen der Quellen bezüglich zentraler Indikatoren für die Positionierungsmöglichkeiten von Kirche und Diakonie gegenüber dem Totalitätsanspruch des Staates festzustellen: Völlig unklar ist das Verhältnis des Mutterhauses und seiner Teilanstalten zu Menschen als Schwestern, Mitarbeiter und Fürsorgeempfänger, die nach nationalsozialistischen Vorstellungen aufgrund von Erbmerkmalen von der Wohlfahrtspflege auszuschließen (Ariergesetzgebung) oder zu separieren, sterilisieren oder gar zu ermorden waren (Rassenhy­giene, „Euthanasie“, Judenverfolgung). Während die anhaltische Kirchenleitung im Hinblick auf den Arierparagraphen einen antisemitischen Kurs verfolgte, lehnte die BK diesen offen ab. Unter ihrem Protestbrief gegen den Ausschluss nichtarischer Christen aus der Kirche vom 1. März 1939 fehlt allerdings Leichs Unterschrift (der zu diesem Zeitpunkt wohl krank war).71 Auch die Umfrage des evangelischen Bezirkswohlfahrtsamts Berlin-Zehlendorf 1935 bezüglich der Aufnahmemöglichkeit von Nichtarierinnen blieb ausweislich der dortigen Akten ohne Antwort aus Dessau. Sie war auf Initiative der Berliner Fürsorgerin Marga Meusel erfolgt, die die Kirche in einer Denkschrift zum Schutz evangelischer Christen jüdischer Herkunft aufgerufen hatte.72 Genügend Beispiele lassen sich auf der anderen Seite dafür finden, wie das Mutterhaus und seine Teilanstalten mit NS-Organisationen kooperierten und auch NS-Inhalte vermittelten. Anlässlich eines Besuchs im Kursushaus des Kaiserswerther Verbandes in Berlin im Sommer 1937 heißt es im Jahresbericht, die Seminaristinnen hätten die Wanderausstellung „Gib mir vier Jahre Zeit“ besucht und sich gefreut, „gelegentlich des Aufmarsches der italienischen Jugendführer vor der Reichskanzlei den Führer zu sehen und sprechen zu hören.“73 Hier teilten junge Frauen und ihre Betreuerinnen jene Begeisterung, die die Gesellschaft überwiegend erfasst hatte; hier wurde aber auch weltanschaulicher Unterricht betrieben, denn die genannte Ausstellung pries insbesondere die wirtschaftlichen Errungenschaften seit 1933. In dem an Zertifikate und eine verfahrensmäßige Beteiligung des NSStaates gebundenen Feld der Bildung war ein entsprechender Anpassungsdruck am deutlichsten: Rassekunde war seit 1934 Gegenstand des Unterrichts im Seminar und auch der Prüfung der Seminaristinnen. Seit 1935 dominier71  Siehe

Rauch, Müller, S. 78. 28 antwortenden Anstalten der Mutterhausdiakonie antworteten 16 negativ und nur fünf mit einem bedingten Ja; vgl. Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2: 1935–1938/Teil II, Stuttgart 1992, S. 122–124. Die dort zitierten Akten des Evangelischen Zentralarchivs Berlin enthalten keinen Hinweis zu einer Antwort aus Dessau. Im ArchADA fehlt jede Spur hierzu. 73  Jahresbericht 1937/38, in: ArchADA, Nr. 139. 72  Von



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ten nationalpolitische Themen auch in den schriftlichen Abschlussprüfungen im Seminar74; seit 1940 schließlich mussten sich ebenfalls die Kinderpflegerinnen und Haushaltsgehilfinnen einer „Prüfung im nationalpolitischen Unterricht“ unterziehen; die Prüfungskommission wurden vom Kreisschulrat geleitet, aber von Schwestern der ADA mit besetzt.75 Auch der Vorsteher unterrichtete selbst: So leitete er 1935 im Seminar die Arbeitsgemeinschaft über die „deutsche Revolution“ – sprich die Machtergreifung der Nationalsozialisten.76 Wie konform und emphatisch auch immer die Akteure des Mutterhauses hier agierten: Der Preis für die organisatorische Resistenz lag in dem partiellen politischen Konsens, der in der Vermittlung systemkonformen Wissens zum Ausdruck kam. Die Mitarbeiter des Krankenhauses und der übrigen Tochteranstalten der ADA wurden, dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 folgend, in „Gefolgschaften“ verpflichtet und organisiert, die „Kameradschaftsabende“ abhielten und – dem „Führerprinzip“ entsprechend – einem Betriebsführer unterstanden.77 Die Diakoniegemeinschaft veranstaltete Kameradschafts- und Schulungsabende im Mutterhaus, unter anderem mit Vorträgen über Rassekunde. Am 8. Mai 1935 fand eine Tagung der Diakoniegemeinschaft, Landesgruppe Anhalt, im Gemeindehaus der Auferstehungskirche statt, während der Auguste Mohrmann über den „Auftrag der Diakoniegemeinschaft im neuen Staat“ sprach. In einigen engeren Arbeitsbereichen arbeitete die ADA auch mit der NSV zusammen: Letztere belegte z. B. im Sommer 1937 das Kinderheim der ADA mit Sommergästen; die Kinderpflegerinnenschülerinnen der ADA fuhren zu Arbeitseinsätzen in die Walderholungsstätte der NSV, und im Kindergarten der ADA kam die Kindermilchspeisung der NSV den Kindern minderbemittelter Eltern zugute. Die NSV übernahm – wohl in Folge des DRK-Gesetzes von 1937, das das Rote Kreuz dem NS-Staat einverleibte – Anfang 1939 auch zwei von der ADA mit

74  Beispiele waren die Erbgesundheitspflege, „Aufbau, Aufgabe und Bedeutung der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ und „Wie kann die deutsche Frau mithelfen am Aufbau des national-sozialistischen Staates?“; vgl. die Protokolle in: ArchADA, Nr. 63. 75  In der Prüfung am 21. März wurden Themen wie „Die Bedeutung der Rasse für unser Volk“, „Wehr- und Arbeitsdienst als deutsche Ehrenpflicht“ durch Schwester Anna Werner als Lehrende geprüft; die Ergebnisse der sechs Schülerinnen waren: dreimal mangelhaft (6), zweimal ausreichend (4), einmal befriedigend (3), vgl. ebd. 76  Im Jahresbericht 1934/35, in: ebd., ist bezüglich der Schülerinnen im Seminar zu lesen: „Die Schülerinnen nahmen an den Unterrichtsstunden in Rassekunde im Anschluss an den ärztlichen Schwesternunterricht teil. Im Winterhalbjahr wurde in der Arbeitsgemeinschaft über die deutsche Revolution gesprochen. Pastor Leich leitete diese Arbeitsgemeinschaft“. 77  Das folgende nach den Jahresberichten in ArchADA, Nr. 139.

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je zwei Schwestern besetzte Außenstationen als Träger.78 Der genaue Kontext dieser in einer Statistik überlieferten Tatsache ist offen; eine entschieden ablehnende Haltung, wie sie der Vorsteher des Cecilienstifts in Halberstadt einnahm, der in einem vergleichbaren Fall 1938 „seine“ Schwestern abzog79, ist hier jedenfalls nicht festzustellen. Vier Diakonissen taten dort auch noch 1942 für die NSV Dienst. In dem Halberstädter Beispiel ging es freilich nicht um Kranken-, sondern Kinderpflege und damit den Kampf zwischen christlicher und nationalsozialistisch-politischer Erziehung. In vielen Fällen wurden Kindergärten und Seminare schon Mitte der 1930er Jahre geschlossen oder der NSV übergeben. Doch auch als, legitimiert durch den Erlass zur Übernahme nicht-kommunaler Kindergärten vom 21. März 1941, die NSV unter Berufung auf ihren „Menschenführungsanspruch“ seit Ende Juli 1941 gegen konfessionelle Kindergärten vorging, widerstand die ADA erfolgreich dem Druck. Sie hob sich damit auch von den Trägergemeinden in der Landeskirche ab: In Sorge vor einer aktiven Beschlagnahme wurden durch den Vorsitzenden des Verbandes für christliche Kinderpflege in Anhalt, Pfarrer Werner Lange, zehn der zwölf evangelischen Kindergärten Anhalts Ende Juni/Anfang Juli 1941 an die NSV übergeben. Einzig die beiden Kindergärten in Trägerschaft der ADA blieben unabhängig, nachdem die Oberin und Pfarrer Lange entsprechende Tentativen von Stadtverwaltung, NSV und Kreisamt abgewehrt hatten. Neben dem Willen, sich dem Totalitätsanspruch zu widersetzen – er reichte etwa im Cecilienstift Halberstadt an dieser Stelle nicht aus –, war in diesem Zusammenhang auch ein formalrechtliches Argument von Bedeutung, dass nämlich der entsprechende, die NSV ermächtigende Runderlass nicht für Seminarkindergärten galt (das Kindergärtnerinnenseminar der ADA bestand zu diesem Zeitpunkt noch).80 Am 30. September 1941 rückte das NS-Regime schließlich wieder von seiner aggressiven Übernahmepolitik ab.81 Auf die Einwirkungen des Krieges – das Mutterhaus brannte 1945 bis auf die Grundmauern nieder – soll an dieser Stelle nicht mehr eingegangen wer78  Vgl. den Fragebogen über die Veränderungen im Mutterhausbetrieb im I. Quartal 1939, ArchADA, Nr. 94. Eine eindeutige Identifikation derselben war nicht möglich. Da die Statistik den jeweiligen Übergang der Stationen vom Vaterländischen Frauenverein des DRK (gemäß DRK-Gesetz von 1937) vorsah, könnte es sich um die zuvor in Trägerschaft von Frauenvereinen befindlichen Gemeindestationen in Ballenstedt und Bernburg gehandelt haben. Ein solcher Übergang war auch anderswo typisch, vgl. Scheepers, Umbrüche, S. 88. 79  Kiesel, Kinderpflege, S. 267. 80  Rainer Bookhagen, Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. 2: 1937 bis 1945 Rückzug in den Raum der Kirche, Göttingen 2002, S. 736–742. Zu Halberstadt Kiesel, Kinderpflege. 81  Vgl. Bookhagen, Kinderpflege, S. 741.



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den.82 Die Quellen versiegen für diese Jahre fast völlig. Werner Lange, Schwiegersohn des ehemaligen ADA-Vorstehers Fritz Werner, zu dem offenbar ein engeres Vertrauensverhältnis bestand, wurde von der Oberin 1944 gebeten, zum 50-jährigen Jubiläum der Anstalt die Predigt zu halten – der Vorsteher war im Krieg – und eine kurze Geschichte der ADA zu erstellen und vorzutragen. Das auf den 18. Oktober 1944 datierte Schriftstück83 lässt auf ausgiebige Aktenstudien schließen. Es macht indirekt aber auch deutlich, wie sang- und klanglos mit der Kinderpflege und der Ausbildung entsprechender Pflegekräfte der ADA Arbeitsfelder verloren gingen, auf denen sie der Indoktrination und Inanspruchnahme von Menschen durch den NS-Staat zumindest partiell hätte widerstehen können. Lange notierte lediglich: „letztes Examen der Seminaristinnen 1938, Schluss des Horts Okt. 1941, Schluss der Kinderpflegerinnenschule Herbst 1942 u. Schluss des K[inder]g[ar]t[e] ns.“84 Schluss Damit war das Ende der „nationalsozialistischen Bahn“ erreicht, an die Otto Dibelius die Dessauer Oberin fünfzehn Monate später mit dem Auftrag eines „Widerstandes bis zur Gewalt“ gegen die Kommunisten erinnern sollte.85 Der Bestand an Stationen und Schwestern war seit 1939 weitgehend gehalten worden, ja durch die Aufgabe der genannten Tochteranstalten hatte sich der Schwesternmangel sogar erst einmal entspannt. Der Verlust an Arbeitsfeldern, den die „nationalsozialistische Bahn“ beschreiben sollte, unterschied sich, so darf resümiert werden, in Dessau nicht von der allgemeinen Entwicklung der Inneren Mission oder bei anderen Mutterhäusern. Auch ein auf Eskalation setzender Widerstand war demgemäß vor 1945 nicht zu erwarten. Anders als im Dachverband des KWV im fernen Düsseldorf und anders als in der Leitung der nahen Landeskirche fehlte es freilich der der BK verpflichteten Leitung des Dessauer Mutterhauses an „innerer Zustimmung“ zum System. Resistentes Handeln, das auf der Ablehnung des Nationalsozialismus als pseudoreligiöse Weltanschauung gründete, ließ sich jedoch in erster Linie auf der organisatorischen Ebene von Diakonie feststellen: Es ging ihm um die Selbstbehauptung des Mutterhauses als Institution, darum, nicht die Kontrolle über die Arbeit zu verlieren und 82  Siehe

dazu Brademann, Ein Haus – drei Zeiten, S. 107–109. Lange, Aus der Geschichte der anhaltischen Diakonissen-Anstalt (Manuskript), AELKA, Bestand Kreisoberpfarramt Dessau, Nr. 71/152. 84  Ebd. 85  Dibelius an Lange, 5. Januar 1946 (Abschrift), in: AELKA, Bestand Kreisoberpfarramt Dessau, Nr. 71/152 (Diakonissenhaus 1924–1953). 83  Werner

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die Gemeinschaft der Schwestern nicht von innen ideologisch unterwandern zu lassen. Aus der glaubensbegründeten Grundhaltung der Hausleitung floss auf der einen Seite der Widerstand gegen die ostentative Unterordnung unter deutschchristliche Geltungsansprüche der Landeskirche 1934 und der Verzicht auf vermeintlich wankelmütige Schwestern im Kreiskrankenhaus Köthen 1936. Diese Grundhaltung ermöglichte neben solchen Formen der Resistenz aber eben auch konsentierendes Verhalten, zum einen in Gestalt einer organisatorischen Wiederannäherung an die auf Leitungsebene nazifizierte Landes­ kirche, zum anderen, und viel entscheidender, die Akzeptanz einer institutionalisierten Vermittlung systemkonformen und systemstützenden Wissens innerhalb der eigenen Mauern und unter Beteiligung der eigenen Mitglieder. Inhaltlicher Partialkonsens bildete damit auch in der Mutterhausdiakonie letztlich den Preis für organisatorische Partialresistenz; selbst unter BK-Vorzeichen blieb sie „ambivalentes Christentum“86, dessen Nähe zu konsequenter Widersetzlichkeit oder gar Protest und politischem Widerstand gering war. Es lohnt sich dennoch, weiter nach den strukturellen und kulturellen Bedingungen dafür zu suchen, aber auch nach den möglichen Freiräumen, die sich in diesem Kontext für einzelne Akteure zur Weitergabe unangepasst christlichen Denkens oder gar zur Rettung menschlichen Lebens eröffneten. Literatur Beutel, Albrecht: Otto Dibelius, in: Otto Dibelius 1880–1967. Materialien vorgelegt vom Arbeitskreis Otto Dibelius, Berlin 2009, S. 35–46. http://anettedetering. blogspot.com/2010/09/otto-dibelius-materialmappe-jetzt-im.html (Stand 8. April 2020, abgerufen am 8. April 2020). Blaschke, Olaf: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. Bookhagen, Rainer: Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. 2: 1937 bis 1945 Rückzug in den Raum der Kirche, Göttingen 2002. Brademann, Jan (Hg.): Weibliche Diakonie in Anhalt. Zur Geschichte der Anhaltischen Diakonissenanstalt Dessau, Halle/Saale 2019. Brademann, Jan: Ein Haus – drei Zeilen. Mutterhausdiakonie in Anhalt zwischen 1894 und 1945, in: Brademann, Weibliche Diakonie, S. 62–123. Daase, Brigitte: Segen ererben und weitergeben. Aus der Geschichte der Schwesternschaft der ADA, in: Gotthelf Hüneburg/Susanne Werner (Hg.), 100 Jahre Anhaltische Diakonissenanstalt (1894–1994). Festschrift, o. O. 1994, S. 6–27. Droege, Michael: Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat, Tübingen 2010. 86  Blaschke,

Kirchen, S. 189.



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Die Diakonissenanstalt Dresden im Nationalsozialismus Von Annett Büttner Einleitung Die 1844 gegründete Diakonissenanstalt Dresden ist eines der ältesten, größten und renommiertesten evangelischen Mutterhäuser Deutschlands. Auf dem Stammgelände in der Dresdner Neustadt und den Tochtereinrichtungen in Radebeul betreibt sie bis heute Krankenhäuser, Alten- und Behindertenheime sowie Schulen und Kindergärten und deckte damit die gesamte Bandbreite evangelischer Sozialarbeit ab. Nach einer schwierigen Gründungsphase konnte sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine stetige Aufwärtsentwicklung vorweisen und auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Inflationszeit hatte sie dank eines breiten Unterstützerkreises relativ unbeschadet überstanden. Die Weltwirtschaftskrise stürzte die Anstalt aber in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten. Obwohl sie im Juni 1932 mit 1063 Schwestern ihre höchste Mitgliederzahl erreichte, sah sie sich bald existentiellen Bedrohungen ausgesetzt.1 Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit der besonderen Rolle der Diakonissenanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus und den Handlungsoptionen von Anstaltsleitung und Schwesternschaft angesichts der ständig feindlicher werdenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.2 Eine besondere Herausforderung stellt die schlechte Quellenlage dar, da das Anstalts­ archiv am Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend den Bombenangriffen auf Dresden zum Opfer fiel. Daher musste in größerem Umfang auf gedruckte Quellen, wie die Periodika der Anstalt, zurückgegriffen werden.3 Zur politi1  Kleine Chronik der Ev.-Luth. Diakonissen-Anstalt zu Dresden (künftig: Kleine Chronik), Juli 1932, S. 8. 2  Zur allgemeinen Lage in Sachsen und Dresden vgl.: Markus Hein, EvangelischLutherische Landeskirche, in: Holger Starke (Hg.), Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3: Von der Reichsgründung bis in die Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 440–449 sowie Reiner Gross, Geschichte Sachsens, Leipzig 2012, S. 267–280 und Gerhard Lindemann, Das Kreuz mit der Politik, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Achtung Kurzschluss! Religion und Politik, Dresden 2016, S. 237–261, hier S. 242–248. 3  Dabei handelt es sich vor allem um die Zeitschrift Kleine Chronik der ev.-luth. Diakonissen-Anstalt zu Dresden. Die im Archiv überlieferten Unterlagen wurden bis-

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Annett Büttner

Abb. 1: Diakonissenanstalt Dresden von der Elbseite, Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth.

schen Einstellung der Ärzteschaft können auf Grund mangelnder Quellen keine Aussagen getroffen werden. Die folgende Abhandlung lehnt sich an das Kapitel „Gott selbst wird das Werk durch alle Schwierigkeiten der Zeit hindurchtragen. Wer glaubt, der flieht nicht.“ – Die Diakonissenanstalt im Nationalsozialismus, der von der Autorin verfassten Festschrift zum 170. Jubiläum im Jahr 2014 an.4 Die ersten Jahre nach der „Machtübertragung“ Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung und ihre Wirkung auf die Diakonissenanstalt In einem schwierigen Prozess zwischen Anpassung und Festhalten an den eigenen christlichen Überzeugungen versuchte die Anstalt in der Zeit des Nationalsozialismus zu überleben. Zum besseren Verständnis der Ausgangsher nur grob vorgeordnet und noch nicht nach archivwissenschaftlichen Grundsätzen bearbeitet und mit Signaturen versehen. Darüber hinaus wurden die Überlieferungen im Landeskirchenarchiv Sachsen sowie in der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth ausgewertet. 4  Vgl. dazu: Annett Büttner, Diakonissenanstalt Dresden 1844–2014: 170 Jahre Zuwendung leben – Dienst leisten – Zusammenarbeit gestalten, Essen 2014, S. 71–112.



Die Diakonissenanstalt Dresden im Nationalsozialismus169

lage soll zunächst ein Rückblick auf die 1920er Jahre vorausgeschickt werden. Die politische Instabilität der Weimarer Republik und die für Deutschland neue republikanische Staatsform führte in den evangelischen Mutter­ häusern zu großer Skepsis, zumal sie in Sachsen besonders massiv durch eine starke antikirchliche, sozialdemokratische und kommunistische Arbeiter- und Freidenkerbewegung und eine kirchenfeindliche Politik der Landesregierung begleitet wurde.5 Dazu gesellte sich im Protestantismus eine traditionelle, schon auf Luther zurückgehende Obrigkeitshörigkeit, die sich allerdings nicht auf die Organe der ungeliebten Republik bezog, die vermeintlich nicht in der Lage waren, die drängenden politischen und wirtschaftliche Probleme zu meistern. Die Mutterhausvorsteher verstanden sich selbst als apolitische Menschen, die lediglich für ihre Glaubensideale lebten. Dabei ignorierten sie, dass sie durch ihre enge persönliche Bindung an die Monarchie durchaus nicht unpolitisch agierten. Die Ideen, die im 19. Jahrhundert hinter der engen Verbindung evangelischer Kreise zum deutschen Staat standen, die vielzitierte Allianz von Thron und Altar, wurden unter dem Begriff des Nationalprotestantismus zusammengefasst. Er bedeutete „systematische Aufeinanderbezogenheit“ und eine „echte Symbiose des religiösen und des nationalen Elementes.“6 Ohnehin stand die evangelische Kirche schon allein durch ihre landeskirchlichen Strukturen der jeweiligen Regierung näher als etwa die nach Rom ausgerichtete katholische Weltkirche. Ein weiterer beachtenswerter Punkt ist die innenpolitische Wirkung des Versailler Vertrages von 1919. Er machte Deutschland allein für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich und zwang es zur Abtretung großer Gebietsteile. Dazu bürdete er dem Reich ungeheure Reparationssummen auf, deren Höhe nie endgültig festgelegt wurde. Elias Canetti hat in seinem Werk „Masse und Macht“ sehr eindrücklich beschrieben, dass das darin festgehaltene Verbot der allgemeinen Wehrpflicht und damit die quasiAbschaffung des Heeres als Kristallisationspunkt der deutschen Identität den Aufstieg der Nationalsozialisten erst ermöglicht hat.7 Selbst politische Kreise, die keine deutsch-nationalen Positionen vertraten, sahen in diesem Vertrag vor allem einen Revancheakt an einem wehrlosen Opfer und warnten vor der daraus resultierenden künftigen Kriegsgefahr. Die mit dem Vertrag verbundenen Demütigungen lagen wie ein Alpdruck auf der Weimarer Republik, die diesen „Geburtsmakel“ insbesondere in den Augen nationalkonservativer Kreise nie abstreifen konnte. Wiederholt thematisierte die Anstalts­publikation 5  Vgl.

Hein, Landeskirche; Lindemann, Das Kreuz. Krumeich/Hartmut Lehmann: Nation, Religion und Gewalt: Zur Einführung, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.), „Gott mit uns“: Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 1–8, hier S. 1. 7  Elias Canetti, Masse und Macht, 26. Aufl., Frankfurt/Main 2000, S. 209–214. 6  Gerd

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„Kleine Chronik“ in den 1920er und 30er Jahren diesen „Schandvertrag“ und die daraus für Deutschland resultierenden negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen. Indem Hitler 1933 die sofortige Einstellung der Zahlungen ankündigte, zog er große Teile der nationalkonservativen und protestantischen Kreise geschickt auf seine Seite. Auch die nachträgliche Verklärung des Ersten Weltkrieges als Gegenentwurf zum vermeintlich schmachvollen Friedensschluss drang bis in die Kreise der Schwesternschaft hinein. Ab 1935 wurden Ehrenkreuze an diejenigen Diakonissen verliehen, die zwischen 1914 und 1918 in Kriegslazaretten tätig waren. Der von den Nationalsozialisten gepflegte Mythos der „Frontschwester“ war allgegenwärtig, hatten die Schwestern in den Kriegslazaretten doch die ihnen im Geschlechtergefüge zugewiesene Rolle als aufopfernde und fürsorgliche Frau vorbildlich erfüllt.8 Nicht zuletzt ist die soziale Herkunft sowohl der Schwestern als auch der Mutterhausleitung und des Unterstützerkreises aus dem national-konser­ vativen Milieu zu beachten. Die Mitglieder und Vorsitzenden des Vereins der Diakonissenanstalt stammten aus Adel, Militär und Beamtentum und nicht aus dem akademisch gebildeten, liberalen Mittelstand des Stadtbürgertums. Mit der pluralistischen, aus allgemeinen und demokratischen Wahlen hervorgegangenen Weimarer Demokratie unter Beteiligung der Sozialdemokratie konnte und wollte sich kein evangelisches Mutterhaus in Deutschland identifizieren. Der aufkommende Nationalsozialismus bot nun auf alle drängenden Fragen scheinbar einfache Antworten, die ihn auch für protestantische Kreise attraktiv machten. Bereits 1931 setzte sich der Vereinstag des Landesvereins der Inneren Mission Sachsen mit ihm auseinander und fand ambivalente, im Ganzen aber zustimmende Antworten auf die Frage „Was haben wir als evangelische Christen zum Rufe des Nationalsozialismus zu sagen?“9 Diese Grundstimmung führte, gemeinsam mit den gravierenden wirtschaftlichen Problemen in den letzten Jahren der Weimarer Republik, zu einer Befürwortung der „Machtübertragung“ an die Nationalsozialisten durch die meisten Mutterhausangehörigen. Die Straßenkämpfe rivalisierender politischer Lager, die zum Teil auch die Arbeit der Gemeindediakonissen beeinträchtigt hatten, hörten mit einem Schlag auf. Auch die wirtschaftliche Konsolidierung, die nur zum Teil auf Maßnahmen des Staates zurückzuführen war, verfehlte ihre positive Wirkung nicht. Mit vielen Schlagworten des 8  Vgl. Elfriede Pflugk-Harttung (Hg.), Frontschwestern: Ein deutsches Ehrenbuch, Berlin 1936. Zu den Geschlechterrollen in der Kriegskrankenpflege vgl. auch beispielhaft: „Kamerad Schwester“? – Geschlechterhierarchien in der Kriegskrankenpflege des 19. Jahrhunderts, in: Annett Büttner (Hg.), Die konfessionelle Kriegskrankenpflege im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 344–371. 9  Walter Künneth, Was haben wir als evangelische Christen zum Rufe des Natio­ nalsozialismus zu sagen?, Dresden 1931. Vgl. auch: Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017, S. 89–91.



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neuen Systems konnte sich die Mutterhausleitung identifizieren. Der seit 1926 amtierende Rektor Albrecht Ranft (1888–1972) schrieb am 14. Juli 1933 in einem Brief an die Diakonissen: „Volksgemeinschaft, Opferwilligkeit und Dienst, diese Grundforderungen des neuen deutschen Staates sind in der Mutterhaus-Diakonie allezeit gefordert worden.“10 Insbesondere der Mythisierung der Volksgemeinschaft begegnet man in den zeitgenössischen diakonischen Quellen immer wieder. Sie war das Ziel aller krankenpflegerischen, sozialen, aber auch missionarischen Bemühungen und entfaltete eine starke Mobilisierungskraft. Dass aus dieser Gemeinschaft Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten und andere Gruppen ausgeschlossen waren, wurde zunächst völlig ignoriert, gehörten sie ja auch vor der Machtübertragung zu den vermeintlichen oder tatsächlichen Gegnern der Rechristia­ nisierung der weitgehend entkirchlichten Bevölkerungskreise. Der Vorstand des Kaiserswerther Verbandes, dem auch die Diakonissenanstalt Dresden angehörte, stellte zur Lage im Frühjahr 1933 fest, „dass der Mutterhaus-Diakonie der Dienst am Volk Lebenszweck ist und sie mit Freudigkeit das Ihrige zur nationalen Erneuerung beitragen wird. Zur Erfüllung ihrer Eigenart und Aufgabe ist die Verbundenheit mit der Kirche notwendig, und es weiß sich die Mutterhaus-Diakonie innerhalb der nationalen Erneuerung als Glied und Teil der evangelischen Kirche. Ein Beweis für das volle Vertrauen, das der neue Staat der Mutterhaus-Diakonie entgegenbringt, ist die Tatsache, daß jetzt, da die meisten Verbände der Umschaltung nach staatlichen Grundsätzen unterliegen, die Vorstandsmitglieder des Kaiserswerther Verbandes anerkannt wurden.“11 Die Schwesternschaften dieses Verbandes traten im Juni 1933 geschlossen der „Reichsfachschaft deutscher Schwestern“ bei und wurden somit Teil der Deutschen Arbeitsfront. Allen Diakonissen wurde nun das monatlich erscheinende Fachblatt „Dienst am Volk“ zugesandt. Die Dresdner Diakonisse Dorothea Bauer (1887–1939), Leiterin der Krankenpflegeschule, wurde die Vertreterin der Diakonissenhäuser in der Gauleitung Sachsen der Reichsfachschaft Deutscher Schwestern und nahm an einem Führerschulungskurs in Berlin teil. Später hielt sie im Festsaal einen Vortrag über den Aufbau der Deutschen Arbeitsfront, den sie auf den großen Außenstationen wiederholte. Für die Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Schwestern und Pflegerinnen verfasste sie beispielsweise 1935 einen Aufsatz zum Thema „Felddiakonie“, in dem sie ihrer Freude über die Wiederherstellung der Wehrpflicht in Deutschland Ausdruck verlieh und auf die gemeinsamen Erlebnisse der Schwestern und Soldaten im Ersten Weltkrieg verwies: „So wissen auch wir 10  Brief von Rektor Ranft an die Schwestern vom 14. Juli 1933, Archiv der Diakonissenanstalt Dresden (känftig ArchDD), o. Bl. 11  Kleine Chronik, Juli 1933, S. 12. Zur Rolle des Kaiserswerther Verbandes vgl. den Aufsatz von Norbert Friedrich im vorliegenden Band.

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Abb. 2: Festsaal der Diakonissenanstalt in der Zeit des Nationalsozialismus, Archiv der Diakonissenanstalt Dresden.

Schwestern, was es um echtes Soldatentum ist, daß es die selbstverständliche Hingabe im Gehorsam und in der Pflichterfüllung ist, die den ganzen Menschen fordert.“12 Bis zu ihrem Tod 1939 hatte sie in ihren Leitungsfunktionen in- und außerhalb des Mutterhauses nach Ansicht Rektor Ranfts dennoch „bei aller Aufgeschlossenheit für die sozialen und nationalen Ziele der Partei entschieden an dem christlichen Grundgedanken der Diakonie“ festgehalten.13 Schwester Dorothea Bauer verließ mit ihrem Engagement das bisher geltende Diakonissenmodell, was auf Zurückhaltung in politischen und gesellschaftlichen Fragen basierte und an dem andere Diakonissenanstalten stärker festhielten. Von der Reichsfachschaft wurden in der Folgezeit mehrfach Schulungsabende zu Themen der „Rassenkunde und -pflege“ in dem mit „Symbolen der nationalen Erhebung geschmückten“14 Festsaal des Mutterhauses abgehalten. Die „Kleine Chronik“ des Dresdner Mutterhauses druckte 1933 einen Aufsatz des Neuendettelsauer Vorstehers Hans Lauerer ab, der im Beitritt zur 12  Dorothea Bauer, Felddiakonie, in: Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Schwestern und Pflegerinnen 3 (1935), S. 297–299, hier S. 297. 13  Albrecht Ranft: Die Ev.-Luth. Diakonissenanstalt Dresden während des Kirchenkampfes, Landeskirchenarchiv Dresden (künftig LKADD), Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Sign. 710,1, S. 355–369, hier S. 366. 14  Kleine Chronik, April 1934, S. 8.



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Reichsfachschaft „ein Ja zu bereitwilliger und freudiger Mitarbeit am Aufbau des neuen, volksverbundenen Staates“ sah. Weiterhin stellte er die Wesensverwandtschaft der Mutterhausdiakonie mit dem neuen Staat und die prinzipielle Distanz zur Weimarer Republik heraus. Es folgte ein Lob auf Hitler und seine „tapferen“ Männer, die das Vaterland vor dem Untergang gerettet hätten.15 „In der Diakonissenschaft gebe es natürlich eine unterschiedliche Intensität der Zustimmung zur neuen Lage, es sei aber festzustellen, dass in den Schwesternschaften der Mutterhausdiakonie schon längst vor der nationalen Revolution, wie man da und dort auch an den Stimmzetteln feststellen konnte, ein ganz starker Zug zum Nationalsozialismus war. […] Die Stellung der Mutterhausdiakonie, ja der Diakonie überhaupt, zum neuen Deutschland ist ein ungebrochenes Ja.“16 Lauerer, der zugleich zweiter Vorsitzender des Kaiserswerther Verbandes war, präsentierte sich hier als glühender Anhänger des Nationalsozialismus. Die zunehmenden Angriffe des Staates auf die Mutterhausdiakonie und ihre Arbeitsfelder zwangen ihn in der Folge oft zu einem schwierigen Spagat zwischen diesen Polen.17 Eine Änderung in der Organisationsstruktur der Diakonissenanstalt trat in der Form ein, dass der Rektor jetzt wie in den meisten diakonischen Einrichtungen zugleich „Betriebsführer“ einer Gefolgschaft von fast 200 Angestellten war, was ihn zum regelmäßigen Abhalten von Appellen und anderen Veranstaltungen verpflichtete. Am 14. Juni 1933 begrüßten die Dresdner Mutterhausangehörigen die „Nationale Revolution“ durch das Setzen einer Eiche im Garten des Krankenhauses im Rahmen eines Volksfestes.18 In den folgenden Monaten nahmen die Schwestern nach Möglichkeit an den „nationalen Ereignissen“ persönlich oder durch Rundfunkübertragungen teil. Den geschickten Inszenierungen nationalsozialistischer Feiern konnten sich auch die Angehörigen der Mutterhausdiakonie offenbar nicht entziehen. Viele Schwestern erlebten den Besuch Hitlers in Dresden am Trinitatissonntag 1934 und seinen festlichen Zug durch die Bautzner Straße mit und wurden von ihm besonders begrüßt. Rektor Ranft schätze rückwirkend die Zahl der Schwestern, die sich bereits vor dem Januar 1933 der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatten, auf etwa fünfzig. Es handelte sich Lave, o. T., in: Kleine Chronik, Okt. 1933, S. 1 f. Chronik, Okt. 1933, S. 3. 17  Zur Person Hans Lauerers, der zugleich ein standfester Vertreter der Bekennenden Kirche und glühender Antisemit war, vgl. Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler, Im Zeitalter der Weltkriege. Die Diakonissenanstalt Neuendettelsau unter den Rektoren Hans Lauerer (1918–1953) und Hermann Dietzfelbinger (1953–1955), Neuendettelsau 2014, S. 143–167 und 235–243. 18  Kleine Chronik, Juli 1933, S. 5. 15  Hans

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meist um Gemeindeschwestern, die an Umzügen und Versammlungen teilnahmen und teilweise das Parteiabzeichen trugen. „Nach der ‚Machtergreifung‘ war die Schwesternschaft, wenige urteilsfähige Schwestern ausgenommen, wie fast das ganze deutsche Volk vom Begeisterungsrausch ergriffen“, urteilte Ranft rückblickend.19 Wie viele Schwestern nach 1933 noch in die NSDAP eintraten, ist nie festgestellt worden. Wie bereits am Beispiel von Dorothea Bauer deutlich wurde, übernahmen einige Diakonissen nun öffentliche Ämter im staatlichen Wohlfahrtssystem und trugen verstärkt national­ sozialistisches Gedankengut ins Mutterhaus. Insbesondere für unverheiratete Frauen eröffneten sich im „neuen Staat“ Handlungsoptionen, die die Diakonissen teilweise aus dem strengen Ordnungsgefüge der Anstalt herausführten. Für die Mutterhausleitung bedeutete dies, einen schwierigen Balanceakt zwischen den verschiedenen weltanschaulichen Strömungen in der Schwesternschaft herzustellen und die bisherige Disziplin den neuen Gegebenheiten anzupassen. Insbesondere die Briefe, Aufsätze und Predigten Ranfts sind ein ständiges Lavieren zwischen einander widersprechenden Ansichten. Er versuchte stets, alle Strömungen anzusprechen und einzubinden, um die Einheit der Schwesternschaft zu wahren. So regelte er im August 1933 die Anwendung des „Hitler-Grußes“ in der Weise, dass er von Belegschaftsmitgliedern und Schülerinnen zu benutzen sei, es den Diakonissen aber freigestellt war, wie sie grüßen wollten.20 Seine ambivalente Amtsführung kommt auch darin zum Ausdruck, dass er betonte, „bei der Ausbildung und Fortbildung unserer Schwesternschaft haben wir, nicht einem äußeren Druck, sondern unserer innersten Ueberzeugung folgend, ständig darauf Rücksicht genommen, daß wir unserem deutschen Volke im Dritten Reiche zu dienen haben. Es war uns ein ernstes Anliegen, alle unsere Schwestern […] in die völkische Weltanschauung und in das nationalsozialistische Gedankengut einzuführen.“21 Gleichzeitig wurde die Notwendigkeit der verstärkten geistlichen Aus­bildung hervorgehoben. „Nicht nur vaterländischer, nationalsozialistischer Geist, sondern vor allem evangelischer Geist, biblischer Geist und fröhlicher Glaubensmut soll unsre gesamte Schwesternausbildung erfüllen und durch­ dringen.“22 Diese schwankende Haltung entsprach taktischen Motiven und Diakonissenanstalt, Bl. 364. Anweisung deckte sich mit der Linie der Sächsischen Landeskirche. Bischof Coch hatte am 21. Juli 1933 den Hitlergruß in der Landeskirche offiziell eingeführt, Geistliche in Amtskleidung aber zunächst davon ausgenommen. Vgl. Gerhard Lindemann, Friedrich Coch: Der Weg einer „braunen Karriere“ in der Landeskirche, in: Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann (Hg.): Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz, Göttingen 2017, S. 61–86, hier S. 67. 21  Kleine Chronik, Aug. 1935, S. 8. 22  Ebd. 19  Ranft, 20  Diese



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fand seine Entsprechung in der Politik des Kaiserswerther Verbandes unter der Leitung des Pfarrers Siegfried Graf von Lüttichau (1877–1965). Die traditionell deutsch-nationale Einstellung der Mutterhausdiakonie und die prinzipielle Ablehnung von Aufklärung und Moderne korrelierte mit Teilen des nationalsozialistischen Weltbildes, was eine zumindest partielle Zustimmung zu seinen Inhalten möglich machte. Andererseits ließen die zunehmenden kirchenfeindlichen Maßnahmen des Staates eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung wachsen, die zur Betonung der eigenen konfessionellen Wurzeln herausforderten. Wie an den bereits genannten Beispielen deutlich wurde, gerieten der unbedingte Gehorsam als diakonische Grundtugend und das traditionelle Bild der unpolitischen Diakonisse zunehmend ins Wanken.23 So war es Diakonissen beispielsweise bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht erlaubt, politische Veranstaltungen zu besuchen, und die Lektüre von Tageszeitungen kam für sie ebenfalls nicht in Frage. Die dort vertretene Weltsicht hätte die von den Mutterhäusern angebotenen Deutungsmuster der göttlichen Lenkung alles irdischen Geschehens in Frage stellen können. Im Zuge des „nationalen Aufbruchs“ ließ sich diese politische Abstinenz offenbar nicht mehr aufrechterhalten. Rektor Ranft konnte 1933 nur noch konstatieren, dass die Schwestern sich wohl in der Tagespresse über das aktuelle politische Geschehen informieren würden. Auch über das Verbot des Kinobesuchs hatten sich spätestens mit Beginn des Krieges zahlreiche Schwestern hinweggesetzt. Offenbar gab es diesbezügliche Meldungen an das Mutterhaus. Rektor und Oberin gestatteten daher den Schwestern den Besuch der Kriegswochenschau, baten aber dringend darum, bei anderen Kinovorstellungen Zurückhaltung zu üben. Auch in der Folgezeit betonte die „Kleine Chronik“, deren Schriftleiter Rektor Ranft war, immer wieder die volle Zustimmung zum „nationalen Staat“. Diese Äußerungen können auf Grund ihrer Fülle und Vehemenz nicht als bloßes Taktieren gewertet werden, auch wenn Rektor Ranft sie im Nachhinein als notwendig verteidigte und betonte, dass „nur die vaterländischen und sozialen Gedanken des NS zu Worte kamen“.24 Gerade die Publikationen der Diakonissenanstalt bieten ein ständiges Wechselspiel zwischen Abgrenzung und Annäherung an die NS-Ideologie. So hieß es im April 1934 in der 23  Zum Problem des Gehorsams als handlungsleitendem Motiv der Diakonissenausbildung vgl. Annett Büttner, Erziehung zum Gehorsam – Chancen und Gefahren im Blick auf die historische Entwicklung der Diakonissenanstalt Dresden, in: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 38/39 (2017), S. 207– 232. 24  Schreiben Ranfts an die Superintendentur Dresden-Stadt vom 12. Oktober 1945, LKADD, Bestand 2 Landeskirchenamt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Nr. 2476.

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„Kleinen Chronik“ beispielsweise: „Vieles von dem, was sich jetzt allgemein durchgesetzt hat, haben wir in der Mutterhaus-Diakonie im bewussten Gegensatz zu den früheren geistigen Strömungen vertreten, nicht nur mit Worten, sondern auch mit der Tat. Volksgemeinschaft, Ueberwindung der Standesunterschiede, Opferwilligkeit und Dienstbereitschaft, Grundforderungen des neuen deutschen Staates, sind in der Mutterhaus-Diakonie von Anfang an gepflegt worden. ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ – ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘– das sind Grundsätze, die in der Diakonie stets befolgt wurden, mochten sie auch anders ausgedrückt werden.“25 Die Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der Bekennenden Kirche und der Deutschen Christen Weite Kreise innerhalb der evangelischen Kirche glaubten den Versprechungen einiger Nationalsozialisten, mit Hilfe einer christlichen Erneuerungs- und Missionsbewegung die „sittliche Hebung“ der Gesellschaft und den Kampf gegen den Unglauben führen zu wollen, was sich schon bald als Täuschung herausstellen sollte. Im Gegenteil verschreckten die heftigen Auseinandersetzungen des Kirchenkampfes zwischen den sogenannten Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche sogar die eigenen Mitglieder. Die Deutschen Christen waren eine 1932 gegründete nationalsozialistische Bewegung innerhalb der protestantischen Kirchen, die auf eine weitgehende Eliminierung des Alten Testaments und eine „Arisierung“ des christlichen Glaubens hinarbeiteten. Sie betrachteten das deutsche Volkstum als eine zweite Offenbarung.26 Die Bekennende Kirche bestand dagegen auf einer unverfälschten Weitergabe christlich-biblischer Glaubengrundsätze und der reformatorischen Bekenntnisse.27 Aus den Kirchengemeindewahlen vom 23. Juli 1933 gingen die Deutschen Christen Dank der massiven Unterstützung durch die NSDAP und die Aufstellung der Kandidaten auf Einheitslis25  Kleine

Chronik, April 1934, S. 3. zu den „Deutschen Christen“ den Überblick in: Kurt Meier, Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, München 2008, S. 22–58. 27  Die Entstehung der Bekennende Kirche, kurz BK genannt, war in Sachsen zunächst eine Reaktion auf den „Arierparagrafen“ in der evangelischen Landeskirche und entwickelte sich u. a. aus dem „Pfarrernotbund“. Ihre Grundlinien wurden 1934 in der „Barmer theologischen Erklärung“ zusammengefasst. Zur BK in Sachsen vgl.: Sophie von Bechtolsheim, Die staatstreue Opposition – Die Bekennende Kirche und der Kirchenkampf in Dresden 1933–1939, in: Reiner Pommerin (Hg.), Dresden unterm Hakenkreuz, Köln 1998, S. 67–93 sowie Konstantin Hermann/Gerhard Lindemann, Einleitung, in: Konstantin/Lindemann (Hg.), Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz, S. 9–18. Zur Barmer Erklärung vgl. Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1985. 26  Vgl.



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ten mit durchschnittlich 75 Prozent der Stimmen hervor.28 Die Mehrzahl der etwa 800 Geistlichen schloss sich keiner Strömung an und bildete die kirchenpolitische Mitte.29 Dennoch waren viele Kirchengemeinden tief gespalten und den Gemeindeschwestern fiel es schwer, Neutralität zu bewahren, zu der sie vom Mutterhaus immer wieder aufgerufen wurden, um die Arbeits­ felder der Diakonissenanstalt zu erhalten. Geradezu hilflos wirkten Ranfts Beschwörungen, sich nicht von den innerkirchlichen Machtkämpfen tangieren zu lassen und vor allem ausschließlich das Mutterhaus und die Schwesterngemeinschaft als geistliche Heimat anzusehen, wobei die Tendenz der Mutterhausleitung ganz klar in Richtung Bekennender Kirche ging.30 Rektor Ranft hatte sich im Sommer 1933 gegen die Übernahme der Leitung der Sächsischen Landeskirche durch die Deutschen Christen und die Wahl ihres Vertreters Friedrich Coch zum Landesbischof engagiert.31 Von dort konnte er daher nicht mehr mit Unterstützung rechnen. Beunruhigt durch die Annahme der von Oberkirchenrat Walter Grundmann im Sinne der Deutschen Christen konzipierten „28 Thesen der sächsischen Volkskirche“ durch die Landessynode am 10.  Dezember 1933 wandte Ranft sich im Dezember 1933 in einem offenen Brief an die Pfarrer der Sächsischen Landeskirche und wies eindringlich auf die Grundlage der reformatorischen Bekenntnisschriften hin.32 Die Deutschen Christen behandelten ihn daraufhin wie einen Staatsfeind und forderten seine Entlassung aus dem Rektorenamt. Als dies vom Verein der Diakonissenanstalt abgelehnt wurde, kürzte das Landeskirchenamt die erheblichen Zuschüsse zu seinem Gehalt.33 Die Zwangsmaßnahme wurde erst etwa zwei Jahre später wieder aufgehoben. Auf Bitten des Kaiserswerther Verbandes und um der Dresdner Anstalt nicht zu schaden, beendete Ranft daraufhin sein öffentliches Engagement für Das Kreuz, S. 244. Mandy Rabe, Zwischen den Fronten. Die „Mitte“ als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus, Leipzig 2017, S.  28 ff. 30  Rundschreiben des Rektors an die Schwestern vom 27. Oktober 1934, o. D. (Anfang Februar 1935) und 6. November 1937, ArchDD, o. S. 31  Albrecht Ranft, Meine Erlebnisse im Kirchenkampf, LKADD, Bestand 5 Kirchenkampfsammlung, Sign. 710,1, Bl. 355. Dort Hinweis auf einen Aufsatz von Ranft zur bevorstehenden Bischofswahl in Sachsen im Sächsischen Kirchenblatt vom 2. Juni 1933, Sp. 324–326. 32  Albrecht Ranft, Offener Brief an die Pfarrer der Sächsischen Landeskirche, in: Allgemeine Evang.-Luth. Kirchenzeitung vom 22. Dezember 1933, Sp. 1200–1202. Vgl. zu diesem Vorgang: Lindemann, Friedrich Coch, in: Hermann/Lindemann (Hg.), Braune Karrieren, S. 71 sowie Westfeld, Innere Mission, S. 98. Die Thesen beinhalteten das Bekenntnis zu „Blut und Rasse“ und den Totalitätsanspruch des nationalsozialistischen Staates. 33  Ranft, Meine Erlebnisse, Bl. 358. 28  Lindemann, 29  Vgl.

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die Bekennende Kirche und nahm zumindest offiziell eine neutrale Haltung ein. Dass er und die Mehrzahl der Schwestern sich weiterhin innerlich zur Bekennenden Kirche zählten, geht aus den Quellen eindeutig hervor. So schrieb Ranft rückblickend: „Gleichwohl hielt sich die Mehrheit der Schwesternschaft während des Kirchenkampfes innerlich zur BK, vermutlich besaßen auch viele Schw. die rote Mitgliedskarte. Besonders als die kirchenfeindliche Haltung des nationalsozialistischen Staates immer klarer hervortrat, lehnten die meisten Schwestern die NSDAP ab. Wie wohl in allen deutschen Mutterhäusern ist auch im Dresdner Mutterhaus während des Kirchenkampes treu u. anhaltend für die BK gebetet worden. Von den fünf Geistlichen der Dresd. Diakonissenanstalt gehörten ja auch vier der BK an.“34 Nach der Bekanntmachung der „Barmer theologischen Erklärung“ von 1934, in der die Bekennende Kirche ihre Glaubensgrundsätze formuliert hatte, forderte der Rektor die Schwestern jedoch auf, die Zusammenarbeit mit den Deutschen Christen in den Gemeinden nicht aufzugeben, sich aber auch den Bekenntnisgemeinschaften noch nicht anzuschließen. Diese, den Vorgaben des ­Kaiserswerther Verbandes entsprechende Handlungsanweisung, erneuerte er während der 1930er Jahre mehrfach, überließ es aber letztlich der Gewissensentscheidung jeder Schwester, ob sie sich den „Bekenntnisgemeinschaften“ in ihrer Gemeinde anschließen wolle.35 Das Dresdner Haus wurde wie die meisten Mutterhäuser 1934 Mitglied in der „Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Verbände der Deutschen Evangelischen Kirche“. Diese AG stand der Bekennenden Kirche nahe. Ihre Gründung war eine Gegenreaktion auf die Amtseinführung des Reichsbischofs und exponierten Vertreters der Deutschen Christen Ludwig Müller (1883–1945) im September 1933. Die Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche änderte jedoch nichts an der prinzipiellen Zustimmung zu vielen Grundsätzen des nationalsozialistischen Staates. Wie der Name schon sagt, war sie eine religiöse Bekenntnisbewegung und keine politische Widerstandsorganisation, auch wenn für einige ihrer Mitglieder ihr dortiges Engagement zu schwerwiegenden persönlichen Konsequenzen führte. Sebastian Haffner fasste die parallel zur soeben geschilderten Entwicklung ablaufenden Drohgebärden nach der Machtübertragung treffend zusammen: „Im ganzen muß man die Handhabung und Dosierung des Terrors in den ersten sechs Jahren – erst Furchterregung durch wüste Drohungen, dann schwere, aber hinter den Drohungen doch etwas zurückbleibende Terrormaß34  Ranft, Diakonissenanstalt, Bl. 365. Vgl. auch die Einordnung Ranfts als Mitglied der Bekennenden Kirche in: Rabe, Zwischen den Fronten, S. 497. 35  Ebd. Ranft.



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nahmen und danach allmählicher Übergang zu einer Beinahe-Normalität, aber ohne völligen Verzicht auf ein wenig Hintergrund-Terror – eine psychologische Meisterleistung Hitlers nennen. Sie sorgte […] für das rechte Maß von Einschüchterung, ohne sie zu verzweifeltem Widerstand zu treiben; und, noch wichtiger, ohne von den mehr positiv beurteilten Leistungen des Regimes allzusehr abzulenken.“36 Die allmähliche „Arisierung“ der Diakonissenanstalt Ein besonderes Problem stellte im Dresdner Mutterhaus die sogenannte „Arisierung“ dar. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 schloss Personen „nichtarischer Herkunft“ und politisch Unzuverlässige aus dem öffentlichen Dienst aus. Darunter fielen auch Menschen, deren Eltern oder Großelternteile jüdischer Herkunft waren, unabhängig von ihrer aktuellen religiösen Orientierung. Dieses Gesetz griff an sich nicht in konfessionellen Einrichtungen, wurde aber auf Anweisung von Bischof Coch ab September 1933 auch innerhalb der Landeskirche mit Nachdruck umgesetzt, indem entsprechende Bestimmungen im landeskirchlichen Berufsbeamtengesetz Aufnahme fanden. Daher mussten auch Diakonissen auf den Außenstationen entsprechende Fragebögen ausfüllen. Reichsweit legte erst das „Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege“ von 1938 die Notwendigkeit der arischen Abstammung des Pflegepersonals fest. Im Dresdner Mutterhaus entsandte man auf Grund der besonderen Situation in Sachsen bereits ab dem Sommer 1933 „nur solche Schwestern, deren rein deutsche (arische) Abstammung feststeht“37 in die Gemeindepflege und Krankenhäuser. Drei „nicht voll arische Schwestern“ wurden nur noch im Innendienst eingesetzt.38 Von 1937 ist ein Fall überliefert, in dem einer „Halbjüdin“ die Aufnahme in die Krankenpflegeschule verwehrt wurde.39 Die Anstalt bewegte sich hier auch im breiten Fahrwasser eines lang tradierten christlichen Antijudaismus und Antisemitismus, der schließlich 1939 zur Gründung des Eisenacher „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ als Einrichtung deutscher evangeli-

Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt/Main 1985, S. 30. von Rektor Ranft an die Schwestern vom 14. Juli 1933, ArchDD, o. Bl. 38  Ranft, Diakonissenanstalt, Bl. 366. 39  Vgl. Hartmut Ludwig, Ursula von Koss, in: Hartmut Ludwig/Eberhard Röhm (Hg.), Evangelisch getauft – als „Juden“ verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Stuttgart 2014, S. 180–181. Vgl. auch die Ergebnisse einer Umfrage unter Anstalten der Inneren Mission über Ausbildungsmöglichkeiten für christliche „Nichtarier“, in: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder (Hg.), Juden, Christen, Deutsche 1933–1945, Bd. 2/2, Stuttgart 1992, S. 122–127. 36  Sebastian 37  Brief

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scher Landeskirchen führte.40 Der im Oktober 1933 zur Unterstützung von Pfarrern jüdischer Herkunft gegründete Pfarrernotbund, dem im Übrigen auch Rektor Ranft angehörte, wandte sich in Sachsen gegen die Übertragung der staatlichen antisemitischen Bestimmungen auf die Kirche und war eine Keimzelle der im April 1934 gegründeten sächsischen Bekenntnisgemeinschaft. Darüber hinaus engagierte er sich als private Hilfsorganisation für betroffene Geistliche. Die Vorgänge in der Diakonissenanstalt sind angesichts der Tatsache, dass der Ehefrau Pfarrer Ranfts ebenfalls eine „nichtarische“ Abstammung nachgesagt wurde, besonders brisant.41 Dieser zur damaligen Zeit nicht ungefährliche Vorwurf bestand zu Unrecht, weil selbst nach den Regeln der Nürnberger Rassengesetze der jüdische Urgroßvater von Elisabeth Ranft nicht mehr für eine Einstufung als „Halb- oder Vierteljude“ ausgereicht hätte.42 Dennoch ist es nachvollziehbar, dass diese offenbar von deutsch-christlichen Kreisen und dem Landesverband für Innere Mission unter der Leitung von „Landesführer“ Adolf Wendelin gestreuten Gerüchte Ranft und seine Frau erheblich unter Druck setzten, hatten sie doch eine Beobachtung durch die Deutschen Christen, Vorladungen durch die Gestapo und die öffentliche Beschimpfung als „jüdisch versippt“ zur Folge.43 Selbst die bürgerliche Existenz der Familie stand mit der Übernahme judenfeindlicher Bestimmungen in das Landeskirchenrecht auf dem Spiel. Demnach waren Geistliche jüdischer Herkunft oder mit solchen Verheiratete zwingend in den Ruhestand zu versetzen.44 Bereits im Sommer 1933 hatte Ranft überlegt, ob er auf Grund seiner an­ geschlagenen Gesundheit und der ständigen Anfeindungen das Mutterhaus verlassen und einen Ruf auf eine Pfarrstelle in Kamenz annehmen sollte. Durch die Wahl eines Vertreters der Deutschen Christen zerschlugen sich diese Pläne. Eventuell wollte der Rektor angesichts seiner persönlichen Situation mit den radikalen Bestimmungen über den Einsatz von Schwestern dem Vorwurf der Parteinahme und Sympathie für die diskriminierte jüdische Bevölkerung zuvorkommen. Andererseits empfand er selbst nach dem Ende der Naziherrschaft vor allem Verachtung für die Verbreiter des unwahren 40  Zum Eisenacher Institut vgl. Oliver Arnhold, „Die Entjudung“ des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche. Christlicher Antisemitismus am Beispiel des kirchlichen „Entjudungsinstituts“ in der Zeit von 1939–1945, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 7 (2013), S. 51–74. Dort war später unter anderem der als Verfasser der „28 Thesen“ vom Dezember 1933 bekannte sächsische Pfarrer Walter Grundmann tätig. 41  Ranft, Meine Erlebnisse, Bl. 359–361. 42  Der Familie von Elisabeth Ranft, geb. Kaskel, gehörte mit dem privaten Bankhaus Kaskel eine Vorläuferfirma der Dresdner Bank. 43  Vgl. zu diesem Vorgang auch: Westfeld, Innere Mission, S. 101–102. 44  Vgl. Lindemann, Friedrich Coch, S. 69.



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Gerüchts, unter dem seine Frau sehr gelitten hatte. Er stellte weder das dahinterstehende Weltbild generell in Frage noch ergriff er allgemein Partei für dessen Opfer.45 Die Lage ab Mitte der 1930er Jahre In den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ hatte die Diakonissenanstalt ihre Arbeit auf Grund ihrer Anpassungsbereitschaft noch relativ ungestört weiterführen können. Das Verwaltungsjahr vom Oktober 1933 bis zum September 1934 endete aber trotz größter Sparsamkeit und der Zurückstellung von Anschaffungen durch Rückgang der Einnahmen und Spenden mit einem negativen Ergebnis. Auf Grund massiver Propaganda der Nationalsozialisten für die eigene, 1934 gegründete Schwesternschaft, ging auch die Zahl der Neueintritte in die Diakonissenanstalt stetig zurück, vereinzelt traten Diakonissen in diese Schwesternschaft über.46 Die nach ihrer Tracht, einem braunen Leinenkleid, auch „Braune Schwestern“ genannte Schwesternschaft war eine Parteiorganisation der NSDAP. Sie stellte einen neuen, politisch geschulten Schwesterntyp dar und sollte als pflegerische „Elite“ bei der Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie mitwirken.47 Ihre Hauptmerkmale waren: „weiblich, politisch aktiv, nicht-jüdisch, nichtkonfessionell und selektiv handelnd.“48 In Dresden als Sitz des Reichsmutterhauses der „Braunen Schwestern“ machte sich die Konkurrenz durch massive Propaganda besonders bemerkbar.49 In der Folge stieg die Zahl der NS-Schwestern kontinuierlich, was insbesondere auf den Neueintritt von Schwesternschülerinnen und Jungschwestern zurückzuführen war und den Nachwuchs für andere, insbesondere konfessionelle Schwesternschaften schmälerte. Andererseits blieb

45  Ranft,

Diakonissenanstalt, Bl. 361. Problem betraf alle Diakonissenanstalten. Vgl. die Statistik der Schwesternzahlen nach ihrer weltanschaulichen Ausrichtung im Deutschen Reich aus dem Jahr 1942 in: Eduard Seidler, Karl-Heinz Leven (Hg.), Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, Stuttgart 2003, S. 253. 47  Vgl. dazu: Birgit Breiding, Die Braunen Schwestern. Ideologie, Struktur, Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Stuttgart 1998. 48  Ulrike Gaida, Zwischen Pflegen und Töten. Krankenschwestern im Nationalsozialismus, 3. Aufl., Frankfurt/Main 2011, S. 21. 49  Vgl. Breiding, Die Braunen Schwestern, S. 142–149 sowie Marina Lienert, Dresdner Krankenhäuser von 1900 bis 1945, in: Dresdner Geschichtsbuch 13 (2008), S. 159–190, hier S. 178–180 und Horst-Peter/Jutta Wolff, Geschichte der Krankenpflege, Basel 1994, S. 213–216. Auch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt gründete eine eigene Schwesternschaft, die aber bereits 1936 mit den „freien“, d. h. nicht an einen konfessionellen Mutterhausverband gebundenen Schwestern zum „Reichsbund Deutscher Schwestern und Pflegerinnen“ zusammengefasst wurde. 46  Dieses

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die Beharrungskraft der konfessionellen Schwesternschaften ausgeprägt, die bis 1942 immer noch ca. 65 % aller Schwestern stellten.50 Die negativen Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik auf die Diakonissenanstalt Dresden verdeutlicht die folgende Schwesternstatistik: 1933: 1039 Schwestern51 1934: 1036 Schwestern52 1935: 1032 Schwestern53 1936: 1017 Schwestern54 1937: 999 Schwestern55 1938: 953 Schwestern56 1939: 934 Schwestern57 1940: 910 Schwestern58 Vergeblich wurden die Schwestern auf den Außenstationen zur verstärkten Nachwuchswerbung und zur Weitergabe geeigneter Drucksachen aufgefordert.59 Freie Hilfen und Mitglieder des Evangelischen Frauendienstes traten zunehmend an die Seite der Gemeindediakonissen. Eine weitere neue Mit­ arbeitergruppe waren die Mädchen des Frauenhilfsdienstes, ins Leben gerufen durch die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink (1902–1999). Seit Anfang Juli 1938 waren etwa zehn von ihnen in der Hauswirtschaft des Krankenhauses, aber auch im Kindergarten und in der Küche von „Haus Bethesda“ in Radebeul tätig.

50  Vgl. die bereits genannte Statistik von 1942 in: Seidler, Leven (Hg.), Geschichte der Medizin, S. 253; Wolff, Geschichte der Krankenpflege, S. 213. 51  Kleine Chronik, Okt. 1933, S. 8. 52  Kleine Chronik, Aug. 1935, S. 7. 53  Aus der Arbeit der Ev.-luth. Diakonissenanstalt zu Dresden 1. Oktober 1934 bis 30. September 1936, ArchDD, o. S., S. 11 u. 21. 54  Kleine Chronik, Jan. 1937, S. 16. 55  Kleine Chronik, Jan. 1938, S. 6. 56  Kleine Chronik, Jan. 1939, S. 8. 57  Kleine Chronik, Aug. 1940, S. 7. 58  Kleine Chronik, Mai 1941, S. 8. Dazu kommen noch 28 Schwestern aus den aufgelösten Mutterhäusern Aussig und Zöptau im Sudetenland. Aus den Folgejahren sind keine Statistiken überliefert. 59  Die Diakonissenanstalt Dresden lieferte den eigenen Schwestern in den haus­ eigenen Publikationen Argumentationsmaterial auf die Frage junger Mädchen, ob es sich überhaupt noch lohne, Diakonisse zu werden. Vgl. Kleine Chronik, Juli 1937, S. 9.



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Pfarrer Ranft forderte die Diakonissen wiederholt zu besonders gewissenhafter Pflichterfüllung auf, weil er hoffte, sie auf diese Weise überall unentbehrlich zu machen und alle Arbeitsgebiete auch weiterhin behaupten zu können. Gesamtgesellschaftlich hatte sich das Klima 1936 weiter zu Ungunsten der Kirchen entwickelt. Die zunehmend spürbare Kirchenfeindlichkeit des nationalsozialistischen Regimes verringerten auch die Handlungsspielräume der Anstalt zusehends. Die kritischen Äußerungen der Mutterhausleitung wurden jedoch stets diplomatisch „verpackt“. So hieß es 1936: „Wir wollen und müssen zeitgemäß sein im Sinne des Wortes: ‚Schicket Euch in die Zeit!‘ (Röm. 12,11) Aber die alten wertbeständigen Wesenszüge der Mutterhausdiakonie müssen trotz aller notwendigen Neuerungen in zäher Treue festgehalten werden.“60 Die zunehmend aggressiver agierende „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) war ab 1936 Spitzenverband aller Krankenpflegeverbände und versuchte ebenso massiv, in den Bereich der Kinderbetreuung vorzudringen. Dazu dienten unter anderem die Preissenkungen in städtischen Heimen, was zu rückläufigen Besuchszahlen des Diakonissenkindergartens führte. Der Ausbau kommunaler, mit NS-Schwestern besetzter Gemeindeschwesterstationen wurde ebenfalls forciert, um diesen Bereich zu entkonfessionalisieren und ein Monopol nationalsozialistischer Sozialpolitik herzustellen. Tatsächlich wurde dieses Ziel aus Mangel an Schwestern aber nie erreicht. Teilweise war die NSV gezwungen, von ihr übernommene Stationen weiterhin mit Diakonissen oder gemeinsam mit NS- und konfessionellen Schwestern zu besetzen. Dennoch erweckten die Nationalsozialisten in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Mutterhausdiakonie zukünftig kaum noch Arbeitsgebiete haben würde. Das Dresdner Mutterhaus konnte aber fast alle Gemeindestationen behaupten. Es blickte auf diesem Gebiet zum Teil auf über 50-jährige Arbeit zurück, so z. B. in der Dresdner Annengemeinde und der Johanneskirchengemeinde. Lediglich wenige Stationen wurden aus Schwesternmangel aufgegeben bzw. neue Angebote abgelehnt. Die Anstalt verlor 1938 die pflegerische Versorgung einiger Krankenhäuser, wie z. B. in Strehla, Stollberg und den beiden Stadtkrankenhäusern in Chemnitz. Die dafür aufgeführten Gründe sind widersprüchlich. Zuerst hieß es, die Arbeitsgebiete wurden uns „ohne unser Zutun aus der Hand genommen“, später wurde Schwesternmangel als Rückzugsgrund genannt.61 Der Verlust der Chemnitzer Krankenhäuser war besonders schmerzlich, da zehn dort tätige Diakonissen in den Dienst der Städtischen Chemnitzer Schwesternschaft traten, um ihre Arbeit weiterhin in diesen Hospitälern verrichten zu können. In diesem Jahr schieden mit 55 Schwestern besonders viele aus. 60  Kleine 61  Kleine

Chronik, Januar 1936, S. 3. Chronik, Juli 1938, S. 6 und 8.

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Sechs wurden entlassen, ebenso viele heirateten, elf wollten ihre Angehörigen unterstützen, zwei wechselten zur NS-Schwesternschaft und zwanzig hatten die Freude an ihrem Beruf oder die Verbindung zum Mutterhaus verloren. Von den 953 Schwestern arbeiteten unter anderem 214 in Krankenhäusern und Heilstätten, 266 in 212 Gemeindepflegen, 169 im Mutterhaus und den Tochteranstalten.62 Darüber hinaus halfen 106 freie Hilfen incl. Krankenpflegeschülerinnen, elf Schwestern aus dem Diakonissenhaus Zion in Aue, eine Diakonisse aus dem Mutterhaus Aussig-Doppitz und zwei Johanniterschwestern. Große finanzielle Einbußen erlitt das Mutterhaus durch das reichsweite Verbot von Straßensammlungen, die ab 1937 ausschließlich von der NSV durchgeführt werden durften. Der nach wie vor große Unterstützerkreis konnte die Ausfälle durch verstärkte Spenden teilweise wieder ausgleichen. Durch Erlass des Preußischen Innenministers vom 9. November 1935 war es erlaubt, im Freundeskreis um Weihnachtsliebesgaben zu bitten. Daraufhin wurden 2.700 Briefe ausgesandt, die eine unerwartet hohe Resonanz erbrachten. Bis zum Januar 1936 gingen 5.449 Reichsmark ein und auch in den folgenden Jahren flossen der Anstalt noch bedeutende Beträge von privater Seite zu. Sparmaßnahmen und die Umstellung des Haushaltes auf die kaufmännische Buchführung erbrachten weitere Entspannung. Eine Neuerung betraf die bisher als „Hilfsschwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes“ bezeichneten freien Mitarbeiterinnen. Um der Eingliederung in die NS-Schwesternschaft zu entgehen, wurden sie am 1. März 1939 in die neu gegründete Verbandsschwesternschaft des Kaiserswerther Verbandes überführt. Sie trugen ein graues Arbeitskleid und eine Verbandsbrosche und lebten teilweise auf dem Gelände des Mutterhauses. Das Dresdner Mutterhaus beschäftigte damals 83 Verbandsschwestern, zu denen auch die Krankenpflegeschülerinnen zählten. Das Krankenhaus im „Dritten Reich“ Das Diakonissenkrankenhaus behandelte bis 1939 jährlich ca. 3.400 sta­ tionäre Patienten sowie über 2000 in der Poliklinik. Die Verweildauer von durchschnittlich achtzehn Tagen war wesentlich länger als heute. Ohne Zweifel wirkte das nationalsozialistisch geprägte medizinische Umfeld in Dresden auch auf das Diakonissenkrankenhaus ein. Das dem Reichsärzteführer ­Gerhard Wagner (1888–1939) unterstellte Krankenhaus Johannstadt (heute Universitätsklinikum) wurde 1934 nach Hitlers Stellvertreter in „RudolfHeß-Krankenhaus“ umbenannt und als Vorzeigeobjekt der „neuen deutschen 62  Kleine

Chronik, Juni 1939, S. 6–7.



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Heil­ kunde“ mit dem Schwerpunkt Naturheilverfahren etabliert. Mehrfach hielten Ärzte dieses Krankenhauses ideologisch geprägte Vorträge in der Diakonissenanstalt. Gleichzeitig entstand dort das „Reichsmutterhaus“ der NS-Schwesternschaft, die als Parteiorganisation der NSDAP galt. Dresden mit seinem Hygienemuseum und der „Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege“ wurde zur „Stadt der Volksgesundheit“ erhoben. In der Ausbildung der Krankenpflegeschülerinnen der Diakonissenanstalt musste nach eigener Einschätzung der Anstaltsleitung 1933 nicht viel geändert werden, „da wir schon immer in unserem Mutterhause die Lernschule, Individualismus und Intellektualismus bekämpften, Dienst, opferwillige Hingabe und Gehorsam, Ueberwindung der Standesunterschiede, echte Fraulichkeit und Mütterlichkeit gefördert, gepflegt und mit der Tat bewiesen haben. Daß wir seit der nationalen Erhebung in unserm Unterrichte die neu erkannte Bedeutung von Blut und Rasse, den völkischen Gedanken und den Dienst am Volk besonders betont haben, ist selbstverständlich.“63 Das reichsweite Krankenpflegegesetz vom September 1938 veränderte nochmals die Ausbildungsinhalte der Pflegeschule. Neben die Lehrinhalte „Bau und Verrichtungen des Körpers“ und „Gesundheits- und Krankheitslehre“ traten Fächer wie „weltanschauliche Schulung, Erb- und Rassenkunde, Erb- und Rassenpflege“ auf.64 Für die letztgenannten Fächer war bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff „Eugenik“ im Gebrauch. Die gesamte Thematik wurde in allen politischen Lagern seit dieser Zeit diskutiert.65 Auch im Krankenhaus der Diakonissenanstalt wurden, wie reichsweit in vielen anderen evangelischen Krankenhäusern, Zwangssterilisationen an Männern und Frauen durchgeführt. Man beteiligte sich aus innerer Überzeugung freiwillig an diesen Maßnahmen, und weil man es als gute Möglichkeit des Loyalitätsbeweises gegenüber dem Staat ansah. Lediglich katholische Kliniken waren in der Frage zurückhaltend, weil eine Papstenzyklika dagegen stand. Über die Herkunft der Dresdner Patienten, ihr weiteres Schicksal 63  Kleine

Chronik, April 1934, S. 4. Eva-Maria Ulmer, „Krankenpflege ist Dienst an der Volksgemeinschaft“. Zur Entwicklung der Pflege im Nationalsozialismus, in: Geschichte der Pflege 2 (2013), S. 79–85. Der Wortlaut des Gesetzes zur Ordnung der Krankenpflege vom 28. September 1938 ist online abrufbar unter: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?ap m=0&aid=dra&datum=19380004&seite=00001309&zoom=2. abgerufen am 15.10.2020 65  Vgl. dazu: Klaus-Dietmar Henke (Hg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord (Schriften des Deutschen HygieneMuseums Dresden, 7). Köln 2008. Zur Situation in Sachsen vgl.: Westfeld, Innere Mission, S. 135–146. Siehe auch: Michael Schwartz, Konfessionelle Milieus und Weimarer Eugenik, in: Historische Zeitschrift 261 (1995), S. 403–448, 64  Vgl.

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und die Anzahl der Sterilisationen können auf Grund fehlender Quellen keine Angaben gemacht werden. Lediglich ein Operationsjournal aus den Jahren 1936 bis 1938 belegt mehrere Fälle. Sie stehen selbstverständlich zwischen Routinebehandlungen wie Appendizitis und Patellafraktur. Die sterilisierten Personen litten an Krankheiten wie „erblicher“ Taubheit und Blindheit, „angeborenem Schwachsinn“ oder Schizophrenie. Die Diakonissenanstalt im Zweiten Weltkrieg Der Ausbruch des Krieges mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde von der Mutterhausleitung vehement begrüßt und als ein „durch den Vernichtungswillen seiner Feinde“ aufgezwungener Verteidigungskrieg bezeichnet.66 Sofort begann der Einzug der bereits im Vorfeld dafür festgelegten Schwestern zum Lazarettdienst. Ranft versicherte den zurückgebliebenen Diakonissen, dass auch ihr Dienst an der „inneren Front“ in der Heimat als gleichwertig anzusehen sei, müssten sie doch die allein gebliebenen Frauen und Mütter unterstützen und in manchen Gemeinden nach der Einberufung des Pfarrers auch seelsorgerlich wirken. Gleichzeitig wies er die Diakonissen darauf hin, dass der Krieg im Reich der Welt stattfinde und auf Grund der Sündhaftigkeit des Menschen zu ihr gehöre bis an ihr Ende. Wahrer Frieden sei nur im Reich Gottes zu finden und nicht zu verwechseln mit dem weltlichen Frieden, „von dem die Pazifisten schwärmen in törichtem Idealismus“.67 In diesem Sinne fand auch die Unterzeichnung des Waffenstillstands durch Frankreich, fast auf den Tag genau einundzwanzig Jahre nach dem „Schmachfrieden von Versailles“, die Zustimmung der Mutterhausleitung. Am 30. September 1939 waren 133 Diakonissen im Heeressanitätsdienst in zwölf Reservelazaretten in der Heimat tätig. Anders als im Ersten Weltkrieg kamen konfessionelle Schwestern jetzt nur noch im Hinterland und nicht in unmittelbarer Frontnähe zum Einsatz.68 Im Juli 1940 standen bereits 278 Diakonissen in fünfzehn Lazaretten im Dienst des Roten Kreuzes. Ab 1940 beteiligte sich die Anstalt mit Billigung der Behörden an der Verbreitung evangelischer Lektüre unter den Soldaten. Der Krieg bedeutete auch für das Krankenhaus grundlegende Änderungen. Am 26. August 1939, und damit bereits eine Woche vor dem Überfall auf 66  Brief

von Rektor Ranft an die Schwestern, 6. September 1939, ArchDD, o. S. vom Rektor Ranft, 10. September 1939, ArchDD, o. S. 68  Eine allgemeine wissenschaftliche Untersuchung zur Lazarettarbeit in Deutschland im Zweiten Weltkrieg steht bisher noch aus. Vermutlich galten konfessionelle Schwestern als weltanschaulich unzuverlässig und wurden deshalb nicht direkt an der Front eingesetzt. 67  Predigt



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Polen, mussten die zivilen Patienten das Krankenhaus verlassen, da es zum Wehrmachtslazarett umfunktioniert wurde.69 Die Kranken kamen in das Rudolf-Heß-Krankenhaus und das Friedrichstädter Krankenhaus. Die Leitung des Anstaltskrankenhauses lag nun beim Militärsanitätsdienst, lediglich die Pflege durfte weiterhin von Diakonissen ausgeübt werden, die in den Dienst des Roten Kreuzes übernommen wurden. Im Juli 1940 waren dort neunundzwanzig Schwestern und sechzehn Krankenpflegeschülerinnen tätig. Hilfe bekamen sie durch militärische Sanitäter. Mehrfach betonten die Publikationen des Mutterhauses ihr gutes Einvernehmen mit den Organen der Wehrmacht.70 Einen drastischen Einschnitt bedeutete die behördlich angeordnete Schließung aller konfessionellen Schulen. Von dieser Anordnung waren u. a. das Luisenstift, die Marien- und die Marthaschule in Radebeul betroffen. Das Luisenstift ging am 21. März 1940 als Städtische Höhere Mädchenschule durch Verkauf an die Stadt Radebeul über. Am 2. Oktober 1939 schloss der letzte Jahrgang der Kinderpflegerinnenschule ab. Die Marienschule wurde als Altersheim weiter genutzt. Die „Kleine Chronik“ schrieb dazu: „Nun hat Gott es in seiner unerforschlichen Weisheit zugelassen, daß diese Arbeit uns aus den Händen genommen wurde. Der Abschied von dieser uns sehr lieben Arbeit ist uns durch verständnisvolles Entgegenkommen der beteiligten Behörden erleichtert worden. Auch hier wieder versuchen wir zu lernen an dem Grundsatz ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles!‘ “.71 Die Krankenpflegeausbildung litt am wenigsten, sie wurde im Gegenteil als kriegswichtig gefördert. Auf Anweisung des Sächsischen Innenministeriums übernahm die NSV ab dem 1. März 1941 auch alle konfessionellen Kindergärten. Dies bedeutete einen weiteren großen Einschnitt in das Selbstverständnis der Mutterhaus­ diakonie, da fast von Beginn an die pädagogische Arbeit gleichberechtigt neben der Krankenpflege gestanden hatte. Neben der kriegswichtigen Krankenpflege verblieb nun nur noch die Arbeit mit chronisch Kranken und Behinderten. Doch auch in diesem Bereich erfolgten zunehmend drastischere Maßnahmen des Staates. Ab dem Sommer 1939 begann ein „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ in Berlin mit der geheimen Vorbereitung der „Tötung schwachsinniger und missgebildeter Kinder“. Der dafür gebrauchte Begriff Euthanasie (griech. für „guter Tod“) wurde bereits 1920 vom Leipziger Strafrechtler Karl Binding 69  Hitler hatte zunächst den 26. August 1939 für den Überfall auf Polen festgelegt, musste den Termin aber aufgrund der noch nicht kriegsbereiten italienischen Verbündeten verschieben. Vgl. Donald Cameron Watt, How War Came. The Immediate Origins of the Second World War, 1938–1939, New York 1989, S. 479. 70  Kleine Chronik, Aug. 1940, S. 18. 71  Kleine Chronik, Mai 1941, S. 7.

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zusammen mit dem Psychiater Alfred Hoche geprägt und umreißt als Ziel die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.72 Hebammen und Ärzte wurden zur Meldung in Frage kommender Kinder verpflichtet. Im Geheimen wurden nun erwachsene Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten, psychisch kranke Straftäter und chronisch Kranke ermordet. Von diesen Maßnahmen waren auch die Patienten in der Heilanstalt Bethesda in Radebeul und der von Dresdner Diakonissen betreuten Einrichtung der Inneren Mission für Epileptiker in Kleinwachau bei Radeberg betroffen. Die Diakonissen schöpften jedoch Verdacht, weil entsprechende Fragebögen vom Innenministerium und nicht vom Gesundheitsministerium verschickt wurden. Entgegen der ausdrücklichen Anweisung füllten sie zunächst diese Bögen nicht aus, benachrichtigten, wenn möglich, die Angehörigen und baten sie darum, die Patienten nach Hause zu holen, was nur in seltenen Fällen geschah. Schließlich wurden die am schwersten erkrankten Patienten von den Behörden an unbekannte Orte verbracht.73 Die Vorgänge im Einzelnen schildert Bettina Westfeld in ihrem Beitrag über den Landesverein für Innere Mission in Sachsen. Auch wenn keine schriftlichen Quellen darüber Auskunft geben können und keine Zeitzeugen mehr am Leben sind, ist den mündlichen Überlieferungen mehrerer Diakonissen Glauben zu schenken, dass einige von ihnen mit Schutzbefohlenen in abgelegene Gebäude und Erholungsheime gingen, um deren Leben zu retten. Bis an ihr Lebensende litten die Schwestern unter der Last, dass es ihnen nicht möglich war, allen Patienten zu helfen. Im Juli 1941 musste Bethesda der Wehrmacht zu Lazarettzwecken zur Verfügung gestellt werden, die Diakonissen wurden dort teilweise weiter beschäftigt. Lediglich das Hedwig-Fröhlich-Haus blieb als Feierabendhaus erhalten. Die „Kleine Chronik“ stellte im Mai 1941 aus kriegswirtschaft­ lichen Gründen ihr Erscheinen ein, „um Menschen und Material für andere kriegswichtige Zwecke freizumachen.“74 In ihrer letzten Nummer warb sie noch einmal eindringlich für den Diakonissenberuf und stellte die Aufnahmebedingungen vor, die sich ganz an den ideologischen Vorgaben des Krankenpflegegesetzes von 1938 orientierten.

72  Karl Binding, Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Aus der Fülle der allgemeinen Literatur zum Thema vgl. u. a.: Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich: Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt/Main 2014. 73  Ob hier ein Zusammenhang mit der Tötungsanstalt Sonnenstein in Pirna bestand, müsste in weiteren Untersuchungen geklärt werden, denen aber die schwierige Quellenlage entgegensteht. Vgl. dazu auch die kurzen Ausführungen in: Ranft, Diakonissenanstalt, Bl. 367 sowie Westfeld, Innere Mission, S. 141–143. 74  Kleine Chronik, Mai 1941, S. 16.



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Im Inneren des Mutterhauses kam es in dieser Zeit offenbar zu tiefen Zerwürfnissen zwischen den Leitungspersonen. Pfarrer Ranft legte im August 1942 sein Amt nieder, weil er zu seinem Bedauern „keine Möglichkeit mehr sah, mit seinen nächsten Mitarbeitern eine vertrauensvolle Zusammenarbeit herzustellen.“75 Insbesondere das Verhältnis zur Oberin Luise Denneberg (1906–1976, Amtszeit 1941–1971) galt als zerrüttet. Das Vertrauen des Vorstandes in seine Person war allerdings ungebrochen, ihm wurden für sechs Monate die Bezüge weitergezahlt und die Amtswohnung belassen, damit er sich in Ruhe nach einer anderen Anstellung umsehen konnte. Er wechselte schließlich als 4. Pfarrer an die nahe gelegene Lutherkirche und wurde nach dem Krieg Superintendent in Dippoldiswalde. Ihm folgte der bisherige zweite Geistliche Pfarrer Alexander Reisner (1903–1958) ins Vorsteheramt. Er war bereits seit August 1940 in der Diakonissenanstalt tätig. Seine starke Frömmigkeit prägte maßgeblich die Entwicklung der Diakonissenanstalt in den nächsten Jahren. Die Bombenangriffe des 13. Februar 1945 trafen auch die Diakonissenanstalt mit voller Wucht. Etwa zwei Drittel ihrer Gebäude fielen in Schutt und Asche. Niemand konnte die Brände löschen, da kein Wasser zur Verfügung stand. Ähnlich wie die Frauenkirche, wurde die Diakonissenkirche nicht direkt getroffen, sondern brannte durch übergreifendes Feuer von innen aus. Bei dem Angriff selbst gab es keine Todesopfer, sondern nur Verletzte durch herumfliegende Glassplitter und Metallteile. Eine Schwester verstarb allerdings später an ihren Verwundungen. Insgesamt kamen in Dresden fünf Schwestern bei den Bombenangriffen ums Leben. Ausblick Die ersten Jahre unter der NS-Herrschaft waren von einem Schlingerkurs der Anstaltsleitung zwischen Anpassung und Bewahrung der kirchlich-diakonischen Identität geprägt. Sie stand zwar auf der Seite der Bekennenden Kirche, konnte ihre Ideale mit Rücksicht auf kirchliche und staatliche Behörden und zahlreiche, der nationalsozialistischen Ideologie erlegene Schwestern aber nicht offen vertreten. Vorsteher Reisner und Oberin Denneberg wählten ab 1942 den Weg in die Innerlichkeit und vermieden eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der NS-Zeit bzw. empfanden die Zerstörung der Anstalt in den letzten Monaten des Krieges als Strafe für ihr Abweichen vom diakonischen Weg. Insbesondere in der Nachkriegszeit schotteten sich die Anstaltsmitglieder zunehmend von der Außenwelt ab, die Oberin trieb die Umwandlung der Schwesternschaft in einen kontemplativen evan75  Brief

des Rektors an die Schwestern vom 27. August 1942, ArchDD, o. S.

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Abb. 3: Die zerstörte Kirche der Diakonissenanstalt Dresden nach den Luftangriffen des 13. Februar 1945, Archiv der Diakonissenanstalt Dresden.

gelischen Orden nach dem Vorbild der umstrittenen Marienschwesternschaft Darmstadt voran.76 Nicht mehr die praktische diakonische Arbeit sollte im Vordergrund stehen, sondern klösterliche Abgeschiedenheit und vertieftes geistliches Leben. Auch unternahmen sie nach dem Krieg keine ernsthaften Versuche des Wiederaufbaus der zerstörten Gebäude. Dadurch geriet die ­Dia­konissenanstalt gegenüber der Landeskirche, der Landesleitung der Inneren Mission und den Gemeinden zunehmend in die Isolation. Erst mit dem Amtsantritt von Superintendent Hans Kircheis (1908–1981) begann im ­April 1959 ein neuer Entwicklungsabschnitt für die Diakonissenanstalt, der in der nun herrschenden sozialistischen Gesellschaftsordnung neue Herausforderungen bereithielt.

76  Büttner,

Diakonissenanstalt, S. 113–125.



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Annett Büttner

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Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus in geschlechtergeschichtlicher Perspektive Von Fruzsina Müller Frauen und Männer im Nationalsozialismus: Was der Geschlechterblick leistet Die Zusammenschau von Nationalsozialismus und Geschlecht brachte in den letzten Jahren zahlreiche neue Forschungsergebnisse. Auch in der Dia­ koniegeschichte gibt es mittlerweile gute Ansätze, die Analyseperspektive Gender auf religiöse Frauengemeinschaften anzuwenden1, wenn auch nicht explizit in der Zeit des Nationalsozialismus. Was ist aber der Ertrag des Geschlechterblicks? Die historische Geschlechterforschung geht weiter als Frauengeschichte, die Frauen, ihre Lebenssituationen und Entscheidungen im historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang sichtbar macht und damit einer traditionellen Geschichtserzählung über handelnde Männer entgegenwirkt. Die Frage nach dem sozialen Geschlecht (Gender) ist eine nach den Rollenerwartungen in der jeweiligen Gesellschaft, mit denen Frauen und Männer2 konfrontiert werden und umgehen müssen. Dieser Ansatz ermöglicht eine präzisere Analyse der Machtverhältnisse, gerade wenn es um die nationalsozialistischen Verbrechen geht, die lange als von einem „Männerbund“ ausgeübt beschrieben wurden. Es besteht in der Forschung mittlerweile Konsens darüber, dass ein „asymmetrischer Verbund“3 von Frauen und 1  Vgl. u. a. Ute Gause (Hg.), Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft, Leipzig 2005; Silke Köser, Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836–1914, Leipzig 2006; Karen Nolte, Vom Umgang mit Tod und Sterben in der klinischen und häus­lichen Krankenpflege des 19. Jahrhunderts, in: Sabine Braunschweig (Hg.), Pflege – Räume, Macht und Alltag. Beiträge zur Geschichte der Pflege, Zürich 2006, Peggy Renger-Berka, Weibliche Diakonie im Königreich Sachsen. Das Dresdner Diakonissenhaus 1844–1881. Leipzig 2014, Barbara Stambolis, Gender und Religion, http://www.westfaelische-geschichte.de/web274 (abgerufen am 5. Mai 2018). 2  Das „dritte Geschlecht“ wird hier vernachlässigt, weil es in den Quellen nicht vorkommt und damit nicht analysiert werden kann. 3  Lerke Gravenhorst, NS-Verbrechen und asymmetrische Geschlechterdifferenz. Eine kritische Auseinandersetzung mit historischen Analysen zur NS-Täterschaft, in: Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur

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Männern die menschenverachtenden Maßnahmen des NS-Regimes ermöglichte, in dem die Rolle der Männer infolge ihrer sichtbaren Machtpositionen viel exponierter war als die der Frauen. Letztere wirkten aus den bürgerlichen und nationalsozialistischen Weiblichkeitsvorstellungen heraus durchaus unterstützend.4 Im Bereich der Medizin machten zudem traditionelle Berufs­ hierarchien zwischen zumeist männlichen Ärzten und weiblichen Pflegekräften den reibungslosen Ablauf von Zwangssterilisationen, Krankenmord und Humanexperimenten möglich.5 Die nationalsozialistische Geschlechterideologie ging aus der bürgerlichen Vorstellung einer natürlich gegebenen Geschlechterpolarität hervor, die die Rolle der Frauen in der Familie und höchstens in einzelnen sozialen Bereichen sah. Die wichtigsten Erwartungen an die Frauen waren die Unterstützung und Entlastung der öffentlich und politisch agierenden Männer.6 Das spezifische Modell der Diakonisse war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so konzipiert, dass es sich an die bürgerlichen Rollenerwartungen an eine verheiratete Frau anlehnte. Die Diakonissen waren im Mutterhaus, wie in einer Familie, vergemeinschaftet und konnten einen sozial anerkannten Beruf ausüben, den sie als Dienst an Jesus Christus durch die Pflege armer und kranker Menschen verstanden. Die damit verbundene Rollenerwartung implizierte Gehorsam, Selbstverleugnung, Demut und Aufopferung, die zwar nicht aus dem biblischen Dienstbegriff abzuleiten war, aber dem bürgerlichen Frauenideal entsprach. Im „Mikrokosmos“7 der Diakonissenhäuser wurde

Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 87. 4  Vgl. Christina Herkommer/Elke Frietsch, Nationalsozialismus und Geschlecht. Eine Einführung, in: Frietsch/Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus, S. 9–48. 5  Vgl. Hilde Steppe/Franz Koch/Herbert Weisbrod-Frey, Krankenpflege im Natio­ nalsozialismus, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1986; Christina Thürmer-Rohr, Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen im NS-Deutschland, in: Viola Schubert-Lehnhardt/Sylvia Korch (Hg.), Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen im Nationalsozialismus. Gestaltungsspielräume und Handlungsmöglichkeiten, Halle 2006, S. 17–36, Christel Gibas, Zu einigen Aspekten der Beteiligung weiblichen medizinischen Personals an der Umsetzung der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ im Regierungsbezirk Merseburg, in: Schubert-Lehnhardt, Korch (Hg.), Frauen, S. 61–74. Untersuchungen gibt es gewöhnlich zu Krankenschwestern allgemein und nur wenige speziell zu konfessionellen Schwestern vgl. Boris Böhm/Hagen Markwardt/Jürgen Trogisch (Bearb.), „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934–1941, Dresden 2017. 6  Vgl. beispielsweise Massimiliano Livi, Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Bewertung politischer Rollen im NS-System. Der Fall der Entnazifizierung von Gertrud Scholtz-Klink, in: Frietsch/Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus, S. 328–337, S. 328. 7  Köser, Diakonisse, S. 482.



Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus197

diese Erwartung nicht nur reproduziert, sondern weitgehend konserviert und erst nach 1945 allmählich aufgeweicht.8 Das Leipziger Diakonissenhaus: Allgemeines Profil und Rolle im Nationalsozialismus Das Leipziger Diakonissenhaus war 1891 eine relativ späte Gründung innerhalb der protestantischen Mutterhausbewegung, wenn man das Gründungsdatum des ersten Diakonissenhauses in Kaiserswerth fast sechzig Jahre davor (1836) in Betracht zieht. Zum Zeitpunkt des Entstehens der Leipziger Diakonissenanstalt kam bereits Kritik seitens der bürgerlichen Frauenbe­ wegung an dem patriarchalen System der Mutterhausdiakonie sowie an der mangelhaften Bezahlung und sozialen Absicherung der Diakonissen auf.9 Trotzdem traten 1891 eine Handvoll Frauen ins neu gegründete Leipziger Mutterhaus ein. In den 1930er-Jahren erreichte die Zahl der Schwestern ihren Höhepunkt mit etwa 200 Frauen; damit gehörte das Haus zu den z­ ahlenmäßig kleineren Einrichtungen innerhalb der weiblichen Diakonie. Auch hier griff das bereits vielfach beschriebene „Familienmodell“ des Fliednerschen Mutterhauses10: Demnach war der Hausvorstand bestehend aus Rektor (Hausgeistlichem) und Oberin wie ein Elternpaar zuständig für die Diakonissen – wie für ihre Töchter. Sie wurden nach strengen geistigen und körper­lichen 8  Zu den Veränderungen nach 1945 vgl. Silvia Lange, Professionalisierung, Geschlecht und Politik. Die Evangelische Gemeindehelferin als Retterin „christlicher Kultur“, in: Frank-Michael Kuhlemann/Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 248–261; Susanne Kreutzer, Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege, Göttingen 2014; Rajah Scheepers, Transformationen des Sozialen Protestantismus. Umbrüche in den Diakonissenmutterhäusern des Kaiserswerther Verbandes nach 1945, Stuttgart 2016; Susanne Kreutzer, Sorge für Leib und Seele. Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege, 1950er bis 1970er Jahre, in: Sylvelyn Hähner-Rombach/Pierre Pfütsch (Hg.), Entwicklungen in der Krankenpflege und in anderen Gesundheitsberufen nach 1945. Ein Lehr- und Studienbuch, Frankfurt am Main 2018, S. 91–119. 9  Vgl. Jutta Schmidt, Die „Diakonissenfrage“ im Deutschen Kaiserreich, in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im Deutschen Kaiserreich (1871–1918), Heidelberg 1995. Doch auch später wurden noch Mutterhäuser gegründet: Die Zahl der Diakonissenhäuser wuchs von 62 im Jahre 1891 auf 108 im Jahre 1939, s. Statistik der Kaiserswerther Generalkonferenz von 1939. Herausgegeben vom Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser, Potsdam 1939, S. 7. 10  Vgl. beispielsweise Catherine M. Prelinger, Die deutsche Frauendiakonie im 19. Jahrhundert, in: Ruth-Ellen B. Joeres (Hg.), Frauenbilder und Frauenwirklichkeiten. Interdisziplinäre Studien zur Frauengeschichte in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1985; Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, RengerBerka, Weibliche Diakonie.

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Kriterien ausgesucht, erst nach jahrelanger Probezeit eingesegnet und bei Nicht-Eignung oder falschem Verhalten entlassen. Sie mussten gemeinschaftsfähig, freundlich, bescheiden und gehorsam sein, sowie glaubensfest und frei von familiären Verpflichtungen.11 Der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Hausvorstand galt auch in Leipzig als Teil der einzuübenden „Gehorsams-Kette“, an deren Spitze letztendlich Gott stand.12 Dazu wurde eine religiöse Begründung gewählt, nach der alle Arbeit, aber auch der Verzicht „auf manches“ und das Ertragen von „Schmach“ in der aufrichtigen Liebe zu Jesus Christus und seiner Kirche passiere.13 Die Verpflichtung zum Dienst und damit einhergehend zur Demut und Selbstverleugnung erschien somit als freiwillig. Ein „mahnender Vers“ an der Leipziger Mutterhauspforte riet den dort arbeitenden Diakonissen Folgendes: „unerlässlich, glaube mir, bei allem Vorwurf, Müh und Pein, demütig, sanft und stille sein.“14 Seit 1930 unterschrieben die einzusegnenden Probeschwestern eine Art Vertrag mit der Mutterhausleitung, nach dem sie entlassen werden können, wenn sie die Vorschriften zu ihrem Verhalten der Hausleitung, ihrem Arbeitgeber und auch dem eigenen Körper gegenüber nicht einhalten.15 Seit den 1890er-Jahren gab es innerhalb der Mutterhausdiakonie auch Reformbemühungen, unter anderem den Diakonissen ein gewisses Mitspracherecht einzuräumen, die jedoch von den meisten Häusern wenig beachtet wurden.16 Im Leipziger Diakonissenhaus wurde 1906 der sogenannte Schwestern-

11  Wesen und Zugehörigkeit des Mutterhauses, Arbeitsbedingungen, in: Gerhard Lohoff (Hg.), Ev.-luth. Diakonissen-Haus Leipzig-Lindenau, Leipzig 1928, Diakonissenhaus Leipzig (im Folgenden DHL) 125/0210/14, S. 31–32. 12  Traugott Jähnichen, Der Staat als Ordnungsmacht im Weltbild der Diakonie, in: Ursula Krey (Hg.), Von der inneren Mission in die Sozialindustrie? Gesellschaftliche Erfahrungsräume und diakonische Erwartungshorizonte im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 49–72, S. 64. 13  Aufnahmebedingungen, in: Lohoff (Hg.), Ev.-luth. Diakonissen-Haus, S. 31. 14  Pfortenschwester im Mutterhaus, in: Gerhard Lohoff (Hg.), Von freudigem Dienen. Bilder aus der Diakonissenarbeit. Was unsere Schwestern von ihrer Arbeit erzählen, Blätter aus dem Leipziger Diakonissenhause, Leipzig: Ev.-luth. DiakonissenHaus Leipzig, 1927, DHL 125/0210/11, S. 62–66, S. 64. 15  In der Erklärung hieß es: „Ich […] erkenne das Recht des Mutterhauses, Schwestern zu entlassen […], die das Gehorsam verweigern, unverträglich sind, untüchtig oder untreu in der Arbeit; die von zwei verschiedenen Stationen wegen des gleichen Verhaltens oder [M]angels abgelehnt werden; die ihre Gesundheit fahrlässig gefährden; die den Ruf des Mutterhauses durch ihr Verhalten schädigen; die sich […] aus den Formen und Normen des Mutterhauses herausgelebt haben“, Sitzungsprotokolle des Schwesternrates, DHL 165/0304, 1930. 16  Silke Köser nannte dies die „Dogmatisierung von Organisationsformen“, Köser, Diakonisse, S. 154.



Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus199

Abb. 1: Das Diakonissenhaus Leipzig mit einem Kreuz auf dem Dach als Schutz vor Luftangriffen, um 1941, Archiv des Diakonissenhauses Leipzig.

rat eingerichtet.17 Seine Aufgaben und Befugnisse blieben jedoch begrenzt: Er entschied hauptsächlich über Personal- und Sachangelegenheiten der Schwesternschaft mit. Dabei war er kein eigenständiges Organ etwa in Ergänzung des Hausvorstands, denn der Rektor und die Oberin waren ordnungsgemäße Mitglieder des nur sechsköpfigen Rates. Allmählich wurde die Ordnung des Schwesternrates der Schwesternzahl bzw. den Arbeitsgebieten entsprechend angepasst, doch zeigte sich gerade in einer Führungskrise um eine neue Oberin im Jahre 1932, dass unklar blieb, ob der Rat die Gesamtheit der Schwesternschaft vertritt und damit für alle sprechen kann, oder doch alle Schwestern einzeln nach ihrer Meinung gefragt werden sollten.18 Zum Hauptprofil des Leipziger Diakonissenhauses gehörte ein Allgemeinkrankenhaus im stark industriell geprägten Stadtviertel Lindenau19 mit einer 17  Vgl. Gerhard Lohoff, An den Leiter des Anhaltischen Diakonissenhauses Dessau, 25. Februar 1927, DHL 165/0304. 18  Sitzung am 3.  April 1932, Sitzungsprotokolle des Schwesternrates, DHL 165/0304, 1932–1933. Es wurde sich für Letzteres entschieden. 19  Zum Standort vgl. Fruzsina Müller, Evangelisches Krankenhaus in „roter“ Umgebung“, Das Leipziger Diakonissenhaus im westlichen Industrieviertel der Stadt, in: Historia Hospitalium 31 (2018/19), S. 441–450.

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chirurgischen und einer inneren Abteilung und die Gemeindepflege, die sachsenweit ausgeübt wurde. Außerdem wurden Diakonissen in einzelne Gesundheitseinrichtungen als Krankenschwestern, in Kindergärten als Erzieherinnen und in Altersheime als Pflegerinnen oder Leiterinnen ausgesandt. Vereinzelt waren außer dem Krankenhaus auch weitere Einrichtungen im Besitz des Diakonissenhauses, so das Nikolaikinderheim in Leipzig. Wichtige Standbeine waren zudem die Krankenpflegeschule, die 1925 die staatliche Anerkennung bekam20, und die für ambulante Versorgung zuständige Poliklinik, die zuerst als Teil des Krankenhauses und ab 1927 in einem eigenen Gebäude funktionierte.21 Auf dem ersten Blick ergibt sich aus diesem Profil keine zwingende Beteiligung an medizinischen Verbrechen in der NS-Zeit. Leipziger Diakonissen waren nicht in Heil- und Pflegeanstalten tätig, in denen psychisch kranke und behinderte Menschen massenhaft getötet oder zum Töten freigegeben wurden. Zwar hatte das Krankenhaus eine chirurgische Station, diese war aber innerhalb des städtischen Gesundheitssystems nicht für Sterilisationen vorgesehen.22 Trotzdem, das Diakonissenhaus war Teil des NS-Gesundheitssystems und musste mit seinen eugenischen und rassistischen Vorgaben umgehen. Aufgrund der lückenhaften Quellenlage im Mutterhausarchiv sind Aussagen nur begrenzt möglich, aber die Auswirkungen der NS-Ideologie und des nationalsozialistischen Gewaltregimes auf das Diakonissenhaus waren unübersehbar. Auf der diskursiven Ebene lässt sich eine Zustimmung zu der NS-Ideologie feststellen, wobei der Vorsteher Gerhard Lohoff (1924–1934) eine uneingeschränkte Unterstützung Hitlers zeigte.23 Sein Nachfolger Georg Hammitzsch (1934–1946) begab sich zumindest teilweise auf die Seite der Kritiker mit seiner den NS-Rassismus ablehnenden Haltung24, befürwortete aber auch noch nach 1945 die Eugenik als positive „Errungenschaft“ der Nationalsozialisten.25 Er äußerte sich – noch vor seinem Amtsantritt als Rektor 1934 – zur 20  Krankenpflegeschule, 21  Protokolle

in: Lohoff (Hg.), Von freudigem Dienen, S. 30–43. der Vorstandssitzungen, DHL 97/0206/01, 1918–1931, hier zum Jahr

1927. 22  Verzeichnis der Krankenanstalten zur Durchführung der gerichtlich zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ angeordneten Unfruchtbarmachungen im ReichsMedizinal-Kalender für Deutschland 1937, abgebildet als Quelle in: Annett Büttner, Diakonissenanstalt Dresden 1844–2014. 170 Jahre Zuwendung leben – Dienst leisten – Zusammenarbeit gestalten, Essen 2014, S. 101. 23  Gerhard Lohoff, „Meine lieben Schwestern!“. Schwesternrundbrief vom 1. Juli 1933, DHL 170/03/63. 24  Georg Hammitzsch, Die Grundlagen des Dritten Reiches und die Heidenmission, in: Leipziger Missionsstudien 7 (1935), S. 14–17. Erstveröffentlichung 1934. 25  Personalbogen und Entnazifizierungsakte von Georg Hammitzsch, Landeskirchenarchiv Dresden (LKADD), Bestand 2, Nr. 2835, 1945–1946.



Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus201

gesellschaftlichen Stellung der Frauen als Gefährtin und Kameradin der Männer, die nicht auf eine biologische Rolle reduziert werden sollten. Trotzdem war er gegen eine „wissenschaftliche Überbildung“ der Frauen und die Übernahme „männlicher“ Berufe durch sie.26 Die Aussagen der Oberin Heidi Rietschel zeigen in den Schwesternrundbriefen eine positive Haltung gegenüber dem NS-Staat, wobei eine zunehmende Verunsicherung angesichts der Grausamkeit des Krieges festgestellt werden kann.27 Da von städtischer Seite der jeweilige Leiter des Gesundheitsamtes im Vorstand des Diakonissenhauses saß, ist anzunehmen, dass die Leitung des Diakonissenhauses über die Vorgänge im NS-Gesundheitssystem informiert war. Bis 1938 war dieses städtische Vorstandsmitglied Hans Beusch, der unter der Oberbürgermeisterschaft Carl Goerdelers das Leipziger Gesundheitssystem zentralisierte und sein eigenes Amt auf zwei Posten erweiterte: Er war Stadtbezirksarzt und Gesundheitsdezernent in Personal­ union.28 Als Mitglied des Erbgesundheitsgerichtes war er zudem zuständig für die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), d. h. für die Zwangssterilisierungen. Zum Rektor des Diakonissenhauses pflegte er ein herzliches Verhältnis, erschien zumeist zu den Vorstandssitzungen und war dort aktiv.29 Der Chefarzt des Diakonissenhauses Nikolaus Haase war NSDAP-Mitglied. Mindestens ein Arzt der Poliklinik übernahm eine nebenberufliche Tätigkeit als Betriebsarzt in dem Leipziger Unternehmen Metallguss AG, das im Zweiten Weltkrieg u.  a. Zwangs­ arbeiter*innen beschäftigte.30 Einige Arbeitsbereiche wie die Kindererziehung im hauseigenen Nikolaikinderheim wurden dem Diakonissenhaus aus den Händen genommen, dafür bemühte sich das Haus um neue Arbeitsgebiete und übernahm kommentarlos die ärztliche und pflegerische Versorgung des „neuen“ städtischen Krankenhauses „Ferdinand-Becker-Straße“.31 Dahinter verbarg sich das von der Gauleitung Ende 1939 „arisierte“ Israelitische Krankenhaus (Eitingon-Stiftung).32

Grundlagen, S. 32–33. Rietschel, Mitteilungsblatt vom Februar 1942, DHL 170/03063. 28  Vgl. Personalakte Hans Beusch, Stadtarchiv Leipzig (StAL), Personalamt/Teilbestand 1.2.2.20/Kap. 10. 29  Vgl. Kollegial-Protokolle des Ev.-Luth. Missionswerkes Leipzig e. V., 1911– 1939, Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle, II/1/1/2. 30  Vgl. Akten zu Metallgußgesellschaft mbH Böhlitz-Ehrenberg, Sächsisches Staatsarchiv (SächsStAL), Bestand 20671/Nr. 31 und 37. 31  Chronik des Diakonissenhauses zu Leipzig (Jahresberichte), DHL 105/0209/33, 1891–1990, Eintragung zum Jahr 1939. 32  Andrea Lorz, Die Erinnerung soll zum Guten gereichen. Aus dem Leben und zu den Leistungen Leipziger jüdischer Ärzte. Eine Spurensuche, Leipzig 2005. 26  Hammitzsch, 27  Heidi

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Akten, die Hinweise zur Einstellung der Schwesternschaft zum NS-Staat und dessen Ideologie geben könnten, gibt es keine. Lediglich gelegentliche Anmerkungen zu Austritten weisen darauf hin, dass einzelne Diakonissen aus politischen Gründen austraten, womöglich zu den „Braunen Schwestern“ der Nationalsozialisten wechselten. Anhand der Erzählung heutiger Diakonissen galten zwei Schwestern als Verfolgte des Regimes: Ingeborg Falk, die einen jüdischen Vater hatte, und Marie Runkel, die psychisch erkrankt war. Einem jüdischen Arzt, Hans Florian Hahn, wurde 1937 die Kündigung „auf eigenen Wunsch“ nahe gelegt.33 Eine Diakonisse, die an medizinischen Verbrechen beteiligt war, ist bekannt: Hedwig Till assistierte sechs Jahre lang im Stadtkrankenhaus Rochlitz bei Zwangssterilisationen. In diesem Beitrag wird untersucht, welche befähigende und normierende Macht im Nationalsozialismus gängige Geschlechtervorstellungen hatten. Das Leipziger Diakonissenhaus als konfessionelle und medizinisch-pflegerisch tätige Institution gibt der Untersuchung einen mikrohistorischen Rahmen, der symptomatisch auf die größeren Zusammenhänge hinweist und idealerweise weitere Forschungen anregt.34 Die Analyse der Biografien des Vorstehers Gerhard Lohoff und der beiden Diakonissen Marie Runkel und Hedwig Till soll im Leipziger Diakonissenhaus weibliche und männliche Umgangsformen mit der NS-Ideologie, aber auch religiös motivierte Diskurse und medizinische und pflegerische Handlungen innerhalb des NS-Gesundheitssystems aufzeigen. Durch den biografischen Zugang wird versucht, auf die Lebenswege einzelner Mitglieder der Schwesternschaft einzugehen. Die hier angesprochenen Frauen und Männer sollen nicht auf ihre Opferoder Täterrolle reduziert, sondern vielmehr in ihrer Individualität dargestellt werden. Von Interesse ist, inwieweit sie den Weiblichkeits- und Männlichkeitskon­struktionen ihrer Zeit unterlagen, wie einzelne Akteure in dem und um das Diakonissenhaus damit umgingen. Wie nahmen sie die ihnen zugeschriebenen Geschlechterrollen wahr? Und welche konkreten Auswirkungen hatten diese auf ihr Leben?35 33  Miriam Andrea Hahn, Hans Florian Hahn (1905–1966), Lebensweg eines ­ tterndorfer Arztes jüdischer Herkunft, in: Männer vom Morgenstern 90 (2011), O S. 11–36. 34  Carola Sachse forderte bereits 2012 die Einbeziehung der Kategorie Geschlecht in Untersuchungen zur NS-Medizin. Vgl. Carola Sachse, Wissenschaft und Geschlecht in der NS-Medizin. Überlegungen zur Verbindung wissenschafts- und geschlechterhistorischer Untersuchungsansätze, in: Insa Eschebach, Astrid Ley (Hg.), Geschlecht und „Rasse“ in der NS-Medizin, Berlin 2012, S. 17–27. 35  Die Täter-Opfer-Polarität wurde bereits mehrfach als vereinfachend kritisiert vgl. Andrea Nachtigall/Annette Dietrich, (Mit-)Täterinnen. Weiblichkeitsdiskurse im Kontext von Gewalt, Krieg und Nation, in: Ariadne 47 (2005) und Christina Thürmer-Rohr, Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen im NS-Deutschland, in: SchubertLehnhardt/Korch (Hg.), Frauen, S. 17–36.



Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus203

Pastor Gerhard Lohoff: „Mann und Führer mit festem Mannesschritt“ Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus, so sehr es an der Hand liegen würde, wurden bisher noch wenig untersucht.36 Allzu oft wurden in der Forschung klischeehafte Propagandabilder des soldatischen Mannes reproduziert, ohne individuelle Aneignungsprozesse und Bedeutungszuschreibungen zu untersuchen.37 Dies wird anhand der Quellenlage auch im Folgenden schwierig, doch wird ein Versuch unternommen, Aussagen und Handeln von Gerhard Lohoff, Rektor des Leipziger Diakonissenhauses zwischen 1924 und 1934, anhand seiner Schriften und seiner Biografie aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive zu analysieren. Es wird gefragt, wie er als männlicher Vorsteher agierte und welche Rolle er den Diakonissen vor und nach der Machtübernahme der NSDAP zuschrieb. Da die persönlichen Unterlagen der beiden während des Nationalsozialismus tätigen Rektoren vom Archiv des Mutterhauses fehlen, kann hier nur auf wenige veröffentlichte Quellen und Briefe zurückgegriffen werden. Am prägnantesten davon ist seine Erklärung an die Schwesternschaft vom 1. Juli 1933, in der er die Machtübernahme der NSDAP als „ganz offensichtliches Wunder Gottes an unserem Volke“ bezeichnete.38 Seine zeit- und milieutypische Begründung war der Wahlsieg der Nationalsozialisten über die „staatsfeindlichen und gottlosen Bestrebungen“39 der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien in der Weimarer Republik.40 Auf der emotionalen Ebene argumentierte er mit den „Märtyrern“ der Mutterhausdiakonie, die von der Bolschewiki verhaftet und ermordet worden seien.41 Auch rief er die Einschätzung des „Marxistenführers“ August Bebel über die „schwarzen Bataillone der Diakonissen“ als äußerst gefährliche Gegner in Erinnerung. Seine 36  Eine psychoanalytische Perspektive auf „faschistische“ Männlichkeitskonstruktionen in der Weimarer Republik leistete: Klaus Theweleit, Männerphantasien, Basel, Frankfurt/Main 1977. Ein erster Ansatz innerhalb der Geschlechtergeschichte: Rebekka Habermas, Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 257–284. 37  Hannes Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Halbband 2, Frankfurt/Main 1996, S. 8. 38  Vgl. Lohoff, „Meine lieben Schwestern!“. 39  Ebd. 40  Zur Einstellung der evangelischen Kirche in Leipzig zum Nationalsozialismus vgl. Georg Wilhelm, Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtanspruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933–1958, Göttingen 2004, zur Inneren Mission in Sachsen im NS vgl. Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017. 41  Vgl. Lohoff, „Meine lieben Schwestern!“. Gemeint sind Pastor Paul Wachsmuth und Oberin Marie Schlieps des Diakonissenhauses in Mitau (Lettland).

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Abb. 2: Rektor Lohoff und eine der Diakonissen mit Hund, undatiert, Archiv des Diakonissenhauses Leipzig.

weitere Argumentation für Hitler zieht das Muster des Gehorsams heran, das für alle Diakonissen vertraut sein sollte.42 Da davor keine politischen Sachverhalte oder Meinungen gegenüber der Schwesternschaft schriftlich dokumentiert sind, ist hier davon auszugehen, dass sich Lohoff durch den nun an die Macht gekommenen, autoritären und männlichen Führungsstil der NSDAP bestätigt fühlte. Er sprach ein „Machtwort“ an alle Diakonissen. In seinen Ausführungen verschwammen die Grenzen zwischen politischen und beruflichen Machtverhältnissen, zwischen weltlicher und spiritueller Obrigkeit: Er stilisierte Hitler zu einem Arzt, dem „wir […] nach Gottes Willen Gehorsam schuldig sind“. Deutschland erschien in dieser Vision als Schwerkranker, der nur gerettet werden kann, wenn Arzt und Schwestern in der traditionellen Berufshierarchie ihren Dienst tun: „Ich sehe also in Hitler solchen gottgesandten Arzt, der nun mit der Frage vor dem deutschen Volke steht ‚Willst du gesund werden?‘ Die Antwort kann doch nur heißen ‚Ja!‘ […] Das ist auch unsere Aufgabe bei unserem Volk. Die Anordnungen des Arztes müssen Schwestern gewissenhaft ausführen, sonst taugen sie nicht zu ihrem Beruf.“43 42  Vgl.

Sitzungsprotokolle des Schwesternrates, 1930, DHL-- 165/0304. „Meine lieben Schwestern!“.

43  Lohoff,



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Mit Lohoffs Androhung für den Fall einer Gehorsamsverweigerung wurde den Diakonissen eine politische Verpflichtung zur Ausübung ihres Berufes auferlegt. Bei einer weltanschaulichen Differenz stellte er eine missbilligende Aberkennung ihrer beruflichen Fähigkeiten in Aussicht. Für die Verbreitung seiner berufsethischen und theologischen Argumentation nutzte er seine Autorität als männlicher „Hausvater“ und das etablierte Medium der Schwesternrundbriefe, das Mitteilungscharakter hatte. Diese Art der Kommunikation erschien Lohoff offenbar geeigneter, als Beratungen mit den Schwestern. Der nationalkonservativ eingestellte Rektor akzeptierte zwar das Wirken des 1906 eingerichteten Schwesternrates. Im vertrauten Briefwechsel mit einem männlichen Amtskollegen, dem Vorsteher des Anhaltischen Diakonissenhauses in Dessau, äußerte er sich jedoch abwertend über die Einführung des Mitspracherechts für Frauen, weil diese seiner Meinung nach keine Geheimnisse hüten könnten.44 Für Lohoff mussten Diskussionen und Entscheidungen auf der Leitungsebene vor allem vertraulich sein, was mit den von ihm erwarteten weiblichen Eigenschaften der mangelnden Verschwiegenheit und Unbesonnenheit nicht vereinbar waren. Er bewertete die Erfahrungen mit dem Schwesternrat zwar als positiv, erklärte dies aber lediglich damit, dass niemals „Schreier“ als Vertreterinnen gewählt wurden.45 Letztendlich urteilte Lohoff, dass „die Bestrebungen des Kaiserswerther Verbands, eine Mitverantwortlichkeit aller Diakonissen ­herbeizuführen“, in Leipzig nicht erfolgreich durchgesetzt werden konnten: „Gegenüber der früheren Schwesternerziehungsmethode, nach der die Schwestern eben nicht offiziell um ihre Meinung gefragt wurden, ist der Wechsel vielleicht etwas zu schnell.“46 Woran er das Scheitern festmachte, bleibt unklar. War es das vermeintlich mangelnde Entscheidungsvermögen der Schwestern, die lange nur Ausführerinnen von Anweisungen waren? Fand der Rektor ihre Diskussionsbeiträge nicht konstruktiv genug? In den Akten finden sich keine Protokolle des Schwesternrates in der Zeit zwischen 1933 und 1938. Ob sie nicht mehr zusammensaßen oder die Protokolle nachträglich entfernt wurden, wie die Personalakten der beiden Rektoren, die während des Nationalsozialismus wirkten, lässt sich nicht mehr sagen. Eine Institution wie der Schwesternrat galt sicherlich als Schwächung der Machtposition des Rektors im Mutterhaus, eine Bedrohung der traditionellen Geschlechterordnung, nach der der männliche Vorsteher über alle weiblichen Schwestern samt Oberin stand. Lohoffs Briefe an die Schwestern zeigen das 44  Lohoff, 45  Ebd. 46  Ebd.

An den Leiter des Anhaltischen Diakonissenhauses Dessau.

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Bild eines Mannes, der gerne eine paternalistische Vaterrolle einnahm. Mal lobte, mal tadelte er. Er machte sich Sorgen, wenn sich eine Schwester länger nicht meldete, und schrieb sogar ein Gedicht an eine Diakonisse, die nach Brasilien ausgereist war. Dass diese Frauen, die er wie zu erziehende Töchter behandelte, Mitspracherecht haben wollten, sah er wenig ein. Sie waren für ihn unmündig und unreif. Die Machtübernahme der NSDAP bestätigte ihm in seinen Bestrebungen, einen autoritären Führungsstil auszuüben. Dadurch konnte er sich mit seiner Rolle als männlicher Vorsteher des Diakonissenhauses im Nationalsozialismus besser identifizieren als in der demokratisierenden Weimarer Republik. Nach seinem frühen Tod 1934 wurden ihm fester Glaube, Pflichtbewusstsein, ein klarer Blick immer nach vorwärts und ein „fester Mannesschritt“ bescheinigt.47 Der Nachruf, dessen Autor nicht bekannt ist, verortete Lohoff im propagierten Männerbild des Nationalsozialismus. Demnach soll er von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg geprägt worden sein, wo er mehr als drei Jahre als Infanterieoffizier diente und dreimal verwundet wurde.48 Er „sprach nicht gern von den grausigen Erlebnissen des Krieges, aber dass er das Verwundetenabzeichen tragen durfte, war sein Stolz, vielleicht der einzige Stolz, den er hatte. Denn von sich selbst dachte er gering, und Ehre vor Menschen habe er nie gesucht,“ so der Nachruf. Er soll ein „ausgezeichneter Lehrer“ im Leipziger Religionslehrerseminar gewesen sein. Als er am 19. November 1923 zum Pastor des Diakonissenhauses Leipzig berufen wurde, bestanden Zweifel über das Gelingen der Zusammenarbeit mit den Diakonissen. Denn er war als „geschlossene Persönlichkeit, jeder Sentimentalität abhold“ bekannt: „Wie würde sich diese eiserne, strenge Natur, der frühere Feldoffizier, in den Kreis der viel zarter besaiteten Diakonissen finden?“ Hier wurde erneut die Einteilung in die traditionellen Geschlechterrollen vorgenommen. Die Schwesternschaft in der Weimarer Republik wurde im Nachruf bevormundend als orientierungslos dargestellt, indem behauptet wurde, dass sie einen „Mann und Führer […] mit klarem Blick, festem Herzen und fester Hand“ in den für Volk und Kirche „unruhigen“ Zeiten der „Marxistenherrschaft“ brauchte. Nicht nur politisches Führungsvermögen, sondern auch pädagogische Fähigkeiten und der Wille zur Weiterbildung der Diakonissen wurden Lohoff zugeschrieben. Er soll sich für die geistige und geist47  L. W., Leben und Sterben des Diakonissenrektors Gerhard Lohoff, Abdruck aus der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung Nr.  34/1934, DHL 86/0204/17. 48  Susanne Kreutzer/Karen Nolte, Deaconesses in nursing care. A transnational history, in: Susanne Kreutzer/Karen Nolte (Hg.), Deaconesses in nursing care. International transfer of a female model of life and work in the 19th and 20th century, Stuttgart 2016, S. 7–18.



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liche Bildung der Schwestern eingesetzt und den Unterricht um viele Wissensbereiche erweitert haben. Als wichtigste Fächer etablierte er das Bibelstudium und die Kirchengeschichte. Auch ihm sei es zu danken gewesen, dass das Niveau des Hauses sich mit den besten Häusern messen konnte.49 Doch fehlte mit dem Ausscheiden der Oberin Marie Möbius 1932 plötzlich ein wichtiges Mitglied der Mutterhausfamilie: die Hausmutter. Der Nachruf verschwieg, dass zuerst Ilse Voelkel als neue Oberin gewählt wurde, und erst nachdem sie das Amt nach einigen Monaten „Probezeit“ doch abgelehnt hatte, Heidi Rietschel eingesetzt wurde. Lohoff lehnte die Aufstellung von Rietschel persönlich ab, weil er keine Zusammenarbeit mit ihr vorstellen konnte.50 Doch nahm er letztendlich den Wunsch der Schwesternschaft an und stimmte ihr zu. Im Nachruf an Lohoff wurde dieses Ereignis als Gottes Wille dargestellt, denn es gelang, den Schwestern „in der jetzigen Oberin die rechte Mutter“ zu geben. Das Hauselternpaar wurde wieder vollständig, „alles wuchs zusammen“.51 Lohoff wurde demzufolge in der Schwesternschaft nun auch emotional akzeptiert: „[…] auch solche, die sich anfangs nicht gleich in seine knappe, zuweilen schien es[,] fast herzlose Art[,] finden konnten, gewannen Vertrauen, ja Liebe zu ihm. Denn herzlos war er gar nicht. Es war ihm nur nicht gegeben, sein Herz offen zu zeigen; aber wenn einmal der Schleier sich lüftete, sah man in ein Herz hingegebener, aufopferungsvoller Liebe zu den Schwestern, und vor allem in ein Herz aufrichtiger Frömmigkeit und Beugung unter Gott, unter sein Wort und seinen Willen.“52 Obwohl Aufopferung und Liebe zumeist in den weiblichen Kontext gehörten, wurden sie Lohoff im Zusammenhang mit seiner Hausvaterschaft zugeschrieben. Die Unfähigkeit, Emotionen zu zeigen, gehörte dagegen zu den männlichen Rollenklischees. Mit seinen Publikationen prägte Gerhard Lohoff in den 1920er-Jahren mehr als andere Rektoren die öffentliche Wahrnehmung des Hauses.53 Er schuf oder verschriftlichte aber auch viele Regeln für die Schwesternschaft. Er spielte dadurch eine normierende und kodifizierende Rolle, was beispielsweise die Aufnahmebedingungen betraf. In den 1930er-Jahren gab er keine neuen Publikationen heraus, zeigte aber seinen Regulierungswillen in einem Schwesternrundbrief vom 12. Juni 1934.54 Darin erinnerte er in bestimmen49  Ebd.

50  Sitzungsprotokolle

des Schwesternrates, Sitzung am 3. April 1932. W., Leben und Sterben. 52  Ebd. 53  Lohoff (Hg.), Von freudigem Dienen. 54  Ders., Verwaltungsrundbrief an alle Schwestern des Diakonissenhauses zu Leipzig vom 12. Juni 1934, DHL 166/0305/06. 51  L.

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dem Ton an die bestehenden und neuen Regelungen des Diakonissenhauses zu organisatorischen Abläufen und zum Verhalten. Insgesamt schärfte er die Regeln, ohne auf die Gründe besonders einzugehen. Als Sparmaßnahme lässt sich die Einschränkung der Brillenkäufe deuten, nachdem „ein gewisser ­Luxus“ in dieser Hinsicht sich eingeschlichen haben soll. Die versuchsweise freigegebenen Kino-, Konzert- und Theaterbesuche stellte er wieder ein, ohne den genauen Grund zu nennen: „Nachdem wir genügend Erfahrungen gesammelt haben, ordnen wir an: Der Besuch hat in Zukunft zu unterbleiben.“ Nur Kirchenkonzerte und Proben des Gewandhausorchesters wurden für die Zukunft erlaubt. Radfahren verbot er aus Versicherungsgründen, ebenfalls Gesellschaftsreisen einschließlich Reisen mit „Kraft durch Freude“. Er betonte den Pflichtcharakter des Urlaubs für jede Schwester: „Eine Schwester nimmt nicht Urlaub, sie bekommt welchen.“ Urlaub sollte ausschließlich zur eigenen Erholung, also „weder zur Pflege Verwandter oder Bekannter noch zu besonderen körperlichen Anstrengungen“ genutzt werden. Eine „unerläßliche Urlaubspflicht“ seien das Bibelstudium und das Lesen guter Bücher. Außerdem kündigte er an, die Kenntnis der Haus- und Berufsordnung stichprobenartig kontrollieren zu wollen.55 Auch wenn der Rundbrief möglicherweise nicht frei von ironischen Übertreibungen war, so deutet er doch eine alleinige Entscheidungskompetenz an der Spitze des Diakonissenhauses an, die noch weniger Partizipation ermöglichte. In ihnen spiegeln sich die Erfahrungen des ehemaligen Offiziers Lohoff wider, der es gewohnt war zu befehlen, ohne zu begründen, und der von seinen „Untergebenen“ unbedingten Gehorsam verlangte. Wie nun die Rollen der Diakonissen in ihrem „asymmetrischen Verbund“ mit den Männerrollen korrespondierten, soll nachfolgend an zwei biographischen Darstellungen ausgeführt werden. Diakonisse Marie Runkel: „in ihrem Ton […] nicht so, wie es einer Diakonisse ziemte“ Marie Runkel wurde 1878 in Merseburg geboren und trat 1907 ins Leipziger Diakonissenhaus ein. Nach einem wechselvollen Berufsweg als Krankenschwester und Gemeindediakonisse erkrankte sie in den 1930er-Jahren psychisch, laut der 1935 gestellten Diagnose an Schizophrenie. Sie wurde in der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen untergebracht und starb in der Gaskammer von Pirna-Sonnenstein im März 1941 als Opfer des nationalsozialistischen Krankenmords der „Aktion T4“.56 Die Korrespondenz zu ihrer Er55  Ebd.

56  Vgl. Fruzsina Müller, Marie Runkel (1878–1941), Biografisches Porträt eines sächsischen Opfers der NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonneinstein, Dresden 2019.



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krankung zwischen ihrer Familie, ihren Freundinnen und der Oberin des Diakonissenhauses wurde zu großen Teilen im Mutterhausarchiv aufbewahrt. Die Gründe für diese eingehende Dokumentation könnten darin liegen, dass man sich um einen Nachweis für die Behörden bemühte oder den nachfolgenden Generationen des Diakonissenhauses Klarheit über den Fall bieten wollte. Außer dieser Korrespondenz stehen noch zwei selbst verfasste Lebensläufe von Marie Runkel aus den Jahren 1907 (Eintritt) und 1913 (Einsegnung) zur Verfügung. Einträge in ihrer Schwesternakte und im Gesamtverzeichnis der Schwesternschaft geben zusätzliche Hinweise zu ihrem Leben als Diakonisse, das ansonsten schlecht überliefert bleibt. In der Aktenüberlieferung der Dösener Heil- und Pflegeanstalt finden sich keine Krankenblätter von Marie Runkel, so ist der medizinische Verlauf ihrer Erkrankung nicht zu rekonstruieren. Die vorhandenen Unterlagen sollen im Folgenden daraufhin untersucht werden, welche Erwartungen an Marie Runkel als Frau und Diakonisse herangetragen und wie diese durch die Erkrankung als nicht mehr erfüllt angesehen wurden. Im Sinne der Disability History57 wird gefragt, wie ihre Krankheit im weiteren und engeren gesellschaftlichen Umfeld (mit) konstruiert und diskursiv hervorgebracht wurde und welche Rolle das Diakonissenhaus darin spielte. Der Gehorsam als grundsätzliche „Diakonissentugend“ spielte auch in Marie Runkels Lebensweg eine bedeutende, sogar entscheidende Rolle. Wie aus ihrem selbst verfassten Lebenslauf aus dem Jahr 1913 hervorgeht, in dem sie um ihre Einsegnung bat, fiel ihr die Anforderung des Gehorsams innerhalb der Lebens- und Dienstgemeinschaft der Schwestern schwer: „Ich kann nicht sagen, dass ich als Schwester mich immer sehr wohl gefühlt habe. Das Gehorchen wird mir oft recht schwer. Mehr als einmal habe ich mich mit dem Gedanken getragen, doch lieber auszutreten. Wie oft war ich unzufrieden mit mir und meiner Arbeit und meinen Leistungen. Ich fühlte recht wohl, dass ich nicht den richtigen Diakonissensinn besaß. Der Herr hat aber Geduld mit mir gehabt und hat mich trotz meiner vielen Fehler und Schwächen in seinem Dienst behalten. Täglich will ich mir Gottes Beistand und Segen zu meiner Arbeit erflehen; ich möchte so gern Diakonissin im wahrhaften Sinne des Wortes werden.“58

Die wichtigste Eigenschaft einer „wahrhaften“, einer „richtigen“ Diakonisse war in Runkels Darstellung die Fähigkeit zum Gehorchen. In ihrer Selbstreflexion machte sie sich verantwortlich dafür, dass sie diese Leistung nicht bringen konnte. Mit ihren 29 Jahren war sie beim Eintritt in die Schwesternschaft eine bereits erfahrene, seit 13 Jahren berufstätige Frau. 57  Einen Forschungsüberblick geben Gabriele Lingelbach/Sebastian Schlund, Disability History, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 8.  Juli 2014, DOI: 10.14765/zzf. dok.2.598.v1, zuletzt geprüft am 20. Januar 2019. 58  Marie Runkel, Mein Lebenslauf, DHL 162/Schwesternbogen Marie Runkel, Leipzig [1913].

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Obwohl sie sich auch in ihren früheren „Stellungen“ als Stubenmädchen und Stütze (Haushaltshilfe) hatte unterordnen müssen, fühlte sie sich durch das Gehorsamsprinzip im Diakonissenhaus offenbar mehr herausgefordert. Erst mithilfe ihres Glaubens an einen spirituellen Unterstützer kam sie durch die schwierige Zeit des Einfügens in die Gemeinschaft durch. Bezeichnend ist ihr Einsegnungsspruch zur Diakonisse aus dem Jahr 1913. Die Einsegnung markierte den entscheidenden Schritt einer bis dahin nur als „Probeschwester“ geführten Frau in die Diakonissengemeinschaft und beruhte auf einer gegenseitigen Vereinbarung: Die Schwester akzeptierte die Bedingungen der Gemeinschaft, und die Schwesternschaft nahm die Aspirantin als vollwertiges Mitglied auf. Wie der Einsegnungsspruch gewählt wurde, ist nicht explizit überliefert, es ist aber anzunehmen, dass er im Prozess der Vorbereitung auf die Einsegnung vom Geistlichen und der Probeschwester gemeinsam erarbeitet wurde. Er sollte die Diakonisse in ihrem weiteren Berufs- und Lebensweg wie ein Motto begleiten; seine Bedeutung konnte sich mit den angesammelten Erfahrungen wandeln. Im Fall von Marie Runkel war der Spruch identisch mit ihrem Konfirmationsspruch: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir“ (Matthäus-Evangelium 16,24). Das Bibelzitat kann als versuchter Abschluss mit dem inneren Ringen gedeutet werden, das Marie Runkel an die endgültige Entscheidung, Diakonisse zu werden, erinnerte. Sich selbst zu „verleugnen“, seine Individualität aufzugeben und sich voll in den Dienst von Jesus Christus zu stellen, war eine besondere Herausforderung für sie. Dass es ihr nicht ganz gelang, geht aus ihrem Austritt 1918 und Wiedereintritt 1921 hervor. Über die Gründe stehen nur Stichworte zur Verfügung: „zu innige Freundschaft, Kränklichkeit und Unlust zum Beruf“, wie es in ihrer Personalakte vermerkt wurde.59 Engere freundschaftliche Verhältnisse zwischen zwei Diakonissen waren nicht gerne gesehen bzw. ausdrücklich verboten, damit stellte eine „zu innige Freundschaft“ einen Verstoß gegen die Ordnung der Schwesternschaft dar. „Kränklichkeit“ konnte aus der mangelnden Motivation („Unlust“) resultieren oder war ein Zeichen für körperliche Überanstrengung bei der schwierigen Pflegearbeit. Der intakte, starke Körper war in Verbindung mit einer guten kognitiven Leistung und dem erwünschten Grad an Frömmigkeit eine Voraussetzung bei der Aufnahme ins Diakonissenhaus, dessen Verlust diente jedoch alleine nicht als Austrittsgrund. Was Marie Runkel in der Zeit zwischen Aus- und Wiedereintritt machte und wie sie ihre insgesamt 36 Jahre im Dienst des Diakonissenhauses erlebte, wissen wir nicht. Lediglich eine Aufzählung der beruflichen Stationen steht zur Verfügung, nach der sie in der Privatpflege, in Leipziger Gemeinden (auch 59  Eintrag Marie Runkel in Schwestern-Journal A (1891–1896), S. 284, DHL 156/ 0302/08.



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während des Ersten Weltkriegs), im Krankenhaus Döbeln, in der Leipziger Augenklinik und im Diakonissenmutterhaus arbeitete.60 1924 wurde sie Gemeindediakonisse in Böhlitz-Ehrenberg, in einem dörflichen Stadtteil im Westen Leipzigs. Hier blieb sie bis zu ihrem Rückruf ins Mutterhaus 1935 tätig. Sie lebte in einer für die Gemeindeschwester ausgewiesene Wohnung, einige Jahre zusammen mit einer Freundin, Louise Klein, für die sie eine Arbeit im Pfarramt besorgte. In Böhlitz-Ehrenberg versorgte sie in Absprache mit dem Gemeindepfarrer Johannes Vogel täglich kranke und alte Menschen oder Familien. Ihre Arbeit wurde in der Gemeinde geschätzt, sie genoss das Vertrauen des Pfarrers und bekam als Anerkennung anlässlich ihres 25-jährigen Schwesternjubiläums eine Vase aus Meißner Porzellan, die von Spenden der Gemeindeglieder finanziert wurde.61 Dieses Vertrauen in ihrer Arbeit geriet 1934 ins Wanken – ob infolge ihrer Erkrankung oder ihres aus anderen Gründen veränderten und nicht systemkonformen Verhaltens, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Möglicherweise spielten mehrere Faktoren zusammen. In der erhaltenen Korrespondenz über Marie Runkel wurden politisch motivierte Anschuldigungen angeführt („es kamen auch Klagen, dass sie nicht mit dem deutschen Gruß grüße“). Es wurde aber auch auf eine verschlechterte Arbeitsmoral verwiesen („sie vernachlässigte ihre Arbeit“).62 Den Forderungen aus der Gemeinde, Marie Runkel abzulösen, begegnete die Oberin des Diakonissenhauses mit Verständnis, denn „sie [war] in ihrem Ton dem Herrn Pfarrer in Böhl. Ehrenberg gegenüber nicht so, wie es einer Diakonisse ziemte“.63 Des Weiteren wurde von der Oberin berichtet, dass „sich ihr merkwürdiges Verhalten [steigerte], die ihr angewiesene Arbeit behagte ihr nicht, sie lief von der Arbeit fort, machte Besuche, verweigerte den Gehorsam“.64 Insgesamt klang hier an, dass Marie Runkel erneut Probleme mit dem bereits verinnerlichten Motiv des „Gehorchens“ in einem untergeordneten Machtverhältnis bekam. Die seitens des Diakonissenhauses agierende Oberin begegnete diese Probleme – ihrer Mutterrolle entsprechend – mit einem gewissen Paternalismus. Die Ablösung von der Gemeindearbeit in Böhlitz-Ehrenberg und den Rückruf ins Mutterhaus, um dort im Speisesaal zu arbeiten, begründete sie damit, dass Runkel sich in der Gemeinschaft wieder erholen sollte.65 In den voran60  Schwesternbogen

Marie Runkel, DHL 162. zu Kirchenbeamten und Pfarrern bzw. Gemeindeschwestern, Gemeindearchiv Böhlitz-Ehrenberg, 7/6. 62  Heidi Rietschel an Minna Neuthor, 11. Februar 1935, abgelegt im Schwesternbogen von Marie Runkel, DHL 162. 63  Ebd. 64  Ebd. 65  Heidi Rietschel an Marie Runkel, 25. Januar 1935, ebd. 61  Akten

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gegangenen wenigen Jahren starben in der Gemeinde zwei wichtige Bezugspersonen Marie Runkels: ihre langjährige Freundin und Mitbewohnerin Louise Klein und der Gemeindepfarrer Johannes Vogel, den sie während ihrer Erkrankung auch pflegte. Diese Zeit stufte die Oberin besonders belastend für Marie Runkel ein: „Ich kann es sehr wohl verstehen, liebe Schwester Marie, dass alles, was Sie in den letzten Jahren erlebt haben, sehr schwer war. Es ist vielleicht eine Fügung Gottes, der Sie aus Böhlitz-Ehrenberg wieder einmal ins Mutterhaus führt. Ich glaube, Sie waren dort in Gefahr, sich selbst zu verlieren in Ihre eigenen Gedanken und Grübeleien.“66 Marie Runkel sollte liebevoll, aber doch durch mehr Disziplin und engeren Kontakt wieder in die Mutterhausgemeinschaft eingegliedert werden. Zu dieser Zeit beschäftigte sich die Mutterhausleitung jedoch bereits „längst“ mit dem Gedanken, dass es sich um eine geistige Erkrankung bei ihr handelte.67 Der Aufenthalt im Mutterhaus bot zur Beobachtung und zur Bestätigung dieser Annahme mehr Möglichkeit. Die Diagnose Schizophrenie galt für alle Beteiligten als eine plausible Erklärung für das veränderte Verhalten und die Gehorsamsverweigerung. Laut der Oberin war es „eine große Beruhigung, dass man sich nun alles erklären kann und in der Krankheit den Schlüssel zu ihrem merkwürdigen Verhalten findet“.68 Marie Runkel selbst soll „wie erlöst“ sein, „sie war lieb und freundlich, höflich und dankbar und ist gern und willig in die Klinik gegangen“.69 Davor hatte sie sich wohl selbst nicht verstanden, „daß sie jetzt immer so bockig wäre“.70 Die Diagnose wurde anhand der Erzählungen von Marie Runkel von dem Chefarzt des Diakonissenkrankenhauses Nikolaus Haase gestellt. Runkel eröffnete ihm, dass sie seit Jahren Stimmen höre, die ihr befehlen, „Dinge zu tun oder auch zu sagen, die sie sonst nicht tun würde“.71 Außerdem sehe sie Gestalten, zum Beispiel eine lachende Schar, die mit der Nachtschwester ins Zimmer kommt oder Personen wie Goethe und Hitler: „Sie sagt, es sei ein zweiter Mensch in ihr, u. manchmal ein Kobold.“72 Nach einem kurzen Aufenthalt in der Leipziger Nervenklinik wurde Marie Runkel wieder entlassen und verbrachte Dreivierteljahr im Mutterhaus, bevor sie im Dezember 1935 in die Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen kam. 66  Ebd.

67  Rietschel 68  Dies. 69  Ebd.

an Minna Neuthor, ebd. an Marianne Vogel, 11. Februar 1935, ebd.

70  Marianne

Vogel an Heidi Rietschel, 8. Februar 1935, ebd. an Minna Neuthor, ebd. 72  Vogel an Heidi Rietschel, ebd. 71  Rietschel



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Diesen Schritt machte erforderlich, dass sie „sehr verwirrte Ideen hatte und man sie nicht allein auf die Straße gehen lassen konnte“.73 Sie habe mal geglaubt, sie sei die Oberin oder ihre Freundin, die Witwe des ehemaligen Pfarrers von Böhlitz-Ehrenberg, Marianne Vogel. Es habe aber auch Tage gegeben, „wo sie kaum verwirrt [war] und ein Fremder kaum etwas unnormales an ihr entdecken“ konnte.74 Als Grund, warum sie nicht mehr im Mutterhaus bleiben konnte, gab die Oberin nicht nur die Halluzinationen an, sondern dass Runkel „von früh bis abends draußen herum[lief]“ und man sich Sorgen um sie machte.75 Der Aufenthalt in einer Heil- und Pflegeanstalt wurde als negativ angesehen: Eine Freundin, Magdalena Dörner, sah darin eine Endstation des Lebens76, die Oberin setzte den Aufenthalt dort mit einer Gefangenschaft gleich und betonte ebenfalls die Endgültigkeit und Unwiderrufbarkeit eines solchen Aufenthalts.77 Nur die Freundin Marianne Vogel hoffte anfangs, noch bevor die Diagnose gestellt wurde, auf Hilfe durch ein Sanatorium oder eine Anstalt. Der Oberin war nicht nur bewusst, dass es der Betroffenen schwerfällt, „ein gefangener Mensch“ zu werden. Auch vermutete sie, dass es der Familie nicht leichtfalle, Runkel „nun in einer Anstalt […] als einen geisteskranken Menschen“ wissen zu müssen. Sie wies damit auf die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen hin, die mit der abwertenden NS-Propaganda verstärkt wurde. Vor einem so vorgestellten Anstaltsleben wollte die Oberin Marie Runkel bewahren, die selbst „begreiflicherweise“ nicht mit ihrem Aufenthalt einverstanden war. Die Oberin (die in Absprache mit dem Rektor agiert haben muss) sah jedoch die Notwendigkeit des Aufenthalts durch mehrere Faktoren bedingt. Problematisch war aus Sicht der Mutterhausleitung, dass Marie Runkel nicht an dem Leben der Gemeinschaft teilnahm, wie es von einer Diakonisse erwartet wurde. Wenn das evangelische Mutterhaus sich als „Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft“ definierte, erfüllte Marie Runkel nicht mehr die Bedingungen zur Teilnahme daran. Sie beteiligte sich nicht an der Arbeit, machte sich also nicht „nützlich“, was einer der Grundgedanken der Mutterhausdiakonie war.78 Auch der als Feierabend genannte Ruhestand bedeutete keinen vollständigen Verzicht auf Arbeit, sondern dass die Diakonissen sich mit kleineren Arbeiten innerhalb des Hauses einbrachten, solange sie konnten („Dienstgemeinschaft“). Marie Runkel hielt sich tagsüber lieber im Freien auf, nahm also vermutlich nicht an den gemeinsamen 73  Heidi 74  Ebd.

75  Heidi

Rietschel an Minna Neuthor, 18. Dezember 1935, ebd.

Rietschel an Minna Neuthor, 16. November 1935, ebd. Dörner an Heidi Rietschel, 13. Februar 1935, ebd. 77  Heidi Rietschel an Minna Neuthor, 28. September 1935, ebd. 78  Ebd. 76  Magdalena

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Ritualen teil („Glaubensgemeinschaft“). Ihr „unfreundliches Benehmen“ verstieß gegen die Regeln des Zusammenlebens im Mutterhaus, wobei doch ein „freund­liches Gemüt“ und Sinn für Gemeinschaft unter den Eintritts­ bedingungen waren und bei deren Mangel eine Entlassung drohte („Lebensgemeinschaft“).79 Marie Runkel unterwarf sich – krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen – nicht mehr den Ordnungen der Gemeinschaft. Sie bewegte sich frei; ging zurück zur befreundeten Witwe des Gemeindepfarrers Vogel, um ihr im Haushalt zu helfen80, anstatt im Mutterhaus zu arbeiten. Sie hielt sich nicht an Regeln wie die Ab- und Anmeldepflicht. Wenn sie nicht krank geworden wäre, wäre sie zuerst ermahnt, dann entlassen worden. So wurde sie in eine Heil- und Pflegeanstalt verlegt, um die Einheit der Gemeinschaft zu bewahren und das reibungslose Funktionieren des Diakonissenhauses zu sichern. Möglicherweise spielte auch ein weiterer Grundsatz des Diakonissenhauses eine Rolle: Die Schwestern durften den Ruf des Hauses nicht beschädigen. Disziplinarverfahren gegen Diakonissen belegen, dass der Begriff der Rufbeschädigung weit gefasst wurde.81 Ein Verhalten, das von einer Diakonisse nicht erwartbar war, konnte zur Mahnung und schließlich zur Entlassung führen. Bei einer frei auf den Straßen herumlaufenden Diakonisse hätten Gerüchte entstehen können, die den Ruf des Mutterhauses schädigten. Die Sichtbarkeit der erkrankten Diakonisse Marie Runkel in der Öffentlichkeit der Leipziger Straßen führte möglicherweise mit dazu, sie in eine geschlossene Einrichtung zu geben. Die Forschung zur Geschlechterverteilung der „Euthanasie“-Opfer konnte bereits überzeugend nachweisen, dass in der „Aktion T4“ viel mehr Frauen als Männer ermordet wurden.82 Dies hatte mit den unterschiedlichen Rollenerwartungen an Frauen und Männer zu tun. Unangepasstes, lautes Verhalten, 79  Vgl. Gerhard Lohoff (Hg.), Ev.-luth. Diakonissen-Haus Leipzig-Lindenau, Leipzig 1928. 80  Richard Neuthor, Schreiben an Heidi Rietschel, 26. September 1935, DHL 162. 81  Vgl. z. B. Sitzungsprotokoll des Schwesternrates, 6. Mai 1928, DHL 165/0304. 82  Maike Rotzoll stellte anhand einer umfassenden Analyse von Opferbiografien fest, dass weibliche Psychiatriepatientinnen in einer größeren Anzahl der „Euthanasie“ zum Opfer fielen als männliche Patienten, vgl. Maike Rotzoll, Wahnsinn und Kalkül. Kollektivbiografische Charakteristika erwachsener Opfer der „Aktion T4“, in: Maike Rotzoll u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn, München, Wien, Zürich 2010, S. 272–283. Auch spätere Untersuchungen bestätigten diesen Befund: Hans-Walther Schmuhl, Hat „lebensunwertes Leben“ ein Geschlecht? Geschlechtsrollenerwartungen und Patientinnenkarrieren zwischen Psychiatrisierung und „Euthanasie“, in: Eschebach/Ley (Hg.), Geschlecht, S. 47–66, Patricia Heberer, Profile weiblicher und männlicher Opfer aus der zweiten Phase der NS-„Euthanasie“, in: Eschebach/Ley (Hg.), Geschlecht, S. 67–79.



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Aggressionen u. ä. wurden bei Frauen viel weniger toleriert als bei Männern. So wurden Frauen viel häufiger negativ von Ärzt*innen und Pflegepersonal beschrieben und wurden dadurch zahlreicher für die Ermordung ausgesucht. Aufgrund welcher Kriterien Marie Runkel zur Ermordung in der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen ausgesucht wurde, wissen wir nicht. Fest steht nur, dass sie in ihrem Verhalten von der Norm einer Diakonisse abwich. Diese Norm war eine starre Weiterführung des bürgerlichen Frauenideals des 19. Jahrhunderts, auf die sich der Nationalsozialismus zurückbesann. Im nationalsozialistischen Diskurs über „unwertes Leben“ verortet sich die Meinung des Neffen von Marie Runkel, des aktiven NSDAP-Mitglieds und lokalen Funktionärs Richard Neuthor zur Erkrankung seiner Tante: „Ein Rätsel wird es für uns ewig bleiben, dass diese Tante, die uns immer so willensstark, so selbstbewusst, so lebenstüchtig erschienen ist, einen derartigen Zusammenbruch erleiden musste. […] Der liebe Gott allein wird wissen, wie das Unheil zustande kam. Wir können ihn nur bitten, dass er die Ärmste nicht allzulange leiden lässt, falls eine Heilung nicht möglich ist.“83 Obwohl die Oberin sehr oft die Familie Neuthor bat, Marie Runkel in Leipzig-Dösen zu besuchen, gibt es keine Hinweise dafür, dass dies geschah. Vielmehr entschuldigten sie sich mit der Entfernung, mit dem schlechten gesundheitlichen Zustand der leiblichen Schwester Marie Runkels, den zahlreichen Verpflichtungen Richard Neuthors als Lehrer und NSDAP-Blockwart sowie mit ihrer Enttäuschung über die ausbleibende Antwort Marie Runkels auf ein Paket. Die Oberin oder Diakonissen des Hauses besuchten sie manchmal. Dokumentiert sind Besuche kurz vor Weihnachten in den Jahren 1936 und 1937.84 Ob sie danach nicht mehr besucht wurde oder die Besuche lediglich nicht aufgeschrieben wurden, ist unklar. Forschungen zeigen, dass Patient*innen mit enger familiären Einbindung viel größere Überlebenschancen hatten als solche, die keinen Besuch bekamen.85 Nach der Benachrichtigung über Runkels Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß am 21. Februar 1941 wollten sie zwei Diakonissen dort erst ein Monat später, am 23. März 1941 besuchen. Dabei fungierte diese Einrichtung damals als Zwischenanstalt der „Aktion T4“, wo die Menschen nur wenige Tage vor ihrer Einlieferung in eine Tötungsanstalt verbrachten. Marie Runkel starb in Pirna-Sonnenstein am 17. März 1941. Eine Anfrage über 83  Richard

Neuthor, Brief an Heidi Rietschel, 15. Januar 1936, DHL 162. vereinzelte Einträge in den Tagesjournalen, DHL 119/0209/16, 1936–1941. 85  Petra Fuchs, Die Opfer als Gruppe. Eine kollektivbiografische Skizze auf der Basis empirischer Befunde, in: Petra Fuchs (Hg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007, S. 53–71; S. 58. 84  Vgl.

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ihren Verbleib schickte der Rektor Georg Hammitzsch erst am 21. April ab, als Marie Runkel bereits seit mehr als einem Monat tot war. Diakonisse Hedwig Till: „meine eigene Schuld erkannte ich nicht“ Die zuvor beschriebene Opferrolle einer Diakonisse deckt nur einen Teil der Handlungsspielräume von Diakonissen ab. Die Rolle der Frauen in den nationalsozialistischen Verbrechen wird seit den 1980er-Jahren diskutiert. Auf Forschungsansätze, die weibliche Täterschaft anhand von historischen Quellen transparent machten, reagierte insbesondere die der „Patriarchatsthese“ verpflichtete feministische Forschung sensibel, weil sie die angenommene allgemeine Opferrolle der Frauen in Gefahr sah.86 Die „Mit-­ Täterinnen-These“ bot einen gewissen Kompromiss, in dem sie aus einer „natürlichen“ Mittäterschaft der Frauen aus Loyalität und Zustimmung in einer patriarchalischen Gesellschaft ausging.87 Dass Frauen auch eigene Wünsche und Interessen, auch an Verbrechen, haben könnten, fällt auch noch im Kontext gegenwärtiger Gewaltakte und Kriege schwer anzuerkennen: Frauen gelten bis heute als von Natur aus friedfertig; weibliche Gewalt wird als Extremfall oder als Folge männlicher Unterdrückung verharmlost.88 Betrachtet man weibliche Beteiligung an den medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus, kommt man tatsächlich nicht um eine Kontextualisierung damaliger Handlungsräume, Kompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten der Akteurinnen herum. In den „Euthanasie“-Prozessen der 1960er-Jahre wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass der Pflegeberuf vor und während des Nationalsozialismus dem ärztlichen Beruf unterstellt und auf bloße Ausführung von Anweisungen ausgelegt war.89 Geschlechterhistorisch gesehen folgte die Verteilung der Berufe fast immer dem Muster 86  Agnes Arndt/Joachim Häberlen/Christiane Reinecke, Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, in: dies. (Hg.), Vergleichen, Verflechten, Verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, 11–30, S. 15. 87  Rebekka Habermas/Richard Hölzl, Einleitung, in: dies. (Hg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 9–28. 88  Vgl. den historischen Überblick und die Analyse der gesellschaftlichen Rezeption weiblicher Gewalt im Kontext des Irak-Krieges, in: Nachtigall, Andrea/Dietrich, Annette: (Mit-)Täterinnen. Weiblichkeitsdiskurse im Kontext von Gewalt, Krieg und Nation, in: Ariadne 47 (2005), S. 6 –13. 89  Christel Gibas, Zu einigen Aspekten der Beteiligung weiblichen medizinischen Personals an der Umsetzung der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ im Regierungsbezirk Merseburg, in: Schubert-Lehnhardt, Korch (Hg.), Frauen, S. 61–74.



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Abb. 3: Die Diakonisse Hedwig Till, undatiert, Archiv des Diakonissenhauses Leipzig, bearbeitet von Kay Zimmermann.

des männlichen Arztes und des weiblichen Pflegepersonals. Die Krankenschwestern konnten kein Bewusstsein für ihre Täterschaft aufbringen, stattdessen betonten sie ihre eigene Opferrolle und rekurrierten auf die erwartete weibliche Verhaltensweise der Pflichterfüllung und des Gehorsams. Zudem betrachteten viele die späteren Opfer der Krankenmorde mit Mitleid und waren einverstanden mit dem Gedanken des „Erlösens“.90 Zumindest der Gedanke einer mit Zwangsmitteln durchgeführten Eugenik fand auch im Bereich der Diakonissenhäuser und der Inneren Mission Resonanz.91 Es ist nicht bekannt, dass Krankenschwestern in Gerichtsverfahren wegen ihrer Teilnahme an Zwangssterilisationen angeklagt worden waren. Doch konnten sie durchaus in solchen Prozessen als Zeuginnen aussagen. Eine eidesstatt­ 90  Vgl. Steppe/Koch/Weisbrod-Frey (Hg.), Krankenpflege; Jutta Dornheim/Ulrike Greb, Theoretische Ansätze zur Diskussion über die Beteiligung von Krankenpflegepersonal an den Patientenmorden im Nationalsozialismus, in: Ortrun Niethammer (Hg.), Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen, Osnabrück 1996, S. 10–56. 91  Siehe die Beiträge insbesondere von Bettina Westfeld und Uwe Kaminsky in diesem Band.

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liche Versicherung im Gerichtsfall Dr. Max Hörder liegt von seiner Assistentin Hedwig Till, einer Diakonisse des Leipziger Diakonissenhauses, vor und soll im Folgenden im Rahmen einer biografischen und geschlechtergeschichtlichen Analyse vorgestellt werden.92 Wie bereits anhand der Biografie von Marie Runkel oben besprochen, wurde der Gehorsam im Mutterhaus bereits früh eingeübt. Dies zeigt sich auch in den selbst verfassten Lebensläufen der jungen Schwester des Leip­ ziger Diakonissenhauses und späteren Operationsassistentin Hedwig Till (1890–1948). Sie assistierte im Rochlitzer Stadtkrankenhaus von 1934 bis 1945 bei zahlreichen Zwangssterilisierungen.93 Nach 1945 folgte sie ihren Vorgesetzten Dr. Max Hörder in seine Privatpraxis. Im März 1947 legte sie in Vorbereitung des Gerichtsprozesses gegen Hörder eine eidesstattliche ­Versicherung ab, in der sie ihn in allen Punkten verteidigte. Sie starb laut der Eintragung des Rektors des Diakonissenhauses unmittelbar nachdem Hörder in Polizeigewahrsam genommen wurde: „S[chwester] Hedwig starb am 14.5.48 vormittags 4:30 an den Folgen eines Schlaganfalls, den sie in der Nacht vorher erlitten hatte ohne wieder zum Bewusstsein gekommen zu sein. Sie hatte noch erlebt, dass ihr Chef Dr[.] Hörder, dessen Familie sie treu ergeben war[,] wegen Verbrechen an der Menschlichkeit in das Gefängnis Chemnitz überführt wurde. Es stand ihr bevor, als einziger Entlastungszeuge vernommen zu werden. Gott hat dies verhindert.“94 Der knappe Eintrag unter „Anmerkungen“ in der Schwesternakte von Hedwig Till lässt viele Fragen offen. Selbst wenn kein direkter sprachlicher Zusammenhang zwischen dem Schlaganfall von ihr und der Inhaftierung von Max Hörder hergestellt wird, nimmt die Berichterstattung über Hörder, seine Beschuldigung und seine Anklage viel Platz in der Todesbeschreibung ein. Diese enthielt üblicherweise eine mehr oder weniger detaillierte Darstellung der Erkrankung, des Sterbeprozesses, der geistigen und spirituellen Lage der Sterbenden. Dass hier prominent auf Hörder Bezug genommen wurde, deutet darauf hin, dass sein Schicksal Hedwig Till in ihren letzten Lebensmonaten stark beschäftigte. Auch ist davon auszugehen, dass der Rektor des Diakonissenhauses dem Fall Hörder große Bedeutung zumaß und sich demgegenüber nicht neutral verhielt. Er sah Gottes Hand darin, dass Hedwig Till nicht mehr 92  Für

den Hinweis auf dieses Dokument danke ich Hagen Markwardt herzlich. Fall rekonstruierte Jürgen Nitzsche in einem 2016 erschienenen Aufsatz: Jürgen Nitsche, Die strafrechtliche Verfolgung von Ärzten und Richtern nach 1945 im Regierungsbezirk Chemnitz wegen ihrer Beteiligung an den NS-Zwangssterilisa­ tionen, in: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Nationalsozialistische Zwangssterilisationen in Sachsen 1933–1945. Struktur und Praxis – Täter und Opfer, Dresden: 2016, S. 130–161. Darin kommt Hedwig Till allerdings nicht vor. 94  Paul Meis, Bemerkungen in der Schwesternakte von Hedwig Till vom 17. Mai 1948, DHL 163. 93  Den



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positiv für Hörder aussagen konnte, und damit einer rechtskräftigen Verurteilung nichts mehr im Wege stand. Rektor Meis kam erst im Juli 1947 ins Diakonissenhaus, seine Einstellung zur Eugenik und den NS-Sterilisierungen ist nicht bekannt, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Rektor Hammitzsch, der Eugenik selbst in seiner Entnazifizierungsakte 1946 als eine positive Errungenschaft des Nationalsozialismus beschrieb.95 Zu seiner Amtszeit arbeitete Hedwig Till als Assistentin Hörders. Was Paul Meis mit der Eintragung beabsichtigte, bleibt offen. Er betonte die Treue von Hedwig Till zu ihrem Vorgesetzten, dem Arzt, und zu seiner Familie. Hörders Frau Elisabeth arbeitete als medizinisch-technische Assistentin neben ihrem Mann. Till ging nach der Entlassung Hörders aus dem Rochlitzer Krankenhaus in seine Privatpraxis. Dies ist bemerkenswert, denn die Diakonissen wurden in bestimmte Einrichtungen oder Gemeindepflegestationen ausgesandt, nicht zu Personen. Welche Rahmenbedingungen oder Absprachen es ermöglichten, dass Till in die Privatpraxis von Hörder wechseln konnte, ist nicht bekannt. Möglicherweise kam dem Diakonissenhaus die private Übernahme einer Diakonisse in der unsicheren Lage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sogar entgegen. Sicherlich wurde auch auf Tills langjährige Zusammenarbeit mit Hörder und ihrer persönlichen Verbundenheit mit ihm Rücksicht genommen. Dies spielte zwar normalerweise keine Rolle bei dem strikt eingehaltenen Entsendungsprinzip des Diakonissenhauses, doch es war üblich, ältere Schwestern nicht mehr aus ihrer langjährigen Arbeit „herauszunehmen“. Wie Hedwig Till ihre Arbeit als OP-Assistentin bei Sterilisierungen wahrnahm, ist aus den Akten nicht zu erkennen. Da sie selbst nicht angeklagt war, musste sie sich nicht verteidigen. In ihrer am 10. März 1948 abgelegten eidesstattlichen Versicherung bemühte sie sich stark darum, Hörder zu schützen. Während im späteren Prozess sowohl der Angeklagte als auch seine Ehefrau Elisabeth Hörder Fälschungen und die Vernichtung von Unterlagen zugaben, bekräftigte Till mit Nachdruck die Rechtsmäßigkeit aller Handlungen ihres Vorgesetzten: Hörder habe nur Menschen sterilisiert, deren Krankenakten samt Lichtbild aus dem Gesundheitsamt vorlagen, außerdem habe er nur die tatsächlichen Eingriffe ins Operationsbuch eintragen lassen. Da Hörder in der Anklage beschuldigt wurde, einen 12-jährigen „Zigeunermischling“ aus „politischen Beweggründen heraus“96 sterilisiert zu haben, gab Till an, dass ihr „nie Unterlagen darüber, dass eine Sterilisation aus einem anderen Grunde als wegen Erbkrankheit erfolgen sollte, zu Gesicht ge95  Personalbogen und Entnazifizierungsakte Georg Hammitzsch, Landeskirchen­ archiv Sachsen, Dresden, Bestand 2, Nr. 2835, Bl. 1–4. 96  Strafakte Dr. Max Hörder, BStU, Chemnitz 1948–1949, C ASt 12/48 1, Bl. 000007.

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kommen“ waren.97 Dabei wurde im Prozess gegen Max Hörder aufgearbeitet, dass er Rudolf Brantner, das neunte Kind des österreichisch-Leipziger Musikers Eduard Brantner, am 13. März 1945 noch sterilisierte. Die Tätigkeit der Erbgesundheitsgerichte, die über die Zwangssterilisationen verfügten, war in Sachsen schon am 14. November 1944 eingestellt worden.98 Bereits gefällte Urteile wurden jedoch bis ins Frühjahr 1945 ausgeführt. Max Hörder sterilisierte den 12-Jährigen trotz der bereits sich nähernden Alliierten und der ausdrücklichen Bitte des zuvor schon sterilisierten Vaters. Dieser merkte in seiner Aussage zum Prozess gegen Hörder bitter an: „[…] wenn Dr. Hörder seinerzeit als Mensch und Arzt gehandelt hätte und vernünftig gewesen wäre, so wäre es zur Sterilisation meines Sohnes Rudolf Brantner niemals gekommen; denn jeder klar denkende Mensch wusste, dass in kurzer Zeit die alliierten Truppen […] kommen mussten.“ Erwähnt hatte er auch die „ganz gehässige“ Behandlung seines Sohnes durch Hörder wegen „seiner Rassenabstammung“ sowie eine Operationsschwester, die „mir in schroffem Tone [erklärte], wenn ich nicht innerhalb einer viertel Stunde das Krankenhaus verlassen habe, würde Dr. Hörder veranlassen, dass ich durch die Polizei abgeführt werde“.99 Ob diese Schwester Hedwig Till war oder eine andere Krankenschwester, bleibt unklar. Der Vater Eduard Brantner wurde tatsächlich durch Polizisten abgeführt. Max Hörder führte den Eingriff an den Jungen durch. Der Fall wurde von Jürgen Nitsche in einem 2016 erschienenen Aufsatz ausführlich dargestellt.100 Hier interessiert die verharmlosende Aussage von Hedwig Till, die als Nachdruck für den Wahrheitsgehalt ihrer eidesstattlichen Versicherung auf ihre Glaubwürdigkeit als erfahrene Krankenschwester zurückgriff. Konkret bezog sie sich auf die Korrektheit der Dokumentation der operativen Eingriffe und die Zuverlässigkeit Hörders: „Als langjährige Schwester – ich bin seit 1909 im Berufe – kann ich das beurteilen“.101 Dieses Selbstbewusstsein erarbeitete sie sich durch eine lange Berufsbiographie als Diakonisse. Eingetreten war sie als Tochter eines Leipziger Mühlenbesitzers mit 19 Jahren, nachdem sie die Volksschule besucht und mehrere Jahre lang als „Blumenmacherin“, Fabrikarbeiterin und Dienstmädchen gearbeitet hatte. Laut ihrer Selbstbeschreibung wollte sie schon lange Diakonisse werden, gab „ihrem Heiland“ schon früh das Versprechen, „zu keinen weltlichen Vergnügen zu gehn“; doch war sie für eine Ausbildung im Mutterhaus noch zu jung.102 Nach dem Eintritt durchlief sie verschiedene Ausbildungsstationen, in denen auch „Versuchungen“ und „Verführungen“ 97  Eidesstattliche

Versicherung von Hedwig Till, ebd., Bl. 000285–87. Die strafrechtliche Verfolgung, S. 130. 99  Ebd., S. 155. 100  Ebd. 101  Eidesstattliche Versicherung von Hedwig Till, Bl. 000285–87. 102  Hedwig Till, Mein Lebenslauf, [1909], DHL 160/Schwesternakte Hedwig Till. 98  Nitsche,



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vor allem in der Gemeindearbeit an sie herangetreten sein sollen.103 Welcher Art diese waren, wird nicht deutlich, doch ist aufgrund ihres Alters und des allgemeinen Forschungsstandes anzunehmen, dass ihr möglicherweise Heiratsanträge gemacht wurden. Davor soll sie die ältere Gemeinde­diakonisse geschützt haben. In Tills Lebensläufen von 1909 und 1916 wurde nicht wie bei Marie Runkel der Gehorsam als höchste Schwierigkeit im Prozess des Diakonissewerdens thematisiert. Vielmehr klang bei ihr das Einüben von Demut als wiederkehrendes Motiv an. Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit von wenigen Wochen wurde sie bereits auf eine Krankenhausstation zum Lernen geschickt, danach für ein Jahr in die Andreasgemeinde in Leipzig und dann wieder ins Krankenhaus, diesmal in den Operationssaal. Nach der lieb gewonnenen Arbeit als zweite OP-Schwester soll ihr der erneute Wechsel in die Gemeindearbeit in Mittweida schwergefallen sein. Dort lernte sie von der älteren Gemeindeschwester Martha Schlenkritz, „dass, wenn ich eine rechte Diakonisse werden will, mir noch sehr viel fehlt“.104 Bei der Ablösung der ihr nahe stehenden Schlenkritz durch das Mutterhaus beschrieb sie negative Gefühle und Schuldzuweisungen: „ich glaubte alle Menschen wären Schuld, aber meine eigene Schuld erkannte ich nicht“.105 Warum sie Schuld an der Entscheidung des Mutterhauses gehabt haben soll, Schlenkritz auszutauschen, bleibt unklar. Vielmehr scheint es hier um einen Demutsakt gehandelt zu haben, in dessen Ergebnis die eigenen Gefühle zurückgestellt wurden. In ihrer Sozialisation als Diakonisse musste sie offenbar lernen, die gelegentliche Wut gegenüber der Mutterhausleitung als selbst verschuldet anzusehen. Entscheidungen des Mutterhauses, so unverständlich und willkürlich sie für die Einzelnen auch vorkamen, waren nicht anzuzweifeln, sondern zu akzeptieren. Hedwig Tills Leben als Diakonisse bleibt zwischen der Einsegnung 1916 und ihrer Entsendung ins Rochlitzer Stadtkrankenhaus 1925 mangels Unterlagen im Dunklen. Nur ihre beruflichen Stationen werden in ihrer Personalakte aufgezählt: Frauenklinik, Krankenhaus Borna, Krankenhaus Colditz, Gemeinde Wahren in Leipzig und ab 1925 Schwester, später Oberschwester im Krankenhaus Rochlitz. Ihre starke Verbundenheit zu dem Rochlitzer Chefarzt und Chirurgen Max Hörder machte sie in ihrer eidesstattlichen Versicherung deutlich: „Im Herbst 1934 kam Herr Dr. Hörder als Arzt an das Krankenhaus. Von da an habe ich mit Herrn Dr. Hörder bis zu seiner Entlassung, wohl im Oktober 1945 zusammen gearbeitet. […] Ich habe am selben Tage wie Herr Dr. Hörder die Klinik verlassen. […] Ich bin nur ganz 103  Hedwig 104  Ebd. 105  Ebd.

Till, Mein Lebenslauf, 1913, DHL 160/Schwesternakte Hedwig Till.

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selten im Urlaub gewesen und dann fast immer gleichzeitig mit Herrn Dr.  Hör­der.“106 Diese symbiotische Beziehung zwischen Till und Hörder veranlasste sie, im Prozess als Einzige Hörder zu verteidigen. Hier greifen neben den bekannten Erklärungen der Unterordnung des weiblichen Pflegepersonals unter den männlichen Medizinern107 noch andere Faktoren. Till betonte, eine gewisse kontrollierende Rolle als Oberschwester ausgeübt zu haben. In dieser Rolle soll sie die Einträge in den OP-Büchern und Krankenakten regelmäßig verglichen und „niemals eine Unstimmigkeit festgestellt“ haben.108 Die Betonung dieser Kontrollfunktion sollte Hörder entlasten, ähnlich der Aussage, dass er „auf Anordnung“ des Gesundheitsamtes die Eingriffe durchgeführt hatte. Das Rekurrieren auf Anordnungen höherer Behörden und auf „ordnungsgemäße“ Durchführung der medizinischen Eingriffe sowie ihrer Do­ kumentation findet sich auch in Aussagen von Krankenschwestern in den „Euthanasie“-Prozessen.109 Aufgrund der Aktenlage lässt sich der Weg nicht mehr rekonstruieren, wie aus der jungen Probeschwester, deren einziger Wunsch war, Jesus Christus zu dienen, die selbstbewusste Oberschwester geworden ist, die kompetent über die Operations- und Dokumentationspraxis ihres langjährigen Vorgesetzten aussagt. Lag die Erklärung für ihre Treue zu Hörder in der früh eingeübten „Gehorsamskette“? Wurde ihre unbedingte Unterstützung dadurch begründet, dass sie nach 20 Jahren selbstständiger Arbeit im Rochlitzer Krankenhaus sich kaum eine andere Arbeitsstelle, geschweige denn eine Beschäftigung im oder in der Nähe des Leipziger Mutterhauses vorstellen konnte? Wurde die wichtigste Bezugsperson der Arzt anstelle des Mutterhausrektors, und ersetzte Hörders Familie die Mutterhausgemeinschaft? Fragen nach dem Bewusstsein von (Mit-)Verantwortung sind auch nicht zu beantworten. Aussagen von ihr, wie sie die Rolle als OP-Assistentin bei Sterilisationen wahrnahm, stehen nicht zur Verfügung. Diese geschahen nach geltendem Gesetz, aber meistens gegen den Willen der Betroffenen, oft unter Anwendung von Gewalt – wohl auch bei Hörder, wie aus den Zeugenaus­ 106  Strafakte

Dr. Max Hörder, Bl. 000285–87. z. B. Manuela Schoska, Pflegerische Verantwortung im Nationalsozialismus, in: Andrea Thiekötter (Hg.), Alltag in der Pflege – wie machten sich Pflegende bemerkbar? Beiträge des 8. Internationalen Kongresses zur Geschichte der Pflege 2008, Frankfurt/Main 2009, S. 245–259. 108  Strafakte Dr. Max Hörder, Bl. 000285–87. 109  Ebbinghaus zitiert aus der Aussage von Luise E., Hauptangeklagter im Münchner „Euthanasie“-Verfahren von 1961: „Dr. Mootz [traf] nie eine Anordnung zum Töten […], wenn er nicht zuvor die Akte durchgelesen hat.“, Angelika Ebbinghaus (Hg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1996, hier aus der „Dokumentation: Krankenschwestern vor Gericht“, S. 288. 107  Vgl.



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sagen in seiner Gerichtsverhandlung hervorgeht. Im Fall des 12-jährigen Rudolf Brantners war zusätzlich das niedrige Alter, was seine Sterilisation fraglich machte. Till sagte aus, er sei schätzungsweise 14 Jahre alt gewesen – ob sie damit das eigene Unrechtsgefühl ausgleichen oder Hörder verteidigen wollte, wissen wir ebenfalls nicht. Zusammenfassung Bei der Untersuchung der Rolle des Leipziger Diakonissenhauses im Na­ tionalsozialismus scheint der Geschlechterblick fruchtbar. Im „Mikrokosmos“ der Diakonissenhäuser wurden traditionelle Rollenbilder nicht nur konserviert, sondern weitgehend reproduziert. Gepaart mit der religiösen Motivation des Helfens und Dienens erscheint die unkritische Unterstützung ärzt­ lichen Handelns als geradezu unvermeidbar – trotz aller möglichen Binnenkonflikte zwischen erfahrenen Diakonissen und jungen Ärzten. Dies wird am Beispiel der Diakonisse Hedwig Till deutlich, die im Stadtkrankenhaus Rochlitz bei dem Chirurgen Max Hörder bei zahlreichen Zwangssterilisationen assistierte. Ihre äußerst positive Aussage im Prozess gegen Hörder und ihr körperlicher Zusammenbruch bei der Inhaftierung ihres Vorgesetzten entsprechen dem oder übertreffen sogar die Erwartungen an eine Diakonisse: Hingabe, Selbstaufopferung und unkritischer Gehorsam. Gleichzeitig stellte sie sich mit ihrer Aussage bewusst gegen die Behörden, die Hörder beschuldigten, und rekurrierte selbstbewusst auf ihre Fachkenntnisse als erfahrene Krankenschwester. Aus der (Geschlechter-)Norm gefallen ist vielmehr die psychisch erkrankte Diakonisse Marie Runkel. Ihr Verhalten entsprach nicht mehr den Anforderungen an eine Diakonisse: Sie wurde nicht nur krank, sondern missachtete die Regeln der Mutterhausgemeinschaft; sie wurde politisch inkorrekt und gemeinschaftlich unangepasst. Zudem stellte sie eine Gefahr für die Integrität des Diakonissenhauses durch ihr öffentliches Erscheinen dar. Sie ließ sich nicht mehr von der Hausleitung disziplinieren und wurde in eine geschlossene Heilanstalt gebracht, wo sie Jahre später dem Krankenmord zum Opfer fiel. Für die Aufstellung der Regeln und Normen für das Diakonissenhaus setzte sich der Rektor Gerhard Lohoff ein. Er regulierte in den 1920er-Jahren die Aufnahme und schrieb in der Tradition des Hauses wie der Diakonissenbewegung insgesamt körperliche, geistige und geistliche Gesundheit vor. Er nahm die Rolle des Führers des Diakonissenhauses 1934 nicht nur nominell an, sondern änderte sein Verhalten weg von einem Führungsstil, der zögerlich auch demokratische Tendenzen zuließ, hin zu einer offen autoritären Machtausübung. In einem Nachruf wurden die scharfen Trennungslinien

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zwischen dem Hausvater und den Diakonissen sichtbar, die sich an den zeitgenössischen Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen orientierten. Demnach war der Rektor der Schutzbefohlene der schutzbedürftigen Diakonissen, ein durch militärische Sozialisation gefühlskalter, doch hoch engagierter Mann. Im Aufsatz wurde mit einer Fokussierung auf die Geschlechterrollen gezeigt, wie wenig diese reflektiert wurden und doch wie viel sie auf das tatsächliche Leben von Einzelnen auswirkten. Die politischen Änderungen nach 1933 machten sich auch in den Rollenzuweisungen bemerkbar: Das Mitspracherecht von Frauen wurde im Diakonissenhaus wieder eingeschränkt, der männliche Leiter kehrte dagegen zum autoritären Führungsstil zurück. Diese Tendenzen waren auch schon im nationalkonservativen protestantischen Milieu der Weimarer Republik erkennbar. Im Mutterhaus wurden traditionelle Geschlechterrollen, im Gegensatz zu linken Milieus der 1920er-Jahre, nicht hinterfragt, wenn auch zumindest ein gewisses Mitspracherecht den Diakonissen zugebilligt wurde. Literatur Arndt, Agnes/Häberlen, Joachim/Reinecke, Christiane: Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, in: Agnes Arndt/Joachim Häberlen/Christiane Reinecke (Hg.), Vergleichen, Verflechten, Verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011, S. 11–30. Böhm, Boris/Markwardt, Hagen/Trogisch, Jürgen (Bearb.): „Nun ließe sich viel erzählen von all den Tagesereignissen …“. Kommentierte Chronik des Katharinenhofes Großhennersdorf 1934–1941, Dresden 2017. Büttner, Annett: Diakonissenanstalt Dresden 1844–2014. 170 Jahre Zuwendung leben – Dienst leisten – Zusammenarbeit gestalten, Essen 2014. Dornheim, Jutta/Greb, Ulrike: Theoretische Ansätze zur Diskussion über die Beteiligung von Krankenpflegepersonal an den Patientenmorden im Nationalsozialismus, in: Ortrun Niethammer (Hg.), Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen, Osnabrück 1996, S. 10–56. Ebbinghaus, Angelika (Hg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 1996. Frietsch, Elke/Herkommer, Christina: Nationalsozialismus und Geschlecht. Eine Einführung, in: Elke Frietsch/Christina Herkommer (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 9–48. Fuchs, Petra: Die Opfer als Gruppe. Eine kollektivbiografische Skizze auf der Basis empirischer Befunde, in: Petra Fuchs (Hg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007, S. 53–71.



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Der Weg zur Entkonfessionalisierung des evangelischen Krankenhauses Paul-Gerhardt-Stift in der Lutherstadt Wittenberg in der NS-Zeit Von Helmut Bräutigam Einführung Am 30. Oktober 1941 – am Vorabend des Reformationstages – kam es zu einer denkwürdigen Sitzung des Vorstands des Krankenhauses der evangelischen Paul-Gerhardt-Stiftung in Wittenberg (PGSt). Es ging um die Erweiterung des Krankenhauses von rund 300 auf mehr als 600 Betten. Diese zweifellos wichtige gesundheitspolitische Frage nahm aber der Wittenberger Oberbürgermeister Fritz Hofmeister zum Anlass, die Besitzverhältnisse und damit die evangelische Prägung des Krankenhauses in Frage zu stellen. Er forderte vehement den Verkauf des Krankenhauses an die Stadt Wittenberg und beschwor damit de facto das Ende einer Jahrzehnte alten evangelischen Stiftung und dessen diakonischen Engagements herauf. Für den Verkauf führte Hofmeister eine Reihe von Argumenten an. Vor allem aber drohte er seinen kirchlich-diakonischen Partnern im Vorstand: Käme der Verkauf nicht zustande, würde das den sicheren Ruin des Krankenhauses bedeuten. Im Sitzungsprotokoll wurde ausdrücklich vermerkt, mit welchem Nachdruck der Oberbürgermeister sein Plädoyer hielt: „Dabei betonte er mit großer Bestimmtheit, dass er davon ausgegangen sei, der ‚Status des P. G. St.‘ solle unter Einführung gewisser Modifikationen in der Verwaltung erhalten bleiben. Die Verhandlungen mit den Amtsstellen in Berlin und [im zuständigen Regierungspräsidium] Merseburg hätten ihn aber von diesem Ausgangspunkt abgedrängt. Das Reich lehne die Gewährung von Vorlagemitteln an das Stift ab, lehne es auch ab, die Mittel der Stadt zu geben, wenn diese sie an eine juristische Person des bürgerlichen Rechts weiterleite. […] Auf die bisher erörterte Weise, auch nicht bei Verkoppelung von Stadt und Stift in einer GmbH. könne der Erweiterungsbau nicht ausgeführt werden. Nunmehr sehe er sich nicht mehr in der Lage, die Stiftung als die Grundlage für die Erweiterung anzusehen. Er müsse aber unter allen Umständen dafür sorgen, dass die Angelegenheit weiterkomme. Nach Kriegsende würden an das Reich die denkbar größten Anforderungen für Bauten herantreten. Wer dann erst Mittel beantrage, werde nicht berücksichtigt werden können. Ihm seien die Mittel schon in gewisser Weise zugesichert worden. […] Es gebe nur zwei Möglichkeiten, von denen eine durchgeführt werde, entweder baue

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die Stadt ein eigenes Krankenhaus mit 600 oder 700 Betten, oder es komme zu der Einigung, dass die Stiftung ihr Haus an die Stadt verkaufe. Er müsse fordern, dass eine Entscheidung in kürzester Zeit erfolge. Dass unser Haus [gemeint ist das PGSt] sich neben einem großen städtischen halten könne, glaube er nicht. Er müsse auch offen erklären, dass dann die Stadt für das P. G. St. kein Interesse mehr haben werde. […] Er werde sich im Falle eines Verkaufs mit aller Energie dafür einsetzen, dass die Tradition des P. G. St. fortgesetzt werde, d. h. die Diakonieschwestern im Hause bleiben und dass die Seelsorge in der bisherigen Form erhalten wird. Er sei bereit, dies auch vertragsmäßig festzulegen. Im Laufe der Aussprache gab der Oberbürgermeister die Erklärung ab, dass er sich auch dafür einsetzen wolle, dass bei einem etwaigen Verkauf das sich ergebende Vermögen der Stiftung für die Zwecke der Inneren Mission erhalten bleibe.“1

Die Essenz seines Vortrages: Kirche und Innere Mission sollten in Wittenberg und Umgebung ihr Engagement im Krankenhauswesen aufgeben, wobei nicht einmal das durch den Verkauf des Krankenhauses erworbene Vermögen sicher gewesen wäre. Wie kam es dazu, dass diese evangelische Stiftung in der preußischen Provinz, am symbolträchtigen Geburtsort der lutherischen Reformation, gedrängt wurde, ihr Krankenhaus und damit ihren Stiftungszweck und ihre Daseinsberechtigung an eine nationalsozialistisch kontrollierte Kommune zu verkaufen? Im Folgenden soll die Entwicklung, die zur Verkaufsforderung des Oberbürgermeisters führte, nachgezeichnet werden, die etwa 1938 ihren Anfang nahm, wobei auch knapp auf die damit untrennbar verbundene Vorgeschichte seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 hinzuweisen sein wird. Geschichte und Struktur des Stiftes bis 1933 Im Jahre 1876 als Stiftung gegründet, war das Krankenhaus Paul-GerhardtStift (PGSt) 1883 in Betrieb genommen worden. Seit 1921 war es im Stadtund Landkreis Wittenberg und teilweise darüber hinaus das einzige Krankenhaus. Es nahm also für diese Region eine Alleinstellung in der allgemeinmedizinischen stationären Gesundheitsversorgung ein. Kontrolliert wurde die Stiftung durch den Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein (EKH) mit Sitz in Potsdam. Der Verein hatte im Kaiserreich „allerhöchste Protektion“ genossen, aber schon in der Weimarer Republik verlor sich seine gesellschaftliche und politische Bedeutung. Seit 1937 war Bischof i. R. Emil Karow Vorsitzender des EKH. Er war 1933/34 kurzzeitig Bischof von Berlin gewesen. Kirchenpolitisch vertrat er seit Mitte der 1930er Jahre die Reichskirchenausschusspolitik seines Vorgängers im EKH, Wilhelm Zöllner. Er war zugleich Vorstandsvorsitzender der 1  Protokoll der Vorstandssitzung des Paul-Gerhardt-Stifts (PGSt) am 30. Oktober 1941; Archiv des PGSt, Wittenberg, Ordner Vorstandsprotokolle, 1940–1948.



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PGSt. Der EKH besaß satzungsgemäß das Recht, die Wahl der einzelnen Mitglieder im PGSt-Vorstand zu bestätigen und damit zu steuern. Somit war er in der Lage, als Garant der kirchlichen Bindung des Krankenhauses auf­ zutreten. Mit dem EKH verbunden war auch das das Krankenhaus pflegerisch betreuende Diakonissenhaus der „Frauenhilfe fürs Ausland“ (FfA). 1909 in Münster gegründet, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, zur Bewahrung ihrer evangelischen und nationalen Identität deutsche Auswanderergemeinden vor allem in Brasilien mit Diakonissen aus Deutschland zu versorgen. Im PGSt befand sich auch die Krankenpflegeschule der FfA. Karow hatte auch hier den Vorstandsvorsitz inne. PGSt und FfA waren rechtlich unabhängig voneinander, hatten jeweils eine eigene Satzung und einen eigenen Vorstand. Verbunden waren sie über den EKH als gemeinsamen Verwaltungsträger und über die partielle Personalunion in den Vorstands- und Leitungsstrukturen. Die Personalunion in den Spitzenpositionen von Vorstand und Krankenhausleitung sollte die gemeinsame Ausrichtung sicherstellen. Mutterhausvorsteher und Oberin waren Mitglieder in Vorstand und Hausvorstand des Krankenhauses. Der Geschäftsführer des Krankenhauses war als zweiter Geistlicher dem Mutterhausvorsteher unterstellt. Der Vorstand des Krankenhauses setzte sich seit 1918 aus Vertretern von drei mehr oder weniger voneinander zu scheidenden, sich in ihren Einstellungen und Interessen aber vielfach auch überschneidenden Gruppen zusammen: Vertreter der verfassten Kirche und des Verbandsprotestantismus (leitende Kirchenpersönlichkeiten wie Generalsuperintendenten und Superintendenten, Vertreter des EKH und des Diakonissenmutterhauses der FfA), Vertreter des medizinisch-pflegerischen Bereichs im Krankenhaus (leitende Ärzte, Oberschwester), Vertreter öffentlicher Körperschaften (Stadt, Kreis, auch Industrie und Krankenkassen). Ferner gehörten dem Vorstand noch einige regionale Honoratioren an. Den Vorsitz hatten hochrangige kirchliche Würdenträger inne – bis 1934 war dies der ehemalige Generalsuperintendent in der Kirchenprovinz Sachsen, Hans Schöttler, nach einem Interim ab 1936 Emil Karow (bis 1945). Stellvertreter des Vorsitzenden war traditioneller Weise der Oberbürgermeister von Wittenberg. Während des Dritten Reiches erlebte das PGSt grundlegende Änderungen in Struktur und Organisation. Es lassen sich zwei Phasen abgrenzen: Die erste Phase (bis ca. 1938/39) war einerseits von dem Versuch der Nationalsozialisten bestimmt, über die Gremien der Stiftung Einfluss auf das Krankenhaus zu gewinnen, diese Gremien gewissermaßen gleichzuschalten, ohne sie durch andere Strukturen zu ersetzen. Zum anderen bemühte sich die kirchlich-diakonische Seite im Vorstand, die evangelische Ausrichtung des Krankenhauses zu erhalten, zugleich aber mit den Nationalsozialisten, deren Re-

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gime grundsätzlich begrüßt worden war, zusammenzuarbeiten. Diese erste Phase endete mit dem Zusammenbruch des Diakonissenhauses und dessen Fortzug aus Wittenberg. Die zweite Phase fällt zeitlich im Wesentlichen mit der Kriegszeit zusammen, reicht aber bis ins Jahr 1938 zurück. Sie ist vor allem gekennzeichnet durch die Bemühungen der nationalsozialistischen Stadtverwaltung, das Krankenhaus entweder auszuschalten (und damit die es tragende evangelische Stiftung) oder es in ihren Besitz zu überführen. Das Stift im Nationalsozialismus bis 1938/39 Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten fand bei den kirchlichdiakonischen Vertretern im Vorstand des PGSt besonders anfangs zeitweise enthusiastischen Beifall.2 Dennoch ist bei aller Begeisterung unverkennbar, dass die Neujustierung der kommunalen Machtverhältnisse und ihre Auswirkungen auf das PGSt auch mit einer gewissen Reserve beobachtet wurde, zumal die neuen Kräfte bald schon auf Mitsprache drängten und Forderungen erhoben. Die kirchlich-diakonische Fraktion und der sie tragende EKH bemühten sich, den kirchlichen Einfluss als bestimmende Kraft zu sichern. Das war evangelische Interessenvertretung, keine politische Opposition. Die bald einsetzenden, wechselhaften Auseinandersetzungen in Kirche und Innerer Mission, die zwischen Gleichschaltung, Anbiederung und Abwehr bekenntnisfremder Strukturen und Glaubensinterpretationen oszillierte, hinterließen auch innerhalb des PGSt-Vorstandes Spuren. Zunächst dominierten klar die Deutschen Christen im Vorstand. Aber die Hoffnung der Schwesternschaft, als „Reichsdiakonissenhaus für das Ausland“ unter Schirmherrschaft des neuen Reichsbischofs Ludwig Müller zu reüssieren, musste bald begraben werden. Im Jahre 1934 schieden der deutschchristliche Vorstandsvorsitzende und der ebenso orientierte Geschäftsführer des Krankenhauses im Streit aus. Sie machten Leuten der kirchlichen Mitte Platz, erst recht, als der EKH-Vorsitzende Zöllner 1935 zum Vorsitzenden des Reichskirchenausschusses ernannt worden war. Mutterhausvorsteher Martin Stosch und Oberin Bertha Dahm fühlten sich der Bekennenden Kirche nahe, praktizierten aber de facto einen Neutralitätskurs; auch mit Rücksicht auf unterschiedliche kirchenpolitische Orientierungen innerhalb der Schwesternschaft. Die politischen Verhältnisse in Wittenberg blieben in Bewegung. Innerhalb von sechs Jahren wechselten fast in Jahresfolge die Oberbürgermeister. Im April 1933 verdrängte Werner Faber, ein radikaler „alter Kämpfer“ der Natio­nalsozialisten, den bisherigen deutschnationalen Amtsinhaber. Im Som2  Zum Folgenden siehe ausführlich Helmut Bräutigam, Heilen und Unheil. Zur Geschichte des Paul-Gerhardt-Stifts zwischen 1918 und 1945, Wittenberg 2017. Dort Hinweise auf ältere Literatur und weitere Quellen.



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mer 1934 folgte für knapp ein Jahr ein junger Jurist, Hans-Herbert Dengler, der aber schon im Juni 1935 von Otto Rasch abgelöst wurde. Dieser verließ Wittenberg ein Jahr später, um bald bei der SS Karriere zu machen. Als Befehlshaber der SS-Einsatzgruppe C ließ er – unter anderem – 1941 in Babi Jar mehr als 33.000 Juden ermorden. Kommissarisch übernahm auf einige Monate der Landrat des Landkreises Wittenberg, Otto Holtz, die Geschäfte des Oberbürgermeisters, bis 1937 mit Theodor Habicht ein regulärer Nachfolger gefunden war. Dieser war zuvor in die terroristischen Aktivitäten der österreichischen Nationalsozialisten verwickelt gewesen. 1939 schließlich übernahm der vormalige Erste Bürgermeister von Tangermünde, Fritz Hofmeister, das Amt, das er dann bis Kriegsende innehaben sollte. Den neuen Machtverhältnissen kam man im Krankenhaus und in der Schwesternschaft durch eine Reihe von Anpassungsleistungen entgegen. Das betraf einmal die Anwendung des „Arierparagraphen“. Dies zeigte sich zunächst und folgenreich in der Kündigung des langjährigen Chefarztes und Chirurgen Paul Bosse, der zwar selbst nicht Jude war, aber mit einer evangelischen Christin jüdischer Herkunft verheiratet war. Bosse, bereits im Dezember 1933 gekündigt, musste Ende 1935 das PGSt verlassen. Er eröffnete eine Privatklinik, die sich auf Geburtshilfe spezialisiert hatte und trotz vielfältiger Schikane einen hohen Zuspruch bei der Wittenberger Bevölkerung genoss. Im Juli 1944 wurde fast die gesamte Familie Bosse von der Gestapo verhaftet, die Ehefrau im KZ Ravensbrück ermordet, die Klinik vom Oberbürgermeister beschlagnahmt und in die Verwaltung des PGSt gegeben.3 Eine weitere Anpassung an das NS-Regime stellt die Praxis der Zwangssterilisation von Männern nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses dar. Im Frühjahr 1934 erklärte sich das Krankenhaus dazu bereit, obwohl es als konfessionelles Haus nicht dazu verpflichtet gewesen wäre. Im August 1934 erfolgten die ersten der bis April 1945 insgesamt knapp 300 durchgeführten Zwangssterilisierungen.4 Das Bewerbungsverfahren für die Nachfolge des Leiters der chirurgischen und geburtshilflichen Abteilung bot den Nationalsozialisten die Chance, wesentlich Einfluss auf die Geschäfte des Krankenhauses zu nehmen. 1936 folgte auf Bosse der Potsdamer Arzt Fritz Korth, seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit 1938 auch der SS. Die Quellen deuten darauf hin, dass Korth Wunschkandidat der nationalsozialistischen Stadtverwaltung war, während im Vorstand einige der kirchlich-diakonischen Seite – nicht unberechtigt, wie sich zeigen sollte – Zweifel an dessen evangelischer Gesinnung hegten. 3  Siehe dazu nun auch Hans-Jürgen Grabbe, Verleumdet. Verfolgt. Vertrieben. Der Wittenberger Arzt Paul Bosse und seine Familie 1900 –1949, Halle 2019. 4  Operationsbücher 1935 –1945; Ordner 1–3 „Sterilisierung“ in: Archiv des PaulGerhart-Stifts, Wittenberg. Vgl. Bräutigam, Heilen und Unheil, S. 80 ff. und S. 143 f.

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Trotzdem entschied sich der Vorstand für den Kandidaten, der von der nationalsozialistischen Stadtverwaltung bevorzugt wurde. Aufgrund des anhaltenden Bevölkerungswachstums in der Region beschloss der Vorstand, das Krankenhaus zu modernisieren und zu erweitern. 1937/38 stieg seine Kapazität von rund 200 auf nun mehr als 300 Betten. Das brachte folgenreiche Veränderungen mit sich. Unter die vergrößerte Ärzteschaft mischten sich nunmehr auch mehrere SS-Mitglieder. Die Verschuldung des Krankenhauses engte seinen Spielraum ein. Vor allem aber war das Diakonissenhaus – zerrissen zwischen seiner überseeischen Zweckbestimmung und der pflegerischen Betreuung des Krankenhauses – nicht mehr in der Lage, das zum Betrieb erforderliche Personal zu stellen. Von inneren Streitigkeiten zermürbt verließen viele Schwestern das Mutterhaus. Diese Schwäche nutzte die nationalsozialistische Stadtverwaltung unter Theodor Habicht, um nun im Krankenhaus wesentliche Änderungen durchzusetzen. Vorsteher Stosch und Oberin Dahm verloren aufgrund eines Vorstandsbeschlusses 1939 ihren Sitz in der Krankenhausleitung. Der damalige Geschäftsführer des Krankenhauses, Bekenntnispfarrer Gottholt Gocht, sondierte zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden Bischof Karow, wer die Schwestern des Diakonissenhauses ersetzen könnte, ohne die evangelische Prägung aufgeben zu müssen. Sie fanden die Alternative im Evangelischen Diakonieverein (EvDV) aus Berlin-Zehlendorf; einem Haus, das damals eher zur deutschchristlichen Seite gerechnet wurde.5 Die für Wittenberg bestimm­te leitende Schwester jedenfalls, Hanna von Hanffstengel, war seit 1934 Mitglied der NS-Frauenschaft, seit 1937 der NSDAP.6 Zum 1. Oktober 1939 übernahm der Diakonieverein die Pflege im Krankenhaus; im Frühjahr 1940 verzogen die letzten Diakonissen der FfA nach Großburgwedel bei Hannover, wo sie in der Pestalozzi-Stiftung unterkamen und in der Region in mehreren Krankenhäusern ihren Dienst versahen. Geschwächt durch Austritte und innere Streitigkeiten sowie durch den kriegsbedingten Verlust der Verbindungen nach Übersee kam es nach dem Krieg zur Auflösung der Gemeinschaft. Ihre Schwestern wurden ins Kaiserswerther Diakonissenmutterhaus integriert. Kirchenkampfpolitische Motive lassen sich für den Wechsel der Schwesternschaften nicht nachweisen. Entscheidend dürfte auf Seiten der kirchlich5  Zur Geschichte des EvDV siehe: Liselotte Katscher, Krankenpflege und „Drittes Reich“. Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins 1933– 1939, 2. Aufl., Reutlingen 1994; dies., Krankenpflege und Zweiter Weltkrieg, 1939– 1944, Stuttgart 1992; dies., Krankenpflege und das Jahr 1945, Reutlingen 1993. 6  Zu Hanffstengel: Personalakte im Archiv des Evangelischen Diakonievereins Berlin, Landesarchiv Berlin (LAB) C Rep. 031–02–19, Nr. 32; LAB C Rep 375–01– 08 Nr. 8467 A.02.



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diakonischen Vertreter des PGSt-Vorstands eher der Wille gewesen zu sein, überhaupt eine evangelische Schwesternschaft im Haus halten zu können. So hatte es die Oberin des Evangelischen Diakonievereins intern und vertraulich gegenüber ihren Bezirksoberinnen begründet: „Sagen wir jetzt nicht zu, so würde das Krankenhaus sich Reichsbund-Schwestern nehmen müssen oder auch NS-Schwestern, und das bisher von evangelischer Seite versorgte Haus in der Lutherstadt Wittenberg würde nicht mehr in evangelischer Betreuung bleiben.“7 Erosion der kirchlich-diakonischen Bindung des Paul-Gerhardt-Stifts 1938–1942 Das mit rund 300 Betten ausgestattete Paul-Gerhardt-Stift erlebte kriegsbedingt eine Ausweitung der Arbeit. 1943 arbeiteten ungefähr 200 Personen im PGSt, davon etwa zehn Ärzte. Die meisten Beschäftigten waren Schwestern und Hilfskräfte. Die Bettenzahl stieg auf rund 500 im Jahr 1943 und 800 bei Kriegsende. In die Zahlen eingerechnet sind auch die Betten der Hilfs­ kliniken, kriegsbedingten Provisorien. Eine dieser Hilfskliniken war seit Juli 1944 die auf Anordnung des Oberbürgermeisters beschlagnahmte BosseKlinik.8 Auf dem Gelände des PGSt wurde ein großer Operationsbunker errichtet. Die Fluktuation unter den Ärzten stieg wegen der Einziehungen zur Wehrmacht. Man suchte und fand Ersatz, indem man vermehrt weibliche und ausländische Ärzte anstellte. 1940 stellte sich die Situation im Krankenhaus wie folgt dar: 1. Die bis dahin als unlösbar gedachte Verbindung zweier evangelischer Einrichtungen, von PGSt und FfA, war aufgelöst. Die jahrzehntealte, enge personelle und organische Verbindung zwischen beiden ging verloren. Die Kooperation zwischen PGSt und EvDV hingegen war – wenigstens in der NS-Zeit  – vor allem rechtlicher, aber nicht „symbiotischer“ Art. Sie konnte prinzipiell so einfach aufgelöst werden wie sie geschlossen war: mit einem Federstrich. Der Vertrag sah eine vierteljährliche Kündigung vor. 2.  Bereits durch die Entmachtung von Stosch und Dahm im Februar 1939 waren bislang von Geistlichen besetzte Schlüsselpositionen im Krankenhaus aufgegeben worden. Sie wurden später nicht wiederbesetzt. Mit dem Ausscheiden des Bekenntnispfarrers Gocht aus seinem Amt im Oktober 1940 ging auch in der Geschäftsführung das geistliche Element verloren.9 An seine 7  Persönliches und vertrauliches Rundschreiben der EvDV-Oberin von Scheven an die Bezirksoberinnen, 8. August 1939; Archiv des Ev. Diakonievereins, H 306. 8  Siehe Bräutigam, Heilen und Unheil, S. 100 ff., 217 –221. 9  Gocht erhielt eine Pfarrstelle in Wittenberg, deren Recht zur Besetzung tradi­ tioneller Weise die Stadt Wittenberg hatte. Stadtarchiv Wittenberg, Nr. 3796.

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Stelle trat ein Kaufmann. Vergleichbares gilt für den Vorstand. Mutterhausvorsteher, Oberin und der zweite Geistliche fehlten nun. An ihre Stelle trat – als Gast – lediglich Oberin von Hanffstengel. Im Vorstand wurde den Verbandsschwestern ein ähnlicher Einfluss, wie ihn das Diakonissenhaus hatte, nicht eingeräumt. 3.  Wegen des Kriegszustandes kamen zahlreiche kriegsbedingte neue Aufgaben zum Krankenhaus. Dazu gehörte die Bewirtschaftung der von der Stadtverwaltung eingerichteten sogenannten Hilfskrankenhäuser. Die weitere Entwicklung, die das PGSt nahm, ist auch im Zusammenhang mit den damaligen Bemühungen des Oberbürgermeisters Hofmeister zu sehen, die in Wittenberg ansässigen drei anderen kirchlich-diakonischen Stiftungen mit sozialer oder medizinischer Zwecksetzung in seine Hand zu bekommen.10 Bei dieser Linie war es nur konsequent, dass Hofmeister auch zur größten und bedeutendsten kirchlich-diakonischen Einrichtung in Wittenberg, zum PGSt, eine neue Verhältnisbestimmung anstrebte. Im Rückblick (und in sich selbst exkulpierender Absicht) konstatierte der Arzt Fritz Korth 1947 vor einem Entnazifizierungsausschuss: „Es war das Bestreben der Parteidienststelle aus diesem karitativen Krankenhaus ein Städt.- oder Kreiskrankenhaus zu machen. (Der frühere Oberbürgermeister Hofmeister hatte mir in persönlicher Rücksprache den Posten als Direktor dieses von ihm angestrebten städt.- oder Kreiskrankenhaus[es] angeboten, was ich aber strikt abgelehnt habe.)“11 Der Hebel zur Übernahme des PGSt waren Pläne zum Bau eines neuen Krankenhauses in öffentlicher Regie. 1938 stellte der Regierungspräsident in Merseburg zusammen mit Landrat Otto Holtz Überlegungen an, ein solches Haus zu errichten.12 Man war dort seit etwa Mitte 1938 zur Überzeugung gekommen, dass trotz der laufenden Erweiterungsarbeiten am PGSt ein zusätzliches Krankenhaus benötigt werden würde. Noch im Jahr zuvor war Holtz anderer Meinung gewesen.13 Nun aber wurde der Bettenbedarf für die 10  Wolfgang Böhmer, Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und Sozialwesens, Teil IV: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wittenberg 1988, S. 41–44. 11  Fritz Korth [z. Hd. des Entnazifizierungsausschusses in Kiel], 23. Oktober 1947, Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv, Abt. 460.19, Nr. 187. Vgl. die Einschätzung der Oberin Dahm 1939: „…ich werde die Sorge nicht los, dass er das Haus städtisch machen will.“ Oberin Dahm an Schw. Sophie Zink, 26. April 1939, Archiv der Fliedner-Kulturstiftung, Schw. 2800 III. 12  Regierungspräsident in Merseburg an Reichsinnenministerium des Innern [RMdI], 23. Januar 1939 (Konzept vom 18. Januar 1939, am 23. Januar), Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abt. Merseburg (LASA Mers), C 48 Ii 684. 13  Der Vorsitzende des Kreisausschuss an den Regierungspräsidenten in Merseburg, 28. Februar 1937, Archiv des PGSt, A-Bestand, 1937.



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Region neu berechnet. Hielt man 1936/37 noch ein Krankenhaus mit einer Kapazität von rund 300 Betten für Stadt und Kreis für ausreichend, so ging man nun von einem etwa doppelt so hohen Bedarf aus. Ende 1938 legte Landrat Holtz dem Regierungspräsidenten in Merseburg ein Konzept zur Errichtung eines Kreiskrankenhauses vor, dass die Industrie seines Bezirks in die Finanzierung einband. Die Pläne würden auch Folgen im Verhältnis zur Stadt Wittenberg und zum PGSt haben, denn der Landkreis „wird im Übrigen diesen Krankenhausbau als Kreiskrankenhaus ohne Beteiligung und ohne die Mittel der Stadt Wittenberg ausführen. Soweit er bis jetzt noch verwaltungsmäßig und finanziell mit der Stadt zusammen an dem bestehenden Paul-Gerhardt-Stift beteiligt ist, beabsichtigt er, diese Beteiligung zugunsten der Stadt Wittenberg aufzugeben.“14 Die Überlegungen scheiterten zunächst an der Finanzierung.15 Aber das PGSt musste zu den neuen Krankenhausplanungen Position beziehen. Unterdessen hatte sich der neu ins Amt berufene Oberbürgermeister Fritz Hofmeister mit dem Landrat in der Krankenhausfrage auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Im Herbst 1940 ließ der Landrat mitteilen, auf den Bau eines eigenen Krankenhauses verzichten zu wollen, um sich stattdessen an der Finanzierung der PGSt-Erweiterung zu beteiligen – unter einer Bedingung: „Wenn der Kreis [in] dem Paul-Gerhardt-Stift einen ihm gebührenden Einfluss bekäme, wäre er bereit, auf die Ausführung des Baues des Kreiskrankenhauses zu verzichten und sich dafür einzusetzen, dass die dem Kreis vom Reich zugesagten Mittel dem Paul-Gerhardt-Stift zur Verfügung gestellt werden.“16 In der Vorstandssitzung am 17. Februar 1941 erklärte sich der Vorstand bereit, die Kapazität des PGSt von rund 300 auf 600 Betten zu verdoppeln. Zwar war Karow in die Planungen eingebunden gewesen, aber die Initiative lag nun ganz beim Oberbürgermeister. Hofmeister führte den Vorstandsmitgliedern die Sachlage vor Augen: „Es ist bekannt und ergibt sich aus den rechnerischen Unterlagen, dass das Paul Gerhardt-Stift über keine Rücklagen verfügt und insofern nicht liquide ist.“17 Er ergänzte, dass eine Konkurrenzsituation mit einem zweiten, öffentlich 14  Der Landrat an den Regierungspräsidenten in Merseburg, 21. Dezember 1938, betr.: Errichtung eines Kreiskrankenhauses. Verfügung vom 20. Oktober 1938 WM 10/M Nr. 523/38g, LASA Mers, C 48 Ii 684. 15  RMdI an den Regierungspräsidenten in Merseburg, 27. Februar 1939, LASA Mers, C 48 Ii 684. 16  Besprechung der Krankenhausleitung mit Bischof Karow, 14. November 1940, Archiv des PGSt, A-Bestand. 17  Protokoll über die Vorstandssitzung des PGSt, 17. Februar 1941, Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle.

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geförderten Krankenhaus die Existenz des PGSt in Frage stellen würde. Zwar behauptete er, die Rechte der Stiftung bewahren zu wollen, aber es wurde klar, dass die Stadt einen größeren Einfluss beanspruchen wollte, den zu bestimmen in der Hand übergeordneter Behörden läge. Mit denen müsse geklärt werden, „inwieweit nunmehr bei der Vergrößerung der Anlagen die Einschaltung der Stadt Wittenberg in die Verwaltung des größeren Krankenhauses betrieben werden soll. Auf entsprechende Anfrage wurde erklärt, dass seitens der Stadt nicht beabsichtigt ist, das Krankenhaus allein zu übernehmen, sondern dass die bisherigen Rechte der Stiftung gewahrt bleiben sollen.“18 Die Kosten für die Erweiterung wurden auf rund zwei Millionen Reichsmark geschätzt. Die Finanzierung musste im Wesentlichen durch Fremdmittel aufgebracht werden, vor allem durch öffentliche Beihilfen. Trotz einiger Bedenken seitens des kirchlichen Flügels einigte man sich, sich den vermeintlichen Sachzwängen beugend, „einstimmig“ der erneuten Erweiterung des Krankenhauses. Dass auf derselben Sitzung mit der Stadt ein Vertrag zum Betrieb von Hilfskliniken außerhalb des Klinikgeländes beschlossen wurde, passte in das Gesamtbild einer engeren Einbindung des PGSt in die Stadtverwaltung. Eine Woche später, am 25. Februar 1941, gaben das für die Finanzierung zuständige Reichsarbeitsministerium [RAM] und der Regierungspräsident grünes Licht für Vorarbeiten zur Krankenhauserweiterung. Aber nun war plötzlich von Baukosten in Höhe von knapp 4,3 Millionen RM die Rede.19 Am 5. März 1941, wurde Bischof Karow von Hofmeister ins Bild gesetzt. Bei diesen finanziellen Dimensionen sei die Existenz der Stiftung selbst in Frage gestellt: „Der Vertreter des Arbeitsministeriums, Herr Baurat Bischof, Assessor Appel, Herr Schäfer und Frau Oberin Ran[c]ke20 sind mit der Absicht nach Wittenberg gekommen, der Stiftung ein Ende zu bereiten. Als Begründung wurde angegeben: Die Stiftung hat ein zu grosses Vermögen, ihre Tätigkeit wäre zu umfangreich geworden und schränke die staat­lichen Stellen dadurch auf dem Gebiete der Gesundheitspflege zu sehr ein. Das könnte ein Grund sein, die Stiftung auf dem Verwaltungswege aufzuheben.“21 18  Ebd.

19  Vermerk über eine Besprechung zwischen Vertretern des RAM und des Regierungspräsidenten, dem Landrat Holtz, dem Oberbürgermeister Hofmeister, zwei weiteren Amtsträgern und den beiden Chefärzten des PGSt, Wachs und Korth am 25. Februar 1941, Archiv des PGSt, A-Bestand. 20  Gemeint ist Hildegard Rancke, eine ehemalige Oberin des EvDV, die seit 1936 Generaloberin des Reichsbunds der freien Schwestern und Pflegerinnen war, eines Verbandes, der zum NSV gehörte. 21  Niederschrift der Mitteilung des Vorsitzenden Bischof Karow über seine Besprechung mit Oberbürgermeister Hofmeister am 5. März 1941, Archiv des PGSt, A-Bestand, 1941.



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Hofmeister führte unter Hinweis auf die mehr als verdoppelte Kostenschätzung weiter aus, dass das Reich als Hauptfinanzier Gelder in solcher Höhe nicht einer privaten Stiftung, sondern nur einer staatlichen oder kommunalen Institution zur Verfügung stellen würde. Damit seien einschneidende Änderungen der Rechtsform zwingend geboten: „Gedacht ist an die Einrichtung einer GmbH. Das Paul Gerhardt-Stift soll aber als Stiftung erhalten bleiben, das Einflussverhältnis müsste aber zu Gunsten der Stadt verschoben werden. An den Charakter des Stiftes als evangelische Anstalt solle nichts geändert werden, die Gottesdienste sollten bestehen bleiben und auch fernerhin eine evangelische Schwesternschaft Dienst tun.“22

Innerhalb von drei Wochen hatte sich das Szenario der projektierten Krankenhauserweiterung völlig verändert. Die künftige Marginalisierung der evangelischen Stiftung in der Verwaltung des Krankenhauses wurde konkret, darüber hinaus wurde damit gedroht, von Staats wegen die Stiftung als solche aufzulösen. Doch es blieb nicht bei dieser Volte. Im Sommer 1941, wohl den bevorstehenden „Endsieg“ im Krieg vor Augen, forderte Oberbürgermeister Hofmeister nun den Verkauf des Krankenhauses an die Stadt Wittenberg. Von einer Kooperation mit der evangelischen Stiftung war nicht mehr die Rede. Der Vorstand müsse sich entscheiden, „und zwar bald, ob er in Verbindung mit der Stadt treten wollte gegen Auszahlung der Summe. Dass nach dem Kriege eine Krankenhausbesitzregelung erfolgen würde, wäre kein Zweifel.“23 Um seiner Forderung nach Verkauf des Krankenhauses Nachdruck zu verleihen, suchte Hofmeister unmittelbar vor der entscheidenden Vorstandssitzung die Unterstützung des Regierungspräsidenten und der Reichsbehörden. Dabei machte er klar, dass die Weiterexistenz des Krankenhauses im kirchlich-diakonischen Besitz nicht mehr in Frage komme: „Der Obm. [Oberbürgermeister] setzt sich nach wie vor für die Erweiterung des Paul-Gerhardt-Stifts ein und macht jetzt insbesondere geltend, dass in Verbindung mit dem Paul-Gerhardt-Stift ein Operationsbunker und ein Hochbunker für ca. 300–400 Kranke mit einem Kostenaufwand von 1 ½ bis 2 Millionen RM erbaut würde. Es sei deshalb unwirtschaftlich, das Paul-Gerhardt-Stift nicht zu erweitern. […] Falls eine Erweiterung des Paul-Gerhardt-Stifts nicht zugelassen wird, will der Obm. selbst auf Stadtgebiet ein Krankenhaus von ca. 600 Betten errichten. […] Dies würde aber den Ruin des Paul-Gerhardt-Stiftes bedeuten. Der Obm. steht deshalb mit dem Vorstand des Paul-Gerhardt-Stiftes, dessen stellv. Vorsitzender er ist, in Verhandlungen wegen Übernahme des Paul-Gerhardt-Stiftes in die Stadt. […] Der Obm. bittet, dass, wenn der Vorstand des Paul-Gerhardt-Stifts den Erwerb 22  Ebd.

23  Vermerk, ungezeichnet [nachträglich hinzugefügt: Wolfgang Wachs], 25. Juli 1941; Archiv des PGSt, A-Bestand.

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des Krankenhauses durch die Stadt ablehnt, die Aufsichtsbehörde beim RMdI. [Reichsministerium des Innern] vorstellig wird dahin, dass über das Kirchenministerium auf die kirchlichen Stellen im Interesse eines Verkaufs eingewirkt wird.“24

Zwei Tage später, am 30. Oktober 1941 kam es zur eingangs zitierten Vorstandssitzung, auf der Hofmeister wortreich und entschieden den Verkauf des Krankenhauses an die Stadt, also die Ausschaltung der evangelischen PaulGerhardt-Stiftung im Krankenhaus forderte. Es sei, behauptete er, „1 Minute vor 12“.25 Doch war die kirchlich-diakonische Fraktion bislang die getriebene Seite, so wehrte sie sich nun gegen den geforderten Verkauf des Krankenhauses. Denn der Verkauf hätte für die Stiftung existenziell bedeutsame Folgen gehabt: 1. Der Stiftungszweck wäre entfallen; damit im Grunde aber auch die Existenzberechtigung der Stiftung selbst. 2. Auf das nunmehr stark angewachsene Vermögen der Stiftung hätten auch weiterhin Stadt und Landkreis Einfluss ausgeübt, da beide Instanzen ja weiterhin im Vorstand vertreten gewesen wären. Das war Bischof Karow bewusst. Als Vorsitzender war es seine Aufgabe, die Sitzung zu eröffnen. Er tat es ausdrücklich mit Bezug auf den folgenden Tag, den Reformationstag. So erinnerte er an den Bekenntnismut und die Standhaftigkeit Martin Luthers, der am 31. Oktober 1517 der Überlieferung nach seine Thesen an die Wittenberger Schlosskirche genagelt hatte: „Am 30. Oktober sei in einer Mönchszelle in Wittenberg ein Kampf von weltgeschichtlicher Bedeutung durchgekämpft worden. Das Ereignis des folgenden Tages haben die Augen der ganzen Welt auf Wittenberg gerichtet. Durch seine Auswirkungen seien alle Lebensgebiete, in erster Linie das kirchliche, aber auch das natio­ nale und soziale in ihren Tiefen berührt und umgestaltet worden. Die bewegenden Kräfte einer neuen Zeit sind durch Gottes Geist geboren in dem Herzen und Gewissen Martin Luthers. Wir tun gut, uns in dieser ernsten Zeit und angesichts des Ernstes unserer heutigen Beratungen seine Gestalt deutlich vor die Augen zu stellen. Gott helfe uns, dass wir uns bewähren als evangelische Christen und deutsche Menschen.“26

Karows Reformationspathos appellierte an einen unentschiedenen und wan­ kenden Vorstand. Nachdem der Oberbürgermeister seine Position vorgebracht hatte, erwiderte Karow: 24  Vermerk, Regierungspräsident, I K 1 – 2805/41/I H/I M, über die Besprechung bei dem Oberbürgermeister in Wittenberg vom 28. Oktober 1941 über den Krankenhausneubau, 31. Oktober 1941, LASA Mers, C 48 Ii/745. 25  Protokoll der Vorstandssitzung PGSt, 30. Oktober 1941, Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle. 26  Ebd.



Entkonfessionalisierung des Krankenhauses Paul-Gerhardt-Stift241 „Bei der völligen Unübersehbarkeit der Lage nach Kriegsende und bei der Ungewissheit, ob Pläne, die jetzt vorbereitet werden, auch durchgeführt werden können, erscheine es ausreichend, jetzt dem P. G. St. eine größere, dem Bedarf entsprechende Leistungsfähigkeit zu geben (chirurgische Kinderstation und gynäkologische Station), das Reich werde nicht Mittel geben, um neben dem P. G. St. ein unnötig großes Haus zu errichten. Dem Wunsch der Stadt, auf die Verwaltung einen größeren Einfluss zu gewinnen, lasse sich durch ihre stärkere Vertretung im Vorstand genügen. Schrittweise Entwicklung. Jetziger Zeitpunkt sei ungeeignet. Auch wenn die Stadt baue, werde die Konkurrenz sich nicht als schädlich erweisen. Nach dem Endsiege werde Wittenberg so wachsen, dass ein Haus mit 600 Betten nicht aus­ reiche, sondern unser Haus neben sich gut ertragen könne. Mit dem Verkauf des Hauses verliere die Stiftung ihren Zweck, werde der Auflösung verfallen. Wer könne wissen, was dann aus ihrem Vermögen werde?“27

Karow sprangen die alten, schon in den 1920er Jahren dem Vorstand an­ gehörenden Mitglieder Wilhelm Quack und Justitiar Friedrich Enger bei. Die Ärzte hingegen, aber auch andere Vorstandsmitglieder bezweifelten die Überlebensfähigkeit des PGSt gegen ein städtisches 600-Betten-Haus. In dieser kritischen Situation schlug Quack vor, die Entscheidung zu vertagen, um den „alten“, kirchlich gestimmten Mitgliedern des Vorstands Gelegenheit zu geben, sich noch einmal zu beraten. Hofmeister, der die unentschiedene Lage erkannte, erklärte sich mit dem Vorschlag einverstanden. Vielleicht setzte er auf den erbetenen staatlichen Druck, vielleicht wollte er eine Kampfabstimmung mit zweifelhaftem Ausgang vermeiden. Es kam nicht zum Verkauf – eine herbe Niederlage für Hofmeister. Ein formeller Vorstandsbeschluss liegt nicht vor, aber die Ablehnung ist indirekt überliefert. So erklärte Hofmeister in anderem Zusammenhang Anfang 1942: „Er müsse auch nach der Ablehnung des Kaufangebotes bezüglich des PaulGerhardt-Stiftes den Eindruck gewinnen, dass das Stift danach strebe, mit der Zeit auf eine Zusammenarbeit mit der Stadt zu verzichten.“28 Abschluss der Entkonfessionalisierung bis zum Kriegsende Der Verkauf des Krankenhauses war einstweilen vom Tisch und sollte – soweit die Quellen hierzu Auskunft geben  – bis Kriegsende nicht mehr thematisiert werden. Das bedeutete aber nicht, dass Hofmeister sein Interesse an der Übernahme des Krankenhauses verloren hätte. Im April 1942 „regte“ der Regierungspräsident in Merseburg „an“, „während der Zeit des Krieges ein Vorstandsmitglied des Paul-Gerhardt-Stiftes, das in Wittenberg wohnhaft ist, mit der verwaltungsmäßigen Geschäftsführung zu 27  Protokoll über die Vorstandssitzung am 19. Januar 1942; Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle. 28  Ebd.

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beauftragen, denn während des Krieges trete das Bedürfnis, schnell eine Entscheidung zu treffen, oft an die Verwaltung heran. Wenn der Vorsitzende nicht in Wittenberg selbst wohne, so seien unliebsame Verzögerungen und gelegentlich auch Reibungen mit anderen Amtsstellen zu befürchten.“29 Der Vorschlag zielte klar auf die Ausschaltung des unliebsamen Karow zugunsten des stellvertretenden Vorsitzenden, Oberbürgermeister Hofmeister. Karow gelang es zunächst, einen endgültigen Beschluss darüber zu verhindern.30 Doch drei Monate später, am 25. August 1942, wählte der Vorstand der Stiftung Hofmeister zu ihrem „geschäftsführenden Vorsitzenden“ und damit des Krankenhauses. Die verwaltungsmäßige Leitung des Paul-Gerhardt-Stiftes wurde, „soweit es sich um den alltäglichen Betrieb und um nicht aufschiebbare Entscheidungen, auch in Personalfragen, handelt“, auf ein in Wittenberg wohnendes geschäftsführendes Vorstandsmitglied übertragen. Hierzu gewählt wurde der Oberbürgermeister. Alle wichtigen Eingänge seien ihm zur Kenntnisnahme vorzulegen. Dessen nun weitreichende Rechte wurden vage beschränkt, wenn es hieß: „Im Rahmen dieser Regelung bleiben die Bestimmungen der Satzung in Kraft. Insbesondere bleibt der Vorstand mit dem Vorsitzenden des Vorstands als Organ der Stiftung bestehen. Das geschäftsführende Vorstandsmitglied hat dem Vorstand halbjährlich über die Geschäftsführung Bericht zu erstatten und hat ferner in allen besonders wichtigen Entscheidungen die Zustimmung des Vorsitzenden des Vorstandes bzw. des Vorstandes einzuholen. Die Finanzverwaltung bleibt unter der Aufsicht des bisherigen Finanzleiters.“31 Damit hatte die Stadt Wittenberg trotz dieser Reservatsrechte die Kontrolle über das Krankenhaus übernommen. Das Kollegialprinzip war durch das Führerprinzip abgelöst – wenn auch dem Wortlaut nach nur für das operative Geschäft und zeitlich befristet. Zu dieser Machtübernahme passte, dass im Monat zuvor Chefarzt Korth aus der Kirche ausgetreten war. Auf derselben Sitzung, auf dem die anwesenden Vorstandsmitglieder samt ihrem Vorsitzenden ihrer Entmachtung zustimmten, wurde in die Chefarztverträge eine wesentliche Neuerung eingeschrieben: Nun hatte ein Kirchenaustritt nicht mehr die Kündigung zur Folge. So war die Sitzung vom 25. August 1942 in dop29  Protokoll über die Vorstandssitzung am 28. Mai 1942; Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle. 30  Im Entwurf zum Protokoll über die Vorstandssitzung am 28. Mai 1942 wird Hofmeister als geschäftsführender Vorsitzender vorgeschlagen. Im endgültigen Protokoll fehlt dieser Namenshinweis. Entwurf in Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle. Vgl. auch Hofmeisters Bemerkung über die Besprechung am 22. April 1942 im Vorstandsprotokoll der Sitzung am 25. August 1942; Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle. 31  Protokoll über die Vorstandssitzung am 25. August 1942; Archiv des PGSt, Vorstandsprotokolle.



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pelter Hinsicht ein Schritt zur Entkonfessionalisierung des PGSt. Zum einen übertrug sie dem Oberbürgermeister weitgehende exekutive Rechte, die die übrigen Vorstandsmitglieder zur Staffage degradierten, zum anderen gab der Vorstand den bis dahin ehernen Grundsatz – die konfessionelle Bindung der Mitarbeiter – auf. Die Ausschaltung des übrigen Vorstands zeigte auch Hofmeisters Erlass einer „Dienstanweisung für das Paul Gerhardt-Stift“ vom Oktober und – erweitert – vom Dezember 1943, die er ohne Konsultation mit dem Vorstandsvorsitzenden eingeführt hatte. Die Anweisung regelte die Rechte des geschäftsführenden Vorsitzenden gegenüber den leitenden Mitarbeitern des PGSt, insbesondere gegenüber dem leitenden Chefarzt, dem Geschäftsführer und dem Finanzleiter. Als geschäftsführender Vorsitzender „in engerem und weiterem Sinne“ übte er nun im Auftrag des Vorstandes die Dienstaufsicht aus und ernannte sich zum Dienstvorgesetzen der Ärzte und des übrigen Personals (d. h. auch der Verbandsschwestern). Der leitende Chefarzt war ihm berichtspflichtig, wobei er sich bei Entscheidungen das letzte Wort vorbehielt. Ohne seine Genehmigung durften keine Ärzte, Oberschwestern und leitendes Verwaltungspersonal eingestellt werden, ebenso keine Kassenanweisungen über 5.000 RM ausgestellt werden.32 Dem düpierten Vorstandsvorsitzenden Karow blieb auf der nächsten Vorstandssitzung nur ohnmächtiger Protest: „Hierauf nimmt Herr Bischof D. Karow Stellung zu der erlassenen Dienstanweisung, von der er zwar privat erfahren habe, die ihm aber offiziell nicht zugestellt worden sei. Er bringt zum Ausdruck, dass diese wohl nur zeitlich beschränkt und für die Dauer des Krieges erlassen sei und glaubt, dass darin einige Punkte enthalten seien, die irgendwie die Rechte des Vorstandes berühren. Er stellt anheim, über die Dienstanweisung in der nächsten Vorstandssitzung noch einmal zu sprechen, und bittet, sie zuvor allen Vorstandsmitgliedern zur Kenntnisnahme zuzuleiten.“33 Die Proteste liefen ins Leere. Die schleichende Überführung des PGSt in städtische Hände zeigte auch, als Ende 1943 der bisherige zur Wehrmacht eingezogene kaufmännische Leiter (der sogenannte „Finanzleiter“) von Hofmeister durch einen seiner städtischen Beamten ersetzt wurde. So befanden sich nun – entgegen des Vorstandsbeschlusses von 1942 – auch die Finanzen unter vollständiger städtischer Kontrolle.34 Mit der Verhaftung des Superin32  Dienstanweisung für die Verwaltung des Paul-Gerhardt-Stiftes zu Wittenberg, [Oktober] 1943. Eine „Sonderanweisung“ mit Detailregelungen für die Verwaltung erfolgte im Dezember 1943, Archiv des PGSt, A-Bestand, 1943. 33  Protokoll der Vorstandssitzung am 16. März 1944, Archiv des PGSt, Vorstandssitzungen, 1944. 34  Protokoll der Vorstandssitzung am 17. Dezember 1943, Archiv des PGSt, Vorstandssitzungen, 1943.

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tendenten und Vorstandsmitglieds Maximilian Meichßner durch die Gestapo unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, am 20. Juli 1944, erfuhr die evangelische Fraktion im Vorstand eine zusätzliche Schwächung.35 Hofmeisters (und schon Habichts) Pläne, das Krankenhaus in städtische Hände zu überführen, konnten auf die 1938 ventilierten Überlegungen zum Bau eines Kreiskrankenhauses aufbauen, die wirksam die Drohkulisse des vermeintlich unvermeidbaren Ruins aufrichteten. Besonders Hofmeister verfolgte diese Pläne, wobei er von Schritt zu Schritt radikalere Forderungen stellte und diese argumentativ mit vermeintlichen Sachzwängen unterfütterte. Nachdem 1941 der geplante Kauf des PGSt gescheitert war und die Drohung, ein zweites Krankenhaus bauen zu wollen, infolge des Kriegsverlaufs an Kraft verloren hatte, setzte er auf die administrative Übernahme des Krankenhauses durch Ausschaltung des übrigen Vorstandes. Als geschäftsführender Vorstandsvorsitzender verdrängte er den theologischen Vorsitzenden. Durch die neue Dienstordnung unterstellte er sich direkt die medizinische und die kaufmännische Krankenhausleitung. Der zeitgleiche Austritt des Chefarztes Korth aus der evangelischen Kirche passte in ein Szenario, das den kirchlich-diakonischen Einfluss konsequent ausschaltete und die Entkonfessionalisierung des Krankenhauses vorantrieb. Die Reaktion der geistlichen Vorstandsmitglieder blieb zahnlos und ohnmächtig. Hofmeisters Zusicherungen, den „evangelischen“ Charakter des Krankenhauses erhalten zu wollen, waren letztlich nur taktischer Natur und ohne Substanz. Das Design einer ausschließlich nationalsozialistischen Prinzipien unterworfenen Krankenanstalt hatte Gestalt angenommen. Der Ausgang des Krieges freilich verhinderte, dass es zur endgültigen Umsetzung dieses Plans kam. Literatur Böhmer, Wolfgang: Das Krankenhaus Paul-Gerhardt-Stift im Wandel der Zeiten, in: Peter Gierra (Hg. im Auftrag des Paul-Gerhardt-Stiftes), Impulse zur Diakonie in der Lutherstadt Wittenberg, Berlin 1983, S. 40–103. Böhmer, Wolfgang: Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und Sozialwesens, Teil IV: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wittenberg 1988.

35  Archiv der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg, A Spec P M 192 (Meichßner, Maximilian). Meichßner, selbst zwar nicht in die Attentatsanschläge verwickelt, wurde wohl wegen seines am 28. September 1944 in BerlinPlötzensee wegen Beteiligung an den Attentatsplänen um Stauffenberg hingerichteten Sohnes Joachim, inhaftiert. Siehe Klaus Däumichen, Das Hitlerattentat. Die Landkreise Wittenberg und Torgau im Strudel der Ereignisse des Hitler-Attentats am 20. Juli 1944 – Personen und Begebenheiten, Wittenberg 2005, S. 36–46.



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Böhmer, Wolfgang/Wurda, Andreas (Hg.): Das heilkundige Wittenberg. Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und Sozialwesens von der Stadtfrühzeit bis zur Neuzeit, Wittenberg 2009. Brakemeier, Ruthild: Die Mutterhausdiakonie und ihr Weg in die Zukunft, Kassel 2002. Bräutigam, Helmut: Heilen und Unheil. Zur Geschichte des Paul-Gerhardt-Stifts zwischen 1918 und 1945, Wittenberg 2017. Däumichen, Klaus: Das Hitlerattentat. Die Landkreise Wittenberg und Torgau im Strudel der Ereignisse des Hitler-Attentats am 20. Juli 1944. Personen und Begebenheiten, Wittenberg 2005. Förder-Hoff, Gabriele: Im Dienst der Liebe – 120 Jahre Evangelisch-Kirchlicher Hilfsverein (EKH), Potsdam 2008. Grabbe, Hans-Jürgen: Verleumdet. Verfolgt. Vertrieben. Der Wittenberger Arzt Paul Bosse und seine Familie 1900–1949, Halle 2019. Gruffudd, Heini: A Haven from Hitler, Talybond 2014. Kabus, Ronny: Juden der Lutherstadt Wittenberg im III. Reich, Norderstedt 2012. Katscher, Liselotte: Krankenpflege und „Drittes Reich“. Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins 1933–1939, 2. Aufl., Reutlingen 1994. Katscher, Liselotte: Krankenpflege und Zweiter Weltkrieg. Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins 1939–1944, Stuttgart 1992. Katscher, Liselotte: Krankenpflege und das Jahr 1945, Der Zusammenbruch und seine Folgen am Beispiel der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins, Reutlingen 1993. Stummeyer, Detlev/Stummeyer, Ute: Paul Bosse. Seine Klinik in Wittenberg. Unerwünschte Wahrheitssuche, 2. Aufl., Norderstedt 2015.

Das Brüder- und Pflegehaus Zoar-Martinshof1 in Rothenburg (Oberlausitz) Von Manja Krausche Die Gründungsjahre der Einrichtung Ein tiefes Zerwürfnis zwischen der Leitung des Samariter-Ordensstifts Kraschnitz in Schlesien und Pfarrer Martin von Gerlach2 führte am 26. September 1898 zur Gründung des Brüder- und Pflegehaus Zoar in Tormersdorf bei Rothenburg in der Oberlausitz. Das von Martin von Gerlach als Vorsteher geleitete Haus sollte Wohn-, Arbeits- und Ausbildungsstätte männlicher Diakone und ihrer Familien sein. Es war der Inneren Mission angegliedert. Als Tätigkeitsgebiet diakonischer Arbeit eröffnete die Brüderschaft, ganz im Sinne christlicher Liebestätigkeit, ein Pflegehaus für männliche „Idioten, Kranke, Sieche und Epileptiker“.3 In den nachfolgenden Jahrzehnten entstanden auf dem Areal verschiedene Pflegehäuser, landwirtschaftliche sowie handwerkliche Wirtschaftszweige und ein Brüderhaus zur Ausbildung des diakonischen Nachwuchses. In der Stadt Rothenburg selbst sowie in Leuthen kamen insgesamt drei Außenstellen hinzu. Bis zum Jahr 1933 wuchs die Einrichtung auf 350 Betten, neben Fürsorgezöglingen wurden Pfleglinge4 und auch Pensionäre versorgt. 1  Das Brüder- und Pflegehaus trug von 1898 bis 1941 den Namen Zoar. Im November 1941 wurde es in Martinshof umbenannt. Der Begriff Zoar-Martinshof soll unterstreichen, dass es sich um die gleiche Einrichtung handelt. In den Teilen des Aufsatzes, in denen ich über die historischen Abläufe in der Einrichtung berichte, nutze ich den jeweils gültigen Namen. Diese Region gehörte bis 1945 zu Niederschlesien. 2  Martin von Gerlach war von 1898 bis 1920 Vorsteher des Brüder- und Pflegehauses Zoar. 3  Statistische Übersicht über die Zahl der Kranken, des Pflegepersonals usw. im Pflegehaus Zoar zu Tormersdorf bei Rothenburg OL; Abschrift des Gutachtens zum 1. Besichtigungstermin am 14. Januar 1899 von Dr. Meyer. Staatsfilialarchiv Bautzen (künftig StFilA Bautzen), 50017/30. 4  Im Pflegehaus Zoar-Martinshof wurde zwischen Zöglingen (Fürsorgezöglingen) und Pfleglingen (Bewohner mit unterschiedlichsten psychischen und psychiatrischen Erkrankungen) unterschieden. Im Folgenden behalte ich diese Bezeichnungen bei. Hinsichtlich der untergebrachten Fürsorgezöglinge gibt es bisher nur rudimentäre Forschungsergebnisse. Meine Ausführungen beziehen sich daher vorrangig auf die

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Die Versorgung der Bewohner erfolgte nach dem Hauselternprinzip.5 Sie wurden abhängig von ihrer Diagnose, ihrer Bildungsfähigkeit und ihrer Arbeitsfähigkeit den einzelnen Häusern zugeteilt. Geleitet wurden die Pflegehäuser jeweils von einem Diakonenehepaar. Anders als in staatlichen Einrichtungen gab es hier bewusst keine Trennung zwischen Privatbereichen der Diakonenfamilien und den zu Betreuenden. Letztere sollten in den Häusern wie in einer Familie versorgt werden. Wie in der Brüderschaft auch, gab es in den Pflegehäusern einen streng regulierten Tagesablauf, eine hierarchische Ordnung, sowie einen strukturierten Arbeitsalltag. Seit der Gründung legte der Vorsteher großen Wert auf Autarkie des Brüder- und Pflegehauses Zoar. Das verlangte das Mitwirken eines jeden Bewohners der Einrichtung. Daher wurden seit jeher auch die Pfleglinge und Fürsorgezöglinge in die Arbeit des Anstaltsbetriebes mit eingebunden. Die Landwirtschafts- und Handwerksbetriebe des Brüder- und Pflegehauses waren auf die Arbeitskraft der Pfleglinge und Zöglinge genauso angewiesen wie auf die des diakonischen Personals. Denn die Autarkie der Einrichtung beschränkte sich nicht nur auf die Eigenversorgung der Anstalt, sondern beinhaltete auch die Beschränkung des gesamten äußeren nicht-konfessionellen Einflusses. Doch schon während des Ersten Weltkrieges zeigte sich, wie wenig der Autarkieanspruch der Brüderschaft Zoar der Realität entsprach. Martin von Gerlach hatte alle irgendwie entbehrlichen Güter sowie Geldwerte dem Militär gespendet. Viele der Diakone, aber auch Fürsorgezöglinge(!) dienten als Soldaten. Die Pflegehäuser und die Pfleglinge blieben nahezu sich selbst überlassen – mit der Konsequenz, dass am Ende des Ersten Weltkrieges eine Vielzahl der Bewohner verstorben war.6 Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist die Rolle verschiedener Einrichtungen der Inneren Mission (heute Diakonie), ihrer Angestellten und kirchlichen Würdenträger erforscht worden.7 Als Quintessenz kann hierbei festgehalten werden, dass es hinsichtlich des nationalsozialistischen Staates und dessen Forderungen kaum Widerstand gab bzw. ganz im Gegenteil diese teilweise umfassend unterstützt wurden. Solange er mit seinen Neuerungen und FordePfleglinge, welche teilweise über Jahrzehnte in den einzelnen Pflegehäusern verblieben. 5  Das Hauselternprinzip wurde in den Pflegehäusern bis in die 1960er Jahre praktiziert. 6  Vgl. Curt Zitzmann, Chronik Zoar-Martinshof (1898–1951), unveröffentlicht und undatiert. 7  Hier seien nur zwei Beispiele genannt: Uwe Kaminsky, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995; Ingrid Genkel/Harald Jenner/Michael Wunder, Auf der schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987.



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rungen nicht gegen die Innere Mission bzw. deren Einrichtungen vorging oder die traditionelle konservativ-christliche Ethik verletzte, musste er nicht mit Gegenwehr rechnen. Dieses teilweise recht ambivalente Bild zeigte sich auch im Brüder- und Pflegehaus Zoar-Martinshof. Die Diakone und der Vorsteher Curt Zitzmann8 befürworteten die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. Sie reihten sich umfassend in die nationalsozialistischen Massenorganisationen ein. Die Brüderschaft Zoar-Martinshof führten ihre Pfleglinge und Fürsorgezöglinge der rassenhygienischen Zwangssterilisation zu und boten der Wehrmacht Teile ihrer Anstalt als Lazarett- und Kriegsgefangenenlager an. Diese Kooperation erfolgte teilweise aus Überzeugung bzgl. der nationalsozialistischen Forderungen, teilweise aber auch, um das Brüder- und Pflegehaus Zoar-Martinshof mit seinem Personal vor der Auflösung bzw. der Enteignung zu schützen. Im Vordergrund stand für den Vorsteher der Einrichtung, die Brüderschaft Zoar-Martinshof über die Kriegszeit auf dem Areal in Tormersdorf zu halten sowie deren Fortbestand zu sichern. Mit der Einrichtung und der Aufsicht über das jüdische Durchgangslager, welches von 1941 bis 1943 auf dem Areal der Brüderschaft Zoar bestand, zeigte Zitzmann, wie weit er für das Erreichen dieses Zieles zu gehen bereit war. Ab dem Jahr 1941, als erstmalig die Beschlagnahme der Einrichtung von Seiten der Regierung gefordert wurde, formierte sich Widerstand in der Brüderschaft Zoar. Dies allerdings nicht gegen den Staat, sondern vorrangig gegen die niederschlesische Regionalinstanzen und die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV) als Profiteur. In den nachfolgenden Kapiteln sollen diese Aspekte nun weiter ausgeführt werden. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass Quellenbestände für die Zeit des Nationalsozialismus im heutigen Martinshof Diakoniewerk Rothenburg nur sehr eingeschränkt vorhanden sind. Vom Vorsteher Curt Zitzmann sowie Diakon Herbert Matuschok9 liegen zwei Chroniken vor, die diesen Zeitraum behandeln. Des Weiteren verfügt das Archiv der Brüder- und Schwesternschaft Martinshof e. V. (BUSS-Archiv) über Aktenbestände und Schriftwechsel, die Diakonenschaft betreffend. Patientenakten bzw. Aufzeichnungen zu den untergebrachten Personen oder zur Arbeit in den Pflegehäuser sind nicht vorhanden. Bisher konnte auch im Evangelischen Zentralarchiv (EZAB), im Archiv für Diakonie und Entwicklung (ADE), in den 8  Divisionspfarrer a. D. Curt Zitzmann leitete das Brüder- und Pflegehaus ZoarMartinshof von 1920 bis 1943. Von 1943 bis 1945 war er Leiter des Brüderhauses, Leiter der nicht beschlagnahmten Teile des Pflegehauses sowie der Außenstellen sowie Pfarrer in Rothenburg und den umliegenden Gemeinden. Bereits im Mai 1945 kehrte er nach Rothenburg zurück und begann mit dem Wiederaufbau der Einrichtung und blieb bis 1950 Vorsteher des Brüder- und Pflegehauses Martinshof. 9  Herbert Matuschok, Die Chronik des Martinshofes (1898–1950), unveröffentlicht und undatiert.

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verschiedenen staatlichen Archiven in Deutschland und Polen nur eine bruchstückhafte Überlieferung zusammengetragen werden. Zustimmung und Einordnung in den „neuen Staat“ Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde in der Deutschen Diakonenschaft und der Inneren Mission genauso positiv aufgenommen wie im Großteil der restlichen Gesellschaft. Sie hoffte auf einen umfassenden Neubeginn, eine Überwindung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise sowie auf die Durchsetzung einer christlichen Werteordnung im Staat.10 Auch das Brüder- und Pflegehaus Zoar ließ sich von der „nationalen Begeisterung“ anstecken. Der Leiter der Einrichtung Curt Zitzmann unterstrich in einer Veröffentlichung zum Osterfest 1933 die Machtergreifung Hitlers gar mit der Ankunft des Messias.11 In den ersten Monaten des Jahres 1933 gab es in der Brüderschaft Zoar einige Debatten über die Stellung der Diakone zum nationalsozialistischen Staat. Allerdings sollte hierunter keine Ablehnung verstanden werden, sondern vielmehr spielte die Entwicklung einer gemeinsamen Handlungs- und Verhaltensrichtlinie zur Sicherung der Arbeit und des Zusammenlebens im Brüder- und Pflegehaus Zoar eine Rolle. Hintergrund waren hitzige Auseinandersetzungen vor allem zwischen den Jungdiakonen. Diese störten nicht nur die Ruhe in den einzelnen Häusern, sondern führten auch zu Bespitzelungen, Handgreiflichkeiten und Verhaftungen. Diakon Wilhelm Schwarz wurde bspw. im Juli 1933 zu mehreren Wochen Haft wegen „Verächtlichmachung der Regierung und Auflehnung gegen die Anordnung der Gleichschal-

10  Neben dem Versprechen, die christliche Werteordnung im Staat wieder herstellen zu wollen, propagierten die Nationalsozialisten ebenfalls, die freie Wohlfahrtspflege fördern und die öffentlichen Stellen aus der Fürsorge heraushalten zu wollen. Die Innere Mission, wie auch andere kirchliche Träger, ging fälschlicher Weise davon aus, dass ihnen diese Neuerung zu Gute kommen würde. Die NS-Regierung hatte sich aber bereits im März 1933 für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) entschieden. Dieser sollte die gesamte Wohlfahrtspflege unterstellt werden. Vgl. dazu: Michael Häusler, „Dienst an Kirche und Volk“. Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913–1947), Berlin, Köln, Stuttgart 1995, S. 174 ff. 11  Curt Zitzmann, Brüderblätter Zoar März/April 1933, S. 9 f. In dieser Veröffentlichung heißt es: „Osterglocken schwingen auf den Türmen, […] und etwas wie ein Auferstehungslied klingt schon seit Wochen durch unser deutsches Vaterland. Seit unser junger Kanzler an die Seite des ergrauten Reichshauptes getreten ist, hofft die deutsche Seele, daß nun der Karfreitag des Leidens zu Ende geht für uns Deutsche […]. Erst die große Tatsache, von Gott gesandt und urplötzlich auftretend, dann allmählich nachfolgend das Erwachen des einzelnen.“



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tung“ verurteilt. Ein Mitdiakon hatte ihn denunziert.12 Ein weiterer Streitpunkt war die Frage, wie viel Zeit die Diakone neben ihren eigentlichen pflegerischen und handwerklichen Tätigkeiten für die Mitarbeit in staatlichparteilichen Organisationen aufbringen durften und konnten. Auch über die Frage, ob sich die Diakone der Brüderschaft Zoar den Deutschen Christen oder der Bekennenden Kirche anschließen sollten, wurde heftig diskutiert. Hier entschied vorrangig der Vorsteher, dass er in seiner Brüderschaft keinen Kirchenkampf13 duldete, sondern forderte, dass sich die Brüder, wie er selbst auch, neutral zu verhalten hätten.14 Bei der Brüderversammlung im Anschluss an das Jahresfest am 20. September 1933 wurde jedoch folgender Beschluss einstimmig angenommen: „Die heute hier versammelten Diakone der Brüderschaft Zoar e. V. erklären, dass sie dem von der Kirche geforderten Führerprinzip bejahend gegenüber stehen und sind, wenn nötig, bereit, die von den leitenden Stellen etwa geforderten Änderungen ihrer Satzung anzunehmen. Im Übrigen warten sie auf die Weisungen des künftigen Reichsführers der Inneren Mission bzw. seiner Unterführer.“15

Die Erklärung war weit entfernt von der von Zitzmann geforderten Neu­ tralität. Sie kam einer Unterstellung unter den Staat bzw. einer Reichskirche gleich. Die Diakone der Brüderschaft Zoar ordneten sich umfassend in die nationalsozialistischen Massenorganisationen ein. Von 89 Diakonen waren 33 Mitglieder (37 Prozent) der NSDAP, fünf von ihnen waren schon vor 1933 Parteimitglied geworden. Politische Leiter bzw. Hoheitsträger der Partei16 waren vier von ihnen. Auch in anderen Gliederungen der NSDAP waren die 12  Vgl. Häussler, S. 183 f. Über die Diskussion innerhalb der einzelnen Bruderschaften siehe ausführlich ab S. 252 ff. 13  „Kirchenkampf“ bezeichnet den Konflikt innerhalb der Evangelischen Kirche hinsichtlich der Haltung der Kirche zum „Dritten Reich“. Im theologischen Verständnis ging es in diesem Konflikt um das Verständnis und die Auslegung des „Evangeliums“. Die Anhänger der „Bekennenden Kirche“ lehnten eine Einmischung des Staates in Glaubensinhalte und Kirchenverfassung ab. Damit widersprachen sie dem Totalitätsanspruch des „Dritten Reiches“. Nur in Einzelfällen leistete diese Gruppe politischen Widerstand oder öffentliche Kritik. Die „Deutschen Christen“, wie sich die zweite Konfliktpartei nannte, war eine rassistische, antisemitische, am Führerprinzip orientierte Strömung der evangelischen Kirche. Sie forcierte die Gründung der „Reichskirche“ und die Auflösung der einzelnen Landeskirchen. Einen guten Allgemeinüberblick zu den diversen christlichen Strömungen im Nationalsozialismus bietet: Philipp Thull (Hg.), Christen im Dritten Reich, Darmstadt 2014. 14  Vgl. Haus-Thing vom 27. Juni 1933. Protokollbuch der Brüderschaft Zoar. BUSS-Archiv, Ordner L 1a. 15  Brüderversammlung vom 20. September 1933. Protokollbuch der Brüderschaft Zoar. BUSS-Archiv, Ordner L 1a. 16  Als „Politische Leiter“ in der NSDAP werden alle Funktionsträger ab dem Blockwart aufwärts bezeichnet.

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Diakone vertreten. So waren zehn von ihnen Mitglied der SA und ein Diakon Mitglied der SS. Dem NS-Kraftfahrerkorps (NSKK) gehörten vier Diakone an, dem NS-Fliegerkorps (NSFK) zwei. Alle 89 Diakone waren Mitglied der Deutschen Arbeitsfront sowie 73 von ihnen gleichzeitig noch Mitglied in der NSV.17 Die Einordnung in die nationalsozialistischen Organisationen erfolgte trotz bereits frühzeitiger Eingriffe des Staates in die Arbeit der Pflegeanstalt Zoar. So wurde der Pflegeeinrichtung bereits im Mai 1933 die Fürsorgearbeit an jugendlichen Zöglingen untersagt. Auch das Bildungsfähigenheim Troas musste geschlossen werden. Der in der Außenstelle Wilhelmshof existierende christliche Arbeitsdienst wurde in den Reichsarbeitsdienst überführt. Der Rückgang der Belegung führte zu einem erheblichen Einnahmeverlust für die Pflegeanstalt sowie zu einem massiven Mangel an Arbeitskräften.18 Die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuches (GzVeN)“19 Bereits im Mai 1931 wurde von Seiten des Centralausschusses für die I­nnere Mission die Entscheidung getroffen, dass Zwangssterilisationen von Fürsorgezöglingen bzw. Patienten in Heil- und Pflegeanstalten notwendig und gewünscht sind, sofern sie nicht zur Verhinderung von „erbgesundem Nachwuchs“ führen.20 Als das Gesetz im Januar 1934 in Kraft21 trat, erfolgte daher auch im Pflegehaus Zoar dessen Umsetzung zeitnah und ohne zu zö17  Vgl. ausgefüllter Fragebogen der Deutschen Diakonenschaft für die Brüderschaft Zoar Rothenburg/Lausitz, 1. April 1939. ADE, DD 240. 18  Vgl. Matuschok, Chronik, S. 69; Zitzmann, Chronik, S. 32; Sowie: Statistik der Bettenzahlen der Pflegeanstalt Zoar vom 29. Mai 1933. ADE, CA, Stat.Slg 962. 19  Bisher stehen für das Pflegehaus Zoar-Martinshof keine Zahlen hinsichtlich der Gesamtzahl der durchgeführten Sterilisation respektive der Anzahl der Sterilisationsanzeigen. Bisher konnte nur ein sehr kleiner Aktenbestand gefunden werden. Die Zahlen dürften allerdings weitaus höher sein. Über Komplikationen bzw. etwaige Todesfälle auf Grund der durchgeführten Operationen kann ebenfalls noch keine Aussage getroffen werden. 20  Vgl. Hans Harmsen, Niederschrift über die Beratungen der Fachkonferenz für Eugenik vom 18.–20.  Mai 1931 in Treysa. ADE, CA/G Nr. 281 (Konferenz von Treysa), Bl. 2 ff. 21  Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde am 14. Juli 1933 verabschiedet und trat 1934 in Kraft. Es hatte expliziten Zwangscharakter. Als Dia­ gnosen, die eine Sterilisation rechtfertigten galten: angeborener Schwachsinn, Schi­ zophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblicher Veitstanz (Huntington’sche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildungen sowie Alkoholismus. Zu dem Gesetz wurden Ausführungsbestimmungen festgelegt, welche den gerichtlichen Verfahrensablauf festschrieben. Arthur Gütt/Ernst Rüdin/Falk Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1934. Mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Ge-



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gern. Der Vorsteher der Einrichtung Curt Zitzmann sowie der Anstaltsarzt Dr. Rudolf Knape22 waren zur Anzeige der unter das Gesetz fallenden Pfleglinge bzw. Zöglinge verpflichtet. Zur Beurteilung der Pfleglinge wurden sogenannte „Intelligenzprüfungsbogen“ ausgefüllt sowie ein Gutachten durch den Anstaltsarzt erstellt. In der Pflegeanstalt Zoar nahm vorrangig der Vorsteher, der selbst kein Arzt war, die Prüfung der Pfleglinge vor. In einer Akte fand sich hierfür folgende Begründung: „Die Intelligenzprüfung wurde durch den unterzeichneten Vorsteher des Pflegehauses Zoar vorgenommen, der in dieser Eigenschaft schon vielen derartigen Prüfungen durch den Herrn Psychiater und Fürsorgearzt Dr. Merguet beigewohnt hat und die Geprüften jahrelang kennt. Dem Leitenden Arzt der Brüderschaft Zoar, der nur nebenamtlich angestellt ist, kann mit Rücksicht auf seine ausgedehnte Privatpraxis die Mehrarbeit durch die jetzt sich häufenden Intelligenzprüfungen nicht zugemutet werden.“23

Nach der Anzeige der Pfleglinge respektive Zöglinge und deren Begutachtung erfolgten die Verhandlungen vor dem Erbgesundheitsgericht Görlitz. Anders als es die Bezeichnung vermuten ließe, fanden die Prozesse nicht in Görlitz, sondern fast immer in der Pflegeanstalt Zoar selbst statt. Das geschah vermutlich sowohl aus logistischen als auch aus finanziellen Gründen. Ebenfalls ist anzunehmen, dass an einem Prozesstag gleich über mehrere Pfleglinge entschieden wurde.24 Die Diakone, vor allem in ihrer Position als Hauseltern, spielten bei diesen Sterilisationsverhandlungen eine aktive Rolle. Sie schrieben Beurteilungen über die Führung der ihnen anvertrauten Pfleglinge und schätzten die Intelligenz und Arbeitsfähigkeit ein. Teilweise waren die Diakone nicht nur die Hauseltern der Pfleglinge, sondern auch deren gesetzliche Vertreter.25 Ordnete das Gericht die Unfruchtbarmachung an, so wohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, München 1934. 22  Dr. Rudolf Knape, Allgemeinarzt in Rothenburg, betreute die Bewohner des Pflegehauses Zoar bis in die 1950er Jahre. Er wurde im Jahr 1934 teilweise durch Dr. Salzmann vertreten. Über letzteren konnte bisher noch keine Information gewonnen werden. 23  Vermerk von Curt Zitzmann auf dem Intelligenzprüfungsbogen von Wilhelm F. Dieser ist auf den 5. Juli 1935 datiert. In den 23 aufgefundenen Akten finden sich mehrere von Zitzmann ausgefüllte Intelligenzfragebögen. StFilA, Bestand 50041, Akte zu Wilhelm F. 24  Die Pflegeanstalt Zoar liegt 45 Autominuten von Görlitz entfernt. Zwar verfügte die Stadt Rothenburg über eine Bahnstation, nicht aber über eine direkte Zugverbindung nach Görlitz. Die Verhandlungen verlangten nicht nur die Anwesenheit des Pfleglings, sondern auch seines gesetzlichen Vertreters, des Vorstehers, des leitenden Arztes, und weiterer Gutachter. Hinzu kam, dass die Pfleglinge zusätzlich von Personal begleitet werden mussten. Dies stand im Pflegehaus Zoar nur begrenzt zur Verfügung. 25  Beispielsweise sagte Hausvater Diakon Kobilke als Zeuge bei der Sterilisa­ tionsverhandlung gegen seinen Pflegling Johann F. aus. Er urteilte: „F. ist unbere-

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erfolgte die Operation meist im Diakonissenkrankenhaus Emmaus in Niesky.26 Es war zur Durchführung von Sterilisationen im Sinne des „GzVeN“ von Staatswegen befugt worden.27 Die sterilisierten Pfleglinge bzw. Zöglinge blieben im Durchschnitt zehn bis vierzehn Tage im Emmaus-Krankenhaus, bevor sie in das Pflegehaus Zoar zurückkehrten. Das Sterilisationsgesetz hatte auf das Pflegehaus Zoar sowie auf seine Bewohner mannigfaltige Auswirkungen. Die Pfleglinge wurden bis zur Be­ urteilung durch das Erbgesundheitsgericht weder beurlaubt noch entlassen. Nach der Sterilisation drängte das Landeswohlfahrtsamt Breslau auf schnellstmögliche Entlassung der Pfleglinge, sofern für sie keine dauerhafte Unterbringung angeordnet war. Für das Pflegehaus Zoar hatte diese Praxis für die Abrechnungsjahre 1935 und 1936 gravierende finanzielle Einbußen zur Folge.28 Kriegsbeginn und Beschlagnahme des Brüder- und Pflegehauses Zoar Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich das bis dato gute Auskommen zwischen der Brüderanstalt und den kirchlichen sowie weltlichen Instanzen. Die ersten Kriegsmonate müssen in der Anstalt Zoar sehr chaotisch abgelaufen sein. Der größte Teil der Diakone und des männ­ lichen Personals wurden eingezogen. Gleichzeitig wurde auf dem Areal des Wilhelmshofes29 ein Reservelazarett mit 60 Betten sowie ein Kriegsgefange-

chenbar.“ Abschrift der nichtöffentlichen Sitzung des Erbgesundheitsgerichtes Rothenburg/OL vom 23. März 1937 betreffend Johann F., StFilA Bautzen, Bestand 50041, Akte zu Johann F. Diakon Gleißberg unterstand das Pflegehaus „Bethlehem“. Er war u. a. gesetzlicher Vertreter für die Pfleglinge Walter H., Franz N., und Ernst N. StFilA Bautzen, Bestand 50041, Akten zu Walter H., Franz N, Ernst N. 26  Das evangelische Krankenhaus war Mitglied im Kaiserswerther Verband und beherbergte sowohl Klinik als auch Diakonissenmutterhaus. Von 1941 bis 1945 trug es den Namen Plitt-Krankenhaus. 27  Vgl. Verzeichnisse der auf Grund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zur Unfruchtbarkeit ermächtigten evangelischen Anstalten. ADE, CA, G-S 50: Harmsen-Sammlung. Sterilisation in IM-Anstalten (Statistik, Formulare, Verzeichnisse von Anstalten). 28  Vgl. Brüderschaft Zoar e. V. (Hg.), Zoargruß. Rundbrief an den Brüderkreis der Brüderschaft Zoar e. V., November 1935, Nr. 7, S. 46. ADE, CA/0 162: Schlesischer Provinzialverein für Innere Mission. Sowie für das Jahr 1936: Protokollbuch der Brüderschaft Zoar, Eintragung zum Ordentlichen Brüdertag vom 23. September 1936. BUSS-Archiv, Ordner L 1a. 29  Ein landwirtschaftliches Gut in Rothenburg, welches als Außenstelle der Anstalt fungierte.



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nenlager für 100 Personen30 auf dem Stammareal der Anstalt eingerichtet. Kirchliche Einrichtungen galten nicht als kriegswichtige Betriebe. Sich in den Dienst der Wehrmacht zu stellen, wie dies mit der Lagereinrichtung geschah, änderte den Status und Zitzmann konnte dadurch beispielsweise einen Teil seiner Diakone als Arbeitskräfte zurückholen. Bis zum Jahr 1941 war die Belegung des Brüder- und Pflegehauses einschließlich der Außenstellen von 400 auf 700 Personen gestiegen. Im Mai 1941 erreichte den Vorsteher Zitzmann die Nachricht, dass seine Einrichtung auf Grund des „Reichsleistungsgesetzes für Zwecke des Reichsführers SS“ beschlagnahmt sei und der Gestapo unterstellt werden sollte. Das Brüder- und Pflegehaus Zoar müsse von Pfleglingen und Personal geräumt werden. Zitzmann fuhr nach Breslau, um beim Landesrat Hans-Joachim Saalmann31 gegen die Beschlagnahme zu protestieren. Dort traf er jedoch nur auf dessen Stellvertreter Dr. Heinrich Tewes32. Zitzmanns Protest in Breslau richtete sich aber weniger gegen die Auflösung des Pflegehauses. Hinsichtlich der Verlegung seiner Pfleglinge argumentierte er, dass „wohl für die Kranken von der Provinz anderswo Platz geschaffen werden könnte“.33 Vielmehr sorgte er sich um die Zukunft seines Brüderhauses und der Diakone. Ihnen drohten durch die Beschlagnahme die Obdachlosigkeit sowie das Ende des Wirkens der Brüderschaft an diesem Ort. Tewes und Zitzmann einigten sich auf ein weiteres Treffen im Pflegehaus Zoar, welches vermutlich in der ersten Juniwoche 1941 stattfand. Bis zu diesem Termin verlangte er von Zitzmann, dass er Vorschläge mache, wo die Pfleglinge untergebracht werden sollten. Tewes verlangte eine Liste mit „leichten Fällen“. Diese Pfleglinge sollten in Altersheime verlegt oder nach Hause entlassen werden. Auf einer weiteren Liste wurden die „schweren Fälle“ notiert. Sie waren zur Verlegung in staatliche Heil- und Pflegeanstalten in Schlesien vorgesehen.

30  Als Kriegsgefangene waren dort zunächst Ukrainer, Galizier, dann Belgier, Franzosen und später auch Polen untergebracht. Zwangsarbeit mussten sie bei Gewerbetreibenden und Landwirten in der Umgebung sowie in der Anstalt Zoar selbst leisten. Vgl. Zitzmann, Chronik, S. 36 f. 31  Hans-Joachim Saalmann unterstand im Gau Niederschlesien die NSV sowie Kommissar für die freie Wohlfahrtspflege. Weiterhin war er Landesrat in Breslau und Gauamtsleiter. 32  Der Psychiater Heinrich Tewes war Leiter der psychiatrischen und erbbiologischen Landeszentralstelle Schlesien sowie Stellvertreter von Landesrat Saalmann. 33  Zitzmann (1943), Darstellung der durch die Provinzialbehörde verfügten Änderungen im Brüder- und Pflegehaus Martinshof (früher Zoar). (In diesem Schreiben, gerichtet an den Centralausschuss für die Innere Mission in Berlin nimmt Zitzmann Anfang 1943 dezidiert Stellung zur Beschlagnahme der Anstalt sowie zum „jüdischen Durchgangslager“.) ADE CA/0 200 (Schriftwechsel des Direktors mit Anstalten der IM Ost).

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Anhand der bisher aufgefundenen Patientenakten kann nachvollzogen werden, dass tatsächlich Pfleglinge nach Görlitz in das von Dr. Lisco geleitete „Siechenheim“ verlegt wurden.34 20 weitere Pfleglinge wurden auf Kosten der Brüderschaft im Berghaus Leuthen, einer Außenstelle der Anstalt Zoar, untergebracht.35 Aber nicht alle Pfleglinge, auch wenn sie Familie in der Umgebung des Pflegehauses hatten, wurden nach Hause entlassen, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen. Bisher konnten nur drei Akten gefunden werden, welche diese Verlegungen von Zoar-Pfleglingen dokumentieren. Zwei von ihnen hatten Familie in Görlitz und es bestand durch Besuche und Briefe Kontakt zu ihnen. Sowohl die Mutter von Willi Arlt als auch der Vater von Walter Berthold ersuchten den Vorsteher Zitzmann mehrfach und eindringlich, ihre Söhne zu beurlauben oder sie nach Hause zu entlassen. Der Vater von Walter Berthold fragte gar am 5. Juni 1941 noch einmal beim Brüderhaus Zoar wegen dessen Entlassung an. Zitzmann jedoch setzte diese zwei Pfleglinge, sowie nachweislich ebenfalls Paul Augustin, auf die Verlegeliste in eine staatliche Einrichtung. Walter Berthold und Paul Augustin wurden am 19. Juni 1941 in die Heilund Pflegeanstalt Plagwitz gebracht, Willi Arlt zwei Tage später. Insgesamt wurden in drei36 Transporten ca. 100 Pfleglinge in die Anstalt Plagwitz verlegt. Inwiefern diese Transporte aus der Anstalt Zoar mit der „Aktion T4“37 34  Nachgewiesen ist bspw., dass Johannes B. in ein „Hospital in Görlitz“ verlegt wurde. Er war von 1933 bis 1941 in der Anstalt Zoar mit der Diagnose Schizophrenie aufgenommen. Am 8. August 1945 wird er von seinen Eltern wieder bei Dr. Lisco vorgestellt. Dieser weist ihn in die Landesanstalt Großschweidnitz ein. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD),10822/8695. Krankenakte von Johannes B. 35  Sowohl in der Korrespondenz mit Diakonen als auch mit der Hausmutter Helene Buckisch werden diese Verlegungen erwähnt. Bisher konnte herausgefunden werden, dass diese Pfleglinge überlebt haben. Ihre Spur verliert sich im Frühjahr 1945, als die Anstalt Zoar, die Stadt Rothenburg sowie die Außenstellen in Leuthen wegen der herannahenden Front evakuiert wurden. Der Flüchtlingstreck ging nach Bayern, in die Nähe von Regensburg. 36  Zusätzlich zu den zwei genannten Daten ist der 17. Juni 1941 ebenfalls in diversen Unterlagen sowie den Chroniken notiert. Allerdings konnten bisher keine Krankenakten mit diesem Datum gefunden werden. 37  „Aktion T4“ bezeichnet die systematische Verschleppung und Tötung von Psychiatriepatienten im Nationalsozialismus. Auf Grund der Kürze des Aufsatzes kann hierauf nicht tiefer eingegangen werden. Zum Thema ist eine Vielzahl an Literatur erschienen, so bspw. Annette Hinz-Wessels, Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Berlin 2015. Zur „Euthanasie“ in Schlesien sei auf den Sammelband Boris Böhm (Hg.), Vergessene Opfer der NS-„Euthanasie“. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940 bis 1945, Leipzig 2018 hingewiesen. Hierin auch enthalten: Manja Krausche, Der Zoar-Martinshof in Rothenburg – Eine konfessionelle Anstalt in Schlesien während des Nationalsozialismus, S. 43–58.



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zusammenhängen oder zunächst einzig Folge der Beschlagnahme waren, konnte bisher nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Bedenklich ist aber die folgende Aussage des Leiters der Heil- und Pflegeanstalt Plagwitz vom 14. Oktober 1941: „Schlimm für unsere Arbeiterverhältnisse ist es auch, dass wir 100 gänzlich arbeitsunfähige und weitgehend pflegebedürftige Kranke aus Rothenburg zur Verschickung nach Sachsen übernehmen mussten; diese leisten überhaupt nichts. Die Verlegungen nach Sachsen sind aber offenbar eingestellt worden.“38

Willi Arlt39, Paul Augustin40 und Walter Berthold41 befanden sich nicht mehr unter diesen im Zitat beschriebenen Patienten. Sie waren bereits am 13. August 1941 in die sächsische Landesanstalt Arnsdorf verlegt worden. Arnsdorf war eine „T4-Zwischenanstalt“ im Einzugsgebiet der Tötungs­ anstalt Pirna-Sonnenstein. Der vorläufige „Euthanasie“-Stopp am 24. August 1941 dürfte die drei Männer vor dem Gastod gerettet haben. Am 7. Januar des Folgejahres wurden sie in die Landesanstalt Großschweidnitz gebracht. Paul Augustin und Walter Berthold überlebten ein Jahr in dieser Einrichtung, bevor sie an „allgemeinem Kräfteverfall“ respektive „an Lungentuberkulose“ verstarben. Willi Arlt war bereits sechs Tage nach der Ankunft tot. Als Todesursache wurde „Pneumonie“ vermerkt.42 Neben den Verlegungen in die Anstalt Plagwitz sind noch zwei weitere Transporte in die Heil- und Pflegeanstalt Bunzlau bekannt. Im Berghaus, in welches einige Pfleglinge verlegt wurden, waren zuvor 20 bis 25 Frauen43 betreut worden. Sie müssen bereits vor den Männern verlegt worden sein, da 38  Leiter der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Plagwitz an den Oberpräsidenten, Verwaltung des Schlesischen Provinzialverbandes (APW, Wydzial Samorządowy Prowincji Śląskiej 2009, Bl. 7 f.), entnommen aus Dietmar Schulze, „Euthanasie“ in Schlesien. Ein Quelleninventar, unveröffentlicht, S. 150. 39  Vgl. Patientenakte Willi Arlt, SächsHStAD, 10822/8507. 40  Vgl. Patientenakte Paul Augustin, SächsHStAD, 10822/8518. 41  Vgl. Patientenakte Walther Berthold, SächsHStAD, 10822/8600. 42  In ihren Patientenakten ist des Weiteren vermerkt, dass sie erst am 24. Januar 1941 aus der Heil- und Pflegeanstalt Bunzlau in das Pflegehaus Zoar verlegt worden waren. Die „T4“-Meldebögen wurden im Herbst 1940 durch den Bunzlauer Arzt Dr. Karlfriedrich Dodellit ausgefüllt. Zur Verlegung schlesischer Patienten in sächsische Zwischenanstalten siehe weiterführend auch: Hagen Markwardt, Schlesische Psychiatriepatienten als Opfer der regionalisierten Krankenmorde, in: Böhm (Hg.), Vergessene Opfer, S. 119–142, S. 129 ff. 43  Leider liegen für das Pflegehaus Zoar und seinen Außenstellen für dieses Jahr keine Belegungszahlen vor. Die letzten stammen aus dem Jahr 1938. Da in der Korrespondenz des Vorstehers stets von ca. 400 Bewohnern gesprochen wird, ist davon auszugehen, dass die Anstalt voll, wenn nicht gar überbelegt war. Bezüglich der Anzahl der untergebrachten Frauen orientiere ich mich an den Angaben, die Diakon Matuschok in seiner Chronik gemacht hat.

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das Berghaus im Juni 1941 leer stand.44 Diakon Matuschok begleitete den Transport der Frauen bis in die Heil- und Pflegeanstalt Bunzlau. Dort habe er gesehen, dass „man den Frauen Nummern mit Tinte auf die Schulter schrieb.“45 Bisher konnte nicht herausgefunden werden, was mit diesen Frauen danach passierte. Die Kennzeichnung mit einer Nummer, wie sie von Matuschok beschrieben wird, weist auf eine Praxis der „Aktion T4“ hin und diente der Identifikation der entsprechenden Person einer der Tötungsanstalten. Auch über die nach Bunzlau verlegten männlichen Pfleglinge konnte bisher nichts über deren Verbleib herausgefunden werden. Der ehemalige Pfleger Günter Springer berichtet von der Verlegung von etwa 40 Männern in die Anstalt Bunzlau.46 Für alle Verlegungen aus dem Pflegehaus Zoar in die Anstalten Bunzlau bzw. Plagwitz galt, dass sie per Sonderzug vom Bahnhof Rothenburg erfolgten. Die Pfleglinge wurden von den Diakonen bis zum Zielort begleitet und dem dortigen Personal übergeben. Das „Judenlager“ Tormersdorf Während der Verhandlung Anfang Juni 1941 zwischen Vorsteher Zitzmann und der Kommission um Landesrat Saalmann sowie Dr. Tewes wurde nicht nur über das Schicksal der Pfleglinge entschieden, sondern auch über den Fortbestand der Brüder- und Pflegeanstalt Zoar selbst. Bereits im Mai 1941 war Zitzmann der Forderung der Provinzialregierung nach einer umfassenden Namensänderung in seiner Anstalt nachgekommen. Die alttestamentarischen Namen der Pflegehäuser verschwanden zum größten Teil. Die Umbenennung der Brüderschaft Zoar erfolgte am 30. November 1941 auf dem jährlich stattfindenden Brüdertag. Sie entschieden sich für den Namen Martinshof. Kam Vorsteher Curt Zitzmann der von Regierungsseite gestellten Forderungen nach Umbenennung und Patientenverlegung nach, so verweigerte er sich hartnäckig, die Brüderanstalt aufzugeben und mit seinen Diakonen wegzuziehen. Von Dr. Tewes wurde ihm der Vorschlag gemacht, die Diakone und ihre Familien könnten bleiben, wenn sie die Aufsicht über das jüdische Lager übernehmen würden. Hierauf antwortete Zitzmann, dass er darin keine Probleme sehe, denn „deutsche Soldaten müssen jetzt auch Juden bewachen; wir sind auch nichts Besseres als diese, deshalb erkläre ich mich für die Brüder und mich einverstanden“.47 Dieses Einverständnis 44  Vgl.

Zitzmann, Chronik, S. 39. Matuschok, Chronik, S. 82. Matuschok hat den Transport nicht datiert. 46  Vgl. Günter Springer auf Nachfrage des Diakon Horst Reichelt aus dem Jahr 1987, BUSS-Archiv, Ordner B 14. In der Chronik wird als Datum der 17. Juni 1941 angegeben. Matuschok, Chronik, S. 82. 47  Die Juden wurden schrittweise in den Gebäuden Bethlehem, Troas, Pniel, Stille und Zoar untergebracht. Von der Beschlagnahme nicht betroffen waren die Häuser 45  Vgl.



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wurde auch dadurch nicht erschüttert, als verlangt wurde, dass Zitzmann als Aufsichtsführender eine Waffe zu tragen habe. Um die Anstalt und Brüderschaft zu retten, war Zitzmann demnach bereit, Aufgaben der SS zu übernehmen. Die Diakone, die zuvor als Hauseltern Pflegehäuser geleitet hatten, blieben zumindest in der frühen Phase des Lagers in ihren Hauselternwohnungen und waren weiterhin für die Häuser zuständig. Wie Diakon Gleisberg hierzu vermerkte, „an die Stelle der Kranken ist nun eine große Anzahl Juden gezogen in deren Mitte wir leben“.48 Als erstes kamen am 21. Juli 1941 130 Bewohner aus dem aufgelösten Beate-Guttmann-Heim in der Breslauer Kirschallee. Im Verlauf der nächsten Wochen trafen noch weitere Transporte aus Görlitz, Glogau und dem Bezirk Liegnitz ein, bis die Zahl der Deportierten zeitweilig auf weit über 700 Personen49 angewachsen war. Bei Häusern, die eigentlich für eine Belegung von ca. 300 Personen kon­ zipiert waren, bedeutete diese Personenzahl eine qualvolle Enge. Mehrere Familien mussten sich ein Zimmer teilen. Mehr als 50 Personen waren auf dem Dachboden von Haus Pniel untergebracht. Die Kinder hatten ihren Schlafsaal in der Anstaltskapelle, dem heutigen Brüdersaal. Toiletten, Wasch- und Kochmöglichkeiten waren nur unzureichend vorhanden.50 Für die Unterbringung musste jeder hier eingewiesene Jude monatlich zwischen 25 und 50 Reichsmark Miete sowie 100 Reichsmark für die Verpflegung zahlen.51 Die Brüderschaft Martinshof erhielt 6.000 RM Jahresmiete für die

Hermon, Gilead, Nebo, die Leuthener Außenstellen sowie der Wilhelmshof in Rothenburg. Dort konnte die Brüder- und Pflegeanstalt Martinshof ihre Arbeit fortsetzen. Bis Ende 1941 befand sich auf dem Hauptareal der Anstalt weiterhin ein Kriegsgefangenenlager. Zitzmann, Chronik, S. 40. 48  Brief Zitzmann an Bruder Schäfer über das Zusammenleben in der Anstalt Zoar, 10. September 1941. BUSS-Archiv, Ordner O 16a. 49  Im Erinnerungsbericht von Rudolf Henke heißt es, dass „zusammen mit den Umverlegungen, […] über 1000 schlesische Juden durch das Lager in Rothenburg/ Tormersdorf erfasst wurden.“ Er konnte diese Zahlenangaben machen, da seine Familie das Fuhrunternehmen betrieb, welches für den Transport der Gepäckstücke, Möbel, Post usw. der „Tormersdorfer Juden“ in Rothenburg zuständig war. Rudolf Henke, Meine Erinnerungen an das jüdische Ghetto in Rothenburg 1941–1943, in: Ulrich Hutter-Wolandt, Steffen Menzel (Hg.), Bausteine zur Rothenburger Stadt-, Kirchenund Schulgeschichte, Rothenburg/OL 1998, S. 20 f. 50  Vgl. hierzu die Erinnerungen von Bella Carlebach-Rosenak: Meine wunderbare Rettung, in: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel, Nr. 39 (April 1976), S. 9–10. http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/ titleinfo/7496486 (abgerufen am 12. April 2017). 51  Vgl. Reinhard Leue, Preisgegebene Menschen. Zwangslager und Judenghetto Zoar/Martinshof in Rothenburg 1941/1942. Sonderdruck aus dem Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 2004, S. 141.

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Bereitstellung des Anstaltsgeländes von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.52 Die Rolle, welche die Diakone und der Vorsteher bei der Beaufsichtigung des „Judenlagers“ ausübten, wurde von ihnen stets mit dem Argument relativiert, dass es im Lager eine jüdische Selbstverwaltung gab und der „Judenälteste“ für die Einhaltung der entsprechenden Gesetze und der Lagerordnung gegenüber der Gestapo verantwortlich war. „Judenältester“ war Martin Saul aus Breslau, sein Stellvertreter war Günther Runda aus Görlitz. Jedes Haus, indem die Juden untergebracht waren, hatte zudem einen Vorsitzenden. Saul und die Selbstverwaltung jedoch waren der Gestapo in Breslau rechenschaftspflichtig und hafteten persönlich für alle Geschehnisse im „Judenlager“. Ein bis zweimal pro Monat kamen SS-Angehörige der Breslauer Gestapo, um das Lager zu kontrollieren.53 Bei einer dieser Besichtigungen wurde verkündet, dass das Anstaltsareal und die Häuser in „jüdische“ und „arische“ Bereiche aufgeteilt und eingezäunt werden müssen. Jeglicher Kontakt zwischen Juden und Nicht-Juden sollte unterbunden werden, so erinnert sich Herbert Matuschok, dem während eines Fronturlaubes die Errichtung der Zäune übertragen wurde.54 Seit dem 15. Oktober 1941 durfte das Ghetto nicht mehr ohne Genehmigung verlassen werden. Die Vorsitzenden der Häuser sowie die Selbstverwaltung bekamen von Zitzmann ausgefertigte Passierscheine, damit sie die notwendigen Erledigungen in der Stadt verrichten konnten. Alle übrigen durften sich nur auf dem „Judenweg“, der südlichen Seite der Tormers­ dorfer Brücke und der daran angrenzenden, zur Anstalt Zoar gehörenden ­Neißewiese bewegen. Im Ghetto selbst bildete sich aus der Not heraus ein eigenes Gemeinwesen. Unter den Deportierten waren einige Ärzte, wie beispielsweise Dr. Erich Oppenheimer aus Görlitz, sowie Krankenschwestern, Lehrer und Friseure. Die ärztlichen Behandlungen wurden heimlich auf dem Boden der Kapelle durchgeführt. Bis zum Verbot im Juni 1942 gab es für die Kinder auch eine Schule. Selbst eine Behelfssynagoge, in welcher der Reli­ gionslehrer Max Schönfeld Gottesdienste abhielt, war vorhanden.55 52  „Trotz der Beschlagnahme ist selbstverständlich alles unser Eigentum geblieben und wir bekommen eine Miete mit der wir hoffen bestehen zu können.“ Brief Zitzmann an Bruder Schäfer. BUSS-Archiv, Ordner O 16a. Mit der Einforderung der Miete unterstreicht Vorsteher Zitzmann, dass die Beschlagnahme nur vorübergehend besteht. Das Areal sei nur „angemietet“ und sobald sich die Nutzung der Einrichtung wieder ändert, geht er davon aus, dass die Brüderschaft ihre eigentliche Arbeit wieder aufnehmen kann. Hierbei muss angemerkt werden, dass Zitzmann davon ausgeht, dass die Beschlagnahme in Friedenszeiten wieder aufgehoben wird, bzw. wenn das Areal nicht mehr für das Lager benötigt wird. 53  Vgl. Roland Otto, Die Verfolgung der Juden in Görlitz unter der faschistischen Diktatur 1933–1945, Görlitz 1990, S. 62 f. 54  Vgl. Matuschok, Chronik, S. 83. 55  Vgl. Leue, Preisgegebene Menschen, S. 142.



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Das Tormersdorfer Ghetto war nicht nur Sammel- und Durchgangslager, sondern vor allem ein Arbeitslager. Seit dem 7. März 1941 galt eine Arbeitspflicht für alle arbeitsfähigen Juden, die älter als 12 Jahre waren. Diese wurde auch in Tormersdorf durchgesetzt. Sukzessive wurden die Arbeits­ bedingungen verschärft und die Rechte und Löhne durch immer neue An­ ordnungen beschnitten. Ab dem 31. Oktober 1941 wurden sie nur noch in geschlossenen Einsätzen zum Arbeitsort gebracht. Eine größere Gruppe der Tormersdorfer Juden leistete Zwangsarbeit bei Christoph & Unmack in Niesky, eine andere im Sägewerk Müller und Söhne in Rothenburg. Die Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe der Region nutzten genauso die jüdischen Arbeitskräfte wie die städtische Wasserwirtschaft in Görlitz und die Gemeinden, die sie zum Straßen- und Deichbau einsetzte. Kontinuierlich wurde die Arbeitspflicht auch auf alte Menschen ausgedehnt. Sie wurden zum Kartoffellesen in die umliegenden Rittergüter gebracht. Auch für die Kinder galt ab 1942 die Arbeitspflicht. Sie mussten bei der Görlitzer Firma Eduard Riedel Knöpfe annähen.56 Die Kombination aus immer härter werdender körperlicher Arbeit und zunehmend schlechterer Versorgung mit Lebensmitteln, Heizmaterial, Kleidung sowie eine ständige psychische Belastung hatten den Tod von 27 „Tormersdorfer“ Juden57 zur Folge. Erich und Charlotte Oppenheimer begingen am Vorabend ihrer Deportation in das Konzentrationslager Majdanek Selbstmord. Im Herbst 1942 erfolgte die Auflösung des Lagers, welche sich bis 1943 hinzog.58 Doch auch schon davor hatte immer wieder Transporte arbeitsfähiger Juden in Lager „im Osten“ gegeben. Die Existenz der Konzen­ trationslager Auschwitz und Theresienstadt59 war unter den Tormersdorfer 56  Vgl.

Otto, Verfolgung, S. 63 ff., sowie Leue, Preisgegebene Menschen, S. 143. wurden auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt. In den Dokumentationen, Erinnerungsberichten der Diakone und des Rothenburgers Rudolf Henke gab es im Lager Tormersdorf keine Hinrichtungen. Einer der wenigen überlebenden Zeitzeugen des Lagers, Hans Hiller, bestätigte diese Aussagen. 58  Vgl. Otto, Verfolgung, S. 65. 59  Für 16 ältere „Tormerdorfer Juden“ ist belegt, dass sie ihre letzten Ersparnisse dafür opferten, um nach Theresienstadt zu kommen. Hintergrund ist die Legende, dass Hitler den Juden diese Stadt geschenkt habe und unter den „Tormersdorfer Juden“ kursierte das Gerücht, dass man sich als alter Mensch dort einkaufen konnte. Dies geschah durch sogenannte Heimeinkaufsverträge. Sie versprachen ihnen eine angemessene Unterbringung und Verpflegung sowie ärztliche Versorgung. Nichts ahnend kauften sich diese 16 „Tormersdorfer Juden“ ihre Deportation in das Vernichtungslager. Denn auf der Wannseekonferenz wurde Theresienstadt als „Altersghetto“ für über 65-jährige Juden bestimmt. Das war ein sicheres Todesurteil, da die meisten von ihnen nicht mehr arbeitsfähig waren und nur die Arbeitsfähigkeit das Leben retten konnte. Viele von ihnen starben in Theresienstadt auf Grund der dort herrschenden Bedingungen oder sie wurden in andere Vernichtungslager deportiert. Vgl. hierzu auch: Alfred Konieczny, Tormersdorf, Grüssau, Riebnig. Obozy przjeścieoe dla 57  Sie

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Bewohnern bekannt. In letzteres Lager wurden viele der Alten und schwachen Juden deportiert. Die noch Arbeitsfähigen kamen zunächst in das Kloster Grüssau in Schlesien. Es war ähnlich wie das Tormersdorfer Ghetto als Durchgangs- und Arbeitslager deklariert. Die Bedingungen hier waren allerdings noch schlechter. Anschließend wurden die meisten von ihnen über Breslau nach Auschwitz deportiert.60 In den Schriftwechseln der Brüderschaft, die zwischen Zitzmann und den Diakonen bzw. teilweise deren Frauen stattfanden, finden sich einige Reak­ tionen hinsichtlich des „Judenlagers“. Generell zeigt sich, dass die Angehörigen der Brüderschaft ein recht ambivalentes Verhältnis zum Judentum bzw. zu den Juden hatten. Besonders deutlich wird das im Feldpostbrief an Bruder Kreusel aus dem Frühjahr 1940. Er schrieb ihn also bereits ein Jahr bevor auf seinem Anstaltsareal ein Ghetto eingerichtet wurde. Bruder Kreusel befand sich zu dieser Zeit im Hafen einer nicht näher benannten Stadt in Polen mit einem sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Er berichtete Zitzmann darüber, worauf dieser antwortet: „Dass Du jetzt den Osten mit seinem ganzen jüdischen Dreck kennen lernst, freut mich in gewissem Sinne, denn man merkt dann erst, was deutsches Wesen ist. Andererseits möchte ich Dir gönnen, dass du einmal wirklich jüdisches Leben kennen lernst, wie ich es in Litauen tun durfte. Da lernt man dies und das mit anderen Augen sehen. Man könnte auch bei der Judenfrage sagen: ‚Das Fleisch tötet, aber der Geist ist lebendig gemacht‘. Ich möchte wirklich jene alten Leute wiedersehen, bei denen ich damals Quartier lag. Auch bei ihnen war der Glaube eine Macht, und deshalb hatte ich über Schmutz nicht zu klagen. Ganz anders war es allerdings bei den nächsten Juden, wo ich wohnte, bei dem lediglich das Geld die erste Rolle spielte.“61 Es ist zu vermuten, dass Zitzmann während seiner Zeit als Divisionspfarrer im Ersten Weltkrieg bei diesen Familien untergebracht war. Den christlich geprägten Antisemitismus Zitzmanns teilten viele der Diakone und ihre Angehörigen, das wird beispielsweise im Bezug auf die Unterbringung der ­Juden in der Anstalt Martinshof ersichtlich. Bruder Volkmann resümierte in seinem Brief an Zitzmann, dass „Zoar jetzt eigentlich eine große und wunderbare Missionsaufgabe sei“. Eine Missionierung unter den Juden im Lager war aber auf Grund der „Nürnberger Rassengesetze“ weder erlaubt noch Żydów Dolnego Ślązka z lat 1941–1943 (Die niederschlesischen Durchgangslager für Juden von 1941–1943), Breslau 1997, S. 41 ff. 60  Vgl. Leue, S. 144 ff. sowie: Alfred Gottwaldt/Diana Schulle, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005, S. 414 f. 61  Brief von Zitzmann an Bruder Kreusel, 21. März 1940. BUSS-Archiv, Ordner O 9c.



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sinnvoll. Konvertierte Juden blieben in der nationalsozialistischen Gesetz­ gebung dennoch Juden. Diesen Aspekt der nationalsozialistischen Gesetzgebung kritisierte Volkmann. Den Umgang des Staates mit den Juden und das Verhalten der Bevölkerung ihnen gegenüber prangerte er nicht an. Ganz im Gegenteil stellte er fest, dass „es viele nicht besser verdient haben – vielleicht die meisten, aber gab es nicht unter ihnen auch Menschen wie unter Christen?“62 Den zum Christentum konvertierten Juden ließ Zitzmann im Lager Tormersdorf besondere Fürsorge angedeihen. Er sorgte dafür, dass sie (durch eine Trennwand abgeschirmt) am Gottesdienst teilnehmen konnten. Konvertierte Juden, die im Lager starben, bestattete er in aller Würde. Das setzte er gegen den Widerstand der Gestapo durch.63 Ganz unverhohlen in ihrer Abneigung wurde Clara Flor, Ehefrau von Diakon Flor, gegenüber Zitzmann hinsichtlich der neuen Nutzung der Anstalt. Sie schrieb: „Also Zoar hat Juden bekommen! Das ist freilich eine Aufgabe die gewiss den Meisten recht widerlich ist, aber sie muss ertragen werden, es ist eben Krieg. Lassen Sie die Gesellschaft auch tüchtig mit zupacken, bei Feld- und Gartenarbeit?“64 Die Mehrheit der Diakone und ihrer Angehörigen war mit der Entscheidung Zitzmanns, das Lager zu betreuen, nicht einverstanden. Der Grund hierfür war aber, wie schon bei Clara Flor deutlich wurde, nicht Mitleid mit den Deportierten, sondern dass die Konsequenzen dieser Entscheidung langfristig nicht abzusehen waren. Nicht wenigen Diakonen ging Zitzmanns Entscheidung hier zu weit – einige hätten lieber das Brüder- und Pflegehaus aufgegeben. Ausblick – die Jahre 1943 bis 1945 Mit der Deportation der Juden in die Vernichtungslager entfiel der Beschlagnahmegrund für das Brüder- und Pflegehaus Martinshof. Dennoch erhielt die Brüderschaft seine Häuser nicht zurück. Landesrat Saalmann beanspruchte diese nun für die Unterbringung von „Geisteskranken, Alters- und Geistesschwachen“65 aus dem Gau Niederschlesien. Hierfür wurde der „Schlesische Altersheimverband“ gegründet und der NSV unterstellt. Leiter der Einrichtung wurde ab dem 6. April 1943 Pfarrer Karl Winzler aus Breslau. Zitzmann hingegen wurde als Vorsteher des Pflegehauses Martinshof 62  Brief von Bruder Volkmann an Zitzmann, 12. Oktober 1941. BUSS-Archiv, Ordner O 18. 63  Vgl. Zitzmann, Chronik, S. 68. 64  Brief von Clara Flor an Zitzmann, 10. November 1941. BUSS-Archiv, Ordner O 5. 65  Schreiben von Saalmann an den Reichsminister des Innern, 9. Februar 1943. Bundesarchiv Berlin, R 5101/23110. Bl. 136 f.

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abgesetzt. Ihm oblag nur noch die Leitung des Brüderhauses sowie der Außenstellen. Die Diakone blieben in den Pflegehäusern und arbeiteten fortan für den Altersheimverband. Im Februar 1945 wurde die Stadt Rothenburg, die Außenstellen in Leuthen sowie das Brüder- und Pflegehaus Martinshof evakuiert. Spuren der Bewohner verlieren sich in der Nähe von Regensburg, wo die Flüchtlingstrecks aufgeteilt wurden. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges befand sich Tormersdorf und die Stadt Rothenburg in der Hauptkampflinie. Bei Kriegsende wurden nahezu alle Gebäude des ZoarMartinshofes zerstört. Literatur Böhm, Boris (Hg.): Vergessene Opfer der NS-„Euthanasie“. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940 bis 1945, Leipzig 2018. Carlebach-Rosenak, Bella: Meine wunderbare Rettung, in: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel, Nr. 39 (April 1976), S. 9–10. http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/7496486 (abgerufen am 12. April 2017). Genkel, Ingrid/Jenner, Harald/Wunder, Michael: Auf der schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987. Gottwaldt, Alfred/Schulle, Diana: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005. Gütt, Arthur/Rüdin, Ernst/Ruttke, Falk: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1934. Mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, München 1934. Häusler, Michael: „Dienst an Kirche und Volk“. Die Deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung (1913–1947), Berlin/ Köln/Stuttgart 1995. Henke, Rudolf: Meine Erinnerungen an das jüdische Ghetto in Rothenburg 1941– 1943. In: Ulrich Hutter-Wolandt/Steffen Menzel (Hg.), Bausteine zur Rothenburger Stadt-, Kirchen- und Schulgeschichte. Rothenburg/OL 1998, S. 20–24. Hinz-Wessels, Annette: Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde, Berlin 2015. Kaminsky, Uwe: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Rheinland. Evangelische Erziehungsanstalten sowie Heil- und Pflegeanstalten 1933 bis 1945, Köln 1995. Konieczny, Alfred: Tormersdorf, Grüssau, Riebnig. Obozy przjeścieoe dla Żydów Dolnego Ślązka z lat 1941–1943 (Die niederschlesischen Durchgangslager für Juden von 1941–1943), Breslau 1997. Leue, Reinhard: Preisgegebene Menschen. Zwangslager und Judenghetto Zoar/Martinshof in Rothenburg 1941/1942. Sonderdruck aus dem Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 2004, S. 135–154.



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Matuschok, Herbert: Die Chronik des Martinshofes (1898–1950), unveröffentlicht und undatiert. Otto, Roland: Die Verfolgung der Juden in Görlitz unter der faschistischen Diktatur 1933–1945, Görlitz 1990. Thull, Philipp (Hg.): Christen im Dritten Reich, Darmstadt 2014.

Zwischen diakonischer Selbstbehauptung und nationalsozialistischer Wohlfahrtspolitik. Der interne Diskurs dreier Diakonissen-Mutterhäuser der Provinz Sachsen zwischen 1933 und 19451 Von Elena Marie Elisabeth Kiesel Einleitung Für die Vertreterinnen und Vertreter der konfessionellen Wohlfahrt bedeuteten die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft ein Wechselbad der Gefühle: Hatten sich die Vorsteher und Oberinnen der diakonischen Wohlfahrtseinrichtungen vom NS-Regime eine größere Wertschätzung und Unterstützung erhofft, so fanden sich einige ihrer Einrichtungen nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges in einer existenziellen Krise wieder.2 Im ständigen Konkurrenzkampf mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), deren Satzung bereits seit Mai 1933 einen Totalitätsanspruch innerhalb des Fürsorgewesens beanspruchte, verloren die konfessionellen Wohlfahrtsträger kontinuierlich an Einfluss und Handlungsspielraum. Im Laufe ihres „fürsorgepolitischen Radikalisierungsprozesses“ löste die NSV sukzessive das konfessionelle Wohlfahrtssystem auf, um ihre Monopolbestrebungen durchzusetzen.3 Zentrale Berührungs- und Reibungspunkte bildeten hierbei vor allem das inkludierende christliche Postulat des individuellen Wertes aller Menschen vor Gott ungeachtet ihrer gesundheitlichen Konstitution versus der exkludierenden Idee einer „rassisch reinen Volksgemeinschaft“, in der der Wert des Ein1  Der vorliegende Aufsatz ist inspiriert von der Masterarbeit „Zwischen christ­ licher Barmherzigkeit und politischem Gehorsam. Der interne Diskurs in Diakonissen-Mutterhäusern der Provinz Sachsen von 1933 bis 1945“, die im März 2018 an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg erfolgreich verteidigt wurde. 2  So fragte der Vorsteher der Pfeifferschen Stiftungen zu Magdeburg Hans Klaer seine Schwesternschaft in einem Rundbrief vom 22. November 1943, ob ihre Gemeinschaft eine „evangelisch-christliche“ bleiben oder säkularisiert werden solle. Vgl. Klaer, 22. November 1943, ELD_V26_2002_SB, Schwesternbriefe, 1933–1945. Dieser existentiellen Frage ging ein längerer Prozess der Anpassung der diakonischen Anstalt an das nationalsozialistische Wohlfahrtssystem voraus, der im Folgenden näher analysiert werden soll. 3  Eckhard Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Augsburg 1991, S. 221.

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zelnen über seinen Nutzen für die Gemeinschaft definiert wurde.4 Die ideologischen Differenzen zwischen barmherziger Fürsorge der Diakonie und rassisch-selektiven Mechanismen zur Erschaffung eines „arischen Volkskörpers“ führten schließlich dazu, dass sich die regionalen Wohlfahrtseinrichtungen spätestens zu Kriegsbeginn innerhalb eines Spannungsfeldes zwischen Selbstaufgabe und Selbstbehauptung wiederfanden – so die These dieses Aufsatzes. Dieser Beitrag fragt erstmals systematisch danach, wie die Vorsteher und Oberinnen der Zentren weiblicher Diakonie der Provinz Sachsen – des Diakoniewerks zu Halle an der Saale, des Diakonissen-Mutterhauses Cecilienstift zu Halberstadt und der Pfeifferschen Stiftungen zu Magdeburg – den Balanceakt zwischen diakonischer Selbstbehauptung und nationalsozialistischer „Volkskörperpflege“ gegenüber ihrem jeweiligen Schwesternkonvent kommunizierten. Durch diesen regionalhistorischen Fokus auf die Kommunikation innerhalb der Mutterhäuser soll ein Beitrag zur empirisch belegten und differenzierteren Erforschung des Protestantismus im Nationalsozialismus geleistet werden.5 Hierbei geht es nicht um die Ablösung des überholten „Kirchen­ kampf“-Mythos, der von der neueren historischen Forschung bereits als selbstlegitimierendes, apologetisches Konstrukt der Nachkriegsgeschichtsschreibung entlarvt worden war.6 Vielmehr ermöglicht die regionale Fokussierung, das Agieren und die Positionierung des protestantischen Milieus auf mikrosozialer Ebene zu fassen.7 Vor allem der Gegensatz zwischen christlichkaritativer und völkisch-biologistischer Wohlfahrtspflege weist exemplarisch „in seinem Ineinander von diakonischem Selbstverständnis und situativem Taktieren“ wesentliche Aspekte des allgemeinen Verhältnisses zwischen christlichen Kirchen und nationalsozialistischem Staat auf.8 4  Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989, S. 422. 5  Vgl. Manfred Gailus, Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im „Dritten Reich“, in: Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene Volksgemeinschaft. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 102. 6  Vgl. Manfred Gailus, Von der selbstgewählten hundertjährigen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Nachträgliche Anmerkungen zur Berliner Tagung „Protestantismus, Nationalismus und Nachkriegsgeschichte“ (2002), in: Manfred Gailus/ Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 520. 7  Vgl. Thomas Fandel, Protestantische Pfarrer und Nationalsozialismus in der Region. Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 512–541. 8  Vgl. Herwart Vorländer, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988, S. 180.



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Zwar existieren bereits Studien über das Verhältnis zwischen NS-Regierung und protestantischer Geistlichkeit in der Provinz Sachsen9, jedoch konzentrierte sich die Forschung in diesem Zusammenhang bisher vornehmlich auf institutionelle Interaktionen und Vorgänge. Auch weist die Aufarbeitung der Geschichte der einzelnen Einrichtungen für den Untersuchungszeitraum gravierende Lücken auf und geht zumeist nicht über eine deskriptiv-chronistische Darstellung hinaus.10 Zur Bereicherung der existierenden Forschungslandschaft erscheint es daher sinnvoll, aus einer kulturhistorischen Sicht nach den individuellen Wahrnehmungsmustern und Argumentationsstrategien der einzelnen Akteurinnen und Akteure zu fragen. Zudem werden in diesem Aufsatz Quellen aus drei verschiedenen Häusern parallel untersucht. Diese Vorgehensweise ermöglicht einerseits, Gemeinsamkeiten innerhalb der Argumentationsstrukturen der einzelnen Einrichtungen herauszuarbeiten, sowie andererseits Unterschiede in Wahrnehmung, Interpretation und möglicherweise auch der Legitimierung der analysierten Topoi zu destillieren. Um diesen drängenden Fehlstellen innerhalb der Zeitgeschichtsforschung zu begegnen, verfolgt dieser Beitrag also das Ziel, jene internen Kommunikationen offenzulegen und kritisch zu analysieren, in denen die diakonischen Führungspersönlichkeiten ihre Interaktionen mit staatlichen Stellen und ihre Positionierung zum NS-Regime begründeten und mithilfe (normativ-)theologischer, aber auch politisch-ideologischer Argumente legitimierten. Grundlage der Untersuchung sind die sogenannten Schwesternbriefe, die die Vorsteher und Oberinnen der Einrichtungen zumeist in monatlichem Rhythmus an die Schwestern inner- und außerhalb des Mutterhauses schickten. In diesen Rundschreiben berichteten die Oberen über aktuelle Vorgänge, versandten Festtagsansprachen und (wohlfahrts-)politische Neuigkeiten. Die Verwendung der Schreiben als reine Nachrichtenorgane ist jedoch vor allem innerhalb der Halberstädter und Hallenser Konvolute außerordentlich selten. Vielmehr fungierten die Briefe zur Aufrechterhaltung der emotionalen Verbindung zwischen den „Hauseltern“ und der Schwesternschaft. Besonders deutlich wird diese gefühlsbetonte Komponente im Diakoniewerk Halle, wo die Oberin Adelheid von der Marwitz und der Vorsteher Superintendent Karl Schroeter den Begriff der „Hauseltern“ als Selbstbezeichnung nutzten und somit das traditionell-diakonische, pietistisch inspirierte Gemeindekonstrukt 9  In diesem Kontext vor allem: Martin Onnasch, Um kirchliche Macht und geistliche Vollmacht. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenkampfes in der Kirchenprovinz Sachsen 1932–1945, Frankfurt/Main 2010. 10  Vgl. u. a. für die Pfeifferschen Stiftungen: Andreas Riemann/Linda Stieffenhofer/Michael Kamp, 125 Jahre Pfeiffersche Stiftungen – Gott zur Ehre und den Menschen zuliebe, München 2014; für das Diakoniewerk Halle: Christoph Radbruch/Elisabeth Koch, Von der Diakonissenanstalt zum Diakoniewerk Halle. Biografie einer kirchlichen Institution in Halle an der Saale, Halle/Saale 2011.

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einer religiösen Familie immer wieder bestärkten.11 Ähnlich wirken die Halberstädter Briefe der Oberin Margarethe von Hülsen und des Vorstehers Pastor Otto Hanse, während der Magdeburger Vorsteher, Superintendent Hans Klaer, ein distanzierteres Verhältnis zum Schwesternkonvent gepflegt zu haben scheint. Zudem stehen die Briefe aus Halberstadt und Halle häufig unter einem biblischen „Motto“, das als Zitat eingangs noch vor der Begrüßung formuliert worden war. Aufgrund ihrer Funktionen stellen die Briefe eine wertvolle Quelle für die Geschichtswissenschaft dar. Wenngleich die Dokumente ausschließlich innerhalb der Mutterhausgemeinschaft versandt worden waren, unterlagen sie dennoch einer gewissen Selbstzensur des Schreibers. Zwar wurden sie nicht, wie die Jahresberichte der Häuser, von einer Druckerei angefertigt, dennoch unterlagen sie in der Regel keinen exklusiven Diskretionsbestimmungen und bargen daher stets die Gefahr, auch von Außenstehenden gelesen zu werden. Konkrete oppositionelle Stellungnahmen gegen das nationalsozialistische Regime bedeuteten insofern ein großes Risiko für den Schreiber, sicherheitspolizeilich überprüft zu werden. Während die meiste übrige Überlieferung der Häuser bürokratischer Natur ist, geben diese Dokumente jedoch trotz individueller zensorischer Einschränkungen exklusiven Einblick in die interne Kommunikation der „Hauseltern“ mit den „Haustöchtern“. Um ihre Essenz zu destillieren, werden die Argumentationsstrukturen innerhalb der Briefe vergleichend und im Hinblick auf ihre Kontinuitäten und Diskontinuitäten analysiert. Die Kategorisierung der Themen orientiert sich hierbei einerseits an den selbstgewählten Schwerpunkten der Schreiber, sowie andererseits an historischen Ereignissen, welche die Diakonie, ihre I­ deale und Arbeit betrafen. In diesem Zusammenhang wird zwischen standardmäßigen Themen der Schwesternbriefe, wie etwa Geburtstagsgrüße oder Urlaubs­ ankündigungen, und jenen, die als spezifisch für den Untersuchungszeitraum einzuschätzen sind, unterschieden. Letztere stehen in enger Korrelation zu den historischen Rahmenbedingungen. Zur Ermittlung der Topoi sowie zur Analyse der aus den Briefen extrahierten Themen erscheint das inhaltsanalytische Verfahren probat, um Kontinuitäten und Brüche innerhalb der Argu-

11  Die Geschichte des Diakoniewerkes in Halle ist aufs Engste mit der pietistischen Erweckungsbewegung verknüpft und steht unmittelbar in der Kaiserswerther Tradition. Vgl. Christel Butterweck, Das Diakonissenhaus zu Halle an der Saale, in: Sebastian Kranich/Peggy Renger-Berka/Klaus Tanner (Hg.), Diakonissen, Unternehmer, Pfarrer. Sozialer Protestantismus in Mitteldeutschland im 19. Jahrhundert, Leipzig 2009, S. 47. Die pietistische Vorstellung, das Individuum gehe als Ganzes in der religiösen Gemeinschaft auf und fände nur so zur persönlichen Vollendung, findet in dem Gemeinschaftsverständnis der weiblichen Diakonie seine Konkretion in der Schwesternschaft.



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mentations- und Assoziationsstrukturen zu ermitteln, analysieren und schließlich vergleichen zu können.12 Rahmenbedingungen: Schwerpunkte der Einrichtungen Die drei Diakonissen-Mutterhäuser, deren Dokumente als Quellengrundlage dieses Aufsatzes dienen, verschrieben sich bereits bei ihrer Gründung unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten. So bot eine Choleraepidemie, die die Stadt Halle an der Saale im Jahre 1850 heimsuchte, das entscheidende Initial für die Gründung einer Diakonissenanstalt, die der mangelnden Versorgung Erkrankter Einhalt gebieten sollte. Nachdem schließlich genügend Spenden für den Ankauf eines adäquaten Hauses zur Verfügung standen, nahm die nach den diakonischen Grundsätzen des Kaiserswerther Diakonissenhauses Theodor Fliedners konzipierte und durch ihre Gründerin Mathilde Tholuck pietistisch beeinflusste Einrichtung im Jahre 1857 ihren Dienst auf.13 Wenngleich das Diakoniewerk im Laufe ihrer Entwicklung ein Altersheim und ein Kleinkindlehrerinnenseminar in ihr Arbeitsspektrum integrierte, blieb die Krankenpflege stets Schwerpunkt des Hallenser Stiftes. Der Impuls für die Stiftung der Halberstädter Diakonissenanstalt lag demgegenüber in den „Schäden des religiösen und sittlichen Lebens“14 im Zuge der Industrialisierung begründet. Zum Gründungsethos des im Jahre 1873 gestifteten Diakonissen-Mutterhauses wurde daher die Kinderpflege, die bis 12  Die Methodik ist inspiriert von jener des Historikers Martin Humburg, der in seiner Dissertation zu Feldpostbriefen des Zweiten Weltkriegen ebenfalls mit dem Phänomen unspezifischer, „standardisierter“ Themen, die über die Zeit stabil blieben, und jenen, die neu und abhängig von dem situativen Kontext des Schreibers waren, unterscheidet. Vgl.: Martin Humburg, Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 76–77, sowie: ders., „Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Wortes“. Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost, in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/ Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 75–85, S. 79. 13  Vgl. Reinhard Turre, Gründung und Entwicklung des Diakoniewerks Halle, in: Verein für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen (Hg.), Innere Mission und Diakonie in der Kirchenprovinz Sachsen. Ursprung und Entwicklung bis zum Ende des Kaiserreiches (1848–1918), Bd. 4, Magdeburg 2011, S. 44–45. Die Gründerin Mathilde Tholuck, geb. Freifrau von Gemmingen-Steineck, stand der „Erweckungsbewegung“ als Ehefrau des pietistischen Theologen Friedrich August Gotttreu Tholuck nahe. Zudem soll sie mit den „Gründervätern“ moderner diakonischer Arbeit Theodor Fliedner und Hinrich Wichern in Kontakt gestanden haben, die sie zur Stiftung der Diakonissenanstalt inspirierten. 14  Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift Halberstadt, im Folgenden DMC_110_ Jahresberichte 1873, Festschrift zum 25jährigen Jubiläum, verfasst von Pastor David, Halberstadt 1898.

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zur endgültigen Übernahme sämtlicher Kinderbetreuungseinrichtungen durch die NSV Hauptarbeitsgebiet des Stiftes bleiben sollte.15 Auch die Pfeifferschen Stiftungen zu Magdeburg wurden zur Beseitigung der durch die Industrialisierung verstärkten sozialen Probleme initiiert. Besonders der Vernachlässigung der Kindererziehung und der „Alten und Gebrechlichen“ infolge des steigenden Anteils berufstätiger Frauen, aber auch der gesellschaftlichen Exklusion physisch und psychisch Behinderter sollte Abhilfe geschaffen werden. So entstand 1889 eine Pflegeeinrichtung für die „aussichtslos kranken, die alten, gebrechlichen, gänzlich arbeitsunfähigen Leute“ im Fischer- und Flussschifferdorf Cracau bei Magdeburg (1910 eingemeindet).16 Nachdem sich die Einrichtung über die Jahrhundertwende hinweg etabliert hatte, führte die militärische Beanspruchung des Personals und der Anstaltsgebäude während des Ersten Weltkrieges zu einer prägnanten Schwerpunktverlagerung der Stiftung innerhalb ihres Tätigkeitsspektrums. Noch weit über das Kriegsende im Jahre 1918 hinaus blieben die Unterbringung, Pflege und Behandlung Kriegsversehrter Hauptarbeitsgebiet des noch jungen Diakonissenhauses. Im Zuge dieser Entwicklungen etablierten sich das Haus zu einer überregional anerkannten Einrichtung für „Irren- und Krüppelpflege“ mit einer hochspezialisierten orthopädischen Chirurgie- und Therapie-Station.17 Obgleich die Einrichtungen aus unterschiedlichen Beweggründen gestiftet worden waren, handelt es sich bei allen drei Häusern um etablierte Institu­ tionen in ihrem jeweiligen Fachgebiet. Nachdem sich die Einrichtungen jahrzehntelang gegen die säkulare Fürsorgearbeit hatten behaupten können und einen festen Platz in der deutschen Wohlfahrtslandschaft einnahmen, sollten sie nach 1933 mit neuen Hürden konfrontiert werden, wenngleich die Interaktionen mit staatlichen Instanzen je nach Arbeitsschwerpunkt durchaus unterschiedlich verliefen.

15  Weiterführend: Elena M. E. Kiesel, Kinderpflege im göttlichen Auftrag. Das Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift in Halberstadt und sein Verhältnis zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 29 (2017), S. 257–291. 16  Hedwig Pfeiffer/Gustav Pfeiffer, „Gott zu Ehren, den Menschen zu lieb“, Magdeburg 1889, S. 4, zitiert nach: Otto Rössig, Die Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg-Cacau (1889–1918), in: Verein für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen (Hg.), Innere Mission und Diakonie, S. 74. 17  Vgl. Riemann/Stieffenhofer/Kamp, 125 Jahre Pfeiffersche Stiftungen.



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Analyse: Zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe 1. „Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergänglich Wesen ans Licht gebracht“ (2.Tim.1,10)18 Zunächst hielten sich die diakonischen Verbandsgeistlichen unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 tendenziell zurück. Dennoch scheinen die großen Zusicherungen Adolf Hitlers an die christlichen Kirchen bezüglich deren Anerkennung als „wichtigste Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums“ in seiner Regierungserklärung vom 23. März 1933 die Mitglieder der Inneren Mission – dem Spitzenverband der deutschen Diakonie – positiv beeinflusst zu haben.19 Diese Euphorie erfasste offensichtlich auch den Vorsteher des Hallenser Diakoniewerks, der in seiner „Osterbrieftaube“ 1933 unter Erwähnung des oben genannten Bibelverses aus dem zweiten Brief an Timotheus schrieb: „Seit der letzten Brieftaube [nach Überlieferung Weihnachten 1932, E. K.] ist Gewaltiges geschehen in Deutschland und Allerschlimmstes verhütet worden. Beides gewiß nicht ohne Gottes Willen. Ob wir die volle, innige Dankbarkeit dafür aufbringen – zur Ehre Gottes und zu unserem eigenen Segen? Unsere Verantwortung ist gewachsen. Ach, daß wir unseren Osterglauben und die ganze Flutwelle von Osterleben hineintragen lernten in die Herzen der Kranken und Leidenden, aller unserer Pflegebefohlenen, in unser aufgewachtes Volk! Unser Herr wecke dazu nicht nur das ernste Verantwortlichkeitsgefühl, sondern auch eine große Freudigkeit zum Dienst.“20

Schroeters Wahrnehmung der Machtübertragung an die Nationalsozialisten als etwas „Gottgewolltes“ ist in der deutschen Pfarrerschaft und vor allem in der deutschchristlichen Bewegung, welcher der Superintendent bis November 1934 angehörte21, keine Ausnahme. In der Hoffnung, dass der fortschreitenden „Säkularisierung“, dem „gottlosen Sozialismus“ und der vermeint­ lichen jüdischen Vorherrschaft im kulturellen und wirtschaftlichen Leben Einhalt geboten werde, begrüßte eine Vielzahl von Kirchenamtsträgern die politische Wende.22 Das Versprechen des neuen Reichskanzlers, die konfes­ 18  Diese Bibelstelle wählte der Vorsteher der Hallenser Anstalten als Motto für das Schwesternrundschreiben zu Ostern 1933 aus. Zitiert nach: Diakoniewerk Halle/ Saale, im Folgenden: DWH_24_BT, Brieftaube Diakoniewerk Halle, 1933–1938, Schroeter, Ostern 1933. 19  Vgl. Jörg Thierfelder, Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, in: Ursula Röper, Carola Jüllig (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Stuttgart 2007, S. 225–226. 20  DWH_24_BT, Brieftaube Diakoniewerk Halle, Schroeter, Ostern 1933. 21  Ebd., Schroeter, 10. November 1934. 22  Vgl. Ernst Wolf, Volk, Nation, Vaterland im protestantischen Denken von 1930 bis zur Gegenwart, in: Horst Zilleßen (Hg.), Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche

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sionelle Wohlfahrt als zentrale Säule der Gesellschaft anzuerkennen, hallte offensichtlich in diesem Auszug nach. Darüber hinaus schrieb Schroeter von einem nun „aufgewachten Volk“, das nach der „Hoffnungslosigkeit, […] Ehrlosigkeit [und] Mutlosigkeit selbst der Mutigen“23 – nach der Niederlage des Ersten Weltkrieges – aus langem Schlummer erwacht sei. Im Kontext der pietistischen Tradition des Hauses kann dieser Vergleich der politischen Ereignisse mit einer „Erweckung“24 durchaus als religiöse Metaphorik verstanden werden, mithilfe derer der Superintendent den regierungspolitischen Wechsel als sakrales und gottgewolltes Erweckungserlebnis im Sinne einer göttlichen Erleuchtung dargestellte. Während die Formulierungen der „Osterbrieftaube“ von literarischen Stilmitteln geprägt sind, wird Schroeter im August 1933 deutlicher: „Wir dürfen den ständigen Aufbau unseres Volkes nicht stören, sondern müssen ihn fördern. Darum müssen wir einzeln ebenso wie unsere ganzen Mutterhäuser unbedingte, straffe Disziplin halten. Erkennen wir in Adolf Hitler unseren großen, gottgeschenkten Führer, so wird uns der ‚Hitlergruß‘ bei öffentlichen Veranstaltungen bald zur Gewohnheit werden.“25

Demzufolge forderte der Superintendent, die diakonische Tätigkeit in den Dienst des „Aufbau[s] der Volksgemeinschaft“ zu stellen, wie ihn die nationalsozialistische Propaganda verlangte. Auch der Vorsteher der Pfeifferschen Stiftungen, Hans Klaer, ebenfalls ein Deutscher Christ26, interpretierte die Zeit nach dem 30. Januar 1933 als „bedeutsame Wochen“, in der die Diakonie „vor neue, größere Aufgaben gestellt werden“ würde: „Wenn der ganze neue Aufbau unseres Volkes gelingen soll, so müssen alle, die am Wohl unseres Volkes mitzuarbeiten haben, in dieser Zeit ganz besonders auf dem Posten sein [und] sich keine Mühe verdrießen lassen […]. Es kommt auf die äußerste Disziplin bei jedem Einzelnen an.“27 Protestantismus und der Nationalismus, Bd. 2: Veröffentlichungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der evangelischen Kirchen in Deutschland, Gütersloh 1970, S. 174–175. 23  Im Kontext der Osterbrieftaube 1934 beschrieb Schroeter erneut eine Allegorie der Machtübergabe als „Erleuchtung“ oder „Erweckung“. Vgl. DWH_24_BT, Brieftaube Diakoniewerk Halle, Schroeter, Ostern 1934. 24  Die pietistische Religiosität sieht in der „Erweckung“ eine persönliche Kontaktaufnahme mit Gott, die den endgültigen Eintritt in die Gemeinde initiiert. Erst durch die Begegnung mit Gott könne das Individuum zu wahrem Glauben und zur Erleuchtung finden, während der „Schlafende“ dem Tode geweiht sei. Vgl. Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Bd.  22: Wissenschaftliche Paperbacks Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1973, S. 6. 25  Schroeter, 19. August 1933, in: Brieftaube Diakoniewerk Halle, DWH_24_BT. 26  Vgl. Onnasch, Um kirchliche Macht und geistliche Vollmacht, S. 181–182.



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Diese „innere Öffnung“ für die „Ideen von 1933“ ist symptomatisch für die Glaubensbewegung Deutsche Christen und bedeutete für die Einrichtungen „im Wesentlichen protestantische Selbstnazifizierung“.28 Inwiefern diese Diagnose auch für das Cecilienstift gilt, kann aufgrund der Überlieferungssituation nicht eruiert werden. Erst für den Februar 1934 liegt ein Brief des Pastors Otto Hanse vor, in dem die Machtübergabe und ihre Folgen kritischer reflektiert werden: „Wir leben in einer Zeit ständiger Verwirrungen und gewaltiger Umwälzungen. Es ist leider noch nicht so, daß die Revolution nach den Worten unseres Führers be­ endet ist, um einer ruhigen Entwicklung Platz zu machen. Schritt für Schritt, und manchmal in einer katastrophalen Entwicklung, setzen sich die Umwälzungen fort. […] Mit Besorgnis schauen wir auf die weitere Entwicklung unserer Kirche. Nur eins kann uns in der Passion, durch die wir hindurchgehen, trösten und aufrichten, nämlich das Bewusstsein: Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“29

Ähnlich wie sein Hallenser Amtskollege scheint auch Pastor Hanse eine göttliche Bestimmung der Kanzlerernennung Hitlers nicht zu bezweifeln, wenngleich er dies weniger explizit formulierte als Schroeter. Des Weiteren geht aus der Passage ein gewisses „Führervertrauen“ hervor, da er hoffnungsvoll an die Ankündigung, eine „ruhigere Entwicklung“ stünde bevor, erinnerte. Der Topos der „Gottgewähltheit“ lässt zudem in allen Briefen eine Gleichsetzung von „Führervertrauen“ und „Gottvertrauen“ zu, wonach Misstrauen gegenüber der Staatsführung religiöser Häresie gleichkäme. Demgegenüber deutet allerdings der Verweis auf die Leiden Christi in Form der Beschreibung einer „Passion, durch die wir hindurchgehen“ im Halberstädter Dokument auf ein Bewusstsein für die bedrohte Situation konfessioneller Wohlfahrtspflege durch die Machtbestrebungen der NSV hin.

27  ELD_V26_2002_SB,

Klaer 1933 (keine genaue Datierung möglich). Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 481–511, hier S. 484–486. 29  DMC_107_SB, Schwesternbriefe, 1934–1948, Hanse, Februar 1934. Auch die politische Rhetorik überhöhte das Narrativ einer „rational ‚gemachten‘, zielgerichtet geplanten Revolution“ mithilfe eines „Rückgriffs auf Erklärungsmodelle übernatürlicher Provenienz“. Jürgen Babendreier, Über moralische Erdbeben und andere Katastrophen, in: Klaus G. Saur, Martin Hollender (Hg.), Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung. Die Preußische Staatsbibliothek und das deutsche Bibliothekswesen 1933–1945, Frankfurt/Main 2014, S. 72. Die Revolution, so NSPropagandaminister Joseph Goebbels, sei „organisch“ herangewachsen und verkünde „Gottes Wort und Gottes Wille“. Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern, München 1934, S. 13, zitiert nach: Babendreier, moralische Erdbeben und andere Katastrophen, S. 72. 28  Manfred

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2. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben […] und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Luc.10,27)30 Nur wenige Monate nach diesen befürwortenden Briefen, welche die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler als „Erweckung“ und Beginn einer neuen Ära diakonischer Arbeit priesen, trübte die sukzessive Durchdringung des Wohlfahrtssystems durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und die NSV die diakonischen Hoffnungen. Durch die Eingliederung der Diakonissen in die „Reichsfachschaft deutscher Schwestern“ Anfang des Jahres 1934 begann schließlich ein Ringen um die christlichen Ideale diakonischer Liebestätigkeit. Die staatlichen Organisationen stellten nicht nur die diakonische „Liebesgemeinschaft“ des Mutterhauses als solche in Frage, sondern zielten auf eine sukzessive Verdrängung barmherziger Fürsorge und Nächstenliebe aus dem Erziehungswesen, den Krankenhäusern, sowie den Heil- und Pflegeeinrichtungen. An die Stelle des christlichen Grundsatzes, Gott sei der alleinige Herrscher über das Leben und liebe alle Menschen als seine Kinder, sollten die biologistischen Selektionsmechanismen zur Erschaffung einer national­ sozialistischen Volksgemeinschaft treten. So schrieb Superintendent Schroeter im September 1934 von „Angriffe[n] in der Juli- und Augustnummer der Zeitschrift der Reichsfachschaft [der deutschen Schwestern]“, die „von außen zur Wachsamkeit“ [Hervorhebung durch den Verfasser, E. K.] aufriefen: „Sie enthalten das Todesurteil unserer Diakonie! Sie sind noch nicht wiederrufen [sic!], trotzdem, wie ich weiß, Einspruch erhoben wurde. Man wird ihnen die Berechtigung nicht versagen können, wenn die Glaubensliebe in unseren Schwesternschaften nicht für Gemeinschaft sorgt. Alle Gründungen werden zerfallen, wenn die Gründungsgrundsätze verloren gehen. […] Gottlob, dass man von unserem Mutterhaus grundsätzlich wenigstens nicht sagen darf, uns wäre das Verständnis abhanden gekommen, dass unser Dienst mit seiner sehr verschiedenartigen Tätigkeit Gottesdienst ist und dass wir darum unter einander nicht nur eine Arbeitsgenossenschaft, sondern eine Liebesgemeinschaft bilden. […] Draußen weht der Sturmwind. Nur wer seiner Eigenart treu bleibt, ist wetterfest!“31

In dieser Passage liegt die Betonung auf der Definition des Schwesternkonvents als religiöse „Liebesgemeinschaft“. Durch die strukturelle Umgestaltung der Fürsorgelandschaft in Form der Eingliederung der Schwesternschaften in die Reichsfachschaft unterlag ihre Arbeit nun jedoch zunehmend 30  Zitiert nach: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Zürcher Bibel, Berlin 1960. Mit dieser Bibelstelle überschrieb der Hallenser Superintendent Schroeter seine Brieftaube vom 10. November 1934. Dieser Verweis auf den christ­ lichen Grundsatz der Nächstenliebe zeigt bereits die keimende Erkenntnis, dass die Maßgaben nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege nicht mit denen diakonischer kongruent sein können. Zudem kündigte er in jener Brieftaube auch seinen Austritt aus der deutschchristlichen Bewegung an. 31  Schroeter, 30. September 1934, Brieftaube Diakoniewerk Halle, DWH_24_BT.



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der Ägide von DAF und NSV. Letztere begann in diesem Zuge erstmals damit, die diakonischen Ideale aus der Wohlfahrtsarbeit zu verbannen und die Arbeitsgebiete der konfessionellen Träger zu beschneiden. In diesem Zusammenhang schrieb nur ein knappes Jahr später auch der Halberstädter Pastor sorgenvoll über die wohlfahrtspolitische Situation und betonte das Festhalten an diakonischen Werten: „Die Zeiten, in denen wir stehen, sind ernster geworden. Wir müssen damit rechnen, dass wir auf unseren Arbeitsgebieten und ganz allgemein mit mancherlei Widerstand und Schwierigkeiten zu rechnen haben werden. Manche Station ist uns gekündigt, und manche Schwester muss eine ihr lieb gewordene Arbeit aufgeben. […] Örtliche Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten dürfen uns nicht irre machen daran, dass der Heiland selbst es ist, der uns in seinen Dienst rief und um dessen Willen wir unsere Arbeit tun.“32

Der göttliche Auftrag diakonischer Arbeit ist ein Leitmotiv, das in beiden Häusern mehrfach Betonung findet. Entgegen dem nationalsozialistischen Wohlfahrtsverständnis und unter Berufung auf die „Neutralität der Liebe“ betonte Schroeter in jener „Brieftaube“, in der er seinen Austritt aus der deutschchristlichen Bewegung verkündete: „Wir haben früher nicht gezögert, uns nach Luc. 10,25–3733 zu richten; haben es durch die Tat bezeugt, dass der unser Nächster ist, wer unsern Dienst braucht und will [diesen erhält, E. K.], als wir Kommunisten gegenüber standen, die uns am liebsten umgebracht hätten […]. Inmitten der um die Entscheidung ringenden Brüder [Hervorhebung durch den Verfasser, E. K.] kann unsere Haltung nicht zweifelhaft sein […]: Gleicher Liebesdienst für jeden von beiden, der uns will und braucht. Wir sind um dieses Dienstes willen früher nicht Kommunisten geworden, haben aber auch nicht öffentlich gegen sie demonstriert, sondern blieben mit Bewusstsein Dienerinnen und Diener unseres Herren […].“34

Schroeters Grundsatzpostulat, dass der diakonische Dienst öffentlich-politische Neutralität erfordere, steht als Ausdruck bedingungsloser Nächstenliebe diametral zu den fürsorgerischen Idealen der NSV. Im Gegensatz zu seinen Amtskollegen bewertete Superintendent Klaer die wohlfahrtspolitische Umstrukturierung im August 1935 als durchaus positive Entwicklung, welche die diakonische Arbeit innerhalb des „nationalsozialistischen Volksaufbaus“ einordnen und deren Fortbestand sichern sollte: 32  Schwesternbriefe,

Hanse, August 1935, DMC_107_SB. Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Luc.10, 27: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken und deinen Nächsten wie dich selbst.“, zitiert nach: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Insofern schließt Schroeter die propagierten „Feinde des NS-Staates“ nicht aus dem Kreis der „Nächsten“ aus und hebt so seine Gemeinschaftsvorstellung scharf von der nationalsozialistischen ab. 34  DWH_24_BT, Brieftaube Diakoniewerk Halle, Schroeter, 10. November 1934. 33  Das

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„Zunächst erst einmal ganz allgemein: die Wolken, die nun fast ein Jahr über uns standen, und den Bestand und den Charakter unserer Anstalten bedrohten, beginnen sich zu lichten. […] Die neuen Satzungen […] geben in gewissem Sinne einen neuen Kurs an. Das Führerprinzip ist in ihnen klar durchgeführt. […] die Abgrenzungen der einzelnen Gebiete werden immer deutlicher. Und neue Aufgaben wachsen vor dem Auge empor. […] Das bedeutet natürlich äußerlich eine Verengung unserer Arbeit. Umso tiefer werden wir bei den evangelischen Mütterabenden herausarbeiten können, was eine evangelische Mutter als Christin ihrem Hause und ihren Kindern, und somit unserem Volke, zu geben verpflichtet ist.“35

Klaer stellte die Arbeit seines Stiftes in den Dienst der Ideologie unter der Leitung von NSV und DAF. Auch die Eingliederung der Diakonissen in die Reichsfachschaft begrüßte er als „größere Klarheit“ auf „organisatorischem Gebiete“: „Die Schwestern der Diakonie stehen mit den N. S. Schwestern an der gleichen Front der Reichsfachschaft deutscher Schwestern und Pflegerinnen, in der alle Schwesternschaften den gleichen Auftrag haben, bereitzustehen im Dienst für das deutsche Volk.“36

Im Gegensatz zu Pastor Schroeter, der die „Liebesgemeinschaft“ des diakonischen Schwesternkonvents entschieden gegen die „Arbeitsgenossenschaft“ der NS-Schwesternschaft abgrenzte, empfand Klaer die strukturelle Gleichstellung der Diakonissen mit den NS-Schwestern offenbar erstens als Selbstverständlichkeit angesichts des gleichen Auftrags und zweitens in keiner Weise als Gefährdung für die diakonischen Ideale. Während seine Amtskollegen davon schrieben, die Arbeit ihrer Häuser Gott zu widmen, stellte er die Arbeit der Magdeburger Diakonissen erneut in den Dienst des „Aufbaus des Volkes“ und griff mit der Formulierung der „gleichen Front“ zudem die martialische Rhetorik nationalsozialistischer Propaganda auf. Die sukzessive Durchdringung der konfessionellen Wohlfahrt erreichte ihren ersten Höhepunkt für die untersuchten Häuser schließlich 1938 mit den zunehmenden Übernahmen konfessioneller Einrichtungen durch die NSV. Kurz vor Beginn des Krieges zeichneten sich die Konturen nationalsozialistischer Wohlfahrtspolitik vor allem in Bezug auf die Kindererziehung immer deutlicher ab. So schrieb Pastor Hanse im Kontext der NSV-Übernahmen mehrerer konfessioneller Kindergärten in Halberstadt: „Zwar hat sich der Hauptamtsleiter [der NSV, Erich, E. K.] Hilgenfeldt beeilt mitzuteilen, daß es nicht beabsichtigt sei, die Schwestern von ihren Stationen zu vertreiben, aber die bisherigen Verhandlungen der Spitzenverbände haben noch kein brauchbares Ergebnis gezeitigt. Wenn nicht nach den Grundordnungen des Kaiserswerther Verbandes […] der Schwester die christliche Ausübung ihres Berufes gewährleistet wird, können wir natürlich die Schwester nicht auf ihrem Platz lassen! 35  ELD_V26_2002_SB, 36  Ebd.

Schwesternbriefe, Klaer, August 1935.



Diakonische Selbstbehauptung und nationalsozialistische Wohlfahrtspolitik 279 Nun aber sollen dieselben restlos den Anordnungen der NSV folgen. Die Anordnungen würden, wie ich z. B. aus Halberstadt belegen kann, in den Kindergärten darin bestehen, dass Gebet, geistliches Lied, biblische Geschichte und christliche Weihnachtsfeier verboten werden. Kann eine Diakonisse darauf eingehen? Bei Krankenschwestern mag der andere Geist nicht so scharf in Erscheinung treten, wie bei der Erziehung. Schwierigkeiten werden auch hier nicht ausbleiben, zumal grundsätzlich die Arbeit der NS-Schwester den Gesunden gilt und nicht den Kranken.“37

In diesem Zitat wird deutlich, dass Hanse die Wahrung christlicher Elemente – ebenso wie sein Amtskollege aus Halle – als existenziell für die diakonische Arbeit ansah und die Weiterarbeit der Diakonissen unter Leitung der NSV als unzumutbar empfand. Sein Widerstreben gegen die NSV und ihre Grundsätze formulierte Hanse in mehreren Briefen, während er in Korrespondenz mit unterschiedlichen Behörden um die Erhaltung der konfessionellen Kindergärten stritt.38 Und erneut hebt sich die Perspektive des Magdeburger Superintendenten scharf von jener seines Amtskollegen ab, indem dieser im Kontext der NSV-Übernahmen mehrerer Außenstationen schrieb, er wolle die Diakonissen auf ihrem Platze lassen und hoffe auf ein „gedeihliches Zusammenarbeiten mit der NSV“.39 Des Weiteren rekurrierte Hanse im Februar 1938 offenbar auf die Zusicherungen des Hauptamtsleiters der NSV vom Juli 1933, wonach die Krankenpflege Caritas und Diakonie überlassen werden solle, da die NS-Volkswohlfahrt dem „[erb-]gesunden“ Volksteil dienen wolle.40 Die Verdrängung der christlichen Wohlfahrtsträger aus der Kinderpflege bedeutete daher nicht nur die Verwirklichung fünf Jahre alter Ankündigungen; sie bedrohte vor allem den Fortbestand des Cecilienstiftes grundlegend, da dessen Hauptarbeits­ gebiet in der Ausbildung von Kinderpflegerinnen und der Unterhaltung von Kindergärten lag. 3. „Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker“ (Jes.60,2)41 Veranlasst durch die bedrängte Lage der Diakonie diagnostizierte der Hallenser Vorsteher der „barmherzigen Liebestätigkeit“ Ende des Jahres 1938 37  Schwesternbriefe,

Hanse, Februar 1938, DMC_107_SB. Kiesel, Kinderpflege im göttlichen Auftrag. 39  Klaer, Ostern 1938, Schwesternbriefe, ELD_V26_2002_SB. 40  Vgl. Protokoll der Präs.-Sitzung vom 27. Juli 1933, Archiv des Deutschen Caritasverbandes, 460.04, 1 zitiert nach: Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert, S. 194. 41  Dieses Motiv aus dem Alten Testament ist seit Beginn des Krieges virulent in den Halberstädter und Hallenser Briefen. Zitiert nach: Die Heilige Schrift des Alten und des neuen Testaments. 38  Vgl.

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eine existenzielle Krise.42 Durch die Mobilmachung tausender Diakonissen zum Lazarettdienst seit Herbst 1938 herrschte zudem massiver Personalmangel, der die Erhaltung der Außenstationen erschwerte.43 In Bezug auf die Order zum Kriegsdienst argumentierte der Hallenser Vorsteher in Rekurs auf die Werte „preußischen Pflichtbewusstseins“: „Lasst uns gemeinsam unsern Weg als Christen und als alte Preußen mit preußischem Pflichtbewusstsein gehen, dass ein Pflichtbewusstsein war in der Verantwortung vor Gott, das 200 Jahre unser Volk getragen hat. So lasst uns ruhig und getrost alles in Gottes Hand legen, vor allem das eine, dass wir unsere Pflicht tun und in der Pflichterfüllung uns von niemand übertreffen lassen, in der Verantwortung vor unserm Gott und unserm geliebten Vaterland und unseren geliebten Brüdern und Schwestern.“44

Im gleichen Brief nahm Schroeter zudem Bezug auf die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, dessen Folgen nur mithilfe ungebrochenen Gottvertrauens zu überwinden gewesen seien und gezeigt hätten, was der anstehende Krieg bedeute. Während der Brief Schroeters beinahe einer Predigt ähnelt, fasste sich der Magdeburger Vorsteher zwei Wochen nach Kriegsbeginn vergleichsweise kurz, denn es sei „ja eine selbstverständliche Pflicht, daß wir uns jetzt, wie schon immer, erst recht voll in den Dienst unseres Vaterlandes und unseres Führers stellen. […] Gott sei in dieser schweren Zeit mit unserem ganzen Volke, mit unserem geliebten Führer und mit uns allen. Heil Hitler!“45 Während der Hallenser Brief mit seinem sorgenvollen Grundtenor auf Pflichtbewusstsein und Gottvertrauen drängt, ist Klaers Schreiben von politischer Linientreue geprägt. Dieser Eindruck erhärtet sich angesichts des Magdeburger Schwesternbriefs vom Dezember 1939: „Ein inhaltsschweres Jahr geht auf die Neige. Mit unserem Volke und unserem Führer ist Gott Wege gegangen, für die wir nur zu danken haben. Aber sie waren in der letzten Zeit schwer, und werden vielleicht noch schwerer. Auf jeden Fall wird unser Volk zu erweisen haben, dass es seelische Kräfte genug besitz[t], und auch die letzte große Aufgabe, die ihm Gott auferlegt, trotz aller Opfer zu lösen gewillt ist. […] Unser ganzes deutsches Volk ist sich wohl darüber klar, dass es mit seinem Führer jetzt berufen ist, den alten Weltstörenfried, der sich bis jetzt immer so gut zu tarnen wusste, der aber mit seiner frömmelnden Scheinheiligkeit und Verlogenheit sich jetzt selbst entlarvt hat, so niederzuringen, dass er so bald nicht wieder stören wird. Wir daheim sind gewiss uns alle darüber klar, dass

42  Schroeter,

Weihnacht 1938, DWH_24_BT, Brieftaube Diakoniewerk Halle. Schroeter, 29. Juli 1939, Brieftaube Diakoniewerk Halle, DWH_25_BT. In dieser Brieftaube findet sich neben dem Verweis auf die bereits im Vorjahr erhaltenen „Mobilmachungsordres“ auch die Anweisung zu strengster Geheimhaltung der Dokumente mit dem Vermerk „Nach Kenntnisnahme verbrennen!“. 44  Schroeter, 17. August 1939, Ebd. 45  Klaer, 16. September 1939, ELD_V26_2002_SB, Schwesternbriefe. 43  Vgl.



Diakonische Selbstbehauptung und nationalsozialistische Wohlfahrtspolitik 281 auch wir, jeder an seinem Platze, einen Kriegsposten hat, der nicht versagen darf.“46

Geprägt ist dieser Auszug von Dankbarkeit gegen Gott für die militärischen Erfolge der Wehrmacht, vor allem jedoch von einem Aufruf zur Mitwirkung am Krieg. Der Sieg über den „Weltstörenfried“ sei nun das Gebot an der „Heimatfront“ – eine Chiffre, die im Kontext der historischen Rahmenbedingungen wohl die Bekämpfung des Judentums meint. Indem er die Schwestern bezugnehmend auf die vermeintliche „Weltverschwörung der Juden“ zur Mitwirkung an der „von Gott auferlegten“ Aufgabe einer „Niederringung“ aufrief, bediente er sich nicht nur antisemitischer Verschwörungsunterstellungen im Kontext nationalsozialistischer Propaganda, sondern verband diese mit der religiösen Interpretation einer von Gott auferlegten Aufgabe. Seine Argumentation weist demnach eine Überlagerung des traditionellen protestantischen Antijudaismus mit sozio-kulturellen Vorbehalten auf, die den sozialen Protestantismus bereits Ende des 19. Jahrhunderts prägten47 und durch den nationalsozialistischen Antisemitismus eine neue Dynamik erhielten. Ähnliche Tendenzen, wenngleich wesentlich impliziter, finden sich auch in den Briefen des Hallenser Superintendenten im Kontext des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Juli 1941 und der „Abwehr des antichristlichen Bolschewismus“.48 Aus dem Cecilienstift Halberstadt sind keine derartigen Argumentationen überliefert, zumal die Schwesternbriefe des Jahres 1939 gänzlich fehlen. Ähnlich wie der Vorsteher des Magdeburger Stifts sah auch die Halberstädter Oberin von Hülsen göttlichen Segen in diesem Krieg: „Der HErr [sic!] hat sich offenbar zu unserem Volk bekannt, aber wird das deutsche Volk sich auch zu ihm bekennen? Lassen Sie uns nie aufhören, liebe Schwestern, dafür die Hände zu falten. […] Hier in Halberstadt merkt man außer Fliegergebrumm und Lebensmittelkarten nichts von Krieg.“49 Wenngleich die Auswirkungen des Krieges noch nicht spürbar für die Oberin waren und sie den bisherigen Kriegsverlauf durchaus begrüßte, so wünschte sie doch drei Monate später: „Gott schenke unseren Heeren Kraft zum Durchhalten,

46  Klaer

an Schwester Meta, 23. Dezember 1939, ebd. Büttner, Von der Kirche verlassen. Die deutschen Protestanten und die Verfolgung der Juden und Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, in: Ursula Büttner/Martin Greschat (Hg.), Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, Göttingen 1998, S. 15–69, hier S. 18 u. 34. Ausführlicher hierzu: Jochen-Christoph Kaiser, Protestantismus, Diakonie und „Judenfrage“ 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 673– 714. 48  Schroeter, 14. Oktober 1941, Brieftaube Diakoniewerk Halle, DWH_25_BT. 49  von Hülsen, 11. Juli 1940, Schwesternbriefe, DMC_107_SB. 47  Ursula

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dem Führer weise Gedanken zum Führen und uns allen den baldigen Frie­ den.“50 In allen drei Einrichtungen verschob sich der Schwerpunkt der Briefe bis 1940 kontinuierlich von einer Auseinandersetzung mit der prekären Situation diakonischer Arbeit hin zu einem Diskurs über den Krieg, seinen Erfordernissen und Folgen. Während in Halberstadt bis Ende 1940 keine direkten Aufrufe zur Erfüllung der Kriegserfordernisse überliefert sind, konzentriert sich der Diskurs der anderen Häuser auf die Mobilisierung der Schwestern. Erst im Dezember 1940, als der Krieg bereits länger dauerte, als die Propaganda suggeriert hatte und angesichts des Luftkrieges mit Großbritannien seit Sommer 1940 immer größere Ausmaße annahm, rief Hanse die Diakonissen zum bedingungslosen Einsatz im Kriegsdienst auf: „Wieder muss unser Volk einen harten und bitteren Krieg durchhalten, der zum Weltkrieg sich auszuweiten droht. Das kann nicht ohne Wirkung bleiben, auch bei uns Christen. Jeder Krieg verhärtet die Herzen, und die Liebe erkaltet! Der völkische Selbsterhaltungstrieb leitet all unser Denken und Handeln. […] [Der, E.K.] Wille Christi geht ganz bestimmt darauf hin, dass wir in unserem irdischen Beruf Tüchtiges leisten, auch in der Arbeit fürs Volk und in der Verteidigung des Vaterlandes. […] Das ist also der Weg der helfenden Liebe in einer Welt der Tränen und der Not! […] Möchte doch die Weihnachtsbotschaft von dem Frieden auf Erden bald wieder zur Wahrheit werden, auch für unser Volk.“51 Abgesehen von Hanses düsterer Vorahnung eines drohenden Weltkrieges sind zwei weitere Aspekte dieser Passage äußerst bemerkenswert: Sein bedauernder Rekurs auf den „völkischen Selbsterhaltungstrieb“ kann einerseits als Missbilligung bezogen auf die Kriegsziele Deutschlands gedeutet werden, die die Eroberung neuer Gebiete der „Schaffung neuen Lebensraums“ für die „Herrenrasse“ beinhalteten. Andererseits kann diese angedeutete Kritik ebenso die Krankenmorde der „T4-Aktion“ meinen, der tausende von Pfleglingen der Heil- und Pflegeanstalten im Ansinnen einer „genetischen Reinigung des Volkes“ zum Opfer fielen.52 Darüber hinaus legitimierte der Pastor den Einsatz der Diakonissen im Kriegsdienst mit einer vermeintlichen Verteidigungsposition des „Deutschen Reiches“ und nahm sein „Vaterland“ konform zur NS-Propaganda nicht als Aggressor wahr.

50  Von

Hülsen, undatiert [Oktober 1940], ebd. Advent 1940, ebd. 52  Da das Halberstädter Cecilienstift eine Taubstummenanstalt unterhielt, ist anzunehmen, dass die Schwesternschaft auch mit dieser Thematik konfrontiert worden war. Vgl. Kiesel, Kinderpflege im göttlichen Auftrag. Konkrete Äußerungen zu diesem Themenkomplex finden sich jedoch weder in den Schwesternbriefen noch in anderen Quellen des hauseigenen Archivs. 51  Hanse,



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Nachdem die konfessionellen Kinderpflegeeinrichtungen ab dem 1. September 1941 via Beschluss des Gauleiters, Reichstatthalters und Ministerpräsidenten Sachsens Martin Mutschmann sämtlich an die NSV übergeben werden mussten53, verschärfte sich der kritische Grundtenor der Briefe des Halberstädter Vorstehers. Dem Cecilienstift wurde mit der handstreichartigen Übernahme der Einrichtungen sein existenzbegründetes Moment genommen. Unter diesem Eindruck formulierte der Pastor Ende 1941: „Man wird nicht müde, trotz all der Schrecknisse der heutigen Tage, die Herrlichkeit der kommenden Zeit zu schildern. Ein zweites Paradies soll kommen, aber die Farben dieses Gewandes sind sehr irdischer Art. […] Ist das die Zukunft der Menschheit, dass deutscher Geist und deutsche Macht in der Welt regiert? Man beruft sich auf das Dichterwort: ‚Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!‘ Auch wir sehen es nur zu deutlich und mit tiefem Ernst, dass am deutschen Wesen auch viel enthalten ist, dass uns nicht gefallen kann. Deutsche Fäuste schlagen hart und deutsche Füße waten jetzt durch Blut. Aus Blutsaat muss Tränenernte erwachsen!“54 Und nur wenige Wochen später schrieb er: „In der Welt sieht es nicht weihnachtlich aus, ein Volk empört sich wider das andere und ein Reich wider das andere. Pestilenz und teure Zeit schreitet über den Erdenkreis und die Grundfesten der Erde erbeben. […] Wir leiden unter eigenen Sorgen und Sünden und gewahren zunehmender Christusfeindschaft allerorten. Da wird die Weihnachtsbotschaft zu dem alten Prophetenwort: ‚Finsternis bedecket das Erdenreich und Dunkel die Völker‘ “.55

Indem Hanse diese expliziten Zweifel an der Angemessenheit und Rechtmäßigkeit deutscher Politik und Kriegsführung formulierte, brachte er sich nicht nur persönlich in Gefahr, als „Volksverhetzer“ verurteilt zu werden. Vielmehr entzieht seine Kritik der Indienstnahme diakonischer Arbeit für (kriegs-)politische Ziele jede Legitimation. Ursächlich für diese „Schrecknisse des Krieges“ sei die Gottverlassenheit und Sündhaftigkeit der Menschheit – die Allegorie der Dunkelheit aus Jesaja 60,2 verwandte ebenso auch Superintendent Schroeter im gleichen Kontext.56 Während das Cecilienstift und das Diakoniewerk jedoch stringent zur Standhaftigkeit im Glauben und Missionsarbeit aufriefen, scheinen der Krieg und seine Folgen die Pfeifferschen Stiftungen in eine existenzielle Krise geführt zu haben. Im November 1943 richtete Superintendent Klaer ein Schreiben an die Diakonissen, in dem sie vor die Wahl gestellt wurden, ob ihre Arbeit weiterhin den diakonischen 53  Vgl.

Hansen, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat, S. 170 u. 220–222. Advent 1941, Schwesternbriefe, DMC_107_SB. 55  Hanse, Weihnacht 1941 (ebd.) in Rekursion auf Jes.,60, 2: „Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; doch über die strahlt auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“, zitiert nach: Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. 56  Vgl. u.  a. Schroeter, 22. November 1943, Brieftaube Diakoniewerk Halle DWH_25_BT. 54  Hanse,

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Idealen folgen oder säkularisiert werden solle.57 Zwar entschied sich die Schwesternschaft gegen eine Aufgabe des Mutterhauses und plädierte für eine Rückbesinnung auf die barmherzige Liebestätigkeit, die sich auch in den Briefen bis Kriegsende niederschlägt; deutlich wird jedoch, dass die Arbeit unter Leitung der NSV die konfessionellen Wohlfahrtseinrichtungen an den Abgrund der Aufgabe zu bringen vermochte – bereits im September 1934 schrieb Vorsteher Schroeter: „Alle Gründungen werden zerfallen, wenn die Gründungsgrundsätze verloren gehen.“58 Fazit: Zwischen Anpassung, Gleichschaltung und Resistenz Nachdem die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 in allen drei Einrichtungen euphorisch – teilweise sogar als Erfüllung göttlichen Willens – begrüßt worden war, änderte sich dieser Tenor angesichts des beginnenden Konkurrenzkampfes mit der NSV in den Hallenser und Halberstädter Briefen rasch. Während Superintendent Schroeter und Pastor Hanse in der Kooperation mit der parteiamtlichen Wohlfahrtsorganisation die diakonischen Arbeitsideale bedroht sahen59, befürwortete Superintendent Klaer jedoch die Gleichstellung von Diakonisse und NS-Schwester als Möglichkeit zum gemeinsamen „Aufbau des Volkes“. In den Jahren bis zum Kriegsbeginn spitzte sich vor allem der Konflikt zwischen Cecilienstift und NSV weiter zu. Dieser Konkurrenzkampf trat jedoch angesichts der Erfordernisse des Krieges in den Hintergrund, da die Diakonissen entweder zum Kriegsdienst angefordert oder in die Fürsorge­ infrastruktur der „Heimatfront“ eingebunden waren. Die nach dem deutschen Überfall auf Polen verfassten Briefe sind geprägt von Aufrufen zu Gebeten um göttlichen Segen für das „Vaterland“ und bedingungsloser Hingabe für die christliche Berufsausübung. Auch die Hallenser tendieren in diese Richtung. Am deutlichsten wurde das Spannungsfeld zwischen diakonischer Selbstbehauptung und Selbstaufgabe wohl 1943 in den Pfeifferschen Stiftungen, als Klaer die Schwestern um eine Entscheidung für oder gegen die Diakonie bat. Diese Situation der Hinterfragung genuin diakonischer Arbeitsgrundsätze kann als direkte Konsequenz der Monopolbildung der NSV im wohlfahrts­

57  Vgl. Klaer an Schwester Gertrud, 22. November 1943, Schwesternbriefe, ELD_ V26_2002_SB. 58  Schroeter, 30. September 1934, Brieftaube Diakoniewerk Halle, DWH_24_BT. 59  In diesem Zusammenhang kann das Verhalten Hanses gar als Resistenz gegenüber staatlichen Eingriffen in die Arbeit des Cecilienstiftes gewertet werden, vgl. hierzu Kiesel, Kinderpflege im göttlichen Auftrag.



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politischen Kontext sowie allgemein der gesellschaftlichen Säkularisierung im Nationalsozialismus bezeichnet werden. Zudem zeigte die Analyse, dass mehrere Themen, wie Zwangssterilisationen, „Euthanasie“ und Judenverfolgung, welche die Arbeit der diakonischen Einrichtungen tangieren mussten, in den Briefen – wenn überhaupt – nur sehr implizit thematisiert worden waren.60 Diese hochpolitischen Angelegenheiten sollten offenbar nicht mit der breiten Schwesternschaft in einem derart „risikobehafteten“ Medium diskutiert werden. Dennoch lässt sich vor allem den Halberstädter Briefen Kritik entnehmen. Hierbei äußerte sich Pastor Hanse nicht nur über die übergriffige Wohlfahrtspolitik des Regimes, die den Fortbestand seiner Einrichtung gefährdete; die Brutalität des Krieges verurteilte er bereits im Herbst 194161 – noch vor dem am 18. Februar 1943 ausgerufenen Postulat des „totalen Krieges“. Wenngleich die Oberen des Hallenser Diakonissenhauses und der Magdeburger Stiftungen weniger explizit argumentierten, weisen ihre Briefe spätestens seit dem Jahresbeginn 1943 einen diskursiven Bruch auf: von einer (weitgehend) regimetreuen Positionierung hin zu einem Appell für den Frieden, geprägt von religiöser Metaphorik und Allegorie: „Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker“ (Jes. 60,2). Literatur Babendreier, Jürgen: Über moralische Erdbeben und andere Katastrophen, in: Klaus G. Saur/Martin Hollender (Hg.), Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung. Die Preußische Staatsbibliothek und das deutsche Bibliothekswesen 1933–1945, Frankfurt/Main 2014, S. 69–96. Butterweck, Christel: Das Diakonissenhaus zu Halle an der Saale, in: Sebastian Kranich/Peggy Renger-Berka/Klaus Tanner (Hg.), Diakonissen, Unternehmer, Pfarrer. Sozialer Protestantismus in Mitteldeutschland im 19. Jahrhundert, Leipzig 2009, S. 47–58. Büttner, Ursula: Von der Kirche verlassen. Die deutschen Protestanten und die Verfolgung der Juden und Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, in: Ursula Büttner/Martin Greschat (Hg.), Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“, Sammlung Vandenhoeck, Göttingen S. 15–68. 60  Zwar diskutierte Klaer Themen wie Zwangssterilisation und „Euthanasie“ nicht innerhalb der Schwesternbriefe, dennoch kann eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Gesundheitspolitik nachgewiesen werden. Vgl. Roswitha Hinz, Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in den Jahren 1933–1945 in ihren Auswirkungen auf die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner in den Pfeifferschen Stiftungen/MagdeburgCracau, in: Ute Hoffmann (Hg.), NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, Teil 1, Magdeburg 2001, S. 41–59. 61  Hanse, Weihnacht 1941, Schwesternbriefe, DMC_107_SB.

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Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Zürcher Bibel, Berlin 1960. Fandel, Thomas: Protestantische Pfarrer und Nationalsozialismus in der Region. Vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 512–541. Gailus, Manfred: 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransforma­ tion und Spaltung, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 481–511. Gailus, Manfred: Von der selbstgewählten hundertjährigen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Nachträgliche Anmerkungen zur Berliner Tagung „Protestantismus, Nationalismus und Nachkriegsgeschichte“ (2002), in: Manfred Gailus/Wolfgang Krogel (Hg.), Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantismus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, S. 511–538. Gailus, Manfred: Keine gute Performance. Die deutschen Protestanten im „Dritten Reich“, in: Manfred Gailus/Armin Nolzen (Hg.), Zerstrittene Volksgemeinschaft. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, S. 96– 121. Hansen, Eckhard: Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Bd. 6: Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung, Augsburg 1991. Hinz, Roswitha: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in den Jahren 1933–1945 in ihren Auswirkungen auf die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner in den Pfeifferschen Stiftungen/Magdeburg-Cracau, in: Ute Hoffmann (Hg.), NS-Zwangs­ sterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, Teil 1, Magdeburg: Landeszentrale für politische Bildung des Landes SachenAnhalt, 2001, S. 41–59. Humburg, Martin: Das Gesicht des Krieges. Feldpostbriefe von Wehrmachtssoldaten aus der Sowjetunion 1941–1944, Opladen, Wiesbaden 1998. Humburg, Martin: „Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Wortes“. Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost, in: Veit Didczuneit/Jens Ebert/ Thomas Jander (Hg.), Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, S. 75–85. Kaiser, Gerhard: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt/Main 1973. Kaiser, Jochen-Christoph: Protestantismus, Diakonie und „Judenfrage“ 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 673–714. Kaiser, Jochen-Christoph: Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der inneren Mission 1914–1945, München 1989. Kiesel, Elena M. E.: Kinderpflege im göttlichen Auftrag. Das Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift in Halberstadt und sein Verhältnis zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 29 (2017), S. 257–292.



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Krankenpflege und Armenfürsorge im Erzbistum Breslau zur Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945 am Beispiel der Vinzentinerinnen Von Maik Schmerbauch Einleitung Die Kirchen- und Caritasgeschichte der Tätigkeit der „Barmherzigen Schwestern und Töchter der christlichen Liebe vom Heiligen Vinzenz von Paul“, den Vinzentinerinnen, im Zeitraum 1933 bis 1945 im Breslauer Raum ist bislang unerforscht und stellt ein Forschungsdesiderat der neueren Ordensgeschichte dar. Sie lässt sich auch bei Weitem nicht nur in einem einzelnen Aufsatz darstellen, da es eine für den (Kirchen-)Historiker doch recht umfangreiche schriftliche historische Überlieferung aus dem Mutterhaus Köln für diese Zeit gibt. Viele historische Akten und Aufzeichnungen der Vinzentinerinnen zu ihrem Wirken im Breslauer Raum haben den dramatischen Untergang des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 tatsächlich – und fast unbeschadet – überlebt, wenn es auch Lücken an einzelnen Jahren gibt. Diese erhaltenen historischen Akten sind heute in einem „provisorischen Archiv“ des Mutterhauses in Köln-Nippes untergebracht.1 Das Mutterhaus in Köln-Nippes wurde aufgrund der Neuausrichtung der politischen Grenzen im Osten Europas nach 1918 für die Vinzentinerinnen im Bistum Breslau (ab 1930 Erzbistum Breslau, heute Wrocław) und für den Breslauer Delegaturbezirk für den Zeitraum 1920 bis 1946 anstelle des vorherigen Mutterhauses Kulm (heute Chełmno) verantwortlich. Als zusätzliche, wenn auch für das Thema etwas weniger bedeutende Quellen, wurden Breslauer Schematismen, Beuthener Adressbücher und das Breslauer Sonntagsblatt im Zeitraum von 1933 bis 1945 eingesehen. Die Akten des damaligen Städtischen Krankenhauses Beuthen (Oberschlesien) im heutigen Bytom (Polen) konnten aufgrund des damit verbundenen nicht zu vertretenden Aufwandes für den Aufsatz vorläufig noch nicht eingesehen werden. Diese Überlieferung wäre in einer konsekutiven und weitaus breiteren Forschung aber zu berücksichtigen, würde aber tiefer den Bereich der 1  Das Archiv der Vinzentinerinnen im Mutterhaus Köln-Nippes wird weiter abgekürzt als AVMK.

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Medizingeschichte während des „Dritten Reiches“ als die Ordensgeschichte berühren. Akten des Erzbistums Breslau zu den Breslauer Orden sollen nach Angabe des Breslauer Diözesanarchivs bei der Schlacht um Breslau im Frühjahr 1945 zum größten Teil zerstört worden sein. Es liegen im Gegensatz zu Breslau aber bereits zwei Werke zu den Vinzentinerinnen für den Zeitraum 1933 bis 1945 vor. Dazu zählt eine Untersuchung über die Vinzentinerinnen im Bistum Hildesheim im 19. und 20. Jahrhundert2 und die Tätigkeit des Ordens in klinischen Einrichtungen der Universität München. Es wird in diesem Aufsatz deshalb auch ein partieller Vergleich entsprechender Vorgänge in Hildesheim und München mit Beuthen erfolgen.3 Dieser Aufsatz möchte einen Beitrag zur bislang nicht ausreichend erforschten Caritasgeschichte von Wohlfahrtseinrichtungen im Dritten Reich 1933–1945 liefern. Die Schwesternschaft der Vinzentinerinnen als caritativer Orden konnte wie andere kirchliche Wohlfahrtseinrichtungen ihr bis 1933 gewohntes Handeln und Wirken mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr unabhängig von deren Politik gestalten, die in der Regel einen kirchenfeindlichen Charakter hatte. Es soll neben einer grundlegenden historischen Erstbearbeitung des Themas deshalb untersucht werden, welche Tätigkeiten des Ordens für den Zeitraum von 1933 bis 1945 im Städtischen Krankenhaus Beuthen charakteristisch und von politischen Vorgängen beeinflusst wurden, und wie die Schwesternschaft und das Mutterhaus reagierten. Die Vinzentinerinnen in Breslau bis 1933 Schlesien und das fast eintausend Jahre alte und bis 1945 geographisch größte deutsche Bistum Breslau entwickelte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen großen Reichtum an Frauenklöstern und ihren Schwesterhäusern. So hatten die „Grauen Schwestern“ bis 1900 über 190, die „Mägde Mariens“ 135 und die „Borromäerinnen“ 145 Einrichtungen. Hinzu kamen zahlreiche Pflegeinrichtungen, Krankenhäuser, Altersheime, Kindergärten, Waisenhäuser und Pflegestationen weiterer kleinerer Frauenkongregationen.4 2  Lieselotte Sterner, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim von 1852 bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Untersuchung einer karitativen Ordensgemeinschaft vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Hannover 1999. 3  Alexa A. Becker, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Vinzenz von Paul an den klinischen Einrichtungen der Universität München und ihre Begegnung mit dem Nationalsozialismus, München 2008. 4  Vgl. Evelyne A. Adenauer, Das christliche Schlesien 1945/46: wie die Erzdiözese Breslau und die Kirchenprovinz Schlesien der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union endeten und in Schlesien polnische katholische Apostolische Administraturen eingerichtet wurden, Münster 2014, S. 419.



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Gegenüber dieser gesamten Zahl an Frauenorden blieben die Vinzentinerinnen ein relativ kleiner Orden bis 1945. Doch gingen auch ihre Anfänge bereits auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Der Breslauer Bischof Kaspar Melchior Diepenbrock (1798–1853) hatte die „Barmherzigen Schwestern und Töchter der christlichen Liebe vom Heiligen Vinzenz von Paul“ zur Bekämpfung der Armut und zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu dieser Zeit in das Bistum Breslau geholt.5 So wurden die ersten Vinzentinerinnen schon im Jahr 1848 in der Fürsorge für die Typhuskranken im Raum Ratibor aktiv, was eine äußerst anstrengende und für die Schwestern auch gefährliche Arbeit war.6 Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden sie an weiteren Standorten im Breslauer Diözesangebiet tätig. Die Breslauer Vinzentinerinnen hatten ihr Zentral- bzw. Mutterhaus bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im westpreußischen Kulm. Das Gebiet fiel im Jahr 1920 im Zuge der territorialen Veränderungen in Osteuropa an Polen. Bis zu dieser Zeit wurden für das Bistum Breslau laut Diözesanstatistik fünf Standorte der Vinzentinerinnen dokumentiert: das Städtische Krankenhaus und das St. Josephskrankenhaus in Beuthen mit insgesamt 33 Schwestern, das Waisenhaus mit neun Schwestern in Biskupitz im Kreis Hindenburg, das St. Anna-Krankenhaus in Breslau in der Lehmgrubenstrasse mit 15 Schwestern, das Krankenhaus in Brustawe (Eichensee) mit vier Schwestern und das Krankenhaus in Groß Tschansch mit zehn Schwestern. Damit waren zum Ende des Ersten Weltkrieges insgesamt 71 Vinzentinerinnen im Bistum Breslau tätig, die allesamt dem Mutterhaus Kulm unterstanden.7 Bis 1921 wuchs deren Zahl noch auf 79 Schwestern an.8 Die politischen Veränderungen 1918 zeigten sich einige Jahre später in der Zuständigkeit der Provinz. Mit dem Übergang Kulms an Polen wurde seit 1926 nur noch das St. Josephskrankenhaus in Beuthen von 13 Vinzentinerinnen von Kulm aus betreut. Der Breslauer Schematismus von 1926 nannte für die anderen Standorte das Mutterhaus in Köln-Nippes als neues Provinzialhaus, das in Köln in der Mehrheimerstrasse 217 amtierte. Insgesamt 66 Vinzentinerinnen unter Kölner Verwaltung waren 1926 in den Breslauer 5  Vgl. Die deutschen Kardinäle der römische-katholischen Kirche seit der Säkularisation 1803, Manchester 2017, S. 51. 6  Vgl. Ungedruckte Briefe von und an Kardinal Melchior von Diepenbrock, nach dem im Erzbischöflichen Diözesanarchiv zu Breslau vorhandenem Material, Breslau 1931, S. 15. 7  Vgl. Handbuch des Bistums Breslau und seines Delegaturbezirks für das Jahr 1918, S. 181. 8  Vgl. Handbuch des Bistums Breslau und seines Delegaturbezirks für das Jahr 1921, S. 186.

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Standorten tätig.9 Die allgemeine Breslauer Diözesanstatistik 1931 dokumentiert im gesamten Breslauer Diözesangebiet in dieser Zeit insgesamt 19 Mutterhäuser an Frauenorden. Zusammen verfügten diese in den Endjahren der Weimarer Republik über 473 Anstalten der geschlossenen Fürsorge (Krankenhäuser, Heime usw.), 393 ambulante Krankenpflegestationen, 327 Kindergärten, 40 Kinderhorte, 117 Handarbeitsschulen, 62 Haushaltungsschulen, 33 Säuglingsfürsorgestellen, 117 Tuberkulosefürsorgestellen und 66 Mütterberatungsstellen. In allen diesen Einrichtungen waren 4688 Brüder und Schwestern caritativ tätig.10 Damit hatte der caritative Anteil der Vinzentinerinnen im Erzbistum Breslau Anfang der 1930er in personeller Hinsicht mit knapp 1,5 Prozent nur einen geringen Anteil gemessen an der Gesamtheit aller Orden der christlichen Caritas im Bistum Breslau. Für die Stadt Beuthen war jedoch die Präsenz des Ordens im Städtischen Krankenhaus schon seit vielen Jahrzehnten bedeutungsvoll, weshalb Stadt und Orden auf diesem Gebiet gut miteinander arbeiteten. Allgemeine Anmerkungen zur Ordensgeschichte im Dritten Reich Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 änderte sich für die deutschen Ordensniederlassungen und die Breslauer Orden zunächst nichts Grundlegendes hinsichtlich ihrer gewohnten Tätigkeit. Am 10. Juni 1933 hatte der Breslauer Kardinal Adolf Bertram (1859–1945) alle caritativen Vereine und Orden im Erzbistum Breslau dazu aufgerufen, weiter ihren wichtigen caritativen Dienst zu führen, gestand aber bereits, wenn auch ohne nähere Angaben, ein, dass „die freie Liebestätigkeit in eine neue Periode des öffentlichen Lebens“ eingetreten sei.11 Im Juni 1933 trafen sich die Generaloberen der caritativen religiösen Orden Deutschlands in Fulda zu einer Konferenz, an der auch die Vinzenzkongregationen teilnahmen. Dort hatte man sich darauf geeinigt, im neuen Staat nicht aufzufallen, schriftliche Mitteilungen zu reduzieren und Wichtiges, falls möglich, auf mündliche Weitergaben zu konzentrieren.12

9  Vgl. Handbuch des Bistums Breslau und seines Delegaturbezirks für das Jahr 1926, S.  187 f. 10  Vgl. Die Caritasanstalten der schlesischen Ordensanstalten im Jahre 1931, in: Sonntagsblatt des Erzbistums Breslau vom 19. Juni 1932, Beilage Unsere Caritas Nr. 5 (1932). 11  Schreiben Kardinal Bertrams vom 10. Juni 1933, in: Breslauer Sonntagsblatt vom 18. Juni 1933, Beiblatt unsere Caritas Nr. 10 (1933). 12  Vgl. Sterner, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim, S. 73.



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Das Reichskonkordat zwischen dem Vatikan und dem „Dritten Reich“ vom 20. Juli 1933 gestand der Katholischen Kirche und den Orden die weitere Ausübung ihrer Tätigkeit zu. Trotz dieses Konkordats nahm der kirchenfeindliche NS-Staat deutlich erkennbar ab 1935 die Katholische Kirche und ihre Einrichtungen ins Visier.13 Dazu zählten besonders die von den Nationalsozialisten propagandistisch geführten „Devisenprozesse“ gegen Angehörige katholischer religiöser Orden im ganzen Deutschen Reich, in denen man diesen oft ohne einen entsprechenden Nachweis Unterschlagung von Geldern durch Geldverkehr mit dem Ausland vorwarf. Diese „Scheinprozesse“ trafen im Erzbistum Breslau insbesondere die „Grauen Schwestern“.14 Im Jahre 1936 kamen auch noch die vom NS-Regime propagandistisch ausgehöhlten Sittlichkeitsprozesse gegen Priester und Ordensangehörige hinzu, von denen nur eine geringe Zahl eine reale Grundlage hatten.15 Während des Zweiten Weltkrieges 1939 bis 1945 kam es in den besetzten Gebieten durch die Organisationen der NSDAP zu einem harten Kampf vor allem gegen die nichtdeutschen Orden und deren Angehörige im okkupierten Gebiet. Viele Klöster wurden beschlagnahmt, die Schwestern vertrieben und das Vermögen konfisziert. Die Katholizismusforschung spricht heute von einem „Klostersturm“ durch Hitlers und Himmlers verbrecherische Einheiten der SS.16 Die Tätigkeit von Ordensschwestern im Deutschen Reich für die zahlreichen Verwundeten in den Krankenhäusern und in den Lazaretten nach Kriegsausbruch 1939 verlangte von diesen dann permanent einen großen körperlichen Einsatz und oft den Verzicht auf die geistigen Kraft- und Trostquellen.17 Durch ihren Dienst in den Krankenhäusern und Lazaretten waren 13  Zum Reichskonkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan vom 20. Juli 1933 und den kirchenfeindlichen Aktionen des Dritten Reiches gegen die Katholische Kirche nach 1933 gibt es zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Es sei an dieser Stelle auf die zahlreichen Publikationen der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn verwiesen, vgl. URL: https://www.kfzg.de, abgerufen am 3. Juni 2019. 14  Vgl. Kurt Engelbert (Hg.), Geschichte der Kongregation der Grauen Schwestern von der Hl. Elisabeth, Hildesheim 1969, S. 1–3. 15  Vgl. zu den Sittlichkeitsprozessen z. B. Hans Günther Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936–1937. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971. 16  Vgl. zur Verfolgung der Katholischen Kirche und der Orden im Zweiten Weltkrieg z. B. Annette Mertens, Himmlers Klostersturm. Der Angriff auf katholische Einrichtungen im Zweiten Weltkrieg und die Wiedergutmachung nach 1945, Paderborn u. a. 2006. 17  Kurt Engelbert, Geschichte der Kongregation, S. 47 f., hier auch viele persönliche Berichte von Schwestern während des Krieges.

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die Ordensschwestern ab 1942 verstärkt der Gefahr von Luftangriffen ausgesetzt.18 Mit dem Vorrücken der Roten Armee im Osten ab 1943 wurden vor allem weibliche Ordensangehörige Opfer von Mord und Vergewaltigung. In vielen klösterlichen Niederlassungen kam es durch die Rote Armee zu schlimmen Tragödien gegen die wehrlosen Schwestern.19 Zahlreiche Niederlassungen von kirchlichen Orden wurden bei den Kämpfen in Schlesien von Herbst 1944 bis zum Mai 1945 restlos zerstört.20 In diesem historischen Umfeld wird die Geschichte der Vinzentinerinnen am Städtischen Krankenhaus Beuthen erörtert und analysiert. Das Städtische Krankenhaus Beuthen bis 1933 Der frühe Vorläufer eines Städtischen Krankenhauses in Beuthen wurde im Oktober 1850 eingerichtet, und zwar für die „Siechen, Kranken und Kinder“ der Stadt.21 Bereits 1853 kamen die ersten Vinzentinerinnen nach Beuthen. Der damalige Pfarrer an der Beuthener Marienkirche orderte Vinzentinerinnen aus dem Mutterhaus aus Paris, die nach ihrer Ankunft der Kulmer Provinz der Vinzentinerinnen zugeordnet wurden. Die ersten Schwestern nahmen Platz in einem Haus neben der Marienkirche, während das Krankenhaus in der Breite Strasse noch errichtet wurde. Auch der Beuthener Bürgermeister war erfreut über die ersten Schwestern der Vinzentinerinnen und gestattete ihnen später, im Krankenhaus einige Klausurräume, Wohn- und Schlafzimmer, Refektorium und eine Kapelle zu errichten. Bedeutende Schwestern im Blick einer handschriftlichen fragmentarischen Chronik der Vinzentinerinnen aus Beuthen, wurden für die Leitung des Krankenhauses in der späten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Schwester Stache, vor der nur der Nachname überliefert ist und ihre Assistentin Schwester Vizenzia Jakob. Schwester Stache aber erkrankte bald an Brustkrebs und zog sich zurück, so dass die Assistentin Schwester Jakob fortan die Leitung des Krankenhauses übernahm. Ende des 19. Jahrhundert berichtet die Chronik über eine zunehmende Unordnung und Unsauberkeit im Krankenhaus. Die Ärzte und Patienten beschwerten sich bei der Stadt und beim Orden über die Zustände, so dass der Beuthener Magistrat eine andere Oberin vom Kulmer Mutterhaus verlangte. Die Kulmer Provinzialoberin Giersberg22 kam im ­August 1901 nach Beuthen und versetzte Schwester Stache und Schwester 18  Vgl.

ebd., S. 52 f. ebd., S. 82 ff. 20  Vgl. ebd., S. 72. 21  Vgl. Berichte, hier von Beuthen (Bytom) Städt. Krankenhaus, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 6 S. 22  Kein Vorname überliefert. 19  Vgl.



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Abb. 1: Die Breite Straße in Beuthen mit dem städtischen Krankenhaus, vor 1914, Archiv der Vinzentinerinnen im Mutterhaus Köln-Nippes.

Jakob in das Beuthener Jakobs-Krankenhaus. Gleichzeitig kam Schwester Marie Köllmer als neue Oberin nach Beuthen und übernahm die Aufsicht über die Vinzenz-Schwestern im Städtischen Krankenhaus. Auch zwischenmenschlich soll es zwischen den Ordensschwestern unter­ einander sowie mit dem weltlichen Pflegepersonal und Ärzten ernste Pro­ bleme gegeben haben. Die Chronik berichtet: „die Ärzte hielten es mit den Schwestern, bei denen sie ihren Vorteil hatten“. Es kam sogar eine Schwester aus Kulm eigens zur Mediation nach Beuthen „damit die Schwestern wieder nach dem Geiste des Hl. Vinzenz leben möchten.“ Auch wurden weitere Schwestern zurück ins Mutterhaus Kulm gerufen, da diese sich einer Erneuerung ihrer geistlichen Lebensweise ohne weiteres „nicht fügen wollten“. Doch die neue Oberin Schwester Köllmer brachte nach 1900 in den folgenden Jahrzehnten wieder Ordnung in das Haus, so dass sich auch die Beziehungen des Ordens zum Magistrat und den Ärzten verbesserte. Während des Ersten Weltkrieges diente das Krankenhaus als Lazarett. 1924 feierte Schwester Köllmer ihr 50-jähriges Berufsjubiläum, zu dem viele Vinzentinerinnen aus anderen Breslauer Standorten und aus Köln sowie Kulm kamen.23 1925 hatte wegen der neuen politischen Lage auf Bitten des Kulmer Mutter23  Handschriftliche Chronik des Beuthener Krankenhaus, AVMK, Akte 05–187, hss. Dok., 6 S.

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hauses das Kölner Provinzhaus diese Kulmer Provinz und damit das deutsche Schlesien übernommen. Seit dieser Zeit wurden zum ersten Mal die Kölner Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus Beuthen tätig. Die erste Oberin blieb von 1925 bis 1927 noch Schwester Köllmer, ihr folgte bis 1932 Schwester Theophana Reehag.24 Die Stadt Beuthen hatte damals etwa 100.000 Einwohner.25 Die Beuthener Vinzentinerinnen bis 1939 Für das Jahr 1935 führt die kirchliche Statistik des Erzbistums Breslau die Schwestern der Vinzentinerinnen an vier Breslauer Standorten auf: Beuthen mit dem Städtischen Krankenhaus, das Breslauer St. Anna-Krankenhaus, das Brustawer (Eichensee) Martinsaysl für Kinder und das Hindenburger Waisenhaus. Hinzu kamen noch eine Kleinkinderbewahranstalt, ein Altersversorgungsheim und das Städtische Krankenhaus in Friedek im Breslauer Tschechischen Kommissariat im Süden des Erzbistums. Diese wurden aber von Vinzentinerinnen aus der Provinz des Mutterhauses Kremsier in Mähren geleitet.26 Auch im Jahr 1942 verfügten die Breslauer Vinzentinerinnen noch über die gleichen Einrichtungen, so dass es zumindest zu keiner vollständigen Beschlagnahme oder dem Entzug von größerem Eigentum des Ordens, oder zur massenhaften Vertreibung von Vinzentinerinnen während der gesamten Zeit des Dritten Reiches gekommen ist. Dennoch wurden auch die Vinzentinerinnen mit politischen und ideologischen Maßnahmen des NS-Staates nach 1933 konfrontiert und mussten nach dem Kriegende 1945 und 1946 große Opfer bringen.27 Die gesamte Zeit des Nationalsozialismus wurde im Städtischen Krankenhaus Beuthen von zwei Oberinnen begleitet. Von 1932 bis 1934 war die Oberin Hedwig Santkin die Leiterin des Krankenhauses. Ihr folgte von 1934 bis 1946 die Oberin Edith Wichmann.28 Die Personalstatistik des Kölner Mutterhaus zu Beginn der 1930er Jahre listet die Namen von insgesamt 28 Schwestern auf, die im Beuthener Krankenhaus tätig waren. Einige befanden

24  Vgl. Historische Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 25  Vgl. Adreßbuch Beuthen O.-S. Einschliesslich der Gemeinden Bobrek-Karf, Mechtal und Martinau. 1937, Einleitung. 26  Vgl. Handbuch des Erzbistums Breslau 1935, S. 162. 27  Vgl. Handbuch des Erzbistums Breslau 1942, S. 139. 28  Vgl. Historische Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S.



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Abb. 2: Eine Breslau Ordensschwester in einem Krankenzimmer, 1933, Breslauer Sonntagsblatt.

sich auf Exerzitien oder in Erholungsheimen, so dass um die 20 Schwester ständig im aktiven Krankenhausdienst standen.29 Einen ersten möglichen, nicht eindeutigen, Hinweis auf die auch in Beuthen einsetzende Wirkung des nationalsozialistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“, in dessen Folge zahlreiche politisch und/oder rassisch missliebige Beschäftigte aus ihren staatlichen Ämtern „entfernt“ wurden, könnte ein Brief des leitenden Frauenarztes Franz Istel belegen. Anfang Juli 1933 beschwerte er sich beim Mutterhaus Köln, dass ihm seine Stellung zum 1. Oktober 1933 seitens der Stadt aufgekündigt worden sei, ohne dass man ihm die Gründe dafür mitgeteilt habe. Istel schrieb „doch glaube ich bestimmte Vermutungen hegen zu müssen, über die ich mich aus naheliegenden Gründen in diesem Schreiben nicht gern auslassen möchte.“

29  Vgl. Übersicht zu den tätigen Schwestern im Beuthener Krankenhaus um 1930, AVMK, Akte 05–026, hss. Dok., 1 S.

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Er hatte die Absicht, seine frühere Privatklinik für Frauen wieder zu eröffnen, und zog daher auch die Vinzentinerinnen als Krankenschwestern dafür in Betracht – wegen „den [von, d. Verf.] früher her bekannten Schwierigkeiten mit weltlichem Krankenhauspersonal“. So bat er in Köln um die Abstellung von Schwestern für seine neue Klinik.30 Ende Juli teilte ihm das Mutterhaus aber mit deutlichen Worten mit, „dass wir keine Möglichkeit sehen, die von ihnen benötigten Schwestern freizumachen.“31 Ob die Kündigung Istels durch den Magistrat unter politischem Druck aufgrund des Gesetztes oder nur aus arbeitstechnischen bzw. finanziellen Gründen erfolgte, kann nicht abschließend geklärt werden. Ein Dokument des Leiters der Chirurgie, Dr. Max Wülfing, belegt in diesem Zusammenhang nur, dass die gesamte geburtshilflich-gynäkologische Abteilung zum 30.  September aufgelöst und in seine Chirurgie eingegliedert wurde.32 Das Beuthener Adressbuch von 1937 führt Franz Istel zwar in seinem Namenszusatz weiter als Frauenarzt auf, dokumentiert aber keine ärztliche Tätigkeit mehr, auch nicht die Existenz seiner früheren Privat-Klinik.33 Das Verhältnis des Städtischen Krankenhauses Beuthen und den Vinzentinerinnen wurde im Oktober 1934 durch einen neuen Vertrag auf eine rechtliche Basis gestellt, wo Aufgaben und Zuständigkeiten des Ordens festgehalten wurden. Der Vertrag gibt einen guten Einblick über den Aufgabenbereich der Schwestern und ihr Verhältnis zu dem angestellten Personal und zur Kommune Beuthen für die Zeit des „Dritten Reiches“.34 Zusammenfassend betrachtet beinhaltete dieser eine gute Stellung der Vinzentinerinnen hinsichtlich ihrer Kompetenzen.35 So legte der § 3 fest „die Schwestern übernehmen unter der verantwortlichen Leitung des Krankenhausdezernenten den gesamten inneren Dienst des Krankenhauses, umfassend die Pflege der Kranken, Versorgung der Krankenabteilungen sowie der Koch- und Waschküche, die Reinhaltung des gesamten Hauses und die Unterhaltung des Inventars“. Ganz besonders wichtig war der § 12, der festlegte „den Schwestern steht es frei, nach dem Geiste ihres Ordens zu leben und dessen Regeln zu beachten, jedoch unbeschadet der vollen Leistung der Dienste und der Beobachtung der 30  Istel

an Mutterhaus Köln am 9. Juli 1933, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 2 S. Köln an Istel am 25. Juli 1933, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok.,

31  Mutterhaus

1 S.

32  Vgl. Wülfing an Mutterhaus Köln am 23. August 1933, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 2 S. 33  Vgl. Adreßbuch Beuthen O.-S. Einschliesslich der Gemeinden Bobrek-Karf, Mechtal und Martinau,1937, S. 5 f., 52. 34  Vgl. Vertrag zwischen dem Mutterhaus Köln-Nippes und der Stadt Beuthen über die Zusammenarbeit im Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05– 026, Abschrift, mss. Dok., 3 S. 35  Vgl. den genauen Wortlaut des Vertrags.



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inneren Ordnung des Hauses.“ Auch die Oberin hatte eine entsprechend bedeutende Stellung im Krankenhaus, da § 10 beinhaltete „die Oberin untersteht hinsichtlich aller Dienstobliegenheiten, soweit sie nicht das klösterliche Leben betreffen, dem Krankenhausdezernenten. Sie führt die Dienstaufsicht über die gesamte Schwesternschaft und sie allein ist dem Dezernenten gegenüber verantwortlich. Beschwerden gegen die Dienstführung einer Schwester oder über ihr Verhalten sind über den Krankenhausdezernenten an die Oberin zu leiten, welche die Angelegenheit im Benehmen mit dem Krankenhausdezernenten regelt.“ Außerdem bestimmte § 13 das Recht des Mutterhauses, Schwestern abzuziehen und durch andere zu ersetzen. Nach § 14 wurde der Vertrag unbefristet, aber mit halbjährlicher Kündigungsfrist durch Stadt oder Orden geschlossen. Nach § 15 sollten etwaige Streitigkeiten zwischen Stadt und Orden auf dem Rechtsweg geklärt werden. Dieser Vertrag zwischen der Stadt Beuthen und dem Mutterhaus Köln zeigt durchaus, dass 1934 vertrauliche und beiderseits zufriedenstellende Verhandlungen zwischen staatlichen Institutionen und katholischen Orden sachlich noch möglich waren, was deren Tätigkeiten in einem Krankenhaus betraf. Die Vinzentinerinnen arbeiteten bis zum Kriegsende auf allen Stationen des Krankenhauses, außerdem wurden sie in der Hauswirtschaft und zu Büroarbeiten eingesetzt.36 Während sich die Nationalsozialisten nach 1935 Schritt für Schritt vor allem darauf konzentrierten, die Kindererziehung der religiösen Orden, ihre Waisenhäuser und Kindergärten, wie zum Beispiel im Bistum Hildesheim, einzuschränken oder zu entziehen, galt das nicht in dieser Radikalität für die Tätigkeit der Orden in Krankenhäusern, wobei für das Erzbistum Breslau hier konsekutive Studien zu allen vier weiteren Breslauer Einrichtungen der Vinzentinerinnen noch notwendig wären.37 Zwischen 1933 bis 1945 kam es zu einer regelrechten Rotation von Schwestern, die im Beuthener Krankenhaus neu eingesetzt oder vom Mutterhaus von dort ad hoc abberufen wurden, und zwar auf Grundlage § 13 des Vertrages. Aber auch Ärzte baten gelegentlich um den Austausch von Schwestern, mit denen sie „aus verschiedensten Gründen“ Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit hatten. So wollte Wülfing im Sommer 1933 Schwester Arnoldine nachdrücklich loswerden.38 Anfang 1935 dankte das Mutterhaus anderseits dem Facharzt für Innere und Nervenkrankheiten, Wilhelm

36  Vgl. Visitationsbericht der Kölner Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 7. bis 9. September 1942, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S. 37  Vgl. Sterner, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim, S. 74. 38  Wülfing an Mutterhaus Köln am 23. August 1933, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 2 S.

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Effing39, „für all Ihre Mühen um Schwester Hieronyma“, die aber trotz seiner Aufforderung, diese nicht abzuberufen, zu Exerzitien verpflichtet wurde.40 Im März 1936 forderte Wülfing, da „in den letzten Jahren im Operations­ betrieb ein so häufiger Wechsel stattgefunden hat“, deshalb „von weiterem Wechsel abzusehen, zumindest ihn nicht mehr in der plötzlichen Form wie diesmal vorzunehmen, sondern nach vorheriger Fühlungnahme mit der Schwester Oberin und mit mir“. Scheinbar entschied das Mutterhaus Köln gelegentlich ohne Rücksprache mit Oberin Edith.41 Im Mai 1937 legte Wülfing erneut Beschwerde in Köln ein, weil wiederum Schwestern ohne Konsultation der Ärzte oder der Oberin Edith abberufen worden waren.42 Ende November 1937 teilte die Schwester Sophronia dem Arzt Wülfing mit, dass es geplant sei, Operations-Schwester Reinharda aufgrund „besonderer Verhältnisse eines Hauses“ abzuziehen und er sich um weltlichen Ersatz kümmern müsse.43 Wülfing erhob auch dagegen Einspruch, zumal „in den letzten Jahren auf dem Operationssaal ein außerordentlich häufiger Schwesternwechsel vorgenommen worden ist.“ Nach seiner Ansicht könnten die Vinzentinerinnen jederzeit auch Schwestern aus ihren anderen Kranken­ häusern abziehen.44 Effing forderte im September 1938 Schwester Kandzia abzuberufen, da „wieder erneut Klagen von Patienten zu meiner Kenntnis gelangten“. Andererseits wehrte er sich gegen die Abberufung von Schwester Zita aus der Krankenpflegeschule und drohte sogar, mit einer neuen Schwester nicht zusammenarbeiten zu wollen.45 Das Mutterhaus Köln hatte die Abberufung Schwester Zitas aber angeordnet wegen „Gründe[n] interner Art“.46 Vom 31. Juli bis 2. August 1936 führte die Kölner Provinzialoberin Luciana Gebsattel eine Visitation im Beuthener Städtischen Krankenhaus durch. Ihr Bericht dokumentierte ein Team von sechs Ärzten, sechs Assistenzärzten und 26 Schwestern der Vinzentinerinnen. Enttäuscht zeigte sich die Visitatorin, dass der schon länger geplante Neu- bzw. Anbau von der Beuthener Stadtverwaltung immer noch nicht begonnen wurde. Weiter stellte sie fest, 39  Vgl. Adreßbuch Beuthen O.-S. Einschliesslich der Gemeinden Bobrek-Karf, Mechtal und Martinau,1937, S. 24. 40  MH Köln an Effing am 5. Januar 1935, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 41  Wülfing an MH Köln am 26. März 1936, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 42  Vgl. Wülfing an MH Köln am 3. Mai 1937, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 43  Schwester Sophronia an Wülfing am 30. November 1937, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 44  Wülfing an Schwester Sophronia am 1. Dezember 1937, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 45  Vgl. Effing an Mutterhaus Köln am 18. September 1938, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 2 S. 46  Mutterhaus Köln and Effing am 12. September 1938, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S.



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dass die sanitären Anlagen nur mangelhaft waren, pflegendes Personal nicht immer gegen Infektionen geschützt sei sowie ein Speise- und Personenaufzug fehle.47 Das 1937 erneuerte Adressbuch der Stadtverwaltung Beuthen, das einen starken nationalsozialistischen Charakter trug, erwähnte aber mit keinem Wort die Existenz von Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus, dagegen wurde aber die Aufstellung der ärztlichen Tätigkeit beschrieben.48 Die Vinzentinerinnen waren zu diesem Zeitpunkt auch nicht nur für die Pa­ tienten im Städtischen Krankenhaus tätig. Mitte der 1930er Jahre verteilten sie am Tag auch über hundert Mittagsessen für Arme und bedürftige Studenten.49 In formeller Analyse konnten die Vinzentinerinnen folglich bis Kriegsausbruch ihre Schwesternstärke von etwa 26 Schwestern stabil halten, wenngleich es zu einer erheblichen Rotation kam, die vom Mutterhaus konsequent durchgeführt wurde. Die genauen Gründe für diese Rotation und den permanenten Wechsel von Ordensschwestern konnten in den für den Aufsatz he­ rangezogenen Akten nicht hinreichend erklärt werden. Das Verhältnis der Vinzentinerinnen zum Staat in ideologischen Fragen Mit dem beginnenden Kampf des NS-Staates gegen zahlreiche religiöse Orden Mitte der 1930er Jahre waren viele Ordensobere darauf bedacht, den Machthabern in keiner Weise irgendwelche Anlässe für Restriktionsmaßnahmen zu liefern. Das galt vor allem für Diskussionen um politische Stellungnahmen, die insbesondere in einem Krankenhaus viel Potential für Denunzi47  Vgl. Visitationsbericht der Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 31. Juli bis 2. August 1936, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S. 48  Vgl. Adreßbuch Beuthen O.-S. Einschliesslich der Gemeinden Bobrek-Karf, Mechtal und Martinau,1937, S. 7: „Städt. Krankenhaus, Beuthen O/S, Breite Straße 4. Das Krankenhaus unter dem Dezernat des Kreisarztes und Stadtmedizinalrates Dr. Fox zerfällt in zwei Hauptabteilungen, nämlich die ‚Innere Abteilung‘ und die ‚Chirurgische Abteilung‘. Der ersteren ist eine ‚Haut- und Geschlechtskrankenabteilung‘ und ‚Tbc Abteilung‘ und der letzteren eine ‚Abteilung für Frauenleiden und Geburtshilfe‘ angegliedert. Leiter der ‚Inneren Abteilung‘ ist Primärarzt Dr. Effing, Leiter der ‚Chi­ rurgischen Abteilung‘ Primärarzt Dr. Wülfing. Jedem Primärarzt stehen zwei Assistenzärzte und 1 Medizinalpraktikant zur Verfügung. Ferner sind folgende Fachärzte tätig: in der ‚Lungen-Abteilung‘ Dr. Kallabis. Bei ‚Ohren-, Hals-, und Nasenkrank­ heiten‘ Dr. Schöning. Bei ‚Augenkrankheiten‘ Dr. Böhm. Bei ‚Hautkrankheiten‘ Dr. Schepermann. Das Krankenhaus ist mit 260 Betten ausgestattet. Daneben verfügt es über eine neuzeitliche Röntgeneinrichtung und ein Laboratorium. Dem Krankenhaus ist eine staatlich anerkannte Krankenpflegeschule angegliedert. Leitung: Dr. Effing.“ 49  Vgl. Visitationsbericht der Kölner Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 31. Juli bis 2. August 1936, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S.

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ation boten, so in Gesprächen mit Patienten und weltlichem Personal. Vinzentinerinnen in verschiedenen deutschen Provinzen entschieden sich deshalb für das Gebot des Schweigens, wo immer dieses zur Vermeidung eines Schadens Anlass gab.50 Auch die Kölner Provinzialoberin Luciana Gebsattel gab der Oberin Edith seit 1935 die ernste schriftliche Empfehlung zum Schweigen: „Sorgen Sie, dass sie dann sich nicht mehr unnötiger Weise mit Weltpersonen aufhalten. Keine unnützigen Gespräche mit Mädchen oder Pflegerinnen – kein Austausch mehr mit ihren Mitschwestern. Treue in diesem Punkte wird sie vor vielen Gefahren bewahren!“51 Ein schriftlicher Hinweis, dass Beuthener Vinzentinerinnen bis zum Kriegsende wegen politischen Äußerungen denunziert oder gar verfolgt wurden, konnte in den Akten des Mutterhauses nicht gefunden werden. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass das erzwungene Gebot der Neutralität von 1933 und das ordensinterne Gebot des Schweigens von vielen Beuthenern Schwestern bis Kriegsende verinnerlicht wurde und auch deshalb Schaden für die Kongregation vermieden werden konnte. Aufgrund ihrer Visitation vom 31. Juli bis 2. August 1936 forderte Gebsattel vom Krankenhausdezernenten und Kreisarzt Dr. Andreas Fox beim Bürgermeisteramt Beuthen „nachdrücklichst Beseitigung“ dieser Mängel, vor allem um den Schwestern zu helfen, „die ihr Leben in den Dienst der Armen und Kranken der Stadt Beuthen gestellt“ haben. Ebenso äußerte sie die Hoffnung, dass es bald zu dem geplanten Neubau kommen werde. Sie sei überzeugt, dass die Ärzte und der Krankenhausdezernent ebenso den Neubau herbeisehnten, um derartige Mängel zukünftig zu vermeiden. Gebsattel unterschrieb sogar mit einem „Heil Hitler“, wahrscheinlich, um keinen Anlass zu irgendeiner Denunziation zu liefern. Diesem Schreiben ging jedoch ein interner Klärungsbedarf voraus. Gebsattel hatte zunächst ein ähnliches Schreiben zur Prüfung an die Oberin Edith gesandt, die dieses an Dr. Fox weiterleiten sollte. Darin hatte sie gegenüber dem Bürgermeister angedroht, „Ihnen in Aussicht zu stellen, daß wir unsere Schwestern aus dem Beuthener Krankenhaus zurücknehmen müssten“, falls die Missstände von der Stadt nicht beseitigt würden.52 Die Oberin Schwester Edith aber erachtete diese Drohung aus dem Mutterhaus als zu scharf. Auch die Ärzte Effing und Wülfing rieten von der Weiterleitung an Fox in diesem Tonfall dringend ab. Alle befürchteten, dass Fox „mit dem Schreiben zum Herrn Oberbürgermeister gehen würde und dieses dort vielleicht eine will50  Vgl.

Becker, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern, S. 87 f. der Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 31. Juli bis 2. August 1936, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 1 S. 52  Mutterhaus Köln an Bürgermeisteramt Beuthen am 29. August 1936, AVMK, Akte 05–026, Entwurf, mss. Dok., 2 S. 51  Anempfehlungen



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kommene Gelegenheit sein würde, um die Schwestern durch andere ersetzen zu lassen.“ Außerdem hatten Beuthener Geistliche den Schwestern nachdrücklich empfohlen, unbedingt „das Haus zu halten“, da sonst die Gefahr bestünde, dass staatliche Stellen in weiteren Krankenhäusern geistliche Ordensschwestern ersetzen würden.53 Aufgrund des erkennbaren Kirchenkampfes gegen einzelne Ordensgemeinschaften war diese Befürchtung sicher berechtigt, weshalb Gebsattel diese Passage schließlich aus ihrem endgültigen Bericht an Fox strich.54 Sowohl das von ihr geforderte Gebot des Schweigens der Schwesternschaft vor allem in den drängenden politischen Fragen und der Verzicht auf jedwede schriftliche Provokation gegenüber staatlichen Stellen war der Garant, dass die berufliche Tätigkeit der Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus in den Folgejahren relativ frei von Verfolgung und Denunziation gesichert werden konnte. Dabei erhielten sie wie im gegebenen Fall gelegentlich auch die Unterstützung der Ärzteschaft, die sich ebenfalls möglicher Gefahren bewusst war. Eine deutlichere Haltung nahmen die Schwestern zu Sterilisationsversuchen ein. Die Nationalsozialisten hatten am 14. Juli 1933 das sogenannte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, in dessen Folge zahlreiche von ihnen als „erbkrank“ klassifizierte Personen und weitere Menschen, die nicht in das rassistische Weltbild der Nationalsozialisten passten, zwangssterilisiert wurden. Die Operationen wurden in dazu bestimmten Krankenhäusern vorgenommen. Bis zum Kriegsende wurden zwangsweise Unfruchtbarmachungen durchgeführt.55 Wenn es auch in der Weimarer Zeit sozialdemokratische Politiker oder auch einige „katholische Eugeniker“56 wie Herrmann Muckermann oder Joseph Mayer gab, die in bestimmten Fällen Zwangssterilisationen von „Geisteskranken“ durchaus befürworteten, sprach sich der Hl. Stuhl 1930 mit der Enzyklika „Casti Connubii“ mit allem Nachdruck dagegen aus.57 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gesetz von 1933 53  Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 2. September 1936, AVMK, Akte 05–026, hss. Dok., 4 S. 54  Vgl. Mutterhaus Köln an Bürgermeisteramt Beuthen am 6. September 1936, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 2 S. 55  Zum Thema der Zwangsterilisationen im „Dritten Reich“ sind bereits zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen, ein frühes Beispiel ist z. B. Christian Ganssmüller, Die Erbgesundheitspolitik des Dritten Reiches. Planung, Durchführung und Durchsetzung, Köln 1987. 56  Siehe hierzu auch: Ingrid Richter, Katholizismus und Eugenik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Zwischen Sittlichkeitsreform und Rassenhygiene, Paderborn u. a. 2001. 57  Vgl. Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011, S. 24 f.

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dann auch eine Vorlage für das „Euthanasie-Programm“ der Nationalsozialisten. Gegen die „Euthanasie“ ergriffen Bischöfe wie Clemens August Graf von Galen deutlich das Wort.58 Auch in anderen Provinzen der Vinzentinerinnen, wie z. B. in ihren Einrichtungen in München, wurden die Vinzentinerinnen in Beuthen mit diesen lebensfeindlichen Eingriffen konfrontiert.59 Im Städtischen Krankenhaus Beuthen wurden schon seit 1934 Sterilisationsoperationen durchgeführt. Aber erst Anfang Januar 1936 – zu einem sehr späten Zeitpunkt – hatte Oberin Edith nach Köln berichtet, dass sie erfahren habe, dass einzelne Schwestern, wenn auch nur zu Dienstleistungen, bei Sterilisations-Operationen im Krankenhaus herangezogen wurden, also nicht direkt aktiv als OP-Assistenz. Die Gründe, warum die Oberin erst zu diesem Zeitpunkt das Mutterhaus in Kenntnis setzte, sind ebenfalls nicht bekannt. Das Mutterhaus Köln dagegen schrieb sofort daraufhin den leitenden Arzt der Chirurgie Max Wülfing an, dass „diese Hilfsleistungen uns verboten sind“ und „von nun an die Schwestern sich an diesen Eingriffen absolut fernhalten werden.“60 Ohne den genauen Verweis im Schreiben zu nennen, spielte hier die Autonomie der Schwestern nach § 12 des Vertrages die entsprechende Rolle, der den Vinzentinerinnen zusicherte, „nach dem Geiste ihres Ordens zu leben und dessen Regeln zu beachten“. Wülfing wollte in einem Brief vom 29. Januar das Mutterhaus und den Krankenhausdezernenten hinsichtlich der Mitwirkung der Schwestern bei den Sterilisationen aufklären, sprach dabei bereits von „einer seit 2 Jahren üblichen Gepflogenheit“. Er war der Ansicht, laut Reichskonkordat von 1933 könnten Ordensschwestern zwar die Mithilfe bei solchen Operationen verweigern, andererseits habe der Vatikan diese nicht verboten. Auch äußerte er Vorwürfe, dass sich für den Orden Schwierigkeiten, die er nicht exemplifizierte, bei einem „Beharren“ auf der Ablehnung ergeben würden, und er diese sogar dem Beuthener Magistrat mitteilen müsste. Die Dienstleistung der Schwestern beruhe „lediglich im Sterilisieren der Instrumente und in gelegentlicher Ausführung der Narkose“. Es ist ersichtlich, dass Wülfing sich hier auf den zwar menschenfeindlichen, doch gesetzlichen Auftrag berief, Sterilisationen auf An-

58  Vgl. Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933–1946, (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 42), Paderborn u. a. 1996; Hubert Gruber, Katholische Kirche und Nationalsozialismus 1930–1945. Ein Bericht in Quellen, Paderborn u. a. 2006; Ludwig Volk, Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Bd. V: 1940–1942, Mainz 1983. 59  Vgl. Becker, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern, S. 96 f. 60  Mutterhaus Köln an Wülfing am 22. Januar 1936, AVMK, Akte 05–026, Abschrift, mss. Dok., 1 S.



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ordnung durchzuführen, und jeder Widerstand dagegen, auch für die Vinzentinerinnen, Restriktionen bedeuten könnte.61 Erst nach längerer Zeit im April 1937 schrieb das Mutterhaus Wülfing erneut an, da es erfahren habe, dass „die Schwestern weiter zu den Sterilisations-Operationen herangezogen wurden.“ Nicht nur aufgrund der eigenen Statuten, sondern auch aufgrund der entsprechenden Verlautbarungen der deutschen katholischen Bischöfe sei ein Mitwirken der Schwestern bei Sterilisationen nicht zu akzeptieren, deshalb untersagte das Mutterhaus Oberin Edith und allen Schwestern deren Mitwirkung.62 Auf Nachfrage des Krankenhausdezernenten Fox berichtete Wülfing, dass er sein Schreiben vom Januar 1936 gar nicht abgesandt hatte, da nach seiner Aussage Oberin Edith gegenüber ihm damals erklärt hatte, sie werde diese Angelegenheit mit Köln eigens regeln und es nach Meinung Wülfings deshalb „bei der bisherigen Gepflogenheit bleiben könnte“. Wülfing behauptete, es würden die Schwestern immer nur bei der Narkose helfen, zu den tatsächlichen Operationen der Sterilisation seien die Vinzentinerinnen von ihm niemals herangezogen worden, sondern nur weltliche Schwestern. Wülfing sprach sogar von verleumderischen Gerüchten, die von einigen Schwestern über den Sachverhalt verbreitet würden. Er selbst würde sie niemals zu einer aktiven Assistenz heranziehen, zumal er die Problematik von Sterilisation und Schwangerschaftsabbrüchen aus katholischer Perspektive der Orden genau kenne.63 Das Mutterhaus erwiderte nach Kenntnis dieses Schreibens aber, dass die OP-Schwester Christa durch diese Operationen „seelisch aus dem Gleichgewicht“ geworfen war und deshalb aus dem OP-Saal abgezogen und durch eine weltliche Schwester ersetzt wurde. Das Mutterhaus verbot erneut und eindringlich, dass eine Schwester bei einer Sterilisation im Operationssaal anwesend sein dürfe, wenn die Frage auch noch bei einem persönlichen Besuch einer Kölner Schwester endgültig geregelt werden müsste. Auch unterschrieb die Provinzialoberin Schwester Luciana Gebsattel erneut „Mit deutschem Gruß“.64 Es ist in der Folge bis Kriegsende kein Fall bekannt, in dem eine Beuthener Vinzentinerin staatliche Maßnahmen erdulden musste, weil sie sich gegen den Einsatz bei Sterilisations-Operationen wehrte.

61  Wülfing an Mutterhaus Köln am 29. Januar 1936, AVMK, Akte 05–026, Abschrift, mss. Dok., 1 S., Entwurf. 62  Vgl. Mutterhaus Köln an Wülfing am 24. April, AVMK, Akte 05–026, Abschrift, mss. Dok., 1 S. 63  Wülfing an Krankenhausdezernent Fox am 3. Mai 1937, AVMK, Akte 05–026, Abschrift für Mutterhaus Köln, mss. Dok., 2 S. 64  Mutterhaus Köln an Wülfing am 8. Mai 1937, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S.

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Die Frage der Assistenz bei Sterilisationseingriffen zeigte eine klare Unvereinbarkeit der katholischen Lehre der Vinzentinerinnen zur Assistenz bei diesen Operationen und offenbart den damit verbundenen, wenn auch etwas später eintretenden Gewissenskonflikt der Vinzentinerinnen. Das Mutterhaus Köln stemmte sich aktiv mit offenen Worten gegen diese Beteiligung, wobei es aber trotzdem nicht unwahrscheinlich ist, dass Schwestern hier in Einzelfällen auf Drängen oder auch auf Drohen der Ärzte bei Sterilisations-Operationen assistierten, als in der schriftlichen Korrespondenz offenbart wurde. Auch in München wurden Schwestern durch Druck der Ärzte gelegentlich zur Assistenz herangezogen. Dennoch zeigten die Beuthener Vinzentinerinnen in dieser Frage neben dem Gebot des Schweigens und der Vorsicht bei Korrespondenzen mit staatlichen Stellen in dieser besonderen ethischen Frage einen deutlicheren und aktiveren theologischen „Widerstand“ gegen diese lebensfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus, die anderen Menschen das Recht auf Fortpflanzung nahm. Ob aufgrund der klaren ethischen Haltung der Vinzentinerinnen aber auch praktische Erfolge erreicht wurden, zum Beispiel, dass Sterilisations-Operationen bei Fehlen von weltlichem Personal und Weigerung von Vinzentinerinnen nicht durchgeführt werden konnten, gibt die Überlieferung nicht bekannt. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges 1939 bis 1945 Bereits vier Tage nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen am 1. September 1939 teilte Oberin Schwester Edith nach Köln mit, dass „es uns allen gut geht“.65 Am 20. September 1939 meldete sich eine polnische Schwester aus dem Kulmer Mutterhaus beim Mutterhaus Köln, die in Kattowitz in einem Knappschafts-Lazarett eingesetzt war. Besonders schmerzhaft war für die dortigen Schwestern, dass sie schon länger keinen Kontakt nach Kulm mehr bekam.66 Auch im Mutterhaus Köln war man besorgt, wie es nach Kriegsausbruch nun um die polnischen Schwestern bestellt sei, denn in Polen „sei der größte Teil ja jetzt wieder deutsch“.67 Ende September 1939 sorgte man sich auch um die vom Krieg betroffenen anderen Provinzen der Vinzentinerinnen, wie z. B. Krakau. Die Sorge um die Mitschwestern über die Grenzen der eigenen Provinz hinweg war nach dem Kriegsausbruch des-

65  Schwester Edith an Mutterhaus Köln 4. September 1939, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 1 S. 66  Vgl. Schwester Hladeslara an Mutterhaus Köln am 20. September 1939, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 1 S. 67  Mutterhaus Köln an Schwester Hladeslara am 29. September 1939, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 1 S.



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halb besonders eminent.68 Auch wurden einige Beuthener Ärzte schon bald zur Wehrmacht eingezogen. Dr. Wülfing diente fast den gesamten Krieg lang als Heeresarzt, überlebte den Krieg und kam nach Kriegsende nach Westdeutschland.69 Im Sommer 1940 führte Gebsattel erneut eine Visitation in Beuthen durch. Zu diesem Zeitpunkt waren im Krankenhaus sechs Ärzte, sechs Assistenzärzte und 26 Schwestern beschäftigt. Der Neubau war bereits im Entstehen, und auch die Küche war vergrößert. Das Krankenhaus fasste 240 Betten und stand in normalem Alltagsbetrieb.70 1941 konnte das Krankenhaus durch die Neubauten dann erweitert werden, umfasste fortan aber trotzdem nur um die 250 Betten.71 Am 1. Februar 1942 wurde das Städtische Krankenhaus Beuthen als Reservelazarett benannt72, und zwar als eines von insgesamt sechs neu errichteten Teillazaretten des Wehrkreiskommandos VIII, dessen Kommando in Breslau war. Vom Städtischen Krankenhaus wurde deshalb die innere Abteilung mit über 100 Betten als ein Teillazarett für Verwundete genutzt. Das Lazarett wurde von den vier Schwestern Lina, Theophana, Elfriede und Friedberta bis Januar 1945 betreut. Diese anstrengende Tätigkeit wurde von den Schwestern später aber „als schönes und segensreiches Wirken“ empfunden, und auch der „Dank der Soldaten blieb nicht aus“.73 Das Teillazarett wurde auch als der Pavillon bezeichnet.74 Am 1. Juli 1943 hatte auch der Arzt des Wehrkreiskommandos VIII Schwester Lina mit Genehmigung des Kölner Mutterhauses als Oberschwester des Beuthener Lazarettes bestätigt. Dafür wurde von der Wehrmacht ein Zuschlag nach Köln von monatlichen 7 RM gezahlt.75 Schwester Lina musste auch die Tätigkeiten der im Lazarett eingesetzten Rote-KreuzSchwestern koordinieren, dazu die Arbeit der Unter­offiziere kontrollieren, die

68  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 26. September 1939, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 3 S. 69  Vgl. Wülfing an Mutterhaus Köln am 30. Dezember 1945, AVMK, Akte 05– 192, mss. Dok., 1 S. 70  Vgl. Visitationsbericht der Provinzialoberin Luciana Gebsattel im Städtischen Krankenhaus Beuthen vom 31. Juli bis 1. August 1940, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S. 71  Vgl. Historische Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 72  Vgl. Kurze Übersicht mit Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–187, Blatt 1, mss. Dok., 1 S. 73  Kriegsbericht Städtisches Krankenhaus Beuthen vom 17. Oktober 1945, verfasst von Schwester Edith Wichmann, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 3 S. 74  Vgl. Visitationsbericht der Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 7. bis 9. September 1942, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S. 75  Vgl. Wehrkreisarzt VIII in Breslau an Lazarett Beuthen vom 1. Juli 1943, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 2 S.

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Abb. 3: Visitationsbericht, 1940, Archiv der Vinzentinerinnen im Mutterhaus Köln-Nippes.



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zur medizinischen Unterstützung aushalfen.76 Schwester Lina galt für das Kölner Mutterhaus sogar als „Wehrmachtsoberin sämtlicher im Lazarett beschäftigten Wehrmachtschristen“.77 Wie auch in den Vinzentiner-Lazaretten im Bistum Hildesheim war die Beziehung zwischen Wehrmacht und den Ordensschwestern von anerkennenswerter Natur.78 Noch im Herbst 1944 bekam Schwester Lina für Engagement im Lazarett das Kriegsverdienstkreuz und die Verdienstmedaille für Volkspflege verliehen.79 Vom 7. bis 9. September 1942 hatte Gebsattel erneut eine Visitation durchgeführt. In dieser Zeit waren 26 Vinzentinerinnen in Beuthen im Dienst. Gebsattel bemängelte aber, dass der An- und Neubau immer noch nicht fertiggestellt sei, und auch wichtige Wirtschaftsräume fehlten. Im Krankenhaus befanden sich in dieser Zeit über 300 Patienten.80 Im Oktober 1943 war Gebsattel noch einmal zu Besuch in Beuthen, als sie auf der Durchreise ins oberschlesische Hindenburg war. Dabei konnte sie aber keine gravierenden Mängel feststellen.81 Auch für die Ordensschwestern musste der permanente Dienst unter Soldaten und Männern viel an Disziplin abverlangen. Oberin Edith berichtete 1944, dass Schwester Adelheit mehrere Wochen lang auf der Männerstation mit einem 52-jährigen Parteigenossen „anbändelte“. Als sie dahinterkam, wurde Adelheit sofort versetzt.82 Schwester Edith berichtete auch nach Köln von Adelheid, dass sie nicht wieder auf eine Männerstation dürfe, obwohl die Oberin dort mit ihrer Arbeit zufrieden war.83 Aufgrund der schweren Krankheiten vieler Patienten und Soldaten beklagte Schwester Edith im Sommer 1944, dass ihre Schwestern sich ebenfalls immer wieder mit schweren Krankheiten infizierten oder ansteckten.84 76  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 25. November 1944, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 4 S. 77  Notiz des Besuchs der Provinzialoberin Luciana Gebsattel im Städtischen Krankenhaus Beuthen vom 2. bis 5. August 1943, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 1 S. 78  Vgl. Sterner, Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Hildesheim, S. 78. 79  Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 25. November 1944, AVMK, Akte 05– 192, hss. Dok., 4 S. 80  Vgl. Visitationsbericht der Provinzialoberin Luciana Gebsattel über die Visitation vom 7. bis 9. September 1942 AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 3 S. 81  Vgl. Notiz des Besuchs der Provinzialoberin Luciana Gebsattel im Städtischen Krankenhaus Beuthen vom 2. bis 5. August 1943, AVMK, Akte 05–314, mss. Dok., 1 S. 82  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln 26. September 1944, AVMK, Akte 05– 192, hss. Dok., 6 S. 83  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 1. Januar 1945, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 3 S. Das Dokument trägt irrtümlich das Datum 1. Januar 1944. 84  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln 26. September 1944 AVMK, Akte 05– 192, hss. Dok., 6 S.

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Im August 1944 erging an die Schwestern durch das Staatliche Gesundheitsamt Beuthen-Tarnowitz ein sogenannter „Entpflichtungsbescheid“ zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung der Zivilbevölkerung. Grundlage dafür war ein Erlass des Reichsverteidigungskommissars für den Reichsverteidigungsbezirk Oberschlesien, des Gauleiter Fritz Bracht, vom 24. Juli 1944, und einer Verfügung des Regierungspräsidenten Oberschlesiens vom 28. Juli 1944. Den Reichsverteidigungskommissaren, die in der Regel die Gauleiter der jeweiligen Provinz waren, wurden im Laufe des Jahres 1944 angesichts des erkennbaren Rückzugs der Wehrmacht an allen Fronten weitreichende Kompetenzen für den Zivilschutz zugestanden wurde, de facto aber auch zu Konflikten mit Kompetenzen der Wehrmacht in Fragen der Verteidigung führte.85 Dieser setzte aufgrund seiner Kompetenzen deshalb fest, dass die Ordensschwestern im Krankenhausdienst sich „an ihrem Wohnort zur Verfügung zu halten“ und „den Ort ihrer Praxis nicht verlassen“. Für den Fall eines vernichtenden Luftangriffs sollten sich die Schwestern zu einer Notdienstbeorderung, also zu einer neuen und weiteren Verwendung „in der Befehlsstelle des örtlichen Gesundheitsdienstes“ einfinden.86 Das Beuthener Krankenhaus aber zeigte kein Verständnis für diesen Eingriff in die Organisation des Krankenhauses und fragte aufgrund dieser Weisung beim Breslauer Caritasverband nach, wie eine solche Notdienstbeorderung zu verstehen sei. Der Caritasverband gab zur Kenntnis, ihm sei eine solche Notdienstbeorderung nicht bekannt. Es habe bislang nur eine einzige Notdienstbeorderung einer Schwester gegeben, die sogar widerrufen werden konnte. Es sei nur denkbar, dass sich Schwestern freiwillig dazu bereit erklären würden.87 Auch der deutsche Caritasverband bestätigte diese Auffassung nach Köln, so dass keine Schwester notdienstbeordert und ohne Zusage des Mutterhauses von staatlichen Stellen eigens eingesetzt werden konnte.88 Am 30. September 1944 teilten Schwestern trotz des Vorrückens der Roten Armee im Osten bis an die Grenzen des Reiches an das Mutterhaus, sicher um beruhigend in einer angespannten Lage zu wirken, mit „es ginge ihnen noch gut“.89 Es wurden zu diesem Zeitpunkt ernste Nachrichten durch viele 85  Vgl. dazu Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969. 86  Staatliches Gesundheitsamt für den Stadt- und Landkreis Beuthen-Tarnowitz an das Städtische Krankenhaus Beuthen am 16. August 1944, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 87  Vgl. Diözesancaritasverband Oppeln an den Caritasverband Freiburg am 12. September 1944, AVMK, Akte 05–026, Abschrift, mss. Dok., 1 S. 88  Vgl. Caritasverband Freiburg an Mutterhaus Köln am 26. September 1944, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 89  Kurze Übersicht mit Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–187, Blatt 1, mss. Dok., 1 S.



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Flüchtlinge aus den deutschbesetzten Ostgebieten auch im Städtischen Krankenhaus Beuthen verbreitet. Nachdem polnische und ukrainische Ordensgemeinschaften unter deutscher Besetzung viel hatten erdulden müssen, mussten sie nun aus ihren Häusern aus Angst vor der Roten Armee fliehen.90 In Mutterhaus Köln war man sich trotz der allgegenwärtigen Bedrohungen aus der Luft auch im Oktober 1944 der ernsten militärischen Lage oder einem bevorstehenden Zusammenbruch Deutschlands aufgrund der Propaganda der Nationalsozialisten wohl noch nicht so ganz bewusst. Immerhin hatte Geb­ sattel Oberin Edith aber nach Beuthen realistisch mitgeteilt, dass es jederzeit dazu kommen könnte, dass die Verbindung zum Mutterhaus Köln und auch zu ihr abbrechen könnte. In diesem Fall habe sie für die „rechtsrheinischen Gebiete“ Schwester Everharda als ihren Ersatz berufen. Wie diese allerdings zu erreichen sei und wo, ließ Gebsattel offen.91 Zu dieser Zeit war das Städtische Krankenhaus nach Aussage der Oberin „bis unter das Dach belegt“ mit über 300 Patienten.92 Im Dezember 1944 herrschte auch bei den Beuthener Vinzentinerinnen eine große Angst vor der Roten Armee93, wenn auch Weihnachten und Silvester noch „ruhig und still wie alle Kriegsweihnachten“ verbracht wurden. Das Kölner Mutterhaus selbst wurde seit Dezember 1944 mehrfach von fliegerischen Angriffen getroffen.94 In Beuthen stand zur Jahreswende 1944/1945 die Rote Armee kurz vor dem Einmarsch. Es gab seitens der städtischen Behörden keinen direkten Evakuierungsbefehl für alle Vinzentinerinnen des Krankenhauses, die sich angesichts der dramatischen Verhältnisse einer ungewissen Zukunft ausgesetzt sahen. Flucht und Vertreibung und das Ende der deutschen Vinzentinerinnen aus Beuthen 1945–1946 Über die Flucht und Vertreibung in den Jahren 1945 und 1946 haben die Vinzentinerinnen aus allen ihren Breslauer Standorten zahlreiche authentische schriftliche Erlebnisberichte hinterlassen, von denen an dieser Stelle nur für die Schwestern aus dem Beuthener Krankenhaus einige Auszüge gebracht werden können. Sie ergeben ein Bild, wie die Geschichte der deutschen Vinzentinerinnen in Schlesien in den Jahren 1945 und 1946 schließlich endete. 90  Vgl. Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 22. September 1944, AVMK, Akte 05– 192, hss. Dok., 3 S. 91  Vgl. Mutterhaus Köln an Oberin Edith am 12. Oktober 1944, AVMK, Akte 05– 192, mss. Dok., 1 S. 92  Oberin Edith an Mutterhaus Köln am 25. November 1944, AVMK, Akte 05– 192, hss. Dok., 4 S. 93  Vgl. Kriegsbericht Städtisches Krankenhaus Beuthen vom 17. Oktober 1945, verfasst von Oberin Edith, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 3 S. 94  Vgl. Mutterhaus Köln an Oberin Edith am 6. Januar 1945, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 2 S.

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Die Offensive der Roten Armee auf Beuthen wurde für den 13. Januar 1945 erwartet. Vom 16. bis 18. Januar wurde immer wieder Alarm gegeben und die Stadt beschossen. Wenigstens das Lazarett sollte noch kurzfristig evakuiert werden, vorher wurden die Leichtverletzten entlassen.95 Am ­19. Januar schrieb Oberin Edith in einem Brief, den sie flüchtenden Militärschwestern „zum Einwerfen“ mitgab: „Wir bleiben einstweilen noch. Unsere Schwerkranken sollen heute noch fort. Seit gestern Abend warten wir schon auf den Abtransport. […] dann ist das Haus bis auf einige Sieche die immer wieder hereinkommen leer. Wir haben aber immer noch 60 Patienten aber der größte Teil soll fort.“96 Einige Tage hatte sie nach Köln noch die Hoffnung geäußert, „dass unsere tapferen Soldaten die Anstürme aufhalten werden“.97 Am 19. Januar 1945 wurde die Lazarettabteilung mit seinen vier Schwestern Lina, Theophana, Elfriede und Friedberta verlegt98, da für das Personal der Krankenhäuser und dem wichtigen Inventar der Lazarette noch ein eigener Güterzug organisiert werden konnte. Die Flucht ging zunächst in Richtung Bunzlau „in kalten, ja eisigen Güterwagen, stets unter Tieffliegerbeschuss“. Die vier Schwestern und Teile des Lazarettpersonals strandeten nach weiteren Transporten ins Deutsche Reich in Engelsdorf bei Leipzig, wo es in einem früheren Kinderheim der Karmelitinnen provisorisch untergebracht wurden. Doch auch Engelsdorf wurde im Frühjahr 1945 immer wieder bombardiert, so dass das Lazarett im März in die dortige Hans-Georg-Kaserne umziehen musste, wo Platz für hunderte Soldaten geschaffen wurde. Im April zogen die Amerikaner in Leipzig ein. Am 9. Juni wurden die Schwestern in das Reserve-Lazarett VI Leipzig (St. Elisabeth Krankenhaus) abkommandiert, wo auch bereits die „Grauen Schwestern“ arbeiteten. Einige Wochen später wurde aus dem Lazarett ein Zivilkrankenhaus. Da die Rote Armee gemäß des Londoner Zonenprotokolls von 1944 im Juli 1945 die Kontrolle über Leipzig übernahm, flüchteten die Lazarett-Schwestern unter großen Anstrengungen zunächst weiter in das Haus der Vinzentinerinnen nach Küllstedt ins thüringische Eichsfeld, das ebenfalls Teil der sowjetischen Besatzungszone wurde.99 Schwester Elfriede konnte im September 1945 nach

95  Vgl. Berichte, hier von Beuthen (Bytom) Städt. Krankenhaus, AVMK, Akte 05– 187, mss. Dok., 6 S. 96  Schwester Edith an Mutterhaus Köln 19. Januar 1945, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 2 S. 97  Schwester Edith an Mutterhaus Köln 16. Januar 1945, AVMK, Akte 05–192, hss. Dok., 4 S. 98  Vgl. Daten zu Engelsdorf, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S. 99  Vgl. Kriegsbericht Städtisches Krankenhaus Beuthen vom 17. Oktober 1945, verfasst von Oberin Edith, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 3 S.



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einer „abenteuerlichen Flucht“ von Küllstedt in das Mutterhaus nach Köln kommen.100 Vom 21. bis 27. Januar 1945 wurde die Stadt Beuthen massiv bombardiert. Die Vinzentinerinnen hielten im Krankenhaus wenigstens vereinzelt noch die Messe im Keller, und sie kamen tagelang ohne Licht und Wasser aus.101 Am 27. Januar 1945 zog die Rote Armee in Beuthen ein, da sich die Stadt nicht offiziell ergab.102 Viele sowjetische Soldaten ließen sich im Städtischen Krankenhaus behandeln.103 Am 2. März 1945 beschlagnahmte die Rote ­Armee das Krankenhaus. Einige wenige Schwestern durften noch dort verbleiben und konnten nach anfänglichen Putzarbeiten auch wieder in der Krankenpflege arbeiten. Zwei Wochen später übernahmen dann die Polen die Beuthener Schubert-Klinik, wo weitere Vinzentinerinnen tätig wurden.104 Die polnische Schwester Janiak aus Kattowitz fuhr sogar ins nun wieder polnische Mutterhaus nach Kulm/Chełmno, um das Städtische Krankenhaus weiter für die deutsche (Kirchen-)Provinz zu erhalten. Dieses teilte ihr mit, aufgrund der politischen Situation dürften fortan nur noch polnische Schwestern gefahrlos eingesetzt werden.105 Es war auch dem Mutterhaus Köln in dieser Zeit klar, „bei der ganz polnischen Einstellung werden die Schwestern aus Oberschlesien wohl alle wegmüssen“. Deutsche Schwestern würden politisch nicht mehr geduldet werden.106 Erste Vinzentinerinnen ergriffen deshalb schon im Sommer 1945 die Flucht, und einige strandeten in Berlin.107 Andere Schwestern verweigerten den Dienst unter der Roten Armee. Einige nähten Kleider, die sie auf dem Wochenmarkt in Beuthen verkauften, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.108 Im September 1945 stellte sich für Oberin Edith in Bytom hinsichtlich der Niederlassungen des Ordens in Schlesien folgende Situation dar: „Wir sind uns darüber klar, dass die Häuser in Schlesien rechtlich zu unserer Provinz gehören, solange keine andere Entscheidung der hochgeehrten Obern erfolgt 100  Vgl.

Bericht über das Kriegsende 1945, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S. Berichte, hier von Beuthen (Bytom) Städt. Krankenhaus, AVMK, Akte 05– 187, mss. Dok., 6 S. 102  Vgl. Kurze Übersicht mit Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–187, Blatt 1, mss. Dok., 1 S. 103  Vgl. Berichte, hier von Beuthen (Bytom) Städt. Krankenhaus, AVMK, Akte 05– 187, mss. Dok., 6 S. 104  Vgl. Kurze Übersicht mit Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–187, Blatt 1, mss. Dok., 1 S. 105  Vgl. Kurze Übersicht mit Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–187, Blatt 2, mss. Dok., 1 S. 106  Bericht über das Kriegsende 1945, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S. 107  Vgl. Daten zu Engelsdorf, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S. 108  Vgl. Bericht über das Kriegsende 1945,AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S. 101  Vgl.

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ist. Unter den augenblicklichen Verhältnissen scheint es uns aber ratsam, die deutschen Schwestern zurückzuziehen und die Werke vorläufig den polnischen Schwestern zu überlassen. Das gilt, soweit wir sehen, von Beuthen und Biskupitz. Inwieweit von Breslau und Brustawe die gleiche Lage ist, müssen wir dem Urteil der dortigen Schwestern Dienerinnen überlassen. Die zu unserer Provinz gehörenden Schwestern können sich frei entscheiden, ob sie in den Häusern bleiben oder zu uns zurückkehren wollen, gemäß der Entscheidung der hochgeehrten Obern. Die Schwestern der Kulmer Provinz (…) bleiben selbstverständlich im polnisch besetzten Gebiet. Die rechtliche Entscheidung über den Wechsel der Zugehörigkeit zur Provinz liegt auch hierbei in der Hand der hochgeehrten Obern. Da die Häuser früher zur Kulmer Provinz gehörten, finden wir es für richtig, die Kulmer Schwestern zur Übernahme der einstweiligen tatsächlichen Verwaltung zu bitten.“109 Zu Beginn 1946 befanden sich immer noch mehrere deutsche Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus von Bytom (Beuthen). Vom Mai bis Juli 1946 flohen sie aber allesamt über die Sowjetische Besatzungszone in den Westsektor nach Köln. Das Mutterhaus Kulm übernahm wieder das Städtische Krankenhaus Bytom, wo es polnischsprachige Schwestern einsetzte.110 Über diese Flucht der deutschen Vinzentinerinnen aus Bytom im Mai 1946 wurde festgehalten: „Am 9. Mai 1946 langten im Mutterhaus die ersten Beuthener Schwestern an, nach 5-tägiger Reise. Trotz des Verbots der Ausreise hatten sie die Flucht unter Lebensgefahr gewagt. Behilflich war ihnen ein früherer poln. Hausdiener, der jetzt den Rang eines Hausdirektors erhalten hatte. Derselbe brachte die Schwestern in einem reservierten Coupé für Polen bis zur Grenze. Da sie nicht polnisch konnten, durften sie sich auf der Fahrt durch nichts in ihrem eifrigen Gebet ablenken lassen. Auf polnischer Seite zeigten sie die in einer Tasche befindlichen poln. Papiere vor und auf deutscher Seite ihre in der andern Tasche befindlichen deutschen Papiere. In Cottbus erkannten sie in einem gegenüberliegendem Rote-Kreuz-Zug 2 Breslauer Schwestern und eine von Eichensee, die sich auf der Rückreise befanden.“111 Der helfende Hausdiener war Josef Kononienko gewesen, der von den Vinzentinerinnen während des Krieges als Pfleger im Städtischen Krankenhaus eingestellt wurde. Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde er von der sowjetischen Verwaltung dann zum Hausverwalter bestellt. Im August 109  Kriegsbericht Städtisches Krankenhaus Beuthen vom 17. Oktober 1945, verfasst von Schwester Edith Wichmann, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 3 S. 110  Vgl. Historische Daten zum Städtischen Krankenhaus Beuthen, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 111  Bericht über die Flucht aus Beuthen, Autor und Datum unbekannt, einzelnes Faszikel, AVMK, Akte 05–187, mss. Dok., 1 S.



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1946 floh er nach Deutschland, um sich dort einer notwendigen Operation zu unterziehen, wurde aber von den Amerikanern wegen illegalen Grenzübertritts verhaftet. Das Kölner Mutterhaus setzte sich aus Dankbarkeit für seine Dienste bei den amerikanischen Besatzungsbehörden für seine Freilassung ein.112 Auch die Ärzte des Städtischen Krankenhauses mussten fliehen. Effing strandete im Sommer 1945 in Diestedde bei Beckum nahe Münster. Schon Ende Oktober 1945 fragte das Kölner Mutterhaus an seiner Adresse bei ihm an, ob er nicht an einer Stelle als Internist im Kölner St. Vinzenz Krankenhaus interessiert wäre.113 Effing nahm die Stelle gern an. Auch Wülfing floh und strandete in Borken. Ende Dezember 1945 nahm auch er Kontakt zum Mutterhaus in Köln mit der Bitte zur Vermittlung einer Stelle auf und verwies in diesem Zusammenhang auch darauf, dass er mit Schwester Edith „immer sehr gut zusammengearbeitet habe“.114 Leider konnte ihm die Provinzialoberin Gebsattel keine Position in Köln anbieten.115 Im Juni 1946 wurde das gesamte Eigentum der ehemaligen Beuthener Vinzentinerinnen an die neuen polnischen Schwestern der Kulmer Provinz offiziell übergeben. Dazu zählte die Ausstattung der Hauskapelle, zahlreiches Porzellan und Glaswaren, Schwesternwäsche, und „noch viele ungezählte Sachen, Refektorium etc.“, wie es das Übergabeprotokoll dokumentierte. Diese Übergaben wurden vor ihrer Flucht noch von der Oberin Edith unterzeichnet, und für Kulm unterzeichnete die Schwester Gertruda Rabca.116 So ging das Städtische Krankenhaus 1946 endgültig wieder an die Chełmnoer Provinz über. Fazit Mit der Übergabe des Eigentums im Sommer 1946 an Chełm endete die Geschichte der deutschen Vinzentinerinnen im Beuthener Städtischen Krankenhaus nach fast einhundert Jahren. Sie hatten dort viele Jahrzehnte lang eine wichtige Aufgabe in der Pflege der Armen und Kranken übernommen 112  Vgl. Mutterhaus Köln an amerikanische Gefängnisverwaltung in München Tegernsee am 17. Februar 1947, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 1 S. 113  Vgl. Mutterhaus Köln an Effing am 20. Oktober 1945, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 1 S. 114  Mutterhaus Köln an Wülfing am 4. Januar 1946, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 1 S. 115  Vgl. Mutterhaus Köln an Schwester Hladeslara am 29. September 1939, AVMK, Akte 05–192, mss. Dok., 1 S. 116  Original unterschriebenes Protokoll der im Juni 1946 übergebenen Eigentümer der Beuthener Vinzentinerinnen an die Schwestern aus Kulm, AVMK, Akte 05–026, mss. Dok., 4 S.

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und waren ein wichtiger Teil der christlichen Caritas, sowohl während der langen Kulmer, aber auch während der über zwanzigjährigen Kölner Provinzialzeit. Die caritative Arbeit der Vinzentinerinnen im Städtischen Krankenhaus Beuthen konnte faktisch während der gesamten Zeit des Dritten Reiches gewährleistet werden, da man die Konflikte mit dem nationalsozialistischen Staat zu vermeiden versuchte, und sich rein auf den Krankendienst und dessen Verwaltung konzentrierte. Allerdings galt für die Beuthener Vinzentinerinnen, dass sie im Gegensatz zu den Beschlüssen der Vinzenzkongregationen in Fulda 1933 eine doch aktivere Schreibkultur an den Tag legten, wenn auch ohne klar erkennbar politische Inhalte oder jedwede Kritik an den Nationalsozialisten. Dennoch wehrte man sich gemäß den Vorschriften des Ordens bei offensichtlichen Handlungen gegen das Leben durchaus auch aktiv, so in der Frage der Assistenz bei Sterilisations-Operationen. Ideologischer Druck gegen die Ordenskongregation äußerte sich auch nicht so stark, weil die Vinzentinerinnen für den städtischen Krankenhausbetrieb und im Zweiten Weltkrieg für den Lazarettdienst der Wehrmacht sehr wichtig waren. Für diesen Lazarettdienst wurde die leitende Beuthener Vinzentinerin sogar noch kurz vor dem Kriegsende mit staatlichen Ehren ausgezeichnet. Was nach einem möglichen „Endsieg“ des Dritten Reiches aber mit den Vinzentinerinnen und den anderen caritativen Orden im Erzbistum Breslau passiert wäre, da Hitler die „Kirchenfrage“ ja erst nach einem erfolgreichen Krieg „lösen“ wollte, ist aufgrund der Radikalität der Nationalsozialisten auszudenken. Es braucht für den gesamten Breslauer Raum noch weitere Forschungen zu den anderen caritativen Standorten der Vinzentinerinnen in Breslau, Groß Tschansch und Eichensee, um die Situation des Ordens im „Dritten Reich“ kompakt beurteilen zu können. Trotzdem kann die (Ordens-)Geschichte heute wohl kaum die persönlichen Erfahrungen, die täglichen Mühen im Krankenhaus, die Ängste vor den Nationalsozialisten und der vorrückenden Roten Armee, die Furcht bei Bombenangriffen, die ethischen Gewissenskonflikte und besonders die tragischen Fluchtereignisse nach 1945 aus dem Städtischen Krankenhaus Beuthen ausreichend erfassen, die die Vinzentinerinnen zur Zeit des „Dritten Reiches“ erleben mussten. Literatur Adenauer, Evelyne A.: Das christliche Schlesien 1945/46: wie die Erzdiözese Breslau und die Kirchenprovinz Schlesien der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union endeten und in Schlesien polnische katholische Apostolische Administraturen eingerichtet wurden, Berlin 2014.



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Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen oder der lange Weg zu einem eigenen Alters- und Siechenheim (1940–1943)1 Von Jürgen Nitsche Einführung Die Israelitische Religionsgemeinde in Chemnitz stand nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 vor völlig neuen Herausforderungen. Aufgrund der geänderten Altersstruktur rückte die Sorge um ihre älteren Mitglieder immer mehr in den Vordergrund. Bislang hatte die Fürsorge der Alten dort eine eher untergeordnete Rolle in der Gemeindearbeit gespielt.2 Da die Chemnitzer Gemeinde erst wenige Jahrzehnte zuvor (1885) gegründet worden war, war der Anteil der älteren und pflegebedürftigen Mitglieder noch überschaubar. Die damit verbundenen Aufgaben konnten in Zusammenarbeit mit der Stadt Chemnitz und den benachbarten jüdischen Gemeinden in Sachsen geschafft werden. Angesichts der neuen, erzwungenen Umstände 1  Der Verf. möchte allen Personen danken, die ihm bei den aufwändigen Recherchen für die Erarbeitung des Beitrages geholfen haben. Besonderer Dank gilt Dr. Ruth Röcher, der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, die ihn einst auf die Forschungslücke aufmerksam gemacht hatte, sowie Conrad G. Frank (†), Eleanor E. Krongold (†), Ruth Mairowitz (†), Miriam Brookfield und Stephen Falk (alle USA), Hans Günter Flieg (Brasilien), Enrique Kahn (Argentinien), Georg Simon (†) (Dänemark), Ester Pareth (Israel), Ingrid Biermann-Volke und Barbara Welker (beide Berlin), Ellen Bertram, Solvejg Höppner und Birgit Weißwange (alle Leipzig), Waltraud Schmidt (Rößnitz/Vogtland), Adolf Diamant (†) (Frankfurt/Main) sowie Siegmund Rotstein, Justin Sonder (†), Manfred Kleinberg (†), Eveline Waszk und Sarah Dotzek (alle Chemnitz), die ihm bereitwillig halfen, manches Missverständnis in der biografischen Arbeit aus der Welt zu schaffen. Darüber hinaus erfuhr der Verf. Unterstützung von Mitarbeitern der Staatsbibliothek zu Berlin, der Sächsischen Landesund Universitätsbibliothek Dresden und der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig sowie der Sächsischen Staatsarchive Chemnitz und Leipzig, der Stadtarchive Chemnitz, Annaberg und Zwickau, der Stiftung Neue Synagoge Berlin/Centrum Judaicum, der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen und des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington. 2  Die „Vergreisung“ der jüdischen Gemeinden war bereits vor 1933 ein Thema der jüdischen Presse. Vgl. Gemeindeblatt der israelitischen Religionsgemeinde Dresden, 1929, Nr. 2, S. 2–4; Der Israelit, 11. Juni 1931, S. 12.

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durch die Machtübernahme der NSDAP wurde die zunehmende „Vergreisung“ der deutschen Juden am 20. Februar 1936 ein Thema in der „Jüdischen Zeitung für Mittelsachsen“, dem gemeinsamen Sprachrohr der Israelitischen Gemeinden in Chemnitz, Plauen, Zwickau und Annaberg. Unter der Überschrift „Unsere Alten“ hieß es: „Die ‚Vergreisung‘ der Juden in Deutschland ist jetzt so weit gediehen, dass die Hälfte von ihnen über 42 Jahre alt ist und ein Viertel über 60! Andererseits nimmt die Geburtenzahl rapide ab: In Chemnitz werden seit 1931 nur etwa neun bis zwölf Kinder pro Jahr geboren, ein Drittel bis ein Viertel von früher. So ist das Problem der Zukunft unserer Kinder […] kaum größer als die Frage nach der Zukunft unserer Alten.“3 Die Israelitische Religionsgemeinde zu Chemnitz, der im Jahr 1925 fast 3000 Mitglieder angehörten, war im Herbst 1939 von den NS-Behörden endgültig zerschlagen worden. Die Jüdische Kultusvereinigung, die sich daraufhin als Nachfolgeorganisation gebildet hatte, übernahm einen Teil der Aufgaben. Der Kaufmann Erich Wangenheim (1894–1955), der letzte Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde, wurde ihr Vorsitzender. Es sollte aber noch bis 1940 dauern, als der Vorstand der neuen Jüdischen Kultusvereinigung das Jüdische Alters- und Siechenheim am Antonplatz seiner Bestimmung über­ geben konnte. Über diesen Ort ist folgender Bericht vom 23. Oktober 1942 überliefert: „Tante Käthe und ich sind schon wieder mal umgesiedelt. Wir wohnen jetzt im Altersheim, wo Tante Käthe ja sowieso als Krankenschwester den ganzen Tag Dienst hat. Ich bin noch immer krank, doch habe ich hier im Heim auch meine Beschäftigung, die mir etwas einbringt. Ich bin so eine Art Sanitäter und halber Barbier geworden. Es sind so verschiedene alte Männer hier […]. Ich muss dieselben baden und rasieren, Haarschneiden. Einige, die blind oder sonst gebrechlich sind, abends und morgens anziehen“.4 Der Bericht stammt von dem ehemaligen jüdischen Handelsmann und Sohn eines Mitbegründers der Israelitischen Gemeinde zu Chemnitz Eugen Simon (1877–1943)5 und sollte dessen 18-jährigen Sohn Georg im dänischen Exil über die Lebensumstände der Familie in Chemnitz informieren. 3  Unsere

Alten, in: Jüdische Zeitung für Mittelsachsen, 20. Februar 1936. Jürgen Nitsche, Eugen Simon an Georg Simon, September 1942 (Kopie des Briefes). Das Original befindet sich bei den Erben des am 15. März 2011 in Gentofte (Dänemark) verstorbenen Professors Georg Simon. 5  Eugen Simon war der zweitgeborene Sohn des Chemnitzer Kaufmanns Julius Simon, der in der Literatur als „erster hier (1867) ansässig gewordener Jude“ bezeichnet wird, vgl. u. a. Adolf Diamant, Chronik der Juden in Chemnitz, heute Karl-MarxStadt. Aufstieg und Untergang einer jüdischen Gemeinde in Sachsen, Frankfurt/Main, 1970. Zu seinem eigenen und der Einsatz seiner Familie für das jüdische Leben in Chemnitz vgl. Georg Simon, Familie Simon, in: Jürgen Nitsche/Ruth Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder. Mit einer 4  Sammlung



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Zur Wohlfahrtspflege der Juden in Sachsen Der Kaufmann Eugen Simon, der jahrzehntelang für das von seinem Großvater Salomon Simon gegründete Herren-, Damen- und Kinderkleidergeschäft am Markt tätig war, erinnerte sich noch, dass Gemeinderabbiner Dr. Hugo Fuchs (1878–1949) wenige Jahre vor der NS-Machtergreifung „die nie versagende Wohltätigkeit, sowohl die private wie die von Vereinen gepflegte“,6 in dem Geschichtsabriss für das „Jüdische Jahrbuch für Sachsen“ erwähnte, weil diese für die Chemnitzer Judenheit „besonders rühmens­ wert“7 gewesen wäre.8 Die Fürsorge für die Armen und Schwachen der eigenen Gemeinschaft gehört, wie in der Thora vorgeschrieben, zu den wichtigsten Aufgaben des Judentums. Neben der Pflege des Kultus und der gottesdienstlichen Veranstaltungen gehört „die Gastlichkeit gegen Fremde, die Krankenpflege, der Liebesdienst an den Toten zu den sittlichen Grundlagen der [jüdischen] Gemeinde“9. Darauf hatte auch der Dresdner Feuilletonredakteur Dr. Leo Fantl (1885–1944) hingewiesen, als er im Jahr 1922 „die Wohlfahrtspflege der Juden“ für ein vom Sächsischen Landesgesundheitsamt herausgegebenen „Handbuch über die Volksgesundheits- und Volkswohlfahrtspflege im Freistaat Sachsen“ beschrieb.10 Das ausgehende 19. Jahrhundert brachte mit der industriellen Revolution und dem damit verbundenen Wachstum der Großstädte auch eine Vergrößerung der jüdischen Gemeinschaften im 1871 gegründeten Deutschen Reich. Die bisher bestehenden jüdischen Gemeinden hatten bereits im Sommer 1869 ihre Verwaltungsstellen zum „Deutsch-Israelitischen Gemeindebund“ (DIGB) mit Sitz in Berlin zusammengeschlossen.11 Der DIGB unterhielt u. a. eine ErDokumentation des Jüdischen Friedhofes, Dresden 2002, S. 424–427. Er war ab Herbst 1939 in verschiedenen „Judenhäusern“ einquartiert. 6  Hugo Fuchs, Geschichte der Juden in Chemnitz, in: Jüdisches Jahrbuch für Sachsen und Adressbuch der Gemeindebehörden, Organisationen und Vereine 1931/32, Ausgabe Chemnitz, Berlin und Dresden 1931, S. 133. 7  Ebd. 8  Persönliches [Nachruf auf Anna Simon], in: Jüdische Zeitung für Mittelsachsen, 8. Februar 1935. Georg Simon wies den Verf. auf diesen Sachverhalt im Jahr 2002 hin. 9  Sächsisches Landesgesundheitsamt (Hg.), Einrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheits- und Volkswohlfahrtspflege im Freistaat Sachsen, Dresden 1922, S. 402. 10  Ebd. 11  Der DIGB hatte sich als erste überregionale Dachorganisation jüdischer Gemeinden in Deutschland anlässlich der ersten Israelitischen Synode in Leipzig kon­ stituiert.

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ziehungsanstalt für geistig verlangsamt entwickelte Kinder in Beelitz und eine Fürsorgeerziehungsanstalt für verwahrloste Mädchen in Köpenick. Die acht jüdischen Religionsgemeinden in Sachsen12 hatten sich im Jahr 1906 aus eigener Initiative zum „Verband der israelitischen Religionsgemeinden im Königreich Sachsen“ mit Sitz in Dresden zusammengeschlossen.13 Im Oktober 1926 wurde die „Landeswohlfahrtsstelle des sächsischen israelitischen Gemeindeverbandes“ in Dresden gegründet. Die Geschäftsstelle befand sich in der Zeughausstraße. Der Rechtsanwalt Paul Salinger (1887–1933) übernahm den Vorsitz. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, „die Organisationen der jüdischen Wohlfahrtspflege im Freistaat auszubauen und zu verbessern“.14 In Chemnitz wurde im Jahr 1928 eine „Jüdische Wohlfahrtszentrale“ ins Leben gerufen. Dr. Hugo Fuchs war ihr Vorsitzender. Die Geschäftsstelle befand sich in der Agricolastraße 15, wo der Rabbiner mit seiner Familie wohnte. Ihr Zweck bestand laut Dr. Fuchs darin, die „Zusammenarbeit aller Wohlfahrt an Gemeindeangehörigen zu organisieren, ohne […] die Selbstständigkeit der einzelnen Vereine anzutasten“.15 Er wies auch auf einen „Nebenzweck“ hin, den er darin sah, „Zuschüsse der Gemeindeverwaltung von Fall zu Fall zu erreichen, da diese keinen eigentlichen Wohlfahrtsetat“16 hatte. Die neue Chemnitzer Dachorganisation verkehrte darüber hinaus mit der „Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden“ in Berlin sowie mit den städtischen und staatlichen Behörden. Unterstützt wurde Fuchs in seiner Tätigkeit vom langjährigen Fürsorgearzt Dr. Emil Fröhlich (1864–1965). Als Leiter des Sozialen Ausschusses der Israelitischen Gemeinde hatte dieser durch sein „schlichtes, gerades Wesen, seinem ausgleichenden Charakter und seiner pflichteifrigen, nie verdrossenen Tätigkeit an jeder Stelle zu allen Zeiten große Sympathie und Hochachtung erworben“, wurde in der „Jüdischen Zeitung für Mittelsachsen“ anlässlich seines 70. Geburtstages betont.17 Von den elf Vereinen (1927) hatten sich der Israelitische Krankenpflege-, Unterstützungs- und Bestattungsverein „Chewra Kadischa“, der Frauenhilfe12  Außer den bereits vor 1870/71 in Dresden und Leipzig gegründeten Religionsgemeinden waren dies die Gemeinden in Annaberg, Bautzen, Chemnitz, Plauen, Zittau und Zwickau. 13  Vgl. Renate Penßel, Jüdische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechtes. Von 1800 bis 1919, Köln, Weimar 2014, S. 413. 14  Adolf Wendelin, Handbuch der Liebestätigkeit in Sachsen. Eine Darstellung der Liebestätigkeit der sieben Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, der sonstigen gemeinnützigen Vereine, Anstalten und Stiftungen sowie der geschlossenen Anstaltsfürsorge der öffentlichen Wohlfahrtspflege, Dresden 1927, S. 282. 15  Hugo Fuchs, Geschichte der Juden in Chemnitz, S. 150. 16  Ebenda. 17  Persönliches, in: Jüdische Zeitung für Mittelsachsen, 19. Oktober 1934.



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Verein „Esrath Noschim“18, der Israelitische Frauenverein, der Jüdische Unterstützungsverein und die Jüdische Notstandsküche darüber hinaus zu einer engeren Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, die alle vier Wochen im Israelitischen Gemeindeamt ihre Beratungen abhielt und gemeinsam die Finanzen für größere Wohlfahrtsaufgaben bereitstellte. Neben den Kultusgemeinden setzte sich auch der 1843 von zwölf deutschjüdischen Einwanderern in New York ins Leben gerufene Unabhängige Orden B’nai B’rith (U. O. B. B.) (Söhne des Bundes), der mit mehr als 100 Einzellogen in allen Großstädten Deutschlands vertreten war, für die jüdische Wohlfahrtspflege ein.19 In Sachsen war der Orden durch die Fraternitas-Loge in Dresden, die Leipzig-Loge in Leipzig, die Eugen-Fuchs-Loge in Plauen und die Saxonia-Loge in Chemnitz, die am 27. Mai 1900 gegründet worden war, vertreten. Die Saxonia-Loge wollte „durch veredelnde Einwirkung auf ihre Mitglieder und auf die Kreise, die ihrem Einfluss zugängig [waren], die Grundsätze strengster Ehrenhaftigkeit und vornehmer Gesinnung zum Gemeingut aller“ machen. Damit wollte sie bewirken, wie es in der Satzung hieß, dass ihre Mitglieder „neben der Liebe und Opferbereitschaft für unser deutsches Vaterland dem Judentum und der jüdischen Religion Treue bewahren“.20 Im Jahr 1904 wurde eine Schwesternvereinigung der Chemnitzer Loge gebildet, die in den 1920er Jahren von Rahel Fuchs (1880–1938), der Ehefrau des Gemeinderabbiners, geleitet wurde. Während des Ersten Weltkrieges bauten die engagierten Schwestern, bei denen es sich in der Regel um Ehefrauen jüdischer Fabrikanten oder Großkaufleute handelte, eine Jüdische Notstandsküche auf und gründeten die Mittelstandsfürsorge. Daneben gehörte die Erholungsfürsorge zu den Schwerpunkten ihrer Tätigkeit. So ermöglichten die Schwestern, dass Kranken einen Aufenthalt in Kurorten wie Kolberg, Kissingen oder anderen Heilbädern erhielten. In den Sommerferien begleiteten sie Kinder aus ärmeren Familien (bis zu 80-jährlich) in das benachbarte Auerswalde, wo sich seit September 1911 eine „Kinderwalderholungsstätte“ befand. Ab Juli 1915 hatte die Fürsorgestelle der Stadt Chemnitz dahin Waldfahrten in den Nachmittag- und Abendstunden angeboten.21 Auf Empfehlung der Saxonia-Loge wurden alljährlich auch 18  Esrath

Nashim (hebr.: Frauenhilfe). dazu Louis Maretzki, Geschichte des Ordens Bnei Briss in Deutschland 1882–1907, Berlin [1907]. 20  Satzung der Saxonia-Loge, Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, 30104/328. 21  Vgl. Jan Weiße, Die „Kinderwaldstätte“ Glösa und die Chemnitzer Tuberkulose­ fürsorge, in: 100 Jahre Heilstätte Glösa. 15 Jahre Seniorenbetreuungszentrum, Chemnitz 2011, S. 24. 19  Vgl.

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Kinder und Jugendliche in jüdische Ferienkolonien22 gesandt. Von den Schwestern wurden diese – bei Bedarf – auch eingekleidet. Hans Günter Flieg, der seit Herbst 1939 mit seiner Familie in Sao Paulo (Brasilien) lebt, erinnerte sich noch im Februar 2019 an das idyllisch gelegene Ferienheim Agnetendorf, das der Ostdeutsche Logenverband unterhielt. Der mittlerweile 96-jährige Industriephotograph23 hat „beste Erinnerungen“ an das Landerziehungsheim im Riesengebirge, das von Elise Höniger geleitet wurde. Als Jugendlicher war er dreimal dort. Die Gemeinden und Einzellogen hinterließen fühlbare Spuren auf den verschiedensten Gebieten der jüdischen Wohlfahrtspflege im Freistaat Sachsen. Neben der Kinder- und Jugendfürsorge24 sowie der Berufs- und Erwerbslosenfürsorge25 betraf dies auch die heilende und pflegende Fürsorge, die im Mittelpunkt der nachstehenden Ausführungen steht. Die Altershilfe, die dazu gehörte, war durch die offene Hilfe der Gemeinden und Logen und durch das 1852 gegründete „Henriettenstift“26 des Asyl- und Altenheimes der Israelitischen Religionsgemeinde in Dresden vertreten. Die Fürsorge für jüdische Kranke lag in den Händen von Gemeinde- bzw. Logenschwestern. Edith Ruppin und Jenny Hellmann27 waren für die Israelitischen Gemeinden in Dresden und Leipzig tätig. Edith Kahn (1883−1959) leitete seit 1925 die Krankenschwesterstation bei der Saxonia-Loge in Chemnitz.28 Neben einem Israelitischen Krankenhaus gehörte auch ein Israelitisches Altersheim zu den Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge in Leipzig. Die 22  Vgl. u. a. Thilo Rauch, Die Ferienkoloniebewegung: Zur Geschichte der privaten Fürsorge im Kaiserreich, Wiesbaden 2013, S. 267. 23  Vgl. u. a. Ingrid Mössinger (Hg.), Hans Günter Flieg. Dokumentarfotografie aus Brasilien (1940–1970) anlässlich der Ausstellung „Hans Günter Flieg. Dokumentarfotografie aus Brasilien (1940–1970)“ in den Kunstsammlungen Chemnitz vom 7. März bis 1. Juni 2008], Kunstsammlungen Chemnitz, Bielefeld, Leipzig 2008. 24  Die Erholungsfürsorge für Kinder, die vorbeugende Fürsorge, die Arbeit an der heranwachsenden jüdischen Jugend und die rettende Fürsorge gehörten dazu. 25  Neben der Berufsberatung gehörten die Wanderarmenfürsorge, die Hilfe für jüdische Flüchtlinge und Strafgefangenenfürsorge dazu. So befanden sich Anfang 1930 etwa 30 jüdische Untersuchungs- und Strafgefangene in den Leipziger Gefangenenanstalten, die mit „Büchern jeglicher Art“ (u. a. Gebetbücher, jüdisch-religiöse Werke und Unterhaltungsliteratur) unterstützt wurden. 26  Handbuch der Liebestätigkeit, S. 282. 27  Jenny Hellmann, die seit etwa 1912 Gemeindeschwester war, genoss bei den Leipziger Juden großes Ansehen, wie aus Berichten im „Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig“ hervorgeht. Am 26. Februar 1943 wurde die unverheiratete Frau von Berlin aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet. 28  Nach deren Auflösung war die 55-jährige Schwester ab dem 1. Januar 1938 in den Dienst der dortigen Israelitischen Gemeinde übernommen worden.



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Altersversorgungsanstalt war bereits 1899 gegründet worden. Der Israelitische Wohltätigkeitsverein war ihr Träger. Selma Mieses wachte als Hausverwalterin darüber, dass nur Frauen im Alter von mindestens 50 Jahren und Männer vom 60. Lebensjahre an in dem Heim Aufnahme fanden. Zudem mussten diese mindestens 15 Jahre der Leipziger Religionsgemeinde angehören. Die Einrichtung bot nur neun Personen, die unter Behandlung und Aufsicht des Arztes Dr. Adolf Freymann standen, Platz. Im Erdgeschoss befand sich eine Israelitische Speiseanstalt29, die zugleich die Verpflegung der Insassen absicherte. Obwohl es zu dieser Zeit im Chemnitzer Gemeindebezirk kein Altersheim für Juden gab, bestand doch ab dem 17. Mai 1931 die Möglichkeit, dass gebrechliche Gemeindemitglieder in das neu eröffnete Altersheim der Ariowitsch-Stiftung in Leipzig aufgenommen werden konnten. Das Altersheim bot anfangs 33 Bewohnern einen Platz. In der Chemnitzer Gemeindeverwaltung war damals eigens ein Ausschuss gebildet worden, in dem Aufnahmeanträge von Gemeindemitgliedern in das Altersheim im Leipziger Waldstraßenviertel bearbeitet wurden. Der Fabrikant Josef Kahn (1881–1954), seit 1927 Gemeindevorsteher, und der Arzt Dr. Max Sichel (1880–1954), Gemeindeverordneter, leiteten die Kommission. Wie sich ihre Arbeit im Einzelnen gestaltete, kann mangels Unterlagen nicht beurteilt werden. Ob schwer erkrankte Chemnitzer Juden auch auf Veranlassung der Kommission im Israelitischen Krankenhaus (Eitingon-Stiftung) in Leipzig behandelt bzw. operiert wurden, kann nur vermutet werden. So starben die Kaufmänner Jacob Rubinstein und Hugo Goldberger am 7. März 1937 bzw. am 18. Februar 1939 in dem Krankenhaus an der Eitingonstraße.30 Außerdem sorgten in Sachsen Israelitische Frauenvereine sowie Ortsgruppen des 1904 von Bertha Pappenheim (1859–1936) und Sidonie Werner (1860–1932) gegründeten Jüdischen Frauenbundes für Frauen und Mädchen, mit besonderer Berücksichtigung von Witwen, Kranken und Wöchnerinnen. In Chemnitz hatten sich diesbezüglich Else Marx (1875–1942) und Rahel Fuchs besondere Verdienste erworben.31 Darüber hinaus gab es auch ostjüdische Frauenvereine.32

29  Allein im Jahr 1929 wurden in der Leipziger Speiseanstalt 44.459 Portionen Mittag- und Abendessen verabreicht (1928: 41.800 Portionen). 30  Die Israelitische Religionsgemeinde veranlasste die Überführung der Leichname nach Chemnitz und deren Beisetzung auf dem Gemeindefriedhof. Im Unterschied dazu wurde der frühere Abteilungsleiter Fritz Korn auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Leipzig beigesetzt. Er war am 3. Juni 1939 im Israelitischen Krankenhaus gestorben. 31  Die Mitglieder der Chemnitzer Ortsgruppe unterstützten auch die weiblichen Strafgefangenen- und Strafentlassenen-Fürsorge in der Stadt. 32  Sächsisches Landesgesundheitsamt (Hg.), Einrichtungen, S. 401.

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Zu den Einrichtungen der halboffenen Fürsorge gehörte neben der Mittelstandsküche der Jüdischen Gemeinde in Dresden und der Volksspeiseanstalt Leipzig auch die Jüdische Notstandsküche in Chemnitz, die im Jahr 1923 auf Anregung Josef Kahns und mit Unterstützung der Saxonia-Loge erneut gegründet worden war. Die Ausgabe von Mittagessen an Hilfsbedürftige, so deren Hauptziel, wurde von Elisabeth Beck (1892–1973) koordiniert. Laut dem Handbuch des jüdischen Wissens gab es Ende 1934 58 jüdische Alters- und Siechenheime in Deutschland.33 Für die Juden, die damals in den Kultusgemeinden in Chemnitz, Plauen, Zwickau und Annaberg organisiert waren, gab es weder ein Alters- noch ein Siechenheim. Nach 1933 geriet die staatliche Fürsorgepflicht für Juden mehr und mehr ins Visier der NS-Behörden. Obwohl diese noch bis Herbst 1938 weitgehend bestand, wurden kommunale Subventionen nach und nach reduziert. Aufgrund der unmittelbar nach der NS-Machtergreifung einsetzenden Fluchtbewegung fielen die gewohnten Spenden jüdischer Unternehmer für wohltätige Zwecke immer öfter weg.34 So wanderten die wohlhabenden Fabrikantenfamilien Becker, Sachs und Scharlach aus Chemnitz bereits im Sommer 1933 in die Niederlande aus, nachdem der Rechtsanwalt und Notar Dr. Arthur Weiner am Abend des 10. April 1933 entführt und am Rande der mittelsächsischen Gemeinde Wiederau ermordet worden war.35 Neben der Auswanderungsfürsorge, die schon früher u. a. vom „Hilfsverein der deutschen Juden“ betrieben worden war, gehörte nunmehr die Sorge um die Verarmten, Bedürftigen und Hilflosen unter den noch im Deutschen Reich lebenden Juden zu den wichtigsten Aufgaben der jüdischen Gemeinden und deren Dachorganisationen. Zur Arbeit der Jüdischen Wohlfahrtszentrale in Chemnitz bis 1938 Um die Arbeit der Jüdischen Wohlfahrtszentrale in Chemnitz rekonstruieren zu können, muss mangels Verwaltungsakten auf Presseberichte zurückgegriffen werden. Diese geben die Agenda der Sitzungen des Vereins und seiner Hilfsorganisationen im neuen Gemeindehaus relativ genau wieder. In der Sitzung im Mai 1934 unter der Leitung von Rabbiner Fuchs beklagte Assessorin Marianne Hauptmann (1905–1977) den Zustand der Mittelstandsküche, wie die einstige Notstandsküche nunmehr hieß. Sie litt seit längerer Zeit an 33  Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Berlin 1936 (Reprint Frankfurt/Main 1992), S. 21–22. 34  Wolf Gruner, Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002, S. 22. 35  Jürgen Nitsche, Familie Weiner, in: Nitsche, Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz, S. 430–432.



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einem ständigen Defizit, obwohl die im Januar 1934 gegründete Haushaltungsschule ihr einen Teil der Aufgaben abgenommen hatte. Die Mittelstandsküche war trotzdem gezwungen, ihre Nahrungsmittelbeihilfen auf das allergeringste Maß herabzusetzen und auch manche Bittsteller zurückzuweisen, obwohl damit jüdische Grundsätze gebrochen wurden.36 In einer nächsten Sitzung der Wohlfahrtszentrale am 11. Dezember 1934 hob der neue Vorsitzende Dr. Emil Fröhlich besonders hervor, dass sich das Zusammenarbeiten mit dem städtischen Wohlfahrtsamt trotz aller Vorbehalte „reibungslos“ vollziehen würde. Am 10. Dezember 1935 fand im Gemeindesaal die alljährliche gemeinschaftliche Etatsitzung des Vorstandes und der Verordneten der Israelitischen Gemeinde statt. Josef Kahn wies in dem Jahresbericht darauf hin, dass die Wohlfahrtszentrale etwa 300 Mitglieder betreute. Er hob auch hervor, dass die vorübergehende Kürzung der städtischen Beihilfen für jüdische Kleinrentner wieder aufgehoben wurde. Kahn sprach in diesem Zusammenhang sogar davon, dass „die Behandlung unserer Armen“ durch die städtischen Behörden weiterhin korrekt wäre.37 Diese Einschätzung muss aber angesichts der gleichgeschalteten Presse kritisch hinterfragt werden. Von den bevorstehenden Einschnitten in der Kleinrentnerfürsorge, die mit dem Gesetz über Kleinrentner vom 5. Juli 1934 begannen, hätte Kahn damals wissen müssen. Bereits im Dezember 1934 waren Juden aus dem „Reichsbund der Deutschen Kapital- und Kleinrentner“ ausgeschlossen worden. Ihre Betreuung wurde der Reichsvertretung der Juden in Deutschland übertragen. Laut einem Erlass des Reichsarbeitsministeriums vom 20. November 1936 wurden Juden und Personen, die nach dem Reichsbürgergesetz als Juden galten, bei einer Sonderverteilung an Kleinrentner nicht mehr berücksichtigt. Ihre Betreuung oblag fortan allein den jüdischen Hilfsorganisationen. Sie erhielten auch keine Reichssonderzuschüsse, wie dies ein Erlass des Reichsarbeitsministers vom 15. November 1937 vorsah. Außerdem wurden sie von den Beihilfen für kriegsbedingte Flüchtlinge oder Verdrängte ausgeschlossen, die die Reichsminister des Innern und der Finanzen mit einer Verordnung am 24. Dezember 1937 beschlossen hatten.38 Wie aus dem Bericht über die Sitzung am 14. Juli 1936 hervorgeht, unterstützte die Wohlfahrtszentrale nunmehr 350 Personen und damit fast ein Fünftel der Gesamtgemeinde. Darüber hinaus half der Sozial-Ausschuss 25 Mitgliedern bei deren Umschulung („Umschichtung“). Unter Mitarbeit des Jüdischen Frauenbundes wurden zwei Gemeindehelferinnen zur häuslichen 36  Vgl.

Jüdische Zeitung für Mittelsachsen, 11. Mai 1934. Zeitung für Mittelsachsen, 19. Dezember 1935. 38  Vgl. Max Dörschel, Handbuch der öffentlichen Wohlfahrtspflege in Sachsen, Dresden 1938, S. 49–50. 37  Jüdische

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Krankenpflege und eine Sozialbeamtin ausgebildet. Dr. Fröhlich betonte, dass eine Gemeindehelferin Aufgaben erfüllen würde, die zwischen einer Krankenschwester und einer Hauspflegerin angesiedelt wären. Die Arbeitsberichte der Chemnitzer Wohlfahrtsstelle verdeutlichen, dass die Bedingungen im NS-Staat zunehmend schwieriger wurden. Jedoch entfaltete sich die Ausgrenzung noch nicht in ihrer vollen Radikalität, wie in den späteren Jahren des Nationalsozialismus zu sehen sein wird. Das Pogromjahr 1938 und der Ausschluss der Juden aus der öffentlichen Fürsorge Die rechtliche Lage der noch im NS-Staat lebenden Juden verschlechterte sich im Laufe des Jahres 1938 gravierend. Am 28. Oktober 1938 wurden 338 Chemnitzer Juden polnischer Staatsangehörigkeit in „Schutzhaft“ genommen und nach Polen deportiert.39 Darunter befanden sich auch fünf Männer und Frauen, die weit über 70 Jahre alt waren. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 inszenierten die Nationalsozialisten reichsweit Pogrome, die den Kulminationspunkt der bisherigen Judenverfolgung bildeten. Die Chemnitzer Synagoge am Stephanplatz, die „Zierde des Kaßbergs“, wurde in Brand gesetzt und in den Folgewochen vollständig abgerissen.40 SA- und SS-Leute erschossen am frühen Morgen des 10. November 1938 den langjährigen Geschäftsführer des Warenhauses H. & C. Tietz, Hermann Fürstenheim, in seiner Villa an der Weststraße.41 Im Gefolge der Pogromnacht wurden im Regierungsbezirk Chemnitz 170 jüdische Männer deutscher Staatsangehörigkeit (u. a. der Gemeindevorsteher Josef Kahn) verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Weitere 13 Männer (u. a. der Arzt Dr. Adolf Lipp) hielt man für einige Wochen im Untersuchungsgefängnis auf dem Kaßberg fest. Sechs Juden aus Chemnitz und Meerane waren darüber hinaus auswärts verhaftet und nach Buchenwald verschleppt worden. Soziale Isolation, seelische Beklemmung und Hoffnungslosigkeit trieben immer mehr Chemnitzer Juden und Jüdinnen in der Folgezeit in den Freitod. So starben die Witwe Jenny Fleischer und ihre 38-jährige Tochter Ilse wenige Tage nach den Pogromen an einer Rauchgasvergiftung in ihrer Woh39  Vgl. Jürgen Nitsche, Vertreibung und Ermordung der Chemnitzer Juden, in: Nitsche, Röcher (Hg.): Juden in Chemnitz, S. 152–155. 40  Vgl. Jürgen Nitsche, „Wahrheit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Friede.“ Betstuben, Synagogen und Gemeindehäuser, in: Sebastian Liebold und Wolfgang Uhlmann für den Chemnitzer Geschichtsverein e. V. (Hg.), Chemnitz. Streiflichter der Stadtgeschichte, Markkleeberg 2018, S. 50–53. 41  Vgl. Jürgen Nitsche, Vertreibung und Ermordung der Chemnitzer Juden, in: Nitsche, Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz, S. 155.



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nung.42 Am selben Tag, dem 19. November 1938, regelte eine Verordnung der Reichsministerien für Inneres, Arbeit und Finanzen die öffentliche Fürsorge der Juden neu: „Juden sind im Falle der Hilfsbedürftigkeit auf die Hilfe der jüdischen freien Wohlfahrtspflege zu verweisen. Soweit diese nicht helfen kann, greift die öffentliche Fürsorge ein. Die Voraussetzungen sind streng zu prüfen. Zu gewähren ist nur Unterkunft, Nahrung, Kleidung, Krankenpflege, Hilfe für Gebrechliche sowie für Schwangere und Wöchnerinnen, Hebammenhilfe und, soweit erforderlich, ärztliche Behandlung, nötigenfalls auch Bestattungsaufwand. Weitere Hilfe wird Juden nicht gewährt.“43 In Chemnitz setzte Dr. Konrad Martin (1898–?)44, der neue Vorstand des Städtischen Jugend- und Wohlfahrtsamtes, am 21. Dezember 1938 alle Dienststellen des Amtes über die Verordnung zur öffentlichen Fürsorge für Juden in Kenntnis. Er wies alle Mitarbeiter an, „mit Ende Dezember 1938 alle Bar- und Naturalunterstützungen, sowie jede andere Fürsorge für Juden einzustellen“. Auch betonte er, dass alle jüdischen Beihilfeempfänger jetzt schon von der bevorstehenden Unterstützungseinstellung von der Zentral­ abteilung in Kenntnis gesetzt werden würden.45 Dies hieß auch, dass ältere bedürftige Juden nicht mehr in dem Städtischen Fürsorge- und Pflegeheim betreut werden konnten. Noch Monate zuvor hatte dort der 63-jährige Kaufmann David Rosenberg, der ehemalige Inhaber einer Strumpfwarengroßhandlung, ohne Gegenwehr Aufnahme gefunden. Mit den neuen Regelungen standen die jüdischen Gemeinden vor Ort zunächst in der Pflicht, Fürsorge für die in Frage kommenden Mitglieder zu leisten. Stiftungen, Vereine und die zentrale jüdische Organisation traten erst danach ein. Die eher kleineren Gemeinden, zu denen auch die Chemnitzer Religionsgemeinde46 gehörte, sahen sich jedoch aufgrund ihrer finanziellen 42  Der Lehrer und Prediger Leo Elend, der die Jüdischen Sonderklassen bis zu deren Zwangsauflösung geleitet hatte, nahm sich in der Nacht zum 8. März 1939 „durch Einnahm großer Mengen Schlafmittel“ das Leben. Vgl. StAC, Polizeipräsidium Chemnitz, Anzeige über die Aufhebung eines Toten (Leo Elend), 9. März 1939. 43  Verordnung über die öffentliche Fürsorge für Juden, in: Reichsgesetzblatt I 1938, S. 1649, vgl. auch Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NSStaat, Heidelberg 1996, S. 257. 44  Dr. Konrad Martin, Jurist und Notar, war seit 1932 Mitglied der NSDAP. Von März 1936 an war er hauptamtlicher Stadtrat in Chemnitz und leitete neben dem Jugend- und Wohlfahrtsamt auch das Versicherungsamt, das Amt für Kriegsgräberfürsorge sowie die Stadtpolizei. Von 1943 an war er städtischer Beigeordneter in Litzmannstadt (Łódź). Im Jahr 1950 erhielt er in Hessen wieder die Zulassung als Rechtsanwalt. 45  StAC, Rat der Stadt Chemnitz, 1928–1945, Jugend- und Wohlfahrtsamt, 1935– 1938, Nr. 70014/4. 46  Die Israelitische Religionsgemeinde Chemnitz nahm in der Liste der größten Gemeinden in Deutschland laut Volkszählung (1933) den 23. Platz ein.

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Situation zunehmend weniger in der Lage, ihren wachsenden Pflichten nachzukommen.47 Der NS-Stadtrat führte auch einzelne Bestimmungen der judenfeindlichen Verordnung an: „Mietbeihilfen, wie überhaupt Sonderunterstützungen jeder Art, dürfen an Juden nicht mehr gewährt werden. Ausgeschlossen sind Juden auch von den Härtebeihilfen, von den Fettverbilligungsmaßnahmen und von der Befreiung von der Rundfunkgebühr.“48 Martin wies darauf hin, dass er als Amtsleiter all die Fälle prüfen müsste, wenn doch Fürsorge gewährt werden muss. Dabei wären aber die zum 10. November 1938 eingeführten Richtsätze für Juden konsequent anzuwenden, wobei das gesamte Einkommen auf die Unterstützungssätze angerechnet werden müsste: 10 Mark für ein Ehepaar – 6 Mark für einen Angestellten mit Haushalt – 4,50 Mark für einen Angestellten ohne Haushalt – 2,50 Mark für ein Kind unter 14 Jahre. Martin hob hervor, dass alle Unterstützungen für in der Stadt oder auswärts untergebrachten jüdischen Pflegekinder sofort einzustellen wären. Verpflegungsbeiträge durften auch nicht mehr an Jüdische Anstalten überwiesen werden. Abschließend wies der Amtsleiter darauf hin, dass die künftige Bearbeitung sämtlicher jüdischer Fürsorgefälle in den Händen der Zentralabteilung des Wohlfahrsamtes liegen würde. Weder die Israelitische Religionsgemeinde noch die Einrichtungen der freien jüdischen Wohlfahrtspflege in Chemnitz sahen sich in der Lage, uneingeschränkt für die Hilfsbedürftigkeit ihrer Mitglieder aufzukommen. In der Folgezeit bürdete der NS-Staat kurzerhand der am 4. Juli 1939 gebildeten Reichsvereinigung der Juden in Deutschland neben der Förderung der jüdischen Auswanderung und dem jüdischen Schulwesen auch die gesamte jüdische Wohlfahrt auf.49 Allein in der zweiten Jahreshälfte 1939 hatte diese reichsweit insgesamt 16 jüdische Altersheime teils einrichten, teils wesentlich erweitern lassen. Die Errichtung eines Jüdischen Alters- und Siechenheimes Im Herbst 1939 stand der Vorstand der zwangsweise gebildeten Jüdischen Kultusvereinigung in Chemnitz vor der Herausforderung, eine Unterkunft für ihre älteren Gemeindemitglieder zu finden. In dem um 1909 erbauten Wohnund Geschäftshaus Antonplatz 15, das seit Mai 1919 im Besitz des zur Gemeinde gehörigen Kaufmanns Julius Sommerfeld war, fanden die Vorstandsmitglieder Erich Wangenheim, Franz Breslauer und David Klebe schon bald 47  Vgl. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939–1945), Göttingen 2011, S. 106–121. 48  Ebd. 49  Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden, S. 297.



Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen331

Abb. 1: Julius Sommerfeld, Kaufmann und Hausbesitzer, um 1935. Gedenkstätte Yad Vashem.

ein geeignetes Gebäude, und dies mitten in der Innenstadt. Bis November 1938 hatte sich in dem dreigeschossigen Gebäude neben der Tuchgroßhandlung des Hausbesitzers auch das Strumpfwarengeschäft von Jakob Goldwerger befunden. Das Haus konnte zügig in ein Altersheim um- und ausgebaut werden. Die Verhandlungen der Jüdischen Kultusvereinigung mit dem Abwesenheitspfleger, dem Rechtsanwalt und Notar Dr. Walter Hintze, dauerten nicht lange. Mit dem Hausbesitzer Julius Sommerfeld, der seit Februar 1911 in Chemnitz lebte, konnte der Vorstand nicht verhandeln. Er war im September 1939 verhaftet und am 23. November 1939 in das Leipziger Polizeigefängnis überstellt worden. Von dort war der verwitwete Familienvater50 fünf Tage später mit einem Sammeltransport in das Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt worden. Laut Mitgliederkarte der Jüdischen Kultusvereinigung hatte Sommerfeld zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in seinem Haus gewohnt, sondern in dem Haus Äußere Klosterstraße 2, das zu den zahlreichen „Judenhäusern“ in Chemnitz gehörte. Die Jüdische Kultusvereinigung, Abteilung Jüdisches Altersheim, schloss Ende 1939 den Mietvertrag mit Siegfried Rolf Sommerfeld, dem 20-jährigen 50  Grete Sommerfeld war am 29. Dezember 1934 in Chemnitz verstorben und auf dem Jüdischen Friedhof in Altendorf zur letzten Ruhe gebettet worden.

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Sohn, ab, der bereits in das Britische Mandatsgebiet Palästina emigriert war. Der Kaufmann Leopold Marx (1880–1941), der vom Amtsgericht als Vormund des noch nicht Volljährigen eingesetzt worden war, hatte in dessen Auftrag den „Deutschen Einheitsmietvertrag“ unterzeichnet. Der Vertrag trat mit dem 1. Januar 1940 in Kraft und sollte am 31. Dezember 1944 enden. Darin wurde auch geregelt, dass die Räume des Vorder- und Hinterhauses „zur Benutzung als Jüdisches Altersheim“ vermietet werden sollten. Die Bauberatungsstelle genehmigte am 2. Dezember 1939 die baulichen Änderungen im Erdgeschoss. Bereits am 14. Dezember 1939 sollten die voraussichtlich sechs Wochen dauernden Baumaßnahmen beginnen, was sich jedoch trotz Zustimmung des Arbeitsamtes verzögerte. Bei den geplanten Baumaßnahmen ging es in erster Linie darum, die sanitären Verhältnisse des Geschäfts- und Wohnhauses zu verändern. So sollten in den Baderäumen anstelle der vorhandenen Zylinderbadeöfen zwei Gasbadeöfen eingebaut werden. Die gesamten Kosten waren mit etwa 2.500 Mark veranschlagt worden.51 Ein Bauklempner und ein Installateur wurden dafür benötigt. Als ausführende Firma war die Bauklempnerei Kurt Spranger vorgesehen. Maximal 800 Kilogramm Baueisen sollten verwendet werden, wovon 550 Kilogramm aus dem Bestand der Kultusvereinigung aufgebracht werden sollten. Nachdem das Arbeitsamt den Antrag am 10. Januar 1940 geprüft hatte, erteilte auch das Baupolizeiamt dem Bauvorhaben am 24. Januar 1940 die Zustimmung. Dies aber nur, da „arbeitseinsatzmäßige Bedenken nicht bestehen würden“ und „die kontingentierten Baustoffe sichergestellt“ waren. Insgesamt durften nicht mehr als zwei Tonnen Eisen und drei Kubikmeter Nadelschnittholz verwenden werden. Das Amt wies auch darauf hin, dass „zusätzliche Arbeitskräfte […] für dieses Bauvorhaben vom Arbeitsamt nicht angefordert und staatspolitisch wichtige Bauten […] durch die Durchführung des hier infrage stehenden Bauvorhabens nicht beeinträchtigt werden“52 durften. Der Jüdischen Kultusvereinigung wurde der Bescheid erst am 8. Februar 1940 zugestellt. Bereits am 29. Februar 1940 fand die positive Schlussprüfung der Umbauten durch das Baupolizeiamt und die Stadtwerke statt. Zur Finanzierung des Bauvorhabens hatte die Kultusvereinigung am 4. Januar 1940 ein „Stiftungskonto Jüdisches Altersheim“ bei der Dresdner Bank, Filiale Chemnitz, errichtet. Insgesamt 8.000 Mark Wertpapiere ließ die Vereinigung zu ­diesem Zwecke von ihrem Sonderkonto beim Bankhaus Bayer & Heinze in Chemnitz auf das Stiftungskonto überweisen. Die Devisenstelle Chemnitz stellte dieses Konto am 9. Januar 1940 von den obligatorischen Beschränkungen der Sicherungsanordnung frei.53 51  Stadtarchiv

Chemnitz (StAC), Historische Bauakten, Bauakte Antonplatz 15.

53  Sächsisches

Staatsarchiv Chemnitz, 31518 Dresdner Bank, Nr. 165.

52  Ebd.



Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen333

Der Bezug des Jüdischen Altersheimes Bereits im Februar 1940 waren etwa 35 bis 40 bedürftige Chemnitzer Juden in das Altersheim eingezogen. Dabei handelte es sich zumeist um Witwen, Greise und Kranke, die auf Grund verschiedenster Umstände nicht in der Lage gewesen waren, das Deutsche Reich zu verlassen. Die meisten von ihnen hatten keine Verwandten mehr in der Stadt. Daher wurde der Unterhalt für sie ganz oder teilweise aus jüdischen Wohlfahrtsmitteln bestritten. Sie mussten eigene Wäsche und Möbel mitbringen. Etwa zur gleichen Zeit kam der Hausbesitzer in dem Konzentrationslager Sachsenhausen ums Leben. Angeblich war dieser dort am Abend des 16. März 1940 „infolge Herzschwäche und Wassersucht“ verstorben. Rolf Sommerfeld, sein in der Hafenstadt Haifa lebender Sohn, wurde damit Eigentümer der Immobilie. Den Bewohnern standen 19 Zimmer, drei Kammern, eine Küche, fünf Korridore mit Anrichteraum, zwei Bäder, ein Büroraum, zwei Kellerräume, ein Speisesaal, ein Waschhaus und sechs Trockenaborte zur Verfügung. Von Adolf Diamant (1924–2008), dem Chronisten der Jüdischen Gemeinde in Chemnitz, ist ein Bericht über das Jüdische Altersheim überliefert: „Im Parterre befand sich die Küche und die Nebenräume sowie der Speisesaal, der auch als Aufenthaltsraum benutzt wurde. Im ersten und zweiten Stockwerk waren die Wohnzimmer, jedes für zwei Personen eingerichtet. Auch die Dachkammer war als Notwohnung ausgebaut. Außerdem befand sich in jeder Etage ein Krankenzimmer. Jedes Zimmer hatte fließendes Wasser und gute Füllöfen für Kohle.“54 Sein Bericht stützte sich jedoch auf Aussagen Dritter, da er sich in dieser Zeit nicht mehr in Chemnitz aufhielt. Mit seinen Eltern war er am 28. Oktober 1938 nach Polen ausgewiesen worden, nur er überlebte. Eleanor E. Krongold (1923–2019), die selbst als junge Frau bis Sommer­ ende 1941 in dem Heim eine Köchinnenlehre begonnen hatte, teilte dem Verfasser auf Nachfrage im Februar 2002 mit: „Das Altersheim bestand aus drei Etagen. Im Erdgeschoss befanden sich nach dem Eingang rechts ein kleines Büro. Links war der ‚Speisesaal‘ und die Küche. Die 1. und 2. Etage bestanden aus jeweils fünf Zimmern. Die Lebensverhältnisse der Insassen und die Arbeitsverhältnisse des Personals waren zeitgemäß. Beide Seiten wussten, dass sie sich unter normalen Umständen nicht auf diesem Platz befinden würden und behandelten sich gegenseitig mit Respekt und Mitgefühl, was die Außenwelt uns damals versagte.“55 54  Adolf Diamant, Chronik der Juden in Chemnitz, heute Karl-Marx-Stadt, Frankfurt/Main 1970, S. 143. Vgl. auch Jüdisches Altersheim, in: Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Spurensuche. Jüdische Mitbürger in Chemnitz. Stätten ihres Lebens und Wirkens. Orte der Erinnerung, Chemnitz 2002, S. 36/37. 55  Auskunft Eleanor Krongold, 17. und 26. Februar 2002.

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Jürgen Nitsche

Das Heimpersonal Der frühere Geschäftsinhaber Erich Wangenheim war in der Anfangszeit vorübergehend Heimleiter. Als erster Vorsitzender der Jüdischen Kultusvereinigung hatte er die Errichtung des Altersheimes begleitet. Als Heimleiterin wurde von der Reichsvereinigung der Juden wenig später die 57-jährige Witwe Marie Doernberger, die bis Anfang 1940 in Berlin-Charlottenburg gelebt hatte, eingesetzt. Eleanor (auch Lore) Krongold (bis zu ihrer Vermählung Eleanore Elise Blaustein, verstorben am 21. Januar 2019 in den USA) konnte hilfreiche Angaben zum Personal machen56: Leiterin

Marie Doernberger, geb. Levinger

Buchhalter

Daniel Joseph Schwarzwald (bis Februar 1943)

Arzt („Judenpfleger“57)

Dr. Ludwig Katzenstein (bis Februar 1943), Dr. Adolf Lipp

Krankenschwester

Käthe Simon (bis Februar 1943)

Hausmeister

Emil David Motulski (bis April 1942)

Köchin

Wally Mandel

Kochlehrling

Eleanore Blaustein (bis August 1941)

Haushaltslehrling

Inge Heinel (bis April 1942)

Wirtschafsgehilfinnen

Alice Klein (bis April 1942) Lina Weishaupt Susanna Schwarzwald, geb. Sommerfeld (bis Februar 1943) Gertrud Simon (Mai 1942 bis Februar 1943)

Sanitäter/Friseur

Eugen Simon (Oktober 1942 bis Februar 1943)

Als Köchin konnte die 32-jährige Wally Mandel gewonnen werden. Sie hatte die Stelle am 15. Februar 1940 angetreten. Ihr Bruttomonatsverdienst betrug 60 Mark. Dazu kam noch kostenlose Verpflegung, wie sie in ihrer 56  Ebd.

Die Angaben wurden vom Verf. ergänzt. „Krankenbehandler“ war eine diskriminierende Begriffsbildung im NSStaat für jüdische Ärzte, denen aufgrund der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938 zwar ausnahmslos die Approbation zum 30. September 1938 entzogen worden war, die ihren Beruf aber weiter zur Behandlung jüdischer Bürger ausüben durften. Dementsprechend gab es auch „Zahnbehandler“. 57  Der



Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen335

Selbstauskunft gegenüber der Devisenstelle Chemnitz berichtete. Eleanor Krongold wusste noch, dass zwei ältere Heimbewohnerinnen in der Küche aushalfen. Sie war sich sicher, dass eine davon die 71-jährige Klara Fleischmann, „eine weißhaarige Dame“, war. Bei der anderen Frau könnte es sich um die 70-jährige Mircia Wieselberg gehandelt haben. Im Juli 1941 wurde die Jüdische Gaststätte, die im April 1901 von Sabina Nathan als rituell geführte Speisewirtschaft und Pension in der Innenstadt gegründet worden war und sich zuletzt im Haus der Jüdischen Kultusvereinigung (Zöllnerstraße 6) befand, an das Jüdische Altersheim angegliedert. Fortan führte die frühere Pensionsinhaberin die Gaststätte als Untermieterin im dortigen Erdgeschoss weiter. Da die Räume jedoch zu groß waren, wurde sie bereits im Folgemonat ins zweite Obergeschoss verlegt. Die Heimbewohner konnten, insofern sie noch genügend Geld besaßen, den Schankbetrieb nutzen, bevor dieser am 27. April 1942 endgültig eingestellt werden musste. Die Heimbewohner – ein Erinnerungsbericht Eleanor Krongold, die damals mit ihrer um zwei Jahre jüngeren Freundin Inge Heinel58 in dem Heim tätig war, erinnerte sich noch über 60 Jahre später an einige der betagten und gebrechlichen Frauen und Männer, die seit Anfang 1940 in dem Heim untergebracht waren. So konnte sie sich an einen „Geschäftsmann aus Annaberg“ erinnern, der „an der Parkinson-Krankheit“ litt und deswegen zuletzt bettlägerig war. Sie meinte Josef Fischer, der aus Teplitz (Böhmen) stammte. Bereits im Oktober/November 1938 war der unverheiratete Kaufmann im Israelitischen Krankenhaus in Leipzig behandelt worden. Die Verwaltungsstelle Chemnitz der Bezirksstelle Mitteldeutschland der Reichsvereinigung der Juden beantragte am 27. August 1942 bei der Devisenstelle Chemnitz, 50 Mark von Fischers Konto „als Reisegeld für den bevorstehenden Abtransport“ von Annaberg in das Jüdische Altersheim überweisen zu dürfen.59 Josef Fischer starb am 7. März 1943 in dem Heim, das auch als Siechenheim genutzt wurde. Dr. Adolf Lipp, der neue „jüdische Krankenbehandler“, hatte „Herzmuskelschwäche“ als Todesursache angegeben. Diesen Sterbefall hatte Louis Mannaß „aus eigener Wissenschaft“ bei dem zuständigen Standesamt gemeldet. Bei diesem Kaufmann handelte es sich um den zweiten Mann, der laut Eleanor Krongold „Ende 60/Anfang 70 Jahre“ alt war. Tatsächlich war Mannaß 68 Jahre alt. Der Zeitzeugin fiel auch ein, dass Hans Louis Mannaß seinen zuckerkranken Vater oft im Heim besuchte. Am 13. Juli 1943 beantragte Dr. Adolf Lipp bei der Reichsver­ 58  Inge

Heinel hatte bis 1935 in der Stadt Glauchau gelebt. Staatsarchiv Leipzig (SächsStAL), 20206/833.

59  Sächsisches

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Abb. 2: Eleanore Blaustein und Inge Heinel, Angestellte des Jüdischen Altersheimes, Chemnitzer Theaterplatz, 1941, Privatbesitz.

einigung der Juden dessen „Siechenheimunterbringung“. Am 4. August 1943 wurde dieser in die Siechenabteilung des Jüdischen Krankenhauses in Berlin überführt, wo er bereits am 4. September 1943 an Herzmuskelschwäche starb.60 Neben Josef Fischer war auch eine weitere „Person von auswärts“ in das Altersheim verlegt worden. Eleanor Krongold bezog sich dabei auf Lina Hille, die bis Ende 1941 in Glauchau ihren Wohnsitz hatte. Für den Heim­ platz hatte diese ein Einkaufsgeld in Höhe von 500 Mark bezahlen müssen.61 Sie beschrieb die „ältere Dame“ wie folgt: „Geschäftsfrau – litt entweder an Asthma oder einem Lungenemphysem. Beging Selbstmord im Heim, als sie

60  Mindestens noch ein Todesfall im Israelitischen Krankenhaus in Berlin war der prekären Fürsorgesituation in Chemnitz geschuldet. Die Verwandten des pflegebedürftigen Hans Frank hatten zunächst veranlasst, dass dieser in Berlin von der jüdischen Krankenschwester Gertha Sand (1893–?) gepflegt wurde. Ihr schwerkranker Pflegling wurde am 30. Dezember 1942 in das Israelitische Krankenhaus aufgenommen, wo er am selben Tage an einer offenen Lungentuberkulose und Herzschwäche starb. Seine sterblichen Überreste wurden auf den Jüdischen Friedhof in Chemnitz überführt und in der Grabstätte der Familien Frank und Sachs beigesetzt. 61  SächsStAL, 20206/941.



Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen337

von ihrem Abtransport erfuhr.“62 Tatsächlich hatten Mitbewohner die glaubenslose Witwe, die einst mit dem Judentum gebrochen hatte, am Morgen des 30. August 1942 tot in ihrem Zimmer aufgefunden. Unmittelbar zuvor hatte die aus dem Memelland stammende Frau den Deportationsbescheid nach Theresienstadt (Terezín) erhalten. Von auswärts waren auch Marie Rauch und Malwine Schuberth in das Altersheim gekommen, die zuvor in Zwönitz (Erzgebirge) bzw. Grüna (Kreis Chemnitz) lebten. Mit dem früheren Kultusbeamten Naftali Königshöfer, der mit seiner Ehefrau Esther am 9. Februar 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert werden sollte, war auch ein Plauener Jude in das Altersheim verlegt worden. Aufgrund seines angegriffenen Gesundheitszustandes war er als nicht transportfähig eingestuft worden. Daher hatten die NS-Behörden angeordnet, den damals 67-jährigen Rentner am 4. Februar 1943 in das Jüdische Siechenheim in Chemnitz zu überführen. Naftali Königshöfer erlag dort am 25. März 1943 seinen schweren Leiden. Eleanor Krongold konnte sich auch an die einst angesehene Schneidermeisterin Mera Schapira-Kartuson erinnern, die seit 1941 mit ihrem Ehemann Moses Kartuson in dem Heim wohnte. In ihrer früheren Schneiderei hatte sie vor allem elegante Damengarderobe angefertigt. Siegmund Rotstein, der von 1966 bis 2006 die Jüdische Gemeinde in Chemnitz geleitet hatte, teilte dem Verfasser im Januar 2019 mit, dass er sich noch immer an einen tragischen Vorfall bei der Deportation der letzten Heimbewohner in das Ghetto Theresienstadt erinnert.63 Der Transport vom 21. Juni 1943 verzögerte sich, weil die 58-jährige Mera Schapira-Kartuson aufgrund einer schweren Krebserkrankung schon seit Wochen bettlägerig war. Dennoch wurde sie, wie Rotstein bemerkte, auf einer Bahre in den bereitstehenden Eisenbahnwaggon transportiert. Noch vor der Abfahrt des Zuges starb die leidgeprüfte Frau. Als Sterbeort wurde von den NS-Behörden „an der Laderampe der Reichseisenbahn“ angeben. Eleanor Krongold hatte auch die Namen einiger Bewohner des zweiten Obergeschosses nicht vergessen. So sah sie ein älteres Ehepaar vor ihren Augen, die dort auf engstem Raum mit ihrer Tochter wohnte. Dabei handelte es sich um die Eheleute Martin und Margarethe Blaschke. Eine Krankenschwester hätte täglich Margarethe Blaschke, die am 28. April 1941 ihrem Leiden erlag, und deren 46-jährige Tochter Gertrud, die bettlägerig war, besucht. Gertrud Blaschke befand sich seit dem 1. März 1940 im Altersheim. Noch im Dezember 1939 war die Schwerkranke in das Israelitische Krankenhaus in Leipzig gebracht worden, um dort operiert zu werden. Die Operation 62  Auskunft 63  Auskunft

Eleanor Krongold, 17. und 26. Februar 2002. Siegmund Rotstein, 31. Januar 2019.

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fand mit Sicherheit auf einer früheren Station der Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen statt, wohin die Ärzte und Patienten des in einer Blitzaktion evakuierten Israelitischen Krankenhauses am 15. Dezember 1939 gebracht worden waren.64 Zu Bestreitung ihres Lebensunterhaltes bezog Gertrud Blaschke monatlich eine Rente in Höhe von 45 Mark, die von den Beschränkungen einer Sicherungsanordnung freigestellt worden war.65 Am 6. Oktober 1942 stellte sie bei der Devisenstelle den Antrag auf Verkauf von „1 Schrank und 1 Korbgarnitur, bestehend aus einem runden Tischchen und 2 Sesseln und 1 Wäschetruhe, im gesamten Verkaufspreis von ca. 100 Mark“. Sie benötigte den Erlös zur Bezahlung eines Zahnersatzes.66 Dem Antrag wurde eine Woche später entsprochen. Gertrud Blaschke befand sich später im Frauenzuchthaus Jauer (seit 28. April 1945 Jawor), das sie erst am 7. März 1946 verlassen konnte. Die Gründe für die Inhaftierung sind nicht überliefert. Ferner erinnerte sich Eleanor Krongold an eine „alte Frau“ mit „einer schwerer Demenzerkrankung“. Sie meinte damit die Witwe Golda Poms, die am 7. Januar 1941 im Heim verstarb. Schließlich erwähnte Eleanor Krongold auch den früheren Zwickauer Kapellmeister Erwin Pollini: „Herr Pollini im Alter von Mitte bis Ende 30. Von Beruf Musiker. War christlich erzogen. Fand durch zwanghafte Ahnenforschung heraus, dass er jüdischer Abstammung war.“67 Tatsächlich war er der Enkelsohn des bekannten Hamburger Opern- und Theaterdirektors Bernhard Pollini (eigentlich Baruch Pohl, 1838–1897). Aufgrund des Verschweigens seiner jüdischen Abstammung war Erwin Pollini vorübergehend in Zwickau in „Schutzhaft“ genommen worden. Ende September 1942 wurde er aus der dortigen Strafanstalt entlassen und zur Zwangsarbeit nach Chemnitz geschickt, um sich umgehend bei der Geheimen Staatspolizei zu melden. Mangels geeigneten Wohnraums wiesen die Polizeibehörden ihn in das Jüdische Altersheim ein. Das Altersheim war jedoch kein Heim, in dem die Bewohner ihren „Lebensabend“ in Ruhe und Zufriedenheit genießen konnten. Es war eher eine Zwischenanstalt auf dem Weg in den Tod. Bereits am 7. September 1942 wurden die meisten Frauen und Männer in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Zehn weitere Bewohner verstarben bis Juni 1943 in dem Heim und fanden ihre letzten Ruhestätten auf dem Jüdischen Friedhof in ChemnitzAltendorf. 64  Uwe Köhler, Zur Geschichte der Frauenklinik (Eitington-Krankenhaus) des Städtischen Klinikums „St. Georg“ Leipzig, in: Ärzteblatt Sachsen 5 (1999), S. 227– 228. 65  SächsStAL, 20206/913. 66  Ebd. 67  Auskunft Eleanor Krongold, 17. und 26. Februar 2002.



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Die verbliebenen Personen wurden am 21. Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert. Mit Ausnahme dreier Frauen – Helene Apteker, Klara Fleischmann und Rahel Sigler  – fanden alle Deportierten in Bełżyce bzw. There­sienstadt oder in den Vernichtungslagern Treblinka und Auschwitz den Tod. Auflösung des Heimes Das Heim war damit aufgelöst. Das Gebäude ging bereits am 3. Dezember 1942 in die Reichsfinanzverwaltung über.68 Schon im Februar 1942 hatte der Chemnitzer Stadtbaurat den Ankauf des Hausgrundstückes empfohlen, weil dieses bei einer Neugestaltung der Innenstadt „zur Errichtung öffentlicher Gebäude“69 benötigt würde. 1944 fiel das Grundstück an das Reichsbauamt in Chemnitz. Im Frühjahr 1945 wurde das Haus während der verheerenden Luftangriffe der Alliierten auf die Stadt weitgehend zerstört. Das Städtische Gartenamt begann am 29. November 1948 mit dem Abriss der verbliebenen Ruinen. Auf dem Gelände lagerten zuletzt bis zu sechs Kubikmeter Schutt und Erdmassen, die bis zum 3. Januar 1951 einplaniert wurden.70

Abb. 3: Chemnitzer Antonplatz, um 1968. Sammlung Jürgen Nitsche. 68  Vgl. dazu auch Der Kampf um das Haus der Verlorenen, in: Süddeutsche Zeitung, München, Nr. 48, 27. Februar 1997. 69  StAC, Rat der Stadt 1928–1945, Stadterweiterungsamt, Nr. 2323/2. 70  StAC, Historische Bauakten, Bauakte Antonplatz 15.

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Im Zuge der Umgestaltung der Innenstadt wurden seit Mitte der 1960erJahre erhalten gebliebene altstädtische Quartiere abgerissen. Neue Wohn- und Verwaltungsbauten wurden errichtet. Bis März 2016 war das Areal vorwiegend durch das frühere Kongress- und Veranstaltungszentrum FORUM bebaut. Falls die Fläche wieder einmal städtebaulich erschlossen wird, sollte mit einer Gedenktafel an einem der neuen Bauten auf die kurze Geschichte des Jüdischen Altersheimes hingewiesen werden. Zwei Stolpersteine in der Nähe eines über 80 Jahre alten Kastanienbaumes erinnern heute an Marie Doernberger (Leiterin) und Hermann Rosenthal (Bewohner), die in Auschwitz ermordet wurden. Ein weiterer Stolperstein wurde dort in Gedenken an den früheren Hausbesitzer Julius Sommerfeld in Anwesenheit von Verwandten verlegt. Er war ein „wohlhabender Kaufmann“, der für die Gemeinde und den Jüdischen Sportklub größere Geldsummen gespendet hätte, so Hans Kleinberg (1908–1966), der frühere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Sommerfeld, in dessen Haus sich einst das fast vergessene Jüdische Alters- und Siechenheim befand, sei „sehr beliebt und ein sehr guter Mensch“ gewesen.71 Literatur Der Israelit, 11. Juni 1931. Diamant, Adolf: Chronik der Juden in Chemnitz, heute Karl-Marx-Stadt, Frankfurt/ Main 1970 Dörschel, Max: Handbuch der öffentlichen Wohlfahrtspflege in Sachsen, Dresden 1938. Fuchs, Hugo: Geschichte der Juden in Chemnitz, in: Jüdisches Jahrbuch für Sachsen und Adressbuch der Gemeindebehörden, Organisationen und Vereine 1931/32, Berlin/Dresden 1931. Gruner, Wolf: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung. Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS-Staat (1933–1942), München 2002. Köhler, Uwe: Zur Geschichte der Frauenklinik (Eitington-Krankenhaus) des Städtischen Klinikums „St. Georg“ Leipzig, in: Ärzteblatt Sachsen, Dresden (5) 1999, S. 227–228. Maretzki, Louis: Geschichte des Ordens Bnei Briss in Deutschland 1882–1907, Berlin 1907. Meyer, Beate: Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden, in: Deutschland zwischen Hoffnung, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939– 1945), Göttingen 2011. 71  Archiv der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Bescheinigung von Hans Kleinberg, 12. Juni 1958.



Die Chemnitzer Juden und ihr Fürsorgewesen341

Mössinger, Ingrid (Hg.): Hans Günter Flieg. Dokumentarfotografie aus Brasilien (1940–1970) anlässlich der Ausstellung „Hans Günter Flieg. Dokumentarfoto­ grafie aus Brasilien (1940–1970)“ in den Kunstsammlungen Chemnitz vom 7. März bis 1. Juni 2008], Bielefeld, Leipzig 2008. Nitsche, Jürgen: Familie Weiner, in: Jürgen Nitsche, Ruth Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder. Mit einer Dokumentation des Jüdischen Friedhofes, Dresden 2002, S. 430–432. Nitsche, Jürgen: Vertreibung und Ermordung der Chemnitzer Juden. Jürgen Nitsche/ Ruth Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder. Mit einer Dokumentation des Jüdischen Friedhofes, Dresden 2002, S. 152–155. Nitsche, Jürgen: „Wahrheit, Gerechtigkeit, Wohltätigkeit, Friede“. Betstuben, Synagogen und Gemeindehäuser, in: Sebastian Liebold/Wolfgang Uhlmann (Hg.), Chemnitz. Streiflichter der Stadtgeschichte, Markkleeberg 2018, S. 50–53. Penßel, Renate: Jüdische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechtes. Von 1800 bis 1919, Köln, Weimar 2014. Rauch, Thilo: Die Ferienkoloniebewegung. Zur Geschichte der privaten Fürsorge im Kaiserreich 1992 Sächsisches Landesgesundheitsamt (Hg.), Einrichtungen auf dem Gebiete der Volksgesundheits- und Volkswohlfahrtspflege im Freistaat Sachsen, Dresden 1922. Simon, Georg: Familie Simon, in: Jürgen Nitsche/Ruth Röcher (Hg.), Juden in Chemnitz. Die Geschichte der Gemeinde und ihrer Mitglieder. Mit einer Dokumentation des Jüdischen Friedhofes, Dresden 2002, S. 424–427. Stadtarchiv Chemnitz (Hg.), Spurensuche. Jüdische Mitbürger in Chemnitz. Stätten ihres Lebens und Wirkens. Orte der Erinnerung, Chemnitz 2002. Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 1996. Weiße, Jan: Die „Kinderwaldstätte“ Glösa und die Chemnitzer Tuberkulosefürsorge, in: 100 Jahre Heilstätte Glösa. 15 Jahre Seniorenbetreuungszentrum, Chemnitz 2011. Wendelin, Adolf: Handbuch der Liebestätigkeit in Sachsen. Eine Darstellung der Liebestätigkeit der sieben Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, der sonstigen gemeinnützigen Vereine, Anstalten und Stiftungen sowie der geschlossenen Anstaltsfürsorge der öffentlichen Wohlfahrtspflege, Dresden 1927.

Die Ausbildung zur Krankenpflege in der Israelitischen Krankenversorgungsanstalt Breslau während des Nationalsozialismus Von Hagen Markwardt Einführung „Auf der Krankenstation in Cosel war die Atmosphäre gelöster und leichter als in der Stadt, vielleicht weil wir ‚auf dem guten Ort‘ saßen und Natur und Frieden um uns hatten.“1 So bewertete die „Halbjüdin“ Karla Wolff rückblickend ihre Situation, in der sie sich 1943 befand. Wolff gehörte zu den wenigen verbliebenen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde von Breslau, die nicht von den Deportationen 1941 bis 1943 betroffen waren oder denen es gelang, rechtzeitig das Deutsche Reich zu verlassen. Damit war die Breslauer jüdische Gemeinde, die sich seit dem 18. Jahrhundert zu einem der wichtigen Zentren des jüdischen Lebens im Deutschen Reich entwickelt hatte, fast vollständig ausgelöscht. Bis 1938 bestand in der schlesischen ­Metropole, nach Berlin und Frankfurt am Main, die drittgrößte jüdische Gemeinde im Deutschen Reich. Entsprechend der Größe gab es dort ein viel­ fältiges jüdisches Gemeindeleben, das auch prägend auf andere jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich wirkte.2 Die von Wolff erwähnte Kranken­ station in Breslau-Cosel war der letzte Rest des Jüdischen Krankenhauses in Breslau, das zu diesem Zeitpunkt auf eine über 200-jährige Geschichte zurückblickte. Nach den Deportationen musste sie in die Gebäude des jüdischen Friedhofes in Cosel, im Süden der niederschlesischen Hauptstadt, umziehen. Karla Wolff arbeitete dort als ungelernte Pflegerin. Seit 1933 wurden Juden im Zuge der selektiv-rassistischen Wohlfahrts­ politik des Nationalsozialismus in immer stärkerem Maße aus den bestehenden Fürsorgesystemen herausgedrängt und soziale jüdisch-konfessionelle Einrichtungen wie Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime zu den wenigen

1  Karla Wolff, Ich blieb zurück. Erinnerungen an Breslau und Israel, Berlin 2012, S. 86. 2  Vgl. Katharina Friedla, Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen, Köln/Weimar/Wien 2015.

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Orten der Existenzsicherung und Selbstbehauptung.3 Verschärft wurde die Situation von demographischen Verschiebungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich. Die schon längere Zeit feststellbare und beklagte „Vergreisung“ der Gemeinden erfuhr mit der ab 1933 einsetzenden Emigration, vor allem von Jüngeren, eine deutliche Beschleunigung, was wiederum den Bedarf an Betreuungseinrichtungen ansteigen ließ, da parallel dazu innerfamiliäre Betreuungsmöglichkeiten ausfielen.4 Vor diesem Hintergrund will der Beitrag einen kleinen Ausschnitt der jüdischen Lebenswelt im Nationalsozialismus, das Krankenpflegepersonal im Israelitischen Krankenhaus in Breslau untersuchen. Wie wurde auf die forcierte Exklusionspolitik des Nationalsozialismus reagiert und wie dadurch die jüdische Identität des Krankenhauses und des dort arbeitenden Pflegepersonals beeinflusst? Es geht dabei weniger um den pflegerischen Alltag, sondern welche Motive die Akteure zu einer pflegerischen Betätigung bewogen und wie das Krankenhaus als Ort der jüdischen Selbstbehauptung so lange wie möglich erhalten wurde. Nach einem kurzen Abriss der Entwicklung der jüdischen Krankenpflege bis zum Ersten Weltkrieg soll zunächst das Verhältnis von Judentum und Krankenpflege im Breslauer Jüdischen Krankenhaus während der kurzen Phase der völligen rechtlichen Gleichstellung der Juden während der Weimarer Republik in den Blick genommen werden. Damit wird es möglich, die ab 1933 einsetzenden Veränderungen, die im dritten Teil herausgearbeitet werden, hinsichtlich ihrer Bedingtheit durch äußere Umstände einzuordnen und zu bewerten. Bei der Darstellung kann insbesondere auf die Forschungen von Andreas Reinke aufgebaut werden, der die Geschichte der Israelitischen Krankenverpflegungsanstalt (IKVA) in Breslau bereits umfassend untersucht und dabei deren über 200-jährige Entwicklung in die deutsch-jüdische Geschichte eingebettet hat.5 Daneben ist die Arbeit von Hilde Steppe zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland, besonders am Beispiel Frankfurt am Mains, wichtige Grundlage für die Untersuchung gewesen.6 Als besonders wertvoll erwiesen sich Unterlagen der Breslauer Jüdischen Gemeinde, die nach der Auflösung der Jüdischen Gemeinde 1943 von den National­ sozialisten vergessen wurden und heute im Jüdischen Historischen Institut in 3  Vgl. Beate Meyer, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939– 1945), Göttingen 2011, S. 108. 4  Vgl. ebd. und auch den Beitrag von Jürgen Nitsche in diesem Band. 5  Andreas Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Das jüdische Krankenhaus in Breslau 1726–1944, Hannover 1999. 6  Hilde Steppe, „… den Kranken zum Troste und dem Judenthum zur Ehre …“. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland. Frankfurt/Main 1997.



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Warschau aufbewahrt werden.7 Darunter befinden sich auch zahlreiche Personalakten von Schwestern, Lehrschwestern und -pflegern, von denen 128 für die Zeit ab 1924 ausgewertet werden konnten. Zwar geben sie über das unmittelbare pflegerische Handeln kaum Auskunft, enthalten aber im Regelfall Lebensläufe und Anschreiben, in denen die Motivationen für die Berufswahl angeben wurden. In ihnen spiegeln sich die von den Bewerbenden antizipierten Erwartungen an sie, ebenso wie die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Bedingungen ihrer künftigen Arbeit. Die Entwicklung der jüdischen Krankenpflege in Breslau bis zum Ersten Weltkrieg Obwohl Juden 1726 das Recht zu dauerhaften Ansiedlung in Breslau erhielten, blieben sie in der Stadtgesellschaft weiterhin eine marginalisierte Minderheit. Besonders deutlich drückte sich dies in der fehlenden Integration in die Systeme der sozialen Fürsorge aus. Wichtige Bereiche wie die Pflege von „Siechen“ und Kranken oder die Unterstützung von Armen mussten durch die jüdischen Gemeindemitglieder selbst organisiert werden, da die städtischen Behörden bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einen gleichberechtigten Zugang zu sozialen Leistungen und Diensten gegenüber Juden ablehnten oder erschwerten.8 Die religiösen Gebote der Ẓedaka und Gemilut Chessed hielten Juden zur Wohltätigkeit an. Dies konnte in einfacher Form durch die Gabe von Almosen geschehen, verdienstvoller war jedoch die praktische Wohltätigkeit, etwa durch die Übernahme der Pflege von Erkrankten.9 Eng verbunden mit der Modernisierung und Expansion des Gesundheitswesens als sozialpolitischem Handlungsfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die fortschreitende Professionalisierung der Krankenpflege. Dominierend waren dabei im Deutschen Reich zunächst konfessionell gebundene Organisationsformen katholischer Orden sowie evangelischer Mutter7  Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Friedla, Juden in Breslau/Wrocław 1933– 1949, S. 27. Die Akten sind mittlerweile digitalisiert und unter https://cbj.jhi.pl/ recherchierbar. 8  Vgl. Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 136 f. 9  Zur Ẓedaka vgl. Alyssa M. Gray, Ẓedaka, in: Dan Diner (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 6, Stuttgart, Weimar 2015, S. 503–507. Zu den religiösen Grundlagen der jüdischen Sozialethik vgl. Verena Hennings, Religiöse Grundlagen jüdischer Wohltätigkeit. Bedeutung von Religion und Tradition in Zeiten der Modernisierung – Jüdische Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 2 (2008), S. 1–15, S. 3–6.

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häuser.10 1884 stieß der im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund engagierte Posener Kaufmann Paul Jolowicz eine Debatte über die Notwendigkeit einer spezifisch jüdischen Krankenpflege an.11 Er forderte, „allein­stehenden und anständigen Frauen und unversorgten Mädchen“ in „Stifts­ häusern“ eine Möglichkeit zum Erlernen und Ausüben der Krankenpflege zu schaffen.12 Seine Motive speisten sich aus dem Wunsch nach Assimilation des Judentums im Deutschen Reich, der aus seiner Sicht bestehenden Notwendigkeit, auch Erwerbsmöglichkeiten für jüdische Frauen zu schaffen sowie dem Bedarf einer konfessionellen Krankenpflege, besonders in länd­lichen jüdischen Gemeinden.13 Ablehnende Stimmen argumentierten häufig mit Geschlechterstereotypen, die Frauen als körperlich zu schwach für die Krankenpflege einschätzten oder weibliche Erwerbsarbeit generell ablehnten. Es gab auch Bedenken, die eine berufliche Krankenpflege als unvereinbar mit jüdischen Religionsbestimmungen hielten.14 Dass diese Einwände sich im Ergebnis nicht durchsetzen konnten, lag auch darin begründet, dass die Befürworter einer (weiblich-)jüdischen Krankenpflege selbst an den klassischen Geschlechterrollen festhielten und die Pflege als eine spezifisch weibliche Arbeit auffassten. So wurde in der orthodox ausgerichteten Zeitschrift „Der Israelit“ die Aufnahme der Ausbildung von Krankenpflegerinnen durch die Großloge für Deutschland des Unabhängigen Orden Bne Briss (U. O. B. B.) damit begründet, „dass kein Beruf ein Mädchen besser für die Ehe vorbereitet, als der unsrige“.15 Die reichsweit geführten Diskussionen zur Schaffung einer jüdisch-konfessionellen Krankenpflege ließen auch die Breslauer Gemeinde nicht unberührt. 1893 griff die Breslauerin Hulda Koch unter dem Pseudonym Hulda Bergel im Artikel „Was uns dringend noth thut“ die Frage der fehlenden jüdischen Krankenpflege auf. Sie kritisierte vor allem – nach eigener Anschauung – die unzureichende Qualität der Krankenpflege im Breslauer israelitischen Krankenhaus. Nach ihrer Einschätzung wurde dort „die Krankenpflege durch Wärterinnen besorgt, welche von dem […] Ideal einer Krankenpflegerin etwa so weit entfernt sind, wie ein Handwerker von einem fein fühlenden, 10  Vgl. dazu Christoph Schweikardt, Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2008. 11  Vgl. Paul Jolowicz, Die Krankenpflege im Judentum, in: Israelitische Wochenschrift für die religiösen und socialen Interessen des Judenthums 15 (1884), Nr. 1, S. 1–2 und ebd. 15 (1884), Nr. 2, S. 10–11. 12  Jolowicz, Die Krankenpflege im Judentum, S. 10. 13  Vgl. ebd. Vgl. außerdem Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege, S. 132. 14  Vgl. Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege, S. 134. 15  O. A., Jüdische Krankenpflegerinnen, in: Der Israelit 41 (1900), Nr. 80/81, S. 1647–1649.



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ausgebildeten Künstler, welche ihren Beruf zwar nach dem Verhältnis ihrer Bildung ganz ehrlich erfüllen, deren innerer Antheil an der Sache jedoch bei jedem einzelnen Kranken erst wächst in Erwartung des zu erhoffenden Trinkgeldes oder anderer Geschenke.“16 Sie erhoffte sich von der Übernahme des Mutterhaussystems vor allem eine bessere Qualifizierung des Pflegepersonals. Zwar hatte das Israelitische Krankenhaus in Breslau bereits in Reaktion auf Jolowicz’ Forderungen 1885 mit der praktischen Ausbildung der Wärterpersonals begonnen, offenbar jedoch nicht in einer adäquaten Form. Zu einer Systematisierung der Krankenpflegeausbildung in Breslau kam es 1899 mit der Gründung des Jüdischen Schwesternheims. Ziel des Vereins war die unentgeltliche Ausbildung „von weiblichen Personen des jüdischen Glaubens, die sich der Krankenpflege widmen wollen“.17 Die Organisation war angelehnt am Mutterhaussystem diakonischer Einrichtungen, aber nicht identisch mit diesem. Es wurden Frauen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ausgebildet, die unverheiratet oder von ihren Ehemännern verlassen worden waren. Nach absolvierter Prüfung galten sie als Vereinsschwestern, erhielten ein Jahresgehalt, freie medizinische Behandlung sowie nach zehn Jahren einen Anspruch auf lebenslange Versorgung durch den Verein im Falle der Arbeitsunfähigkeit. Die Betreuung der Kranken sollte unabhängig von deren Konfession erfolgen. Innerhalb eines Jahres hatte der Verein bereits über 850 fördernde Mitglieder und war damit rasch der zweitgrößte jüdische Verein in Breslau geworden.18 1905 gehörte der Breslauer Verein zu den zehn Gründungsmitgliedern des Deutschen Verbandes Jüdischer Krankenpflegerinnenvereine (DVJK), der die Ausbildung, Arbeit und soziale Absicherung der ihnen zugehörigen Schwestern koordinierte. Zwar strebte der Verband eine weitgehende Vereinheitlichung der einzelnen jüdischen Krankenpflegerinnenvereine an, verfügte aber über kein Weisungsrecht gegenüber seinen Mitgliedern, so dass diese sich vergleichsweise autonom entwickeln konnten. 1913 beschloss der DVJK die Einführung einer einheitlichen Schwesterntracht und machte somit die Zugehörigkeit der Schwestern zur jüdischen Glaubensgemeinschaft äußerlich kenntlich. Gleichzeitig unterstrich er damit nach außen hin seinen Anspruch als eigenständigen konfessionellen Akteur der Krankenpflege gegenüber nichtjüdischen Organisationen.19 16  Hulda Bergel [eigentlich Hulda Koch], Was uns dringend noth thut, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 57 (1893), Nr. 7, S. 78–81, S. 79. 17  Jüdisches Schwesternheim zu Breslau, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 64 (1900), S. 1. 18  Vgl. Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 178 f. 19  Vgl. Gustav Feldmann, Der DVJK ist Vergangenheit und Zukunft, in: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glau-

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Mangels einer eigenen baulichen Einrichtung fand die Ausbildung des Breslauer Schwesternheims zunächst noch durch den Verein für jüdische Krankenpflegerinnen in Berlin statt. Erst 1903 konnte durch eine Stiftung des Breslauer Kaufmanns Julius Schottländer unmittelbar neben dem neuerrichteten Israelitischen Krankenhaus in Breslau ein Schwesternheim eröffnet werden.20 Eigentlicher Ort der Ausbildung wurde schließlich das Krankenhaus der IKVA in Breslau, das 1908 die staatliche Anerkennung als Krankenpflegeschule erhalten hatte. Es ermöglichte somit den dort ausgebildeten Schwestern, das 1907 im Königreich Preußen eingeführte staatliche Krankenpflegeexamen abzulegen.21 Beide Einrichtungen, Schwesternheim wie IKVA, waren zwar eng miteinander verbunden, jedoch handelte es sich um getrennte Institutionen. Besonders deutlich wird dies durch die Ausbildung weiterer Schwestern am Israelitischen Krankenhaus in Breslau. Neben dem jüdischen Schwesternheim ließ der U. O. B. B. jährlich etwa drei Schwestern dort ausbilden, und auch das Kuratorium für jüdische Krankenpflegerinnen in Beuthen entsandte Bewerberinnen zu Ausbildung nach Breslau.22 Gleichzeitig war nur ein Teil der Schwestern des Schwesternheims im Krankenhaus tätig, andere dienten, ähnlich wie bei den Diakonissen, in der häuslichen Armenkrankenpflege oder dem Krankenhaus angeschlossenen Alters- und Siechenheim.23 Krankenpflege zwischen Judentum und Säkularisation während der Weimarer Republik Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 brachte der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich erstmals eine umfassende rechtliche Gleichstelbens 26 (1920), Nr. 10, S. 313–317, S. 313 f.; Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege, S. 116–125. Dort auch eine Übersicht zu den anderen jüdischen Schwesternschaften insbesondere den Logenschwestern des U. O. B. B. 20  Vgl. Zu den Stiftungen der Schottländer-Familie vgl. Mirosława Lenarcik, A Community in Transition. Jewish Welfare in Breslau–Wrocław, Opladen, Farmington Hills 2010, S. 120–124. 21  Vgl. Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 221. Zur kritischen Einschätzung des staatlichen Krankenpflegeexamens in Preußen vgl. Schweikardt, Die Entwicklung der Krankenpflege, S. 288 f. 22  Vgl. Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege, S. 99 und S. 108. Offenbar gab es sogar Bestrebungen des U. O. B. B., das Israelitische Krankenhaus in Breslau als Mutterhaus der dort ausgebildeten Schwestern zu etablieren, was das Krankenhaus ablehnte. Vgl. Sitzung der Hospitalärzte, 6. Juni 1910, Archiwum Żydowski Instytut Historyczny (AŻIH), 105/617, Bl. 6 f. 23  Der DVJK betonte den Arbeitsbereich der häuslichen Krankenpflege, besonders an Armen, als zentrales Aufgabenfeld der jüdischen Krankenpflege. Vgl. Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege S. 120.



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lung.24 Dadurch eröffneten sich Möglichkeiten der Partizipation und Integration von Juden in der deutschen Gesellschaft, die gleichzeitig aber auch eine Loslösung von der jüdischen Identität beschleunigen konnten. Dieser Wandel, der bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte, vollzog sich nicht einheitlich, sondern es entstanden zahlreiche Formen des jüdischen Selbstverständnisses, bedingt von verschiedenen Prägungen des jeweiligen sozialen, religiösen und kulturellen Milieus.25 Diese Entwicklung spiegelt sich in der mikrohistorischen Perspektive auch im Bereich des Breslauer jüdischen Gesundheitswesens wider, dessen spezifisch jüdische Identität im Verlauf der Weimarer Republik mehrfach Gegenstand von Debatten zwischen Vertreter des orthodox-konservativen und des liberalen Judentums wurde. Sie kreisten letztlich um die Frage, wie überkonfessionelle Wohlfahrtsleistungen durch konfessionell gebundene Akteure ermöglicht werden konnten, ohne dass es dadurch zu einer Marginalisierung der spezifisch jüdischen Konfessionalität dieser Einrichtungen kam. Das Krankenhaus der IKVA wurde im Verlauf der 1920er zu einer wichtigen Kontaktzone von Juden und Nicht-Juden in Breslau. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die Aufnahme und Behandlung im Israelitischen Krankenhaus nicht an die Religion gebunden. Der Anteil von nichtjüdischen Pa­ tienten stieg stetig und war spätestens seit 1925 bedeutend höher als der von Juden. Besonders im Umfeld des 200-jährigen Bestehens der Israelitischen Kranken-Verpflegungs-Anstalt und Beerdigungsgesellschaft in Breslau wurde dieser Aspekt hervorgehoben. Der mit dem Verfassen der Festschrift beauftragte Rabbiner Louis Lewin betonte das „von Gott gesegnete […] Wirken […] innerhalb und außerhalb der israelitischen Glaubensgemeinschaft“.26 Der Regierungspräsident von Breslau, Wolfgang Jaenicke, beklagte in seiner Festrede, dass das deutsche Volk „den Rassen- und Klassenkampf noch nicht überwunden hat“ und unterstrich die „liebevolle Fürsorge […] die […] im Krankenhaus allen Patienten ohne Unterschied der Religion zuteil wird“27 als einen Beitrag zur Überwindung dieser Konflikte. Das sozial-caritative Wirken des jüdischen Krankenhauses diente somit auch zur Legitimation der fortschreitenden Integration des Judentums in die deutsche Gesellschaft. 24  Gleichwohl wurden Juden in ihrem Alltag weiterhin von Teilen der deutschen Gesellschaft stigmatisiert und waren im Verlauf der 1920er Jahren zunehmend antisemitischen Bedrohungen, insbesondere durch den Aufstieg des Nationalsozialismus, ausgesetzt. 25  Vgl. Friedla, Juden in Breslau/Wrocław 1933–1949, S. 90. 26  Louis Lewin, Geschichte der Israelitischen Kranken-Verpflegungs-Anstalt und Beerdigungsgesellschaft zu Breslau, 1726–1926, Breslau 1926, S. 6. 27  O. A., 200-jähriges Jubiläum der Israelitischen Kranken-Verpflegungs-Anstalt und Beerdigungsgesellschaft zu Breslau, in: Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt (BJG) 2 (1926), Nr. 8, S. 109–112, S. 110.

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Gleichzeitig bewahrte sich das Krankenhaus einen spezifisch konfessionellen Charakter und ermöglichte den jüdischen Patienten, dass neben der ­medizinischen Behandlung auch deren religiöse und rituelle Bedürfnisse berücksichtigt wurden.28 Die Einhaltung dieser Vorschriften wurde von den Mitgliedern der IKVA durchaus kritisch überwacht. So fand auf der Generalversammlung des IKVA 1921 eine längere Aussprache über mögliche Missstände bei der Einhaltung des Sabbats sowie der Beachtung der rituellen Speisevorschriften im Krankenhaus statt. Zwar konnten Vorwürfe, die konservative Mitglieder erhoben, ausgeräumt werden. Es wurde aber deutlich, dass die Überwachung der koscheren Speisen nicht durch das Krankenhaus selbst, sondern nur durch die Gemeinderabbiner erfolgen könne. Der Rabbiner des orthodoxen Teiles der Breslauer Gemeinde, Moses Hoffmann, betonte in Übereinstimmung mit seinem liberalen Kollegen Hermann Vogelstein: „Das Rabbinat strebe nicht nach Erweiterung seines Wirkungskreises, könne aber nicht umhin zu erklären, daß ein jüdisches Krankenhaus seinen Wert verliere, wenn ein Teil der Glaubensgenossen zur rituellen Wirtschaftsführung nicht das nötige Vertrauen habe.“29 Der nominell bestehenden organisatorischen Selbstständigkeit des israelitischen Krankenhauses waren demnach deutliche Grenzen gesetzt, und es unterstand in Fragen seines spezifisch jüdisch-konfessionellen Charakters der direkten Kontrolle durch die Breslauer Synagogengemeinde und den Gemeinderabbinern. Neben der rituellen Betreuung der jüdischen Patienten war auch die Personalauswahl des Israelitischen Krankenhauses von Bedeutung. Bereits 1913 kam es zu Diskussionen innerhalb des Vorstandes der IKVA, wie mit Bewerbungen von nichtjüdischen Ärzten umzugehen sei. Während Teile des Vorstandes diese nicht prinzipiell ausschließen wollten, bestanden andere Mitglieder auf die Fortsetzung der bisherigen Praxis, ausschließlich jüdische Ärzte im Krankenhaus zu beschäftigen, da es sonst seinen jüdisch-konfessionellen Charakter verlieren würde. Im Bericht des Jüdischen Volksblattes wurde dabei auch auf die Ausgrenzungserfahrungen jüdischer Ärzte in der deutschen Gesellschaft verwiesen, die „von der Beschäftigung selbst an solchen Krankenhäusern ausgeschlossen wurden, welchen keinen konfessionellen Charakter tragen, vielmehr aus Mitteln erhalten werden, zu welchen auch jüdische Steuerzahler beitragspflichtig sind.“30 Die Zeitung unterstrich damit den Charakter des Krankenhauses als eine Einrichtung, die als Schutzraum des Judentums in einer Gesellschaft diente, die ihm eine Gleichstellung vorenthielt. 28  Vgl.

Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 230. nach: Generalversammlung der Isr. Krankenverpflegungsanstalt und Beerdigungsgesellschaft zu Breslau, in: Jüdische Volkszeitung 27 (1921), Nr. 21, S. 2–3, S. 3. 30  O. A., Krankenpflege, in: Jüdisches Volksblatt 19 (1913), Nr. 4, S. 41. 29  Zitiert



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Auch mit der 1919 erfolgten rechtlichen Gleichstellung blieb das spezifisch jüdische der konfessionellen Arbeit ein Debattenthema. Der Mitbegründer des Vereins „Jüdisches Schwesternheim Stuttgart“, der Arzt Gustav Feldmann, zog 1920 eine kritische Bilanz der bisherigen Arbeit des Deutschen Verbandes Jüdischer Krankenpflegerinnen. Nachdem er dessen verschiedenen Arbeitsfelder dargestellt hatte, resümierte er: „Nur eines hatte der Verband ängstlich vermieden: Die Betonung des Jüdischen.“31 Er unterstellte dem DVJK, dass dieser bei einer Festlegung in religiösen Fragen eine Spaltung der Schwesternschaften entlang der Linie des konservativ-orthodoxen und liberalen Judentums befürchten würde. Aus seiner Sicht verleugneten die Vertreter des DVJK mitunter ihre jüdisch-konfessionelle Ausrichtung: „Bei der letzten Delegiertenversammlung des DVJK erklärten einige, und zwar sehr erfahrene Vertreter, unsere Vereine seien überhaupt nicht religiös, sondern gemeinnützig, charitativ, sozial, höchstens noch konfessionell.“32 Diese Zurückhaltung stellte für Feldmann aus zwei Gründen eine existenzielle Bedrohung für die jüdische Krankenpflege dar. Zum einen erlebten die Aus­ bildungsstätten einen spürbaren Nachwuchsmangel. Laut Feldmann trat die Krankenpflege zunehmend in Konkurrenz mit anderen weiblichen Erwerbsberufen. Durch das Fehlen der religiösen Fundierung der jüdischen Schwesternschaften wäre die Motivation bei der Berufsentscheidung der Mädchen und Frauen auf materielle Abwägungen zurückgeworfen, und unter diesem Aspekt sei die jüdische Krankenpflege aufgrund des geringen Lohnes nicht konkurrenzfähig. Zum anderen wäre es gerade hinsichtlich der Wahrnehmung des Judentums im Deutschen Reich unerlässlich, die „aufopferungsvolle“ Arbeit der Schwestern als einen spezifisch jüdischen Beitrag zur Wohlfahrt zu unterstreichen, als „weithin sichtbares Werk jüdischer Nächstenliebe“.33 Feldmann betrachtete dabei die christlich-konfessionellen Schwesternschaften ausdrücklich als Vorbild für die sozial-caritative Arbeit auf einer religiösnormativen Basis.34 Tatsächlich scheint für das Beispiel Breslau die jüdische Religiosität bei der Entscheidung sowohl für Ausbildung zur Krankenpflegerin als auch zur Annahme als Bewerberin am Schwesternheim und der IKVA eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Nur bei sechs der 72 überlieferten PersonalDer D. V. J. K. ist Vergangenheit und Zukunft, S. 314. S. 315. 33  Ebd., S. 316. 34  Feldmann übersah oder ignorierte dabei, dass auch christliche Schwesternschaften zunehmend Nachwuchssorgen hatten. Vgl. beispielsweise Entwicklungen im Diakonissenhaus Borsdorf bei Leipzig: Bettina Westfeld, Teil 1 Vielfältige Geschichte. Die Geschichte der Diakonie Leipzig, in: Diakonie Leipzig (Hg.), 150 Jahre unsere Mission: Vielfalt für das Leben. 1869–2019 Von der Inneren Mission zur Diakonie Leipzig, Leipzig 2019, S. 52 f. 31  Feldmann, 32  Ebd.,

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akten von Schwestern und Lehrschwestern, die bis Ende 1932 im israelitischen Krankenhaus Aufnahme fanden, lässt sich eine jüdisch-religiöse Motivation plausibel machen.35 Und selbst bei diesen fand die Erwähnung des „Jüdischen“ nur beiläufig statt und diente eher als Ergänzung zur eigentlichen Motivation. So schrieb Rose Goldberg 1924 am Ende ihres Lebenslaufes: „[…] das ist mein Leben bis jetzt. Mein künftiges möchte ich damit verbringen, anderen zu helfen. Üben Sie daher bitte auch an mir Zedekah und nehmen sie mich bitte sobald wie möglich in ihr Haus der Gesundung.“36 Während für sie der caritative Anspruch des selbstlosen Dienens im Vordergrund stand, betonte Anneliese Goldstein in ihrem Lebenslauf das Interesse am beruflichen Aufstieg: „Ich will die Krankenpflege größtenteils nur zur Ergänzung der Säuglingspflege erlernen, um eine bessere Position als Säuglingsschwester zu haben.“37 Ergänzend fügte sie hinzu: „Ich habe mich an Ihr Haus gewandt, um in einem jüdischem Hause zu sein.“38 Welche konkrete Bedeutung die Religion für sie hatte, bleibt diffus. Konkreter wurde Luise Stern, die zuvor bereits an mehreren nichtjüdischen Krankenhäusern als Schwester gearbeitet hatte. Sie bewog die Erfahrung der Ausgrenzung wegen ihrer „jüdischen Abstammung“ in Wernigerode 1930 dazu, um eine Anstellung am jüdischen Krankenhaus in Breslau nachzusuchen: „In den letzten Jahren hatte ich viel bei Vorgesetzten und Mitschwestern unter dem sich immer mehr steigerndem Antisemitismus zu leiden, sodaß ich es nun unbedingt vorziehe, mit und unter Gleichgesinnten zu arbeiten.“39 Mit Gleichgesinnten meinte Lusie Stern jedoch nicht Glaubensgenossen, sondern Menschen, die aufgrund ihrer jüdischen Abstammung von der übrigen Gesellschaft rassistisch als „jüdisch“ definiert wurden. Sie teilte daher dem israelitischen Krankenhaus mit: „Ich bin rein israelitischer Abstammung, jedoch, wie meine verstorbene Mutter, ohne Religion. In den Bräuchen und Riten bin ich bewandert, da ich fast nur mit jüdischen Familien verkehre.“40 25 der 72 Bewerberinnen um Ausbildung oder Anstellung bei der IKVA gaben eine allgemeine caritative Motivation an, ohne diese in den meisten Fällen näher auszuführen.41 Bei 12 Frauen dominierten wirtschaftliche Inter35  In den dafür ausgewerteten Personalakten im AŻIH wurden in den meisten Fällen ein Anschreiben sowie ein Lebenslauf aufbewahrt. Eine förmliche Erklärung zur Religionsangehörigkeit fand sich nicht. 36  Lebenslauf Rose Goldberg, 31. Juli 1924, AŻIH 105/669a, Bl. 4. 37  Schreiben Anneliese Goldstein an IKVA, 15.  August 1928, AŻIH 105/680a, Bl. 5. 38  Ebd. 39  Schreiben Luise Stern an IKVA, 25. Februar 1930, AŻIH 105/686d, Bl. 20. 40  Schreiben Luise Stern an IKVA, 4. März 1930, AŻIH 105/686d, Bl. 23. 41  Bspw. Lebenslauf Anne Kaspar, 15. September 1928: „Da ich große Lust zur Krankenpflege hatte, […].“ AŻIH 105/680b, Bl. 3.



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essen. Bei ihnen spiegeln sich auch die ökonomischen Verwerfungen wider, denen die Weimarer Republik ausgesetzt war. Dabei ging die Initiative zur Bewerbung teilweise nicht von den Frauen selber aus, sondern die Eltern bemühten sich um einen „ehrenvollen“ Beruf für ihre Töchter. So erkundigte sich der Vater von Lucie Reppen über die Bedingungen zur Aufnahme seiner Tochter als Lehrschwester: „Ich bin Händler und Vater von 9 Kindern, wovon noch keins versorgt ist, es wäre mir sehr lieb, meine Töchter in einem ehrenvollen Beruf zu wissen.“42 Lucie Reppen ergänzte dazu in ihrem Lebenslauf: „Da das Geschäft [des Vaters, d. Verf.] seid [sic] der Inflationszeit nicht mehr rentabel ist, habe ich mich entschlossen, eine Stelle als Lehrschwester aufzunehmen.“43 Selma Neumann, die sich 1930 um eine Stelle als Lehrschwester bewarb, führte aus: „Da ich jedoch in diesen Geschäftszweige [Verkäuferin im Einzelhandel, d. Verf.] mein Fortkommen nicht finde, weil er sehr überfüllt ist, habe ich mich entschlossen, den Beruf als Krankenschwester zu ergreifen.“44 Dass die konfessionelle Ausrichtung von Schwesternheim und jüdischem Krankenhaus nur eine untergeordnete Rolle spielte, zeigt sich auch daran, dass ebenso viele Bewerberinnen – sechs – angaben, eine Tätigkeit in Breslau zu suchen, die es ihnen ermöglichte, in der Nähe ihre Familie zu arbeiten. In immerhin 23 Fällen fanden sich in den überlieferten Akten keine Angaben über die Motivation, in einem Pflege­ beruf zu arbeiten. Die in den Bewerbungsschreiben und Lebensläufen formulierten Motive spiegeln nicht zwangsläufig die tatsächlichen Interessen der Verfasserinnen wider. Unterstellt man ihnen aber ein ernsthaftes Bemühen um eine Anstellung, geben sie Auskunft über die Wahrnehmung des jüdischen Krankenhauses Breslau als einen spezifisch konfessionell-jüdischen Ort. Diese war in der Zeit vor 1933, angesichts der eher seltenen Formulierung einer religiösen Motivation zur Mitarbeit, offenbar bei den Bewerberinnen nur sehr gering ausgeprägt. Während für die Aufnahme in das Schwesternheim die Zugehörigkeit zur jüdischen Konfession eine obligatorische Aufnahmebedingung war, auch wenn dies häufig bei den Bewerberinnen nicht eigens als Motivation angegeben wurde, bestand das Israelitische Krankenhaus nicht darauf. Im Gegenteil sprach es bei der Personalsuche gezielt auch nicht-jüdische Schwestern an. Auf eine Nachfrage der vom Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens herausgegebenen CV-Zeitung, ob die IKVA eine Anzeige in ihrem Blatt schalten wolle, wurde mitgeteilt: „Wir haben das Inserat für chirurgische Schwestern neben dem Breslauer Neuesten Nachrichten und der Zeit42  Schreiben

E. Reppen an IKVA, 16. Mai 1924, AŻIH 105/670d, Bl. 3. Lucie Reppen, 7. Juli 1924, ebd., Bl. 13 f. 44  Lebenslauf Selma Neumann, 30. September 1930, AŻIH 105/689e, Bl. 29. 43  Lebenslauf

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schrift Daheim bereits im Israelitischen Familienblatt Hamburg aufgegeben und hat ein Inserieren in weiteren jüdischen Zeitungen keinen Zweck, da ohnehin sehr wenige Meldungen von jüdischen Schwestern eingehen.“45 Entsprechend gab es auch mehrere Schwestern katholischen oder evangelischen Glaubens in den Reihen des Breslauer jüdischen Krankenhauses.46 Mitunter führte das Verhältnis zwischen diesen Gruppen zu Spannungen. So bat die katholische Schwester Martha Gellert, die sich 1926 auf eine Annonce in den Breslauer Neuesten Nachrichten hin bewarb, um eine Erhöhung ihres Gehaltes, nachdem sie festgestellt hatte, das eine jüdische Mitschwester, an deren Ausbildung sie teilweise selber noch mitgewirkt hatte, bereits einen höheren Lohn bekam als sie selber und von der Saal- zur Stationsschwester aufgerückt war. Als Begründung gab die IKVA an, dass Gellert nicht Stationsschwester sein könne, da sie in dieser Position auch die Einhaltung der rituellen Speisevorschriften überwachen müsse, und daher diese Stellen „möglichst mit jüdischen Schwestern besetzt werden sollen.“47 In der Diskussion des Vorstandes der IKVA über die Forderung Gellerts wurde jedoch nicht die Befähigung zur Überwachung der Kaschrut durch christliche Schwestern bezweifelt, sondern darauf verwiesen, dass man bereits einen Beschluss gefasst hatte, „da man auch Rücksicht auf die Außenstehenden zu nehmen habe.“48 Während intern vor allem die Professionalität das entscheidende Kriterium für die krankenpflegerische Arbeit war, nahm die Leitung der IKVA Rücksicht auf innerjüdische Akzeptanz, vertreten durch die Breslauer Synagogen-Gemeinde, die sich bei der Befolgung der rituellen Vorschriften sich eine Mitsprache gesichert hatte. Wie kritisch dieses Verhältnis war, zeigte sich wenige Monate später, als sich die leitenden Ärzte des Krankenhauses Vorwürfen ausgesetzt sahen, lediglich „laue Namensjuden“ zu sein, denen jede tiefergehende religiöse Überzeugung abgehe.49 Das Krankenpflegepersonal des jüdischen Krankenhauses Breslau während des Nationalsozialismus Während in den wenigen Jahren der Weimarer Republik die jüdische Identität des Israelitischen Krankenhauses und der IKVA in Breslau weitgehend 45  Schreiben

CV-Zeitung an IKVA 14. Juni 1930, AŻIH 105/656, Bl. 173 f. von jüdischen Schwestern wurde 1926 noch ein Vorrang eingeräumt. Vgl. Notiz zur Bewerbung von Margarete Granel, 18.  April 1926, AŻIH 105/673b, Bl. 5. 47  Auszug Protokoll Vorstandssitzung IKVA, 26.  Januar 1930, AŻIH 105/673a, Bl. 43. 48  Ebd., Bl. 45. 49  Eine offene Anfrage, in: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland, 12. Dezember 1930, S. 6. 46  Bewerbungen



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innerjüdisch diskutiert und bestimmt wurde, vollzog sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein radikaler Wandel. Deren rassistisch begründeter Antisemitismus definierte fortan das Krankenhaus als einen jüdischen Ort und unterwarf es den Marginalisierungs-, Verdrängungs- und schließlich Vernichtungsprozessen der nationalsozialistischen Politik. Der Charakter der Einrichtung wandelte sich zunehmend zu einem Ort der jüdischen Selbsthilfe und wurde zur zentralen Instanz der gesundheitlichen Betreuung der Breslauer Juden, deren Zugang zu medizinischen Leistungen immer weiter eingeschränkt wurde.50 Das Gefühl der erzwungenen innerjüdischen Solidarität drückte sich in einem Artikel des Breslauer Jüdischen Gemeindeblattes aus: „ ‚Ungerechtigkeit schmiedet einen an die, die Unrecht leiden.‘ Sie macht die Gemeinschaft zur stärksten Verpflichtung, wir wissen, daß wir sie am Leben erhalten müssen.“51 Wie ernst es den Nationalsozialisten mit der Umsetzung ihrer antijüdischen Politik war, und wie deutlich sich das gesellschaftliche Klima wandelte, wurde im Israelitischen Krankenhaus noch im Frühjahr 1933 spürbar. So stieg bereits zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Bewerbungen von Ärzten, die von kommunalen oder universitären Einrichtungen Breslaus noch vor Umsetzung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen worden waren, an.52 Unter den Bewerbenden befanden sich etablierte und anerkannte Spezialisten ebenso wie angehende Mediziner, die noch in der Ausbildung standen. Das Krankenhaus versuchte, möglichst vielen entlassenen Ärzten eine Beschäftigung zu ermöglichen, jedoch waren dessen finanziellen Spielräume nach Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise deutlich begrenzt. Die veränderte, unsichere politische Situation veranlasste die Verwaltung zu einer zunächst abwartenden Haltung.53 Auch wurde das Krankenhaus Ziel anonymer Anfeindungen, die vermutlich persönliche Konflikte austrugen und den Nationalsozialismus dabei als Drohkulisse nutzten. So forderte ein Schreiben die Entlassung einer bestimmten Schwester: „Wenn nicht wird es der NSDAP übergeben. Hochachtungsvoll Viele Arbeitslose.“54 Weiteren und deutlichsten Ausdruck fand die zunehmende gesellschaft­ liche Ausgrenzung im spürbaren Rückgang der Anzahl nichtjüdischer Patienten, der die Einnahmen des Jüdischen Krankenhauses merklich zurückgehen 50  Vgl.

Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 204 f. unsere Gemeindemitglieder, in: BJG (1933), H. 4, S. 2. 52  Allein am 29. März 1933 waren 28 jüdische Ärzte aus Breslauer Krankenhäusern entlassen worden. Vgl. Juden Breslau/Wrocław 1933–1949, S. 133. Dort auch Hinweise zur Entlassung von jüdischen Ärzten der Universität Breslau. 53  Vgl. Auszug aus dem Protokoll der Vorstandssitzung der IKVA, 4. Juli 1933, AŻIH 105/702e, Bl. 5–8. 54  Schreiben an das Israelitische Krankenhaus Breslau, 10.  Oktober 1933, AŻIH 105/632, Bl. 200. 51  An

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ließ und es in eine „außerordentliche Notlage“ brachte.55 Der in den Jahren vor 1933 geäußerte Optimismus, das Krankenhaus könne einen konkreten Beitrag zu Akkulturation des Judentums in Deutschland leisten, erwies sich weitgehend als Trugbild. In den folgenden Jahren sah sich die IKVA daher veranlasst, Teile des Krankenhauses zu schließen und als Altersheim zu nutzen.56 Noch im Jahr 1933 verließen zwei nichtjüdische Lehrschwestern das Krankenhaus, ohne dort ihre begonnene Ausbildung abzuschließen.57 Gründe dafür führten sie nicht an. Zumindest aber im Fall von Johanna Lux ist ein Zusammenhang zwischen dem Abbruch ihrer Ausbildung im Jüdischen Krankenhaus und der nationalsozialistischen Machtergreifung plausibel. Sie gab an, auf Wunsch ihrer Eltern, ihr Vater war Landesoberinspektor, die Krankenpflegeschule zu wechseln.58 Vor dem Hintergrund der zunehmenden wirtschaftlichen Verdrängung von Juden im Deutschen Reich war die Beschäftigung von zum Christentum konvertierten Schwestern am Israelitischen Krankenhaus innerhalb der jüdischen Gemeinde Breslaus umstritten. Im Sommer 1934 erkundigte sich die Redaktion der Jüdischen Zeitung bei der IKVA, ob es zutreffe, dass die Lehrschwester Inge Hahn, die aus einem jüdischen Elternhaus stammte, evangelisch getauft sei.59 Nachdem die Krankenverpflegungsanstalt eine Antwort ablehnte, forderte die Zeitung die Entlassung der Lehrschwester und drohte mit einer Veröffentlichung des Vorganges: „Das Krankenhaus ist in erster Reihe für jüdische Patienten gedacht und wir halten es für ganz unmöglich, dass ein Jude sich in einer Anstalt wohlfühlen kann, in der getaufte oder ausgetretene Juden tätig sind. Das Bekanntwerden dieser Tatsache würde ­sicherlich weitere Proteste zur Folge haben.“60 Tatsächlich fanden daraufhin Gespräche mit dem Vater statt und er sollte mitteilen, „ob seine Tochter […] wieder zum Judentum zurückkehren wird.“61 Im Ergebnis sah sich Inge Hahn, „da von Seiten zahlreicher Gemeindemitglieder Beschwerden gegen das Bekenntnis meiner Tochter erhoben werden“, veranlasst, ihre Ausbildung

55  Schreiben IKVA an Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnachweise, 22. Juni 1933, AŻIH 105/656, Bl. 407. 56  Vgl. Meldung in BJG 12 (1935); H. 21, S. 2. Von den sinkenden Behandlungszahlen waren sämtliche jüdischen Krankenhäuser im Deutschen Reich ab 1933 betroffen. Vgl. Rivka Elkin, Das jüdische Krankenhaus in Berlin zwischen 1938 und 1945, Berlin 1991, S. 21. 57  Vgl. Personalakte Helene Traub, AŻIH 105/695 und Personalakte Johanna Lux, AŻIH 105/696d. 58  Vgl. Gesprächsnotiz, 10. Mai 1933, AŻIH 105/696d, Bl. 30. 59  Vgl. Schreiben Jüdische Zeitung an IKVA, 16. Juli 1934, AŻIH 105/709, Bl. 36. 60  Schreiben Jüdische Zeitung an IKVA, 16. August 1934, AŻIH 105/709, Bl. 37. 61  Gesprächsnotiz, 22. August 1934, ebd.



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am Jüdischen Krankenhaus abzubrechen.62 Am Beispiel des Konfliktes zeigte sich die durch die antijüdische Politik des Nationalsozialismus beschleunigte Orientierung auf die jüdische Identität und war indirekt eine Reaktion auf die von außen aufgezwungene rassistische Definition von Judentum.63 Für Inge Hahn war ihre Entscheidung zum Abbruch der Ausbildung in doppelter Weise schwer, da sie Ausgrenzung von beiden Seiten erfuhr. Als getaufte Jüdin hatte sie sich aus Sicht der Jüdischen Zeitung und der von ihr vertretenen Gemeindemitglieder aus der jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Gleichzeitig verwehrte die rassistisch-biologistische Definition des „Jüdischen“ durch die Nationalsozialisten ihr den Status als „Deutsche“, was ein Jahr später mit dem Reichsbürgergesetz rechtsförmig durchgesetzt wurde.64 Christliche Schwestern scheinen von der Diskussion nicht berührt gewesen zu sein, einige verblieben bis 1941 in den Diensten des Israelitischen Krankenhauses.65 Auffallend ist, dass die jüdische Identität von den sich beim Krankenhaus Bewerbenden seit 1933 fast nicht mehr erwähnt wird. Nur in zwei Fällen finden sich noch weitere Hinweise, bei denen jedoch die Nicht-Zugehörigkeit zur jüdischen Religion thematisiert wird. Eine Bewerberin nahm noch 1937 als Katholikin ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin im Breslauer Jüdischen Krankenhaus auf, wechselte aber nach Rücksprache mit ihrer Familie im April 1938 zum Allerheiligen-Hospital.66 In einem weiteren Fall lässt sich die im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft erfolgte Transformation des Krankenhauses in eine durch die antisemitische Rassegesetzgebung bestimmte Zwangs- und Notgemeinschaft nachvollziehen. Elisa Waldmann bewarb sich 1940 um die Aufnahme als Lehrschwester, nachdem sie bis 1938 in einer chemischen Fabrik als Buchhalterin gearbeitet hatte. Da sie bereits 1928 aus der Breslauer Synagogengemeinde ausgetreten war, weigerte sich diese, ihr eine Unterstützung zu zahlen. Auf Befragen hielt Elisa Waldmann an ihrem Austritt fest: „Meiner Einstellung nach war, bin und bleibe ich konfessionslos, und ich nehme an[,] das[s] Sie keinen besonderen Wert darauf legen, einen solchen Menschen in Ihrer Religionsgemeinschaft aufzunehmen.“67 Die anschließende 62  Schreiben

Gerhard Hand an IKVA, 1. September 1934, ebd., Bl. 46. ähnlicher Fall ereignete sich bereits Ende 1933 bei der Besetzung der Primärarztstelle der Inneren Abteilung, als eine Zeitung die „Mischehen“ einiger Kandidaten kritisierte. Vgl. o. A. Zur Wahl im Jüdischen Krankenhause, in: Jüdische Zeitung 40 (1933), H. 49, S. 2. 64  Vgl. dazu Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002. 65  Vgl. Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 280. 66  Aktennotiz, 11. März 1938, AŻIH 105/723e, Bl. 20. 67  Schreiben Waldmann an Synagogen Gemeinde Breslau, 9.  April 1940, ebd., Bl. 82. 63  Ein

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Diskussion über die Möglichkeiten der Ausbildungsfinanzierung erfolgte vor dem Hintergrund zwei grundlegend verschiedenen Auffassungen von Judentum. Elisa Waldmann betrachtete sich als nichtjüdisch aufgrund ihrer eigenen religiösen Überzeugungen. Gleichzeitig war sie im Sinne der NS-Gesetzgebung „rassische“ Jüdin und damit auf die jüdischen Institutionen verwiesen, da sie von der Partizipation an der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen war. Ein Ausfall der Unterstützung ohne eigene finanzielle Mittel wäre gleichbedeutend mit dem Abbruch der Ausbildung gewesen, für die das Jüdische Krankenhaus keine Vergütung oder Verpflegung gewährte. Während die Breslauer Synagogengemeinde die Unterstützung kategorisch ablehnte, erbat die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD), die seit dem 4. Juli 1939 alleiniger „Träger der freien jüdischen Wohlfahrtspflege“68 war, eine Stellungnahme des Krankenhauses. Dieses wollte die Entscheidung von der „Bewährung“ von Elise Waldmann als Lehrschwester abhängig machen.69 Beiden, Reichsvereinigung wie auch dem Jüdischen Krankenhaus, war bewusst, dass ihre Arbeit auf dem durch das Reichsbürgergesetz definierten Status der rassischen Zugehörigkeit zum Judentum basierte, das auf religiöse Identitäten keine Rücksicht nahm. Eine Lösung wurde durch die Unterstützung des Berliner Büros der Quäker ermöglicht, die seit 1933 in zahlreichen Fällen zur Hoffnung für konfessionslose oder christlich getaufte Juden wurden, Hilfe für ihre Auswanderungsbemühungen zu erhalten.70 Sie übernahmen rückwirkend die Unterstützungszahlungen für Elise Waldmann, und auch das Krankenhaus schätzte ihre Leistungen als zufriedenstellend ein, so dass sie dort verbleiben konnte.71 Damit war der Konflikt aber nur vorübergehend befriedet, denn offenbar fühlte sich Elise Waldmann von der Oberschwester wegen ihrer Areligiosität zurückgesetzt und fürchtete, durch eine ungerechte Arbeitszuteilung nicht ausreichend Zeit für ihre Examensprüfung zu haben. In einem Brief an den Chefarzt Dr. Siegmund Hadda fasste sie den Konflikt mit drastischen Worten zusammen: „Ich bin überzeugt davon, dass ich in den darauffolgenden 4 Wochen in den Luftschutzdienst oder ähnliche ‚Scherze‘ versetzt werde, wenn dies noch zum Ausbildungsdebut [gemeint ist wahrscheinlich Ausbildungsdeputat, d. Verf.] der Lernschwester hinzukommen sollte, und wenn damit die Antipathie einer ihren religiösen Albernheiten und ‚ihrer imaginären 68  Zehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, 4. Juli 1939, Reichsgesetzblatt I 1939, S. 1097. 69  Vgl. Schreiben IKVA an RVJD, 6. Juni 1940, ebd., Bl. 77. 70  Vgl. Claus Bernet, „Ja-sagen zum Judentum“. Die Quäker und ihr Verhalten gegenüber den Juden in Deutschland von 1933 bis 1945, in: Daniel Heinz (Hg.), Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld, Göttingen 2011, S. 35–64, S. 51. 71  Vgl. Abschrift Schreiben Irmgard Wedemeyer an Elise Waldmann, 3. Juni 1940, AŻIH 105/723e, Bl. 76.



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Gottheit‘ huldigenden Oberin Genugtuung finden könnte.“72 In diesen Äußerungen kam zum Ausdruck, dass das Jüdische Krankenhaus aus ihrer Sicht den Charakter eine Zwangsgemeinschaft hatte und weniger eine konfessionelle Einrichtung war. Sie hielt es immerhin für möglich, diese Einschätzung dem Chefarzt mitzuteilen. Elise Waldmann wurde nach Bekanntwerden des Schreibens zunächst vom Dienst suspendiert. Der Verwaltungsausschuss des Krankenhauses sprach sich für eine umgehende Entlassung aus, musste jedoch noch die Zustimmung der RVJD einholen.73 Diese Zeit nutzte die Lehrschwester, um sowohl gegenüber der Oberin als auch der Krankenhausverwaltung ihr Bedauern über die Äußerungen auszudrücken und bat um ihre Weiterbeschäftigung, „da sie doch auch für mich eine Existenzfrage bedeutet.“74 Obwohl die mit der Durchführung der Ausbildung beauftragten Ärzte ihre Entlassung forderten, konnte sich die Krankenhausverwaltung nicht zu einer existenzgefährdenden Entlassung durchringen und beließ es bei einer scharfen Verwarnung und der Androhung der Kündigung im Wiederholungsfalle.75 Waldmann konnte ihre Ausbildung abschließen und erhielt sogar noch im November 1941 ein wohlwollendes Empfehlungsschreiben, da sie sich auf die Leiterstelle des Jüdischen Siechenhauses in Dortmund beworben hatte. Auf die Vorfälle wurde eingegangen und hinzugefügt: „Sollten Sie an der aus diesen Berichten ersichtlichen Einstellung der Bewerberin keinen Anstoß nehmen, so kann diese an sich tüchtige Schwester für die Dortmunder Stelle empfohlen werden.“76 Wie die Entscheidung ausfiel, ist nicht überliefert. Elise Waldmann wurde am 25. November 1941 in das besetzte Litauen deportiert und dort im Fort IX in Kaunas ermordet.77 Das Ausscheiden von Inge Kahn als getaufte jüdische Lehrschwester 1934 war auch deswegen ein schwerwiegender Entschluss, da die Ausbildung zur Krankenpflegerin eine der immer weniger verbliebenen beruflichen Möglichkeiten für jüdische Frauen war, während Juden und Jüdinnen aus anderen Berufen zunehmend herausgedrängt wurden.78 In der jüdischen Presse finden sich vermehrt ab 1935 Berichte, die die Attraktivität einer Berufsausbildung 72  Schreiben

Waldmann an Dr. Hadda, 31. Dezember 1940, ebd., Bl. 43. Schreiben IKVA an RVJD, 7. Januar 1941, ebd., Bl. 41. 74  Schreiben Waldmann an IKVA, 7. Januar 1941, ebd. Bl. 38. 75  Anmerkung Dr. Freund, 2. Februar 1941, ebd., Bl. 35 und Protokoll Aussprache, 3. Februar 1941, ebd., Bl. 31. 76  Schreiben IKVA an RVJD, 5. November 1941, ebd., Bl 9. 77  Vgl. Bundesarchiv (Hg.), Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945). https://www. bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de (letzter Abruf, 13. Juni 2020). 78  Zur wirtschaftlichen Verdrängung der Juden vgl. Avraham Barkai, Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/Main 1987. 73  Vgl.

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zur Krankenschwester besonders hervorheben.79 Der Mangel an Krankenpflegerinnen in jüdischen Krankenhäusern wurde dabei sogar als positives Zeichen gedeutet: „So bedauerlich diese Tatsache für die Pflege der Kranken und die eventuell dadurch überlasteten Kolleginnen ist, so erfreulich ist sie, wenn man sie vom wirtschaftspolitischen Gesichtspunkt aus betrachtet.“ Diese Entwicklung verdeutliche, „dass der größte Teil der entlassenen angestellten und beamteten jüdischen Krankenschwestern der städtischen, staat­ lichen und privaten Krankenanstalten Arbeit gefunden hat.“80 Um die vorhandenen Pflegekräfte besser auf offene oder fehlende Stellen zu vermitteln, richtete die Vereinigte Zentrale für jüdische Arbeitsnachweise im Frühjahr 1934 eine Ausgleichstelle für jüdisches Krankenpflegepersonal ein.81 Neben einer gezielteren Arbeitskräftesteuerung wurde zur Behebung des Mangels eine verstärkte Nachwuchsgewinnung angestrebt. Die Ausbildung zur Krankenpflegerin wurde für jüdische Mädchen als geeignet erachtet, die entweder in Deutschland bleiben wollten oder aber die Auswanderung anstrebten, da dieser Beruf auch in Auswanderungsländern gesucht sei.82 Aus diesem Grund unterstützte die Zentralwohlfahrtsstelle der Reichsvertretung der deutschen Juden ab 1935 die Ausbildung zu Krankenschwestern durch die Gewährung von Zuschüssen. Dass es dabei nicht mehr nur um die Behebung des Personalmangels in den deutschen jüdischen Krankenhäusern ging, wird an der Abänderung der Verpflichtung zu einem dreijährigen Dienst im Ausbildungskrankenhaus nach Ablegung des Krankenpflegeexamens deutlich: „Jedoch wird der Schwester das Recht eingeräumt, nach mindestens einem Pflichtjahr diese Arbeit bereits vorzeitig zu beenden, sofern sie nachweislich ihren Wohnsitz in das Ausland verlegt.“83 Die Breslauer IKVA erklärte sich in diesem Zusammenhang bereit, zusätzliche durch die Reichsvertretung geförderte Lehrschwestern aufzunehmen.84 Auch nach dem Erlass des Gesetzes zur Ordnung der Krankenpflege am 28. September 1938, das die Ausbildung von Krankenpflegenden im Deutschen Reich vereinheitlichte, ermöglichte es jüdischen Krankenhäusern, weiterhin als Ausbildungsstätte zu fungieren.85

79  Vgl. z. B.: O. A., Ein Beruf für die Jugend, in: Jüdische allgemeine Zeitung 15 (1935), H. 6, S. 6; Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen, September 1935, S. 3; O. A., Die Berufsaussichten der jüdischen Frau, in: CentralVerein-Zeitung 14 (1935), H. 22, S. 13. 80  O. A., Ein Beruf für die Jugend. 81  Vgl. Jüdisch-liberale Zeitung 14 (1934), H. 22, S. 4. 82  Hilfsverein der Juden in Deutschland (Hg.), Korrespondenzblatt über Auswanderungs- und Siedlungswesen, September 1935, S. 3. 83  O. A., Ausbildung jüdischer Krankenschwestern, in: BJG 12 (1935), H. 17, S. 6. 84  Notiz zur Bewerbung von Lotte Wolff, 30. Oktober 1935, AŻIH 105/720h, Bl. 3.



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Bereits 1933 hatte das Israelitische Krankenhaus in Breslau im Zusammenhang mit der zunehmenden Emigrationswelle jüdischer Bewohner mit einem alten Grundsatz gebrochen und ermöglichte zwei männlichen Bewerbern die Ausbildung zum Krankenpfleger. Joseph Gluskinos legte dem Krankenhaus seine Motivation offen dar: „Arbeitslosigkeit und die für die Zukunft unübersichtlichen Verhältnisse in Deutschland insbesondere für mich jungen, jüdischen Staatsbürger veranlassen mich zur Berufsumschichtung, die nach Möglichkeit eine Auswanderung erleichtert. In Palästina werden zur Zeit Heilgehilfen und Masseure gesucht und sofort auch ohne Kapital aufgenommen.“86 Nur einen Monat später wandte sich der noch 16-jährige Ludwig Gradenwitz mit derselben Bitte an das Krankenhaus: „Ich bitte Sie, mich an Ihrem Schwesternausbildungskurs teilnehmen zu lassen. Seit ich mich erinnern kann, schwebte es mir stets vor, Arzt zu werden, Menschen die Leiden, helfen zu können. […] Nun musste ich doch gezwungener Maßen davon Abstand nehmen. Da ich auch weiterhin, trotzdem das Studium unmöglich ist, von dem Standpunkt ‚dem Menschen helfen‘ nicht abkommen will, bitte ich Sie wenn irgend möglich meinen Wunsch nicht abzuschlagen.“87 Die am Krankenhaus arbeitenden Primärärzte (Chefärzte) sowie der Krankenhausausschuss stimmten der Ausbildung der beiden Männer zu. Inwieweit eine prinzipielle Diskussion darüber erfolgt war, ist nicht überliefert. Das gegen die männliche Krankenpflege innerhalb des Jüdischen Krankenhauses jedoch Vorbehalte bestanden haben, geht aus einer Einschätzung, die nach der Krankenpflegeprüfung von Gluskinos angefertigt wurde, hervor. Sie bestätigte, „dass die Tätigkeit einer männlichen Pflegeperson im Krankenhause doch von außerordentlichem Wert ist.“88 Aus diesem Grund bot das Krankenhaus ihm eine Weiterbeschäftigung bis zum Zeitpunkt seiner Auswanderung an. Diese lehnte er allerdings ab, da das Krankenhaus ihm lediglich kostenlose Verpflegung und Unterkunft angeboten hatte, jedoch mit „Rücksicht auf die gegenwärtige Belegung des Hauses“ keinen Lohn zahlen wollte.89 Stattdessen arbeitete er zunächst in der Privatpflege und übernahm nur vertretungsweise die Aufsicht von Stationen im Krankenhaus. 1936 folgte Gluskinos seinen Eltern, die Breslau bereits verlassen hatten und nach Palästina emigriert waren.90 Als sich 1935 wieder zwei Männer um eine Ausbildung zum Krankenpfleger bewarben, bat der Vorstand des Jüdischen Krankenhauses zwei Primarärzte um eine prinzipielle Stellung85  Vgl. Erste Verordnung über die berufsmäßige Ausübung der Krankenpflege und die Errichtung von Krankenpflegeschulen, 28. September 1938, in Reichsgesetzblatt I (1938), S. 1310–1313, S. 1313. 86  Schreiben Gluskinos an IKVA, 20. April 1933, AŻIH 105/703a, Bl. 2. 87  Schreiben an IKVA, 19. Mai 1933, AŻIH 105/707b, Bl. 3. 88  Aktennotiz, 13. September 1935, AŻIH 105/703a, Bl. 24–26, Bl. 25. 89  Notiz zur Vorstandsbesprechung, 25. September 1935, ebd., Bl. 26. 90  Arbeitszeugnis für Joseph Gluskinos, 30. August 1936, ebd., Bl. 31.

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nahme zur männlichen Krankenpflege. Fast schon euphorisch reagierte Primärarzt Harry Schäffer: „Prinzipiell ist die Ausbildung von jüdischen Krankenpflegern nicht nur im Interesse unseres Hauses, sondern auch im Interesse der jüd. Allgemeinheit nicht nur sehr zu begrüßen, sondern direkt als eine Notwendigkeit zu bezeichnen, durch die ein oft empfundener Mangel beseitigt wird. Auf unserer Männerabteilung hat sich die Einrichtung bislang durchaus bewährt.“91 Bei der unmittelbaren Zusammenarbeit von weiblichem und männlichem Pflegepersonal wurde auf eine strenge professionelle Distanz geachtet. So musste sich der Lehrpfleger Erwin Abraham 1936 gegenüber der Kranken­ hausverwaltung erklären, weil er mehrmals mit einer Lehrschwester spazieren war und sich von einer Schwester Geld geliehen hatte. Er räumte seinen Verstoß ein: „Ich gebe zu, dass mir schon vor längerer Zeit von der Verwaltung des Krankenhauses jeder freundschaftliche Verkehr mit den im Krankenhaus beschäftigten Lehrschwestern untersagt worden ist.“92 Das Krankenhaus entsprach seiner Bitte, die Ausbildung fortführen zu dürfen, verbot ihm aber, „die Schwestern bzw. Lehrschwestern mit Du anzureden“.93 Nach dem erfolgreich abgelegten Staatsexamen konnte Abraham zunächst auf der neurologischen Station weiterarbeiten. 1937 erhoben Mitarbeiter des Krankenhauses erneut Vorwürfe gegen ihn, er habe eine Krankschreibung genutzt, um mit einer Schwester ins Schwimmbad zu gehen.94 Dieses Mal sprach die IKVA ihm und der Schwester die Kündigung aus und verbot beiden auch die Beschäftigung als „Extrapfleger“ in Privathaushalten, was deren wirtschaft­ lichen Ruin bedeutete. Flehend appellierte Abraham an die jüdische Solidarität: „Ich frage sie meine Herren, ist es nicht furchtbar genug, in der heutigen Zeit, in der jeder Jude von der anderen Seite bis zum Äußersten angegriffen wird, noch von den eigenen Institutionen so boykottiert wird [sic], wie man es mit mir von Ihnen aus tut. Ich will doch nichts anderes als leben, […], ich will arbeiten, und es wird mir von meinen eigenen Leuten so schwer gemacht, nur weil ich mir mein Leben selbst leben will, und mir die Freiheit genommen habe, und das Mädel, das ich liebe. Ich weiß, dass ich nicht immer korrekt gehandelt habe, aber die Zeit ist heut stärker als Statuten, und man könnte uns Jugend etwas mehr Verständnis entgegenbringen.“95 Von dem Hinweis auf die enormen Auswirkungen für die berufliche Existenz ließ sich die IKVA nicht umstimmen und hielt an der prinzipiellen Einschätzung 91  Notiz

Schäffer, 13. August 1935, AŻIH 105/716, Bl. 5. Erwin Abraham, 6. Oktober 1936, AŻIH 105/714c, Bl. 28. 93  Vorstand IKVA an Oberin Jüdisches Schwesternheim, 8. November 1936, ebd., Bl. 32. 94  Aussage Anna Kamnitzer, 10. Juni 1937, ebd., Bl. 64. 95  Schreiben Abraham an IKVA, 10. Mai 1938, ebd., Bl. 76. 92  Verhandlung



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eines unentschuldbaren Disziplinverstoßes fest. Abrahams Bitte wurde abgewiesen und er durfte auch weiterhin nicht mehr am Krankenhaus arbeiten oder „Extrapflegen“ übernehmen.96 Trotz der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen weiblichem und männlichem Pflegepersonal hielt das Krankenhaus an der Ausbildung von Krankenpflegern fest. Dieses Festhalten unterstreicht die Wandlung, die das Krankenhaus seit 1933 durchlief. Als einer der wenigen Orte der Berufsausbildung, die den Juden im Deutschen Reich verblieben, verfügte es über eine hohe Attraktivität für Emigrationswillige. Mindestens neun seit 1933 im Jüdischen Krankenhaus angenommene Lehrschwestern und -pfleger hatten angegeben, diesen Beruf zur Vorbereitung ihrer Auswanderung erlernen zu wollen. Nachweisbar 24 seit 1933 von der IKVA angenommene Krankenpfle­ gende beendeten ihre Arbeit, um auszuwandern. Die Emigration des Pflegepersonals (wie des ärztlichen) führte dazu, dass es zunehmend schwieriger wurde, bereits ausgebildetes Personal zu finden. Auf der Vorstand­sitzung der IKVA am 4. April 1937 stellte Direktor Levenbach fest: „Die Besetzung der etatsmässigen Schwesternstellen bereitet schon seit einiger Zeit die größten Schwierigkeiten.“97 Auf eine Stellenanzeige in drei Jüdischen Zeitungen hatte sich überhaupt nur eine Schwester gemeldet, „die wir jedoch aufgrund der eingezogenen Erkundigungen ablehnen mussten.“98 Das Jüdische Schwesternheim verfügte selber nicht über ausreichend Schwestern und die wenigen verbliebenen wurden in der Hauskrankenpflege gebraucht. Männliche Krankenpfleger konnten ausfallende Schwestern aus Sicht des Krankenhausvorstandes nur bedingt ersetzen, da sie nicht auf Frauenstationen eingesetzt werden durften. Sogar die Einstellung von christlichen Schwestern wurde erwogen. Abschließend hielt Levenbach fest: „Aus alledem geht hervor, dass die Besetzung von Schwesternstellen mit jüdischen Schwestern vorläufig uns sicher auch in absehbarer Zeit mit grossen Schwierigkeiten verbunden sein wird.“99 Die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der inneren Organisation des Krankenhauses und die zunehmende Inanspruchnahme als einen Ort der jüdischen Selbsthilfe mit dem Ziel, möglichst vielen Juden die Emigration zu ermöglichen, führte in der IKVA zu einem latenten Zielkonflikt. Trotzdem setzte die Krankenhausverwaltung der Auswanderung 96  Vgl. Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des engeren Vorstandes, 17. Mai 1938, ebd., Bl. 79. Erwin Abraham wurde am 25. November 1941 von Breslau in das Fort  IX in Kauen deportiert und dort ermordet. Vgl. Bundesarchiv (Hg.), Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945). 97  Auszug Protokoll Vorstandsitzung, 4.  April 1937, AŻIH 105/656, Bl. 433 f., Bl. 433. 98  Ebd. 99  Ebd., Bl. 434.

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keinen Widerstand entgegen. So bat der Vater von Ilse Davidsohn, die erst seit einem halben Jahr als Lehrschwester im Krankenhaus, am 12. Januar 1939 um die „schleunige“ Ausstellung eines Zwischenzeugnisses für seine Tochter, da die Familie die Genehmigung zur Auswanderung nach Palästina erhalten hatte.100 Die Verwaltung reichte die Bitte mit der roten Aufschrift „sofort!“ und der Forderung „um tunlichst schleunige weitere Veranlassung“ an den Chefarzt Siegmund Hadda weiter.101 Bereits einen Tag später war das wohlwollende Zwischenzeugnis fertiggestellt.102 Um die Ausbildung weiter zu ermöglichen, waren die Aufnahmebedingungen teilweise deutlich gelockert worden. Bestand das Krankenhaus bis 1933 auf ein Mindestalter von 18 und ein Höchstalter von 30 Jahren bei Aufnahme der Ausbildung, wurden davon zunehmend Ausnahmen gemacht. So war Ludwig Gradewitz, der zu den ersten beiden in der Krankenpflege am Jüdischen Krankenhaus ausgebildeten Männern gehörte, erst 16 alt. Eine ärzt­ liche Untersuchung kam zu dem Schluss: „Die körperliche Entwicklung des p. Gradewitz ist soweit fortgeschritten, dass seinem dringenden Wunsche die Krankenpflege zu erlernen, unter den heutigen Verhältnissen gewillfahrt werden könnte. […] Auch persönlich lässt sich gegen Herrn Gradewitz nichts als Jugend einwenden.“103 Auf der anderen Seite nahmen, besonders ab den späten 1930ern, immer mehr Ältere eine Ausbildung im Krankenhaus auf. Dies war nicht allein dem demografischen Wandel geschuldet, sondern sollte auch älteren Juden eine Berufsumschichtung die Auswanderung ermöglichen.104 Waren die Lernschwestern vor 1933 im Durchschnitt 22,5 Jahre alt, stieg das Durchschnittsalter zwischen 1933 und 1941 auf 26,4 Jahre. Von den 16 Personen, die 1940 ihre Ausbildung am Jüdischen Krankenhaus begannen, waren zehn über 30 Jahre. Der älteste Lehrpfleger war der 1884 in Hohensalza geborene Leo Dombrower, der 1940 mit 55 Jahren seine Aus­ bildung aufnahm. In seinem Bewerbungsschreiben ging er nicht auf seine frühere Tätigkeit als Zigarrenhändler ein105, wies jedoch, wie zahlreiche an100  Schreiben

Wolf Davidsohn an IKVA, 12. Januar 1939, AŻIH 105/726i, Bl. 27. an Dr. Hadda, 12. Januar 1939, ebd. 102  Vgl. Zeugnis für Ilse Davidsohn, 13. Januar 1939, ebd., Bl. 28. Sie konnte im Juni 1939 nach Palästina emigrieren. Vgl. Schreiben Ilse Davidsohn an IKVA, 26. Juni 1939, ebd., Bl. 33. 103  Mitteilung Dr. Herz, 8. August 1933, AŻIH 105/707b, Bl. 6 f. Gradewitz konnte die Ausbildung aus gesundheitlichen Gründen nicht beenden. 104  Vgl. o. A. Jüdische Sozialarbeiter Tagung, in: BJG 15 (1938), H. 19, S. 2. Ohnehin verpflichtete die Fünfte Anordnung Vierjahresplan vom 7. November 1936 Betriebe ab zehn Angestellten, einen „angemessenen Anteil“ von Personen, die älter als 40 Jahre waren, anzustellen. Vgl. Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger 1936, H. 262, S. 3. 105  Vgl. Breslauer Adressbuch 1935, Breslau 1935, S. 99. 101  Mitteilung



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dere Männer auch, auf seine Erfahrungen im Sanitätsdienst während des Ersten Weltkrieges hin.106 Leo Dombrowers Bewerbung erfolgte bereits im März 1939, aber erst im April 1940 nahm er die Ausbildung auf. Bis dahin arbeitete er als freiwilliger Helfer ohne Bezahlung, ohne Verpflegung und ohne Angestellter des Krankenhauses zu werden.107 Dank der zunehmenden Flexibilisierung der Aufnahmebedingungen durch die IKVA bot ein Krankenpflegeberuf eine scheinbare Perspektive, entweder um die Auswanderung zu forcieren oder einer Erwerbstätigkeit im Deutschen Reich nachgehen zu können. Dabei unterlag auch die Ausbildung der immer radikaleren Repression gegen Juden in Deutschland. Diese Unsicherheit, die sich in einer stetig wachsenden Flut antijüdischer Verordnungen und Gesetze niederschlug, führte dazu, dass 1937 ein bestimmter Passus in die Ausbildungsverträge aufgenommen wurde: „Eine Sicherheit dafür, dass ich nach Ablauf der zweijährigen Ausbildungszeit zur staatlichen Prüfung zugelassen werde, kann das Krankenhaus nicht übernehmen.“108 Noch konkreter war die Bedrohung durch die unmittelbare Verfolgung von Juden in Breslau, die 1938 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und verdeutlichte, wie alltäglich die rassistische Verfolgung von Juden im Deutschen Reich mittlerweile geworden war. So wurde der Lehrpfleger Martin Blut im Juni 1938 im Rahmen der sog. „Juni Aktion“ verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Vermutlich geriet er wegen einer früheren Verurteilung wegen Diebstahls in das Visier der Kriminalpolizei.109 Die von der Verhaftungswelle Betroffenen waren aufgrund des noch nicht abgeschlossenen Aufbaus des KZ Buchenwald zunächst in Provisorien unter erbärmlichsten Bedingungen untergebracht und wurden von der SS zu besonders schwerer Zwangsarbeit herangezogen und dabei häufig misshandelt.110 Das Jüdische Krankenhaus in Breslau erhielt von Martin Bluts Mutter, die unmittelbar dessen Auswanderung vorbereitete, Kenntnis über seine Verhaftung. Am 11. Januar 1939 wurde er aus Buchenwald entlassen und kehrte wieder nach Breslau zurück, um dort die Ausbildung fortzusetzen, jedoch nur für wenige Monate: „Da wie Ihnen wohl bekannt sein dürfte, die ‚Ge. – Sta – Po.‘ verschärft darauf achtet, dass die Konzentrationslagerhäftlinge, besonders der ‚Juni-Aktion‘ 106  Vgl. Schreiben Dombrower an IKVA, 28. März 1939, AŻIH 105/730c, Bl. 23. Weitere Bewerbungsschreiben finden sich in AŻIH 105/656. 107  Notiz zur Verhandlung, 26. April 1939, ebd., Bl. 20. 108  Anstellung Ilse Davidson als Lehrschwester, 20. April 1938, AŻIH 105/726i, Bl. 11. 109  Vgl. Häftlingskarteikarte Martin Blut, Arolsen Archives, Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Nr. 01010503, o. Bl. Zur Juni-Aktion vgl. Christian Faludi (Hg.), Die „Juni-Aktion“ 1938. Eine Dokumentation zur Radikalisierung der Judenverfolgung, Frankfurt/Main, New York 2013. 110  Vgl. Harry Stein, Juden in Buchenwald, 1937–1942, Weimar 1992, S. 22–29.

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allerschnellstens Deutschland verlassen, ist es mir, im Interesse meiner Auswanderung und meiner Freiheit leider nicht mehr möglich, weiter bei Ihnen zu arbeiten.“111 Der über 50-Jährige Leo Dombrower war am 27. Juli 1940 zu Breslauer Kriminalpolizei bestellt worden und von dort nicht mehr zurückgekommen. Das Krankenhaus versuchte daraufhin, genauere Informationen zu den Hintergründe in Erfahrung zu bringen: „Herr Wulkan [Mitarbeiter des Krankenhauses, d. Verf.] setzte sich telefonisch mit der Kriminalpolizei […] in Verbindung, von wo aus mitgeteilt wurde, dass wir bis auf weiteres mit einer Rückkehr des Pflegers Dombrower nicht rechnen können.“112 Dombrower wurde daraufhin entlassen. Am 22. September 1940 verstarb er in Breslau; inwieweit sein Tod mit der Verhaftung in Verbindung stand, muss ungeklärt bleiben.113 Zum Zeitpunkt von Dombrowers Tod war das Jüdische Krankenhaus in Breslau nur noch ein Provisorium. Welches Ausmaß die Verfolgungen an­ genommen hatten, zeigte sich in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, als insgesamt 64 Personen, die Opfer der gesteuerten antijüdischen Ausschreitungen geworden waren oder vor Angst Selbstmordversuche begangen hatten, aufgenommen wurden.114 Die durch die Auswanderung verursachten Personalprobleme verschärften sich noch einmal. Bereits Ende 1938 löste sich das Jüdische Schwesternheim wegen Finanzproblemen auf.115 Außerdem sahen sich 14 Krankenschwestern und -pfleger unter dem Eindruck der Pogromnacht veranlasst, das Deutsche Reich dauerhaft zu verlassen. Das Jüdische Krankenhaus nahm seit 1939 auch „freiwillige Helfer in der Krankenpflege“ auf, die nur bedingt zu einer verbesserten Krankenversorgung beitrugen. Sie erhielten, wie zunächst auch Leo Dombrower, keinen Lohn und nur in Ausnahmefällen ein Mittagessen oder eine Vesper.116 Damit sollte nicht allein dem Mangel an Pflegepersonen begegnet werden, sondern es entsprach dem wachsenden Bedürfnis von Bewerbenden, besonders die bereits ihre Emigration vorantrieben, keine langfristigen beruflichen Bindungen in Deutschland mehr einzugehen.117 Bereits drei Tage vor dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen e­rhielt die Krankenhausverwaltung von der Gestapo den Befehl, binnen 48 Stunden die Gebäude der Wehrmacht zu übergeben. Sollte der Weisung 111  Schreiben

Martin Blut an IKVA, 10. Mai 1939, AŻIH 105/724i, Bl. 54. 29. Juni 1940, AŻIH 105/730c, Bl. 5. 113  Vgl. Karteikarte Leo Dombrower, Arolsen Archives, Reichsvereinigung der Juden (Kartei), Nr. 12410003. 114  Vgl. Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 265. 115  Vgl. ebd., Bl. 268. 116  Vgl. Schreiben IKVA an RVJD, 9. Juni 1939, AŻIH 105/612, Bl. 582. 117  Vgl. Vermerk, 13. Juli 1938, ebd., Bl. 373. 112  Aktennotiz,



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nicht nachgekommen werden, drohte man dem Personal mit Einweisung ins Konzentrationslager. Ein Teil der Patienten wurde entlassen. Die übrigen verlegte man in das durch einen Bretterzaun vom Krankenhausgelände abgetrennte Siechenheim. Später mietete man eine ehemalige, deutlich kleinere Privatklinik an. Aus dem Jüdischen Krankenhaus wurden damit jüdische Krankenhäuser in Breslau.118 Bis 1943 kam es wiederholt zu Beschlagnahmungen von Räumlichkeiten des Jüdischen Krankenhauses und der dazugehörigen Alters- und Siechenheime, denen mit kurzfristig organisierten Notunterkünften begegnet wurde.119 Zur Bewältigung dieser kurzfristigen Situationen griff man noch stärker auf ungelerntes Personal zurück. Walter Tausk, der viele Jahre als Handelsvertreter arbeitete und Ende 1939 bereits mehrere Jahre auf die Unterstützung des jüdischen Wohlfahrtsamtes angewiesen war, hielt in seinem Tagebuch fest: „Die jüdische Gemeinde hat eine Nothilfe eingerichtet, zu der jeder Unterstützte kommandiert werden kann. […] Man sucht vor allem Leute […] zwecks Umlegung der Krankenanstalt; Leute zur Betreuung von alten, kranken, gebrechlichen, armen Gemeindemitgliedern, […] Leute mit medizinischen und pflegerischen Kenntnissen“.120 Eine reguläre Ausbildung von Krankenpflegepersonal war unter den ge­ gebenen Umständen kaum noch möglich, auch wenn das Krankenhaus daran festhielt. Im März 1941 wandte man sich an die Reichsvereinigung der Juden wegen der Beschaffung von 31 Schwesternbroschen.121 Und noch im Juli 1942, nachdem bereits mehrere große Deportationen von Breslauer Juden erfolgt waren, teilte man der Reichsvereinigung mit, dass man wegen der Tracht der Lernschwestern in Konflikt mit der Gestapo und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) gekommen sei.122 Dennoch war man im Alltag auf die Unterstützung von ungelernten Kräften angewiesen. So nahm auch Karla Wolff vermutlich 1942 eine Tätigkeit im Altersheim auf. Sie war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Sie erhielt ihre „Ausbildung“ durch zwei ebenfalls im Altersheim arbeitende Schwestern.123 Mit diesen kam sie im Sommer 1943 auf den oben erwähnten Friedhof in Cosel, wo die Kranken118  Vgl. Manuskript Siegmund Hadda, Die letzten Jahre des jüdischen Krankenhauses in Breslau, 28. Oktober 1960, Yad Vashem Archives, O.1/259, S. 7. 119  Einen Überblick zu den Verlegungen bei: Reinke, Judentum und Wohlfahrtspflege, S. 273–281. 120  Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933–1940, Berlin (Ost) 1975, S. 247 f. 121  Eintrag Verzeichnis Angelegenheiten des Krankenhauses, 20. März 1941, AŻIH 105/973, Bl. 252. 122  Dabei ging es um die Ähnlichkeit der Hauben von jüdischen Lernschwestern und den Schwestern des NSV sowie dem nicht sichtbar getragenen „Judenstern“. Vgl. Schreiben Jüdische Kultusvereinigung Breslau an RVJD, 1. Juli 1942, Yad Vashem Archives Jerusalem, O.8./286, Bl. 31. 123  Vgl. Wolff, Ich blieb zurück, S. 68.

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station zur Behandlung der wenigen verbliebenen „Halbjuden“, die in und um Breslau Zwangsarbeit leisten mussten, eingerichtet wurde. Dort endete die bis dahin mühsam aufrecht erhaltene funktionale Differenzierung des Personals endgültig, wie Wolff beschreibt: „Jeder machte eigentlich alles. Die Ärzte halfen, wo sie konnten, die Schwestern wuschen Geschirr und die Küchenchefin machte Verbände. Ich war dort Mädchen für alles, räumte auf, machte Einkäufe, half in der Küche, bei Operationen und auf Station.“124 Als die Rote Armee die Grenzen Breslaus erreichte, wurden auch die letzten verbliebenen Juden in Konzentrationslager deportiert. Karla Wolff ging in den Untergrund und überlebte im Gegensatz zu ihren Kollegen den Krieg.125 Zusammenfassung Bis 1933 lässt für das Jüdische Krankenhaus in Breslau nachvollziehen, dass die fortschreitende rechtliche Gleichstellung des Judentums zu einer graduellen Säkularisation der stationären jüdischen Gesundheitspflege führte. Die Bewahrung der jüdischen Konfessionalität des Ortes war nicht mehr zwingend an die Personen gebunden, die in ihm wirkten, solange bestimmte Grenzen nicht übertreten wurden. Neben pragmatischen Motiven, etwa dem Mangel an Bewerberinnen, lässt sich auch eine überkonfessionelle Offenheit der Verantwortlichen feststellen, die Professionalität mehr schätzten als die religiöse Überzeugung.126 Dies machte das Breslauer Jüdische Krankenhaus für zahlreiche Bewerberinnen attraktiv, die in den meisten Fällen eine allgemein caritative Motivation für den Krankenpflegeberuf angaben. Selbst bei Bewerbungen um die Aufnahme ins Jüdische Schwesternheim, was die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben voraussetzte, finden sich kaum Hinweise auf eine explizit religiöse Motivation. Ab 1933 bewirkte der radikale Antisemitismus der Nationalsozialisten eine von außen induzierte Stärkung der jüdischen Identität. Als nicht zur rassistisch fundierten „Volksgemeinschaft“ zugehörig, waren viele Juden auf die jüdisch-konfessionellen Institutionen zurückgeworfen und nahmen diese als einen Anker in einer Umwelt wahr, die ihnen immer Möglichkeiten der Partizipation entzog.127 Entsprechend nahm die Attraktivität der Krankenpflege124  Anonym (eigentlich Karla Wolff), Die Geschichte einer Krankenstation, in: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel e. V. 38 (1975); S. 15 f., S. 15. 125  Vgl. Wolff, Ich blieb zurück, S. 103. 126  Dies führt v. a. Hilde Steppe an. Vgl. Steppe, Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege, S.  140 f. 127  Wolf Gruner spricht von einer Zwangsgemeinschaft. Vgl. Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen. Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933–1941, in: VfZ 48 (2000), H. 1, S. 75–126, S. 106.



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berufe in den folgenden Jahren zu. Trotz der begrenzten materiellen Ressourcen versuchte das Jüdische Krankenhaus, sich dieser Entwicklung nicht entgegen zu stellen, sondern sie zu unterstützen. Am deutlichsten wurde dies bei der Zulassung von Männern zur Krankenpflegerausbildung. Dabei befand sich die Institution Krankenhaus ständig in einem latenten Zielkonflikt, denn es war den Beteiligten bewusst, dass die meisten Bewerbenden eine Auswanderung anstrebten und keine dauerhafte Anstellung. Gleichzeitig stieg der Bedarf an Pflegepersonal für die verbliebenden und vor allem älteren Gemeindemitglieder. Mit der brutalen Eskalation der antijüdischen Politik ab 1938, von der auch Beschäftigten des Krankenhauses direkt betroffen waren, und der dadurch ausgelösten noch stärkeren Emigration, kam es zu einer erzwungenen Entprofessionalisierung der Krankenpflege. Um den drängendsten Problemen bei der Betreuung begegnen zu können, griff man fortan auch auf freiwillige Helfer zurück. Das sich Bewerber relativ leicht finden ließen, die bereit waren, ohne Lohn zu arbeiten, verdeutlicht die Folgen der Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Wirtschaft. Es zeigt sich aber auch ein anderes psychologisch wichtiges Motiv, das sich auch in den Erinnerungen von Karla Wolff findet: Die Bewahrung von Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in einer restriktiv-repressiven Gesellschaft. Literatur Barkai, Avraham: Vom Boykott zur „Entjudung“. Der wirtschaftliche Existenzkampf der Juden im Dritten Reich 1933–1943, Frankfurt/Main 1987. Bergel, Hulda [eigentlich Hulda Koch], Was uns dringend noth thut, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 57 (1893), Nr. 7, S. 78–81. Bernet, Claus: „Ja-sagen zum Judentum“. Die Quäker und ihr Verhalten gegenüber den Juden in Deutschland von 1933 bis 1945, in: Daniel Heinz (Hg.), Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“. Instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld, Göttingen 2011, S. 35–64. Bundesarchiv (Hg.), Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945), http://www.bundes archiv.de/gedenkbuch/, abgerufen am 13. Juni 2020. Elkin, Rivka: Das jüdische Krankenhaus in Berlin zwischen 1938 und 1945, Berlin 1991. Essner, Cornelia: Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn 2002. Faludi, Christian (Hg.): Die „Juni-Aktion“ 1938. Eine Dokumentation zur Radikalisierung der Judenverfolgung, Frankfurt/Main New York 2013. Feldmann, Gustav: Der D. V. J. K. ist Vergangenheit und Zukunft, in: Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 26 (1920), Nr. 10, S. 313–317.

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Autorenverzeichnis Jan Brademann, Dr. phil., 2010 Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Mittlere und Neuere Geschichte), Landeskirchenarchivar der Evangelischen Landeskirche Anhalts, Forschungsschwerpunkt: Anhaltische Kirchen- und Religionsgeschichte. Helmut Bräutigam, M. A., Leiter des Historischen Archivs des Evangelischen Johannesstifts Berlin, Archivar bei der Berliner Stadtmission. Studium der Geschichtswissenschaft und evangelischen Theologie an der Freien Universität Berlin und der kirchlichen Hochschule Berlin. Publikationen und Ausstellungstätigkeit zur neueren deutschen Geschichte. Annett Büttner, M. A., Dr. phil., Historikerin und Archivarin, Geschichtsagentur Kaiserswerth und Lehrbeauftragte der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf, Schwerpunkte: Medizin- und Pflegegeschichte, Geschichte der konfessionellen sozialen Bewegungen. Norbert Friedrich, Dr. phil., Studium der Geschichtswissenschaft und Ev. Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, Promotion über Reinhard Mumm und die christlich-soziale Bewegung; Vorstand der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth, forscht über die Diakonie- und Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie über den sozialen Protestantismus mit einem kleinen Schwerpunkt auf dem Ruhrgebiet. Christoph Hanzig, M. A., Studium der Geschichte, Philosophie und Humanities an der TU Dresden, derzeit wissenschaftliche Hilfskraft am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, Forschungen und Veröffent­ lichungen zur Geschichte der NS-„Euthanasie“ und zur nationalsozialistischen Presse. Uwe Kaminsky, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre der Ev.-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte Zeitgeschichte, Sozialgeschichte und Diakoniegeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, besonders zur Geschichte der Eugenik und der NS„Euthanasie“. Elena Marie Elisabeth Kiesel, M. A., Studium der Europäischen Kulturgeschichte und Sozialwissenschaften; aktuelles Projekt: Provenienzforschung zu der Anhaltinischen Landesbücherei Dessau, der Stadtbibliothek Magdeburg und der Neuen Deutschen Rosenbibliothek Sangerhausen; Forschungsschwerpunkte: Protestantismus im Nationalsozialismus, Wohlfahrt und Medizin im Nationalsozialismus, NSProvenienzforschung, Freimaurerei in Mitteldeutschland. Manja Krausche, M. A. Studium der Geschichte, Interdisziplinäre Lateinamerikastudien, Romanistik in Rostock, Berlin, Granada. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DBU-Forschungsprojekt „Historische Gärten und Gesellschaft“ bei der Stiftung

372 Autorenverzeichnis Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG). Forschungen zur NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation sowie jüdischen Geschichte in Niederschlesien. Hagen Markwardt, M. A., Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Politikwissenschaft und Mittelalterlichen Geschichte, wissenschaftlicher Referent der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Fruzsina Müller, Dr. phil., Studium der Germanistik und Journalistik in Budapest/ Ungarn, Promotion zur Konsumgeschichte des sozialistischen Ungarns an der Universität Leipzig. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Leipziger Diakonissenhaus. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Krankenhaus- und Pflegegeschichte, Gender, Diakoniegeschichte in transnationaler Perspektive. Jürgen Nitsche, Dr. phil., Diplomgeschichtsstudium (1976–1981), Promotion an der Universität Jena (1985), freier Historiker, Autor und Kurator in Mittweida. Veröffentlichungen, Ausstellungen und wissenschaftliche Vorträge zur Geschichte der Juden und deren Verfolgung in der NS-Zeit, zu jüdischen Warenhäusern, über verfolgte Mediziner in der NS-Zeit und den nationalsozialistischen Krankenmord, biografische Forschungen zu Familien von Stefan Heym, Stephan Hermlin und Dieter Noll. Maik Schmerbauch, Dr. phil., Archivar, Lehrbeauftragter für (Kirchen-)Geschichte an den Universitäten Lüneburg und Hildesheim; Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Bistums Hildesheim im 19. und 20. Jahrhundert, Ordensgeschichte (v. a. Vinzentinerinnen), Archivwissenschaft (Archivgeschichte, Paläographie), Kirchengeschichte Schlesiens (Breslau, Kattowitz). Bettina Westfeld, M. A., Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Wirtschaftsund Sozialgeschichte und Philosophie an der TU Dresden, freie Historikerin, Forschungen und Veröffentlichungen zur politischen Strafjustiz in der SBZ/DDR und zur Geschichte der sächsischen Inneren Mission/Diakonie.