Wie sich die Vernunft im Humor zeigt. Beispiele aus der Kunst und dem gewöhnlichen Leben [1. ed.] 9783796546167, 9783796546174

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Wie sich die Vernunft im Humor zeigt. Beispiele aus der Kunst und dem gewöhnlichen Leben [1. ed.]
 9783796546167, 9783796546174

Table of contents :
Titel
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I: Humor in der Form der Kunst
1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik: Aristophanes’ Die Wolken (Νεφέλαι, Nephélai) aus dem Jahre 423 v. Chr.
Abschnitt 1. Einleitung
Abschnitt 2. Der griechische Originaltext, welcher der deutschen Übersetzung von Niklas Holzberg zugrunde liegt, und der griechische Originaltext, den ich beigezogen habe
Abschnitt 3. Gliederung und Kurzzusammenfassung (abstract) der Wolken
Abschnitt 4. Woher hat die Komödie Die Wolken ihren Namen?
Abschnitt 5. Zusammenfassung der Wolken (griechisch: Νεφέλαι, Nephélai)
Vorspiel (Verse 1‍–‍132)
Teil I. Strepsiades in der Schule des Sokrates (Verse 133‍–‍793)
TEIL II. Pheidippides in der Schule des Sokrates (Verse 794‍–‍1211)
Schluss (Schlussfolgerung, Conclusio; Verse 1212‍–‍1510)
a) Szene mit Strepsiades und zwei seiner Gläubiger
b) Szene mit Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides
Abschnitt 6. Fünf Bemerkungen zu den Wolken
a) Erste Bemerkung
b) Zweite Bemerkung
c) Dritte Bemerkung
d) Vierte Bemerkung: Was bedeutet Sittenzerfall?
e) Fünfte Bemerkung
2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie: Molières (Jean-Baptiste Poquelins) Tragikomödie Le Misanthrope. L'atrabilaire amoureux (1666)
Abschnitt 7. Textgrundlage
Abschnitt 8. Vorbemerkung zu den Aufführungen von Molières Tragikomödie Misanthrope im Jahre 1666
Abschnitt 9. Älteste Ausgabe der Tragikomödie Le Misanthrope. L'atrabilaire amoureux
Abschnitt 10. Zusammenfassung der Tragikomödie Le Misanthrope. L'atrabilaire amoureux
Erster Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt)
Erster Teil: Grundsätzliche Konfrontation der gegensätzlichen Geisteshaltungen von Alceste und Philinte (Verse 1‍–‍122)
Erste Zwischenbemerkung
Zweiter Teil (Verse 123‍–‍204): Diskussion des Alceste bevorstehenden Prozesses mit Oronte, dem Liebhaber von Célimène
Dritter Teil (Verse 205‍–‍249): Alcestes Liebe zu Célimène
Erster Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt)
Erster Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), fünfte Szene (fünfter Auftritt)
Zweiter Akt (Aufzug), sechste Szene (sechster Auftritt)
Dritter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt)
Dritter Akt (Aufzug), zweite und dritte Szene (zweiter und dritter Auftritt)
Dritter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt)
Dritter Akt (Aufzug), fünfte Szene (fünfter Auftritt)
Vierter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt)
Vierter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt)
Zweite Zwischenbemerkung
Vierter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt)
Vierter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt)
Fünfter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt)
Fünfter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt)
Fünfter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt)
Fünfter Akt (Aufzug), vierte (letzte) Szene (letzter Auftritt)
Abschnitt 11. Zwölf Bemerkungen zu Molières Tragikomödie Le Misanthrope
3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen (komischen) individuellen Menschentypus: Menander (342/341‍–‍291/290 v. Chr.), Dyskolos (Δύσκολος: Griesgram, Menschenfeind), aufgeführt in Athen im März 317 oder 316 v. Chr.
Abschnitt 13. Besondere Charaktere von Menanders Komödien
Abschnitt 14. Vorbemerkung
Abschnitt 15. In der Komödie auftretende sprechende Personen (in der Reihenfolge ihres Auftretens)
Abschnitt 16. Schauplatz der Handlung der Komödie
Abschnitt 17. Zusammenfassung der Komödie (insgesamt 969 Verse)
Erster Akt (Verse 1‍–‍232)
Zweiter Akt (Verse 233‍–‍426)
Dritter Akt (Verse 428‍–‍619)
Vierter Akt (Verse 620‍–‍792)
Fünfter Akt (Verse 784‍–‍969)
Abschnitt 18. Vier Bemerkungen zur Komödie Dyskolos
Erste Bemerkung
Zweite Bemerkung
Dritte Bemerkung
Vierte Bemerkung
Abschnitt 19. Anhang zur Komödie Dyskolos: Wilhelm Buschs menschenfeindliches Gedicht Der Einsame aus seiner letzten Gedichtsammlung Zu guter Letzt (1904)
Abschnitt 20. Bemerkung zu den beiden Komödien Wolken (Aristophanes) und Dyskolos (Menander)
4. Kapitel. Die Kunstgattungen der Komödie und der Tragödie als Eigenart der griechisch-europäischen Kultur (Abschnitt 21)
5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles, der Goethes Tragödie Faust zu einer Tragikomödie macht und der die Funktion hat, das Wesen des ethisch Schlechten zu charakterisieren
Abschnitt 22. Fünf Vorbemerkungen
Abschnitt 23. Mephistopheles als die Figur in Goethes Faust, die diese Tragödie zur Tragikomödie macht
Abschnitt 24. Erlösung des Teufels durch seine erotische Liebe
6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase (1836) als komische Kritik an einem Menschentypus, aber auch an der damaligen Administration des russischen Zarenreiches und an der damaligen Ärzteschaft
Abschnitt 25. Einleitung
Abschnitt 26. Zusammenfassung der Novelle Die Nase
Erster Teil. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch findet am 25. März in dem von seiner Frau gebackenen Brot die Nase des Kollegienassessors Kowalew, den er zwei Mal die Woche balbiert (S. 563–567 der zitierten Ausgabe)
Zweiter Teil. Major Kowalew stellt das Verschwinden seiner Nase aus seinem Gesicht fest (S. 567‍–‍590 der zitierten Ausgabe)
Dritter Teil. Platon Kowalew stellt am 7. April die Rückkehr seiner Nase in sein Gesicht fest (S. 590‍–‍593 der zitierten Ausgabe)
Abschnitt 27. Interpretation von Gogols Novelle Die Nase
7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor», Teil I: Geschichten und Gedichte von Wilhelm Busch (1832‍–‍1908)
Abschnitt 28. Gedicht im Voraus
Abschnitt 29. Biografie Wilhelm Buschs
Abschnitt 30. Die Hochzeitsreise von Georg I. C. Schmöck und der frommen Helene
Abschnitt 31. Eine Geschichte von Tobias Knopp und Dorothea Lickefett
Abschnitt 32. Buschs Gedicht Der Einsame und einige Bemerkungen dazu
8. Kapitel. Loriots Humor angesichts die Leerheit von Gesprächen
Abschnitt 33. Loriot (Bernhard-Victor Christoph- Carl von Bülow, kurz Vicco Bülow, 1923‍–‍2011): Bayreuther Pausengespräch
Abschnitt 34. Drei Bemerkungen zu Loriots Bayreuther Pausengespräch
Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben
1. Kapitel. Humor in der Funktion, sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor» Teil II: Kari Dällenbach (1877‍–‍1931)
Abschnitt 35. Biografie
Abschnitt 36. Der Humor von Kari Dällenbach
Abschnitt 37. Lied des Berner Mundartdichters, Sängers und Gitarrenspielers Mani Matter (1936‍–‍1972) über das Schicksal von Kari Dällenbach
2. Kapitel. Humor in der Funktion der politischen Kritik
Abschnitt 38. Humorvolle Kritik unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland, welche die Funktion hatte, eine hässliche Situation besser zu ertragen
Abschnitt 39. Humorvolle Kritik unter dem kommunistischen Regime in Polen
3. Kapitel: Humor in der Funktion der Kritik am übertriebenen Glauben an Autoritäten
Abschnitt 40. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die Autorität der Ärzte
Abschnitt 41. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die katholische Kirche
Abschnitt 42. Humorvolle Kritik an der übertriebenen Autorität wissenschaftlicher Theorien
4. Kapitel. Humorvolle Witze in der Funktion, eine verehrte, einem selbst sympathische Person zu karikieren
Abschnitt 43. Ruedi Minger, Bundesrat (Verteidigungsminister) der Schweiz (1881‍–‍1955)
Abschnitt 44. Friedrich August III., der letzte König von Sachsen
5. Kapitel. Humorvolle Anekdoten in der Funktion, eine respektierte Berufsgruppe zu karikieren. Die Berufsgruppe der Gelehrten und Philosophen
Abschnitt 45. Ein vergesslicher Gelehrter
Abschnitt 46. Vergessliche Professoren
Abschnitt 47. Edmund Husserl
Abschnitt 48. Joseph Dopp (1901–1978), Professor für Klassische Logik, moderne und zeitgenössische Philosophie am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Löwen
6. Kapitel: Humor in der Funktion, drei verschiedene Professoren gleichen Familiennamens zu unterscheiden, die an derselben Univerität unterrichteten (Abschnitt 49).
7. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um die Berufsgruppe der schweizerischen Bundesbeamten zu karikieren (Abschnitt 50)
8. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um verschiedene Völker oder Volksgruppen zu karikieren
Abschnitt 51. Deutsche, Franzosen und Engländer
Abschnitt 52. Die Preussen und die Wiener
Abschnitt 53. Die Deutschen
Abschnitt 54. Die schnellen Zürcher und die langsamen Berner
9. Kapitel. Humor in der Funktion, sich Respekt zu verschaffen (Abschnitt 55)
10. Kapitel. Humor als Erheiterung des Zusammenlebens mit dem Ehepartner (Abschnitt 56)
11. Kapitel. Einen anderen der Familie zum Narren halten, sodass auch der Genarrte lacht (Abschnitt 57)
12. Kapitel. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten und bei Wortspielen zur Belustigung der Gemüter
Abschnitt 58. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten
Abschnitt 59. Humor, zum Teil kritischer Art, bei Wortspielen und Sprachübersetzungen (sechs Beispiele)
Abschnitt 60. Humor im Spiel mit der phonetischen Ähnlichkeit von Wörtern mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen
Abschnitt 61. Humoristische Wortdefinitionen
13. Kapitel. Humor, um die Gebrechen des Alters erträglicher zu machen (Abschnitt 62)
14. Kapitel. Humorvolle Kinderlieder
Abschnitt 63. Kinderlied als Kritik am immer Unzufriedenen
Abschnitt 64. Humorvolles Bubenlied, genannt Lumpeliedli (Lumpenliedchen), zur Belustigung der Singenden
15. Kapitel. Von Menschen mit Humor verstandene Situationen in ihrem Verhältnis zu Tieren
Abschnitt 65. Die Hausrotschwänze
Abschnitt 66. Der Steinbock
Abschnitt 67. Der Beo
Abschnitt 68. Der Papagei
16. Kapitel. Humor über christlichen Missionseifer
Abschnitt 69. Gerardo Molina Ortiz: Der junge Missionar und der Löwe
17. Kapitel. Sigmund Freud über Humor
Abschnitt 70. Einiges aus Sigmund Freunds kurzer Abhandlung Der Humor
Abschnitt 71. Vier Bemerkungen zu Sigmund Freuds kurzer Abhandlung Der Humor
Sechzehn Charakterisierungen des Humors und seiner Funktionen
Anhang I. Das Leben von Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, geboren am 15. Januar 1622, gestorben 51-jährig am 17. Februar 1673
Anhang II. Die Überlieferungsgeschichte von Menanders Komödien
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Iso Kern

Wie sich die Vernunft im Humor zeigt Beispiele aus der Kunst und dem gewöhnlichen Leben

Schwabe Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Korrektorat: Anna Ertel, Göttingen Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, Zunder & Stroh, Oldenburg Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4616-7 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4617-4 DOI 10.24894/978-3-7965-4617-4 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. [email protected] www.schwabe.ch

Meinem Freund seit unserer Zeit im Gymnasium (1952–1956) Konrad Eugster und seiner Gattin Catherine gewidmet

Was kümmert mich das Alter, Was kümmert mich der Föhn. Das Leben mag es sein wie’s will, Das Leben ist so schön. (Cuno Amiet, 1868–1961, Kunstmaler; Gedicht geschrieben 1950, mit 82 Jahren)

The only absolute thing in a world like ours is humour (Albert Einstein)

Inhalt

Vorwort

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13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Teil I: Humor in der Form der Kunst 1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik: Aristophanes’ Die Wolken (Νεφέλαι, Nephélai ) aus dem Jahre 423 v. Chr. . . . . . . . .

22

Abschnitt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Abschnitt 2. Der griechische Originaltext, welcher der deutschen Übersetzung von Niklas Holzberg zugrunde liegt, und der griechische Originaltext, den ich beigezogen habe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Abschnitt 3. Gliederung und Kurzzusammenfassung (abstract) der Wolken

25

Abschnitt 4. Woher hat die Komödie Die Wolken ihren Namen?

........

26

Abschnitt 5. Zusammenfassung der Wolken (griechisch: Νεφέλαι, Nephélai) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 6. Fünf Bemerkungen zu den Wolken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie: Molières (Jean-Baptiste Poquelins) Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux (1666) . . . .

54

Abschnitt 7. Textgrundlage

........................................

54

Abschnitt 8. Vorbemerkung zu den Aufführungen von Molières Tragikomödie Misanthrope im Jahre 1666 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 9. Älteste Ausgabe der Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abschnitt 10. Zusammenfassung der Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Abschnitt 11. Zwölf Bemerkungen zu Molières Tragikomödie Le Misanthrope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen (komischen) individuellen Menschentypus: Menander (342/341–291/290 v. Chr.), Dyskolos (Δύσκολος: Griesgram, Menschenfeind), aufgeführt in Athen im März 317 oder 316 v. Chr.

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102

Abschnitt 13. Besondere Charaktere von Menanders Komödien . . . . . . . . . . 102 Abschnitt 14. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Abschnitt 15. In der Komödie auftretende sprechende Personen (in der Reihenfolge ihres Auftretens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abschnitt 16. Schauplatz der Handlung der Komödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Abschnitt 17. Zusammenfassung der Komödie (insgesamt 969 Verse) . . . . 105 Abschnitt 18. Vier Bemerkungen zur Komödie Dyskolos . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Abschnitt 19. Anhang zur Komödie Dyskolos: Wilhelm Buschs menschenfeindliches Gedicht Der Einsame aus seiner letzten Gedichtsammlung Zu guter Letzt (1904) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Abschnitt 20. Bemerkung zu den beiden Komödien Wolken (Aristophanes) und Dyskolos (Menander) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4. Kapitel. Die Kunstgattungen der Komödie und der Tragödie als Eigenart der griechisch-europäischen Kultur (Abschnitt 21) . . . . . . 123 5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles, der Goethes Tragödie Faust zu einer Tragikomödie macht und der die Funktion hat, das Wesen des ethisch Schlechten zu charakterisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abschnitt 22. Fünf Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Abschnitt 23. Mephistopheles als die Figur in Goethes Faust, die diese Tragödie zur Tragikomödie macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Abschnitt 24. Erlösung des Teufels durch seine erotische Liebe . . . . . . . . . . 129

Inhalt

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase (1836) als komische Kritik an einem Menschentypus, aber auch an der damaligen Administration des russischen Zarenreiches und an der damaligen Ärzteschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Abschnitt 25. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Abschnitt 26. Zusammenfassung der Novelle Die Nase . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Abschnitt 27. Interpretation von Gogols Novelle Die Nase . . . . . . . . . . . . . . 141 7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor», Teil I: Geschichten und Gedichte von Wilhelm Busch (1832–1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Abschnitt 28. Gedicht im Voraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Abschnitt 29. Biografie Wilhelm Buschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Abschnitt 30. Die Hochzeitsreise von Georg I. C. Schmöck und der frommen Helene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Abschnitt 31. Eine Geschichte von Tobias Knopp und Dorothea Lickefett . . 148 Abschnitt 32. Buschs Gedicht Der Einsame und einige Bemerkungen dazu

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8. Kapitel. Loriots Humor angesichts die Leerheit von Gesprächen

153

Abschnitt 33. Loriot (Bernhard-Victor Christoph- Carl von Bülow, kurz Vicco Bülow, 1923–2011): Bayreuther Pausengespräch . . . . . . . . . . . . 153 Abschnitt 34. Drei Bemerkungen zu Loriots Bayreuther Pausengespräch . . 153 Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben 1. Kapitel. Humor in der Funktion, sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor» Teil II: Kari Dällenbach (1877–1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abschnitt 35. Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Abschnitt 36. Der Humor von Kari Dällenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Abschnitt 37. Lied des Berner Mundartdichters, Sängers und Gitarrenspielers Mani Matter (1936–1972) über das Schicksal von Kari Dällenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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Inhalt

2. Kapitel. Humor in der Funktion der politischen Kritik . . . . . . . . . . 159 Abschnitt 38. Humorvolle Kritik unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland, welche die Funktion hatte, eine hässliche Situation besser zu ertragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Abschnitt 39. Humorvolle Kritik unter dem kommunistischen Regime in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Kapitel: Humor in der Funktion der Kritik am übertriebenen Glauben an Autoritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abschnitt 40. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die Autorität der Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abschnitt 41. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Abschnitt 42. Humorvolle Kritik an der übertriebenen Autorität wissenschaftlicher Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Kapitel. Humorvolle Witze in der Funktion, eine verehrte, einem selbst sympathische Person zu karikieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abschnitt 43. Ruedi Minger, Bundesrat (Verteidigungsminister) der Schweiz (1881–1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Abschnitt 44. Friedrich August III., der letzte König von Sachsen . . . . . . . . 163 5. Kapitel. Humorvolle Anekdoten in der Funktion, eine respektierte Berufsgruppe zu karikieren. Die Berufsgruppe der Gelehrten und Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Abschnitt 45. Ein vergesslicher Gelehrter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Abschnitt 46. Vergessliche Professoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Abschnitt 47. Edmund Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abschnitt 48. Joseph Dopp (1901–1978), Professor für Klassische Logik, moderne und zeitgenössische Philosophie am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Löwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6. Kapitel: Humor in der Funktion, drei verschiedene Professoren gleichen Familiennamens zu unterscheiden, die an derselben Univerität unterrichteten (Abschnitt 49). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Inhalt

7. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um die Berufsgruppe der schweizerischen Bundesbeamten zu karikieren (Abschnitt 50) . . . . 168 8. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um verschiedene Völker oder Volksgruppen zu karikieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abschnitt 51. Deutsche, Franzosen und Engländer Abschnitt 52. Die Preussen und die Wiener

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Abschnitt 53. Die Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abschnitt 54. Die schnellen Zürcher und die langsamen Berner . . . . . . . . . . 170 9. Kapitel. Humor in der Funktion, sich Respekt zu verschaffen (Abschnitt 55) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 10. Kapitel. Humor als Erheiterung des Zusammenlebens mit dem Ehepartner (Abschnitt 56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 11. Kapitel. Einen anderen der Familie zum Narren halten, sodass auch der Genarrte lacht (Abschnitt 57) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 12. Kapitel. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten und bei Wortspielen zur Belustigung der Gemüter . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Abschnitt 58. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten . . . . . . 175 Abschnitt 59. Humor, zum Teil kritischer Art, bei Wortspielen und Sprachübersetzungen (sechs Beispiele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Abschnitt 60. Humor im Spiel mit der phonetischen Ähnlichkeit von Wörtern mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Abschnitt 61. Humoristische Wortdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 13. Kapitel. Humor, um die Gebrechen des Alters erträglicher zu machen (Abschnitt 62) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 14. Kapitel. Humorvolle Kinderlieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abschnitt 63. Kinderlied als Kritik am immer Unzufriedenen . . . . . . . . . . . . 179 Abschnitt 64. Humorvolles Bubenlied, genannt Lumpeliedli (Lumpenliedchen), zur Belustigung der Singenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Inhalt

15. Kapitel. Von Menschen mit Humor verstandene Situationen in ihrem Verhältnis zu Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abschnitt 65. Die Hausrotschwänze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abschnitt 66. Der Steinbock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Abschnitt 67. Der Beo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Abschnitt 68. Der Papagei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 16. Kapitel. Humor über christlichen Missionseifer

. . . . . . . . . . . . . . 183

Abschnitt 69. Gerardo Molina Ortiz: Der junge Missionar und der Löwe . . 183 17. Kapitel. Sigmund Freud über Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Abschnitt 70. Einiges aus Sigmund Freunds kurzer Abhandlung Der Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Abschnitt 71. Vier Bemerkungen zu Sigmund Freuds kurzer Abhandlung Der Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Sechzehn Charakterisierungen des Humors und seiner Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Anhang I. Das Leben von Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, geboren am 15. Januar 1622, gestorben 51-jährig am 17. Februar 1673 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Anhang II. Die Überlieferungsgeschichte von Menanders Komödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Vorwort

An erster Stelle in diesem Vorwort möchte ich danken: meinem Freund Konrad Eugster und seiner Frau Catherine dafür, dass sie mich auf den Komödiendichter Menander aufmerksam gemacht haben, um den ich zuvor nicht wusste. Ebenso danke ich Herrn Arnd Kerkhecker, Professor für Altphilologie (Altgriechisch, Latein) an der Universität Bern, und zwar für die Gespräche, die ich mit ihm über die altgriechischen Komödien und Tragödien und ihre Aufführungspraxis führen durfte. Als ich das unterdessen erschienene Buch Was ist Vernunft?1 entwarf, hatte ich vor, einen dritten und letzten Teil über Humor zu schreiben. Denn ohne Zweifel haben nur vernünftige Wesen, Menschen, Humor (wenn auch nicht alle Menschen). Tiere haben keinen Humor, man spricht ja auch vom «tierischen Ernst». Humor äussert sich in der menschlich-logischen Sprache und z. B. auch in der Musik. Tiere haben keine menschlich logische Sprache und komponieren keine Musik. Doch sah ich bald ein, dass ein Teil über Humor jenes Buch nicht nur zu umfangreich hätte werden lassen, sondern auch zu unterschiedliche Fragen und Erörterungen umfasst hätte. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, über Humor ein besonderes, kleines Buch zu schreiben. Ich schrieb im Vorwort jenes Buches über Vernunft: Ursprünglich plante ich noch einen dritten Teil mit dem Titel: ‹Was ist Humor? Humor als vernünftige Erhebung über den Ernst des Lebens›. Doch beim Schreiben sah ich, dass dies meine jetzige Untersuchung […] ins Uferlose bringen würde, und habe von ihm abgesehen. Wenn Gott will, werde ich versuchen, darüber ein eigenes Buch zu schreiben, ich hoffe eines, das zum Lachen Anlass geben wird.2

Das nun vorliegende kleine Buch über Humor muss also im Zusammenhang mit der Frage «Was ist Vernunft?» gelesen werden, also als Ergänzung zu jenem im Dezember 2021 erschienenen Buch. Ein Buch über Humor muss kurz sein, denn auf die Dauer wird Humor unerträglich, so erheiternd, wohltuend und wichtig er im menschlichen Leben auch sein kann. Humor ist in sehr verschiedenen Kulturbereichen zu finden, z. B. in der sprachlosen Musik von Mozart oder in den Ouvertüren von Giacomo Rossini. In 1 2

Was ist Vernunft?, Schwabe Verlag, Basel 2022. Was ist Vernunft?, Schwabe Verlag, Basel, S. 19.

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Vorwort

wortlosen Zeichnungen wie etwa im Buch Rien n’est simple des Franzosen Sempé oder in Zeitungskarikaturen, die zwar manchmal einige Wörter enthalten mögen, die aber in ihrer humoristischen Bedeutung nicht ohne die Zeichnung verständlich sind. Humorvolle Opern enthalten zwar humorvolle Sprache, der Humor wird aber durch die humorvolle Musik verstärkt, wie ein grosser Teil der Opern Mozarts oder die Opernkomödie Falstaff von Giuseppe Verdi. Doch in den folgenden Ausführungen über Humor kann selbstverständlich nur der Humor in der Rede oder in Liedern oder eventuell in Opern zur Sprache kommen. So habe ich mir überlegt, ob ich in einem Kapitel dieses Buches nicht auch Mozarts komische Oper Così fan tutte (So machen es alle [Frauen]) darstellen könnte, die am 26. Januar 1790 in Wien uraufgeführt wurde. Für diese komische Oper schrieb der italienische, zu Mozarts Wiener Zeit in Wien lebende katholische Priester Lorenzo Da Ponte (1749–1838) das Libretto, wie er auch die Libretti für Mozarts komische Oper Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro; Uraufführung in Wien am 1. Mai 1786) und das heitere Drama Don Giovanni (Uraufführung in Prag am 29. Oktober 1789) geschrieben hatte. Così fan tutte ist die letzte Oper dieser Trias. Doch diese Libretti sind nur das Fundament für Mozarts Musik, ähnlich dem Fundament eines Hauses. Zwar kann ein Haus ohne Fundament nicht bestehen, aber was das Haus als ein Gebäude mit bewohnbaren Räumen ausmacht (ein Haus ist zum Wohnen da), ist nicht das Fundament. Da ich aber die heitere, den Hörer zum Lachen bringende Musik Mozarts mit Worten nicht wiedergeben kann, habe ich diesen Gedanken fallengelassen. Es kommt ja auch keinem in den Sinn, das Libretto Da Pontes für Mozarts Oper Così fan tutte ohne die Musik Mozarts aufzuführen. Beim Humor geht es immer um den Menschen. Es gibt keinen Humor über Tiere; es sei denn, es geht um von einem Menschen gezeichnete oder sonst wie als sinnlich wahrnehmbar gestaltete Tiere, die wie Menschen sprechen, also eigentlich Menschen in Tiergestalt sind. Auch zu Gott oder über Gott spricht man nicht mit Humor, es sei denn, man ist der Teufel. Nach einem berühmten, fast heiligen Buch, dessen Autor mir bislang keine Erlaubnis gab, ihn zu nennen, sagt der Teufel in der Gesellschaft der Erzengel Raphael, Gabriel und Michael im Himmel zu Gott: Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen, Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt; Mein Pathos brächte dich gewiss zum Lachen, Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt. (Verse 275–278)

Und am Schluss des «Prologs im Himmel», nachdem die Erzengel abgezogen sind und der Himmel geschlossen worden ist, sagt er, allein gelassen, über Gott: Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern Und hüte mich mit ihm zu brechen.

Vorwort

Es ist gar hübsch von einem grossen Herrn, So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen. (Verse 350–353)

Was dieses kleine Buch über Humor auszeichnet, ist auch die enorm lange Zeitspanne, die es umgreift, nämlich von Aristophanes’ Wolken (aufgeführt 423 v. Chr.) bis zu unserer Gegenwart, also etwa 2400 Jahre. Humor gibt es, seitdem es Menschen gibt, also noch viel länger, nur wissen wir, soweit mir bekannt ist, erst seit 2400 Jahren davon, was in Beziehung zur Existenz des Menschen auf unserem Planeten eine enorm kurze Zeitspanne ist. Dieses Buch über Humor sollte man nicht in einem Zug lesen, sonst vergeht einem das Lachen. Denn Humor, in zu grossen Mengen und zu lang genossen, wird langweilig. Man braucht es auch nicht von vorn nach hinten zu lesen, sondern kann nach dem Inhaltsverzeichnis dasjenige der 23 Kapitel oder denjenigen der 65 Abschnitte auswählen, das oder der einen gerade interessiert. Zwar gibt es Zusammenhänge zwischen den Kapiteln und Abschnitten: Zum Beispiel handeln das zweite und dritte Kapitel beide über dasselbe Thema: das zweite über Molières Komödie Le Misanthrope (Der Menschenfeind), das dritte Kapitel über Menanders Komödie Dyskolos (Der Menschenfeind). Aber Molière nimmt nirgends Bezug auf Menanders Komödie, obschon er wahrscheinlich vermittelt über den altrömischen Komödiendichter und lateinisch schreibenden Plautus (vor 250 bis 184 v. Chr.) von ihr wusste. Der Zusammenhang des ersten Teils besteht darin, dass alle in ihm vorkommenden Texte Kunstformen des Humors sind, während der zweite Teil vom alltäglichen Humor handelt. Ich hoff’, dass dieses Buch zum Lachen bringt, Zum Lachen, über was ich schrieb. Auch lachen darf man über mich, Wenn lächerlich ich mich gemacht.

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Einleitung

Sprachlicher Humor ist eine Art Umgang mit anderen und mit sich selbst, dessen nur der mit Vernunft begabte Mensch fähig ist. Er enthält eine absichtliche Vieldeutigkeit oder Doppelbödigkeit oder absichtliche Übertreibungen, die nur der Mensch versteht. Bloss sinnliche Wesen, Tiere, sind des Humors nicht fähig. Selbst Menschenkinder bis zu einem gewissen Alter, ich vermute bis zu ungefähr vier Jahren, können Humor nicht verstehen. Denn ein humorvoller Satz meint manchmal das Gegenteil von dem, was er sagt. Dreijährige Kinder vermögen einen solchen Satz nicht in ihr Verstehen einzuordnen. Doch im Alter von vier Jahren verstehen sie unter anderem, dass sie etwas wissen, was andere nicht wissen können, oder werden der Lüge fähig. Dies wurde von empirischen Psychologen herausgefunden. Diese haben aber nicht untersucht, von welchem Alter an Kinder Humor verstehen.3 Dies dürfte auch schwieriger zu untersuchen sein. In den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stellten Psychologen wie M. J. Chandler und M. Boyes, J. H. Flavell, H. M. Wellmann, H. Wimmer, J. Perner und A. Gropnik in der geistigen Entwicklung von Kindern im Alter von ungefähr vier Jahren eine radikale Umwandlung fest. Diese radikale Umwandlung wurde als das «Erscheinen einer neuen Dimension» in der Entwicklung des menschlichen Kindes charakterisiert und umfasst das Auftreten folgender sechs Leistungen: 1. Kinder ab diesem Alter verstehen, dass andere Personen aufgrund von falschen Informationen oder eines Mangels an Informationen eine falsche Meinung (false belief) über eine gewisse Situation haben können, über welche diese Kinder selbst informiert sind. Diese Kinder sind aber nicht fähig, sich zu erinnern, dass sie, bevor sie über diese Situation informiert wurden, selbst über diese Situation eine falsche Meinung hatten. 2. Diese Kinder sind fähig zu verstehen, dass andere Personen durch falsche (täuschende) Erscheinungen (false appearances) von Dingen irregeführt werden können, wenn diese Personen noch keine Gelegenheit hatten, ihre Täuschung korrigierende Erfahrungen zu machen, welche diese Kinder zuvor selbst gemacht haben. 3. Gleichzeitig mit dem Verstehen, dass die Meinungen über etwas bei ihnen und anderen Personen verschieden sein können, tritt bei den Kindern dieses kritischen Alters um vier Jahre die Fähigkeit auf, die Meinungen anderer zu manipulieren, d. h. sie absichtlich zu täuschen und so zu lügen. 4. Kinder in diesem Alter beginnen auch zu erkennen, dass andere Menschen gewisse Dinge nicht wissen können, weil ihnen die dazu notwendigen Informationen fehlen. Kindern vor diesem Alter ist die Frage, warum jemand etwas weiss oder nicht weiss, unverständlich. Doch mit etwa vier Jahren beginnen sie selbst zu fragen, warum und woher jemand etwas weiss. Sie unterscheiden auch zwischen zufälligem Erraten, warum etwas so ist, wie es ist, und wirklicher Erkenntnis. 5. Gleichzeitig beginnen diese Kinder zu verstehen, dass sie selbst und andere Menschen dieselben Dinge aus verschiedenen 3

Einleitung

Denn es gibt auch Erwachsene, die keinen Humor verstehen, und man kommt bei ihnen schlecht an, wenn man zu ihnen mit Humor spricht. Ich erinnere mich noch an die Freude, welche ich verspürte, als ich vor vielen Jahren meine Frau kennenlernte und merkte, dass sie Humor versteht. Für mich wäre es schwierig, mit einem Menschen zusammenzuleben, der keinen Sinn für Humor hat. Er scheint mir das Salz des Zusammenlebens zu sein. Wenn z. B. bei einem Streit der eine den anderen mit Humor zum Lachen bringt, ist der Streit schon auf dem Weg zur Versöhnung. Aber natürlich, man lebt nicht vom Salz allein. Was versteht man unter «Humor»? Wenn man etwas lustig findet und darüber lachen muss, würde ich dies nicht schon als Humor bezeichnen. Etwas lustig finden, das tun Kinder schon in einem früheren Alter, schon bevor sie drei sind. Ich erinnere mich, dass ich einmal im Sommer, einige Monate bevor ich drei Jahre alt war, es lustig fand, als ich in einem Kuhstall, der vor dem Hause meiner Grosstante stand, keine Kühe, sondern ein Pferd entdeckte. Ich sprang daraufhin um den Brunnen vor dem Kuhstall herum und lachte aus vollem Hals. Als meine Grosstante, die mich hörte, oben am offenen Fenster ihrer Wohnung erschien und mich fragte, warum ich so lache, schrie ich nur: «Im Kuhstall ist ein Ross, im Kuhstall ist ein Ross!» Im Gegensatz zu diesem Etwas-lustig-Finden gehört zum Humor ein Tun, sei es nun ein humorvolles Sprechen, Zeichnen, Singen oder Schauspielen. Allgemein kann von einem humorvollen Satz auch gesagt werden, dass er etwas mit etwas Unerwartetem verbindet, eine komische Kombination herstellt. Ein Beispiel: Ein Lehrer sagte in der Schule, dass die Natur ausgleichend sei und dass z. B. jemand, der schlecht oder gar nicht sehe, dafür besser höre oder jemand, der nicht sportlich begabt sei, dafür ein Talent zum Dichten habe. Und er fragte seine Schüler, ob sie auch ein Beispiel für einen solchen Ausgleich der Natur wüssten. Da streckte ein Schüler seine Hand in die Höhe und antwortete: «Meine Tante hat ein kurzes Bein, dafür ist das andere länger.» Eine solche Antwort hatte der Lehrer nicht erwartet. Wenn er Humor hatte, wird er darüber ge«Perspektiven» wahrnehmen und beurteilen. Sie beginnen z. B. zu verstehen, dass jemand, der mit verbundenen Augen einen Ball mit seinen Händen und Fingern nur ertastet, wissen kann, ob er weich oder hart ist, aber nicht wissen kann, welche Farbe er hat; oder ein Kind dieses Alters beginnt zu verstehen, dass ein ihm gegenübersitzendes Kind eine Schildkröte, die auf ein zwischen ihnen auf dem Tisch liegendes Blatt gezeichnet wurde, mit dem Kopf nach unten sieht, während es selbst dieses Tier mit dem Kopf nach oben sieht. 6. Kinder in diesem Alter beginnen auch zwischen Wirklichkeit und blossem Schein zu unterscheiden; sie beginnen z. B. zu verstehen, dass ein leichter und weicher Schwamm, der wie ein harter und schwerer Stein aussieht, von jemand anderem, der diesen Schwamm nur gesehen und nicht in den Händen gehabt hat, als Stein und nicht als Schwamm wahrgenommen (aufgefasst) wird (siehe Iso Kern und Eduard Marbach, «Understanding the Representational Mind. A Prerequisite for Intersubjectivity Proper», in: Journal of Conscious Studies, vol. 8, No. 5–7 [2001], S. 69–82).

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Einleitung

lacht haben. Aber nicht alle unerwarteten Kombinationen sind humorvoll; und wenn sie es sind, sind sie nicht immer humorvoll für alle. Allgemein gilt auch, dass Humor nicht böse ist. Ansonsten wird er zum Sarkasmus oder zum Zynismus. Im Chinesischen wird das Wort Humor mit youmo, 幽默, übersetzt, ist also ein Fremdwort. Haben denn die Chinesen kein eigenes Wort für Humor? Die heutigen Chinesen gebrauchen auch das Wort gao xiao, 搞笑, was genau übersetzt Witze machen bedeutet, also nur einen Aspekt des Humors abdeckt. Das deutsche Wort Humor, das englische Wort humour und das niederländische Wort humeur stammen aus dem Lateinischen, nämlich von umor oder humor. Haben denn die germanischen Völker kein eigenes Wort für Humor? Das lateinische umor oder humor bedeutet Flüssigkeit, besonders die Flüssigkeit des Gottes Bacchus (Dionysos), also Wein. Die Komödien wurden bei den Dionysien aufgeführt. Offenbar macht der Wein humorvoll, auf alle Fälle «erhebt er über den Ernst und die Schwere des alltäglichen Lebens». Das lateinische Wort umor oder humor stammt vom griechischen Wort χυμός oder χυλός, was ebenfalls Saft bedeutet, besonders aber den Saft der Traube bezeichnet, den Saft des Gottes Dionysos, den Wein. Alle mir bekannten Worte für Humor scheinen also aus dem Altgriechischen zu stammen. Aber es kann ja nicht sein, dass nur die alten Griechen Humor hatten. Zum Humor gehört auch die Ironie, ein Wort, das ebenfalls aus dem Altgriechischen stammt. Aber nicht jeder Humor ist Ironie. Der Romantiker Friedrich Schlegel (1772–1829) verstand die Selbstironie als eine geistige Überlegenheit, besonders des schöpferischen Menschen, der im Widrigen und Angenehmen des Lebens frei spielend die Herrschaft über das Materielle und die Gefühle zu gewinnen sucht. Ironie gegenüber anderen, in der Sokrates ein Meister war, kann darin bestehen, dass man jemanden mit dem Gegenteil dessen betitelt, was man von ihm hält, so wie z. B. Sokrates einen Sophisten, also Weisen oder Wissenden, als Weisen ansprach, obschon er ihn aufgrund seiner gründlichen Befragung über etwas für unwissend hielt. Wie mir ein Altphilologe (Gräzist) sagte, ist das griechische Wort Ironie (εἰρωνεία, eironia), das mit «Verstellung» übersetzt wird, etymologisch mit dem Wort εἰρήνη (eirene) verwandt, das Frieden bedeutet, sodass Ironie gegenüber anderen eine friedliche Kritik oder Ablehnung wäre. Doch Ironie kann auch zynisch werden und den anderen verletzen. Dann ist sie nicht friedlich und ethisch abzulehnen. Es gibt auch Selbstironie, eine Art der Distanznahme zu sich selbst (ein Sich-über-sich-selbst-Erheben), die es ermöglicht, sich in seiner wahren Kleinheit zu sehen, ja Bedeutungslosigkeit gegenüber allem, was an Wichtigem in der Menschenwelt und im Universum im Lauf der Zeit geschah und noch geschieht.

Einleitung

Viele wissen, was Humor ist, aber wenn sie sagen sollen, was Humor ist, wissen sie es nicht. So geht es auch mir. Ich kann nicht sagen oder schreiben, was Humor ist. Dennoch war es für mich wichtig, die Frage zu stellen: «Was ist Humor?», denn erst durch diese Fragestellung weiss ich, dass ich nicht weiss, was Humor ist. Ich versuchte zuerst, Humor folgendermassen zu definieren: Humor ist eine vernünftige zeitweise Befreiung vom Ernst und der Widerwärtigkeit des Lebens, ohne diese zu vergessen. Doch dies ist keine ausreichende Definition des Humors, denn sie gilt auch vom Spiel, z. B. dem Musikspiel. Ich meine sogar sagen zu können, dass Humor eine Art von Spiel sei. Aber Humor hat nicht dieselben Funktionen wie das Spiel. Goethe schrieb am 31. Januar 1798 an Schiller: «Der Humor, selbst ohne poetisch zu sein, ist eine Art von Poesie und erhebt uns seiner Natur nach über den Gegenstand.»4 Das scheint mir zu stimmen, aber es scheint ungefähr dasselbe zu sagen wie dass der Humor eine Befreiung vom Ernst und der Widerwärtigkeit des Lebens sei. Goethe schrieb aber auch über die Grenzen des Humors: «Der Humor ist eins der Elemente des Genies, aber sobald er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben: er begleitet die abnehmende Kunst, zerstört, vernichtet sie zuletzt.»5 Ich verstehe diesen Satz verallgemeinert so: «Der Humor ist eins der Elemente des Genies, aber sobald er vorwaltet, ist er nur ein Surrogat des Genies: er begleitet das abnehmende Handeln im Ernst des Lebens, zerstört, vernichtet es zuletzt.» Oder anders ausgedrückt: Wer im Leben nur spielt, verspielt es: wer im Leben nur scherzt, verscherzt es. Man kann sagen: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Das stimmt vielleicht, ist aber, um wirklich verstanden zu werden, mit Beispielen zu illustrieren; und dann sieht man, dass es nur für den Galgenhumor zutrifft. Aber das ist nicht der einzige Humor. Vielleicht kann man nur an Beispielen verstehen, was Humor ist, und wenn man seine verschiedenen Funktionen und Formen erörtert. Humor kommt im menschlichen Leben überall vor: im alltäglichen Leben, in der Politik, in der Charakterisierung eines Volkes im Vergleich mit anderen, in der Beschreibung gewisser Berufsgruppen, ausserordentlicher Personen usw. Ich beginne meine Darstellung mit einer Kunstform des Humors, mit einer antiken griechischen Komödie, und lasse ihr die Komödie (Tragikomödie) Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux (Der Menschenfeind. Der verliebte Melancholiker, 1666) des Franzosen Molière folgen. Soviel ich weiss, gibt es keine wirklich bedeutenden deutschen Komödien, auch keine englischen, wohl aber italienische. Ist die Komödie eine Spezialität der griechisch-lateinischen Welt? Ohne Zweifel Johann Wolfgang Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 18. August 1949, herausgegeben von Ernst Beutler, Band 20: Briefwechsel mit Friedrich Schiller, Artemis Verlag, 2. Auflage Zürich und Stuttgart 1964, S. 513. 5 Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen, § 63. 4

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Einleitung

haben auch die Deutschen Humor, aber nach meiner aufs Ganze gesehen belanglosen Erfahrung (ich lebte sieben Jahre in Heidelberg) haben sie davon weniger als die Franzosen oder Italiener. Doch gibt es sehr unterschiedliche Deutsche. Die Kölner haben im Durchschnitt mehr Humor als die Schwaben. Aus Köln stammt die Aussage: «Wer am Abend müde ist, ist selber schuld.»

Teil I: Humor in der Form der Kunst

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik: Aristophanes’ Die Wolken (Νεφέλαι, Nephélai ) aus dem Jahre 423 v. Chr.6

Abschnitt 1. Einleitung Komödien wurden in Athen jedes Jahr im Frühling zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt. Von Aristophanes sind elf Komödien vollständig erhalten. Ich wähle daraus Die Wolken, erstens, weil in ihr Sokrates, der Begründer der europäischen Philosophie, in prominenter Weise vorkommt, zweitens, weil der historische Sokrates am Anfang seiner von Platon mehr oder weniger genau festgehaltenen Apologie (Verteidigungsrede vor Gericht) selbst auf Die Wolken Bezug nimmt, und drittens, weil ich selbst in besonderem Masse an der geistigen Gestalt von Sokrates interessiert bin; über ihn habe ich auch publiziert und darin Die Wolken des Aristophanes erwähnt.7 Ich schrieb in dieser Publikation über Die Wolken auch den Satz: «Sokrates dient in dieser Komödie als Beispiel für Intellektuelle, über die sich Aristophanes lustig macht.»8 An diesem Satz halte ich auch jetzt noch fest. Obschon Sokrates neben seinem Freund Chairephon der einzige Intellektuelle ist, der in dieser Komödie mit Namen genannt wird, richtet sie sich unter diesem Namen nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen seine Gegner, nämlich die Sophisten (die σοφισταί, was die «Gelehrten, Weisen, Lehrer der Weisheit» bedeutet) und vor allem die Physiologen, die Naturkundigen, von denen sich Sokrates schon als junger Mann abgewandt hatte und Philosoph (Liebhaber der Weisheit) wurde. Dass mit dem Sokrates der Wolken nicht der Der Text der Wolken von Aristophanes, den ich meinen folgenden Ausführungen zugrunde lege, ist die deutsche Übersetzung von Niklas Holzberg (geboren 1946, Professor an der Universität München), erschienen 2014 im Verlag Reclam (ohne den altgriechischen Text). Holzberg hat auch ein sehr informatives Nachwort geschrieben, auf das ich mich beziehen werde. Ich habe aber auch den altgriechischen Text zu Rate gezogen, und zwar in folgender Ausgabe: Aristophane, Comédies, Nuées/Νεφέλαι, altgriechisch-französische Parallelausgabe, premier volume, texte établie par Victor Colon et Jean Irigion, traduit par Lilaire van Daele, Les Belles Lettres, Paris 2002. 7 Siehe Iso Kern, Die Religion von Philosophen. Konfuzius, Sokrates, Epiktet, Montaigne, Pascal, Schwabe Verlag, Basel 2021, S. 57 f. und S. 82 f. 8 Ebd., S. 57. 6

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

historische Sokrates gemeint sein kann, der 470 v. Chr. geboren wurde, zeigt sich auch darin, dass der Sokrates der Wolken wie jeder Schauspieler in der antiken Tragödie und Komödie eine Maske (πρόσωπον, prosopon; lateinisch: persona) trug, wodurch er als ein Menschentypus und nicht als ein Individuum gekennzeichnet war. Die Wolken des Aristophanes wurden 423 v. Chr. aufgeführt, als Sokrates 47-jährig war, 24 Jahre vor seiner Verteidigungsrede und seinem Tod (399 v. Chr.). Aristophanes soll diese Komödie für seine beste gehalten habe, aber sie erhielt bei den jährlichen Wettbewerben der Dionysien nur den dritten Preis. Der von Platon zitierte Sokrates sagt ziemlich am Anfang seiner Verteidigungsrede (Apologie) vor dem Geschworenengericht Athens, das ihn zum Tode verurteilen wird: Erinnern wir uns von Anfang her, was für eine Anschuldigung es ist, aus welcher mein übler Ruf entstanden ist! […] Mit was für Reden also verleumden mich meine Verleumder? Als wären sie ordentliche Ankläger, muss ich ihre beschworene Anklage ablesen: «Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er [wie die Physiologen] unterirdische und himmlische Dinge untersucht und [wie Sophisten] Unrecht zu Recht macht und die auch andere lehrt.» […] Denn solcherlei habt ihr selbst gesehen in des Aristophanes Komödie [Die Wolken], wo ein gewisser Sokrates vorgestellt wird, der sich rühmt, in der Luft zu gehen, und viele andere Albernheiten vorbringt, von denen ich weder viel noch wenig verstehe.9 Und nicht sage ich dies, um solche Wissenschaft zu schmähen, sofern jemand in diesen Dingen wissend ist […], sondern, ihr Athener, nur weil ich an solchen Dingen keinen Anteil habe. (19a 8–19d 1)

Niklas Holzberg schreibt im Nachwort seiner Übersetzung der Wolken das Folgende, das mir völlig einleuchtet: Wenn der Angeklagte [Sokrates] im Zusammenhang mit den Wolken von einem ‹gewissen Sokrates› spricht, will er meines Erachtens sowohl zu verstehen geben, dass die Charakterisierung seiner Person in dem Stück sich mit der Wahrheit nicht decke, als auch dies: Seine Widersacher seien nicht fähig, zwischen Fiktion, welche für ein Drama ganz selbstverständlich ist, und Realität zu unterscheiden, er dagegen könne das sehr wohl. Also will Platon [der Autor der Apologie des Sokrates], der Sokrates sich in diesem Tone

In den Wolken fragt der Bauer Strepsiades den Sokrates: «Erst einmal, ich flehe dich an, sage mir, was du tust?» Sokrates: «Ich wandle in der Luft und übersehe (denke nach über: περιφρόνω, peripfronô) die Sonne.» Strepsiades: «Du übersiehst also die Götter von einem Korb, aber nicht von der Erde aus, wenn überhaupt.» Sokrates: «Ich hätte ja niemals die überirdischen Dinge richtig entdeckt, wenn ich nicht meinen Geist aufgehängt und die winzigen Teile meines Gedankens mit der verwandten Luft vermischt hätte […].» (Aristophanes, Die Wolken, aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg, Reclam Verlag, Stuttgart 2014, S. 17; griechischer Text bei A. H. Sommerstein [The Comedies of Aristophanes, vol. 3: Clouds. Edited with translation and notes by A. H. Sommerstein, Warminster 1982], Verse 228–231). 9

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

äussern lässt, nicht, wie immer wieder angenommen wurde, dem Komödiendichter vorwerfen, er sei mit schuld daran, dass Sokrates vor Gericht gebracht wurde, was ja dann zu dessen Exekution führte. Platons Sokrates weiss offensichtlich, dass der Sokrates des Aristophanes nicht die historische Figur, sondern die frei erfundene Karikatur eines Gelehrten ist, der seinen Schülern wahllos naturphilosophisches [physiologisches] und sophistisches Gedankengut vermittelt. Der [Name] Sokrates bedeutet ja der ‹Wissenskräftige›. Und das unkonventionelle Auftreten des Philosophen, von denen uns die Quellen erzählen, dürfte dazu eingeladen haben, den Komödientyp des verrückten Professors unter seinen Namen auf die Bühne des Dionysos-Theaters zu stellen. Dass der 399 v. Chr. zum Tode Verurteilte Sinn für den Spass der Wolken hatte und keineswegs die eigene Person mit der Bühnenfigur identifizierte, scheint mir aus dem hervorzugehen, was Älian ([Claudius Aelianus,] um 170 bis um 230 n. Chr.) berichtet: Sokrates, 423 v. Chr., während der Darbietung der Komödie sogar auf einem guten Platz, sei, als Fremde wissen wollten, wer denn jener Sokrates in dem Stück sei, aufgestanden und bis am Ende stehen geblieben, damit alle ihn gut sehen konnten (Bunte Geschichten, 2,3). Das hätte er schwerlich getan, wenn ihm der Humor für die Wolken gefehlt hätte.10

Abschnitt 2. Der griechische Originaltext, welcher der deutschen Übersetzung von Niklas Holzberg zugrunde liegt, und der griechische Originaltext, den ich beigezogen habe Der griechische Originaltext, welcher der deutschen Übersetzung von Niklas Holzberg zugrunde liegt, ist der folgende: The Comedies of Aristophanes, vol. 3: Clouds. Edited with translation and notes by A. H. Sommerstein, Warminster 1982. Durch Zahlen zwischen eckigen Klammern (10–1510) verweist Holzberg jeweils nach zehn oder 20 Versen auf die Verszahlen des griechischen Textes der Ausgabe Sommersteins. Da ich über die griechische Ausgabe Sommersteins nicht verfüge, stütze ich mich auf die französisch-altgriechische Parallelausgabe der Nuées/Νεφέλαι in Band I von Aristophane, Comédies, texte établie par Victor Coulon et Jean Irigion, traduit par Lilaire van Daele, Les Belles Lettres, Paris 2002. Dadurch konnte ich die jeweiligen Verse des altgriechischen Originals ausfindig machen und jeweils auf einen Vers genau auf die betreffenden Verse dieser Komödie verweisen. Allerdings weichen der Text Sommersteins und derjenige der oben erwähnten altgriechisch-französischen Ausgabe in Kleinigkeiten voneinander ab, so auch minimal in den Verszahlen, was bei der Überlieferung alter Texte vor der Erfindung der Buchdruckerkunst üblich ist.

Aristophanes, Die Wolken, aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg, Nachwort, S. 106 f. 10

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

Abschnitt 3. Gliederung und Kurzzusammenfassung ( abstract ) der Wolken Folgende Personen treten in dieser Komödie als Sprechende auf, und zwar in dieser Reihenfolge: der Bauer Strepsiades, sein Sohn Pheidippides, ein Sklave des Strepsiades, ein Schüler des Sokrates, Sokrates, der Chor, die personifizierte gerechte Rede (stärkerer Logos), die personifizierte ungerechte Rede (schwächerer Logos), erster Gläubiger, zweiter Gläubiger, Chairephon (Freund des Sokrates). Ich teile die Komödie in Vorspiel, Teil I (Strepsiades in der Schule des Sokrates), Teil II (Pheidippides in der Schule des Sokrates) und Schluss (Schlussfolgerung, Conclusio) ein. Den Schluss unterteile ich noch einmal in zwei Szenen: eine erste Szene mit Strepsiades und zwei seiner Gläubiger und eine zweite Szene mit Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides. Das Vorspiel endet mit Vers 133; der erste Teil der Komödie endet mit Vers 793, der zweite Teil endet mit Vers 1211; der Schluss (Conclusio) mit dem letzten Vers, nämlich Vers 1510. Das Vorspiel umfasst also 133 Verse, der erste Teil umfasst 660 Verse, der zweite Teil umfasst die Verse 794–1211, also 417 Verse; der Schluss (Conclusio) umfasst die Verse 1212–1510, also 298 Verse. Vorspiel und erster Teil umfassen 793 Verse; zweiter Teil und Nachspiel umfassen 715 Verse. Wir sehen also, dass Aristophanes der Gliederung seiner Wolken in Vorspiel und ersten Teil und dann zweiten Teil und Nachspiel durch die jeweilige Anzahl der Verse ein mathematisches Gleichgewicht gab. Die Handlung der Komödie dauert einen Tag, vom frühen Morgen bis zum Abend. Der alte Bauer Strepsiades berichtet im Vorspiel (Verse 1–133) der Komödie, wie er sich durch die Leidenschaft seines Sohnes Pheidippides für den Pferdesport hohe Schulden aufgeladen hat, die er nicht mehr zurückzahlen kann. Deshalb will er in der «Denkerbude» des Sokrates das sophistische, ungerechte Reden erlernen, um damit seine Gläubiger zum Erlass seiner Wettschulden zu bringen. Im ersten Teil (Verse 134–793) der Komödie geht er bei Sokrates in die Schule. Doch am Ende jagt ihn Sokrates fort, da er (Strepsiades) zu dumm sei, diese Redekunst zu erlernen. Darauf folgt eine Pause. Am Anfang des zweiten Teils der Komödie (Verse 794–1211) schickt Strepsiades dann seinen Sohn Pheidippides in die Denkerbude des Sokrates, um die sophistische Kunst zu erlernen, weil er jünger und lernfähiger sei als er. Doch nachdem Pheidippides diese Kunst erworben hat, richtet er sie in der zweiten Szene des Schlusses (Schlussfolgerung, Conclusio) gegen seinen eigenen Vater, indem er diesen verprügelt. Er rechtfertigt dies, indem er seinem Vater gegen jeden Sinn für Gerechtigkeit sagt, dass er in seiner Kindheit auch von ihm verprügelt worden sei. Da Strepsiades nicht nur sein Ziel, die Befreiung von seinen Schulden, nicht erreicht, sondern zudem noch von seinem Sohn aufgrund dessen sophistischer Schulung verprügelt wird, folgt er dem Rat des Götterboten Hermes, dessen Stele vor seinem Haus steht, und

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

zündet dem «Schwätzer» Sokrates, auf dessen sophistischen Lehren er gesetzt hatte, das Haus an (Verse 1212–1510).

Abschnitt 4. Woher hat die Komödie Die Wolken ihren Namen? Diese Komödie heisst deshalb Die Wolken, weil dem in ihr auftretenden Sokrates zufolge die Wolken heilig sind und der Komödien-Chor aus «Wolken» gebildet wird, nämlich aus Männern in weissen Kleidern von Jungfrauen oder Priesterinnen. Jungfrauen galten als für die Weissagung geeignet; so wie Pythia im Orakel von Delphi als Weissagerin des Gottes Apoll fungiert und die Frage von Sokrates’ Freund Chairephon, ob einer weiser als Sokrates sei, verneint. Der Chor einer Komödie oder Tragödie hat auch eine weissagende Funktion. Als der Bauer Strepsiades als Schüler in den von Sokrates, Chairephon und Sokrates’ Schülern gebildeten esoterischen Club aufgenommen werden soll, spricht Sokrates in priesterlichem Ton in ihrem Clubhaus folgendes Gebet zu den Wolken: O Gebieter und Herr, unermessliche Luft, die die schwebende Erde du hochhältst, und du strahlender Himmel, und Göttinnen, ihr erhab’nen blitzdonnernden Wolken, erhebt Euch, erscheint dem denkenden Mann [Strepsiades], ihr, Herrinnen, über ihm schwebend. Ja, hochverehrte Wolken, kommt her, um diesem vor Augen zu treten: […] Erhört mich, nehmt an mein Opfer und habt an den heiligen Riten Gefallen. (Verse 267–276)

Der Chor singt (unsichtbar): Ewige Wolken, wir wollen uns erheben, in leuchtender, tauiger Form erscheinend, vom tief brausenden Vater Okeanos auf zu erhabener Berge Hochebenen. (Verse 277–280)11

Übrigens kann das altgriechische Wort für Wolken, Νεφέλαι, Nephélai, auch mit Nebel übersetzt werden. Vielleicht spielt auch diese Bedeutung bei Aristophanes mit. Denn er will in seiner Komödie die Lehren seiner gelehrten Zeitgenossen, der Physiologen und Sophisten, unter die er komischerweise auch Sokrates zählt, auf lustige Weise als «neblig», das heisst als undurchsichtig, hinstellen.

Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 19; griechischer Text von Sommerstein, Verse 277–280. 11

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

Abschnitt 5. Zusammenfassung der Wolken (griechisch: Νεφέλαι, Nephélai ) Die Szene (der Schauplatz der Komödie) wird wie folgt beschrieben: eine Strasse mit zwei Häusern im Hintergrund, links das Haus des Strepsiades, rechts dasjenige des Sokrates. Vor dem Haus des Strepsiades liegen je auf einem Bett Strepsiades und sein Sohn Pheidippides. Es ist eine warme Jahreszeit, in der man nachts draussen schlafen kann. (Das habe ich zwischen 1982 und 1984 selbst im südlichen China gesehen, wo im Sommer nach Mitternacht, wenn es draussen kühler als drinnen geworden war, die Betten zum Schlafen vor die Haustür getragen wurden.) Die Kulisse mit den beiden Häusern wird während der ganzen Komödie dieselbe bleiben. Dies erfüllt also das klassische Prinzip der Einheit des Ortes. Der Verlauf der Komödie dauert nur einen Tag, vom Morgen bis zum Abend. Dies entspricht der klassischen Einheit der Zeit. Vorspiel (Verse 1–132) Die Komödie beginnt wie folgt. Ich zitiere diesen Anfang vollständig, weil er das Problem des Protagonisten Strepsiades, das die ganze Komödie in Bewegung setzt, deutlich zum Ausdruck bringt und weil der Humor oft in den einzelnen Sätzen und deren Wortspielen liegt und in einer Zusammenfassung nicht wiederzugeben ist: Strepsiades: Uah, uah! König Zeus, was für eine Länge eine Nacht hat! Endlos ist sie! Will es niemals Tag werden? Und ich habe ja schon längst den Hahn krähen gehört. Aber die Sklaven schnarchen. Früher hatten sie das nicht getan. Du sollst doch verdammt sein, [Peloponnesischer] Krieg, aus vielen Gründen, denn jetzt darf ich nicht einmal meine Sklaven bestrafen.12 Und auch dieser junge wackere Herr da [Pheidippides] wacht nicht vor Tagesanbruch auf und furzt herum, in fünf Wolljacken eingewickelt. Gut, wenn’s recht ist, will ich mich einhüllen und schnarchen. (Pause) Nein, ich Ärmster kann nicht schlafen, gebissen von – den Ausgaben und dem Futtertrog und den Schulden wegen meines Sohnes da. Der trägt [wie die reichen jungen Herren Athens] das Haar lang, reitet und fährt den zweispännigen Wagen, und er träumt von Pferden. Ich aber komme um, wenn ich sehe, dass der Mond den zwanzigsten des Monats bringt, denn die Zinsen steigen an. Junge, zünd eine Lampe an und bring das Rechnungsbuch heraus, damit ich es nehme und lese, wie vielen Leuten ich etwas schulde, und die Zinsen ausrechne. (Der Sklave bringt das Buch). Auf, lass sehen, was schulde ich? ‹Zwölf [Silber‐]Minen13 dem

Kommentar: Denn wenn ich sie schlagen würde, liefen sie in das Gebiet des Feindes von Athen, wo ich ihrer nicht mehr habhaft werden könnte. 13 Anm. von Holzberg: «Eine Silbermine wog 437 Gramm und entspricht 100 Drachmen. Um 400 v. Chr. war der Tagelohn eines Arbeiters auf der Akropolis [von Athen] eine Drachme.» 12

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Pasias.› Wofür zwölf Minen dem Pasias? Wofür habe ich sie mir geliehen? Ach ja, als ich den Klopphengst gekauft habe. O ich Unglückseliger, wenn mir doch vorher mein Auge mit einem Stein rausgekloppt worden wäre. Pheidippides (im Schlaf): Philon, du mogelst! Fahr auf deiner eigenen Bahn! Strepsiades: Das ist genau das Übel, das mich zugrunde gerichtet hat. Sogar im Schlaf träumt er vom Pferderennen. Pheidippides (im Schlaf): Wie viele Runden drehen die Kampfwagen noch? Strepsiades: Du lässt mich, deinen Vater, rundum durchdrehen. Aber was für Schulden kamen über dich nach Pasias? ‹Drei Minen dem Amynias für einen kleinen Wagen und Räder.› Pheidippides (im Schlaf): Lass das Pferd auf dem Weidplatz im Sande rollen und führ es dann nach Hause! Strepsiades: Und du, mein Lieber, hast mich aus meinen Geldmitteln herausgerollt, denn jetzt habe ich Prozesse verloren, und andere sagen, sie würden Sicherheiten für ihre Zinsen nehmen. (Verse 9–30)

Während Pheidippides ruhig weiterschläft, nennt ihm sein Vater, immer noch im Bette liegend, den Ursprung seines Übels: «Wenn doch die Kupplerin elend zugrunde gegangen wäre, die mich dazu verleitet hat, deine Mutter zu heiraten!» Er habe ein höchst angenehmes schmutziges Bauernleben gehabt, das von Bienen, Schafen und Oliven gestrotzt habe. Doch dann habe er eine verwöhnte und arrogante Frau aus der Stadt geheiratet und sei zu ihr in die Stadt [Athen] gezogen. Wenn er mit ihr im Bett gelegen habe, habe er nach Weinmost, Darre, Wollzeug, Überfluss, sie aber nach Parfüm, Safran, Zungenküssen, Aufwand, Schlemmerei gerochen. Nach der Geburt ihres Sohnes Pheidippides habe seine Frau diesen immer wieder auf den Schoss genommen und ihm gesagt: «Wenn du gross bist und einen Wagen zur Akropolis lenkst, wie Megakles bekleidet mit einem Prachtgewand», während er selbst ihm immer wieder gesagt habe: «Wenn du nun die Ziegen vom Felsabhang heimlenkst wie dein Vater, mit einem Fell umhüllt». Doch am Ende sei er seinen Worten nicht gefolgt, sondern habe sein Geld «mit der galoppierenden Pferdesucht infiziert».14 Die ganze Nacht hindurch, berichtet der im Bett liegende Strepsiades weiter, habe er nachgedacht und einen «genialen Superweg» gefunden, wenn er seinen Sohn dazu überreden könne. Nachdem er seinen Sohn aufgeweckt hat, teilt er ihm diesen ‹Superweg› mit. Er zeigt auf das Nachbarhäuschen des Sokrates und sagt: «Das ist die Denkerbude weiser Seelen. Dort wohnen Männer, die uns mit ihren Worten einzureden versuchen, der Himmel sei ein Backdeckel, dieser sei um uns herum und wir seien die Kohlen. Diese Männer lehren, wenn man ihnen Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 9 f.; griechischer Text von Teuffel-Kaehler, Verse 40–70. 14

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

Geld gibt, wie man durch Rede in einem Prozess gewinnt, ob die Sache nun gerecht oder ungerecht ist.» (Verse 70–90) Doch Pheidippides lässt sich nicht überreden. Er antwortet: «O je, Schurken sind sie ja: du meinst die Grossmäuler, die Bleichgesichter, die Barfüssigen, unter ihnen den von einem bösen Dämon15 besessenen Sokrates und den Chairephon [den Freund des Sokrates]. […] Ich kann dir nicht gehorchen. Denn ich ertrüge es nicht, ganz und gar erbleicht in meinem Gesicht den Reitern in die Augen zu sehen.» (Verse 90–121) (Es ist nicht eindeutig, ob Pheidippides hier auch einen moralischen Einwand gegen das Ansinnen seines Vaters erhebt oder sich nur schämt, sich mit seinem erbleichten Gesicht seinen braungesichtigen Reiterfreunden zu zeigen und sie damit wissen zu lassen, dass er den vornehmen Reitersport aufgegeben hat.) Darauf beschliesst Strepsiades, sich selbst in der «Denkerbude weiser Seelen» unterweisen zu lassen, und klopft an die Tür von Sokrates’ Haus, aus dem ein Schüler heraustritt (Verse 1–132). Teil I. Strepsiades in der Schule des Sokrates (Verse 133–793) Der Sokratesschüler sagt zu Strepsiades: «Geh zum Henker! Wer ist es, der an die Türe geklopft hat?» Strepsiades: Strepsiades, Sohn des Pheidons, aus Kikynna. Schüler: Ein Dummkopf, bei Zeus, der du ohne Überlegung so heftig an die Türe getreten und einen Gedanken, der gerade herausgefunden worden war, zur Fehlgeburt gemacht hast.

Auf die Frage des Strepsiades, was für ein Gedanke es gewesen sei, antwortet der Schüler, dass er ihn nennen werde, aber er müsse «diese Dinge als heilige Geheimnisse ansehen». Bei diesem als heiliges Geheimnis zu ehrenden Gedanken, der von Sokrates und Chairephon entwickelt worden sei, sei es um das Problem des Messens gegangen, «wie viele von seinen eigenen Füssen weit ein Floh springen könne. Denn einer hatte Chairephon in die Augenbraue gebissen und war auf den Kopf des Sokrates gesprungen» (Verse 133–147). Der Schüler berichtet Strepsiades voller Enthusiasmus von weiteren grossartigen Gedanken über Lächerlichkeiten, welche Sokrates zusammen mit Chairephon entwickelt habe, und führt ihn schliesslich in die Denkerbude hinein. Dort zeigt er ihm Gegenstände der Astronomie, der Geometrie und «eine Karte der ganzen Erde», die der Bauer Strepsiades alle nicht versteht und entsprechend naiv kommentiert. Zum Beispiel fragt er, die «Karte der ganzen Erde» anschauend: «Aber wo ist denn Lakedaimon [Sparta, Athens mächtigster Gegner im Peloponnesischen Krieg]?» Nachdem der Schüler ihm dieses auf der Karte 15

Anspielung auf das Daimonion des Sokrates.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

gezeigt hat, bemerkt Strepsiades: «Wie nahe bei uns! Das überdenkt mal neu, so dass ihr dieses Land sehr weit von uns wegschiebt.» Der Schüler antwortet ihm, dass dies nicht möglich sei, worauf Strepsiades seinen Stock erhebt und sagt: «Bei Zeus, dann werdet ihr was zu jammern haben.» (Verse 200–218) In diesem Moment blickt Strepsiades durch die Tür nach oben und sieht den Kran, mit dem Sokrates, in einem Korb sitzend, ähnlich einem von oben herabschwebenden deus ex machina über das Dach des Bühnenhauses geschwungen wird. Er geht mit dem Schüler hinaus und fragt diesen: «Sag, wer ist denn dieser Mann, der da am Haken?» Schüler: Er selbst. Strepsiades: Wer selbst? Schüler: Sokrates. Strepsiades: Sokrates! «Du komm», ruf für mich laut zu ihm hinauf! Schüler: Nein, du selber ruf ihn, ich habe keine Zeit. (Er geht in die Denkerbude zurück.) Strepsiades: Sokrates, mein Sokrätchen! Sokrates: Warum rufst du mich, du Eintagswesen? Strepsiades: Erst einmal, ich flehe dich an, sag mir, was du tust. Sokrates: Ich wandle in der Luft und übersehe (περιφρόνω, periphronô) die Sonne. Strepsiades: Du übersiehst also die Götter von einem Korb, aber nicht von der Erde aus, wenn überhaupt? (Verse 133–226 f.)16

Den ersten Teil des oben stehenden Satzes, den der Sokrates der Wolken äussert, zitiert der Sokrates der Apologie, wie ich dies oben in Abschnitt 1 («Einleitung») ausgeführt habe. Zum zweiten Teil dieses Satzes macht Niklas Holzberg folgende Anmerkung (S. 85): Wieder ein im Deutschen kaum nachahmbares Wortspiel. In Vers 225 steht periphronô [περιφρόνω], das sowohl ‹ich übersehe› im Sinne von ‹ich kann frei über etwas hinwegsehen› sowie übertragen ‹ich denke nach, meditiere über› als auch ‹ich übersehe› im Sinne ‹ich betrachte als unwichtig› heissen und so in die Nähe von hyperphronô [ὑπερφρόνω], ‹ich verachte› rücken kann. Obwohl Sokrates ganz einfach sagt: ‹ich meditiere über die Sonne›, kann Strepsiades diesen Satz so verstehen [Vers 226]: ‹Ich betrachte den Sonnengott als unwichtig›, daraus die Verachtung des Sonnengottes herauslesen und mit ‹du verachtest also die Götter› reagieren.

Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 16 f.; griechischer Text von Teuffel-Kaehler, Verse 219–226. 16

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

Auf die Frage des Strepsiades in den Versen 226 f. antwortet Sokrates von seinem Korb in der Luft aus in den darauffolgenden Versen 227–230: Ich hätte ja niemals die überirdischen Dinge richtig entdeckt, wenn ich nicht meinen Geist aufgehängt und die winzigen Teile meines Gedankens mit der verwandten Luft vermischt hätte. (εἰ μὴ κρεμάσας τὸ νόημα καὶ τὴν φροντίδα λεκτὴν καταμίξας εἰς τὸν ὅμοιον ἀέρα, ei me kremasas ta noema kai ten phrontida lekten katamixas eis ton homoion aera). Wäre ich aber am Boden gewesen und hätte das Obere von unten betrachtet, hätte ich das niemals entdeckt.17

Diese Antwort des Sokrates, dass er «niemals die überirdischen Dinge richtig entdeckt» hätte, wenn er nicht seinen «Geist [an der Luft] aufgehängt und die winzigen Teile [s]eines Gedankens mit der verwandten Luft vermischt hätte», dass sein Geist also in der Luft hänge und er Gedanken zu einem Gemisch mit der Luft gemacht habe, tönt ausserordentlich komisch, ja unsinnig und spricht nicht für die geistige Tiefe und Qualität der Gedanken des Sokrates. Doch wenn der Zuschauer – z. B. der wirkliche Sokrates selbst – bei der Aufführung der Komödie in Athen im Jahre 423 v. Chr. bei den Worten «εἰ μὴ κρεμάσας τὸ νόημα καὶ τὴν φροντίδα λεκτὴν καταμίξας εὶς τὸν ὅμοιον ἀέρα (wenn ich nicht meinen Geist aufgehängt und die winzigen Teile meines Gedankens mit der verwandten Luft vermischt hätte)» an das Wort πνεύμα, pneuma, gedacht hat, welches «Hauch, Lufthauch, Luft, Atem, Lebenshauch, Seele, Geist, das Geistige» bedeutet, dann mag diese Antwort für den Zuschauer zur folgenden geistig tiefen Antwort von hoher Qualität geworden sein: «Wenn ich meine Seele nicht mit dem Geistigen vereint hätte, dann hätte ich ja niemals die überirdischen Dinge richtig entdeckt». Das heisst, er hätte niemals die Dinge richtig entdeckt, die Sokrates lehrte, etwa dass er dem Gott (Apoll) gehorchen müsse, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun, oder dass es besser sei, zu wissen, dass man nicht weiss, als bloss zu meinen, dass man weiss. Es scheint mir möglich, dass Aristophanes bei seinen Sätzen über das Aufhängen des Geistes an der Luft auch an dieses Wort – πνεύμα, pneuma – gedacht hat, denn er muss gewusst haben, dass sein Zeitgenosse Sokrates nichts Widersinniges sagte. Nachdem Sokrates aus dem Korb auf die Bühne herabgestiegen ist, fragt er Strepsiades nach dem Grund seines Kommens. Dieser antwortet, dass er das Reden (λέγειν) lernen wolle, da er von Zinsen und mürrischen Gläubigern gejagt und getrieben und sein Hab und Gut verpfändet werde. Auf die Frage des Sokrates, wie er sich verschuldet habe, erfindet er eine Geschichte, in der sein Sohn Pheidippides nicht vorkommt, und bittet Sokrates: «Doch lehre mich den einen deiner beiden Logoi [Redeweisen], den, welcher nichts zurückbezahlt. Welchen

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Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 17.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Lohn du auch immer von mir verlangst, ich will bei den Göttern schwören, dass ich ihn dir bar bezahlen werde.» (Verse 245 f.)18 Es war unter vielen Athenern – und damit auch mindestens unter einem Teil der Zuhörer und Zuschauer der Wolken und unter ihnen natürlich Sokrates selbst – bekannt, dass dieser bei seinen öffentlichen Befragungen der «Wissenden» und in seinen Belehrungen von den zahlreichen umstehenden Zuhörern nie Geld verlangte. Er sagte in seiner Verteidigungsrede (Apologie) vor dem Geschworenengericht im Jahre 399 v. Chr.: Nun aber seht ihr ja selbst, dass meine Ankläger, so schamlos sie mich auch alles anderen beschuldigen, dieses doch nicht erreichen konnten in ihrer Schamlosigkeit, einen Zeugen aufzustellen, dass ich jemals einen Lohn mir ausgemacht oder gefordert hätte. Ich aber stelle, meine ich, einen hinreichenden Zeugen für die Wahrheit meiner Aussage: meine Armut. (Apologie, 31 b–c)

Auch in diesem Punkt konnten Zuschauer und Zuhörer der Wolken merken, dass der Sokrates der Komödie mit dem wirklichen Sokrates nicht übereinstimmt. Sokrates geht denn in der Komödie auf das Geldangebot des Strepsiades auch nicht ein, sondern fragt ihn, an dessen Behauptung anknüpfend, dass er «bei den Göttern schwören will, Sokrates das Geld bar zu bezahlen», ob er «mit den Wolken zusammenkommen will, die unsere Gottheiten sind, zum Gespräch» (Vers 252). Nach Strepsiades’ Bejahung weiht er ihn in priesterlichem Ton den Wolken, wie ich dies bereits oben im Abschnitt 4 («Woher hat die Komödie Die Wolken ihren Namen?») dargestellt habe (Verse 267–282). Nach dieser Weihe bietet die Komödie uns folgende Szene, die uns durch die grosse Gegensätzlichkeit von hoher religiöser Würde und bäurischer Banalität zum Lachen bringt. Die Weihe an die Wolken beendet Sokrates mit den Worten: O höchst erhabene Wolken, ihr habt – das ist deutlich – mein Rufen vernommen. (Zu Strepsiades): Hast du ihre Stimme gehört und zugleich den brüllenden, Ehrfurcht gebietenden Donner? Strepsiades: Ja, und ich bin in grosser Scheu vor euch, ihr Vielgeehrten, und ich will den Donner durch Furzen erwidern: So sehr erzittere ich und fürchte mich vor ihnen, und, wenn es heiligem Gebrauch entspricht, muss ich jetzt auf der Stelle – auch wenn es nicht heiligem Gebrauch entspricht – scheissen. (Verse 291–295)19

Nachdem der Chor der Wolken die Spielbühne betreten und Sokrates Strepsiades gefragt hat, ob er denn nicht gewusst habe, dass die Wolken Göttinnen sind, und 18 19

Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 17 f. Deutsche Übersetzung von Holzberg, S. 20.

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

nicht an sie geglaubt habe, antwortet der nüchterne Bauer, dass er gedacht habe, sie seien Nebel und Tau und Dampf. Darauf sagt Sokrates: «Weil, bei Zeus, du nicht weisst, dass sie [die Wolken] viele Sophisten ernähren, Seher aus Thurioi,20 Quacksalber, Onyxsiegelring-Langhaarfaulenzer dithyrambischer Chöre,21 Liederverrenker, Schwindelmeteorologen, dass sie nichts tuende Müssiggänger ernähren, weil die über sie Verse schreiben.» (Verse 331–334)22 Wenn Aristophanes in den obigen Versen Sokrates sagen lässt, dass «sie [die Wolken] viele Sophisten» etc. und «nichts tuende Müssiggänger ernähren, weil die über sie Verse schreiben», so muss dies bedeuten, dass er Sokrates auch ihn selbst (Aristophanes) als einen Sophisten oder nichts tuenden Müssiggänger betrachten lässt. Denn auch er hat in seinen Wolken «Verse über die Wolken geschrieben» und «ernährt» sich dadurch. Es wirkt auf den Zuschauer und Zuhörer der Wolken, die Sokrates und seinesgleichen kritisieren, komisch, dass dieser Sokrates den Aristophanes für seine Wolken kritisiert. Strepsiades fragt nun Sokrates mit Blick auf die auf der Bühnenfläche stehenden Wolken, wie es komme, dass diese, wenn sie wirklich Wolken seien, sterblichen Frauen glichen. Echte Wolken glichen ja ausgebreiteten Wollflocken und überhaupt nicht Frauen, denn diese hätten ja Nasen. Darauf stellt Sokrates die Gegenfrage: «Hast du schon jemals nach oben geblickt und eine Wolke gesehen, die einem Kentauren, einem Leoparden oder einem Wolf oder einem Stier glich?» Nachdem Strepsiades dies bejaht hat, fährt Sokrates fort: Sie werden zu allem, was auch sie wollen. Wenn sie also einen langhaarigen Wilden sehen, einen von denen mit behaartem Körper, wie etwa den Sohn des Xenophantos, verspotten sie seine wilde Sucht und nehmen das Aussehen von Kentauren. […] und jetzt, weil sie den [femininen jungen Mann] Kleisthenes sahen […], deswegen wurden sie zu Frauen. (Verse 343–355)23

Holzberg schreibt in einer Anmerkung , dass der feminine junge Kleisthenes in sieben Aristophanes-Komödien verspottet wird (S. 87, Anm. 48). Daraus wird ersichtlich, dass Aristophanes in seinen Wolken nicht bloss die gesellschaftliche Gruppe der Intellektuellen mit Spott versieht, sondern auch spöttische Schläge nach links und nach rechts gegen Personen seiner Zeit austeilt. Der Chor der Wolken auf der Bühne wendet sich nun an Strepsiades und dann an Sokrates und singt: Sei uns gegrüsst, hoch betagter Greis, du Jäger kunstfertiger Reden. Und Priester du von subtilstem Geschwätz, was immer du willst, lass uns wissen. Wir geben ja keinem anderen Gehör von den heutigen Himmelsexperten, 20 21 22 23

Anm. von Holzberg: «Thurioi ist eine griechische Stadt in Unteritalien.» Anm. von Holzberg: «Der Dithyrambos war ein Chorlied im Dionysoskult.» Holzberg, S. 22. Ebd., S. 23.

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[…] weil durch die Strassen du stolz flanierst, stier seitwärts blickend hin wirfst die Augen, barfuss viel Übles erträgst, wegen uns deine Miene erhaben zur Schau trägst. (Verse 356–363)

Darauf folgt ein theologisches Gespräch zwischen Strepsiades und Sokrates. Sokrates sagt von den Wolken, die ihn soeben als ihren «Priester von subtilstem Geschwätz» bezeichnet haben, dass sie allein Göttinnen seien, alles andere aber Humbug sei. Worauf Strepsiades ihn fragt, ob denn für ihn und seine Gesellschaft Zeus (der oberste Gott) kein Gott sei. Sokrates’ Antwort ist: «Es gibt keinen Zeus.» (Vers 367) Strepsiades wendet fragend ein, wer es dann regnen lasse, worauf Sokrates auf die Wolken zeigt. Strepsiades muss ihm zustimmen und bemerkt, dass er früher immer geglaubt habe, Zeus pisse durch ein Sieb. Er fragt Sokrates, wer denn donnere. Sokrates antwortet als Physiologe, dass die Wolken donnern, wenn sie sich herumwälzen. Wenn sie mit Wasser gefüllt und durch den Wirbelwind, den himmlischen Dinos, gezwungen seien, voller Regen sich fortzubewegen, dann würden sie, wegen ihrer Schwere, gegeneinanderstossen, platzen und Krach machen. Daraus zieht der kluge Bauer den klugen logischen Schluss, mit dem er, ohne es zu wollen, Sokrates, den Wolkenpriester «von subtilstem Geschwätz», eines Denkfehlers überführt: «Das war mir entgangen, dass es jetzt Zeus nicht mehr gibt, sondern an seiner Stelle jetzt Dinos König ist.» (Vers 381) Nach einem Gespräch über den Donner fragt Strepsiades Sokrates über den Blitz: «Doch woher wiederum der Blitz? […] den schleudert doch offensichtlich Zeus auf die Meineidigen?» Sokrates gibt dies zu, wendet aber ein: «Aber er [Zeus] trifft seinen eigenen Tempel […] und die gewaltigen Eichen. Was kommt ihm denn in den Sinn? Denn eine Eiche schwört doch keinen Meineid?» Strepsiades: Ich weiss nicht. Doch was du sagst, scheint gut. Was ist denn nun der Blitz? Sokrates: Wenn ein trockener Wind sich in die Höhe erhebt und in die da [die Wolken] eingeschlossen wird, bläst er sie von innen wie eine Harnblase auf; dann zerreisst er sie notwendig und saust stürmisch nach aussen wegen der Dichte, wobei er sich infolge der Reibung und der Wucht selber verglühen lässt. Strepsiades: Ja, bei Zeus, ich erlebte genau dies einmal bei den Diasien.24 Ich briet eine Blutwurst für meine Verwandten, und da versäumte ich es, hineinzustechen. Die aber blähte sich auf, dann zerplatzte sie plötzlich, schiss mir genau in beide Augen und verbrannte mein Gesicht. Sokrates: Nicht wahr, du wirst also nun ganz sicher keinen für einen Gott halten ausser denen, die wir dafür halten, die Leere (χάος) hier, die Wolken und die Zunge (γλώττα), diese drei. (Verse 408–426) Anm. von Holzberg: «Die Diasien sind ein attisches Sühnefest zu Ehren des Zeus im März.» 24

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

Während oben in Vers 365 Sokrates die Wolken als die einzigen Götter (Göttinnen) bezeichnet, dann in Vers 381 aufgrund eines Einwandes von Strepsiades noch den Wirbelwind Dinos als Gott hinzunehmen muss, lehrt er hier die Dreiheit von Leere, Wolken und Zunge. In Vers 627 wird Sokrates noch eine andere Dreiheit nennen, diejenige von Lebenshauch/Atem (πνεύμα), Leere (χάος) und Luft. Aristophanes macht hier also unter dem Namen des Sokrates die Götterlehren der Gesellschaftsschicht der «Intellektuellen» seiner Zeit lächerlich. Wenn Strepsiades bemerkt: «Ich werde wohl mit den anderen [Göttern] überhaupt nicht reden, auch wenn ich ihnen begegnen sollte […]» (Vers 427), so hat der kluge Bauer also die wankende Götterlehre des «Sokrates» durchschaut und macht sie lächerlich, indem er sich Sokrates’ Götterdreiheit von Chaos (Luftraum, Leere: χάος, chaos), Wolken und Zunge (Zungenfertigkeit: γλώττα, glotta) äusserlich unterwirft, aber in Wirklichkeit doch noch andere Götter annimmt. Wie wir unten in Vers 627 sehen werden, hat Sokrates noch eine andere Götterdreiheit: Atemhauch (ἀναπνοή, anapnoe), Chaos (Luftraum, Leere: χάος, chaos), Luft (ἀήρ, aer). Darauf lobt die Chorführerin den Strepsiades und fragt ihn, was sie, die Wolken, für ihn tun sollen. Strepsiades antwortet: «Ihr Herrinnen, ich bitte euch also um die Klitzekleinigkeit, dass ich unter den Griechen mit hundert Stadien Abstand der Beste im Reden sei.» (Verse 429 f.) Die Chorführerin erklärt darauf, dass sie ihm dies gewähren würden, sodass von jetzt an kein anderer Mensch mehr Anträge in der Volksversammlung durchbringen werde. Strepsiades erwidert: «Nein, das ist nichts für mich, grossartige Anträge einzubringen. Danach steht nämlich nicht mein Verlangen, sondern nur so viel will ich, dass ich für mich das Recht verdrehen und meinen Gläubigern entschlüpfen kann.» (Verse 433 f.) Die Chorführerin der Wolken sichert ihm dies zu und sagt ihm, dass er sich nun in die Hände ihrer Diener, nämlich Sokrates und seiner Denkerbude, begeben solle. Sie wendet sich dann an Sokrates mit den Worten: «Nun versuche, dem Alten das, was du als Propädeutik planst, zu vermitteln, / rüttel auf seinen Geist und stelle dabei den Verstand, den er hat, auf die Probe.» Sokrates bemerkt zu Strepsiades: «Auf denn, nenne mir dein Wesen [τὸν σεαυτοῦ τρόπον, ton seautu tropon: deine Art und Weise], damit ich, wenn ich weiss, wie es [sie] ist, gleich danach die neuesten Strategien bei dir einsetze.» (Verse 477–480) Zuerst will Sokrates von ihm erfahren, ob er ein gutes Gedächtnis habe. Strepsiades antwortet ihm: «Eines [ein Gedächtnis] von zweierlei Art, bei Zeus. Wenn mir etwas geschuldet wird, habe ich ein sehr gutes. Wenn ich Armer aber etwas schulde, bin ich sehr vergesslich.» (Verse 483–485) Auf die Frage, wie er so zu lernen imstande sei, antwortet Strepsiades, dass Sokrates sich darüber keine Sorgen zu machen brauche. Sokrates fährt fort:

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Sieh also zu, dass, wenn ich dir etwas Weises über die Dinge am Himmel hinwerfe, du es sofort aufschnappst. Strepsiades: Was, soll ich wie ein Hund die Weisheit fressen? Sokrates: Dieser Mensch hier ist ein Dummkopf und Barbar! Ich fürchte, du alter Mensch, dass du Prügel brauchst. Lass sehen, was tust du, wenn jemand dich schlägt? Strepsiades [antwortet schlagfertig]: Ich lasse mich schlagen, und dann warte ich ein bisschen und rufe Leute zu Zeugen an. Dann, wenn ich wieder etwas Zeit habe verstreichen lassen, geh ich vor Gericht. (Verse 489–494)

Sokrates lässt Strepsiades nun in sein Haus eintreten und verlangt, dass er zuvor seine Kleider ausziehe, weil es bei ihnen so Brauch sei. Nach einigem Zögern tut Strepsiades dies und wendet sich fragend an Sokrates: Sag mir also nun dies: Wenn ich ernsthaft bemüht bin und eifrig lerne, welchem deiner Schüler werde ich ähnlich sein? Sokrates: Du wirst dich äusserlich nicht von Chairephon unterscheiden. Strepsiades: Oh weh mir, ich Unglücklicher, halbtot werde ich sein! […] Gib mir doch erst einmal einen Honigkuchen in die Hände, denn ich habe Angst, wenn ich dort hinein abwärts steige wie in die Höhle des Trophonios.25 (Verse 500–508)

Dann gehen beide ins Haus hinein. Die Verse 518 bis 562 enthalten eine später geschriebene sogenannte Parabase, in welcher der Chor neben (para) das dramatische Geschehen tritt und im Namen des Aristophanes direkt zum Publikum spricht. Aristophanes drückt in ihr seine Enttäuschung über den Misserfolg der Wolken bei ihrer Aufführung 423 v. Chr. in Athen aus.26 Nach dem Ende des Chorgesanges kommt Sokrates aus der Denkerbude und ruft: Beim Atemhauch (ἀναπνοή, anapnoe), beim Chaos (Luftraum, Leere: χάος, chaos), bei der Luft (ἀήρ, aer), nie sah ich einen so bäurischen, unbedarften Mann! Wenn der ein bisschen mühsam aufgescharrten Kleinkram zu lernen versucht, hat er ihn vergessen, bevor er ihn gelernt hat. […] Wo ist Strepsiades? Kommst du mit deinem Bett heraus? Strepsiades (tritt mit einem Bett aus der Denkerbude): Aber die Wanzen lassen es mich nicht heraustragen. (Verse 627–634)

Nun fragt Sokrates ihn, was er lernen wolle, Masse (gemeint sind Versmasse, Metren) oder Rhythmen (gemeint ist die Anzahl von Metren, die in einem Vers Anm. von Holzberg: «Trophonios ist ein chthonischer [unterirdischer] Orakelgott in einer Höhle, vor dessen Befragung man unterirdische Dämonen, Schlangen und Drachen durch Honigkuchen zu besänftigen versuchte.» 26 Nach Ausführungen von Holzberg in seinem Nachwort zu den Wolken, S. 106. 25

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vereint werden können) oder etwas über Wörter (gemeint ist eine Lehre von den Wörtern). Er fragt ihn also lauter Dinge, die mit seinem Leben und seinen Absichten nichts zu tun haben, sodass er die gelehrten Fragen des Sokrates nicht einmal richtig verstehen kann und sie nach der Sprache seiner bäurischen Lebenswelt interpretiert. Z. B. «Masse» versteht er wie folgt: «Ich über Masse. Neulich nämlich wurde ich von einem Kornhändler um vier Choiniken [Getreidemass] übers Ohr gehauen.» (Verse 639 f.) Sokrates beschimpft ihn als «bäurisch und ungelehrig» und fragt ihn, ob er fähig sei, etwas über Rhythmen zu lernen. Strepsiades antwortet ihm: «Aber wie werden mir Rhythmen zu meinem täglichen Brot verhelfen?» (Vers 648). Schliesslich sagt er zu Sokrates: «Du Unglücksmensch, ich habe ja kein Verlangen, irgendetwas von diesen Dingen zu lernen.» (Vers 655 f.) Auf die Frage des Sokrates, was er dann lernen wolle, antwortet er: «Das halt, den äusserst ungerechten Logos (λόγος).» (Vers 657) Holzberg bemerkt dazu in Anmerkung 16: «Das vieldeutige griechische, [in der vorliegenden Übersetzung] auch ins Deutsche übernommene Wort wird in [den] Versen 112–116 und dann immer im entsprechenden Kontext im Sinne von ‹Argumentation› verwendet.» Ich würde das griechische Wort λόγος im Munde des Bauern Strepsiades eher mit «Rede» oder «Reden» (substantiviertes Verb) wiedergeben, eine Übersetzung, die durchaus dem griechischen Logos entspricht. Denn am Anfang der Wolken, nachdem Sokrates aus dem Korb auf die Bühne herabgestiegen ist und Strepsiades nach dem Grund seines Kommens gefragt hat, antwortet dieser, dass er das Reden (λέγειν) lernen wolle, da er von Zinsen und mürrischen Gläubigern gejagt und getrieben und sein Hab und Gut verpfändet werde. Ich würde also Vers 657 wie folgt übersetzen: «Das halt [will ich lernen], das äusserst ungerechte Reden.» Doch Sokrates winkt ab: «Nein, anderes musst du früher lernen als das, etwa welche von den Vierbeinern mit Recht männlich genannt werden.» (Verse 658 f.) Sokrates will nun seinem bäurischen Zögling den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Namen lehren, was für dessen Absicht, durch das «Lernen des äusserst ungerechten Redens» seine Gläubiger loszuwerden, völlig nutzlos ist. Dabei übersieht Strepsiades den Unterschied zwischen den Namen und dem, was diese Namen bei den Tieren bezeichnen, was im Dialog mit Sokrates zu äusserst komischen Konstellationen führt. In all diesem Gewirr sagt Strepsiades schliesslich: «Du hast unzählige Male gehört, was ich will. Es geht um die Zinsen, die ich niemandem bezahlen will.» (Verse 738 f.) Einige Verse weiter sagt er zu Sokrates, der ihn zu «scharfsinnigem Denken» aufgefordert hat: Ich habe eine Unterschlagungsidee zu den Zinsen. […] Wenn ich eine thessalische Hexe kaufen und nachts den Mond herabholen würde, den dann in ein rundes Futteral einschlösse […], wenn der Mond nie mehr irgendwo aufginge, würde ich meine Zinsen nie bezahlen.

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Sokrates: Was könnte dir das nützen? Strepsiades: Weil Geld monatlich verliehen wird. (Verse 746–756)

Sokrates heisst dies gut und legt ihm noch ein anderes «kniffliges Problem» vor, nämlich, wie er damit fertig würde, wenn ein Prozess um fünf Talente gegen ihn angestrengt würde. Nach einigem Überlegen antwortet Strepsiades: Ich habe ein sehr schlaues Mittel gefunden, wie ich mit dem Prozess fertig würde, so schlau, dass sogar du mir zustimmen würdest […]. Hast du schon mal bei den Apothekern diesen Stein gesehen, den schönen, den durchsichtigen, mit dem sie Feuer anzünden? Sokrates: Du meinst Glas? Strepsiades: Ja, wie wär’s, wenn ich dann, wenn der Sekretär die Prozessangelegenheit in seine Wachstafel schriebe, das [Glas] nähme, weiter weg von ihm zur Sonne hin träte, und zwar so, dass ich das in meiner Prozessangelegenheit Niedergeschriebene zum Wegschmelzen brächte? Sokrates: Ja, das ist schlau, bei den Chariten. (Verse 764–773)

Danach stellt ihm Sokrates noch das unlösbare Problem, wie er einen Prozess, den er zu verlieren drohe, abwenden und die Anklage ohne zur Verfügung stehende Zeugen widerlegen würde. Strepsiades antwortet, dass er, bevor sein Fall aufgerufen würde, schnell davonlaufen und sich aufhängen würde. Sokrates: Du redest Unsinn. Strepsiades: Bei den Göttern, ich rede sehr sinnvoll, denn keiner wird einen Prozess gegen mich anstrengen, wenn ich tot bin.

Eigentlich hat Strepsiades in diesem Rededuell (Wortgefecht, Kampf, griechisch: ἀγών, agon) Sokrates besiegt.27 Folglich sagt Sokrates: Du faselst nur daher. Mach dich davon! Ich werde dich nicht mehr unterrichten. Strepsiades: Warum nicht, bei den Göttern, bitte doch, Sokrates! Sokrates: Aber alles, was du lernst, vergisst du sofort. Was hast du jetzt gerade als erstes gelernt?

Tatsächlich hat Strepsiades «jetzt gerade» gar nichts von Sokrates gelernt und vermag diese Frage daher nicht zu beantworten. Sokrates sagt zu ihm: «Willst du dich wohl zum Geier scheren, du total vergessliches und strohdummes altes Männchen!», und wendet sich von ihm ab.

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Solche Wortduelle sind übliche Bestandteile der aristophanischen Komödien.

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Strepsiades: O weh mir! Wie wird es mir Unglückseligen nur ergehen? Denn mit mir ist es zu Ende, wenn ich die Zungenfertigkeit (γλωττοστροφεῖν, glottostrophein) nicht erlerne. Ach, ihr Wolken gebt mir einen nützlichen Rat! (Verse 774–793)

TEIL II. Pheidippides in der Schule des Sokrates (Verse 794–1211) Die Chorführerin der Wolken rät dem alten Strepsiades, an seiner Stelle einen erwachsenen Sohn in die Schule des Sokrates zu schicken, falls er einen habe. Strepsiades: Ja, ich habe einen hübschen und anständigen [schönen und guten (griechisch: καλὸς κἀγαθός, kalos k’agathos)] Sohn. Aber er will ja nicht lernen, was soll ich tun? Chorführerin: Und du lässt ihm das durchgehen? Strepsiades: Ja, er ist gut gebaut und strotzt vor Kraft, und er stammt von hochflatternden Frauen aus der Familie Koisyra ab.28 Aber ich will ihn holen. Und wenn er nicht bereit ist, dann jage ich ihn ohne Wenn und Aber aus dem Hause. (Zu Sokrates:) Bitte gehe hinein und warte eine kurze Zeit. (Verse 797–803)

Strepsiades benötigt aber alle Mittel seiner Überzeugungskunst, um seinen vor Kraft strotzenden Sohn zum Lernen in der Denkerbude des Sokrates zu bewegen. Nach einiger Zeit kommt Strepsiades mit seinem Sohn aus seinem Haus. Strepsiades: Du wirst, beim Nebel [bei den Wolken], hier nicht mehr wohnen bleiben. Los, geh und iss die Säulen des Megakles.29 Pheidippides: Was ist denn los mit dir, mein guter Vater? Du bist nicht bei Verstand, beim olympischen Zeus! (Verse 814–817)

Strepsiades wendet nun gegenüber seinem Sohn das bei Sokrates Gelernte an: Er erklärt ihn für «altmodisch», da er noch an Zeus statt an Dinos, den Wirbelwind, glaube. Nachdem Strepsiades seinem Sohn auf dessen Frage hin gesagt hat, dass er dies von Sokrates und Chairephon wisse, erwidert Pheidippides: Und du bist schon so weit in deinem Wahnsinn fortgeschritten, dass du Männern folgst, die verrückt sind. Strepsiades: Hüte deine Zunge und sage nichts über Männer, die klug sind und Verstand haben. Vor lauter Sparsamkeit hat sich keiner von ihnen jemals die Haare geschnitten oder sich gesalbt oder ist zum Waschen ins Bad gegangen. Du dagegen verbadest, als ob

Anm. von Holzberg: Der Name Koisyra stand für den Prototyp der grossen Dame. Anm. von Holzberg: Gemeint ist, Pheidippides möge jetzt vom Wohlstand des Megakles zehren, denn eine Säulenhalle in einem Haus, die hier offenbar gemeint ist, konnten sich nur Reiche leisten. 28 29

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ich tot wäre, meinen Lebensunterhalt. Doch los, geh so schnell wie möglich zu ihnen und lerne für mich! (Verse 833–839)

Auf die Frage des Pheidippides, was man denn von denen Nützliches lernen könne, antwortet Strepsiades: «[…] alle Weisheit [σοφά, sopha = σοφία, sophia], die es bei den Menschen gibt. Und du wirst an dir selbst erkennen, wie dumm und plump du bist. Doch warte hier einen Moment auf mich!», und geht in sein Haus. Pheidippides bleibt allein zurück und sagt: «Oh weh mir, was soll ich tun, wo mein Vater doch ganz von Sinnen ist? Soll ich ihn vor Gericht bringen und ihn für geistesgestört erklären lassen? Oder soll ich den Sargmachern von seinem Wahnsinn [und dem daraus folgenden baldigen Tod] erzählen?» (Verse 841–846) Nachdem Strepsiades wieder aus seinem Haus gekommen ist, bewegt er seinen sich sträubenden Sohn nach langem Reden schliesslich mit folgendem Argument, ihm zu Willen zu sein: «[…] Dann handle halt falsch, aber sei deinem Vater zu Willen. Auch ich, das weiss ich, war dir einmal, als du ein lispelnder Sechsjähriger warst, zu Willen. Da habe dir für den ersten Obolos, den ich als Richtersold bekam, ein Wägelchen für die Dasien gekauft.» Daraufhin folgt Pheidippides seinem Vater zur Denkerbude des Sokrates und sagt vorausschauend: «Mit Sicherheit wird irgendwann die Zeit kommen, in der du dies bereust.» (Verse 860–865) Strepsiades ruft Sokrates aus seinem Haus, und nach einem kurzen Gespräch mit Pheidippides sagt Sokrates über diesen: Wie soll der jemals erfolgreiche Verteidigung vor Gericht oder Einleitung einer Klage oder Überredung durch leeres Geschwafel lernen? […] Strepsiades: […] Dass er nur ja die beiden Logoi [Reden] lernt, den stärkeren Logos [die stärkere Rede], welcher immer auch er ist, und den schwächeren [die schwächere Rede], der indem er ungerecht plädiert, den stärkeren zu Fall bringt; wenn aber nicht [beide], dann wenigstens und um jeden Preis den ungerechten. Sokrates: Er [Pheidippides] selbst wird von den beiden Logoi [Reden] selbst lernen, ich aber werde nicht dabei sein. (Verse 874–887)

Nun folgt ein kulturgeschichtlich ausserordentlich interessanter Kampf (Wortgefecht: ἀγών, agon) zwischen dem, wie Holzberg übersetzt, stärkeren und schwächeren Logos. Im griechischen Text, den ich benutze, steht ΔΙΚΑΙΟΣ, DIKAIOS, und ΑΔΙΚΟΣ, ADIKOS, also gerechter und ungerechter [Logos]. Ich werde im Folgenden von Holzberg abweichend mit «gerechte Rede» und «ungerechte Rede» übersetzen. In diesem Wortgefecht siegt die ungerechte Rede über die gerechte. Es umfasst über 200 Verse (Verse 889–1103):

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Dieses Wortgefecht beginnt damit, dass die ungerechte Rede zur gerechten sagt, dass sie diese besiegen könne, obschon sie behaupte, die stärkere zu sein. Gerechte (stärkere) Rede: Was willst du Schlaues tun? Ungerechte (schwächere) Rede: Neue Ideen herausfinden. Gerechte (stärkere) Rede: Das ist in Mode (zeigt auf die Zuschauer) wegen dieser Schwachköpfe da. Ungerechte (schwächere) Rede: Nein, Schlauköpfe. (Verse 895–898)

Die gerechte (stärkere) Rede sagt zur ungerechten (schwächeren), dass sie diese durch gerechte Rede übel zurichten werde. Worauf die schwächere antwortet, dass sie dagegen einwenden werde, dass es Gerechtigkeit gar nicht gebe. Sie fordert die gerechte Rede auf zu sagen, wo die Gerechtigkeit denn sei. Gerechte (stärkere) Rede: Bei den Göttern. Ungerechte (schwächere) Rede: Wenn es [bei den Göttern] Gerechtigkeit gibt, warum wurde dann Zeus nicht dafür, dass er seinen Vater [Kronos] einkerkerte, vernichtet? (Verse 904–906)

Die beiden Reden beschimpfen sich zuerst gegenseitig, indem zum Beispiel die ungerechte zur gerechten sagt, dass diese «ein stumpfsinniger Alter und altmodisch» sei, worauf die gerechte mit «du bist ein Arschfotze und schamlos» zurückschlägt usw. Schliesslich sagt die Chorführerin zu den beiden: «Hört auf mit Streit und Schmähung!» An die gerechte Rede gerichtet fährt sie fort: «Aber zeige du, was die früheren Generationen zu lehren pflegten!», und zur ungerechten Rede sagt sie: «und du zeige deine neue Erziehung, damit er [Pheidippides] euch beide hört, wie ihr gegeneinander redet, sich entscheidet und dementsprechend studiert!» (Verse 934–938) Zuerst spricht die alte gerechte Rede. Sie wird, dramaturgisch gelungen, mehrmals von der neuen, ungerechten Rede mit spöttischen Bemerkungen unterbrochen. Ich verzichte aber darauf, diese Passage wiederzugeben, um den Inhalt der Wechselrede in ihrer Einheitlichkeit hervortreten zu lassen. Gerechte Rede: Nun, ich werde erzählen, wie die alte Erziehung organisiert war, als ich mit meinen Reden über das Rechte meine Blütezeit erlebte und Sittsamkeit hohe Geltung hatte. Zunächst durfte man auf keinen Fall auf die Stimme eines Knaben hören […]. Ferner mussten die Nachbarsbuben in Reih und Glied durch die Strassen zum Musiklehrer marschieren, ohne Mantel, auch [zur Abhärtung] wenn es dicke Flocken schneite. Dann lehrte er [der Musiklehrer] sie wiederum ein Lied auswendig zu lernen und nicht dabei

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die Oberschenkel zusammenzuhalten.30 […] Beim Sportlehrer mussten die Knaben, wenn sie [nackt] sassen, sich mit den Oberschenkeln bedecken, damit sie denen draussen nichts für sie Grausames zeigten;31 dann, wenn sie wieder aufstanden, mussten sie den Sand glätten, damit sie nicht ihren Liebhabern einen Abdruck ihrer Jugendblüte hinterliessen. […] Auch gab ein Knabe seiner Stimme keinen weichen Tonfall gegenüber seinem Liebhaber und prostituierte sich nicht, während er herumspazierte, durch seine Blicke. […] Das ist nun die Art und Weise, in der meine Erziehung die Kämpfer [in der Schlacht] von Marathon [490 v. Chr.] aufzog [in der das athenische Landheer das persische Landheer vor 67 Jahren endgültig besiegte]. Deshalb, junger Bursche, wähle mit Zuversicht mich, die stärkere Rede (τὸν κρείττω λόγον, ton kreitto logon), und du wirst die Agora (den Marktplatz) zu hassen und dich von den [öffentlichen] Bädern [wo nackt gebadet wird] fernzuhalten wissen und dich dessen zu schämen, was unanständig ist, und […] von den Sitzen dich zu erheben, wenn Ältere sich nähern, und dich nicht deinen Eltern gegenüber schlecht zu benehmen […], auch nicht in das Haus von Tänzerinnen zu stürmen, damit nicht von einem Hürchen, weil du nach so etwas heftiges Verlangen [hast], ein Apfel nach dir geworfen wird32 und du deinen guten Ruf verlierst; auch nicht deinem Vater zu widersprechen […] und im Bösen seiner Lebensjahre zu gedenken, innerhalb deren du doch von Nestkücken zum jungen Mann aufgezogen wurdest. […] Nein, glänzend in deiner Jugendblüte wirst du dich auf Sportplätzen aufhalten. […] Wenn du dies tust, wirst du immer eine glänzende Brust, strahlende Haut, breite Schultern, eine winzige Zunge, einen grossen Arsch und einen kleinen Schwanz33 haben. Wenn du aber dasselbe betreibst wie die Heutigen, wirst du zunächst einmal eine bleiche Haut, schmale Schultern, eine schmächtige Brust, eine grosse Zunge, einen kleinen Arsch, einen grossen Pimmel [bekommen,] und die da (zeigt auf die ungerechte Rede) wird dich dazu überreden, alles Hässliche für schön zu halten, das Schöne aber für hässlich (τὸ μὲν αἰσχρόν ἅπαν καλὸν ἡγείσθαι, τὸ καλὸν δ΄αἰσχρόν, to men aischron hapan kalon hegesthai, to kalon d’aischron) […]. (Verse 961–1020)

Die ungerechte (neue) Rede erwidert: Nun, schon längst ersticke ich innerlich und brannte darauf, all das durch Gegenargumente umzustossen. Denn ich bekam den Namen ungerechte Rede34 bei den Denkern eben deshalb, weil ich als erster auf den Gedanken kam, im Widerspruch zu Recht und Gesetz das Gegenteil zu sagen. Und das ist mehr als zehntausend Statere wert, die schwächeren Argumente [λόγους, logus] zu wählen und dann zu gewinnen. (Zu Pheidippides:) Schau, wie ich die Erziehung, der sie [die gerechte alte Rede] vertraut, auf den Prüfstand stellen werde. (Verse 1036–1043)

Anm. von Holzberg: Offenbar, damit sie nicht durch Druck auf ihr Geschlechtsteil sich selbst stimulierten. 31 Anm. von Holzberg: Es sind die Päderasten gemeint, für die es «grausam» wäre, die Geschlechtsteile der Knaben nur zu sehen. 32 Anm. von Holzberg: So wurde die Bereitschaft zum Sex signalisiert. 33 Anm. von Holzberg: Ein kleiner Penis galt als Ideal für freigeborene junge Männer, da man voraussetzte, Barbaren hätten einen grossen. 34 Anstatt mit «ungerechte Rede» übersetzt Holzberg mit «schwächerer Logos». 30

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«Komischerweise» widerspricht die ungerechte Rede in den ersten beiden Prüfungen, indem sie sich auf alte Geschichten (Mythologien) beruft. Zuerst widerlegt sie die Auffassung der gerechten (alten), dass man nicht in warmem Wasser baden solle, mit dem Hinweis auf die heissen «Bäder des Herakles», welche die Göttin Athena bei den Thermophylen für den erschöpften grossen Helden Herakles habe entstehen lassen. Dann widerspricht sie der gerechten alten Rede, indem sie das Verweilen auf der Agora lobt und als Argument heranzieht, dass Homer Nestor als Agoretés (Redner) dargestellt habe. Dann sagt die ungerechte (neue) Rede: Von hier nun komme ich zur Zunge, über die da [scil, die gerechte alte Rede] sagt, die Jungen müssten sie nicht üben. Ich aber sage, sie müssen. Und sie [die gerechte alte Rede] wiederum sagt, man muss sittsam sein. Das ergibt zwei sehr grosse Übel. (Zur gerechten Rede:) Denn wann hast du jemals einen, weil er sittsam war, [es] zu etwas Rechtem bringen sehen? (Verse 1058–1062)

Nach einem ersten Beispiel nennt die gerechte Rede noch Peleus, der wegen seiner Sittlichkeit Thetis zur Frau bekommen habe. Ungerechte Rede: Ja, und dann verliess sie ihn und ging weg. Denn er war kein Draufgänger und nicht sexy genug, die ganze Nacht mit ihr durchzumachen. Eine Frau wird gerne kräftig hergenommen. […] (Zu Pheidippides:) Schau, junger Bursche, was in der Sittsamkeit alles drinsteckt und wie vieler Freuden du beraubt werden wirst. Knaben, Frauen […] Leckerbissen, Getränke, Gelächter. Und doch, was ist das Leben für dich wert, wenn du all dessen beraubt werden wirst? Nun denn. Ich gehe von hier über zu den Notwendigkeiten der Natur. Du hast eine Verfehlung begangen, du hast dich verliebt, du hast Ehebruch begangen und bist dann ertappt worden. Du bist verloren. Denn du bist unfähig zu argumentieren. Werde mein Schüler und dann gib der Natur ihr Recht, springe, lache, halte nichts für unanständig. Wenn du zufällig als Ehebrecher erwischt wirst, halte dem Ehemann dies entgegen, dass du nichts Unrechtes getan hast. Dann schiebe alles auf Zeus, dass sogar der vor der Liebe und den Frauen kapitulierte – wie könntest du da als Sterblicher stärker sein als ein Gott? (Verse 1068–1082)

Die ungerechte Rede fragt die gerechte weiter, von welcher Art von Leuten die Advokaten, die Tragödienschauspieler, die Politiker seien. Auf alle diese Fragen antwortet der gerechte Logos: «Von den Weitärschigen.» Und die ungerechte Rede fordert die gerechte auf zu schauen, welche Art von Leuten unter den Zuschauern die Mehrheit bildet. Der gerechte Logos antwortet: «Bei den Göttern, die Weitärschigen sind die grosse Mehrzahl! Den da jedenfalls kenne ich, den dort und den mit dem langen Haar. […] Ich bin besiegt. Ihr Gefickten, bei den Göttern, nehmt meinen Mantel, damit ich auf eure Seite überlaufe.» Er wirft seinen Mantel ab, während er ins Publikum läuft (Verse 1198–1103). Strepsiades sagt nun zur ungerechten Rede:

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Lehre und bestrafe ihn[Pheidippides] und denk daran, dass du ihn mir gehörig mundfertig machst, damit die eine Seite seines Kiefers befähigt ist für Prozesschen; die andere Seite mache mundfertig und fähig für die grösseren Angelegenheiten. Ungerechter Logos: Keine Sorge, du wirst ihn als schlauen Sophisten mitnehmen.

Pheidippides scheint von dieser Erziehung nicht begeistert zu sein, denn er sagt: «Nun als Bleichgesicht und von einem bösen Dämon (Daimon) Besessenen, glaube ich.» (Verse 1007–1113) Darauf verschwindet die ungerechte Rede von der Bühne. Strepsiades trifft Sokrates zwischen den Häusern der beiden und fragt ihn, ob sein Sohn die ungerechte Rede gelernt habe. Sokrates: Er hat sie gelernt. […] Deshalb wirst du wohl in jedem beliebigen Prozess freigesprochen. Strepsiades: Auch falls Zeugen zugegen waren, wenn ich Geld lieh? Sokrates: Ja, viel mehr: Auch falls tausend zugegen sind. (Verse 1150–1153)

Daraufhin bricht Strepsiades in ein Jubelgedicht aus und begrüsst seinen aus der Denkerbude des Sokrates heraustretenden Sohn mit einem Preisgedicht. Schliesslich sagt Strepsiades zu seinem Sohn Pheidippides: «Jetzt also sieh zu, dass du mich rettest, der du mich ruiniert hast!» Pheidippides: Und was fürchtest du nun? Strepsiades: Den alt-und-neuen Mondtag. Pheidippides: Gibt es denn einen alten und zugleich neuen Tag? Strepsiades: Ja, an dem, wie sie mir sagen, die Gerichtsgebühren hinterlegen werden. Pheidippides: Also werden diejenigen, die sie hinterlegen, diese wiederum verlieren. Denn es ist nicht möglich, dass ein einziger Tag zu zwei Tagen wird. […] Es sei denn, dieselbe Person kann zugleich ein altes Weib und eine junge Frau sein. Strepsiades: Und doch steht es so im Gesetz. Pheidippides: Sie wissen halt, glaub ich, nicht richtig, was das Gesetz bedeutet. […] Der alte [Gesetzgeber unserer Stadt] Solon […] setzte für die Vorladung zwei Tage an, den alten und den neuen Tag, damit die Hinterlegungen bei Neumond stattfanden. Strepsiades: Wozu hat er nun den alten Tag dazugesetzt. Pheidippides: Damit, mein Lieber, die Angeklagten an einem Tag zuvor anwesend seien und sich [mit den Klägern] freiwillig versöhnten, wenn aber nicht, bei Neumond am Morgen betrübt seien. Strepsiades: Wieso nehmen also die Beamten die Gerichtskosten nicht bei Neumond an, sondern am alten-und-neuen Mondtag?

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Pheidippides: Ich glaube, denen da geht es wie den Opfervorkostern: Um möglichst schnell die Gerichtsgebühren veruntreuen zu können, kosten sie davon schon am Tag zuvor. Strepsiades: Ja gut! (Zu den Zuschauern:) Ihr Unglückseligen, was sitzt ihr dumm da, Beute für uns Kluge, als Steine, blosse Zahl, reine Schafe, ein Haufen Ameisen? Also ich muss auf mich wegen des grossen Glücks ein Preislied singen. (Verse 1177–1205)

Nachdem Strepsiades sein Preislied gesungen hat, gehen er und sein Sohn in ihr Haus. Schluss (Schlussfolgerung, Conclusio; Verse 1212–1510) Der Schluss der Komödie enthält zwei Szenen: eine Szene mit Strepsiades und zwei seiner Gläubiger und eine Szene mit Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides. a) Szene mit Strepsiades und zwei seiner Gläubiger

Einer von Strepsiades’ Gläubigern tritt auf, begleitet von einem Freund, der als Zeuge dienen soll, und sagt diesem, dass er unbedingt sein Geld wieder zurückhaben wolle. Er ruft Strepsiades aus dessen Haus und ruft ihm zu: «Auf den altund-neuen Mondtag vor Gericht! […] Wegen der zwölf Minen, die du geliehen hast, als du das dunkelgraue Pferd kauftest.» (Verse 1222–1225) Strepsiades leugnet dies ab, da er alles hasse, was mit Pferden zu tun hat. Der Gläubiger erwidert, dass er bei den Göttern geschworen habe, zurückzuzahlen, worauf Strepsiades erklärt, dass sein Sohn damals die unbesiegbare (ungerechte) Rede noch nicht gekannt habe. Der Gläubiger fragt ihn, ob er bereit sei, bei den Göttern abzuschwören, dass er Geld geliehen habe, worauf Strepsiades erwidert, dass er «bei Zeus» sogar drei Oboloi drauflegen würde, um abschwören zu dürfen. Dann klopft er dem Gläubiger auf dessen dicken Bauch und bemerkt dazu: «Dem hier könnte es nützen, wenn er mit Salzlauge [zur Herstellung eines Weinschlauches] gegerbt würde», der sechs Kannen (= 19, 2 Liter) fassen könnte (Vers 1237). Schliesslich fragt der Gläubiger Strepsiades, ob er ihm das Geld zurückzahlen werde oder nicht. Strepsiades geht darauf in sein Haus, bringt einen Backtrog heraus und fragt den Gläubiger, was das sei. Der Gläubiger antwortet: «[…] Eine Kardopos [κάρδοπος].» Strepsiades sagt, indem er seinen Gläubiger fälschlicherweise eines Sprachfehlers bezichtigt: «Und da forderst du Geld von mir, wo du so einer bist, der die Kardopé eine Kardopos nennt.»35 (Verse 1249 f.) Nach meinem griechisch-deutschen Wörterbuch von Menge-Güthling (Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung, 2. Auflage, Berlin-Schöneberg 1913) ist das Wort κάρδοπος weib35

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Der Gläubiger sagt, dass er die Gerichtsgebühren hinterlegen werde, und geht mit seinem Zeugen weg. Darauf tritt ein verletzter, hinkender Gläubiger auf. Er trägt Strepsiades auf, seinem Sohn zu sagen, dass er das von ihm geliehene Geld zurückgeben solle, besonders da es ihm jetzt so schlecht gehe. Er sei beim Lenken eines Pferdegespanns aus dem Wagen gefallen. Strepsiades: Was redest du also Unsinn wie einer, der von einem Esel gefallen ist.36 […] Es ist unmöglich, dass du wieder gesund wirst. […]. Es scheint mir, du hast so etwas wie eine Gehirnerschütterung. Verletzter Gläubiger: Und du, so scheint mir, bei Hermes, wirst von mir vorgeladen, wenn du mir nicht mein Geld zurückgibst. Strepsiades: Nun, sag mir: Glaubst du, dass Zeus jedes Mal neues Wasser regnen lässt oder dass die Sonne von unten dieses selbe Wasser wieder heraufzieht? Verletzter Gläubiger: Ich weiss nicht, welches von beiden es ist, und es interessiert mich auch nicht. Strepsiades: Wie bist du dann berechtigt, dein Geld zurückzubekommen, wenn du nichts von den Dingen am Himmel weißt? Verletzter Gläubiger: Aber wenn ihr knapp dran seid an Geld, zahlt mir wenigstens den Zins. Strepsiades: Dieser Zins, was für ein Tier ist das? Verletzter Gläubiger: Was ist das anderes, als dass monatlich und täglich das Geld ständig mehr wird, indem der Zins hineinfliesst? Strepsiades: Gut gesagt! Nun also: Glaubst du, dass das Meer jetzt grösser ist als früher? Verletzter Gläubiger: Nein, bei Zeus, gleich gross. Denn es entspräche nicht dem Naturgesetz, dass es grösser wäre. Strepsiades: Wie, du Unglückseliger, wird es um nichts grösser, obschon die Flüsse hineinfliessen; du dagegen suchst die Summe deines Geldes grösser zu machen? Willst du dich wohl selbst von meinem Haus davonjagen! (Er ruft in sein Haus hinein:) Bringst mir den Stachelstock!

Mit dem Stachelstock treibt Strepsiades den verletzten, hinkenden Gläubiger weg, der ins Publikum ruft: «Das ist doch wirklich eine Misshandlung [griechisch:

lich, obschon es als eine Ausnahme eine männliche Endung trägt. Das Wort kardopé mit weiblicher Endung kommt in diesem Wörterbuch nicht vor. Aber natürlich ist es möglich, dass gewisse Athener auch kardopé sagten. 36 Anm. von Holzberg: «Vom Esel gefallen» stand sprichwörtlich für «wirr im Reden und Handeln», vielleicht weil griech. ap’onou («vom Esel») ähnlich klingt wie apo nou («vom Verstand»).

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Hybris, das heisst: Stolz, Zügellosigkeit, Frevel, Entehrung, Misshandlung]!» (Verse 1273–1299). b) Szene mit Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides

Zu Beginn der zweiten und letzten Szene der Schlussfolgerung der Wolken kommt Strepsiades aus seinem Haus gerannt, verfolgt von seinem Sohn Pheidippides. Strepsiades schreit um Hilfe und schilt seinen Sohn einen Unflat und Ganoven, der ihn verprügele. Pheidippides gibt dies zu und ruft seinem Vater zu: Sag mir wieder dieselben und mehr Schimpfwörter! Weißt du, dass ich mich freue, wenn man mir viele Schimpfwörter gibt? […] Bei Zeus, ich werde beweisen, dass ich dich mit Recht verprügelt habe. […] Ich werde dich im Reden besiegen. […] Wähle aus, welche von den beiden Reden [die gerechte oder die ungerechte] du vertreten willst! Strepsiades: Bei Zeus, ich habe es doch wahrhaftig dahin gebracht, dass du, mein Lieber, gelernt hast, der Gerechtigkeit zu widersprechen, wenn du imstande sein wirst, mich davon zu überzeugen, es sei gerecht und angemessen, dass ein Vater von seinem Sohn verprügelt wird. Pheidippides: Aber ich glaube, ich werde dich wahrhaftig überzeugen, so dass sogar du […] in keiner Weise widersprechen wirst. (Verse 1328–1343)

Darauf fordert die Chorführerin Strepsiades auf zu sagen, wodurch der Streit zwischen seinem Sohn und ihm entstanden ist. Strepsiades: Womit es begann, dass wir uns gegenseitig beschimpften, werde ich gewiss sagen. Als wir nämlich, wie ihr wisst, festlich schmausten, forderte ich ihn zunächst einmal auf, seine Lyra zu nehmen und ein Lied des Simonides [Chorlyriker, 556 bis um 468 v. Chr.] zu singen, den ‹Widder›, wie er geschoren wurde; der aber sagte sofort, es sei zu altmodisch beim Trinken Lyra zu spielen und zu singen wie eine Frau, die geröstete Gerste malt. […] Und er behauptete auch, Simonides sei ein schlechter Dichter. […] Dann forderte ich ihn auf […,] mir etwas aus den Werken des Aischylos [erster grosser Tragödiendichter Athens, 525/524–456/455 v. Chr.] aufzusagen. Und da sagte er sofort: ‹Ja, ich halte Aischylos für den ersten unter den Dichtern, voller Lärm, in sich widersprüchlich, grossmäulig, hochtrabende Wörter fabrizierend.› Wie, glaubt ihr, hat mein Herz da gezittert. Dennoch frass ich meine Wut in mich hinein und sagte: ‹Los, dann sage du etwas von diesen Jüngeren auf […]!›, und der gab sofort irgendeine Rede des Euripides [der jüngste der drei grossen athenischen Tragödiendichter, vor 480–405 v. Chr., also Zeitgenosse des Aristophanes] darüber, wie ein Bruder […] seine Schwester, die von derselben Mutter stammte, bumste [Parodie von Euripides’ Tragödie Alkestis]. Und ich ertrug das nicht länger, sondern überschüttete ihn sofort mit vielen bösen und hässlichen Worten. […] Da sprang der da auf und dann schlug und haute und würgte und verdrosch er mich. (Verse 1353–1376)

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Pheidippides erwidert, dass er ihn mit Recht verdroschen habe, da er den genialen Euripides nicht lobe. Strepsiades entgegnet, dass er dazu kein Recht habe, da er ihn aufgezogen und vieles gelehrt habe. Pheidippides: Wie angenehm ist es, mit neuen und schlauen Dingen vertraut zu sein und die etablierten Bräuche verachten zu können. Ich nämlich war, als ich allein meine Aufmerksamkeit auf den Pferdesport richtete, nicht fähig, auch nur drei Wörter zu sagen, bevor ich einen Fehler machte. Jetzt aber, seit der hier [mein Vater] mich dazu brachte, dem ein Ende zu setzen, und ich mit subtilen Gedanken, Reden und Überlegungen vertraut bin, weiss ich, dass es gerecht ist, den Vater zu bestrafen. (Verse 1399–1405)

Pheidippides fragt seinen Vater, ob dieser ihn als Kind verprügelt habe. Strepsiades bejaht dies mit der Begründung, dass er es gut mit ihm gemeint habe. Darauf sagt Pheidippides: Dann sage mir, ist es nicht auch gerecht, dass ich es in derselben Weise gut mit dir meine und dich verprügle, da ja ‹es gut mit jemandem meinen› ‹verprügeln› bedeutet. […] Du wirst sagen, es sei Brauch, dass es diese Behandlung nur für Kinder gebe; aber ich würde antworten, dass alte Männer doppelte Kinder sind. […] war nicht der, der diesen Brauch einführte, ein Mann wie du und ich, und hat er nicht durch Reden die Männer der alten Zeit überzeugt? Steht es also mir wiederum weniger frei, künftig für Söhne den Brauch einzuführen, dass sie im Gegenzug ihre Väter verprügeln dürfen? […] Schau auf die Hähne und die anderen Tiere hier, wie die an ihren Vätern Vergeltung üben. Und doch, wodurch unterscheiden sie sich von uns, ausser darin, dass sie keine [Gerichts‐]Beschlüsse beantragen? Strepsiades: Nun, wenn du die Hähne in allem nachahmst, warum isst du dann nicht den Mist und schläfst auf hölzernen Stangen. Pheidippides: Das ist nicht dasselbe […], und Sokrates wird das auch nicht meinen. Strepsiades: Wenn das so ist, verprügle mich nicht, sonst wirst du dir eines Tages Vorwürfe machen. […] Denn es ist mein Recht, dich zu züchtigen, deines aber, deinen Sohn, wenn du einmal einen hast. Pheidippides: Wenn ich aber keinen habe, habe ich für nichts geheult, und du bist dann tot, nachdem zuletzt du über mich gelacht hast. Strepsiades (zu den Zuschauern): Ihr gleichaltrigen Männer, mir scheint, was er sagt, ist richtig; und mir scheint, dass wir den jungen Leuten hier das, was angemessen ist, zugestehen. Denn es ist nur recht und billig, wenn wir Grund zum Heulen kriegen, wenn wir tun, was nicht recht ist. (Verse 1410–1439)

Nun setzt Pheidippides seinen Vater wiederum in Entsetzen, als er ihm ankündigt, seine Mutter ebenfalls verprügeln zu wollen. Strepsiades sagt, dass dies noch eine grössere Missetat wäre. Pheidippides erwidert: «Wie aber, wenn ich dich mit der schwächeren [ungerechten] Rede besiege, und sage, dass es notwendig ist, die Mutter zu verprügeln?» (Verse 1445 f.) Strepsiades antwortet, dass, wenn er dies

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

tue, ihn nichts daran hindern werde, zusammen mit Sokrates und der ungerechten (schwächeren) Rede in den Felsenschlund Barathon am Abhang der Akropolis zu springen (in den manchmal zum Tode Verurteilte gestürzt wurden). Dann wendet er sich an die Wolken und sagt: Ihr Wolken, das habe ich euretwillen erlitten, nachdem ich meine ganzen Angelegenheiten in eure Hände gelegt hatte. Chorführerin: Nein, du allein hast das dir selbst gegenüber verschuldet, weil du dich selbst üblen Taten zugewandt hast. […] Wenn einer ein Liebhaber übler Taten ist, stürzen wir ihn ins Unglück, damit er lernt, die Götter zu fürchten. Strepsiades: Das […] ist gerecht. Denn ich hätte das Geld, das ich mir geliehen hatte, nicht für mich behalten dürfen. (Zu Pheidippides:) Nun komm mit mir, mein Liebster, um den Unflat Chairephon und Sokrates, die dich und mich betrogen haben, zu vernichten. Pheidippides: Aber ich könnte meinen Lehrern kein Unrecht antun. (Verse 1452–1467)

Nach kurzem Streit zwischen den beiden sagt Pheidippides: «Spinne und schwatze doch hier für dich allein herum» (Vers 1475), und verschwindet im Haus seines Vaters. Strepsiades: O weh mir, welch ein Wahnsinn! Wie verrückt ich doch war, als ich sogar die Götter verstossen habe wegen Sokrates. (Zu der Hermesstatue vor seinem Haus:) Doch du lieber Hermes, zürne mir nicht und vernichte mich nicht, sondern hab Erbarmen mit mir, der ich von Sinnen war wegen des Geredes, und sei du mein Berater bei der Frage, ob ich sie [meine Gläubiger] schriftlich vor Gericht verklagen soll oder was du für richtig hältst. (Er macht eine kurze Pause.) Du gibst mir den richtigen Rat, dass ich keinen Prozess anzetteln, sondern möglichst bald das Haus der Schwätzer anzünden soll. (Verse 1476–1485)

Er ruft in seinem Haus nach seinem Diener und fordert diesen auf, eine Leiter und eine Hacke herauszubringen und dann auf die Denkerbude zu steigen und deren Dach zusammenzuhacken, bis es auf die darin Wohnenden herabstürzt. Dann befiehlt er einem Sklaven, eine Fackel herbeizuschaffen, steigt auf das, was vom Dach noch übrig geblieben ist, und schreit: «[…] ich werde dafür sorgen, dass mancher von ihnen seine Strafe erleidet, auch wenn sie noch so gross daherreden» (Verse 1491 f.). Nachdem Strepsiades das Haus in Brand gesetzt hat, kommt schliesslich Sokrates aus dem Haus gelaufen und sagt: «He du, was machst du denn da in Wahrheit auf dem Dach?» Strepsiades wiederholt die von Sokrates in Vers 225 gesagten Worte: «Ich wandle in der Luft und übersehe die Sonne.» Sokrates: O weh mir, ich Elender, ich Armer, ich werde ersticken. […] Was ist denn euch in den Sinn gekommen, dass ihr die Götter schmäht und nach dem Hintern Selenes [der Mondgöttin] späht. [Zum Diener von Strepsiades:] Jag sie, schlag sie, bewirf sie aus vielen

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Gründen, am meisten aber aus dem Wissen heraus, dass sie den Göttern Unrecht getan haben. Chorführerin zu den Choreuten: Nun zieht hinaus. Denn genug haben wir für heute getanzt und gesungen. (Verse 1502–1510)

Abschnitt 6. Fünf Bemerkungen zu den Wolken a) Erste Bemerkung Die Lehre der Wolken ist in den Versen am Ende der Schlussfolgerungen zusammengefasst, wobei sie von den Hauptpersonen der Komödie, vom Wolkenchor, von Strepsiades, von Pheidippides und von Sokrates ausgesprochen werden (die wichtigsten Sätze hebe ich durch Kursivierung hervor). Es geht um die Erhaltung von Recht und Gerechtigkeit und die Achtung der Götter in einer Zeit, in der diese Werte von intellektuellen Schwätzern ins Wanken gebracht werden: Strepsiades: Ihr Wolken, das habe ich euretwillen erlitten, nachdem ich meine ganzen Angelegenheiten in eure Hände gelegt hatte. Chorführerin: Nein, du allein hast das dir selbst gegenüber verschuldet, weil du dich selbst üblen Taten zugewandt hast. […] Wenn einer ein Liebhaber übler Taten ist, stürzen wir ihn ins Unglück, damit er lernt, die Götter zu fürchten. Strepsiades: Das […] ist gerecht. Denn ich hätte das Geld, das ich mir geliehen hatte, nicht für mich behalten dürfen. (Zu Pheidippides:) Nun komm mit mir, mein Liebster, um den Unflat Chairephon und Sokrates, die dich und mich betrogen haben, zu vernichten. Pheidippides: Aber ich könnte meinen Lehrern kein Unrecht antun. Sokrates: Was ist denn euch in den Sinn gekommen, dass ihr die Götter schmäht und nach dem Hintern Selenes [der Mondgöttin] späht. [Zum Diener von Strepsiades:] Jag sie, schlag sie […] aus vielen Gründen, am meisten aber aus dem Wissen heraus, dass sie den Göttern Unrecht getan haben. (Verse 1452–1509)

b) Zweite Bemerkung Die Wolken sind gegen die intellektuellen Schwätzer ihrer Zeit gerichtet, welche Recht und Gerechtigkeit sowie den Respekt gegenüber den Göttern untergraben. c) Dritte Bemerkung Das ideale Zeitalter Athens ist in den Wolken dasjenige, in der das kleine Athen mit seinen griechischen Verbündeten die angreifenden mächtigen Perser unter

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

der Dynastie der Achämeniden besiegte. Dies kommt durch die «gerechte Rede» zum Ausdruck: Nun, ich werde erzählen, wie die alte Erziehung organisiert war, als ich mit meinen Reden über das Rechte meine Blütezeit erlebte und Sittsamkeit hohe Geltung hatte. Zunächst durfte man auf keinen Fall auf die Stimme eines Knaben hören […]. Ferner mussten die Nachbarsbuben in Reih und Glied durch die Strassen zum Musiklehrer marschieren, ohne Mantel, auch [zur Abhärtung] wenn es dicke Flocken schneite. Dann lehrte er [der Musiklehrer] sie wiederum ein Lied auswendig zu lernen und nicht dabei die Oberschenkel zusammenzuhalten.37 […] Beim Sportlehrer mussten die Knaben, wenn sie [nackt] sassen, sich mit den Oberschenkeln bedecken, damit sie denen draussen nichts für sie Grausames zeigten;38 dann, wenn sie wieder aufstanden, mussten sie den Sand glätten, damit sie nicht ihren Liebhabern einen Abdruck ihrer Jugendblüte hinterliessen. […] Auch gab ein Knabe seiner Stimme keinen weichen Tonfall gegenüber seinem Liebhaber und prostituierte sich nicht, während er herumspazierte, durch seine Blicke. […] Das ist nun die Art und Weise, in der meine Erziehung die Kämpfer [in der Schlacht] von Marathon [490 v. Chr.] aufzog. Deshalb, junger Bursche, wähle mit Zuversicht mich, die stärkere Rede (τὸν κρείττω λόγον, ton kreitto logon), und du wirst die Agora (den Marktplatz) zu hassen und dich von den Bädernfernzuhalten wissen und dich dessen zu schämen, was unanständig ist, und […] von den Sitzen dich zu erheben, wenn Ältere sich nähern, und dich nicht deinen Eltern gegenüber schlecht zu benehmen […], auch nicht in das Haus von Tänzerinnen zu stürmen, damit nicht von einem Hürchen, weil du nach so etwas heftiges Verlangen [hast], ein Apfel nach dir geworfen wird39 und du deinen guten Ruf verlierst; auch nicht deinem Vater zu widersprechen […] und im Bösen seiner Lebensjahre zu gedenken, innerhalb deren du doch vom Nestkücken zum jungen Mann aufgezogen wurdest. […] Nein, glänzend in deiner Jugendblüte wirst du dich auf Sportplätzen aufhalten. […] Wenn du dies tust, wirst du immer eine glänzende Brust, strahlende Haut, breite Schultern, eine winzige Zunge, einen grossen Arsch und einen kleinen Schwanz40 haben. Wenn du aber dasselbe betreibst wie die Heutigen, wirst du zunächst einmal eine bleiche Haut, schmale Schultern, eine schmächtige Brust, eine grosse Zunge, einen kleinen Arsch, einen grossen Pimmel [bekommen,] und die da (zeigt auf die ungerechte Rede) wird dich dazu überreden, alles Hässliche für schön zu halten, das Schöne aber für hässlich (τὸ μὲν αἰσχρὸν ἅπαν καλὸν ἡγείσθαι, τὸ καλὸν δ΄αἰσχρόν, to men aischron hapan kalon hegesthai, to kalon d’aischron) […]. (Verse 961–1020)

In den sogenannten Perserkriegen (500–479 v. Chr.) versuchte der junge persische König Xerxes aus der Dynastie der Achämeniden (685–330 v. Chr.) mit grossen See- und Landtruppen Griechenland zu erobern, dessen sowohl militäAnm. von Holzberg: Offenbar, damit sie nicht durch Druck auf ihr Geschlechtsteil sich selbst stimulierten. 38 Anm. von Holzberg: Es sind die Päderasten gemeint, für die es «grausam» wäre, die Geschlechtsteile der Knaben nur zu sehen. 39 Anm. von Holzberg: So wurde die Bereitschaft zum Sex signalisiert. 40 Anm. von Holzberg: Ein kleiner Penis galt als Ideal für freigeborene junge Männer, da man voraussetzte, Barbaren hätten einen grossen. 37

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

risch wie auch kulturell führende Macht der Stadtstaat Athen war. Nachdem schon im zweiten Perserkrieg in der Schlacht von Marathon (490 v. Chr.) die Griechen auf dem Land über die Perser gesiegt hatten, fiel die Entscheidung im dritten Perserkrieg in der Seeschlacht von Salamis im Saronischen Golf zwischen der Insel Salamis und dem Hafen Piräus von Athen. In dieser Schlacht unterlag 480 v. Chr. die persische Flotte, nachdem in der Schlacht von Platäa etwa 100 km nordwestlich von Athen die athenischen Truppen und ihre griechischen Verbündeten das persische Landheer nochmals besiegt hatten. Das Perserreich der Achämeniden reichte damals vom westlichen Pakistan und Afghanistan im Osten über das Gebiet des heutigen Usbekistan und den Aralsee im Norden, mit dem heutigen Iran und Irak in der Mitte, dem heutigen Syrien und Palästina im Südwesten bis zum heutigen Aserbeidschan am Kaspischen Meer und der heutigen Türkei sowie der heutigen griechischen Halbinsel Chalkidike im Westen. Es war das grösste Reich zwischen Europa und Indien. 423 v. Chr., im Jahr der Aufführung der Wolken, war Athens Macht im Verfall. Es führte, wie in den Versen 12 f. der Wolken gesagt wird, einen Krieg mit Sparta (Peloponnesischer Krieg, 431–404 v. Chr.). Dieser endete mit dem Sieg Spartas und seiner Verbündeten und mit dem Ende der athenischen Demokratie durch die Herrschaft der Dreissig. Der athenische Geschichtsschreiber Thukydides (um 460 bis um 400 v. Chr.) stellt für diese Zeit einen Verfall der Sitten fest. Genau dies tadelt auch die «gerechte Rede» in den oben zitierten Versen 961–1020 der Wolken. Diese Kritik scheint mir die Grundabsicht dieser Komödie zu sein. Dabei geht es natürlich nicht um «eine bleiche Haut, schmale Schultern, eine schmächtige Brust, […] einen kleinen Arsch, einen grossen Pimmel», sondern um «die grosse Zunge» (grosse Rede), nämlich die «ungerechte Rede», welche «dazu überredet, alles Hässliche für schön zu halten, das Schöne aber für hässlich (τὸ μὲν αἰσχρὸν ἅπαν καλὸν ἡγείσθαι, τὸ καλὸν δ΄αἰσχρόν, to men aischron hapan kalon hegesthai, to kalon d’aischron)». Das Schöne ist aber für die antiken Griechen dasselbe wie das Gute, was sich im festen Ausdruck καλὸν κἀγαθόν, kalon k’agathon (das Schöne und Gute), niederschlägt. Die ungerechte Rede überredet also dazu, das Schlechte für gut und das Gute für schlecht zu halten. In der zweiten Bemerkung schrieb ich: «Die Wolken sind gegen die intellektuellen Schwätzer ihrer Zeit gerichtet, welche Recht und Gerechtigkeit sowie den Respekt gegenüber den Göttern untergraben.» Die dritte Bemerkung ist nur eine Präzision der zweiten. d) Vierte Bemerkung: Was bedeutet Sittenzerfall? Es besteht kein Zweifel, dass sich die gesellschaftlichen Sitten, die gesellschaftliche Moral, das, «was sich gehört», und das, «was sich nicht gehört», verändern. Sowohl

1. Kapitel. Komödie als Gesellschaftskritik

im alten Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. als auch heute in Europa und dem dazugehörigen Griechenland, in allen Kulturen, mehr oder weniger schnell. Meistens scheinen sie sich zu verschlechtern. Doch im Jahre 423 v. Chr., als Aristophanes’ Wolken aufgeführt wurden, lebte Sokrates, ein ausserordentlich guter, ehrlicher und Gott gehorchender Mensch, der lehrte, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Er hatte im Athen seiner Zeit einen grossen Einfluss. Es kann damals also nicht nur einen Sittenzerfall gegeben haben, wenn damit ethisch gute Sitten gemeint sind. Denn Sitten als blosse gesellschaftliche Moral sind nicht immer ethisch gut. In der heutigen Zeit wollen in Europa alle alt werden, aber niemand will alt sein. Dagegen ist nichts zu sagen, unter der Voraussetzung, dass man sich im Alter nicht allen möglichen künstlichen kosmetischen Operationen unterzieht, um jung zu erscheinen, und dadurch in Wirklichkeit hässlich wird. Dafür ist der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi ein bekanntes Beispiel. Ein gütiger alter Mensch ist durch seine Güte schön. Man sagt, in der heutigen Zeit geht es nur ums Geld. Aber lange nicht bei allen Menschen. Letztlich kommt es auf die einzelnen Menschen an, denn nur diese handeln ethisch gut oder ethisch schlecht, wenn auch immer in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Und wenn sie gut handeln, heisst dies nicht notwendig, dass sie gemäss den gesellschaftlichen Sitten, sondern dass sie gemäss ihrem eigenen ursprünglichen Gewissen in Liebe zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen handeln, ob sie nun um diesen Begriff des Gewissens wissen oder nicht. Solche Menschen gab und gibt es immer. Aber es gibt immer auch Menschen, die nur sich selbst lieben und in ihrem Handeln ihr eigenes ursprüngliches Gewissen verdunkeln.41 e) Fünfte Bemerkung Als ich den letzten zwei, drei Wochen während der Arbeit an diesem Buch die Komödie Die Wolken las und ihre Handlung zusammenzufassen versuchte, habe ich, soweit ich mich richtig erinnere, nie gelacht. Es schien mir immer um ernste Sachen zu gehen. Doch wenn ich im Jahre 423 v. Chr. im Publikum gesessen hätte und auf der Bühne Die Wolken gesehen und gehört hätte, hätte ich sicher auch gelacht, allein schon deshalb, weil viele andere im Publikum lachten und Lachen ansteckend ist, aber auch weil in dieser sozialen Situation vieles, was auf der Bühne gespielt wurde, tatsächlich lustig gewesen sein muss. Aber das weiss ich natürlich nicht. Was lustig ist, ändert sich von einer Kultur zur anderen und im Laufe der Geschichte. Auch die von den Schauspielern getragenen Masken müssen etwas Lustiges, Karikierendes gehabt haben. Zum Begriff des ursprünglichen Gewissens siehe: Iso Kern, Der gute Weg des Handelns. Versuch einer Ethik für die heutige Zeit, Schwabe Verlag, Basel 2020, Teil I, 6. Kapitel: Mein Gewissen, S. 191–216. 41

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2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie: Molières (Jean-Baptiste Poquelins) Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux (1666)

Indem ich schon in diesem zweiten Kapitel Molières Tragikomödie Le Misanthrope (Der Menschenfeind) darstelle und analysiere, gehe ich an der einzigen Stelle dieses Büchleins nicht historisch vor. Ich stelle sie Menanders (Athen, 342/341– 291/290 v. Chr.) inhaltlich verwandter Komödie Dyskolos voraus (Δύσκολος: Missvergnügter, Verdriesslicher, Griesgram, Menschenfeind). Ich tue dies im Interesse des Lesers, denn Molière ist meines Erachtens nicht nur der beste Komödiendichter Europas, sondern der Misanthrope ist auch seine beste Komödie. So muss der Leser dieses Büchleins nicht weit lesen, um zur besten Komödie zu gelangen. Für meine deutsche Übersetzung dieser Komödie habe ich mir auch die grösste Mühe gegeben, und sie ist mir, wie mir scheint, auch einigermassen gelungen.

Abschnitt 7. Textgrundlage Der Text von Molières Misanthrope, auf den ich mich in diesem Kapitel stütze, ist der folgende: Molière, Œuvres complètes, Préface par Pierre-Aimé Touchard, Administrateur général honoraire de la Comédie Française, Directeur général des spectacles, Aux Editions du Seuil, Paris 1962, S. 332a–345b. Diese Gesamtausgabe der Komödien Molières enthält unter dem Titel Chronologie auch eine nach Zeitabschnitten geordnete Kurzbiografie von Molière (S. 7a–12b) und dann unter dem Titel Vie de Molière (par Grimarest) eine ausführliche Biografie (S. 13a–32b). Es folgen alle erhaltenen 33 Theaterstücke (S. 33a–659b). Weiter folgen acht Poésies (S. 663a–668), Citations célèbres (S. 669a–672b) und schliesslich ein Index des personnages (S. 673a–676b). Für die deutsche Übersetzung der zitierten Verse dieser Tragikomödie habe ich folgende französisch-deutsche Parallelausgabe mit Gewinn zu Rate gezogen: Molière, Le Misanthrope. Comédie en cinq actes. Der Menschenfeind. Komödie in fünf Aufzügen, übersetzt und herausgegeben von Hartmut Köhler [1940–2012], Reclam Verlag, Stuttgart 1993. Doch Köhlers Übersetzung ist mir zu

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

kompliziert, sie widerspricht der französischen Eleganz von Molières Dichtung. Auch ist die deutsche Übersetzung wesentlich länger als das französische Original, sodass die französischen und die ihnen entsprechenden deutschen Verse nicht parallel nebeneinanderstehen und man die sich entsprechenden Verse suchen muss. So habe ich versucht, eine eigene Übersetzung der von mir zitierten französischen Partien vorzulegen, welche dieser Dichtung, wie ich hoffe, etwas besser entspricht, und konnte dadurch auch leicht bewirken, dass die deutschen Verse genau parallel neben den originalen französischen stehen. In Anhang II dieses Büchleins steht eine chronologische Biografie von Molière.

Abschnitt 8. Vorbemerkung zu den Aufführungen von Molières Tragikomödie Misanthrope im Jahre 1666 Als Molières Tragikomödie Le Misanthrope am 4. Juni 1666 im Théâtre du Palais Royal Premiere hatte, hing ihr Erfolg nicht vom Parterre ab, von den Leuten auf den billigeren Plätzen. Die Einnahmen während der drei Wochen ihrer Aufführung lagen zuerst im mittleren Bereich, dann unterhalb des Durchschnittes. Besser war der finanzielle Erfolg bei ihren Wiederholungen im September dieses Jahres – dank der Tatsache, dass auf dem Plakat an ihrer Stelle die Komödie Le Médecin malgré lui angekündigt war. Doch die Besprechungen der «gens de qualité (der Kenner)» hoben Le Misanthrope in den Himmel. Die Komödie wurde als «chef d’œuvre inimitable (unnachahmliches Meisterwerk)» gerühmt. Pierre Boileau schrieb, dass Molière «als Autor des Misanthrope» in die Geschichte eingehen werde. Molière hatte während zwei Jahren an dieser Komödie gearbeitet, länger als an jeder anderen. Goethe sagte, als er 78-jährig war, über Molière: Ich kenne und liebe Molière seit meiner Jugend und habe während meines ganzen Lebens von ihm gelernt. Ich unterlasse nicht, jährlich einige Stücke von ihm zu lesen, um mich immer im Verkehr des Vortrefflichen zu erhalten. Es ist nicht bloss das vollendete künstlerische Verfahren, was mich an ihm entzückt, sondern zugleich auch das liebenswürdige Naturell, das hochgebildete Innere des Dichters. Es ist in ihm eine Grazie und ein Takt für das Schickliche und ein Ton des feinen Umgangs, wie es seine angeborene schöne Natur nur im täglichen Verkehr mit den vorzüglichen Menschen seines Jahrhunderts erreichen konnte. (Gespräch mit Eckermann, 28. März 1827)

Und über Alceste, den Menschenfeind in Molières Komödie Le Misanthrope, schrieb er, ebenfalls in hohem Alter: Ernstlich beschaue man den Misanthrop und frage sich, ob jemals ein Dichter sein Inneres vollkommener und liebenswürdiger dargestellt habe. Wir möchten gern Inhalt und Behandlung dieses Stückes tragisch nennen, einen solchen Eindruck hat es jedenfalls je-

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

derzeit bei uns zurückgelassen, weil dasjenige vor Blick und Geist gebracht wird, was uns oft selbst zur Verzweiflung bringt und wie ihn aus der Welt jagen möchte. (Schriften zur Literatur. Histoire de la Vie et des Ouvrages de Molière)

Goethe dachte also, dass Molière sich mit Alceste teilweise identifizierte, und auch Goethe selbst identifizierte sich teilweise mit ihm. Oft wird auch angenommen, dass sich Molière mit Alcestes Freund Philinte gleichsetzte, der im Misanthrope als erste Person auftritt und den «gesunden Menschenverstand» vertritt, der sich den Gepflogenheiten der Gesellschaft seiner Umgebung anpasst. Andererseits lebte Molière, als er seinen Misanthrope schrieb, von seiner Frau getrennt allein in Auteil auf dem Land, sodass er sich selbst auch als Misanthrop vorkommen konnte; und er spielte bei der Première des Misanthrope die Rolle des Alceste.

Abschnitt 9. Älteste Ausgabe der Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux Zum ersten Mal wurde diese Tragikomödie 1667 veröffentlicht, also noch zu Lebzeiten von Molière (1622–1673) und ein Jahr nach ihrer Premiere. Auf dem Titelblatt steht das Folgende: Le MISANTHROPE COMEDIE Par J.-B. P. de Molière A PARIS Chez Jean Ribot, au Palais, vis-à-vis La Porte de l’Eglise de la Sainte-Chapelle M. DC. LXVII [1667] AVEC LE PRIVILEGE DU ROI

Abschnitt 10. Zusammenfassung der Tragikomödie Le Misanthrope. L’atrabilaire amoureux Auftretende Personen: Alceste, Liebhaber von Célimène Philinte, Freund von Alceste

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Oronte, Liebhaber von Célimène Célimène, Geliebte von Alceste und Oronte Eliante, Cousine von Célimène Arsinoé, Freundin von Célimène Acaste und Clitandre, Markgrafen Basque, Diener von Célimène Ein Gerichtsdiener der Maréchaux de France Du Bois, Diener des Alceste Der Schauplatz der Komödie ist der Salon von Célimène, der Geliebten von Alceste und mehreren anderen, in Paris. Ihre Handlung spielt an einem Tag. Das klassische Ideal der Tragödie und Komödie, die Einheit von Ort und Zeit, ist streng eingehalten. Die Komödie hat die klassische Zahl von fünf Akten (Aufzügen). Ihre Versform ist der Alexandriner, der aus sechs Jamben besteht, wobei auf die dritte Hebung meist eine Zäsur folgt. Beide Verse bilden einen Paarreim. Die Komödie besteht aus 1808 Versen. Die deutsche Übersetzung von Hartmut Köhler, die ich mit Gewinn zu Rate gezogen habe, gibt weder die Versform noch den Reim wieder. Ich habe mich, wenn nur immer möglich, ungefähr an die Versform gehalten. Den Reim konnte ich nur selten wiedergeben. Manchmal habe ich, um auch den Reim zu retten, ein französisches Fremdwort oder ein anderes Wort als Köhler gewählt. Oft habe ich auch mit anderen Worten übersetzt. Im Grossen und Ganzen ist die deutsche Übersetzung von mir. Erster Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt) Personen: Alceste, Philinte Diese Szene (Verse 1–249) besteht aus einem Dialog zwischen dem Menschenfeind und schwarzgalligen Verliebten Alceste und seinem vernünftigen Freund Philinte. Sie exponiert die Thematik der ganzen Tragikomödie durch die gegensätzlichen Geisteshaltungen dieser beiden Protagonisten. Sie nimmt Bezug auf die Lebenssituation Alcestes mit seinem bevorstehenden Prozess und seiner Beziehung zu seiner Geliebten, der 20-jährigen, von vielen Männern umworbenen Witwe Célimène, welche alles verkörpert, was Alceste an den Menschen nicht ausstehen kann. Man kann diese erste Szene in drei Teile gliedern. Der erste Teil (Verse 1–122) konfrontiert grundsätzlich die gegensätzlichen Geisteshaltungen von Alceste und Philinte; im zweiten Teil (Verse 123–204) wird der Alceste bevorstehende Prozess diskutiert; im dritten Teil (Verse 205–249) geht es um Alcestes Liebe zu Célimène.

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Erster Teil: Grundsätzliche Konfrontation der gegensätzlichen Geisteshaltungen von Alceste und Philinte (Verse 1–122)

Alceste bezichtigt in seinem Fanatismus der Aufrichtigkeit (franchise) Philinte der Unehrlichkeit, weil dieser in freundschaftlicher Weise die Umarmung eines ihm fast Unbekannten erwiderte, und kündigt ihm deshalb die Freundschaft. Paradoxerweise kritisiert dann Philinte in grösster Ehrlichkeit und als echter Freund Alcestes extreme, der Natur des Menschen nicht entsprechende Verhaltensweise. Die Szene beginnt wie folgt: PHI Qu’est-ce donc? Qu’avez vous? ALC Laissez-moi, je vous prie. PHI Mais encore dites-moi quelle bizarrerie … ALC Laissez-moi là, dis-je et courez vous cacher. PHI Mais on entend les gens, au moins, sans se fâcher. ALC Moi, je veux me fâcher, je ne veux point entendre. PHI Dans vos brusques chagrins, je ne puis vous comprendre. Et quoique amis enfin, je suis tout des premiers … ALC Moi, votre ami? Rayez cela de vos papiers. J’ai fait jusques ici profession de l’être; Mais après ce qu’en vous je viens de voir paraître, Je vous déclare net que je ne le suis plus, Je ne veux nulle place dans des cœurs corrompus.

Was gibt’s, was haben Sie? Man lasse mich bitte allein! Wie können Sie so schroff, so bizzarre sein. So lassen Sie mich hier, verstecken Sie sich! Man hört doch einem zu, ohne sich zu ärgern. Doch ich will mich ärgern, ohne Sie zu hören. In Ihrem brüsken Ärger kann ich Sie nicht verstehen. Obschon wir Freunde sind, bin ich einer der Ersten … Was ich, Ihr Freund? Vergessen Sie’s am besten. Bis jetzt bekannt’ ich, dass ich’s sei; Nach dem doch, was in Ihnen mir erschien, Erklär ich Ihnen, dass ich’s nicht mehr bin, In verdorb’nen Herzen hab ich keinen Platz. (Verse 1–12)

Das, «was in Ihnen mir erschien (ce qu’en vous je viens de voir paraître)», und was Alceste an seinem Freund so vehement kritisiert, ist das Folgende: ALC Je vous vois accabler un homme de caresses, Et témoigner pour lui les dernières tendresses, […] Et quand je vous demande après quel est cette homme A peine pouvez-vous dire comme il se nomme. […]

Da seh ich Sie einen mit Schmeichelei behäufen Und ihm die letzte Zärtlichkeit erweisen, […] Und wenn ich Sie frage: Wer ist der Mann?, Wissen Sie kaum, wie er sich nennt. […]

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Morbleu, c’est une chose indigne, lâche, infâme, De s’abaisser ainsi jusqu’à trahir son âme. Et si par un malheur, j’en avais fait autant, Je m’irais, de regret, pendre tout à l’instant.

Zum Donner, das ist unwürdig, feig und schändlich. Sich so zu erniedern bis zum Verrat seiner Seele. Und wenn durch ein Unglück ich so was täte, Auf der Stell würd ich aus Gram mich erhängen. (Verse 17–28)

Philinte stellt nun die allgemeine Frage, wie man denn handeln solle, worauf Alceste erwidert: «Ich will, dass man ehrlich sei und als Ehrenmann / Kein einzig’ Wort sagt, das nicht aus dem Herzen stammt (Je veux qu’on soit sincère, et qu’en homme d’honneur / On ne lâche aucun mot qui ne parte du cœur)» (Verse 35 f.). Darauf verteidigt Philinte seine von Alceste angeprangerte Handlungsweise und legt dar, dass, wenn jemand einen mit Freude umarme, man diese Umarmung erwidern, auf dessen Zuvorkommenheit eingehen und Anerbieten mit Anerbieten, Beteuerung mit Beteuerung beantworten solle. Alceste widerspricht mit einer langen Tirade, in der er seine ganze rigoristische Sicht des aufrichtigen, unverblümten Verhaltens dem durch Philinte vertretenen, in der «heutigen Zeit üblichen» höflich-liebenswürdigen Verhalten gegen alle kritisch entgegensetzt: Non, je ne puis pas souffrir cette lâche méthode, Qu’affectent la plupart de vos gens à la mode. Et je ne hais rien tant que les contorsions De tous ces grands faiseurs de protestations, Ces affables donneurs d’embrassades frivoles, Ces obligeant diseurs d’inutles paroles, Qui de civilités avec tous font combat, Et traitent du même air l’hônnete homme et le fat Quel avantage a-t-on, qu’un homme vous caresse, Vous jure, amitié, foi, zèle, estime, tendresse Et vous fasse de vous un éloge éclatant, Lorsqu’au premier faquin il court en faire autant?

Nein, ich kann nicht leiden diese laxe Methode, Die trägt zur Schau Ihrer Leute Mode. Nichts hasse ich mehr als all die Verrenkungen Von denen, die sich ergehen in schönen Beteu’rungen, Die leutseligen Verteiler frivoler Umarmungen, Die verbindlichen Schwätzer nutzloser Erklärungen. Die in feinem Benehmen mit allen wetteifern, Mit selber Miene Ehrbaren wie Gecken begegnen. Welch Vorteil hat man, wenn einer Ihnen schmeichelt, Ihnen schwört Freundschaft, Vertrauen, Achtung und Liebe Und Sie preist in höchsten Tönen, Wenn beim nächsten Schuft er dasselbe tut?

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[…] Je veux qu’on me dinstingue; et pour trancher net, L’ami du genre humain n’est pas mon fait.

[…] Ich will nicht sein wie alle, ich sag es klar, Denn aller Menschen Freund zu sein, ist nicht mein Genre. (Verse 41–64)

Darauf folgt in dieser ersten Szene ein Dialog, in dem Philinte seine Position gegenüber Alceste verteidigt. Er sagt, dass man, wenn man zur gebildeten Welt gehöre, einige äusserliche Höflichkeiten erwidern müsse, welche die üblichen Umgangsformen verlangten. Darauf erwidert Alceste, dass dieser schändliche Umgang scheinbarer Freundschaft zu geisseln sei und dass in jeder Begegnung mit anderen der Grund unseres Herzens sich in unserer Rede zeigen müsse. Das heisst, er plädiert für eine vollständige Transparenz unseres Inneren im Äusseren. Philinte hält dem entgegen, dass die vollständige Offenheit in manchen Fällen lächerlich und kaum statthaft sei und es gut sein könne, seine Gefühle zu verbergen. Man könne nicht allen Leuten sagen, was man von ihnen denke. Doch Alceste lehnt dies alles mit Vehemenz ab. Darauf stellt Philinte mehrere rhetorische Fragen, die Alceste alle bejaht: Quoi? Vous allez dire à la vielle Emilie Qu’à son âge il sied mal à faire la jolie, Et que le blanc qu’elle a scandalise chacun? […] A Dorilas, qu’il est trop importun, Et qu’il n’est, à la cour, oreille qu’il ne lasse A conter sa bravoure et l’éclat de sa race?

Was? Der alten Emilie würden Sie sagen, Dass es in ihren Jahren nicht passt, die Schöne zu spielen, Dass ihr gepudert Gesicht jedermann ärgert? Dem Dorilas, dass er lästig fällt Und dass am Hof kein Ohr nicht ermüdet, Zu hören von seinem Mut und dem Glanz seines Geblüts? (Verse 81–85)

Philinte erwidert, dass Alceste wohl scherze, was dieser aber verneint. Er klagt vielmehr: Mes yeux sont trop bléssés, et la cour et la ville Ne m’offrent rien d’objets à m’echauffer la bile J’entre dans une humeur noir, et un chagrin profond, Quand je vois entre les hommes comme ils font.

Verletzt sind meine Augen, am Hof wie in der Stadt, Wo alles, was sich bietet, meine Galle erhitzt. Ich gerate in finstere Stimmung und tiefen Kummer, Wenn ich sehe, wie es zwischen den Menschen geschieht.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Je ne trouve partout que lâche flatterie, Qu’injustice, intérêt, trahison, fourberie Je n’y puis plus tenir, j’enrage, et mon dessin Est de rompre en visière à tout le genre humain.

Überall find ich nur feiges Flattieren, Nur Unrecht, Eigennutz, Verrat und Betrug. Ich halt’s nicht mehr aus, gerate in Wut und möcht nun Allen Menschen das Gröbste sagen.42 (Verse 89–96)

Philinte antwortet ihm, dass dieser «philosophische Kummer (chagrin philosophique)» zu wild, zu ungebildet sei und er über seine düsteren Anwandlungen lachen müsse. Es komme ihm vor, als seien sie die beiden Brüder, die (in Molières Komödie) L’école des maris (Die Schule der Ehemänner)43 miteinander aufgezogen wurden. Da fällt ihm Alceste ins Wort: Mon Dieu ! laissons là vos comparaisons fades. PHI Non: tout de bon, quittez toutes ces incartades. Le monde par vos soins ne changera pas.

Mein Gott! lassen Sie doch diese faden Vergleiche. O nein, vermeiden Sie doch solche Streiche! Ihr Bemühn wird die Welt nicht verändern. (Verse 101–103)

Weiter sagt ihm sein Freund Philinte «in aller Ehrlichkeit (tout franc)», dass die Ehrlichkeit/Aufrichtigkeit (franchise), die für ihn «einen so grossen Zauber habe (qui a tant d’appas)», dass diese Krankheit ihn zum Komödianten und dass sein «so grosser Groll auf die Sitten der Zeit (un si grand courroux contre les mœurs du temps)» ihn bei vielen Leuten lächerlich mache. Alceste antwortet darauf: Tant mieux, morbleu! tant mieux, c’est ce que je demande, C’est un bon signe, et ma joie en est grande. Tous les hommes me sont à tel point odieux,

Umso besser, zum Donner!, das ist, was ich will, Das ist ein gutes Zeichen, meine Freude gross. Alle Menschen sind so mir verhasst,

Anm. des Autors: Dies erinnert mich an den Gedanken (Pensée) Nr. 978 Pascals, den dieser etwa sechs Jahre vor der ersten Aufführung von Molières Misanthrope notiert hat (ich zitiere in eigener Übersetzung): «[…] So ist das menschliche Leben nur eine unaufhörliche Täuschung (illusion perpétuelle), man täuscht sich nur gegenseitig und flattiert sich gegenseitig. Niemand spricht in unserer Gegenwart so, wie er in unserer Abwesenheit spricht. Die Vereinigung (l’union) zwischen den Menschen ist nur auf dieser gegenseitigen Täuschung (mutuelle tromperie) gegründet […].» Pascal, Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Aux Editions du Seuil, Paris 1963, S. 637a. 43 Anm. des Autors. Diese Komödie Molières wurde zum ersten Mal am 24. Juni 1661 in Paris im Théâtre du Palais Royal aufgeführt, also fünf Jahre früher als Misanthrope. 42

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Que je serais fâché d’être sage à leurs yeux. PHIL Vous voulez un grand mal à la nature humaine! ALC Oui, j’ai conçu pour elle une effroyable haine. PHIL Tous les pauvres mortels, sans nulle exception, Seront enveloppés dans cette aversion? Encore en est-il bien dans le siècle où nous sommes … ALC Non, elle est générale, je hais tous les hommes Les uns, parce qu’ils sont méchants et malfaisants, Les autres pour être méchants complaisants. Et n’avoir pas pour eux ces haines rigoureuses Que doit donner le vice aux âmes vigoureuses.

In ihren Augen weise zu sein, kann nur mein’ Ärger erwecken. Sie wollen der Menschen Natur ein grosses Übel! Ja, ich hege gegen sie einen schrecklichen Hass. Alle armen Sterblichen, ohne jegliche Ausnahme, Sollen in dieser Abscheu begriffen sein? Gibt es doch in der Zeit, in der wir sind … Nein, sie ist allgemein, ich hasse alle Menschen, Die einen, weil sie böse sind und Schlechtes tun, Die anderen, weil sie den Bösen gefällig sind Und für sie nicht den rigorosen Hass verspüren, Den das Laster in starken Seelen erzeugen muss. (Verse 109–122)

Erste Zwischenbemerkung

Alceste ist nicht Menschenfeind (Misanthrope) dadurch, dass er konsequent aufrichtig (franc) ist und auch seinen Mitmenschen ehrlich, unverblümt sagt, was er von ihnen hält, und ihre Übel und konventionellen leeren Freundlichkeiten, ihr gegenseitiges Flattieren, die Gefälligkeit (complaisance) gegenüber den Übeltätern kritisiert. Durch solche Aufrichtigkeit könnte er sich bei einigen Leuten grossen Respekt erwerben, sogar einige motivieren, es ihm gleichzutun. Dies, obschon Alceste nicht zu allem, was ihm begründeterweise missfällt, etwas sagen müsste, sondern, wenn es keine wirklichen Lügen oder Ungerechtigkeiten sind, besser einfach schwiege. Doch bei vielen macht er sich durch seine Aufrichtigkeit unbeliebt und bei einigen eventuell sogar verhasst. Das braucht ihn aber nicht zu scheren. Denn es ist unnütze Zeitverschwendung, daran zu denken, was andere über einen denken, und sich darüber zu ärgern. Was Alceste zum Menschenfeind macht, ist die Tatsache, dass er die Menschen hasst, sie verabscheut, wie er in den oben zitierten Versen 111, 114, 118 mehrmals hervorhebt. Dieser Hass und diese Abscheu folgen aber keineswegs notwendig aus seiner Aufrichtigkeit. Dieser Hass ist ethisch wesentlich schlechter als jene mehr oder weniger verlogenen gesellschaftlichen Sitten und Gefälligkeiten (complaisances) «am Hof und in der Stadt». Denn diese Sitten lehnen jenen Hass als unmoralisch ab.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Keinen Mitmenschen sollen wir hassen, nicht einmal verurteilen, nicht einmal uns selbst. Nur einzelne ethisch schlechte Taten, wenn wir sie als solche wirklich erkennen, sollen wir verurteilen. Einen Menschen vermögen wir nie ganz zu erkennen. Jemand, der ethisch schlecht handelt, kann auch gute Seiten haben, die wir nicht kennen. Wir vermögen nur, Mitmenschen als ethisch gut zu erkennen, auch wenn sie in ihren Taten manchmal ethische Fehler machen, und dadurch in sie volles Vertrauen zu haben. Ohne ein solches Vertrauen in einige Menschen, d. h. ohne Freunde, ist es nicht schön und sehr schwierig zu leben. Es ist leichter, das ethisch Gute zu erkennen als das Schlechte, denn das ethisch Schlechte ist ein Mangel an ethisch Gutem. Etwas, was nicht da ist, was fehlt, ist schwieriger zu erkennen als etwas, was da ist, was existiert. Zweiter Teil (Verse 123–204): Diskussion des Alceste bevorstehenden Prozesses mit Oronte, dem Liebhaber von Célimène

Alceste nennt als Beispiel für die Falschheit der Menschen diejenige seines Rivalen Oronte, der ihn vor Gericht gezogen habe und der überall erfolgreich sei und Ansehen geniesse, doch verdiene, dass man ihn zu Schanden macht (confondre). Und er schliesst seine Schimpfrede mit den Worten: Et parfois il me prend des mouvement soudains De fuir dans un désert l’approche des humains.

Und manchmal überkommt mich plötzlich das Drängen, Dem Nah’n von Menschen in eine Wüste zu entfliehn. (Verse 142 f.)

Philinte versucht seinen Freund zu mässigen, indem er ihm vorschlägt, sich nicht so sehr über die Sitten der Zeit zu grämen und die menschliche Natur etwas gnädiger zu behandeln, und gibt ihm als Leitidee: La parfaite raison fuit toute extrémité, Et veut qu’on soit sage avec sobriété. […] Et c’est une folie à nulle autre seconde De vouloir se mêler de corriger le monde.

Die wahre Vernunft flieht alle Extreme, Und will, dass man weise mit Nüchternheit sei. […] Und es ist eine Verrücktheit sondergleichen Die Welt zu verbessern sich zu bemühn. (Verse 151–158)

Er sagt ihm weiter, dass er selbst all die Fehler, über die er sich so gräme, als mit der menschlichen Natur verbundene Laster (comme vices unis à la nature humaine) betrachte (Verse 173 f.). Er rät ihm, etwas weniger über seinen Gegner Oronte zu schimpfen und sich mehr um seinen Prozess zu kümmern und einen Rich-

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

ter aufzusuchen, um mit ihm zu sprechen. Doch Alceste weigert sich, dies zu tun, und erklärt, indem er sich über alles Menschliche auf die Ebene eines abstrakten Rechts erhebt: Non, j’ai résolu de n’en faire un pas. J’ai tort ou j’ai raison […] Je ne remuerai point. […] J’aurai le plasir de perdre mon procès […] Je verrai dans cette plaiderie, Sie les hommes auront assez d’effronterie, Seront assez méchants, scélérats et pervers Pour me faire injustice aux yeux de l’univers.

Nein, ich bin entschieden, keinen Schritt zu machen. Ich hab Recht oder Unrecht […], Ich werd mich mitnichten bewegen. […] Meinen Prozess zu verlieren, wird mir ein Vergnügen sein. […] Ich werde in diesem Prozess ersehen, Ob die Menschen genug Frechheit haben, Böse, verrucht und pervers genug sind, Um mir vor den Augen der Welt Unrecht zu tun. (Verse 191–200)

Dritter Teil (Verse 205–249): Alcestes Liebe zu Célimène

Philinte stellt nun Alceste die rhetorische Frage, ob er denn die vollkommene Geradheit und Redlichkeit, die er fordere, auch in derjenigen finde, die er liebe. Er wundere sich, dass er das, was sein Auge verzaubere, gerade bei dem gewählt habe, was ihm die Welt am meisten verhasst mache, und das Werben der ehrlichen Eliante (der Cousine von Célimène) und der sittsamen Arsinoé (der Freundin von Célimène) abweise. Er fragt ihn, ob bei einem so lieblichen Wesen wie bei der von vielen Freiern umworbenen schönen Witwe Célimène jenes von ihm so Gehasste kein Fehler mehr sei oder er es einfach übersehe oder entschuldige. Alceste antwortet, dass er all ihre Fehler sehe und verurteile, sie es aber dennoch verstehe, ihm zu gefallen. Er sagt: Sa grâce est la plus forte; et sans doute ma flamme De ces vices du temps pourra purger son âme. PHIL Si vous faites cela, vous ne ferez pas peu. Vous croyez être donc aimé d’elle? ALC Oui, parbleu! Je ne l’aimerais pas, si je ne croyais d’être.

Ihr Zauber triumphiert, mein Feuer wird der Schönen Die Laster dieser Zeit allmählich schon abgewöhnen. Wenn Sie das tun, tun Sie nicht wenig. Glauben Sie denn, von ihr geliebt zu sein? Ja, und wie! Ich würd sie nicht lieben, wenn ich’s nicht glaubte. (Verse 233–237)

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Philinte sagt ihm, dass es für ihn besser wäre, nicht Célimène, sondern deren Cousine Eliante ins Herz zu schliessen. Denn diese schätze ihn und ihr Herz sei ehrlich und beständig. Worauf Alceste antwortet: Il est vrai: ma raison me le dit chaque jour; Mais ma raison n’est pas ce qui règle l’amour.

Es ist wahr: jeden Tag sagt mir das die Vernunft; Doch ist es nicht meine Vernunft, was die Liebe regelt. (Verse 247 f.)

Erster Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt) Personen: Oronte, Alceste, Philinte Oronte, ein Liebhaber von Célimène und damit ein Konkurrent von Alceste, erscheint in deren Salon und berichtet, dass Eliante und ihre Cousine Célimène ausgegangen seien. Zu Alceste sagt er, dass er gehört habe, dass er sich hier befinde, und nun gekommen sei, um ihm ehrlichen Herzens zu sagen, dass er von ihm eine über alle Massen gute Meinung erhalten habe und dass diese gute Meinung schon seit Längerem in ihm den heftigen Wunsch (ardent désir) habe entstehen lassen, zu seinen Freunden gezählt zu werden. Es ist anzunehmen, dass er dies sagt, um von Alceste eine ähnliche Lobeshymne zu erhalten. Je crois qu’un ami chaud, et de ma qualité N’est pas assurément pour être rejeté.

Mein ich doch, dass ein Freund, gar meines Niveaus, Nicht etwas zu Verschmähendes ist. (Verse 259 f.)

Alceste antwortet, dass er von dieser Rede überrascht sei und nicht mit solchem Ehrenerweis gerechnet habe. Oronte erwidert, dass seine hohe Meinung ihn nicht zu überraschen brauche, denn «alles im Staat stehe hinter seinem hervorragenden Verdienst zurück». Und er bittet ihn, «um hier seine Gefühle zu beweisen (pour confirmer ici mes sentiments)», ihn zu umarmen und zu seinen Freunden zählen zu dürfen. Alceste antwortet: Monsieur, c’est trop d’honneur que vous me voulez faire; Mais l’amitié demande un peu plus de mystère.

Es ist zu viel der Ehre, die Sie mir schenken wollen: Aber die Freundschaft verlangt etwas mehr Tiefe.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Et c’est assurément en profaner le nom Que de vouloir le mettre à toute occasion.

Es hiesse wahrlich ihren Namen profanieren, Wollte man ihn bei jeder Gelegenheit applizieren. (Verse 277–280)

Oronte erklärt ihm daraufhin, dass er sich ihm gänzlich zur Verfügung stelle und dass er am Hof beim König keine unbedeutende Stellung habe und sich bei diesem gerne für ihn verwenden wolle. «Er [der König] hört mich an und geht in allen Dingen in der höflichsten Weise (le plus honnêtement) mit mir um» (Verse 291 f.). Schliesslich sagt er in seinem Lobpreis und als Ausdruck seiner Verbundenheit mit Alceste, dass er ein selbst verfasstes Sonett mitgebracht habe und von ihm gern erfahren wolle, ob er es veröffentlichen solle. Alceste antwortet ihm, dass er nicht der richtige Mann dazu sei, da er den Fehler habe, in solchen Dingen «etwas ehrlicher zu sein, als es sein müsse (d’être un peu plus sincère en cela qu’il ne faut)» (Vers 300). Oronte antwortet ihm, dass er diese Ehrlichkeit gerade wünsche. Er liest umständlich das Sonett vor und findet bei Philinte Beifall. Alceste beschimpft leise seinen Freund als Schmeichler. Zu Oronte sagt er durch die Blume: Monsieur, cette matière est toujours délicate, Et sur le bel esprit nous aimons qu’on nous flatte. Mais un jour, à quelqu’un, dont je tairai le nom, Je disais en voyant des vers de sa façon, Qu’il faut qu’un galant homme ait toujours grand empire Sur les démangeaisons qui nous prennent d’écrire; Qu’il doit tenir la bride aux grands empressements Qu’on a de faire éclat de ses amusements; Et que, par la chaleur de montrer ses ouvrages, On s’expose à jouer de mauvais personnages.

Mein Herr, diese Sache ist immer delikat, In schönen Künsten lassen wir uns gerne schmeicheln. Doch eines Tages einem, dessen Namen ich verschweige, Sagt’ ich, nachdem ich Verse seiner Art sah, Dass ein Ehrenmann Beherrschung zeigen müsse Über die Kitzel, die uns zum Schreiben treiben; Dass er das grosse Verlangen zügle, Seine Amusements zum Leuchten zu bringen; Und dass durch den Eifer, seine Werke zu zeigen, Man Gefahr laufe, schlechte Rollen zu spielen. (Verse 341–350)

Nach diesen gewundenen Reden sagt er ihm schliesslich klar ins Gesicht, dass sein Sonett schubladisiert werden müsse: «franchement il est bon à mettre au cabinet» (Vers 376). Und er fügt hinzu, dass es in den Zeiten «unserer ungehobelteren Väter [nos pères tout grossier]» mit dem Dichten besser gewesen sei und

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

dass alles, was heute bewundert werde, nicht an das folgende alte Lied (vieux chanson) heranreiche: Si le Roi m’avait donné Paris sa grand’ ville,

Wenn mir der König schenken wollt, seine grosse Stadt Paris,

Et qu’il me fallût quitter L’amour de ma vie,

Von mir dafür verlangen sollt, Dass ich die Liebste liess.

Je dirais au Roi Henri: «Reprend votre Paris:

Ich sagt’ dem König Henri: «Nein, Nehmt Eure Stadt zurück!

J’aime mieux ma mie, au gué! J’aime mieu ma mie.»

Ich will bei meiner Liebsten sein, Bei mir habt Ihr kein Glück.»44 (Verse 393–400)

Dieses Lied singt Alceste gleich zwei Mal vor, und es besteht kein Zweifel, dass der Darsteller dieser Rolle dabei von der Musikkapelle und wohl auch einem Sängerensemble des königlichen Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully (1632–1687) begleitet wurde, der von 1664 bis 1671 mit Molière zusammenarbeitete. Ich stelle mir vor, dass bei den Aufführungen des Misanthrope zu Molières Lebenszeit beim zweiten Mal das anwesende Publikum zusammen mit Alceste, d. h. damals mit Molière, dieses Lied sang. Vielleicht singt auch heute noch bei den Aufführungen des Misanthrope in der Comédie Française bei diesem einfachen, von Alceste vorgetragenen Lied das Publikum mit. Denn dieses Lied ist in Frankreich bis heute populär, es wurde z. B. auch vom sehr bekannten Chansonnier Georges Brassens (1921–1981) gesungen. Ich muss gestehen, dass ich leider noch nie an

Hartmut Köhler, der oben erwähnte Übersetzer und Herausgeber der französisch-deutschen Ausgabe von Molières Misanthrope (Reclam Verlag 1993) schreibt in einer Anmerkung auf S. 196 dieser Ausgabe über dieses Lied das Folgende: «Laut Rudolf Telling handelt es sich um eine Variante eines Liedes, das Du Cauroy, Kapellmeister unter Heinrich IV. [französischer König 1589–1610], zugeschrieben wird. Heinrichs Vater Antoine de Bourbon besass an der Loire das Schloss Bonne Aventure, wo [Pierre] Ronsard [1524–1585] ein Lied mit dem Refrain La bonne aventure au gué (gué: Furt) komponiert haben soll. Das Lied hat eine zweite Strophe: Or le Roi n’a pas donné Paris, sa grande ville, Mais il m’a fallu quitter L’amour de ma vie, Et j’ai dit au Roi Henri: ‹Laissez moi mourir ici, J’ai perdu ma mie, o gué! J’ai perdu ma mie!›» 44

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

einer Aufführung von Molières Misanthrope in der Comédie Française teilgenommen habe. Doch Oronte bleibt bei der Auffassung, dass seine Verse sehr gut (fort bons) seien. Nach gegenseitigen bissigen Bemerkungen verabschieden sich Alceste und Oronte auf höflichste Weise. Oronte sagt: Je suis votre valet, Monsieur de tout mon cœur. ALC Et moi, je suis, Monsieur, votre humble serviteur.

Mein Herr, ich bin Ihr Knecht aus ganzem Herzen. Und ich, mein Herr, bin Ihr gehorsamer Diener. (Verse 437–438)

Erster Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt) Personen: Philinte, Alceste Die Kürze (sechs Verse) dieser Schlussszene (als Finale) des ersten Aktes erlaubt, diese schnelle, sich wechselseitig unterbrechende Wechselrede vollständig wiederzugeben: PHIL: Hé bien! Vous le voyez: pour être trop sincère Vous voilà sur les bras d’une mauvaise affaire; J’ai bien vue qu’Oronte, afin d’être flatté … ALC Ne me parlez pas. PHIL Mais … ALC Plus de société! PHIL C’est trop … ALC Laissez moi là! PHIL Si je … ALC Point de langage! PHIL Mais quoi …? ALC Je n’entends rien. PHIL Mais … ALC Encore? PHIL On outrage … ALC Ah! Parbleu! C’en est trop; ne suivez pas mes pas! PHIL Vous, vous moquez de moi, je ne vous quitte pas.

Also, Sie sehen, weil Sie zu ehrlich sind, Haben Sie jetzt eine Affäre am Hals; Ich sah sehr wohl, dass Oronte, um geschmeichelt zu werden … Reden Sie nicht weiter. Aber … Keine Gesellschaft mehr! Das geht zu weit … Lassen Sie mich! Wenn ich … Schweigen Sie still! Aber was …? Ich höre nichts. Doch … Noch was? Man schimpft … Zum Donner, das geht zu weit, lassen Sie mich! Sie verspotten mich, ich verlasse Sie nicht. (Verse 441–446)

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Zweiter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt) Personen: Alceste, Célimène Endlich erreicht Alceste das Ziel seines Wartens im Salon seiner Geliebten. Er kann allein mit Célimène sprechen. Doch er erreicht nicht, was er von ihr hören will, und ihr Gespräch wird durch die Ankündigung, dass der Markgraf (Marquis) Acaste eintreffe, beendet. Der in seiner Ehrlichkeit ungeschickte Alceste beginnt gleich damit, seine Geliebte zu tadeln: Madame, voulez-vous que je vos parle net? De vos façons d’agir je ne suis pas satisfait. Contre elles dans mon cœur trop de bile s’assemble, Et je sens qu’il faudra que nous rompions ensemble.

Madame, wollen Sie, dass ich zu Ihnen deutlich spreche? Mit Ihrer Art zu handeln bin ich nicht zufrieden. Dagegen häuft sich in meinem Herz zu viel Galle, Und ich fühle, dass wir brechen müssen. (Verse 447–450)

Célimène fragt ihn darauf, ob er sie nur in den Salon gerufen habe, um sich mit ihr zu streiten. Er antwortet ihr, dies sei keineswegs der Fall, doch er kritisiert sie wegen ihrer allzu vielen sie bestürmenden Liebhaber. Damit könne er sich nicht abfinden. Célimène erwidert: Puis-je empêcher les gens de me trovuer aimable? Et lorsque pour me voir ils font de doux efforts, Dois-je prendre un bâton pour les mettre dehors? ALC Non, ce n’est pas, Madame, un bâton qu’il faut prendre, Mais un cœur à leur vœux moins facile et moins tendre. […] Mais au moins dites-moi, Madame, par quel sort Votre Clitandre a l’heur de vous plaire si fort? […] Est-ce par l’ongle long qu’il port au petit doigt Qu’il s’est acquis chez vous l’estime où l’on le voit?

Kann ich denn die Leute hindern, mich liebenswert zu finden? Und wenn, um mich zu sehen, sie zärtlich sich bemühn, Muss ich sie dann mit einem Stock aus dem Hause treiben? Nein, Madame, einen Stock müssen Sie nicht nehmen, Sondern ein für ihr Verlangen weniger empängliches und weiches Herz. […] Sagen Sie mir doch, Madame, durch welchen Zauber Ihr Clitandre das Glück hat, Ihnen so sehr zu gefallen? […] Ist es der lange Nagel an seinem kleinen Finger, Wodurch er die Gunst erwarb, in der man ihn sieht?

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Vous êtes-vous rendu avec tout le beau monde, Au mérite éclatant de sa perruque blonde? Sont-ce ses grand canons qui vous le font aimer? L’amas de ses rubans a-t-il su vous charmer? Est-ce par les appas de sa vaste rhingrave Qu’il a gagné votre âme en faisant votre esclave? Ou sa façon de rire et son ton de fausset Ont-ils de vous toucher le secret?

Haben Sie sich mit der ganzen schönen Welt Dem glänzenden Verdienst seiner blonden Perücke ergeben? Sind es seine grossen Schriftzeichen, die Ihre Liebe erobern? Ist es der Haufen seiner Bänder, der Sie behext? Ist es die Anmut seiner grossen Rheingrafenhose, Wodurch er als Ihr Sklave Ihre Seele erobert? Oder haben sein Lachen und seine Fistelstimme Das Geheimnis, Sie zu rühren? (Verse 462–488)

Auf diese ironischen Fragen Alcestes antwortet Célimène, dass er ungerechterweise auf Oronte eifersüchtig sei, da sie diesen nur deshalb schone, weil er ihr versprochen habe, dass er ihr durch seine Freunde bei ihrem Gerichtsprozess nützlich sein könne. Alceste antwortet ihr, dass sie besser daran täte, ihren Prozess zu verlieren, als einen Rivalen von ihm zu schonen, der ihn beleidige. Célimène erwidert: Mais de tout l’univers vous devenez jaloux. ALC C’est que tout l’univers est bien reçu de vous. CEL C’est ce qui doit rasseoir votre âme affarouchée, Puisque ma complaisance est sur tous épanchée.

Doch Sie werden eifersüchtig auf alle Welt. Eben weil jedermann bei Ihnen willkommen ist. Das ist es, was Ihre erzürnte Seele besänftigen muss, Da ich ja allen gefällig bin. (Verse 495–498)

Nach weiterem Hin und Her verkündet Alceste, dass er, wenn er sein Herz ihren Händen entreissen könnte, dem Himmel für so viel Glückseligkeit danken würde. Dass ihm dies bisher nicht gelungen sei, sei wohl die Strafe für seine Sünden. Célimène bemerkt, dass sein Feuer für sie ohne Beispiel sei; Alceste gibt ihr recht: Niemand habe jemanden so geliebt wie er sie. Célimène antwortet: En effet, la méthode est toute nouvelle, Car vous aimez les gens pour leur faire querelle. Ce n’est qu’en mots fâcheux qu’éclate votre ardeur,

In der Tat ist die Methode dabei ganz neu, Denn Sie lieben die Leute, um sie zu schelten. Nur in verärgerten Worten bricht Ihr Feuer aus,

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Et l’on n’a vu jamais un amour si grondeur.

Noch nie sah man eine so zänkische Liebe. (Verse 525–528)

Ihr Gespräch wird unterbrochen durch die Ankündigung von Célimènes Diener Basque, dass der Markgraf Acaste unten im Hause eingetroffen sei. Zweiter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt) Personen: Célimène, Basque, Alceste Célimène sagt Basque, dass er Acaste herauflassen soll. Alceste beklagt sich, dass er nie ungestört mit ihr sprechen könne. Sie verteidigt sich damit, dass Alceste es ihr nie verzeihen würde, wenn sie ihn nicht zu ihr kommen liesse. Alceste sagt dazu am Schluss dieser kurzen Szene, bevor er von Basques Ankündigung des Markgrafen Clitandre unterbrochen wird: Enfin, quoi qu’il en soit, et sur quoi on se fonde, Vous trouvez toujours une raison pour souffrir tout le monde, Et les précautions de votre jugement …

Also, egal wie es ist und wie man begründet, Sie finden immer einen Grund, die ganze Welt zu empfangen. Und die Vorsichtigkeit Ihres Urteils … (Verse 449–551)

Zweiter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt) Personen: Basque, Alceste, Célimène Als Alceste von Clitandres Eintreffen erfährt, will er gehen. Célimène will ihn zurückhalten, doch schliesslich sagt sie: Hé bien! Allez, sortez, il vous est tout loisible.

Also denn, gehen Sie, gehen Sie hinaus, ganz wie Sie wollen. (Vers 558)

Zweiter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt) Personen: Eliante, Philinte, Acaste, Clitandre, Alceste, Célimène, Basque In der ersten Hälfte dieser langen Szene (183 Verse) mit fünf Gesprächsteilnehmern lästern die beiden Markgrafen Clitandre und Acaste über die verschiedensten Leute am königlichen Hof und bekommen dabei tatkräftige Unterstützung von Célimène. Schliesslich fällt Alceste den beiden Markgrafen mit scharfer Kritik in die Rede:

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Allons, ferme, poussez, mes bons amis de la cour. Vous n’en épargnez point, et chacun à son tour. Cependant aucun d’eux à vos yeux ne se montre, Qu’on ne vous voie, en hâte, à sa rencontre, Lui présenter la main, et d’un baiser flatteur Appuyer les serments d’être son serviteur.

Nur zu, meine guten Freunde des Hofs! Verschont mir keinen, einen nach dem anderen! Doch wenn einer sich Euren Augen zeigt, Dann lauft Ihr in Eile ihm entgegen, Ihm Eure Hand zu geben und mit einem flattierenden Kuss Eure Schwüre zu stützen, sein Diener zu sein. (Verse 651–656)

Die Markgrafen entgegnen Alceste, dass er seine Vorwürfe an die Adresse von Célimène richten müsse. Alceste erwidert, dass sie mit ihrem Beifallslachen Célimènes Schmähreden provoziert hätten. Célimène stellt sich ihrem Liebhaber Alceste wie folgt entgegen, wobei sie ihm vorwirft, dass er sich sogar selbst widerspreche: Et ne faut-il pas que Monsieur contredise? A la commune voix veut-on qu’il se réduise, Et qu’il ne fasse pas éclater en tout lieu L’esprit contrariant qu’il a reçu des cieux? Le sentiment d’autrui n’est jamais pour lui plaire, Il prend toujours en main l’opinion contraire, Et penserait paraître un homme du commun, Si l’on voyait qu’il fût de l’avis de quelqu’un. L’honneur de contredire a pour lui tant de charmes, Qu’il prend contre lui assez souvent les armes, Et ses vrais sentiments sont combattus par lui, Aussitôt qu’il les voit dans la bouche d’autrui.

Muss denn mein Herr nicht stets den Widerspruch ergreifen? Soll er sich etwa auf die Meinung aller reduzieren Und nicht an jedem Ort zum Strahlen bringen Den Geist des Widerspruchs, den er vom Himmel hat empfangen? Der anderen Meinung ist ihm kein Vergnügen, Das Gegenteil zu sagen ist stets sein Tun, Er käme sich gewöhnlich vor, Wenn er die Ansicht eines andern teilte. Zu widersprechen ist für ihn von solcher Ehr und solchem Reiz, Dass ziemlich oft er gegen sich das Schwert ergreift, Und sein wahres Urteil wird bekämpft, Sobald es aus dem Munde andrer kommt.

Alceste bemerkt dazu überlegen: Les rires sont pour vous, Madame, c’est tout dire,

Die Lacher sind, Madame, auf Ihrer Seite, so ist’s gesagt,

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Et vous pouvez pousser contre moi la satire.

Und gegen mich können Sie wenden die Satire. (Verse 669–682)

Doch bald darauf folgt eine Diskussion zwischen Alceste und der aufrichtigen Eliante, der Cousine von Célimène. Alceste vertritt die Auffassung, dass man, je mehr man jemanden liebe, diesem desto weniger schmeicheln dürfe, woraus Célimène folgert, man müsse dann also auf alle Lieblichkeiten (douceurs) gegenüber dem geliebten Menschen verzichten. Dagegen sagt Eliante, die vierte Szene abschliessend: L’amour, pour l’ordinaire, est peu fait à ces lois, Et l’on voit les amants vanter toujours leur choix. Jamais leur passion n’y voit rien de blâmable, Et dans l’objet aimé tout leur devient aimable: Ils comptent les défauts pour des perfections, Et savent y donner de favorables noms. La pâle est aux jasmins en blancheur comparable, La noire à faire peur une brune adorable, La maigre a de la taille et de liberté, La grasse est dans son port pleine de majesté, La malpropre sur soi, de peu d’attraits chargée, Est mise sous le nom de beauté négligée, La géante paraît une déesse aus yeux, La naine, un abrégé des merveilles des cieux, L’orgueilleuse a le cœur digne d’une couronne, La fourbe a de l’esprit; la sotte et toute bonne, La trop grande parleuse est d’agréable humeur, Et la muette garde une honnête pudeur.

Im Allgemeinen folgt Liebe nicht solchen Gesetzen, Immer sieht man die verliebten Männer rühmen ihre Wahl. Ihre Leidenschaft sieht nie das, was zu tadeln wäre, Und an der von ihnen Geliebten wird alles liebenswert: Als Vollkommenheiten betrachten sie die Fehler Und können die allerschönsten Namen ihnen geben. Dem Jasminweiss vergleichbar ist die Bleiche, Die beängstigend Schwarze ist verehrenswert gebräunt, Die Magere hat Taille und ist erstaunenswert beweglich, Die Fette ist in ihrem Gehen voller Majestät, Die Schmutzige, mit wenig Reizen ausgestattet, Erhält den Namen der überseh’nen Schönen, Die Riesengrosse erscheint dem Aug’ als eine Göttin, Die Zwergenhafte als Konzentrat des schönen Himmels, Die Stolze hat das einer Krone würdig Herz, Die Betrügerische hat Köpfchen, die Dumme ist die Güte selbst, Die Geschwätzige ist von angenehmer Laune, Die Stumme von ehrenwerter Scham.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

C’est ainsi qu’un amant dont l’ardeur est extrême Aime jusqu’aux défauts des personnes qu’il aime.

So kommt es, dass ein Verliebter höchster Glut Auch der Personen Mängel liebt, für die er glüht. (Verse 711–730)

Zweiter Akt (Aufzug), fünfte Szene (fünfter Auftritt) Personen: Basque, Alceste, Célimène In dieser kurzen Szene meldet Basque, der Diener Célimènes, Alceste die Ankunft eines Mannes, der ihn in einer sehr dringenden Sache sprechen möchte. Alceste bittet Basque, jenem zu sagen, dass er keine so dringende Angelegenheit habe. Auf den Rat Célimènes lässt er ihn dann doch hereinkommen. Zweiter Akt (Aufzug), sechste Szene (sechster Auftritt) Personen: Gerichtsdiener, Alceste, Célimène, Philinte Der Gerichtsdiener meldet Alceste im Auftrag der beiden Markgrafen Acaste und Clitandre, dass er sich unverzüglich zu diesen begeben solle. Sein Freund Philinte erklärt ihm, dass es um die lächerliche Affäre zwischen ihm und Oronte gehe und dass man jetzt gleich zu Beginn die Sache gütig regeln wolle. Alceste antwortet, dass er niemals feige und gefällig sein werde, und fragt, ob er denn etwa durch den Schiedsspruch jener beiden Herren dazu verurteilt werden solle, die Verse Orontes, um die es in ihrem Streit geht, gut zu finden. Philinte rät ihm, eine umgänglichere Haltung an den Tag zu legen. Doch Alceste zeigt sich unbeugsam: Nur ein Befehl des Königs könne ihn zu so etwas bringen. Doch auf Befehl Célimènes gibt er schliesslich nach und begibt sich zu Acaste und Clitandre. Dritter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt) Personen: Clitandre, Acaste Die beiden Markgrafen Clitandre und Acaste befinden sich in dieser Szene allein im Salon von Célimène, die sie beide wie viele andere anbeten. Clitandre fragt Arcaste, ob er denn wirklich Anlass habe, mit sich selbst so zufrieden zu sein. Acaste antwortet mit grösster Selbstgefälligkeit, er sehe keinen Anlass, Kummer mit sich herumzutragen. Er sei wohlhabend, jung, komme aus vornehmem Haus und dürfe annehmen, dass bei dem Rang, den ihm seine Abstammung verleihe, höchst wenige Ämter ihm verschlossen blieben. An Mut, den er wie auch Clitandre am höchsten bewerte, fehle es ihm bekanntlich nicht. Er habe auch Geist

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

und guten Geschmack (esprit et bon goût), um sich damit bei allem ein Urteil erlauben zu dürfen. Besonders bei den Neuigkeiten im Theater, die er vergöttere (dont je suis idolâtre), vermöge er souverän zu urteilen und bei allen schönen Stellen zu lärmen (faire du fracas). Er sei gewandt, sehe gut aus und sei auch gesund, habe vor allem eine schlanke Taille und schöne Zähne, sei gut gekleidet, beliebt beim schönen Geschlecht und beim Meister (auprès du maître), d. h. beim König, wohlgelitten. Clitandre wendet ein, warum er, der so leicht bei den Schönheiten Eroberungen mache, denn hier (bei Célimène) «unnütze Seufzer ausstosse (pousser des soupir inutiles)». Acaste entgegnet, er sei nicht von der Art derer, die sich einfach dreinschicken, wenn eine Schöne ihnen den Rücken zeigt. Er fügt hinzu: Je pense, Dieu merci! qu’on vaut son prix comme elles, Que pour se faire honneur d’un cœur comme le mien, Ce n’est pas raison qu’il ne leur coûte rien.

Gott sei Dank, man hat seinen Preis wie sie, Und will man geehrt sein durch ein Herz wie meins, So besteht kein Grund, dass dies für sie nichts koste. (Verse 818–820)

Acaste sagt, dass er bei Célimène einige Aussichten habe, worauf ihm Clitandre entgegnet: Crois-moi, détache-toi de cette erreur extrême, Tu te flattes, mon cher, et t’aveugles toimême.

Glaube mir, befreie dich von diesem riesengrossen Irrtum, Du schmeichelst dir, mein Lieber, und machst dich blind.

Darauf wird Acaste ironisch: Il est vrai, je me flatte et m’aveugle en effet. CLI Mais qui te fait juger ton bonheur si parfait? ACA Je me flatte. CLI Sur quoi fonder tes conjectures? ACA Je m’aveugle. CLI En as-tu des preuves qui soient sûres? ACA Je m’abuse, te dis-je. CLI Est-ce que de ses vœux Célimène t’a fait quelques secrets aveux? ACA Non, je suis maltraité.

Es ist wahr, ich schmeichle mir und mach mich blind. Doch was lässt dich denken, dass dein Glück vollkommen sei? Ich schmeichle mir. Worauf sind deine Vermutungen gegründet? Ich mach mich blind. Hast du sichere Beweise? Ich sage dir, ich täusche mich. Hat von ihren Gelübden Célimène dir Geheimes eingestanden? Nein, ich werde misshandelt.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

CLI Réponds-moi, je te prie. ACA Je n’ai que des rebuts. CLI Laissons les railleries, Et me dis quel espoir on peut d’avoir donné. ACA Je suis le misérable, et toi le fortuné. On a pour ma personne une aversion grande, Et quelqu’un de ces jours, il faut que je me pende.

Antworte, ich bitte dich. Ich bin nur abgeblitzt. Keine Scherze mehr! Und sage mir, welch’ Hoffnung gab sie dir. Ich bin elend, und du im Glück. Mir ist sie gänzlich abgeneigt, An einem dieser Tage muss ich mich erhängen. (Verse 825–837)

Clitandre schlägt nun folgenden Pakt vor, dem Aceste freudvoll zustimmt: Wenn einer von ihnen beiden über ein sicheres Anzeichen verfügt, dass er bei Célimène den besseren Teil errungen hat, soll der andere vor dem siegenden Bräutigam (vainqueur prétendu) das Feld räumen und ihn so von einem Rivalen befreien. Dritter Akt (Aufzug), zweite und dritte Szene (zweiter und dritter Auftritt) Personen: Célimène, Clitandre, Acaste Célimène erscheint im Salon und fragt die beiden Markgrafen, ob sie wüssten, wer soeben in einer Karosse unten vorgefahren sei. Diese verneinen. Darauf meldet Basque seiner Herrin, dass Arsinoé sie besuchen komme. Acaste sagt über diese, dass sie überall als eine «vollendete Spröde (prude consommée)» gelte. Célimène lästert über ihre Freundin in den schrillsten Tönen. Dies sei nichts anderes als «Verstellung (grimace)». Sie lasse nichts unversucht, um jemanden aufzugabeln, nur schaffe sie es nicht. Selbst für Alceste habe sie zärtliche Gefühle. Mit ihrer wütenden Eifersucht ziehe Arsinoé sogar über sie (Célimène) her. Dritter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt) Personen: Arsinoé, Célimène Als Arsinoé im Salon eintrifft, wird sie von Célimène mit Worten begrüsst, die vollständig anders klingen als diejenigen, die kurz davor in deren Abwesenheit geäussert wurden: Ah! Quel heureux sort en ce lieu vous amène? Madame, sans mentir, j’étais de vous en peine. ARS Je viens pour quelque avis que j’ai cru vous devoir.

Oh, welch’ glückliches Geschick führt Sie an diesen Ort? Madame, ich lüge nicht, ich hab Sie vermisst. Ich komm, um Sie auf etwas hinzuweisen, was ich Ihnen schuldig bin.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

CEL Ah, mon Dieu! Que je suis contente de vous voir. […] ARS Madame, l’amitié doit surtout éclater Aux choses qui le plus peuvent nous importer. Et comme il n’en est point de plus grande importance Que celle de l’honneur et de la bienséance, Je viens, par un avis qui touche votre honneur, Témoigner l’amitié que pour vous a mon cœur.

Mein Gott, wie Sie zu sehn ich glücklich bin. […] Madame, die Freundschaft muss vor allem strahlen Bei Dingen, die uns sehr wichtig sind. Und da es gar nichts gibt, was wichtiger ist Als Ehre und die Schicklichkeit, Komm ich mit einer Nachricht über Ihre Ehre, Um zu zeugen für die Freundschaft, die ich für Sie im Herzen trage. (Verse 873–884)

Arsinoé berichtet ihrer Freundin nun, dass sie gestern «bei Leuten hervorragender Tugend (des gens de vertu singulière)» gewesen sei, wobei das Gespräch auf sie (Célimène) gekommen sei. Man habe sie ganz und gar nicht gelobt. Vielmehr hätten bei «dieser Menge von Leuten (cette foule des gens)», von denen sie sich besuchen lasse, ihre Liebeshändel und die daraus entstehenden Gerüchte mehr und strengere Missbilligung gefunden, als es nötig gewesen wäre und als sie gewünscht habe. Sie habe für sie Partei genommen. Aber sie wisse ja, dass es Dinge im Leben gebe, die sich bei bestem Willen nicht entschuldigen liessen. Die nicht nur sehr attraktive, sondern offensichtlich auch gar nicht auf den Kopf gefallene Célimène kontert auf folgende Weise: Madame, j’ai beaucoup de grâces à vous rendre: Un tel avis m’oblige, et loin de le mal prendre, J’en prétends reconnaître, à l’instant, la faveur, Par un avis aussi qui touche votre honneur. Et comme je vous vois vous montrer mon amie En m’apprenant les bruits que de moi on publie, Je veux suivre, à mon tour, un exemple si doux, En vous avertissant de ce qu’on dit de vous.

Madame, ich habe Ihnen vielen Dank zu geben: Ein solcher Hinweis verpflichtet und ist nicht zu verargen, Ich möchte sogleich Ihre Gunst erwidern Durch einen Hinweis, der Ihre Ehre anbetrifft. Und da ich sehe, dass Sie sich als meine Freundin zeigen, Da Sie mir Gerüchte sagen, die über mich verbreitet werden, So will ich selbst so einem lieben Beispiel folgen, Indem ich Ihnen sage, was man von Ihnen sagt. (Verse 913–920)

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Sie berichtet, dass sie unlängst bei «einigen Leuten von seltenem Verdienst (quelques gens d’un rare mérite)» gewesen sei. Man habe von dem gesprochen, um das sich eine gut lebende Seele kümmere, und sei dabei auf sie gekommen. Da seien ihre Sprödigkeit und der Glanz ihres Eifers, ihre ewigen Reden über Weisheit und Ehrenhaftigkeit, ihre hohe Selbstgefälligkeit und ihre erbarmungsvollen Blicke auf andere, ihre zahlreichen Zurechtweisungen und ihre bittere Zensur gegenüber unschuldigen und reinen Dingen einhellig getadelt worden. Was nützten, habe es geheissen, diese bescheidene Miene und dieses weise Äussere, das von allem anderen Lügen gestraft werde? Wenn es ums Beten gehe, sei sie bis auf das letzte Pünktchen genau, aber sie schlage ihr Personal und zahle ihnen keinen Lohn. «Bei den Bildern lässt sie das Nackte verdecken, aber beim Wirklichen ist sie diesem durchaus zugetan (elle fait des tableaux couvrir les nudités, mais elle a de l’amour pour les réalités)» (Verse 943 f.). Célimène berichtet Arsinoé weiter, dass sie sie gegen jeden in Schutz genommen und versichert habe, dass dies alles bloss üble Nachrede sei. Doch am Schluss habe es geheissen, sie (Arsinoé) täte besser daran, sich nicht so sehr darum zu kümmern, was andere tun, sondern vielmehr auf ihr eigenes Tun zu achten. Célimène schliesst mit den Worten: Madame, je vous crois aussi trop raisonnable, Pour ne pas prendre bien cet avis profitable, Et pour l’attribuer qu’aux mouvements secrets D’un zèle qui m’attache à tous vos intérêts.

Ich finde Sie, Madame, zu weise, Um diesen vorteilhaften Hinweis zu verübeln, Und ihn andern Regungen zuzuschreiben Als dem Eifer, den ich für Ihr Interesse hege. (Verse 957–960)

Doch Arsinoé erwidert, dass sie eine solche Antwort nicht erwartet habe und darin den Ausdruck von Célimènes Bitterkeit über das sehe, was sie ihr zuvor über das mitgeteilt habe, was «Leute hervorragender Tugend (des gens de vertu singulière)» über ihre Liebeshändel sagten. Doch Célimène weist diese Anschuldigung ihrer Freundin sehr klug und freundlich als Missverständnis zurück: Au contraire, Madame, et si l’on était sage, Ces avis mutuels seraient mis en usage: On détruirait par-là, traitant de bonne foi, Ce grand aveuglement où chacun est pour soi.

Im Gegenteil, Madame, wenn wir weise wären, Würden wir uns solche Hinweis’ zur Gewohnheit machen: Wir würden dadurch offen und in Ehrlichkeit Zerstören die Verblendung, in welcher jeder für sich steckt. (Verse 965–968)

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Doch durch die Entgegnungen von Célimène werden Arsinoés Hinweise immer giftiger, wobei Célimène ihre freundliche Fassade bewahrt. Schliesslich fällt Arsinoé ihr ins Wort und sagt wütend: Brisons, Madame, un pareil entretien! Il pousserait trop loin votre esprit et le mien. Et j’aurais pris déjà le congé qu’il faut prendre, Si mon carrosse encor ne m’obligeait d’attendre.

Brechen wir, Madame, jetzt solch Unterredung ab! Sie würde unseren Geist zu weit treiben. Ich hätt’ mich längst von hier davongemacht, Wenn ich nicht noch auf meinen Wagen warten müsste. (Verse 1027–1030)

Célimène antwortet, dass sie so lange bei ihr bleiben könne, wie sie wolle. Doch sie wolle sie nun ohne ein sie ermüdendes Zeremoniell verlassen und ihr eine bessere Gesellschaft verschaffen, nämlich Alceste, den der Zufall herbeigeführt habe. Sie sagt diesem, dass sie noch dringend einen Brief zu schreiben habe, und bittet ihn, sich mit Arsinoé zu unterhalten, die ihr ihre Unhöflichkeit leicht verzeihen werde: «Soyez avec Madame, elle aura la bonté, d’excuser aisément mon incivilité» (Verse 1039 f.). Dritter Akt (Aufzug), fünfte Szene (fünfter Auftritt) Personen: Alceste, Arsinoé Arsinoé beginnt damit, Alceste in höchsten Tönen zu schmeicheln: En vérité, les gens d’un mérite sublime Entrainent de chacun et l’amour et l’estime. Et le vôtre, sans doute, a des secrets, Qui font entrer mon cœur dans tous vos intérêts.

Die Leute von erhabenem Verdienst Gewinnen wahrlich allseits Liebe sowie Achtung. Und der Ihre hat gewiss Geheimes, Sodass Ihr Interesse gänzlich mir am Herzen liegt. (Verse 1045–1048)

Sie sagt ihm, sie hätte gerne, dass man am Hof ein gnädigeres Auge auf ihn und seine Verdienste würfe. Sie sei jeden Tag empört, dass man dort nichts für ihn tue. Alceste erwidert: Moi, Madame! Et sur quoi pourrais-je en rien prétendre?

Für mich, Madame? Worauf könnt Anspruch ich erheben?

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Quel service à l’Etat est-ce qu’on m’a vu rendre? Qu’ai-je fait, s’il vous plaît, de si brillant de soi, Pour me plaindre à la cour qu’on ne fait rien pour moi?

Welch’ Dienst am Staate sah man mich erweisen? Ich bitte Sie, ich habe doch nichts Glänzendes getan, Um mich beim Hofe zu beklagen, man tue nichts für mich. (Verse 1053–1056)

Arsinoé entgegnet Alceste, dass auch seine Fähigkeit und sein Verdienst vom Hof berücksichtigt werden sollten. Alceste erwidert, dass sie das Verdienst ausser Spiel lassen solle. Denn der Hof hätte zu viel zu tun, wenn er sich um jeden kümmern müsste, um dessen «Verdienste auszugraben (déterrer ses mérites)». Arsinoé sagt darauf: Un mérite éclatant se déterre lui-même. Du vôtre, en bien des lieux on fait un cas extrême. Et vous saurez de moi qu’en deux fort bons endroits Vous fûtes loués par des gens d’un grand poids.

Ein Verdienst, das helle strahlt, gräbt sich schon selber aus. Das Ihre wird an vielen Orten äusserst hoch geschätzt. Erfahren Sie von mir, dass an zwei sehr guten Orten Leute grosser Wichtigkeit gestern Sie aufs Höchste lobten. (Verse 1065–1068)

Alceste erwidert, dass heutzutage alle Welt gelobt und damit in einen Topf geworfen werde. Selbst sein Kammerdiener komme in die Gazette. Arsinoé fährt fort, dass sie es gerne sähe, wenn er, um besser in Erscheinung treten zu können, am Hof ein Amt übernähme. Dafür könnte sie einige Hebel in Bewegung setzen. Alceste entgegnet, dass seine Gemütsart (humeur) ihn vom Hof verbanne. Und fährt fort: Le Ciel ne m’a point fait, en me donnant le jour, Une âme compatible avec l’air de la cour. […] Etre franc et sincère est mon plus grand talent. Je ne sais point jouer les hommes en parlant. Et qui n’a pas le don de cacher ce qu’il pense Doit faire en ce pays fort peu de résidence.

Als der Himmel mich das Licht der Welt erblicken liess, Schuf er keine Seele, die mit der Hofluft sich verträgt. […] Offenheit und Ehrlichkeit, das ist mein grösstes Talent. Ich kann beim Reden nichts vormachen. Wer, was er denkt, nicht kann verbergen, Der hat in diesem Land kaum eine Bleibe. (Verse 1083–1090)

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Nachdem Arsinoés Plan gescheitert ist, für Alceste dadurch attraktiv zu werden, dass sie ihn lobt und ihm verspricht, sich mittels des von ihr prätendierten Einflusses am Hofe zu seinem Vorteil einzusetzen, beginnt sie, Célimène schlechtzumachen. Wahrscheinlich tut sie dies mit dem Hintergedanken, in seiner Liebe an ihre Stelle treten zu können. Doch auch das misslingt ihr. Sie sagt zu ihm: Vous méritez, sans doute, un sort beaucoup plus doux, Et celle qui vous charme est indigne de vous.

Sie verdienen, zweifellos, ein sanfteres Los, Die, welche Sie bezaubert, ist Ihrer würdig nicht. (Verse 1103 f.)

Alceste weist sie darauf hin, dass Célimène ihre Freundin sei, worauf Arsinoé erwidert, dass ihr Gewissen verwundet würde, wenn sie noch länger zusehen müsste, wie man mit ihm umgehe: Seine Liebe werde verraten (on trahit votre flamme). Alceste antwortet, dass dies schon möglich sei, denn man sehe nicht ins Herz (on ne voit pas dans le cœur). Doch ihre Güte hätte besser daran getan, ihm keinen solchen Gedanken in sein Herz zu werfen. Darauf erwidert Arsinoé: Si vous ne voulez pas être désabusé, Il faut ne vous rien dire, il est assez aisé. ALC Non, mais sur ce sujet quoi que l’on nous expose, Les doutes sont fâcheux plus que toute autre chose. Et je voudrais, pour moi, qu’on ne me fît savoir Que ce qu’avec clarté l’on peut me faire voir.

Wenn Sie vermeiden wollen, dass man Ihre Augen öffnet, Dann ist es leicht, es Ihnen zu verschweigen. Nein! Doch was man zu diesem Thema immer sagen mag, So sind Zweifel mehr fatal als alles andre. Und ich wollt, für meinen Teil, dass man mir alleine sagt, Was mit Klarheit mir bewiesen werden kann. (Verse 1119–1124)

Vierter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt) Personen: Philinte, Eliante Bei dieser ersten Szene des vierten Aktes fällt zunächst auf, dass in den Reden beider Gesprächspartner überhaupt keine Eigennamen vorkommen; sie werden alle durch Personalpronomen ersetzt. Und bei einer bestimmten Berufsgruppe wird nur von «jenen Herren (ces messieurs)» gesprochen. Doch wenn man den bisherigen Ablauf des Misanthrope kennt, weiss der Hörer, von wem die Rede ist. Zu Beginn der Szene berichtet Philinte Eliante das Folgende:

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Non, on n’a point vu d’âme à manier si dure, Ni d’accommodement plus pénible à conclure: En vain de tous les côtés on l’a voulu tourner, Hors de son sentiment on n’a pu l’entraîner. Et jamais différend si bizarrre, je pense, N’avait de ces messieurs occupé la prudence. «Non, Messieurs, disait-il, je ne me dédis point, Je tomberai d’accord de tout, hors de ce point. De quoi s’offense-t-il et que veut-il me dire? Y va-t-il de sa gloire à ne pas bien écrire? On peut être honnête homme et faire mal des vers: Ce n’est point à l’honneur que touchent ces matières. Je le tiens galant homme en toutes les manières, Homme de qualité, de mérite et de cœur. […]. Je louerai, si l’on veut, son train et sa dépense, Son adresse à cheval, aux armes, à la danse, Mais louer ses vers, je suis son serviteur. […]»

Nein, nie hat man eine Seele gesehn, so schwer mit ihr umzugehn, Noch so mühsam, einen Vergleich mit ihr zu schliessen: Vergeblich hat man sie von allen Seiten zu drehen versucht, Von ihrer Meinung hat man sie nicht abbringen können. Noch nie hat mit einem so bizarren Streitfall, denk ich, Einer dieser Herren die Klugheit betätigen müssen. «Nein, meine Herren», sagte er, «ich widerrufe nicht, Allem stimm ich zu, nur nicht in diesem Punkt. Wodurch fühlt er sich beleidigt und was will er sagen? Betrifft es seinen Ruhm, wenn er nicht gut schreibt? Man kann ein Mann von Ehre sein und schlechte Verse schmieden: An die Ehre rühren diese Dinge doch in keiner Weise. Ich halte ihn für einen Ehrenmann in allen Manieren, Für einen Mann von Qualität, Verdienst und Herz. […] Ich lobe, so man will, seine Art zu gehen und seinen Putz, Seine Gewandtheit zu Pferde, in den Waffen und beim Tanz, Aber um seine Verse zu loben, müsste ich sein Diener sein. […]» (Verse 1133–1151)

Weiter berichtet Philinte, dass das Einzige, worin er (Alceste) unter Anstrengung, seine Meinung zu ändern und seinen Stil zu mildern, glaubte, darin bestand, dass er ihm (Oronte) sagte: Monsieur, je suis fâché d’être si difficile,

Mein Herr, erzürnt bin ich, dass ich so schwierig bin,

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Et pour l’amour pour vous, je voudrais de bon cœur, Avoir trouvé tantôt votre sonnet meilleur.

Und aus Liebe für Sie wollt ich guten Herzens, Ich hätte Ihr Sonett kürzlich besser gefunden. (Verse 1158–1160)

Worauf durch eine gegenseitige Umarmung der beiden das Ende des Verfahrens (la conclusion de la procédure) besiegelt worden sei. Wovon Philinte hier berichtet, ist das Gerichtsverfahren, in das Oronte den «Misanthropen» Alceste hineingezogen hat. Eliante sagt dazu, sie gestehe zu, dass er sich sehr eigenartig verhalte, aber sie betrachte ihn als einen besonderen Fall (cas particulier). Ihre Seele schätze seine Ehrlichkeit (sincérité), diese habe etwas Nobles und Heroisches. Sie sei im heutigen Jahrhundert eine seltene Tugend, und sie würde sie gerne überall so wie bei ihm sehen. Philinte sagt über ihn, dass er, je mehr er ihn sehe, sich über die Liebesleidenschaft wundere, der er sich hingebe. Und fährt fort: De l’humeur dont le Ciel a voulu le former, Je ne sais pas comment il s’avise d’aimer. Je sais moins encor comment votre cousine Peut être la personne où son cœur s’incline.

Bei der Art des Gemütes, womit der Himmel ihn gebildet, Weiss ich nicht, wie es ihm einfällt zu lieben. Noch weniger weiss ich, wie Ihre Cousine Die Person sein kann, der sich sein Herz zuneigt. (Verse 1171–1174)

Schliesslich fragt er Eliante, ob sie denn glaube, dass seine Liebe erwidert werde. Eliante antwortet: C’est un point qu’il n’est pas fort aisé de savoir. Comment pouvoir juger s’il est vrai qu’elle l’aime? Son cœur de ce qu’il sent, n’est pas sûr luimême. Il aime quelquefois sans qu’il le sache bien, Et crois aimer aussi parfois qu’il n’en n’est rien.

Das ist ein Punkt, der kaum erkennbar ist. Wie kann man sagen, dass sie wahrlich liebt? Ihr Herz ist selbst nicht sicher, was es fühlt. Manchmal liebt es, ohn’ es recht zu wissen, Und glaubt manchmal zu lieben, und es liebet nicht. (Verse 1180–1184)

Philinte sagt zu Eliante, dass ihr gemeinsamer Freund bei dieser Cousine mehr Kummer erleben werde, als er sich vorstellen könne, und er besser die Gunst an-

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nähme, die sie ihm entgegenbringe. Doch Eliante erwidert, dass sie sich seinen zärtlichen Neigungen nicht entgegenstelle und ihn gerne mit derjenigen zusammenführen würde, die er liebe. Falls aber seine Liebe ein widriges Los erführe, dann könnte sie sich entschliessen, sein Werben anzunehmen. Philinte bemerkt zu Eliante, dass er sich nicht der Gunst entgegenstellen werde, die sie für ihn hege. Sollte aber seine jetzige Liebe sich durch Heirat erfüllen, dann würde er alles tun, um ihre Gunst zu erwerben. Darauf antwortet Eliante: Vous vous divertissez, Philinte. PHI Non, Madame, Et je vous parle ici du meilleur de mon âme, J’attend l’occasion de m’offrir hautement, Et de tous mes souhaits j’en presse le moment.

Sie scherzen, Philinte. Nein, Madame, Was ich Ihnen sage, kommt aus meiner Seele Bestem. Ich erwarte die Gelegenheit, mich Ihnen anzubieten, Und ersehne diesen Augenblick mit all meinen Wünschen. (Verse 1213–1216)

Vierter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt) Personen: Alceste, Eliante, Philinte Alceste kommt in den Salon von Célimène hineingestürzt und bittet Eliante, ihm Genugtuung für die Schmach zu verschaffen, die Célimène ihm durch ihre Falschheit und Untreue angetan habe. Eliante fragt, ob er denn für seine Meinung eine ausreichende Grundlage (un juste fondement) habe, und Philinte gibt ihm zu bedenken: Peut-être est-ce un soupçon conçu légèrement, Et votre esprit jaloux prend parfois des chimères … ALC Ah, morbleu! Mêlez-vous, Monsieur, de vos affaires. C’est de sa trahison n’être que trop certain, Que l’avoir, dans ma poche, écrit de sa main. Oui, Madame, une lettre écrite pour Oronte a produit à mes yeux ma disgrâce et sa honte.

Es ist vielleicht Verdacht, der leicht entsteht, Und ihr eifersücht’ger Geist nimmt Chimären manchmal … Donnerwetter, kümmern Sie sich um Ihre eignen Dinge! Ihr Verrat ist für mich mehr als sicher, Wenn ich ihn von ihrer eignen Hand geschrieben in meiner Tasche habe. Ja, Madame, ein Brief, geschrieben für Oronte, Hat mir mein Unglück und ihre Schand’ ans helle Licht gebracht. (Verse 1232–1238)

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Eliante sagt zu Alceste, dass er seine Erregung mässigen solle, worauf ihr Alceste wie folgt ins Wort fällt: Madame, c’est à vous qu’appartient cet ouvrage. C’est à vous que mon cœur a recours aujourd’hui Pour pouvoir m’affranchir de son cuisant ennui. Vengez-moi d’une ingrate et perfide parente, Qui trahit lâchement une ardeur si constante. Vengez moi de ce trait qui doit vous faire horreur! ELI Moi, vous venger! Comment? ALC En recevant mon cœur. Acceptez le, Madame. Au lieu de l’infidèle: C’est par là que je puis prendre vengeance d’elle. Et je veux punir par les sincères vœux, Par le profond amour, les soins respectueux, Les devoirs empressés et l’assidu service Dont ce cœur va vous faire un ardent sacrifice.

Madame, dieses Werk zu tun liegt nun an Ihnen. Bei Ihnen sucht mein Herze heute Zuflucht, Um mich von brennenden Qualen zu befreien. Rächen Sie mich für Undank und Untreu Ihrer Cousine, Die so beständige Glut feige verrät. Rächen Sie mich für diesen Zug, den Sie verabscheun müssen! Ich, Sie rächen! Wie? Indem Sie empfangen mein Herz. Nehmen Sie es, Madame, anstelle derer, die keine Treue kennt: Dadurch kann ich mich an ihr rächen. Und strafen will ich sie durch aufrichtige Hingabe, Durch tiefe Liebe, durch verehrende Sorge, Durch eifrige Verpflichtung und den beharrlichen Dienst, Die Ihnen mein Herz als feuriges Opfer bietet. (Verse 1246–1258)

Eliante antwortet ihm, dass sie das Herz nicht verachte, das er ihr antrage. Doch vielleicht sei das Übel nicht so gross, wie er denke, und er könne den Wunsch nach Rache fahrenlassen. Eine Schuldige sei schnell wieder unschuldig, wenn man sie liebe. Alceste erwidert ihr, dass die Kränkung allzu tödlich sei und dass er jetzt mit ihr breche. In diesem Moment sieht er Célimène kommen und schliesst diese zweite Szene mit den an Eliante gerichteten Worten: La voici. Mon courroux redouble à cette approche. Je vais de sa noirceur lui faire un vif reproche, Pleinement la confondre, et vous porter après

Da ist sie. Ihr Kommen verdoppelt meinen Zorn. Ich werde ihrer Schwärze einen schweren Vorwurf machen, Sie ganz beschämen und Ihnen danach schenken

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Un cœur tout dégagé de ces trompeurs attraits.

Ein Herz ganz frei von diesen trügerischen Reizen. (Verse 1273–1276)

Zweite Zwischenbemerkung

Für mich störend am Charakter Alcestes ist, dass er seinen Liebesantrag an Eliante als Mittel benutzt, um sich an der untreuen Célimène zu rächen. Wohl deshalb lehnt die aufrichtige und nüchterne Eliante diesen Antrag ab. Denn wie kann ein Liebesantrag an einen Menschen als Rachemittel gegen einen anderen dienen? Das hiesse, einen Menschen zu einem blossen Mittel zu machen. Jeder Mensch ist aber ein Selbstzweck. Vierter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt) Personen: Alceste, Célimène Alceste sagt zu Célimène: O Ciel! De mes transports puis-je ici être le maître? CEL Quais! Quel est donc le trouble où je vous vois paraître? Et que veulent me dire ces soupirs poussés, Et ses sombres regards que sur moi vous lancez? ALC Que toutes les horreurs dont une âme est capable A vos déloyautés n’ont rien de comparable. Que le sort, les démons et le Ciel en courroux N’ont jamais rien produit de si méchant que vous. CEL Voilà certainement des douceurs que j’admire.

Himmel, wie kann ich meinen Ausbruch meistern? Oje! Was ist der Aufruhr, in dem Sie mir erscheinen? Was wollen mir die ausgestoss’nen Seufzer sagen, Und diese finstern Blicke, die Sie auf mich werfen? Dass alle Greuel, deren eine Seele fähig ist, Mit Ihrer Untreu unvergleichbar sind. Dass Schicksal, Dämon und der zorn’ge Himmel Nie so Böses vorgebracht wie Sie. Das sind wahrlich süsse Töne, die ich gerne höre. (Verse 1277–1285)

Alceste lässt nun eine ganze Schimpftirade auf Célimène niederprasseln, sagt ihr, dass sie ihn verraten habe, dass er nicht ohne Rache den Verdruss über ihre Beleidigung hinnehme, wobei Célimène mehrmals ohne Erfolg fragt, was denn der Grund seiner Wut sei oder worin denn ihr Verrat bestehe. Endlich zeigt er ihr ein Briefchen und fragt, ob sie dessen Schrift als die ihre wiedererkenne. Daraus er-

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gibt sich ein Streitgespräch zwischen ihnen beiden, in dem Alceste die grösste Wut und Célimène die grösste Ruhe zeigen. Célimène fragt zu diesem Briefchen: Voilà donc le sujet qui vous trouble l’esprit? ALC Vous ne rougissez pas en voyant cet écrit? CEL Et par quelle raison faut-il que j’en rougisse? ALC Quoi? Vous joignez ici l’audace à l’artifice? Le désavouerez- vous pour n’avoir point de seing? CEL Pourquoi désavouer un billet de man main? ALC Et vous pouvez le voir sans demeurer confuse? Du crime dont vers moi son style vous accuse? CEL Vous êtes, sans mentir, un grand extravagant. ALC Quoi? Vous bravez ainsi ce témoin convaincant? Et ce qu’il me fait voir de douceur pour Oronte N’a donc rien qui m’outrage, et qui vous fasse honte? CEL Oronte! Qui vous dit que la lettre est pour lui?

Ist das der Grund, der Ihren Geist verwirrt? Sie erröten nicht beim Anblick dieser Schrift? Und aus welchem Grunde sollt ich denn erröten? Was? Erst Verstellung und jetzt noch Frechheit? Bestreiten Sie ihn, weil ohne Unterschrift? Warum bestreiten einen Zettel meiner Hand? Sie können ihn sehen und sind deswegen nicht beschämt? Des Verbrechens gegen mich, das Sie schuldig macht? Sie sind, ohne Lüg’, ein grosser Narr. Wie? So trotzen Sie dem überzeugenden Beweis? Und was darin an Süsse für Oronte sich erweist, Hat nichts, was mich verletzt und Ihnen Schande bringt? Oronte! Wer sagt denn, dieses Schreiben sei für ihn bestimmt? (Verse 1327–1339)

Célimène behauptet zuerst, dass der Brief für eine Frau bestimmt sei, worauf Alceste antwortet, dass dies eine «bewundernswerte Entschuldigung (excuse admirable)» sei, an die er nicht gedacht habe. Aber in Wirklichkeit sei es nichts anderes als eine plumpe List. Und er will ihr aus dem Brief vorlesen. Doch Célimène winkt ab, die Sache interessiere sie nicht. Etwas später gesteht sie ein, dass er für Oronte geschrieben sei und sie mit Freude sehe, wie dieser ihr den Hof mache. Alceste sagt zuerst, von Célimène abgewendet, zu sich selbst: Ciel! rien de plus cruel peut-il être inventé, Et jamais coeur fût il de la sorte traité […] Et cependant mon cœur est assez lâche Pour ne pouvoir briser la chaîne qui l’attache,

Himmel! nichts Schrecklicheres kann erfunden werden, Und nie wurd’ ein Herz so sehr misshandelt. Und trotzdem ist mein Herz genügend feige, Um die Kette nicht zu brechen, die es bindet,

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Et pour ne pas s’armer d’un généreux mépris Contre l’ingrat objet dont il est trop épris. […]

Um nicht zu waffnen sich mit mutiger Verachtung Der Undankbaren, in die es allzu sehr verliebt. […]

Und dann zu Célimène: Rendez-moi, s’il se peut, ce billet innocent: A vous prêter les mains ma tendresse consent. Efforcez-vous de paraìtre fidèle, Et je m’efforcerai, moi, de vous croire telle.

Nehmen Sie, wenn’s geht, die Schuld von diesem Brief: Meine Liebe ist bereit, Ihnen meine Hand zu reichen. Bemühn Sie sich, treu zu erscheinen, Und ich werde mich bemühn zu glauben, dass Sie’s sind. (Verse 1371–1390)

Célimène antwortet ihm, indem sie ihn, nicht ohne Anlass, in seiner innersten, nach Ehrlichkeit strebenden Seele angreift, das heisst ihn als jemanden darstellt, der die Heuchelei liebt, sich selbst aber als eine, die ehrlich ist, und dadurch die Welt auf den Kopf stellt: Je voudrais bien savoir qui pourrait me contraindre De descendre pour vous dans les bassesses de feindre, Et pourquoi, si mon cœur penchait d’autre côté, Je ne le dirais pas avec sincérité.

Ich würde gerne wissen, wer mich zwingen könnt, Für Sie in des Heuchelns Niedrigkeit zu steigen, Und warum, wenn mein Herz sich anderswohin neigt, Es Ihnen nicht zu sagen mit aller Ehrlichkeit. (Verse 1393–1396)

Die beiden beginnen nun, sich gegenseitig vehement zu beschimpfen. Célimène wirft Alceste schliesslich vor, dass er sie nicht liebe, wie man lieben sollte, worauf dieser in seiner Ehrlichkeit antwortet: Ah, rien n’est comparable à mon amour extrême. Et dans l’ardeur qu’il a de se montrer à tous, Il va jusqu’à former des sentiments contre vous. Oui, je voudrais qu’aucun ne vous trouve aimable,

Ach, nichts ist vergleichbar mit meiner höchsten Liebe. Und in deren Glut, sich allen zu zeigen, Geht sie so weit, Gefühle gegen Sie zu bilden. Ja, ich wollt, dass Sie von keinem liebenswert gefunden würden.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Que vous fuissiez réduite en un sort misérable, Que le Ciel, en naissant, ne vous eût donné rien, Que vous n’eussiez ni rang, ni nassance, ni bien, Afin que de mon cœur l’éclatant sacrifice Vous pût d’un pareil sort réparer l’injustice, Et que j’eusse la joie et la gloire, en ce jour, De vous voir tenir tout des mains de mon amour.

Dass Sie von einem schlimmen Los befallen würden, Dass der Himmel bei der Geburt Ihnen gar nichts schenkte, Dass Sie weder Rang noch Herkunft noch Besitz besässen, Damit das leuchtend’ Opfer meines Herzens Wenden könnt das Unrecht solchen Geschicks. Und dass ich dann die Freude und den Ruhm erhielte, Dass Sie alles aus den Händen meiner Liebe empfangen. (Verse 1422–1432)

Nach dieser psychologisch trefflichen Selbstanalyse erscheint plötzlich «lustig aufgemacht (plaisamment figuré)» im Salon von Célimène ihr Diener Du Bois. Vierter Akt (Aufzug), vierte Szene (vierter Auftritt) Personen: Alceste, Du Bois, Célimène Du Bois berichtet Alceste in umständlichster Weise, dass er fliehen müsse. Einer seiner Freunde (Philinte) habe ihm dies gesagt und Genaueres auf einen Zettel geschrieben, den er aber auf dem Tisch in Alcestes Haus vergessen habe. Am Schluss sagt ihm Célimène: Ne vous emportez pas, Et courez démêler pareil embarras! ALC Il semble que le sort, quelque soin que je prenne, Ait juré d’empêcher que je vous entretienne. Mais pour en triompher, souffrez à mon amour De vous revoir, Madame, avant la fin de ce jour.

Lassen Sie sich nicht hinreissen Und klären Sie rasch solch Belästigung! Welch’ Sorgfalt ich auch immer walten lasse , mein Schicksal Scheint mit einem Schwur zu hindern, dass ich mit Ihnen spreche. Doch dass ich siege, gestatten Sie’s meiner Flamme, Sie vor End’ des Tages wiederzusehn, Madame. (Verse 1475–1480)

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Fünfter Akt (Aufzug), erste Szene (erster Auftritt) Personen: Alceste, Philinte Nach der Verabschiedung von Célimène und noch bevor Alceste ihren Salon verlassen kann, erscheint sein Freund Philinte. Von diesem erfährt er, dass er den ihm von Oronte angehängten Gerichtsprozess verloren hat. Oronte machte ihm diesen Prozess aus dem lächerlichen Grund, dass er dessen Sonett nicht für gut befand. Alceste sagt zornentbrannt zu Philinte: Trop de perversité règne au siècle ou nous sommes, Et je veux me tirer du commerce des hommes. Quoi? Contre ma partie on voit à la fois L’honneur, la probité, la pudeur et les lois. On publie en tous lieux l’équité de ma cause, Sur la foi de mon droit mon âme se repose: Cependant je me vois trompé par le succès, J’ai pour moi la justice, et je perds le procès! Un traître, dont on sait la scandaleuse histoire, Est sorti triomphant d’une fausseté noire.

Der Perversion zu viel herrscht in jetziger Zeit, Zurückziehn will ich mich vom Umgang mit Menschen. Was? Gegen mich sieht man in einem Gerichtet Ehre, Ehrlichkeit, Scham und Gesetz. Da wird allerorts meiner Sache Billigkeit verkündet, Meine Seele ruht sich aus auf meinem Recht. Doch werd ich betrogen durch den Ausgang des Geschehens, Die Gerechtigkeit ist bei mir, und ich verlier den Prozess! Ein Verräter, dessen schändliche Geschichte wohl bekannt, Geht siegreich hervor aus schwarzem Falsch. (Verse 1485–1494)

Alceste klagt entrüstet weiter, dass der Gauner (Oronte) in der Welt ein abscheuliches Buch herumreiche, das eigentlich sogar verboten werden müsste, und ihn als dessen Verfasser ausgebe, und dies alles nur, weil er in aller Ehrlichkeit sein Sonett nicht gut gefunden habe. Er schliesst seine zornige Klage mit den folgenden Worten, mit denen er ungefähr dasselbe ausdrückt, was er an ihrem Anfang sagte: Allons, c’est trop souffrir les chagrins qu’on nous forge: Tirons-nous de ce bois et ce coupe-gorge. Puisque entre humains ainsi vous vivez en vrais loups,

Auf jetzt, ich bin nun des Verdrusses überdrüssig: Fort jetzt aus diesem Dschungel, aus dieser Mördergrub! Da ihr Menschen so wie wahre Wölfe miteinander lebt,45

Anm. von Hartmut Köhler in seiner französisch-deutschen Parallelausgabe des Misanthrope, S. 215, zu Vers 1523: «‹en vrai loups› erinnert an die Formel homo homini lupus [der 45

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Traîtres, vous ne m’aurez de ma vie avec vous.

Verräter, Ihr habt mich nie mehr unter Euch. (Verse 1521–1524)

Philinte versucht seinen Freund zu beschwichtigen: Was sein Gegner (Oronte) ihm anlaste, habe nicht so viel Glauben gefunden, dass es zu seiner Verhaftung geführt habe. Die Heimtücke seiner Verbreitung des Gerüchts über das schändliche Buch habe kaum verfangen und gegen das ungerechte Gerichtsurteil könne er Berufung einlegen. Alceste sagt zum letzten Punkt: Quelque sensible tort qu’un tel arrêt me fasse, Je me garderai bien de vouloir qu’on le casse. On y voit trop à plein le bon droit maltraité, Et je veux qu’il demeure à la postérité Comme une marque insigne, un fameux témoignage De la méchanceté des hommes de notre âge. Ce sont vingt milles francs qu’il m’en pourra coûter; Mais pour vingt milles francs, j’aurai droit de pester Contre l’iniquité de la nature humaine, Et de nourrir pour elle une immortelle haine.

So empfindlich das Unrecht ist, das man mir tut, Ich werd nie wollen, dass es aufhoben wird. Darin sieht man viel zu klar, wie das gute Recht misshandelt wird. Ich will, dass es der Nachwelt überliefert wird Als besonderes Zeichen, als berühmtes Zeugnis Der Bosheit der Menschen unserer Zeit. Das mag mich zwanzigtausend Franken kosten Doch für zwanzigtausend francs hab ich das Recht, zu wettern Gegen die Ungerechtigkeit der menschlichen Natur Und gegen sie einen unsterblichen Hass zu nähren. (Verse 1541–1550)

Philinte gesteht ein, dass in der menschlichen Gesellschaft alles über Ränke laufe und aus Eigennutz geschehe und dass das Einzige, was heute noch zähle, die Verschlagenheit (ruse) sei. Doch sei dies kein Grund, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Er gibt mit vollem Recht seinem Freund Folgendes zu bedenken: Tous ces défauts humains nous donnent dans la vie Des moyens d’exercer notre philosophie:

All diese menschlichen Fehler geben uns im Leben Die Mittel, unsere Philosophie zu praktizieren.

Mensch ist dem Menschen ein Wolf] aus Plautus’ [vor 250 bis 184 v. Chr.] Asinaria, die von Hobbes [1588–1679] wiederaufgenommen wurde». Bei Hobbes meint dieser Satz allerdings keine Beziehung zwischen Einzelmenschen wie im Zitat von Alceste, sondern zwischen Staaten.

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C’est le plus bel emploi que trouve notre vertu. Et si de probité tout était revêtu, Si tous les cœurs étaient francs, justes et dociles, La plupart des vertus nous seraient inutiles, Puisqu’on en met l’usage à pouvoir sans ennui Supporter, dans nos droits, l’injustice d’autrui.

Das ist die schönste Anwendung unserer Tugend. Und wenn alles mit Ehrlichkeit bekleidet wäre, Wenn alle Herzen offen, richtig und einsichtig wären, Dann würden die meisten Tugenden uns nutzlos sein. Denn darin wenden wir sie an, ohne Verdruss In unserem Recht, des anderen Ungerechtigkeit zu ertragen. (Verse 1561–1568)

Alceste antwortet auf diese hochstehenden, höchst überlegenswerten Gedanken seines Freundes, dass er mit diesen «schönen Reden (beaux discours)» seine Zeit verliere und dass im Gegensatz dazu die Vernunft ihm zu seinem Wohl gebiete, sich aus der Welt zurückzuziehen. Denn er vermöge seine Zunge nicht gut genug im Zaum zu halten. Er wolle nun Célimène erwarten. An ihrem Verhalten zu einem Plan, den er für sie beide ersonnen habe, werde er sehen, ob sie ihn liebe oder nicht. Fünfter Akt (Aufzug), zweite Szene (zweiter Auftritt) Personen: Oronte, Célimène, Alceste Oronte, der Konkurrent und perfide Gegner von Alceste, bittet Célimène, ihm ihre Gunst nun eindeutig zu zeigen, und verlangt als Beweis dafür, dass sie nicht mehr dulde, dass Alceste sie umwirbt. Oronte will also von Célimène dasselbe wie Alceste. Der dabeistehende Alceste sagt denn auch, dass Oronte recht habe: Sie müsse sich entweder für den einen oder den anderen entscheiden. Célimène weicht klug aus, indem sie erklärt, dass sie sich zwar entschieden habe, sich aber in «zu grosser Verlegenheit (dans une gène trop grande)» befinde, um ihre Entscheidung in Anwesenheit beider kundzutun. Doch die beiden bleiben bei ihrer Forderung, worauf Célimène antwortet: Que vous me fatiguez avec une telle caprice! Ce que vous demandez a-t-il de la justice? Et ne vous dis-je pas quel motif me retient? Je veux prendre pour juge Eliante qui vient.

Wie ermüden Sie mich mit Ihrem Starrsinn! Ist denn berechtigt, was Sie fordern? Hab ich denn nicht gesagt, warum ich schweige? Da kommt Eliante, ich nehme sie zur Richterin. (Verse 1649–1652)

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Fünfter Akt (Aufzug), dritte Szene (dritter Auftritt) Personen: Eliante, Célimène, Alceste, Oronte Doch Eliante will nicht Richterin darüber spielen, ob ihre Cousine Célimène in aller Klarheit sich entweder für Alceste oder für Oronte aussprechen muss oder nicht. Sie sagt zu Célimène: N’allez point là-dessus me consulter ici: Peut-être y pourriez vous être mal adressée, Et je suis pour les gens qui disent leur pensée.

Darüber sollen Sie mich nicht zu Rate ziehen: Es könnte sein, dass Sie an falscher Adresse sind. Und ich bin für Leute, welche sagen, was sie denken. (Verse 1660–1662)

Fünfter Akt (Aufzug), vierte (letzte) Szene (letzter Auftritt) Personen: Acaste, Clitandre, Arsinoé, Philinte, Eliante, Oronte, Célimène, Alceste Zu Eliante, Célimène, Alceste und Oronte stossen in Célimènes Salon nun noch die Markgrafen Clitandre und Acaste, Célimènes Freundin Arsinoé und Alcestes Freund Philinte, insgesamt also acht Personen, so viele wie vorher in dieser Komödie Molières nie gleichzeitig auf der Theaterszene waren. Es sind alle wichtigen Personen des Misanthrope, wie es sich für das Finale eines Theaterstücks gehört. Doch im Laufe dieser letzten Szene ziehen sich mehrere Personen eine nach der anderen zurück, sodass am Ende im Salon nur noch drei übrig bleiben: Alceste, sein Freund Philinte und Eliante. Die beiden Markgrafen Acaste und Clitandre kommen zusammen im Salon an. Arsinoé erklärt Célimène, dass sie wegen dieser beiden Herren gekommen sei, denn diese hätten sich über sie beklagt. Acaste hält Célimène einen von ihr geschriebenen Brief an Clitandre hin und Clitandre präsentiert ihr einen an Acaste adressierten Brief; anschliessend lesen sie die beiden Briefe vor. In dem Brief an Clitandre erklärt Célimène ihm ihre Liebe und lästert und macht sich lustig über Acaste, und in dem Brief an Acaste erklärt sie diesem ihre Liebe und macht sich über Clitandre lustig. Auch Oronte und Alceste kommen in diesen beiden Briefen sehr schlecht weg. Clitandre und Arcaste erklären schliesslich gegenüber Célimène, dass sie endgültig von ihr lassen wollen. Oronte erklärt: Quoi? De cette façon je vois qu’on me déchire, Après tout ce qu’à moi je vous ai vu m’écrire!

Was, man zerfetzt mich auf diese Weise, Nach allem, was von Ihnen ich zu lesen sah!

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Et votre cœur, paré de beaux semblants d’amour, A tout le genre humain se promet tour à tour! Allez, j’étais trop dupe, et je ne vais ne plus l’être. Vous me faites un bien, me faisant vous connaître. Je profite d’un cœur qu’ainsi vous me rendez, Et trouve ma vangeance en ce que vous perdez. (A Alceste:) Monsieur, je ne fais plus d’obstacle à votre flamme, Et vous pouvez conclure affaire avec Madame.

Ihr Herz, von der Liebe schönem Schein zurechtgemacht, Verspricht sich einem nach dem anderen, jedem Mann. Ich glaubt’ zu leicht und will es nicht mehr tun. Sie tun mir Gutes, indem Sie mir sich zu erkennen geben. Ich gewinn dabei mein Herz, das Sie mir zurückerstatten, Und finde meine Rache in dem, was Sie dabei verlieren. (Zu Alceste:) Mein Herr, Ihrer Liebe bin ich nicht mehr Hindernis, Sie können mit der Gnädigen zum Abschluss kommen. (Verse 1699–1708)

Alceste sagt zu Célimène: Hé bien! Je me suis tu, malgré ce que je vois Et j’a laissé parler tout le monde avant moi: Ai-je pris sur moi-même un assez long empire, Et puis je maintenant …

Gut, ich schwieg, trotz allem, was ich sehe, Ich liess zuerst die anderen sprechen. Hab ich mich nun lang genug beherrscht Und kann ich nun … (Verse 1733–1736)

Célimène unterbricht ihn mit dem Geständnis, dass er ihr alles vorwerfen dürfe, was er wolle, sie gebe all ihr Unrecht zu und wolle ihn nicht mit Ausreden abspeisen. Alles spreche dafür, dass sie ihn betrogen habe. Er habe allen Grund, sie zu hassen. Doch Alceste wird seine Liebe zu ihr nicht los und antwortet: Et quoique avec ardeur je veuille vous haïr, Trouve-je un cœur en moi prêt à m’obéir? (A Eliante et Philinte:) Vous voyez ce que peut une indigne tendresse, Et je vous fais tous deux témoins de ma faiblesse. Mais à vous dire vrai, ce n’est pas encore tout, Et vous allez me voir la pousser jusqu’au bout,

Selbst wenn ich Sie mit Inbrunst hassen wollte, Wie find ich denn in mir ein mir gehorchend Herz? (Zu Eliante und Philinte:) Sie sehn, was eine schändliche Liebe kann, Ich mach Sie beide zu Zeugen meiner Schwäche. Und das ist wahrlich noch nicht einmal alles, Sie werden sehen, wie ich sie auf die Spitze treibe,

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Montrer que c’est à tort que sage on nous nomme, Et que dans tous les cœurs il est toujours de l’homme.

Zeige, dass zu Unrecht man uns Weise nennt, Und dass in allen Herzen immer etwas Mensch verbleibt. (Verse 1749–1755)

Mit den oben zuletzt zitierten Versen nimmt Alceste die Sicht seines Freundes Philinte an, der angesichts der radikalen Forderungen Alcestes nach Ehrlichkeit und Offenheit, seiner Abscheu gegen die Sitten der Zeit und seines Menschenhasses immer auf die durch die Natur gegebene Schwäche des Menschen hingewiesen hat, aufgrund deren man vieles verzeihen müsse. Denn Alceste sagt nun zu Célimène, dass er ihr in seinem Herzen alle Übeltaten verzeihen könne, indem er sie als Schwäche betrachte, in die sie durch die Laster der Zeit gebracht worden sei. Er könne dies aber nur unter der Voraussetzung tun, dass ihr Herz seinem Vorhaben zustimme, allen Menschen zu entfliehen, und bereit sei, mit ihm zusammen in der Wüste zu leben. Nur dadurch vermöge er, sie erneut zu lieben. Célimène antwortet: Moi, renoncer au monde avant que de vieillir, Et dans votre désert aller m’ensevelir! ALC Et s’il faut qu’à mes feux votre flamme réponde, Que vous doit importer le reste du monde? Vos désirs avec moi ne sont-ils pas contents? CEL La solitude effraye une âme de vingt ans: Je ne sens la mienne assez grande, assez forte, Pour me résoudre à prendre un dessein de la sorte.

Ich, der Welt entsagen, bevor ich dem Alter entgegengehe, Und mich in Ihrer Wüste begraben! Und wenn meinem Feuer Ihre Flamme entsprechen soll, Was muss Sie dann der Rest der Welt noch kümmern? Sind Ihre Wünsche mit mir denn nicht befriedigt? Die Einsamkeit erschreckt eine Seele von zwanzig Jahren: Ich fühle die meine nicht gross genug, nicht stark genug, Um den Entschluss zu einem solchen Plan zu fassen. (Verse 1769–1776)

Zu dieser psychologisch völlig verständlichen Antwort sagt Alceste: «Meine Seele verabscheut Sie nun (mon âme à présent vous déteste)». Darauf zieht sich Célimène zurück. Alceste wendet sich nun an Eliante. Dabei ist zweideutig, ob er ihr einen verkappten Heiratsantrag macht oder sich von seinem Liebesverhältnis zu ihr zurückziehen will (bis zum Schluss der Szene zitiere und übersetze ich vollständig):

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Madame, cent vertus ornent votre beauté, Et je n’ai vu qu’en vous de la sincérité. De vous, depuis longtemps, je fais un cas extrême; Mais laissez-moi toujours vous estimer de même; Et souffrez que mon cœur dans ces troubles divers, Ne se présente point à l’honneur de vos fers: Je m’en sens trop indigne, et je commence à connaître Que le Ciel pour ce nœud ne m’avait point fait naître; Que ce serait pour vous un hommage trop bas Que le rebut d’un cœur qui ne vous valait pas. Et qu’enfin …

Madame, der Tugenden hundert zieren Ihre Schönheit, Ich hab in Ihnen nur gesehen Ehrlichkeit. Von Ihnen bin ich längstens höchst begeistert, Erlauben Sie, Sie immer gleich zu schätzen; Erlauben Sie, dass mein Herz in seinen Wirren Sich der Ehre Ihrer Ketten nicht verschreibt. Ich fühl mich dessen zu unwürdig und beginne zu erkennen, Dass mich der Himmel für diese Bindung nicht geschaffen; Dass die Ehr’ für Sie zu niedrig wäre, Die das Herz einer Ihrer Unwürdigen abgewiesen hat. Und dass endlich …

Eliante unterbricht ihn und antwortet: Vous pouvez suivre cette pensée: Ma main de se donner n’est pas embarassée. Et voilà votre ami, sans trop m’inquiéter, Qui, si je l’en priais, la pourrait accepter.

Sie können dieses Denken weiterführen: Meine Hand, sie ziert sich nicht, sich herzuschenken. Und hier, Ihr Freund, ich bin unbesorgt, Wenn ich ihn bäte, würde sie schon nehmen.

Phil: Ah! Cet honneur, Madame, est toute mon envie. Et j’y sacrifierais mon sang et ma vie.

Oh, dieser Ehr’, Madame, gilt all mein Streben. Opfern würd ich dafür mein Blut und Leben.

ALC: Puissiez-vous, pour goûter de vrais contentements, L’un pour l’autre à jamais garder ces sentiments! Trahi de toutes parts, accablé d’injustices,

Möget Ihr, um wahre Zufriedenheit zu finden, Diese Gefühle einander stets bewahren!

Je vais sortir d’un gouffre où triomphent les vices, Et chercher sur la terre un endroit écarté, Ou d’être homme d’honneur on ait la liberté.

Allerseits verraten, von Ungerechtigkeit erdrückt, Verlasse ich den Abgrund, in dem das Laster triumphiert, Und suche auf der Erd’ einen abgeleg’nen Ort, Wo man die Freiheit hat, ein ehrenhafter Mensch zu sein.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Phil: Allons, Madame, allons employer toute chose Pour rompre le dessein que son cœur se propose.

Kommen Sie, Madame, wir wollen alles tun, Um abzuwenden, was sein Herze will. (Verse 1785–1808)

Abschnitt 11. Zwölf Bemerkungen zu Molières Tragikomödie Le Misanthrope Erstens: Welche Funktion oder welche Funktionen hat der Humor in dieser so humorvollen Tragikomödie Molières? Diese zentrale Frage wird in den folgenden neun Punkten beantwortet werden. Zweitens: Bei dieser Komödie muss man sich in Erinnerung rufen, was von allen Komödien Molières gilt und heute alles andere als selbstverständlich ist, nämlich dass er nicht nur deren Dichter, sondern auch der Direktor der Spieltruppe war, die sie aufführte, weiter ihr Regisseur, und dass er schliesslich selbst immer die Hauptrolle oder eine der Hauptrollen spielte. Drittens: Der Misanthrope ist wohl die komplexeste der 33 Komödien Molières, denn sie hat zu ihrem Gegenstand die verschiedenartigsten Menschen mit ihren Charakteren, deren Mängeln und Übertreibungen: Ehrlichkeit und Verlogenheit, Verrücktheiten und Widersprüche, Lächerlichkeiten und Schmeicheleien, Liebe und Hass, und zwar in ihren intersubjektiven privaten und gesellschaftlichen Beziehungen. Sie ist psychologisch von einem aussergewöhnlich hohen Niveau. Viertens: Das Zentrum der ganzen Handlung der Komödie ist nicht etwa Alceste, der Menschenfeind, sondern die 20-jährige, attraktive, früh Witwe gewordene Célimène, in deren Besuchersalon sich ja auch alles abspielt. Sie ist gewissermassen die Sonne, um die die anderen Personen als Planeten kreisen. Philinte dreht sich zwar nicht um die Sonne Célimène, sondern als Freund Alcestes um diesen, wie der Mond um den Planeten Erde. Doch alles ändert sich in der letzten Szene des letzten Aktes: Alle Verehrer wenden sich der Reihe nach von dieser Sonne ab, und sie verlässt die Szene vor dem Ende des Geschehens. Sie ist nun ebenso einsam wie Alceste, der in die Einsamkeit ziehen will. Doch dieser hat noch seinen Freund Philinte, der zu seiner künftigen Gattin Eliante sagt: «Kommen Sie, Madame, wir wollen alles tun, um abzuwenden, was sein Herze will.» Fünftens: Bis zur letzten Szene vermag keiner der Liebhaber Célimène wirklich nahezukommen, keiner vermag sich von ihr zu distanzieren oder gar ihr den Rücken zuzukehren. In dieser Hinsicht bleibt bis zur letzten Szene während der ganzen Komödie alles gleich. Doch dann ist sie plötzlich allein, von allen ihren Verehrern abgewiesen.

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Sechstens: Alceste hat einen zwiespältigen, zerrissenen Charakter: In den oben zitierten Versen 247 f. antwortet er auf den Rat seines Freundes, anstatt der flatterhaften Célimène deren ehrliche, ihm aufrichtig zugeneigte Cousine Eliante zu seiner Geliebten zu machen: Il est vrai: ma raison me le dit chaque jour; Mais ma raison n’est pas ce qui règle l’amour.

Es ist wahr: jeden Tag sagt mir das die Vernunft, Doch ist es nicht meine Vernunft, welche die Liebe regelt.

Alceste vermag also seine Liebe und seine Vernunft nicht zur Einheit zu bringen, eine Einheit, die allein wahre und dauerhafte Liebe ermöglicht. M. a. W., unvernünftige Liebe ist auf die Dauer zum Scheitern verurteilt. Siebtens: Noch schlimmer: Er bittet Célimène darum, wenigstens so zu tun, als ob sie ihn liebe, also um das, was er am meisten hasst, nämlich Heuchelei. In den oben zitierten Versen 1389 f. sagt er zu ihr: Efforcez-vous de paraître fidèle, Et je m’efforcerai, moi, de vous croire telle.

Bemühn Sie sich, treu zu scheinen, Und ich werde mich bemühn zu glauben, dass Sie’s sind.

Achtens: Mit welchem seiner literarischen Geschöpfe hat sich Molière in seinem Misanthrope identifiziert? Mit Alceste, dem Menschenfeind? Vieles spricht dafür, doch kaum die Tatsache, dass er bei den Aufführungen seines Misanthrope die Rolle des Alceste spielte. Denn in seinem Tartuffe ou l’imposteur (Tartuffe oder der Betrüger/religiöse Heuchler) spielte er die Rolle des Orgon, der sich blind von Tartuffe betrügen lässt, was sicher nicht zu Molière passen würde. Weit eher spricht für eine solche Identifikation die Tatsache, dass er seinen Misanthrope in der Zeit geschrieben hat, in der er sich von seiner mehr als 20 Jahre jüngeren Frau Armande, allerdings nur vorübergehend, getrennt und sich in die Einsamkeit des Dorfes Auteuil zurückgezogen hatte. Spiegelt sich in der enttäuschten Liebe Alcestes zur jungen Célimène die enttäuschte Liebe Molières zu Armande? Das ist gut möglich. Zudem hatte er als Sohn einer Handwerker- und Kaufmannsfamilie ohne Zweifel wie Alceste eine Abneigung gegenüber der Heuchelei und flatterie der Hofgesellschaft, und ohne Zweifel lebte in ihm die Liebe zur Ehrlichkeit, die Alceste auszeichnet, und kämpfte er wie dieser gegen die Heuchelei, besonders die religiöse Heuchelei, die Frömmelei, wie seine Komödie Le Tartuffe ou l’imposteur zeigt. Diese wurde 1664 zum ersten Mal aufgeführt, ungefähr zwei Jahre vor dem Misanthrope. Jene Komödie hatte auch für Molière widrige Folgen, so wie Alcestes Kampf gegen die Heuchelei für diesen widrige Folgen hat.

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

Aber Molière war kein Menschenfeind, er hasste die Menschen nicht, wie Alceste in der ersten Szene des ersten Aktes von sich sagt (siehe oben die Zwischenbemerkung in meiner Darstellung dieser Szene) und wie er es in der ersten Szene des fünften (letzten) Aktes mit den Worten wiederholt, er hege einen «unsterblichen Hass gegen die Ungerechtigkeit der menschlichen Natur (une immortelle haine contre l’iniquité de la nature humaine)». Hatte Molière einen cholerischen Charakter? Das weiss ich nicht und es ist vielleicht nicht leicht zu wissen. Aber seine scharfen, wahrscheinlich wütenden Reaktionen gegen die üblen Machenschaften derjenigen, die sich von seiner Kritik an der Frömmelei – nicht an echter Frömmigkeit – in seiner Komödie Tartuffe betroffen fühlten, lassen darauf schliessen. Neuntens: Die These einer blossen Selbstidentifikation mit Alceste, dem Menschenfeind, ist schon von vornherein unwahrscheinlich. Denn ein Autor irgendeines dichterischen Werkes legt kaum seine eigene Person nur in eine einzige Figur desselben. Zudem möchte ich daran erinnern, was ich oben in der ersten und zweiten Zwischenbemerkung schrieb: Alceste ist nicht Menschenfeind (Misanthrope) dadurch, dass er konsequent aufrichtig (franc) ist und auch seinen Mitmenschen ehrlich, unverblümt sagt, was er von ihnen hält, und ihre Übel und konventionellen leeren Freundlichkeiten, ihr gegenseitiges Flattieren kritisiert. Durch solche Aufrichtigkeit könnte er sich bei einigen grossen Respekt erwerben, sogar einige motivieren, es ihm gleichzutun; obschon er nicht zu allem, was ihm begründeterweise missfällt, etwas sagen müsste, sondern besser einfach schwiege. Doch bei vielen macht er sich durch seine Aufrichtigkeit unbeliebt und bei einigen eventuell sogar verhasst. Das braucht ihn aber nicht zu scheren. Denn es ist unnütze Zeitverschwendung, daran zu denken, was andere über einen denken, und sich darüber zu ärgern. Was Alceste zum Menschenfeind macht, ist der Umstand, dass er die Menschen hasst, sie verabscheut, wie er in der ersten Szene des ersten Aktes mehrmals hervorhebt (Verse 111, 114, 118) und in der ersten Szene des fünften Aktes mit etwas anderen Worten wiederholt (Verse 1549 f.). Dieser Hass und diese Abscheu folgen aber keineswegs notwendig aus seiner Aufrichtigkeit. Dieser Hass ist ethisch wesentlich schlechter als jene mehr oder weniger verlogenen gesellschaftlichen Sitten «am Hof und in der Stadt». Denn diese Sitten lehnen jenen Hass ab und empfehlen die complaisance, die Gefälligkeit (Genaueres siehe oben S. 62). Auch aus all diesen Gründen glaube ich nicht, dass sich Molière mit Alceste vollständig identifizieren konnte. Zehntens: Ich vermute, dass auch der umgängliche, aber ehrliche Philinte Charakterzüge von Molière trägt, schon deswegen, weil Philinte der Freund Alcestes ist. Denn Freunde tragen notwendigerweise, trotz mancher Differenzen, auch gemeinsame Charakterzüge und haben gemeinsame Interessen, um überhaupt Freunde sein zu können. Im Volksmund sagt man: «Gleich und gleich ge-

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sellt sich gern», was auch wissenschaftliche Studien nahelegen. Philinte und Eliante sind im Misanthrope sicher die beiden sympathischsten Personen. Das kommt schon darin zum Ausdruck, dass sie sich am Ende dieser Tragikomödie in Liebe die Hand zur Heirat reichen. Und was Philinte in den Versen 1561 bis 1568 sagt, scheint mir nicht nur ethisch richtig, sondern auch die Auffassung Molières zu sein. Ich zitiere im Folgenden diese acht Verse nochmals: Tous ces défauts humains nous donnent dans la vie Des moyens d’exercer notre philosophie: C’est le plus bel emploi que trouve notre vertu. Et si de probité tout était revêtu, Si tous les cœurs étaient francs, justes et dociles, La plupart des vertus nous seraient inutiles, Puisqu’on en met l’usage à pouvoir sans ennui Supporter, dans nos droits, l’injustice d’autrui.

All diese menschlichen Fehler geben uns im Leben Die Mittel, unsere Philosophie zu praktizieren. Das ist die schönste Anwendung unserer Tugend. Und wenn alles mit Ehrlichkeit bekleidet wäre, Wenn alle Herzen offen, gerecht und einsichtig wären, Dann würden die meisten Tugenden uns unnütz sein. Denn darin besteht ihre Anwendung, ohne Verdruss Zu ertragen, in unserem Recht, des anderen Ungerechtigkeit.

Philinte scheint mir die in der damaligen Zeit wie auch heute noch in Frankreich unter den Gebildeten sehr geschätzte praktische Philosophie der Essais von Michel (Seigneur) de Montaigne (1533–1592, ursprünglicher Name: Michel Eyquem, wie Molière aus einer Händlerfamilie stammend) oder einer seiner Nachfolger zu vertreten: Die menschliche Natur, die menschliche Vernunft einbegriffen, und damit auch die eigene, ist schwach. Das müssen wir anerkennen und nicht darüber (wie Alceste) uns ärgern oder schimpfen oder klagen oder sie gar hassen. Wir müssen vielmehr das Beste daraus machen. Das ist kein abstraktes Ideal, sondern einfach das, was wir tun können, wenn wir unser Bestes tun. Richtig zu leben ist unsere grösste Aufgabe. Elftens: Der Misanthrope zeigt, dass die stärkste Kraft im Menschen die Liebe ist. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass sich diese Tragikomödie fast ganz um die attraktive Célimène dreht, sondern deutlich auch bei Alceste, dem Fanatiker der Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit, in den Versen 1377–1396 der dritten Szene des vierten Aktes: Er wünscht sich von seiner Geliebten Célimène, dass sie ihm als ihn Liebende erscheine, auch wenn sie es nicht sei. Er fordert von ihr also Heuchelei. In diesem Punkt stimmt also der Misanthrope mit Goethes Auffassung des menschlichen Lebens überein (vgl. unten das fünfte Kapitel: «Der ‹Schalk› Mephistopheles, der Goethes Tragödie Faust zu einer Tragikomödie

2. Kapitel. Humor in der Funktion der Darstellung des Tragischen und einer Charakterstudie

macht und der die Funktion hat, das Wesen des ethisch Schlechten zu charakterisieren»). Zwölftens: Man kann sich fragen, wovon denn all die Personen leben, die in dieser Komödie Molières auftreten. Was ist ihr Brotberuf? Es sind, ausser den beiden Marquis (Markgrafen) Alceste und Clitandre, alles Leute aus dem gehobenen Bürgertum. Haben Alceste, Philinte, Célimène, Arsinoé, Eliante alle irgendwelche Renten oder leben sie von einer grossen Erbschaft? Was tun die Markgrafen am Hof ausser reden? Ich vermute: Das alles interessierte Molière nicht, und darum schrieb er auch nichts darüber. Was ihn interessierte, waren die besonderen Charaktere der verschiedenen Leute. Der Misanthrope ist eine Charakterstudie.

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3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen (komischen) individuellen Menschentypus: Menander (342/341–291/290 v. Chr.), Dyskolos (Δύσκολος: Griesgram, Menschenfeind), aufgeführt in Athen im März 317 oder 316 v. Chr.

Ich stütze mich in meinen Ausführungen über diese Komödie auf folgende Ausgabe: Menander, Dyskolos. Der Menschenfeind. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Horst-Dieter Blume, Reclam Verlag, Stuttgart 2007. Diese Ausgabe besitzt ein sehr aufschlussreiches Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Horst-Dieter Blume. Auch auf dieses Nachwort werde ich mich in den folgenden Abschnitten 13 und 14 stützen. Die deutsche Übersetzung des altgriechischen Textes habe ich von Horst-Dieter Blume übernommen, doch an mehreren Stellen habe ich sie leicht verändert. Zur Überlieferungsgeschichte von Menanders Komödien siehe den Anhang I dieses Büchleins!

Abschnitt 13. Besondere Charaktere von Menanders Komödien Menander verzichtet konsequent auf hergebrachte komische Effekte. An die Stelle lauten Gelächters und blossstellender Witze tritt bei ihm ein verständnisvolles Lächeln über menschliche Irrtümer und Unzulänglichkeiten. Seine Komödien bieten keine komischen allgemeinen Typen von Menschen, sondern vielschichtig angelegte, beinahe schon individuelle Charaktere. Diese werden ansatzweise sogar durch ihre Sprache charakterisiert, ein Phänomen, das bei keinem anderen Bühnenautor der griechisch-römischen Antike zu beobachten ist. So wird im Dyskolos der junge Städter Sostratos durch seine gewandte Redeweise von der schlichten Sprache des jungen Bauern Gorgias abgehoben; allein Getas, der aufmüpfige Sklave des Vaters von Sostratos, gebraucht hin und wieder ein obszönes Wort. Simiche, die alte Sklavin des alten Bauern Knemon, des Menschenfeinds,

3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen individuellen Menschentypus

spricht in tragischer Erregung; der Gott Pan, der Beschützer der Bauern, Hirten und Jäger, spricht gemessen würdig und ohne Dämonie.

Abschnitt 14. Vorbemerkung Was mir bei dieser Komödie auffiel, noch bevor ich sie gelesen hatte, ist ihre explizite Aufteilung in fünf Akte (Teile, griechisch: ΜΕΡΟΣ), die aber keine inhaltlichen Titel tragen. Bei keiner der Komödien Aristophanes’, die ich kenne, ist dies der Fall. Auch alle Tragödien des ältesten athenischen Tragödiendichters Aischylos (525–456 v. Chr.) kennen keine expliziten Einteilungen. Die Tragödie Antigone des zweiten der drei grossen athenischen Tragödiendichter, Sophokles (496/497–406 v. Chr.), eines älteren Zeitgenossen des Komödiendichters Aristophanes (um 445 bis 385 v. Chr.), enthält folgende ausdrückliche Einteilung: Prolog (ΠΡΟΛΟΓΟΣ, Prologos) und ΠΑΡΟΔΟΣ, Parodos (Gesang des Chores); erste Episode (ΕΠΕΙΣΟΔΙΟΝ, Epeisodion); zweite Episode und Stasimon (ΣΤΑΣΙΜΟΝ, zweiter Chorgesang), drittes Episode und drittes Stasimon (dritter Chorgesang); vierte Episode und viertes Stasimon (vierter Chorgesang), fünfte Episode und fünftes Stasimon (fünfter Chorgesang), Ausgang (ΕΞΟΔΟΣ Exodos), Chorgesang (ΚΟΜΜΟΣ, Kommos). Wenn Epeisodion (Episode) als Akt verstanden wird, hat diese Tragödie fünf Akte. Bei den Tragödien des letzten der drei grossen athenischen Tragödiendichter und jüngeren Zeitgenossen des Aristophanes, Euripides (vor 480 bis 405 v. Chr.), fehlen wieder alle expliziten Einteilungen. Er hat sich also in diesem Punkt an den ältesten der athenischen Komödiendichter, Aischylos, gehalten. Aristophanes hat sich in diesem Punkt sowohl an den ältesten als auch jüngsten Tragödiendichter Athens gehalten. Menanders Komödie Dyskolos hat sich offenbar die Einteilung von Sophokles’ Antigone zum Vorbild genommen. Sie enthält folgende Einteilung: erster ΜΕΡΟΣ (Meros: (Teil, Akt), Prolog am Anfang des ersten Aktes; zweiter Meros; dritter Meros; vierter Meros, fünfter Meros, Exodos (Ausgang). Wenn man «Meros (Teil)» als Akt versteht, hat diese Tragödie also fünf Akte mit einem Prolog am Anfang des ersten Aktes und einem Ausgang am Ende des fünften Aktes. Der späte Nachzügler Menander (342/41 bis kurz vor 290 v. Chr.) aus der hellenistischen Zeit hat sich also in der Einteilung seiner einzigen fast vollständig erhaltenen Komödie Dyskolos (Der Menschenfeind) mit ihren fünf Akten an den mittleren, 150 Jahre früher lebenden Tragödiendichter Sophokles gehalten. Es ist ein Phänomen der Spätperioden von Kulturen, dass sie auf frühe Vorbilder ihrer Kultur zurückgreifen. Die Einteilung in fünf Akte ist die klassische Struktur der Tragödie und Komödie geworden. Die oben besprochene Tragikomödie Le Misanthrope von Molière hat ebenfalls fünf Akte.

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Abschnitt 15. In der Komödie auftretende sprechende Personen (in der Reihenfolge ihres Auftretens) Der Gott Pan Chaireas, ein beflissener Freund des Sostratos Sostratos, der junge Liebhaber Knemon, ein alter Bauer, der Dyskolos (Griesgram, Menschenfeind) Tochter des Knemon Gorgias, ein junger Bauer, Halbsohn des Knemon Sikon, ein Koch Getas, Sklave des Kallippides Mutter des Sostratos Simiche, alte Sklavin des Knemon Kallippides, Vater des Sostratos

Abschnitt 16. Schauplatz der Handlung der Komödie Schauplatz der Handlung ist das Dorf Phyle, eine abgelegene Gegend am Hang des Parnes-Gebirges im Norden Attikas. Im Hintergrund ist der Eingang zu einer Grotte, die den Nymphen und Pan, dem Gott der Bauern und Hirten, geweiht ist. Davor befinden sich schlichte Kultbilder. Auf der linken Seite liegt das Gehöft des alten Dyskolos Knemon, rechts das des jungen Gorgias, des Halbbruders von Knemon. Das Stück beginnt am frühen Morgen. Knemon und Gorgias arbeiten bereits auf ihren Äckern ausserhalb der Szene. Es wird am Abend desselben Tages mit dem Anfang eines Trinkgelages in der Grotte der Nymphen und des Gottes Pan enden. Es ist also wie die Wolken des Aristophanes ein Stück, das sich an einem Tag ereignet. Dies ist eine Erfindung des Tragödiendichters Sophokles (Athen, 497/496–406 v. Chr.).46 Dadurch wurde das klassische, auch vom Philosophen Aristoteles in seiner Poetik hervorgehobene Ideal der Einheit von Ort und Zeit (ein Ort, ein Tag) verwirklicht.

Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Arnd Kerkhecker, Professor für Altphilologie (Altgriechisch, Latein) an der Universität Bern. Ich danke ihm an dieser Stelle dafür wie auch für die Gespräche, die ich mit ihm über die altgriechischen Komödien und Tragödien führen durfte. 46

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Abschnitt 17. Zusammenfassung der Komödie (insgesamt 969 Verse) Erster Akt (Verse 1–232) Eine bessere Einführung in die Komödie als diejenige des Gottes Pan im Prolog am Anfang des ersten Aktes kann ich nicht geben: Pan tritt darin aus der Grotte heraus und spricht die folgenden Verse: In Attika, so stellt euch vor, liegt dieser Ort: Phyle, die Nymphengrotte da, aus der ich trete, gehört den Dorfbewohnern und all denen, die die Felsen hier bebauen: ein Heiligtum weithin bekannt. Den Hof zu meiner Rechten bewohnt Knemon [Dyskolos], ein masslos menschenscheuer Mensch, unleidlich gegen alle, abgeneigt der Menge. Was sag ich Menge? Der lebt schon so lange und hat mit keinem freundlich je geredet, keinen zuerst begrüsst, nur im Vorübergehn und notgedrungen mich, den Nachbarn Pan. Das aber reut ihn gleich darauf, ich weiss es wohl. Trotz seiner harschen Art nahm er zur Frau sich eine Witwe, deren früherer Mann vor kurzem erst gestorben war und einen Sohn [Gorgias, Halbsohn des Knemon] – damals noch klein – zurückgelassen hat. Mit ihr im Ehejoch stritt er nicht nur am Tag, nein, nahm den grössten Teil der Nacht hinzu und lebte elend. Er bekam ein Töchterchen – noch schlimmer. Als das Unglück keine Wendung mehr versprach, das Leben mühsam war und bitter, da ging die Frau zurück zu ihrem Sohn [Gorgias] aus erster Ehe. Der besass ein winziges Stück Land hier in der Nachbarschaft. Von dem Ertrag ernährt er nun so recht und schlecht die Mutter, sich selbst und einen einzigen treuen Sklaven [Daos], der ihm vom Vater blieb. Herangewachsen ist nun der Junge, sehr vernünftig für sein Alter. Die tätige Erfahrung macht den Menschen reif. Der Alte [Knemon] lebt allein mit seiner Tochter Und einer alten Dienerin [Simiche], schleppt Holz und gräbt und müht sich ab und hasst reihum die Menschen: Zuerst den Nachbarn hier [Gorgias] und seine Mutter, dann alle bis hinunter in die Ebene. Das Mädchen [Knemons Tochter] wuchs heran, wie es erzogen: ganz ohne Falsch. Meinen Gefährtinnen, den Nymphen, ist sie mit Leib und Seele zugetan, so dass

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wir uns ein wenig um sie kümmern wollen. Das mach ich so: Ein junger Mann aus gutem Haus [Sostratos] – sein Vater liess hier reiche Ländereien bebauen – ist aus Athen zur Jagd herbeigekommen mit einem Freund und Jugendgefährten [Chaireas]. Zufällig gelangt er dabei zu diesem Platz und ist seitdem von Liebe ganz entzückt. […] Da seh ich schon, so scheint mir, den Verliebten des Weges kommen mit seinem Jungendgefährten. Sie reden miteinander über diese Dinge. (Verse 1–49)

Pan zieht sich in die Grotte zurück. Hier endet der Prolog, und es beginnt im eigentlichen Sinn der erste Akt (Meros), welcher die Verse 50 bis 232 umfasst. Chaireas fragt seinen in die Tochter des Menschenfeindes Knemon verliebten Jugendfreund, ob er sich sofort in sie verliebt habe, als er sie zum ersten Mal sah. Sostratos bejaht. Darauf fragt ihn Chaireas, ob er, schon bevor er sie zum ersten Mal sah, geplant habe, sich in sie zu verlieben. Sostratos betrachtet dies als Spott und sagt ihm, dass es ihm schlecht gehe und dass er ihn deshalb als Freund und Helfer mitgebracht habe. Chaireas: In Liebesdingen, Sostratos, verfahr ich so: Ein Freund zieht mich heran für eine Dirne. Sofort bring ich sie, bin trunken, lege Feuer, höre auf kein Wort. Nicht erst gross fragen, wer sie ist: gleich kriegen! Denn langes Zögern nährt die Liebe sehr, schnell zugegriffen heisst schnell wieder frei. Spricht wer von Heirat einem freien Mädchen, bin ich ganz anders: frage nach Familie, Vermögen und Charakter. […] (Verse 57–66)

Sostratos sagt seinem Freund, dass er früh am Morgen seinen Sklaven und Jagdbegleiter Pyrrhias von zu Hause losgeschickt habe, um den Vater dieses Mädchens (Knemon) zu sprechen oder «wer sonst Herr im Hause ist» (Vers 74). Kaum hat er dies gesagt, stürzt von links Pyrrhias in höchster Aufregung herbei und schreit: Platz da! In Deckung! Alle aus dem Weg! Verrückt ist, der mir folgt. Verrückt! […] Flieht! […] Man schmeisst nach mir mit Klumpen und Steinen. Ich bin hin. […]

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Ein Sohn des Schmerzes ist das, ein Besessener, ein wahnsinniger Mensch, der dort im Hause wohnt, zu dem du mich geschickt hast. O ihr Götter, was für ein Unglück! Meine Zehen habe ich mir beim Stolpern alle fast gebrochen. (Verse 81–92)

Pyrrhias erzählt darauf, wie er an die Haustür des Knemon geklopft und gerufen habe, dass er den Herrn des Hauses zu sprechen wünsche, worauf ein «gottverdammtes Weib» auf den Hügel dort gezeigt habe, wo Knemon bei seinen Birnen am Schuften war und ein Bündel Krummholz sammelte. Darauf sei er auf ihn zugegangen und habe ihn schon von Weitem freundlich gegrüsst. Er habe ihm dann gesagt, dass er zu ihm komme, um mit ihm etwas zu bereden, was zu seinem Vorteil sei. Der habe sogleich gesagt: «Verdammter Kerl, du kommst hier auf mein Land! / Was fällt dir ein?» (Verse 109 f.), und habe ihm einen Klumpen Erde mitten ins Gesicht geschmissen und ihn darauf mit einem Holzpfahl verbläut und geschrien: «Was hab ich mit dir zu schaffen? […] / Kennst du die öffentliche Strasse nicht?» (Verse 114 f.) Darauf sei er weggerannt: Er setzt mir nach, so etwa fünfzehn Stadien, erst um den Hügel rum und dann hinab zum Dickicht dort und schleudert Klumpen, Steine und Birnen, als er nichts mehr anderes hat. […] Bitte flieht! (Verse 118–123)

Sostratos, der Verliebte, entgegnet, dass Fliehen Feigheit sei, während sein Freund Chaireas unter Beipflichtung von Sostratos’ Sklaven Pyrrhias für eine Verschiebung des Besuches bei Knemon plädiert. Als Chaireas bereits verschwunden ist und Sostratos noch mit seinem Sklaven spricht, eilt Knemon, der Menschenfeind, von links herbei. Pyrrhias verschwindet und Sostratos tritt zurück. Knemon ruft aus: War nicht der Perseus aus dem Mythos doppelt reich: Zum einen, weil er Flügel hatte und darum auf keinen, der am Boden sich bewegte, traf, und dann, weil er ein Ding besass, mit dem zu Stein er alle Lästigen verwandeln konnte? Das wollt ich jetzt haben. Nichts gäb es dann reichlicher als Marmorstatuen überall. Doch so kann man nicht leben, beim Asklepios [Gott der Heilkunst]. Sie kommen bis auf mein Land und quatschen! Etwa weil ich entlang des Weges meine Zeit vertrödle? Nein, diesen Teil von meinem Land bebau ich gar nicht, sondern bin geflohen

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vor den Passanten. Doch bis auf die Hügel hoch verfolgen sie mich schon. O dieses Pöbelpack! (Knemon erblickt Sostratos) Mein Gott, schon wieder lungert jemand hier vor meiner Tür. […] An keinem Ort ist man für sich allein, nicht einmal, wenn man sich erhängen will. […] Ach ich armer Mensch! (Verse 153–177)

Knemon eilt in sein Haus. Sostratos spricht laut vor sich hin, dass sein Bestreben, Knemons Tochter zu gewinnen, nicht bloss die übliche Mühe, sondern vollen Einsatz brauche. Er entschliesst sich, Getas, den gewandten und von Energie sprühenden Sklaven seines Vaters (Kallippides), zu holen, denn es komme nicht infrage, die Sache auf die lange Bank zu schieben. In diesem Moment tritt Knemons Tochter, in welche Sostratos verliebt ist, aus der Tür des Hauses und seufzt: Was mach ich bloss? Den Eimer liess die Amme beim Schöpfen in den Brunnen fallen. […] Als Papa zurückkam verlangte er nach warmem Wasser. […] Wenn er dahinterkommt, wird er die Ärmste zu Tode prügeln. […] Ihr lieben Nymphen, holen muss ich es von Euch. (Verse 190–197)

Diese Gelegenheit ergreifend, tritt Sostratos hervor und bietet ihr an, für sie Wasser in der Nymphengrotte zu holen. Sie willigt gerne ein, und Sostratos geht in die Grotte. In diesem Moment erscheint Knemon an der Tür seines Hauses, was seine Tochter erschrecken lässt: «Ich kriege Schläge, wenn er mich hier draussen sieht.» (Vers 205) Da erscheint an der Tür des Hauses rechts nebenan mit einer Hacke Daos, der Sklave des jungen Bauern Gorgias, und ruft rückwärtsgewandt ins Haus zu seinem Herrn: Schon lange verweil ich hier, um dir zu helfen, er [Knemon] aber hackt allein auf dem Feld. Zu ihm muss ich hinausgehen. – O verfluchte Armut, warum erfahren wir dich als so schwere Last? Warum hockst du [Gorgias] so lange Zeit ohne Unterlass drinnen im Haus und wohnst bei uns? (Verse 206–211)

Sostratos kommt mit dem gefüllten Wasserkrug aus der Grotte, übergibt ihn seiner Geliebten und sagt ihr: «Leb wohl, und kümmere dich um deinen Vater»

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(Vers 214), während Daos, auf dieses Geschehen aufmerksam geworden, beiseitesprechend fragt, was denn dieser Mensch wolle. Sostratos ist über den weiteren Verlauf seiner Beziehung zu seiner Geliebten besorgt und kommt auf seinen Entschluss zurück, Getas, den Sklaven seines Vaters Kallippides, zu holen. Daos, der Sklave von Gorgias, beschliesst den ersten Akt mit den folgenden Versen: Da ist doch irgendetwas faul. Gar nicht gefällt mir das. Ein Bursche dienstbar einem Mädchen, das ist verdächtig. – Dich, elender Knemon, sollen die Götter allesamt verdammen. Ein unschuldiges Kind lässt du in Einsamkeit allein und ohne alle nötige Bewachung. Das hat der wohl gemerkt und sich an sie herangemacht und hält’s für einen Fund des Glücks. Auf jeden Fall muss ich so schnell wie möglich die Sache ihrem Bruder [Gorgias] melden, dass wir Vorsorge treffen für den Schutz des Mädchens. Ich geh am besten gleich, um dies zu tun. Da kommt ja eine Schar von Panverehrern zu diesem Ort und sind schon angeheitert. Mit scheint geraten, ihnen aus dem Weg zu gehn. (Verse 218–232)

Der Chor zieht in die zwischen Bühne und den Zuschauerreihen gelegene Orchestra ein. Zweiter Akt (Verse 233–426) Von rechts kommen, beide mit einer Hacke ausgerüstet, der gute Gorgias und sein Sklave Daos herbei. Gorgias macht seinem Sklaven Vorwürfe, dass er den Fremden (Sostratos) nicht sofort zur Rede gestellt habe, als dieser sich der Tochter seines Halbvaters Knemon näherte, denn jener sei ein Schurke. Er sei um sie nach wie vor besorgt. Wenn sie in Schande falle, bringe sie auch ihm selbst Schimpf. Er fordert seinen Sklaven auf, mit ihm zusammen zu Knemon zu gehen. Bevor sich Gorgias und Daos Knemons Haus zuwenden, tritt von rechts Sostratos auf, wird aber von ihnen nicht bemerkt. Sostratos sagt laut zu sich, dass er Getas zu Hause nicht gefunden habe, da seine Mutter wie an jedem Tag irgendeinem Gott opfern wolle und Getas dazu beauftragt habe. Als er sich dem Haus Knemons zuwendet, tritt Gorgias ihm entgegen und sagt zu ihm: Mein junger Freund, wärst du bereit, ein ernstes Wort von mir zu hören? Sostratos: Mit Vergnügen, sprich!

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Gorgias: Es gibt, so glaube ich, für alle Menschen, ob sie in Wohlstand leben oder Armut, ein Ende ihrer Lage, einen Wechsel. Dem Wohlhabenden wird so lange glückliches Gedeihen seines Lebens immerfort zuteil, wie er sein gutes Schicksal zu ertragen weiss und kein Unrecht tut. Jedoch wenn er dazu von seinem Reichtum sich verleiten lässt, muss er erfahren, dass sich sein Schicksal zum Schlimmen wendet. – Die aber dürftig leben und trotz ihrer Armut nichts Böses tun und ihr Geschick mit Würd ertragen und im Lauf der Zeit Vertraun (πίστιν, pistin) gewinnen, die dürfen sich ein bessres Los erwarten.47 Was will ich damit sagen? Bist du noch so reich, verlass dich nicht darauf, verachte nicht uns Arme! Würdig deines dauerhaften Glücks erweise dich vor denen, die dich sehen! (Verse 269–287)

Sostratos fragt Gorgias, ob es ihm so scheine, dass er etwas Unanständiges tue. Gorgias bejaht mit der Begründung, dass er ein freies Mädchen verführen wolle und ihnen, den Armen und Fleissigen, dadurch Unglück und Hohn bringe. Sostratos erwidert schliesslich: So wahr dir’s wohlergehe, junger Freund, hör auch von mir. […] Ein Mädchen hab ich hier gesehen. Ich liebe es. Nennst du das ein Verbrechen, dann beging ich’s wohl. […] ich komme hierher nicht zu ihr, den Vater will ich sprechen. Ich bin ein freier Mann, habe genügend Geld und bin entschlossen, sie zur Frau zu nehmen ohne Mitgift, und gelobe, sie allezeit zu lieben. […] (Verse 299–309)

Er fügt hinzu, dass der Gott Pan und alle Nymphen, wenn er in böser Absicht gekommen sei, ihn auf der Stelle mit einem Schlag treffen sollen. Gorgias antwortet: Lass gut sein! Wenn ich heftiger, als recht war, sprach, so soll dich das nicht weiter kränken. Hiermit hast du mich umgestimmt, ja zum Freund gemacht. Und nicht als Fremder sprech ich so zu dir, ich bin des Mädchens Bruder, von derselben Mutter. (Verse 315–319)

Horst-Dieter Blume übersetzt πίστις, pistis, mit «Kredit». Dieses Wort hat für mich einen hier unpassenden finanziellen Beigeschmack, darum habe ich es durch «Vertrauen» ersetzt. 47

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Gorgias berichtet nun Sostratos, dass der Vater des Mädchens von einer Art sei, «wie es in alten Zeiten keinen je gab, noch heutzutage sonst»: […] Er ist eine absolute Plage! Sein Grundstück ist etwa zwei Talente wert. Das bearbeitet er selbst, stets allein, und hat als Helfer niemanden zu Hand: nicht eignen Sklaven, keinen Tagelöhner aus der Gegend, keinen Nachbarn – nein, er ganz allein. Am liebsten ist ihm, wenn er keinen Menschen sieht. Nur seine Tochter hat er meistens bei der Arbeit An seiner Seite. Sie alleine spricht er an. […] Er werde sie verheiraten, sagt er, wenn ein Bräutigam sich finde, der so denkt wie er. Sostratos: Und das heisst nie. (Verse 323–338)

Gorgias versucht daraufhin, Sostratos sein Bemühen um das Mädchen auszureden, worauf Sostratos Gorgias fragt, ob er denn noch nie verliebt gewesen sei. Gorgias antwortet, dass dies wegen seiner Armut für ihn nicht in Betracht komme. Sostratos erwidert, dass sein Verliebtsein nicht mehr bei ihm, sondern bei Gott liege. Gorgias antwortet, dass er selbst sehen werde, dass er seine Geliebte nicht bekommen werde, wenn er mit ihm zusammen in den nahen Talgrund gehe, den sein Halbvater bald beackern werde. Daos, der Sklave des Gorgias, hält diesen davon ab und gibt Sostratos eine Hacke. Dieser sagt zu Gorgias: Womit du mich abschrecken wolltest, gerade das stachelt mich doppelt an zur Tat. Wenn dieses Kind nicht unter Frauen aufgezogen ist und nichts von all den Übeln dieses Lebens weiss, kopfscheu gemacht von einer Tante oder Amme, vielmehr in freier Art herangewachsen ist beim wilden Vater, der das Schlechte hasst: ist’s da nicht Seligkeit, sie zu gewinnen? Die Hacke freilich wiegt zwei Zentner; die wird noch mein früher Tod! Jedoch nicht schlappgemacht, da ich einmal begonnen habe, dies zu leisten! (Verse 382–392)

Sostratos folgt Gorgias und Daos nach links. Von rechts kommt der Koch Sikon herbei, der ein grosses Opfer-Schaf hinter sich herzieht. Ihm folgt Getas, beladen mit Decken und Hausrat. Sie wollen Pan opfern aufgrund eines Traumes von Sostratos’ Mutter, in dem diese sah, dass Pan ihren Sohn in Fesseln schlug, ihm ein Ziegenfell und eine Hacke gab und ihm befahl, auf dem Felde des Bauern (Knemon) in der Nähe seiner Grotte zu graben. Sie gehen in die Grotte, wodurch die Bühne frei wird für den Chor.

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Dritter Akt (Verse 428–619) Knemon will hinaus auf sein Feld. Er sagt rückwärtsgewandt zu seiner alten Dienerin, dass sie die Türe schliessen und niemandem öffnen solle, bis er zurückkommen werde, wahrscheinlich erst im Finstern. In diesem Moment kommen von rechts Sostratos’ Mutter, seine Schwester Plangon, die Flötenspielerin Parthenis und mehrere Sklaven und Sklavenmädchen. Sostratos’ Mutter feuert ihre Tochter Plangon an, schneller zu laufen, da nach ihrem Willen das Opfer für den Gott Pan schon lange vollzogen sein sollte. Knemon sagt dazu: «Was bedeutet das? Den Pöbel hol doch der Geier!» (Verse 432 f.) Das laute Blasen der Flöte von Parthenis lockt den Sklaven Getas aus der Pan- und Nymphengrotte. Er sagt zur herankommenden Mutter des Sostratos, dass alles bereit zum Opfer sei, vor allem das beinahe krepierte Schaf. Nachdem alle in die Grotte gegangen sind, sagt Knemon: Dass ihr doch alle elend umkommt! Tatenlos machen sie mich, ich kann das Haus nicht unbewacht verlassen. Diese Nymphen wohnen nebenan mir stets zur Plage. Daher muss ich wohl mein Haus abreissen und es anderswo aufbaun. – […] He Alte, mach schnell die Tür auf, denn ich muss die Arbeit, die drinnen anfällt, nun verrichten, wie mir scheint. (Verse 442–455)

Knemon geht in sein Haus. Getas erscheint am Eingang der Grotte und ruft rückwärtsgewandt, dass die Nachbarschaft des Gottes belästigt werden müsse, da der Kochtopf für das Schaf vergessen worden sei. Er geht zu Knemons Haus und klopft an. Nachdem er etwas gewartet hat, ruft er: Was ist denn hier los? Bursche!! Kein Mensch ist drinnen. Ha! Da kommt jemand herbeigerannt. Knemon: Was fasst du meine Tür an, du elender Wicht? Getas: Beiss mich nur nicht! Knemon: Das tu ich, doch, und will dich lebendig fressen. […] Hab ich mit dir, verdammter Kerl, denn ein Geschäft vereinbart? Getas: Kein Geschäft, […] ich bitte nur um einen Kochtopf. […] Knemon: Glaubst du, ich opfre Ochsen, mach es so wie ihr? Getas: Leb wohl, mein Bester, bei dir anzuklopfen Und dich zu bitten, schickten mich die Frauen. […] Knemon: Blutrünstige Bestien! Gleich, als sei’s bei einem Freund, klopfen sie an. Wenn ich an meiner Tür einen zu fassen kriege, und an ihm nicht ein Exempel

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statuiere allen in der Gegend, haltet mich für einen Dutzendmenschen! Dieser hier, wer es nur war, ist mit viel Glück davongekommen. (Verse 464–486)

Knemon geht in sein Haus. Als Getas in die Grotte tritt, kommt der Koch Sikon aus dieser heraus und beschimpft Getas, dass er Knemon ganz rüpelhaft um den Kochtopf gebeten habe. Man müsse schmeicheln, wen man um etwas bitte. Einen alten Mann müsse man Vater oder Väterchen, ein altes Weib Mutter, eine Frau mittleren Alters Priesterin, einen Sklaven bester Herr nennen. Es sei eine grosse Dummheit, «Bursche» zu plärren. Er geht zur Tür Knemons, klopft ganz sacht an die Tür und ruft: Komm, Väterchen, dich hätt’ ich gern. […] Knemon: Schon wieder du […]. Du reizt mich wohl absichtlich. Hab ich dir nicht verboten, an meine Tür zu kommen? (Er packt Sikon und ruft ins Haus hinein:) Alte bring die Peitsche! […] (Sikon reisst sich los.) Knemon: Welch unerträgliche Plage. (Verse 499–514)

Sikon geht in die Grotte. Von links kommt Sostratos herbei und klagt, dass ihm das schwere Hacken Schmerzen in Kreuz, Rücken und Genick beschert habe. Denn gleich mit voller Kraft der Jugend legt ich los, schwang hoch empor die Hacke wie ein Feldarbeiter und schlug tief hinein. […] Bald wandte ich mich etwas um, wann wohl der Alte mit dem Mädchen endlich komme. (Verse 525–530)

Gorgias habe ihm schliesslich gesagt, dass Knemon heute wahrscheinlich gar nicht komme. Und Sostratos fügt bei: Und hier bin ich. Doch warum? Ich kann’s nicht sagen. Bei den Göttern ganz von selbst Zieht etwas mich an diesen Ort zurück. (Verse 543–545)

Getas kommt aus der Pan-Grotte und spricht zurückgewandt zum Koch Sikon. Sostratos ruft Getas und fragt ihn, was sie hier täten. Getas antwortet, dass sie geopfert hätten, dass seine Mutter schon lange hier sei und dass sein Vater (Kallippides) auch bald eintreffen werde. Sostratos bemerkt dazu: […] Dieses Opfer hier kommt irgendwie nicht ungelegen. Wie ich bin,

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will ich den jungen Mann [Gorgias] von hier mit seinem Diener einladen. Wenn sie erst am Festmahl einen Anteil erhalten haben, werden sie in Zukunft uns nützliche Streiter für die Hochzeit sein. […] Gut wird es heut enden, Getas. – Das weissage ich selbst, o Pan. Stets bete ich zu dir, wenn ich vorübergehe, und will mich darum grosszügig erweisen (Verse 557–573)

Aus Knemons Haus läuft Knemons alte Sklavin Simiche und ruft: Ich Unglücksmensch […] Was wird aus mir? Den Eimer wollte ich, wenn möglich, ohne dass der Herr es merkte, selbst aus dem Brunnen holen. Darum band ich die Hacke an ein dünnes morsches Seil, und das ist gleich gerissen […] und so hab ich Arme auch die Hacke noch zum Eimer in den Brunnen reingeschmissen. […] Er [Knemon] aber will gerade Mist fortschaffen, der im Hofe liegt, und rennt herum und sucht nach ihr [der Hacke] schon stundenlang und brüllt und ist dort an der Tür. (Verse 574–586)

Knemon stürzt aus dem Haus und ruft seiner Dienerin zu, dass er sie in denselben Brunnen stürzen werde, in dem sie den Eimer und die Hacke ihres Herrn verloren habe. Schliesslich ruft er sie ins Haus zurück und seufzt: Ach elend bin ich, elend in der Einsamkeit wie sonst kein Mensch.48 Ich werde in den Brunnen steigen. Was bleibt mir andres übrig? Getas: Seil und Haken besorgen wir dir gern. Knemon: Die Götter allesamt sollen dich verderben, wenn du mich anquatschst. (Verse 597–601)

Er verschwindet in seinem Haus. Die Bühne wird frei für den Chor. Vierter Akt (Verse 620–792) Aus Knemons Haus stürzt Knemons alte Sklavin Simiche, schreit um Hilfe, ihr Herr sei in den Brunnen hinuntergestiegen, um die Hacke und den Eimer zu holen, dabei ausgeglitten und in die Tiefe gestürzt. Sie ruft nach Gorgias. Dieser sagt ihr, dass sie zum Brunnen gehen solle und er ihr nachfolgen werde. Dann ruft er den mit ihm befreundeten Sostratos aus der Grotte und sagt ihm, dass er

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Hervorhebung von mir.

3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen individuellen Menschentypus

ihm folgen solle. Nach einiger Zeit kommt Sostratos aus Knemons Haus und sagt: Ihr Leute, bei Demeter, bei Asklepios, bei allen Göttern, nie in meinem Leben sah ich einen Menschen so im rechten Augenblick ertrinken – um ein Haar. Welch süsser Zeitvertreib! Denn Gorgias, kaum dass wir drinnen waren, sprang sofort hinunter in den Brunnen. Oben ich und das Mädchen taten nichts. Was hätten wir auch sollen? Nun, sie raufte sich das Haar, sie weinte, schlug sich heftig an die Brust. Ich Simpel aber stand dabei wie ihre Amme – jawohl, ihr Götter –, flehte und beschwor sie, das nicht zu tun, und schaute auf das Götterbild erlesener Schönheit. Der Verletzte drunten war mir vollkommen gleichgültig, nur dass ich ihn immer ziehen sollte, das verdross mich sehr. […] Doch da geht die Tür. O Vater Zeus, welch sonderbarer Anblick! (Verse 666–690)

Gorgias und die Tochter Knemons bringen diesen auf einer fahrbaren Liege aus dessen Haus. Knemon sagt, dass es ihm schlecht gehe. Gorgias sagt ihm, dass er zuversichtlich sein solle. Knemon: […] Bin ich: In Zukunft wird euch Knemon nicht mehr lästig sein. Gorgias: So etwas bringt die Einsamkeit mit sich, siehst du, um Haaresbreite hättest du vorhin den Tod gefunden. Wohlbehütet sollte man in deinem Alter leben. (Verse 692–696)

Knemon bittet Gorgias, dessen Mutter Myrrhine zu rufen, und bittet seine Tochter, ihm aufzuhelfen. Sostratos sagt zu Knemon: «Du Glücklicher!» Worauf Knemon erwidert: «Was lungerst du hier rum, du elender Kerl?» (Verse 701 f.) (Darauf fehlen acht Zeilen der Komödie in ihrer Rekonstruktion.) Sostratos tritt in den Hintergrund. Aus dem Haus kehrt Gorgias mit seiner Mutter Myrrhine zurück. Was Knemon nun zu ihnen sagt, zeigt den überaus hohen Grad von Selbst- und Welterkenntnis dieses Griesgrams und Misanthropen. Einschliessen in dieses «Selbstbekenntnis» können wir auch die oben von mir hervorgehobenen Verse 697 f.: «Ach elend bin ich, elend in der Einsamkeit wie sonst kein Mensch.» Auch im folgenden Zitat hebe ich durch Kursivierung diese Selbsterkenntnis des Knemon hervor. Knemon sagt zu Gorgias und dessen Mutter Myrrhine:

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

So zu leben war mein Wunsch, und niemand von euch konnte mich eines Besseren belehren. Also gebt ihr darin nach. Eines war vielleicht mein Fehler, dass ich glaubte, ich allein könnte selbstgenügsam leben, ohne Hilfe anderer. Jetzt habe ich erkannt, dass jäh und unvorhersehbar der Tod uns ereilen kann, und fand, dass damals ich nicht recht gedacht. Immer muss es einen Helfer geben der zur Seite steht. Aber bei Hephaistos,49 ich liess mich so sehr verblenden, weil ich beobachtete, wie die Menschen leben, ihren Sinn nur auf den Gewinn richten. Auch nicht einer auf der Welt, glaubte ich, sei wohlgesonnen seinem Nächsten. Dieses stand mir im Weg. Ein einziger nur lehrte eines Besseren mich: Gorgias mit einer Tat von grösstem Edelmut. Mich, der ich ihm nicht erlaubte, sich zu nähern meiner Tür, der ich niemals in der kleinsten Sache ihm geholfen hab, nie ihn grüsste, nie ihn freundlich ansprach, rettete er doch! […] Ob ich sterben muss – ich könnt’ es glauben, denn ich bin wohl schwer verletzt – oder ob ich überlebe: ich mach dich zu meinem Sohn. Meine Habe sei ganz dein; das Mädchen sei dir anvertraut: Such ihr einen Ehemann, denn würde ich auch ganz gesund, könnte ich doch keinen finden. Auch nicht einer war mir recht. Mich jedoch lasst weiterleben, wie ich es selber will. […] Einem Manne ziemt es nicht, mehr als nötig ist, zu reden, doch dies wisse noch, mein Sohn: ein paar Worte will ich sagen über mich und meine Art. Wären alle so wie ich, dann gäb es die Gerichte nicht, und sie führten nicht einander ab in die Gefängnisse. Keinen Krieg gäb’s, jeder hätte an massvollem Besitz genug. (Verse 711–745)

Gorgias stimmt dem allem zu und sagt seinem Halbvater, dass nun mit seiner Hilfe für seine Tochter ein Mann gefunden werden müsse. Doch Knemon will sich aus der Sache heraushalten. Gorgias fährt fort, dass jemand mit ihm sprechen und um die Hand seiner Tochter bitten wolle. Knemon antwortet, dass ihn dies alles nicht mehr kümmere. Gorgias erwidert, dass es jemand sei, der bei seiner Rettung mitgeholfen habe. Auf einen Wink von Gorgias kommt Sostratos herbei. Knemon fragt: Braungebrannt. Ist er ein Bauer? Gorgias: Ja, mein Vater, ganz gewiss. Kein Genussmensch oder Faulpelz, der den ganzen Tag flaniert, der [es fehlt wieder ein Vers] Knemon: Rollt mich nun hinein. (Verse 754–758)

Hephaistos ist der Gott des Feuers. Als lahmer, gutmütiger Schmied fertigt er für die Götter und Helden Waffen und Geräte. 49

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Sostratos sagt zu Gorgias, dass nun nur noch bleibe, Knemons Töchterchen mit ihm zu verloben; auch der, dem es zustehe, dies zu entscheiden, sein Vater Kallippides, werde nicht dagegen sein. Gorgias antwortet: Also gebe ich sie dir Und verlobe sie – als Zeugen ruf ich alle Götter an, dir zu Braut nach Recht und Sitte: du verdienst sie, Sostratos. Denn nicht mit verstelltem Wesen gingst du diese Sache an, sondern offen; für die Heirat warst für alles du bereit. Lebst im Wohlstand, griffst zur Hacke, grubst um und plagtest dich freiwillig. In diesem Punkte zeigt sich erst der wahre Mann, der es auf sich nimmt, zu teilen eines Armen hartes Los als ein Reicher. (Verse 761–769)

Kallippides, Sostratos’ Vater, kommt von rechts, laut darüber nachdenkend, dass das Lamm wohl schon verspeist sei und er zu spät komme. Sostratos wendet sich an ihn und sagt, dass davon noch etwas übrig sei. Kallippides geht darauf in die Grotte. Gorgias sagt zu Sostratos, dass er seinem Vater in die Grotte folgen und mit ihm besprechen solle, was er wolle. Er selbst warte in seinem Haus. Zum letzten Mal wird die Bühne für den Chor frei. Wenn er nicht wüsste, dass noch ein fünfter Akt folgt, würde der Zuhörer oder Leser der Komödie wahrscheinlich erwarten, dass mit dem happy end das Stück zu Ende sei – oder er würde vermuten, dass der fünfte Akt nur noch aus einer prächtigen Hochzeit zwischen Sostratos und seinem geliebten Mädchen als Finale bestehen könne. Doch am Anfang des fünften Aktes tritt für den Zuhörer oder Leser unerwartet ein neues Problem auf, das die Spannung wieder aufleben lässt. Fünfter Akt (Verse 784–969) Sostratos kommt mit seinem Vater Kallippides aus der Grotte und sagt ihm, dass er als sein Vater nicht alles erfüllt habe, was er von ihm erwartet habe. Kallippides fragt seinen Sohn, ob er denn nicht seinem Wunsch und Willen zustimme, das von ihm geliebte Mädchen zur Frau zu nehmen. Sostratos erwidert, er glaube dies nicht. Kallippides insistiert, er wisse, dass die Ehe für einen jungen Menschen dann Bestand habe, wenn er sie aus Liebe überzeugt geschlossen habe. Sostratos erwidert: Ich also darf die Schwester dieses jungen Mannes [Gorgias] nehmen, da ich ihn unser würdig halte? Wieso dann weigerst du dich, ihm dafür die meinige zur Frau zu geben? Kallippides: Schäme dich!

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Zwei Arme, Schwiegersohn und Schwiegertochter will ich nicht haben. Eines ist genug. (Verse 791–796)

Sostratos fragt kritisch nach, ob er denn sicher sein könne, dass das unbeständige Geld ihm für alle Zeit bleibe. Wenn das Geld Sache des Glücks sei, dann solle er es auch den anderen gönnen. Das Glück könnte es ihm ja wieder nehmen. Drum meine ich, dass du, solange du es besitzt, es selber ehrenhaft verwenden sollst und allen helfen, möglichst viele aber zum Wohlstand bringen durch dein Tun. Denn das lebt immer fort […]. Um vieles besser ist ein sichtbar treuer Freund als unsichtbarer Reichtum, den du dir vergräbst. (Verse 805–812)

Kallippides gibt seinem Sohn recht. Er sagt zu ihm, dass er das von ihm Erworbene nicht mit ins Grab nehmen könne, sondern dass es ihm, seinem Sohn, gehöre. […] Du willst jemand gewinnen, den du als Freund erprobt hast: tue das, viel Glück dabei. (Verse 815 f.)

Gorgias erscheint vor seinem Hause und sagt seinem Freund Sostratos, dass er an der Tür das Gespräch zwischen ihm und seinem Vater mitgehört habe. Er beteuert, dass er ihn für einen echten Freund halte und ihn sehr gerne habe, […] doch, was zu gross für mich ist, will ich nicht und kann’s auch nicht, selbst wenn ich wollte – tragen. […] Die Schwester geb ich dir gern zur Frau, doch deine nehmen – ich danke dir. […] Mir missfällt es, die Früchte fremder Arbeit zu geniessen; nein, ich will sie selbst mir sammeln. (Verse 825–830)

Sostratos erklärt dies für Unsinn und fragt seinen Freund, ob dieser sich der Ehe mit seiner Schwester für nicht würdig halte. Gorgias antwortet, dass er sich dieses Mädchens zwar würdig fühle, es aber unwürdig sei, in der Armut vieles anzunehmen. Kallippides greift ins Gespräch ein und sagt Gorgias, dass er ein nobler Narr sei, denn er habe nichts und wolle dies nicht wahrhaben, und fordert ihn auf, nachzugeben. Gorgias antwortet: Nun gut, du hast mich überzeugt. Gleich doppelt irrte ich: wer arm ist und dazu sich ziert, der findet nie sein Glück. (Verse 838–840)

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Darauf sagt Sostratos, dass heute Nacht gefeiert werde und am nächsten Tag die Doppelhochzeit stattfinden solle, und bittet Gorgias, auch «den alten Mann», d. h. Knemon, den bekehrten Dyskolos (Griesgram, Menschenfeind), mitzubringen. Kallippides geht in die Grotte, um das nächtliche Trinkgelage für die Männer und ein Nachtfest für die Frauen vorzubereiten. Darauf kommt Gorgias mit seiner Schwester und seiner Mutter aus Knemons Haus und sagt, dass Knemon ihn inständig bitte, auch seine alte Magd zum Nachtfest zu führen, dass er selbst aber ganz allein sein wolle. Dies ist eigentlich ganz verständlich, denn ein an die Einsamkeit und Stille gewöhnter armer «alter Mann» erträgt schwerlich den Lärm eines nachtlangen Trinkgelages. Simiche, die alte Magd des Knemon, kommt aus dessen Haus und ruft ihm rückwärtsgewandt zu: Ich geh jetzt auch, bei Artemis! Du kannst nun allein daliegen, Unglücksmensch. – Als diese dich zum Pan hinübertragen wollten, hast du es abgelehnt. Ein grosses Unheil wird dich treffen, bei den zwei Göttinnen, ein grösseres noch als jetzt. (Verse 874–878)

Getas, der Sklave des Kallippides, kommt aus der Pan-Grotte und sagt, er wolle nachschauen, wie es «dem Alten» (Knemon) gehe, und ihn versorgen. Dazu ruft er den Koch Sikon und einen Aulosbläser. Dann trommelt er an die Tür von Knemons Haus, während der Aulosbläser kräftig eine Melodie spielt. Knemon ruft zwei Mal «Ach, ich sterbe». Getas geht ins Haus und bittet Knemon um Töpfe und ein Becken. Doch Knemon kann nicht aufstehen. Schliesslich gelingt es ihnen mit Tricks und Überredung, Knemon bekränzt in die Pan-Grotte zum Trinkgelage zu tragen. Im Epilog wendet sich Getas ans Publikum: Ihr aber freut euch mit uns, dass den Alten, der so viel Mühe machte, wir bezwangen, und gebt freundlichen Applaus, ihr Burschen, Knaben, Männer! Die alte Jungfrau, die das Lachen liebt, die [Sieges‐]Göttin Nike geleite wohlgesinnt uns alle Zeit. (Verse 965–969)

Abschnitt 18. Vier Bemerkungen zur Komödie Dyskolos Erste Bemerkung Knemon, der Dyskolos, ist eigentlich kein Menschenfeind. Er ist gut zu seiner Tochter, zu seiner alten Sklavin Simiche, mit denen er zusammen haust. Er ist ausserordentlich fleissig. Er will in seiner Arbeit nur nicht gestört werden durch

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Menschen, mit denen er nicht zusammenarbeitet. Doch er erkennt: «Ach elend bin ich, elend in der Einsamkeit / wie sonst kein Mensch.» (Verse 697 f.) Und er erkennt auch, dass er ohne die Hilfe anderer nicht leben kann. Er sagt zu Gorgias und dessen Mutter Myrrhine: So zu leben war mein Wunsch, und niemand von euch konnte mich eines Besseren belehren. Also gebt ihr darin nach. Eines war vielleicht mein Fehler, dass ich glaubte, ich allein könnte selbstgenügsam leben, ohne Hilfe anderer. Jetzt habe ich erkannt, dass jäh und unvorhersehbar der Tod uns ereilen kann, und fand, dass damals ich nicht recht gedacht. Immer muss es einen Helfer geben, der zu Seite steht. Aber bei Hephaistos, ich liess mich so sehr verblenden, weil ich beobachtete, wie die Menschen leben, ihren Sinn nur auf den Gewinn richten. Auch nicht einer auf der Welt, glaubte ich, sei wohlgesonnen seinem Nächsten. Dieses stand mir im Weg. Ein einziger nur lehrte eines Besseren mich: Gorgias mit einer Tat von grösstem Edelmut. Mich, der ich ihm nicht erlaubte, sich zu nähern meiner Tür, der ich niemals in der kleinsten Sache ihm geholfen hab, nie ihn grüsste, nie ihn freundlich ansprach, rettete er doch! (Verse 711–727)

Knemon, der «Menschenfeind», anerkennt also durch sich selbst, dass er ohne Mitmenschen, die es gut mit ihm meinen, nicht leben kann, dass er Hilfe von ihnen annehmen kann und dass er, da er selbst eigentlich ein guter Mensch ist, ihnen dankbar sein, ja es auch selbst gut mit ihnen meinen, sie lieben und deshalb kein Menschenfeind sein kann. Daher hebt er seine Bezeichnung «Menschfeind» selbst auf. Doch verteidigt er auch seine eigene Lebensform und hat damit völlig recht: Mich jedoch lasst weiterleben, wie ich es selber will. […] Einem Manne ziemt es nicht, mehr als nötig ist, zu reden, doch dies wisse noch, mein Sohn: ein paar Worte will ich sagen über mich und meine Art. Wären alle so wie ich, dann gäb es die Gerichte nicht, und sie führten nicht einander ab in die Gefängnisse. Keinen Krieg gäb’s, jeder hätte an massvollem Besitz genug. (Verse 739–745)

Zweite Bemerkung Wie Aristophanes’ Komödie Wolken beginnt Menanders Komödie am frühen Morgen und endet am Abend desselben Tages.

3. Kapitel. Komödie als Charakterisierung eines merkwürdigen individuellen Menschentypus

Dritte Bemerkung Es ist erstaunlich, wie im letzten (fünften) Akt dieser Komödie Menschen aus reichen und armen sozialen Schichten durch Heirat zusammengeführt werden. Das ist weniger erstaunlich beim Sohn des reichen Kallippides, Sostratos, der am Ende des vierten Aktes mithilfe seines Freundes, des armen Bergbauern Gorgias, die Tochter des armen Bergbauern Knemon heiratet, denn er ist ja in sie völlig verliebt. Erstaunlicher vielmehr ist, dass der arme Bergbauer Gorgias, nachdem er sich zuerst aus echtem Stolz dagegen sträubte, die Schwester des reichen Sostratos zur Frau erhält, obschon sich der reiche Kallippides zuerst auch dagegen sträubte (er wollte nicht zwei Arme in seiner Familie haben). Noch in zeitgenössischen Gesellschaften ist so etwas erstaunlich, in der chinesischen praktisch unmöglich und auch in der europäischen unwahrscheinlich. Vierte Bemerkung Aus heutiger Perspektive fällt auf, dass der arme Gorgias seine Halbschwester (die Tochter des Knemon) mit seinem Freund, dem reichen Sostratos, verheiratet und dass Sostratos seine Schwester seinem Freund Gorgias zur Frau gibt, ohne dass die beiden ihre Schwestern fragen, ob sie dies überhaupt wünschen.

Abschnitt 19. Anhang zur Komödie Dyskolos: Wilhelm Buschs menschenfeindliches Gedicht Der Einsame aus seiner letzten Gedichtsammlung Zu guter Letzt (1904) Mehr als 2000 Jahre später schrieb Wilhelm Busch (1832–1908)ein Gedicht über einen «Menschenfeind», der wie Dyskolos seine Mitmenschen eigentlich nicht hasst, sondern nur von ihnen nicht gestört werden will. Doch die Personen sind sehr verschieden: Dyskolos ist ein fleissiger Bauer, der «Menschenfeind» bei Busch ist ein alter müssiger Rentner. Wer einsam ist, der hat es gut, Weil keiner da, der ihm was tut. Ihn stört in seinem Lustrevier Kein Tier, kein Mensch und kein Klavier. Und niemand gibt ihm weise Lehren, Die gut gemeint und bös zu hören. Der Welt entronnen, geht er still In Filzpantoffeln, wann er will. Sogar im Schlafrock wandelt er Bequem den ganzen Tag umher.

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Er kennt kein weibliches Verbot, Drum raucht und dampft er wie ein Schlot. Geschützt vor fremden Späherblicken, Kann er sich selbst die Hose flicken. Liebt er Musik, so darf er flöten, Um angenehm die Zeit zu töten. Und laut und kräftig darf er prusten, Und ohne Rücksicht darf er husten. Und allgemach vergisst man seiner. Nur allerhöchstens frägt mal einer: «Ach lebt er noch? Ei Schwerenot, Ich dachte längst, er wäre tot.» Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen, Lässt sich das Glück nicht schöner malen. Worauf denn auch der Satz beruht: «Wer einsam ist, der hat es gut.»50

Abschnitt 20. Bemerkung zu den beiden Komödien Wolken (Aristophanes) und Dyskolos (Menander) Es ist anzunehmen, dass gemäss der antiken Tradition der griechischen Tragödie und Komödie auch in der Komödie Dyskolos die verschiedenen Rollen mit Masken gespielt wurden. So ist es durch historische Angaben und archäologische Funde belegt. Auch war das Theater in Athen so gross, dass die Zuhörer und Zuschauer nur schwer individuelle Züge in den Gesichtern der Schauspieler auf der mehr oder weniger weit entfernten Bühne hätten unterscheiden können. Die Masken waren zum Teil so gemacht, dass sie auf der einen Seite ein lustiges und auf der anderen Seite ein trauriges Gesicht zeigten. Der Schauspieler musste also je nach trauriger oder lustiger Situation seine Maske im Profil von der lustigen oder traurigen Seite zeigen.51 Doch tritt Knemon als individueller Mensch auf, und auch Gorgias und Sostratos tragen individuelle Züge, sodass ich es eigentlich vorziehen würde, wenn diese Komödie Menanders ohne Masken gespielt würde. Schon etwas früher fand in der antiken griechischen Plastik bei der Darstellung nackter Jünglinge durch Praxiteles (395–330 v. Chr.) und Lysippos (um 390 bis 310 v. Chr.) eine Individualisierung, vor allem des Gesichtes, statt. In der Zeit von Aristophanes’ Wolken (aufgeführt 423 v. Chr.) war dies noch nicht der Fall.

Wilhelm Busch, Sämtliche Bildergeschichten. Mit über 3300 Zeichnungen und einer Auswahl der schönsten Gedichte, Prisma Verlag, Gütersloh 1985, S. 507. 51 Auch diesen Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Arnd Kerkhecker von der Universität Bern. 50

4. Kapitel. Die Kunstgattungen der Komödie und der Tragödie als Eigenart der griechisch-europäischen Kultur (Abschnitt 21)

Ausser der griechisch-europäischen kenne ich keine Kultur, in der sich die zusammengehörenden Kunstgattungen der Tragödie und der Komödie ausgebildet haben. Traurige Geschichten und Humor gibt es in allen menschlichen Kulturen, aber nicht als von Dichtern geschriebene, schriftlich tradierte und von Schauspielern vor einem Publikum aufgeführte eigene kulturell hochstehende und im kulturellen Leben einer Gesellschaft wichtige Kunstgattungen. In der traditionellen chinesischen Kultur, zum Beispiel, enthält die chinesische Oper (ge ju, 歌剧, wörtlich übersetzt: Liedtheater) neben Gesang auch Akrobatik und lustige Szenen. Im za ji (杂技, wörtlich übersetzt: verschiedenartige Kunst), einer Art Zirkus, treten vor allem Akrobaten, aber auch Clowns auf. Was einer Kunstform des Humors in der chinesischen Kultur am nächsten kommt, ist das Xiangsheng (相声), eine humorvolle, aus Scherzgeschichten und Bänkelliedern bestehende volkstümliche Unterhaltungskunst in hochchinesischer Sprache (Mandarin). Sie wurde zuerst in der Zeit zwischen den Jahren 1850 und 1870 in der Hauptstadt Beijing, in der östlich davon gelegenen Hafenstadt Tianjin und im Konfuzius-Tempel der südlichen Hauptstadt Nanjing aufgeführt (wo überall Mandarin gesprochen oder mindestens verstanden wurde) und erreichte ihre höchste Blüte in der Gegenwart. Sie wird von einer bis vier oder fünf Personen vorgetragen oder vorgesungen. Ein Xiangsheng dauert zehn bis vierzig Minuten. Als Gründer dieser Unterhaltungskunst gilt der in Beijing geborene Zhu Shaowen (1829–1904). Von ihm sind einige Xiangsheng durch mündliche Überlieferung erhalten geblieben und in der heutigen Zeit schriftlich fixiert worden. Vergleichbar ist diese Unterhaltungskunst aber nicht mit den altgriechischen Komödien oder gar mit solchen von Molière.

5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles, der Goethes Tragödie Faust zu einer Tragikomödie macht und der die Funktion hat, das Wesen des ethisch Schlechten zu charakterisieren

Abschnitt 22. Fünf Vorbemerkungen Erste Bemerkung: Zuerst möchte ich in Erinnerung rufen, dass Goethes Faust völlig aus dem Rahmen aller übrigen Tragödien fällt, der griechischen, der englischen, der französischen und der deutschen. Die drei Prinzipien, die Aristoteles aufgrund der auf den Tragödiendichter Sophokles zurückgehenden Praxis in seiner Poetik für die Tragödie aufstellte – Einheit der Handlung, der Zeit (ein Tag) und des Ortes –, werden im Faust überhaupt nicht respektiert. Der erste Teil und die fünf Akte des zweiten Teils sind je eigene, miteinander nur lose verbundene Handlungen; die Zeit der Tragödie erstreckt sich schätzungsweise vom 40. Lebensjahr des Universitätslehrers Faust (er lehrt bereits an die «zehen Jahr»: Vers 361) bis zu dessen Tod, also ungefähr über einen Zeitraum von 20 Jahren; der Orte sind sehr viele. Zweite Bemerkung: Goethes Faust ist, soviel ich weiss, auch die längste Tragödie, die je geschrieben wurde. Sie umfasst 12’111 Verse, ist also fast zehn Mal länger als z. B. Sophokles’ Tragödien Oidipous (1530 Verse) und Antigone (1352 Verse), Shakespeares Hamlet (1698 Verse) oder Racines Phèdre (1654 Verse). Goethes sogenannter Urfaust hat die normale Länge von etwa 1500 Versen. Im Laufe der Zeit ist Goethe diese Tragödie, ohne dass er es wollte, zu einem «Monstrum» angeschwollen: ihr «Stoff» hat ihm diese Länge «diktiert». Dritte Bemerkung: Ungewöhnlich, wahrscheinlich einmalig, ist auch die Länge der Zeit, während der Goethe an dieser Tragödie schrieb. Er begann sie ungefähr 1771, also im jugendlichen Alter von 22 Jahren (Beginn am sog. Urfaust), und vollendete sie am 22. Juli 1831, also 60 Jahre später im Alter von 82 Jahren. Nach dieser Vollendung sagte er zu Eckermann: «Mein ferneres Leben kann ich nunmehr als reines Geschenk ansehen, und es ist im Grunde einerlei, ob und was ich noch mache.» Am 22. März 1832 starb Goethe, also genau acht Monate nach der Vollendung seines Faust. Der zweiten Teil des Faust mit seinen

5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles und seine Funktion

fünf Akten, den Goethe am 22. Juli 1831 vollendete, wurde erst nach seinem Tod 1832 veröffentlicht. Vierte Bemerkung: Goethes Faust erinnert mich an Johann Sebastian Bachs «katholische» Messe in h-Moll. Sie wird deshalb «katholisch» genannt, weil sie nicht wie die lutherische Messe mit dem Sanctus endet, sondern wie die katholische Messe noch ein Benedictus und ein Agnus Dei umfasst und der Satz aus dem Credo – Credo in unam sanctam catholicam et apostolicam – in dieser Messe drei Mal wiederholt wird und mit grosser musikalischer Inbrunst komponiert wurde. Wie Bach in dieser Messe, die er ohne Auftrag nur für sich selbst schrieb, seine ganze musikalische Kunst zum Klingen brachte, so hat Goethe in seinem Faust, den er wohl auch hauptsächlich für sich selbst schrieb und der auch in einer katholischen Welt mit ihren Heiligen, insbesondere der Jungfrau, Gottesmutter und Himmelskönigin (Maria), spielt, seine ganze dichterische Kunst ausgedrückt. Fünfte Bemerkung: Goethe hörte seinen Faust mit seinem geistigen Ohr auch musikalisch. Er sagte in einem Gespräch mit Eckermann: «Die Musik [von Faust] müsste im Charakter des Don Juan [von Mozart] sein; Mozart hätte den Faust komponieren müssen. Meyerbeer wäre dazu fähig, allein der wird sich darauf nicht einlassen.» Es wurden verschiedene Szenen aus dem Faust vertont. Für mich hat die schönsten Szenen aus Goethes Faust Robert Schumann komponiert. Er begann 1844, zwölf Jahre nach Goethes Vollendung des Faust, mit der Schlussszene «Bergschluchten», die er «Fausts Verklärung» nannte und deren Text er integral übernahm und die in seinen Szenen aus Goethes Faust weit mehr als ein Drittel der Zeit einnimmt. Danach unterbrach er die Arbeit, geplagt von Nervenleiden. Im September 1845 schrieb er an Mendelssohn: Die Szene aus Faust ruht auch im Pult, ich scheue mich ordentlich, sie wiederanzusehen. Das Ergriffensein von der sublimen Poesie gerade jenes Schlusses liess mich die Arbeit wagen; ich weiss nicht, ob ich sie je veröffentlichen werde.

Im Jahre 1848 vollendete er diese Szene. Im Goethe-Jahr 1849 konnte «Fausts Verklärung» als selbstständiges Werk in mehreren deutschen Städten aufgeführt werden. Danach vollendete Schumann 1850 die «Erste Abteilung» mit den drei Szenen «Im Garten», «Gretchen vor dem Bild der Mater Dolorosa» und «Im Dom» (mit dem bösen Geist im Rücken) und die «Zweite Abteilung» mit den drei Szenen «Ariel, Sonnenaufgang», «Mitternacht» (mit den vier grauen Weibern Mangel, Schuld, Sorge, Not) und «Fausts Tod». Im September 1853 fügte er noch die Ouvertüre hinzu.52 Bei den Jahresdaten und anderen Angaben des vorangehenden Abschnittes stütze ich mich auf die Ausführungen von Marc van Dongen im Beiheft zur Aufnahme (zwei CDs) von Schumann, Szenen aus Goethes Faust durch Nikolaus Harnoncourt mit dem Concertgebouw Orchester, Amsterdam, dem Nederlands Radio Chor und dem Nederlands Kinder Chor sowie 52

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Abschnitt 23. Mephistopheles als die Figur in Goethes Faust, die diese Tragödie zur Tragikomödie macht Mephistopheles, der «Teufel», ist eine der genialsten dichterischen Schöpfungen in Goethes Faust. Er ist der Gegenpart von Doktor Faust. Mephistopheles macht diese Tragödie zu einer Art Tragikomödie, was das menschliche Leben, das Goethe in seinem Faust auf seine Weise abbildet, tatsächlich ja auch ist. Im «Prolog im Himmel» wird Mephistopheles nach seinem Charakter und nach seiner Beziehung zu Gott vorgestellt. Bemerkenswert ist schon, dass sich der «Teufel» in diesem «Prolog» in der Gegenwart Gottes und seiner Engel befindet und nicht etwa in der Hölle oder unter den Menschen. Er tritt auf zusammen mit den Erzengeln Raphael, Michael und Gabriel als «Gesinde» des Herrn. Gott und der Teufel kommen miteinander gut aus: Gott betrachtet diesen Teufel als einen «Schalk», findet ihn von allen Geistern, die verneinen, am wenigsten lästig, würde über das, was er sagt, sogar lachen, wenn er sich das Lachen nicht abgewöhnt hätte, findet ihn sogar nützlich, um die Tätigkeit des Menschen nicht erschlaffen zu lassen (siehe die unten zitierten Verse 340–343). Und Mephistopheles findet, dass Gott mit ihm, dem Teufel, menschlich spreche. Schon nur diese Kombination von Gott, Mensch und Teufel ist beste Komik. Was macht denn Mephistopheles zum Teufel? Es ist die Tatsache, dass er nicht liebt. Dies zeigt sich in der ganzen Tragikomödie, am deutlichsten gegen Ende des Faust in der Szene, in der sich Mephistopheles in einen schönen Engelsknaben verliebt und dadurch in einen Engel verwandelt wird (siehe unten). Faust ist der Liebende, Mephistopheles liebt nicht. Was Mephistopheles zum Teufel macht, ist gerade dies, dass er Mitmenschen oder andere höhere Wesen wie Engel oder Gott nicht zu lieben vermag. Sobald er sich in einen schönen Engelsknaben verliebt, wird er wieder zum Engel (Luzifer, was zu Deutsch «Lichträger» bedeutet). Dafür, dass Mephistopheles als Teufel der Liebe nicht fähig ist, gebe ich hier folgendes Beispiel aus dem «Garten» betitelten Abschnitt im ersten Teil des Faust. Während das Liebespaar Faust und Gretchen zusammen spazieren geht und miteinander spricht, spazieren und unterhalten sich Mephistopheles und Gretchens Nachbarin, die Witwe Marthe, die gerne wieder einen Gatten hätte:

neun Sängern und Sängerinnen (Bariton, Sopran, Bass, Alt, Tenor). Die Aufnahme erfolgte am 18., 20., 21., 23. und 24. April 2008. RCO LIVE, Copyright: Royal Concertgebouw Orchestra 2009.

5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles und seine Funktion

MARTHE: Und Ihr, mein Herr, Ihr reist so immer fort? MEPHISTOPHELES: Ach, dass Gewerb und Pflicht uns treiben! Mit wie viel Schmerz verlässt man manchen Ort Und darf doch nun einmal nicht bleiben! MARTHE: In raschen Jahren geht’s wohl an, So um und um frei durch die Welt zu streifen; Doch kommt die böse Zeit heran, Und sich als Hagestolz allein zum Grab zu schleifen, Das hat noch keinem wohlgetan. MEPHISTOPHELES: Mit Grausen seh ich das von weiten. MARTHE: Drum, werter Herr, beratet euch in Zeiten. (Verse 3086–3096) […] MARTHE: Die armen Weiber sind doch übel dran: Ein Hagestolz ist schwerlich zu bekehren. MEPHISTOPHELES: Es käme nur auf Euresgleichen an, Mich eines besseren zu belehren. MARTHE: Sagt grad, mein Herr, habt Ihr noch nichts gefunden? Hat sich das Herz nicht irgendwo gebunden? MEPHISTOPHELES: Das Sprichwort sagt: Ein eigner Herd, Ein braves Weib, sind Gold und Perlen wert. MARTHE: Ich meine, ob Ihr niemals Lust bekommen? MEPHISTOPHELES: Man hat mich überall höflich aufgenommen. MARTHE: Ich wollte sagen: ward’s nie Ernst in Eurem Herzen? MEPHISOTPHELES: Mit Frauen soll man sich nie unterstehn zu scherzen. MARTHE: Ach, Ihr versteht mich nicht! MEPHISTOPHELES: Das tut mir herzlich leid! Doch ich versteh – dass Ihr sehr gütig seid. (Verse 3150–3164)

Mephistopheles wagt es auch, den «Herrn» zu kritisieren. Er sagt zu ihm im «Prolog im Himmel»: Von Sonn’ und Welten weiss ich nichts zu sagen, Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. […] Ein wenig besser würd’ er leben, Hättest du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. […] DER HERR: Hast du mir weiter nichts zu sagen? Kommst du nur immer anzuklagen? Ist auf der Erde ewig dir nichts recht? MEPHISTOPHELES: Nein, Herr! Ich find es dort, wie immer, herzlich schlecht. Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen, Ich mag sogar die armen selbst nicht plagen. (Verse 279–297)

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Kurz bevor Mephistopheles und Faust ihren Pakt schliessen, fragt Faust Mephistopheles, wer er denn sei. Und Mephistopheles antwortet: Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. FAUST: Was ist mit diesem Rätselwort gemeint? MEPHISTOPHELES: Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches Element. (Verse 1334–1344)

Wichtig für das Verständnis dieses «Teufels» ist aber auch das in diesem «Prolog» vorgestellte Verhältnis des «Herrn» (Gottes) zu Faust, denn es stellt sich die Frage, wie Gott einen guten Menschen einem ihm untergeordneten Teufel überlassen kann, der Böses mit ihm will. Im «Prolog im Himmel» fragt «Der Herr» Mephistopheles, ob er Faust kenne, und überlässt ihm diesen aus den unten genannten Gründen: Kennst du den Faust? MEPHISTOPHELES: Den Doktor? DER HERR: Meinen Knecht! MEPHISTOPHELES: Fürwahr! Er dient Euch auf besondre Weise. Nicht irdisch ist des Toren Trank und Speise. Ihn treibt die Gährung in die Ferne. Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst, Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne Und von der Erde jede höchste Lust Und alle Näh und alle Ferne Befriedigt nicht die tief bewegte Brust. DER HERR: Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So werd ich ihn bald in die Klarheit führen. […] MEPHISTOPHELES: Was wettet Ihr? Den sollt Ihr noch verlieren, Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, Ihn meine Strasse sacht zu führen! DER HERR: Solang er auf der Erde lebt. So lange sei dir’s nicht verboten. Es irrt der Mensch, solang er strebt. MEPHISTOPHELES: Da dank ich Euch, denn mit den Toten Hab ich mich niemals gern befangen. […] Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus; Mir geht es wie der Katze mit der Maus. (Verse 298–320)

5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles und seine Funktion

Im Folgenden möchte ich noch drei Beispiele von humorvollen Formulierungen des Mephistopheles vorlegen, die ihn zum «Schalk» machen: Erstes Beispiel: Im «Spaziergang» betitelten Abschnitt im ersten Teil des Faust sagt Mephistopheles zu Faust: Bei aller verschmähten Liebe! Beim höllischen Elemente! Ich wollt, ich wüsste was Ärgers, dass ich’s fluchen könnte! FAUST: Was hast? Was kneipt dich denn so sehr? So kein Gesicht sah ich in meinem Leben! MEPHISTOPHELES: Ich möcht mich gleich dem Teufel übergeben, wenn ich nicht selbst der Teufel wär. FAUST: Hat sich dir was im Kopf verschoben? Dich kleidet’s, wie ein Rasender zu toben! MEPHISTOPHELES: Denkt nur, den Schmuck, für Gretchen angeschafft, Den hat ein Pfaff hinweggerafft! (Verse 2805–2814)

Zweites Beispiel: Am Ende des «Der Nachbarin Haus» betitelten Abschnittes im ersten Teil des Faust sagt Mephistopheles nach einem Gespräch mit Marthe zu sich selbst: Nun mach ich mit beizeiten fort! Die [Marthe] hielte wohl den Teufel selbst beim Wort. (Verse 3005 f.)

Drittes Beispiel: Am Ende des «Wald und Höhle» betitelten Abschnittes im ersten Teil des Faust sagt Mephistopheles zu Faust: Wie’s wieder siedet, wieder glüht! Geh ein und tröste sie [Gretchen], du Tor! Wo so ein Köpfchen keinen Ausgang sieht, Stellt es sich gleich das Ende vor. Es lebe, wer sich tapfer hält! Du bist doch sonst so ziemlich eingeteufelt. Nichts Abgeschmackteres find ich auf der Welt Als einen Teufel, der verzweifelt. (Verse 3366–3373)

Abschnitt 24. Erlösung des Teufels durch seine erotische Liebe Gegen Ende des zweiten Teils von Faust, nach Fausts Tod, beklagt sich Mephistopheles über die Heimtücke der Engel. Er nennt sie sogar ‹verkappte› Teufel (Vers 11696), da sie ihn (seiner falschen Meinung nach) um seine rechtmässige Beute, nämlich Faust, betrogen haben, indem sie «Faustens Unsterbliches entführten» (Vers 11825); die Engel ihrerseits entwaffnen ihn, indem sie selbst ihn zur Liebe verführen.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Dieses Stück nach dem Tode Fausts hat tatsächlich etwas Komisches, aber nur wenn Mephistopheles spricht. Mephistopheles wird nicht von den Engeln verführt, sondern er will aus seinem eigenen Selbst von ihnen verführt werden, denn das, was er eigentlich selbst ist, kann er nicht verloren haben. Er ist ein «verkappter Engel». Als ein Engel ist er der Liebe fähig. Er sagt zu den Engeln, und zwar wieder auf seine spassige Weise: Ihr schönen Kinder, lasst mich wissen: Seid Ihr nicht auch von Luzifers Geschlecht? Ihr seid so hübsch: fürwahr ich möchte Euch küssen! Mir ist’s, als kämt Ihr eben recht. Es ist mir so behaglich, so natürlich, Als hätt’ ich Euch schon tausendmal gesehn: So heimlich-kätzchenhaft begierlich: Mit jedem Blick aufs neue schöner schön. […] Welch ein verfluchtes Abenteuer! Ist dies das Liebeselement? Der ganze Körper steht im Feuer, Ich fühle kaum, dass es im Nacken brennt […] Fürwahr, der Ernst steht Euch recht schön; Doch möchte ich Euch nur einmal lächeln sehn; Das wäre mir ein ewiges Entzücken! Ich meine so: wie wenn Verliebte blicken. […] Dich, langer Bursche, dich mag ich am besten leiden, die Pfaffenmine will dich gar nicht kleiden, Sieh mich doch ein wenig lüstern an! (Verse 11736–11797)

Dem Mephistopheles antworten die singenden Engel: Wendet zur Klarheit Euch, liebende Flammen! Die sich verdammen, Heile die Wahrheit. Dass sie vom Bösen Froh sich erlösen, Um in dem Allverein, Selig zu sein. (Verse 11801–11808)

Mephistopheles sagt darauf, «sich fassend», d. h. nicht schalkhaft, aber doch in seiner besonderen Sprache:

5. Kapitel. Der «Schalk» Mephistopheles und seine Funktion

Wie wird mir! – Hiobsartig, Beul an Beule Der ganze Kerl, dem’s vor sich selber graut, Und triumphiert zugleich, wenn er sich ganz durchschaut. Wenn er auf sich und seinen Stamm [der Engel] vertraut; Gerettet sind die edlen Teufelsteile, der Liebesspuk, er wirft sich auf die Haut. Und wie es sich gehört, fluch ich euch allzusammen. (Verse 11809–11816)

Mephistopheles hat sich durch seine erotische Liebe zu den «Engelskindern», besonders durch seine Liebe zum «langen Burschen» unter ihnen, «vom Bösen froh erlöst» und «seine edlen Teufelsteile gerettet». Die Ideen der «Vergöttlichung von allen» und «Erlösung von allen» wurzeln in indischen und griechisch-gnostischen Ideen und wurden auch von griechischen christlichen Denkern an ihre eigenen Lehren angepasst (Origenes’ «Wiederbringung aller»). Sie stehen aber im Gegensatz zum kirchlichen Dogma der Ewigkeit der Höllenstrafe. Goethe lässt selbst den Teufel, der vor seinem Sturz ein Engel war, aufgrund der in ihm aufflammenden erotischen Liebe mittels der «verruchten Flammen [der Liebe]» von seinem Stolz gereinigt und gerettet werden und so «im Allverein selig sein». Der Teufel Mephistopheles will zwar (bis zu seiner Umwandlung in einen Engel am Ende des Faust) stets das Böse, er schafft aber stets das Gute. Er sagt grosse Wahrheiten: Alles, was entsteht, geht auch zugrunde. Am besten wäre daher, es gäbe nur Ewiges, d. h. die göttliche Liebe, durch die dieser Teufel am Ende selbst verwandelt wird und in der «nur dem Dichter reine Freude blüht». Goethe löst das Problem des Verhältnisses zwischen den guten und bösen Mächten in der Welt völlig anders als der auf den Perser Zarathustra zurückgehende und später von dem Babylonier Mani (um 215/216 bis 273 oder 276/277) vertretene metaphysische oder ontologische Dualismus, der die Weltgeschichte als Kampf zwischen dem guten Gott und einer bösen Macht sieht. Augustinus war von 374 bis 383 Anhänger des Manichäismus. Doch nach seiner Bekehrung gestand er dem Bösen keine ontologische Realität mehr zu, sondern betrachtete es als privatio boni (Mangel an Gutem). Goethe sieht den Teufel, der stets das Böse will, als Diener des Guten, der nach seiner Umwandlung durch die Liebe schliesslich auch das Gute will. «Der Herr» sagt, dass er Faust «bald», d. h. nach dessen Tod, «in die Klarheit führen» werde. Solange ein Mensch auf Erden strebt, irrt er, aber auch dann «ist sich ein guter Mensch des rechten Weges wohl bewusst», d. h., er kann sein Gewissen nicht verlieren und wird sein Bestes tun, um danach zu handeln. Gott hat also in Faust das volle Vertrauen, dass er, trotz der üblen Absichten und der Künste des Teufels, in all seiner Verworrenheit vom richtigen Weg nicht weit abweichen wird, sodass er ihn einst in die Klarheit wird führen können.

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6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase (1836) als komische Kritik an einem Menschentypus, aber auch an der damaligen Administration des russischen Zarenreiches und an der damaligen Ärzteschaft

Abschnitt 25. Einleitung Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, «der russische Cervantes» (Wladimir Solowiew, 1853–1900, bedeutendster russischer Philosoph und auch Dichter), wurde am 31. März 1809 in Sorotschinzy (Gouvernement Poltawa) geboren. Er war Ukrainer, kam 1828 nach Sankt Petersburg, wo er bekannt wurde durch humoristische Novellen aus dem ukrainischen Volksleben (Abende auf dem Gute Dikanka, 1831/1832, Mirgorod, 1835). 1833 verspottete er in der Komödie Der Revisor die menschliche Unzulänglichkeit. Er erhielt viele Anregungen durch seinen zehn Jahre älteren Freund Alexander Puschkin (1799–1837), auch zum Revisor. 1834 wurde er Professor am Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität Sankt Petersburg. 1836 schrieb er die surrealistische Erzählung Die Nase. Dann wandte er sich Problemen des Städters zu. Da er sich durch seine Komödie Der Revisor die Feindschaft der russischen Beamtenschaft zugezogen hatte, hielt er es in Russland nicht mehr aus und lebte 1838 bis 1846 meistens in Italien, vor allem in Rom. Dort schrieb er das Fragment Rom mit den drei Kapiteln 1. Annunziata, 2. Der Fürst, 3. Der Auftrag. 1842 schrieb er auch die Komödie Die Heirat. In Rom entstand sein Hauptwerk, der unvollendete Roman Tote Seelen. Vereinsamt, schwermütig vernichtete er 1852 vor seinem Tod Teile dieses Hauptwerkes. 1848 unternahm er eine Wallfahrt zu den heiligen Stätten von Jesus von Nazareth in Palästina. Er starb am 31. März 1852 in Moskau. Nach Gogols Tod wurde 1857 von P. A. Kulin in Sankt Petersburg in Form einer Broschüre sein pädagogisch-religiöses Werk Betrachtungen über die Göttliche Liturgie herausgegeben. Auf seinem Grabstein stehen die Worte: «Durch mein bitteres Wort werde ich lachen» (Prophet Jeremias; Kap XX, Verse 7 ff.). Dimitrij Schostakowitsch (1906–1975), neben Sergei Prokofjew (1891– 1953) der bedeutendste Komponist Russlands in der Stalin-Zeit, hat aufgrund von Gogols Novelle (Erzählung) Die Nase eine Oper gleichen Titels in drei Akten

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

(zehn Bildern) komponiert. Sie wurde fast 100 Jahre nach der Entstehung der Novelle Gogols am 18. Januar 1930 im Maly-Theater in Leningrad (heute wieder Sankt Petersburg) uraufgeführt. Diese Oper trug dem Komponisten 1936 den Vorwurf eines von der kulturpolitischen Linie der kommunistischen Partei (Stalins) abweichenden Formalismus und einer bourgeoisen und dekadenten Haltung ein, worauf er sie zurückzog. Schostakowitschs Oper hebt zusätzlich die Wichtigkeit und das grosse Ansehen dieser Novelle Gogols in Russland hervor. Im Folgenden werde ich auf diese Novelle, die Erzählung Die Nase (1836), eingehen.

Abschnitt 26. Zusammenfassung der Novelle Die Nase53 Diese Novelle Gogols hat drei Kapitel oder Teile, die bloss nummeriert sind, also keine Titel tragen. Nach ihrem Inhalt könnte man ihnen folgende Titel geben: 1. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch findet am 25. März in dem von seiner Frau gebackenen Brot die Nase des Kollegienassessors Kowalew, den er zwei Mal die Woche balbiert (S. 563–567 der zitierten Ausgabe). 2. Major Kowalew stellt das Verschwinden seiner Nase aus seinem Gesicht fest (S. 567–590 der zitierten Ausgabe). 3. Platon Kowalew stellt am 7. April die Rückkehr seiner Nase in sein Gesicht fest (S. 590–593 der zitierten Ausgabe). Der Ort der Handlung der Novelle ist Petersburg. Die Zeit der Handlung dauert vom 25. März bis zum 7. April, also ungefähr zwei Wochen. Vielleicht datiert sie auf das Jahr 1829. Erster Teil. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch findet am 25. März in dem von seiner Frau gebackenen Brot die Nase des Kollegienassessors Kowalew, den er zwei Mal die Woche balbiert (S. 563–567 der zitierten Ausgabe) Der erste Teil dieser Geschichte beginnt wie folgt: Am 25. März ereignete sich in Petersburg ein ausserordentlich merkwürdiger Vorfall. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch, der auf dem Wosneswenskiprospekt wohnte (sein Familienname war verloren gegangen, und selbst auf seinem Schild, das einen Herrn mit eingeseiftem Kinn und auch die Aufschrift ‹Zum Aderlass› zeigte, stand er nicht vermerkt), erwachte ziemlich spät und nahm den Geruch frisch gebackenen Brotes wahr. Als er sich im Bett ein wenig aufgerichtet hatte, sah er, dass seine Gemahlin, eine ziemlich ehrwürdige Ich zitiere im Folgenden die Ausgabe: Nikolaj Gogol, Sämtliche Erzählungen, Winkler Verlag, München 1974 (Lizenzausgabe Buchclub Ex Libris), S. 563–593. 53

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Dame, die sehr gerne Kaffee trank, die gerade fertigen Brotlaibe aus dem Ofen herausnahm. «Heute werde ich keinen Kaffee trinken, Praskowja Osipowna», sagte Iwan Jakowlewitsch, «sondern stattdessen heisses Brot mit Zwiebeln essen.» Zwar hätte Iwan Jakowlewitsch gerne das eine wie das andere gehabt, aber er wusste, dass es völlig ausgeschlossen war, zwei Dinge auf einmal zu verlangen, da Praskowja Osipowna derlei Gelüste gar nicht liebte. Soll der Narr eben Brot essen, dachte die Gemahlin bei sich, wenigstens bleibt für mich eine Portion Kaffee übrig. Und sie warf ein Brot auf den Tisch. Iwan Jakowlewitsch zog der Schicklichkeit halber den Frack über das Hemd, setzte sich an den Tisch, schüttete sich ein Häufchen Salz zurecht, putzte zwei Zwiebelköpfe, nahm das Messer in die Hand, setzte eine bedeutungsvolle Miene auf und machte sich daran, das Brot abzuschneiden. Er schnitt es in zwei Hälften, besah sich das innere und erblickte zu seiner Verwunderung etwas Weissliches. Iwan Jakowlewitsch stocherte vorsichtig mit dem Messer daran herum und kratzte vorsichtig mit dem Daumen. «Etwas Hartes!» brummte er vor sich hin. «Was mag es nur sein?» Er steckte die Finger hinein und zog – eine Nase heraus! Iwan Jakowlewitsch liess die Arme sinken, rieb sich die Augen und betastete das Ding. Es war eine Nase, eine richtige Nase! und auch noch dazu, wie es ihm schien, eine bekannte Nase. Entsetzen malte sich auf Iwan Jakowlewitschs Zügen. Aber dieses Entsetzen war nichts im Vergleich zu dem Unwillen, der sich seiner Gemahlin bemächtigte. «Wem hast du die Nase abgeschnitten, du Vieh?« kreischte sie wütend. «Du Gauner! Du besoffner Kerl! Ich werde dich der Polizei anzeigen. So ein Räuber! Von drei Leuten schon habe ich gehört, dass du sie beim Balbieren derart an der Nase zerrst, dass es ein Wunder ist, dass sie nicht abreissen.» Aber Iwan Jakowlewitsch war mehr tot als lebendig. Er hatte soeben festgestellt, dass die Nase niemand anderem gehörte als dem Kollegienassessor54 Kowalew, den er jeden Mittwoch und Sonntag balbierte. «Halt, Praskowja Osipowna! Ich werde sie in einen Lappen wickeln und in eine Ecke legen und dann hinaustragen.» «Davon will ich nichts hören! Wie könnte ich gestatten, dass eine abgeschnittene Nase bei mir im Zimmer herumliegt. […] Hinaus mit ihr! Bring sie, wohin du willst! Dass ich kein Sterbenswörtchen mehr von ihr höre!» Iwan Jakowlewitsch blieb wie zerschmettert stehen. Er überlegte, überlegte – und wusste nicht, was er denken sollte. (S. 563 f.)

Iwan Jakowlewitsch geht darauf zur Isaakbrücke und wirft den Lappen mit der Nase verstohlen ins Wasser hinab. «Er hatte ein Gefühl, als wären ihm mit einemmal zehn Pud von der Seele gefallen.» Doch bemerkt er dann am Ende der Brücke den Revierinspektor, der ihn zu sich ruft und ihn fragt, was er auf der Brücke getan habe. Iwan Jakowlewitsch antwortet mit tausend erfundenen Ausflüchten, worauf der Revierinspektor erwidert: «Das stimmt nicht, du lügst! Damit ziehst du dich nicht aus der Klemme […] Sag mir lieber, was du dort getan hast.» Darauf endet der erste Teil mit dem Satz: «Iwan Jakowlewitsch erbleicht …. Aber hier hüllt sich das Ereignis in einen undurchdringlichen Nebel, und was weiter geschah, ist schlechthin unbekannt.» (S. 566 f.) Dem Kollegienassessor entspricht im militärischen Dienst der Major. Beide Titel entsprechen der achten Rangklasse in der alten russischen Beamtenhierarchie. 54

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

Fast ebenso merkwürdig wie das Auftreten einer Nase in einem selbst gemachten Brot ist im ersten Teil der Geschichte das Verhältnis zwischen Iwan Jakowlewitsch und seiner Gattin Praskowja Osipowna, einer «ziemlich ehrwürdigen Dame». Dazu möchte ich folgende zwei Bemerkungen machen: Erstens schreibt Gogol, dass Iwan Jakowlewitsch sein Familienname «verloren gegangen» war. «Iwan Jakowlewitsch» heisst auf Deutsch: Johann, der Sohn des Jakob. Diese Nennung des Vaters eines Mannes ist in Russland üblich. Gogol heisst mit vollem Namen Nikolaj Wassiljewitsch Gogol, das heisst Nikolaj, Sohn des Wassilj (Basilius) Gogol. Jakowlewitschs «ehrwürdige Gemahlin» heisst Praskowja Osipowna, was auf Deutsch bedeutet: Praskowja, Gemahlin des Osipow. Also lautet der verloren gegangene Familienname von Iwan Jakowlewitsch Osipow. Dieser Name wird ihm von seiner Gemahlin genommen, das heisst, sie ist das Familienoberhaupt, die alles zu sagen hat, während Johann, der Sohn des Jakob, ohne Familiennamen in dieser Ehe nichts zu sagen hat, was am Anfang dieser Geschichte deutlich zum Ausdruck kommt. Zweitens: Wie kam die Nase in das selbst gemachte Brot? Es ist klar, dass Praskowja Osipowna das Brot nicht nur gebacken, sondern auch den Teig hergestellt und damit auch die Nase in den Teig gesteckt hat. Woher sie aber die Nase des Kollegienassessors Kowalew hatte, wird im ersten Teil der Geschichte nicht gesagt. Nun möchte ich am Anfang der Geschichte noch die folgenden zwei Personen vorstellen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: den Barbier Iwan Jakowlewitsch, der die Nase findet, und den Kollegienassessor Kowalew, der die Nase verloren hat. Und doch haben die beiden etwas gemeinsam: Iwan Jakowlewitsch hat seinen Namen verloren, Kollegienassessor Kowalew seine Nase. Aber Kowalew ist in dieser Novelle Gogols weitaus wichtiger als Iwan Jakowlewitsch. Er ist ihre Hauptperson. Die Novelle könnte auch heissen: «Die Nase des Majors Kowalew». Zur Person von Iwan Jakowlewitsch schreibt Gogol im ersten Teil seiner Geschichte: Iwan Jakowlewitsch war wie jeder ordentliche russische Handwerker ein schrecklicher Säufer. Und obschon er täglich das Kinn fremder Leute balbierte, war sein eigenes doch ewig unbalbiert. Der Frack Iwan Jakowlewitschs (Iwan Jakowlewitsch trug nie einen Rock) war scheckig: das heisst, er war schwarz, doch zur Gänze mit bräunlichen, gelben und grauen Flecken bedeckt; der Kragen glänzte, und statt der drei Knöpfe hingen nur drei Fäden daran. Iwan Jakowlewitsch war ein grosser Zyniker, und wenn der Kollegienassessor Kowalew während des Balbierens zu ihm sagte: «Iwan Jakowlewitsch, deine Hände stinken schon wieder!»«antwortete Iwan Jakowlewitsch darauf mit der Frage: «Weshalb sollten sie denn stinken?» … «Das weiss ich nicht, Brüderchen, aber sie stinken», sagte der Kollegienassessor, und Iwan Jakowlewitsch nahm eine Prise und seifte ihn dafür auf den Wangen, unter der Nase, hinter den Ohren und unter dem Kinn ein – mit einem Wort überall, wo es ihm Spass machte. (S. 565 f.)

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

Zweiter Teil. Major Kowalew stellt das Verschwinden seiner Nase aus seinem Gesicht fest (S. 567–590 der zitierten Ausgabe) Zum Kollegienassessor Kowalew schreibt Gogol in diesem Teil seiner Novelle Folgendes, wobei er selbst im einleitenden Satz die Wichtigkeit dieser Person betont: Doch indessen müssen wir unbedingt etwas über Kowalew sagen, damit sich der Leser ein Bild machen kann, welcher Art dieser Kollegienassessor war. Die Kollegienassessoren, welche diesen Rang mit Hilfe von gelehrten Zeugnissen erlangten, darf man keineswegs mit den Kollegienassessoren vergleichen, die im Kaukasus gemacht werden. Das sind zwei völlig verschiedene Arten. Die gelehrten Kollegienassessoren … aber Russland ist ein so seltsames Land, dass sich – wenn man von Kollegienassessoren redet – alle Kollegienassessoren von Riga bis Kamtschatka betroffen fühlen. Das Nämliche gilt von allen übrigen Titeln und Rängen. Kowalew war ein kaukasischer Kollegienassessor. Er bekleidete diesen Rang erst seit etwa zwei Jahren und konnte ihn deshalb nicht einen Augenblick lang vergessen; und um sich mehr Ansehen und Gewicht zu verschaffen, nannte er sich niemals Kollegienassessor, sondern immer Major. «Höre Täubchen», sagte er gewöhnlich, wenn er auf der Strasse ein altes Weib sah, das Vorhemden verkaufte, «komme zu mir ins Haus; ich wohne an der Sadowaja [eine der Hauptstrassen von Petersburg]; frage nur: ‹Wohnt hier der Major Kowalew?› – jedermann weiss Bescheid.» Wenn er aber eine artige Schöne [eine zum Sexualverkehr bereite Frau] traf, erteilte er ihr ausserdem noch einen geheimen Auftrag und fügte hinzu: «Frag nur nach der Wohnung des Major Kowalew, Herzchen.» Aus diesem Grund wollen wir künftig diesen Kollegienassessor Major nennen. Der Major Kowalew hatte die Gewohnheit, sich jeden Tag auf dem Newskiprospekt zu ergehen. Die Kragen seines Vorhemdes waren ausserordentlich sauber und gestärkt. Sein Backenbart war von jener Art, wie man dergleichen auch bei Gouvernements- und Kreisgeometern, Architekten und Regimentsärzten sowie bei Vollstreckern der verschiedenen polizeilichen Obliegenheiten und überhaupt bei allen Männern sehen kann, die volle, rosige Wangen haben und ausgezeichnet Boston spielen; diese Backenbärte reichen bis zur Mitte der Wangen und erstrecken sich dann schnurgerade bis zur Nasenspitze. Major Kowalew trug eine Menge von Karneolberlocken, in welche zum Teil Wappen, zum Teil aber auch Wörter wie Mittwoch, Donnerstag, Montag und dergleichen geschnitten waren. Major Kowalew war in Geschäften nach Petersburg gekommen: hauptsächlich, um sich eine seinem Rang angemessene Stellung zu suchen; wenn er Glück hatte, die eines Vizegouverneurs, wenn nicht – wenigstens die eines Exekutors in irgendeinem angesehen Departement. Major Kowalew war auch nicht abgeneigt zu heiraten, doch nur unter der Bedingung, dass die Braut über zweihunderttausend Rubel Kapital verfügte. Und darum kann der Leser jetzt selbst beurteilen, in welcher Lage sich der Major befand, als er statt seiner ziemlich hübschen und mässig grossen Nase eine höchst alberne, flache und glatte Stelle erblickte. (S. 567 f.)

Major Kowalew ist übrigens 39 Jahre alt, als er seine Nase verliert (siehe zweiter Teil, S. 581 f.). Sein Vorname ist Platon (siehe dritter Teil, S. 588), wie der Name des grossen griechischen Philosophen, was «flach, platt» bedeutet.

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

Aus dem letzten Satz des obigen Zitates wird auch deutlich, dass Major Kowalews Nase nicht etwa von aussen abgerissen oder abgeschnitten wurde, denn dies hätte eine grosse blutende Wunde hinterlassen. Dass sich an der Stelle seiner Nase «eine höchst alberne, flache und glatte Stelle» befindet, beweist, dass die Nase von selbst ihre Stelle verlassen hat, ohne eine Wunde oder Narbe zu hinterlassen. Mehrmals in seiner Novelle wiederholt Gogol dieses Phänomen. Das zweite der drei Kapitel der Novelle, aus dem der oben zuletzt zitierte Text stammt, beginnt mit den Sätzen: Der Kollegienassessor Kowalew erwachte ziemlich früh, gab ein lautes «Brrr!» von sich, was er immer tat, wenn er aufwachte, obwohl er sich selbst nicht erklären konnte warum. Kowalew reckte und streckte sich und liess sich einen kleinen Spiegel reichen, der auf dem Tisch stand. Er wollte den Pickel betrachten, der ihm gestern Abend auf der Nase aufgesprungen war; doch zu seiner grossen Verblüffung gewahrte er, dass er statt der Nase eine völlig glatte Fläche hatte. (S. 567)

Kowalew begibt sich, nachdem er vergeblich beim Beamten in der Zeitungsexpedition war, zum Vorsteher des Polizeireviers. Dieser sagte ihm, «dass man einem ordentlichen Menschen nicht die Nase abreisse und dass es auf der Welt ziemlich viele Majore gebe, die nicht einmal die Unterwäsche sauber hielten und sich an allerlei anrüchigen Orten herumtrieben. Das traf nicht in die Brauen, sondern pfeilgerade ins Auge. […] Er konnte alles verzeihen, was man über ihn selbst sagte, vergab jedoch niemals, was sich auf seinen Rang oder Titel bezog.» (S. 580, Hervorhebung von mir) Also sind Kowalew sein Rang und sein Titel wichtiger als sein Selbst. Das entspricht dem, was ich oben zitierte: «Er (Kowalew) bekleidete diesen Rang erst seit etwa zwei Jahren und konnte ihn deshalb nicht einen Augenblick lang vergessen; und um sich mehr Ansehen und Gewicht zu verschaffen, nannte er sich niemals Kollegienassessor, sondern immer Major.» (S. 567 f.) Gegen Ende des zweiten Teils der Novelle bringt derselbe Polizeibeamte (Revierinspektor), welcher am Ende des ersten Teils am anderen Ende der Isaakbrücke stand und Iwan Jakowlewitsch, der die Nase Kowalews ins Wasser geworfen hatte, ausfragte, Kowalew seine Nase zurück. Der erste Teil hatte mit dem Satz geendet: «Aber hier hüllt sich das Ereignis in einen undurchdringlichen Nebel, und was weiter geschah, ist schlechthin unbekannt.» (S. 567) Noch im selben zweiten Teil sagt Major Kowalew zu dem Beamten in der Zeitungsexpedition, den er dazu bewegen will, eine Anzeige mit «der umständlichen Beschreibung aller Merkmale seine Nase zu veranlassen, auf dass jeder, der ihr begegnete, sie ihm sofort zuführen oder ihm wenigstens den Ort ihres Aufenthaltes mitteilen könne»: […] die Hauptsache dürfte nichtsdestoweniger darin bestehen, dass sie [die Nase] jetzt in der Stadt herumfährt und sich Staatsrat nennt. Und deshalb bitte ich Sie bekanntzugeben,

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dass man sie fängt und sie mir unverzüglich und auf dem kürzesten Weg wieder zustellt. […] ich pflege donnerstags bei der Frau Staatsrat Tschechtarewa zu sein; die Frau Stabsoffizier Pelageja Podtotschina, die ein sehr hübsches Töchterchen hat, ist eine sehr gute Bekannte, da werden Sie selber verstehen, wie mir jetzt ums Herz ist … Ich kann mich jetzt nicht bei ihnen zeigen …. (S. 576/577)

Der Beamte der Zeitungsexpedition lehnt mit folgender Begründung die Aufnahme einer solchen Anzeige ab: Die Zeitung könnte ihren guten Ruf verlieren.[…] erst vorige Woche hat sich folgnder Fall ereignet. Kam da ein Beamter heringestürzt, ganz wie sie eben, brachte einen Zwettel, der ihm auf zwei Rubel dreiundsiebzig Kopeken zu stehen kam, und die ganze Anzeige bestand darin, dass ihm ein schwarzer Pudel entlaufen sei. (S. 577)

Kowalew antwortet ihm: «Aber ich will doch keine Anzeige über einen Pudel aufgeben, sondern über meine eigene Nase: das ist nahezu das gleiche wie über mich selber. […] Ich schwöre es Ihnen, so wahr Gott heilig ist! Bitte sehr, wenn es schon so weit gekommen ist, werde ich es Ihnen zeigen.» «Weshalb sich beunruhigen!» fuhr der Beamte fort und nahm eine Prise [Schnupftabak]. «Übrigens, wenn es Sie nicht beunruhigt», fügt er mit einer neugierigen Bewegung hinzu, «würde ich mir die Sache nicht ungern ansehen.» Der Kollegienassessor nahm das Taschentuch vom Gesicht. «Tatsächlich, höchst merkwürdig», sagte der Beamte, «die Stelle ist so glatt wie ein frischgebackener Pfannkuchen. Ja, geradezu unwahrscheinlich glatt.» (S. 577 f.)

Einige Zeit später teilt der Polizeibeamte Kowalew mit, dass seine Nase gefunden werden konnte. Auf die Frage des hocherfreuten Kowalews, wie dies geschah, antwortet jener: Durch einen merkwürdigen Zufall: wir haben sie gerade erwischt, als sie abreisen wollte. Sie sass schon in der Diligence und wollte nach Riga fahren. Auch der Pass war längst ausgeschrieben mit dem Namen eines bestimmten Beamten. Und am merkwürdigsten ist, dass ich selber sie anfänglich für einen Herrn gehalten habe. Aber glücklicherweise hatte ich die Brille bei mir, und da erkannte ich sogleich, dass es die Nase war. (S. 583)

Der Polizeibeamte bemerkt noch zu Kowalew: Merkwürdig ist auch, dass der Hauptschuldige an dieser Sache ein Gauner von Barbier aus der Wosnesenskistrasse [oder Wosnesenskiprospekt, Wohnort des Barbiers Iwan Jakowlewitsch] ist, der jetzt hinter Schloss und Riegel sitzt. Ich habe ihn schon lange der Trunksucht und des Diebstahls verdächtigt, und noch vorgestern hat er in einem Laden eine Garnitur Knöpfe mitlaufen lassen. Ihre Nase ist noch genau so, wie sie war. (S. 583)

Kowalew bedankt sich mit einer Banknote für das Einfangen und Überbringen seiner Nase (S. 584).

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

Durch diese Aussagen des Polizeibeamten lichtet sich «der undurchdringliche Nebel dieses Ereignisses» und «was weiter geschah, wird schlechthin bekannt» (vgl. oben). Die Geschichte der versuchten Reise der Nase in einer Diligence von Petersburg nach Riga ist eine fantasievolle Erfindung des Polizeibeamten. Dieser hat den Lappen mit der Nase bei der Isaakbrücke aus dem Wasser gefischt. Nur aufgrund dieser Tatsache kann er am Ende des ersten Teils Iwan Jakowlewitsch, der die Nase bei der Isaakbrücke ins Wasser geworfen hat, der Lüge bezeichnen. Er lässt ihn, den Unschuldigen, hinter Schloss und Riegel setzen, damit er nicht die Wahrheit ans Licht bringen kann, dass er die Nase am 25. März in dem von seiner Frau gebackenen Brot gefunden hat. «Die Nase war gefunden, aber man musste sie noch an ihren alten Platz bringen. ‹Aber wenn sie nicht hält?› Bei dieser Frage, die sich der Major stellte, erbleichte er.» (S. 584) Major Kowalew setzt nun vorsichtig die Nase an ihren alten Platz, aber sie haftet nicht, er versucht alles Mögliche, um sie zum Haften zu bringen, aber erfolglos. Darauf ruft er seinen Diener Iwan und schickt ihm zum Doktor, der in der Beletage desselben Hauses wohnt. Dieser kommt sogleich, unterzieht den Major einer wahren Tortur, um dessen Nase im Gesicht zu befestigen, aber ohne Erfolg. Darauf «wiegte der Medicus den Kopf und sagte: ‹Nein, es geht nicht mehr, bleiben Sie lieber so, wie Sie sind, weil es sonst vielleicht noch schlimmer werden könnte. Befestigen kann man sie natürlich; ich könnte sie Ihnen sogar auf der Stelle befestigen, aber ich versichere Ihnen, dass es für Sie schlimmer wäre.›» (S. 585 f.) Der Medikus gesteht also seinen Misserfolg nicht ein, sondern überspielt ihn. Kowalew entgegnet ihm, dass es schlimmer als jetzt gar nicht mehr werden könne, und fleht ihn an: «Haben Sie doch Erbarmen, gibt es denn kein Mittel? Setzen Sie mir die Nase doch irgendwie an; es braucht nicht schön zu sein, nur dass sie hält; in gefährlichen Situationen kann ich sie ja leicht stützen. […] Und was meine Erkenntlichkeit für die Visiten betrifft, so seien Sie versichert, dass ich soweit es meine Mittel erlauben …» (S. 586). Der Doktor antwortet ihm, dass er niemals aus Gewinnsucht Kranke behandle, und gibt ihm noch folgenden Rat: Überlassen sie es lieber dem Walten der Natur. Waschen Sie die Stelle öfters mit kaltem Wasser, und ich versichere Ihnen, dass Sie ohne Nase genauso gesund bleiben werden, als wenn Sie eine Nase hätten. Die Nase selbst dagegen empfehle ich Ihnen in einem Gefäss mit Spiritus aufzubewahren oder – noch besser – zwei Löffel Wodka und angewärmten Essig darauf zu schütten, dann können Sie noch eine beträchtliche Summe Geldes herausschlagen. Ich würde sie Ihnen sogar abnehmen, wenn Sie nicht zu viel dafür verlangen.

Darauf schreit der Major verzweifelt: «Nein, nein! Um keinen Preis der Welt verkaufe ich sie, lieber soll sie verfaulen.» (S. 586 f.) In der folgenden Zeit verbreitet sich das Gerücht, dass die Kowalew’sche Nase nicht auf dem Newskijprospekt spazieren gehe, sondern im Taurischen

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Garten, «und zwar schon seit langer Zeit», sodass sich bereits Chosrew-Mirza, Enkel des Schahs von Persien, «über das merkwürdige Naturschauspiel» gewundert habe. [Dieser weilte im Jahr 1829 zu Verhandlungen mit Zar Nikolaus I. (zwischen 1825 und 1855 Kaiser von Russland) in Petersburg und wohnte im Taurischen Palais (S. 589 f.). Ich erinnere daran, dass Gogol von 1809 bis 1852 lebte und seine Novelle Die Nase 1836 schrieb. Kann durch jenen Hinweis auf das Jahr 1829 erschlossen werden, dass diese Nasen-Geschichte sich zwischen dem 25. März und dem 7. April 1829 ereignete, als Gogol 20 Jahre alt war, also sieben Jahre bevor diese Novelle entstand? Dritter Teil. Platon Kowalew stellt am 7. April die Rückkehr seiner Nase in sein Gesicht fest (S. 590–593 der zitierten Ausgabe) Im dritten, kürzesten Teil seiner Novelle schildert Gogol, dass am 7. April, also 16 Tage nach dem Beginn der Geschichte am 25. März (siehe S. 565), Kowalew nach dem Erwachen zufällig in den Spiegel blickt und seine Nase wieder an ihrem ursprünglichen Ort in seinem Gesicht sieht. «Er packte sie mit der Hand – wahrhaftig die Nase! ‹Aha!› sagte Kowalew und hätte beinahe vor Freude blossfüssig einen Trepak durch das ganze Zimmer getanzt, aber das Erscheinen von Iwan (seines Dieners) hinderte ihn daran.» (S. 590) Er schaut mehrmals in den Spiegel, um sich der Anwesenheit der Nase in seinem Gesicht zu versichern, und weil er seinen eigenen Augen nicht traut, sagt er: «Schau einmal her, Iwan, auf meiner Nase ist ein Pickel», wobei er die Antwort befürchtet: «Aber nein Herr, es ist nicht nur kein Pickel da, sondern auch die Nase selbst nicht!»; doch Iwan sagt: «Keine Spur von einem Pickel, Herr, die Nase ist sauber!» (S. 591) In diesem Augenblick kommt so ängstlich wie eine verprügelte Katze der Barbier Iwan Jakowlewitsch zur Tür herein, wodurch die Novelle bei der Person endet, bei der sie gut zwei Wochen zuvor begonnen hat. Iwan Jakowlewitsch balbiert ihn, wobei ihm aber Major Kowalew verbietet, ihn dabei an der Nase zu halten, aus Furcht, sie könnte abfallen. Die Geschichte endet mit dem Satz: «Und seitdem sah man den Major Kowalew ewig bei gutem Humor, lächelnd, allen hübschen Frauen nachstellend und einmal sogar vor einem Laden im Kaufhof verweilend, wo er ein Ordensbändchen erstand, unerfindlich aus welchen Gründen, da er selbst nicht einmal Kavalier des bescheidensten Ordens war.» (S. 593) Nach diesem glücklichen Ende der Geschichte fügt Gogol im dritten Teil noch eine gute halbe Seite hinzu, die man als das Nachwort zu seiner Novelle bezeichnen kann. Es ist gekennzeichnet von grosser Selbstironie und stilistisch von schönstem Humor: Das also ist die Geschichte, die sich in der nördlichen Hauptstadt unseres ausgedehnten Reiches zugetragen hat! Erst jetzt, nach der Erwägung aller Umstände, sehen wir, dass viel Unwahrscheinliches an ihr ist, ganz abgesehen davon, dass die übernatürliche Loslösung

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

einer Nase und ihr Erscheinen an verschiedenen Orten in der Gestalt eines Staatsrates höchst merkwürdig ist – wie konnte Kowalew nicht begreifen, dass man eine Nase nicht durch eine Zeitungsexpedition suchen darf? Ich meine das hier nicht in dem Sinn, dass mir der Preis für die Anzeige zu hoch erschiene: das ist Unsinn, und ich gehöre keineswegs zu den geizigen Leuten. Aber es war unziemlich, ungeschickt, unschön! Und andrerseits wiederum – wie konnte die Nase in das frisch gebackene Brot geraten, und wie konnte Iwan Jakowlewitsch selber …? Nein, das verstehe ich einfach nicht, wirklich nicht! Doch am merkwürdigsten, am unverständlichsten von allem ist, dass Autoren derlei Sujets überhaupt wählen können. Ich gestehe, das ist für mich zu hoch, das ist geradezu … nein, nein, ich kann es überhaupt nicht verstehen. Erstens hat das Vaterland nicht den geringsten Nutzen davon; zweitens … aber auch zweitens hat es keinen Nutzen. Ich weiss einfach nicht, was das bedeuten soll. Doch indessen und trotz allem könnte man andererseits wiederum vielleicht dennoch dieses oder jenes oder manch anderes davon zugeben und sogar … ja, zum Kuckuck, wo gibt es denn keine Ungereimtheiten? Und wenn man alles genau überlegt, ist doch sicherlich an alledem etwas dran. Sag, was du willst, aber derartige Ereignisse kommen vor auf der Welt – zwar selten, aber sie kommen vor. (S. 593)

Abschnitt 27. Interpretation von Gogols Novelle Die Nase Ich vermute, dass Gogols Novelle Die Nase nicht einfach eine humoristische Geschichte ohne tiefere Bedeutung ist. Ihr wunderbarer Humor verdeckt nur eine solche Bedeutung. Sie kann auch nicht einfach ein Traum von Kowalew sein. Denn sie beginnt am 25. März und endet am 7. April, also an genau bestimmten Tagen, welche als objektive Daten in der Geschichte auftreten. Ein Traum kann als konsequente Geschichte nicht über 14 Tage hin andauern. Ich gehe in meiner Interpretation von dem aus, was Kowalew im zweiten Teil der Novelle dem Beamten in der Zeitungsexpedition sagt: «Aber ich will doch keine Anzeige über einen Pudel aufgeben, sondern über meine eigene Nase: das ist nahezu das gleiche wie über mich selber.» (S. 576 f., Hervorhebung von mir) Am Anfang des zweiten Teils, bei der Vorstellung von Kowalew, schreibt Gogol: «Kowalew war ein kaukasischer Kollegienassessor. Er bekleidete diesen Rang erst seit etwa zwei Jahren und konnte ihn deshalb nicht einen Augenblick lang vergessen; und um sich mehr Ansehen und Gewicht zu verschaffen, nannte er sich niemals Kollegienassessor, sondern immer Major.» (S. 567 f.) Und einige Seiten später im zweiten Teil schreibt Gogol über ihn: «Er konnte alles verzeihen, was man über ihn selber sagte, vergab jedoch niemals, was sich auf seinen Rang oder Titel bezog.» (S. 580) Die Chinesen zeigen auf ihre Nase, wenn sie auf sich selbst zeigen, während die Russen wie alle Europäer auf die Brust, genauer das Herz zeigen. Will Gogol das Folgende sagen: Weil Kowalew keinen Augenblick seinen Rang und Titel vergessen und niemals verzeihen kann, was sich auf seinen Rang oder Titel bezieht, diese also als das Wichtigste in seinem Leben betrachtet, jedoch alles ver-

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

zeiht, was man über ihn selber sagt, sein Selbst also für unwichtig hält, verliert er ebendieses Selbst, metaphorisch ausgedrückt: seine eigene Nase? Erst als Kowalew seine Nase verliert, die «nahezu das gleiche» wie er selber ist, wird er sich bewusst, dass das eigene Selbst wichtiger ist als Rang und Titel. Und dadurch erhält er im dritten Teil der Novelle seine Nase wieder. Die Nase ist zwar nicht dasselbe wie das eigene Selbst. Sie ist ein Teil des eigenen Leibes, der ein Teil des eigenen Selbst ist. Aber sie ist ein wichtiger Teil des eigenen Leibes, nämlich das Zentrum des eigenen Gesichts oder Antlitzes, in dem das eigene Selbst vor allem leiblich zum Ausdruck kommt. Und ihr Geruchssinn ist eine wichtige Funktion des leiblich-seelischen Menschen. Dies wird ausgedrückt in der Redeweise «Er mag ihn nicht riechen». Zwei Menschen, die einander nicht riechen mögen, wollen miteinander nichts zu tun haben. Zwar ist die Nase nicht im selben hohen Masse Ausdruck der Seele (des anderen Teils des eigenen Selbst) wie der Blick der Augen, das Lächeln des Mundes oder wie die Stimme. Aber das Rümpfen oder Hochtragen der Nase ist auch ein Ausdruck, und eine kleine Stupsnase oder eine Adlernase deuten verschiedene Charaktere an. Ich möchte hier an die oben im ersten Kapitel erörterte Komödie von Aristophanes, Die Wolken, erinnern, in der der bodenständige, kluge Bauer Strepsiades Sokrates mit Blick auf die auf der Bühnenfläche stehenden Wolken fragt, wie es komme, dass diese, wenn sie wirklich Wolken seien, sterblichen Frauen glichen. Echte Wolken glichen ja ausgebreiteten Wollflocken und überhaupt nicht Frauen, denn diese hätten ja Nasen (Verse 345 f.). Die Nase scheint also ein sehr wichtiges, sinnlich wahrnehmbares (phänomenales) Merkmal des Menschen zu sein. Gogol kritisiert mit seiner Novelle Die Nase eine in der Gesellschaft sehr verbreitete Haltung: Diese besteht darin, dass wir uns selbst und die anderen Menschen nur äusserlich nach Rang und Titel bewerten, was blosse Konventionen sind, und uns entsprechend zu uns selbst und zu den anderen verhalten, während wir uns selbst und die anderen vor allem nach dem bewerten und behandeln sollten, was wir selbst und die anderen eigentlich sind. Auch anderes kritisiert Gogol in seiner humorvollen Novelle: die damalige russische Administration, mit der sich Kowalew bei der Suche nach seiner Nase herumschlägt, die Polizei, welche den Unschuldigsten von allen, nämlich den Barbier Iwan Jakowlewitsch, hinter Gitter setzt, oder die reiche, eingebildete Ärzteschaft, welche vorgibt, alles heilen zu können, aber Kowalew doch nicht helfen kann, seine Nase im Gesicht zu befestigen. Insofern gehört diese Novelle auch ins erste Kapitel über die gesellschaftskritische Funktion des Humors. Kowalew ist und bleibt ein grosser Frauenliebhaber. Das ist noch kein Selbstverlust. Aber hat er sich selbst und damit seine Nase vor dem Beginn der Geschichte eines Tages oder während einer Nacht bei der Gattin von Iwan Jakowlewitsch, Praskowja Osipowna, verloren, indem er sich ihr durch nichts an-

6. Kapitel. Nikolaj Gogols Novelle Die Nase als komische Kritik

deres als durch seinen Titel und Rang empfahl und diese, davon geblendet, sich ihm hingab? So würde der Anfang der Novelle erklärbar: Praskowja Osipowna könnte Kowalews Nase in das Brot eingebacken haben und ihrem Gatten, dem Barbier Iwan Jakowlewitsch, mächtig schimpfend die Schuld für die im Brot gefundene Nase zuschieben. Dadurch kritisierte Gogol auch diejenigen Frauen, welche ihre Männer beherrschen wollen.

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7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor», Teil I: Geschichten und Gedichte von Wilhelm Busch (1832–1908)

Abschnitt 28. Gedicht im Voraus Ich beginne mit folgendem Gedicht Wilhelm Buschs aus seiner Gedichtsammlung Kritik des Herzens (1874): Es sitzt ein Vogel auf dem Leim. Er flattert sehr und kann nicht heim. Ein schwarzer Kater schleicht herzu. Die Krallen scharf, die Augen gluh. Am Baum hinauf und immer höher Kommt er dem armen Vogel näher. Der Vogel denkt: Weil das so ist Und weil mich doch der Kater frisst, So will ich keine Zeit verlieren, Will noch ein wenig quinquilieren Und lustig pfeifen wie zuvor. Der Vogel, scheint mir, hat Humor.55

Abschnitt 29. Biografie Wilhelm Buschs Wilhelm Busch wurde am 15. April 1832 in Wiedensahl bei Hannover geboren. Sein Vater, Friedrich Wilhelm Busch, war ein unehelich geborener Bauernsohn und seine Mutter war die Witwe Henriette Kleine. Wilhelm Busch war das älteste ihrer sieben Kinder. Es war eine streng protestantische Familie. Mit neun Jahren kam Wilhelm zur Erziehung zu seinem Onkel Pfarrer Kleine. Später fand Wilhelm Busch in seinen mit sparsamsten Mitteln arbeitenden Handzeichnungen zusammen mit eigenen Texten von epigrammatischer Schärfe das Mittel, in die Kritik des deutschen Bürgertums und in den Kulturkampf gegen die katholische Kirche einzugreifen. Er hatte eine starke antiklerikale Einstellung (gegen den ka55

Busch, Sämtliche Bildergeschichten, S. 504.

7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich über Wasser zu halten (Teil I)

tholischen Klerus), was seine späteren Bildergeschichten Der heilige Antonius von Padua und Pater Filucius zeigen, und wandte sich gegen jegliche Frömmelei (vgl. Die fromme Helene). Nach seiner Erziehung bei seinem Onkel Pfarrer Kleine begann Wilhelm Busch mit 15 Jahren an der Technischen Hochschule in Hannover zu studieren. Wenige Monate nach dem Abschluss wechselte er an die Kunstakademie in Düsseldorf mit dem Wunsch, Maler zu werden. 1852 bis 1853, mit 31 bis 32 Jahren, studierte er an der Kunstakademie in Antwerpen. Doch in dieser reichen, an der Schelde gelegenen Hafen- und Handelsstadt studierte er vor allem in den Kirchen und Museen Gemälde des aus Siegen in Westfalen stammenden, aber hauptsächlich in Antwerpen wirkenden Peter Paul Rubens (1577–1640), der noch von dem in seiner ersten Zeit in Rom malenden Michelangelo Merisi (1571–1610), genannt Caravaggio, inspiriert war. Dazu gehörten z. B. in der Kathedrale von Antwerpen Rubens’ grosse Himmelfahrt Mariens über dem Hauptaltar, seine Kreuzaufrichtung mit Jesus über dem linken und die Kreuzabnahme von Jesus über dem rechten Seitenaltar; Rubens’ Triptychon mit der Auferstehung von Jesus, Johannes dem Täufer und der heiligen Martina in der Begräbniskapelle des grössten Verlegers der Gegenreformation Jan Moretus (Jan Moerentorf, 1543–1610) und seiner Frau Martina Platin (1550–1616); Gemälde des 1599 in Antwerpen geborenen und 1641 in London gestorbenen Rubensschülers Anthonis van Dijk, der eine Italienreise unternahm, in Antwerpen malte (z. B. die Kreuztragung an der nördlichen Seitenschiffwand der Sankt-Paulus-Kirche) und 1632 Hofmaler des englischen Königs Karl I. Stuart (1625–1649) wurde; Gemälde von Adriaen Brouwer (1605/1606–1638), der bei dem aus der Erzbischofstadt Mechelen (Malignes) in den katholischen Südniederlanden (Belgien) stammenden, aber später in Haarlem in den protestantischen Nordniederlanden (Holland) malenden Frans Hals (1580/1584–1666) in die Lehre gegangen war, aber danach in Antwerpen wirkte und dort den Stil seines Lehrers bekannt machte; sowie Gemälde des von Rubens und Brouwer beeinflussten David Teniers, der 1610 in Antwerpen geboren wurde, aber in späteren Jahren bis zu seinem Tod (1690) in Brüssel wirkte. Der enorme Reichtum an herausragenden Gemälden in Antwerpen begeisterte Wilhelm Busch noch mehr für die Kunst des Malens. Doch es gelang ihm nicht, als Kunstmaler Anerkennung zu finden. Seine erfolgreichen humorvollen Bildergeschichten bedeuteten Wilhelm Busch nicht viel. Es war sein Broterwerb, durch den er mit der Zeit reich wurde. Dass sich seine künstlerischen Hoffnungen enttäuschten, verdeckte er mit Humor. Dieser war sein verzweifeltes Mittel, um sich im Leben über Wasser zu halten. Dass er durch seine erfolgreichen und einträglichen humorvollen Bildergeschichten nicht glücklich wurde, zeigt auch seine zunehmende Alkoholsucht. Zudem hatte er 1874 als starker Raucher Symptome einer Nikotinvergiftung. Er litt auch an Schlafstörungen. 1886 schrieb er mit 54 Jahren folgenden poetischen Prosatext:

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

«Es kommt die stille, einsam dunkle Nacht. Da geht’s um in der Gehirnkapsel und spukt durch die Gebeine, und du wirfst dich von dem heissen Zipfel deines Kopfkissens auf den kalten her und hin, bis der Lärm des dämmernden Morgens wie ein musikalischer Genuss erscheint.»56 Wilhelm Busch war Junggeselle, was Einsamkeit in sein Leben brachte. Sein Versuch, eine Gattin zu finden, scheiterte am Vater der Geliebten, der seine Tochter nicht einem damals mittellosen Künstler anvertrauen wollte. Ich möchte hier nur zwei kurze Stücke aus zwei Bildergeschichten zitieren, an die ich mich noch jetzt erinnere, obschon ich 20 bis 30 Jahre nicht mehr in meinem vor etwa 35 Jahren gekauften Buch Wilhelm Busch. Sämtliche Bildergeschichten57 gelesen habe. Das eine Stück stammt aus dem letzten Teil der Bildergeschichten Die fromme Helene und stellt die Heirat der alternden Helene mit dem nicht jüngeren und dickleibigen Georg I. C. Schmöck dar. Die Geschichten enden mit der Höllenfahrt der «frommen» Helene. Die zweite Geschichte ist ein Stück aus der Knopp-Trilogie und handelt vom ebenfalls fettleibigen und glatzköpfigen Tobias Knopp. Dieser wird zwar von seiner Haushälterin Dorothea Lickefett bestens versorgt, ist aber doch nicht zufrieden und möchte in höherem Alter noch heiraten. Er zieht aus, um eine Frau zu suchen, und erlebt dabei sieben peinliche Abenteuer. Schliesslich kehrt er nach einer grossen Reise wieder heim, also: «Ausser Pein und Spesen nichts gewesen», und er heiratet seine Haushälterin Dorothea Lickefett.

Abschnitt 30. Die Hochzeitsreise von Georg I. C. Schmöck und der frommen Helene Die alternde Helene steht vor dem Spiegel und macht sich schön: Der Mensch Wird schliesslich mangelhaft. Die Locke wird hinweggerafft. – Mehr ist hier schon die Kunst zu loben. Denn Schönheit wird durch Kunst gehoben. – Allein auch dieses, auf die Dauer, Fällt doch dem Menschen schliesslich sauer. – «Es sei!» Sprach Lene heute früh – «Ich nehme Schmöck und Companie.» G[eorg] I. C. Schmöck, schon längst bereit, Ist dieserhalb gar hoch erfreut. Und als der Frühling kam ins Land, Wilhelm Busch. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, hrsg. von Joseph Kraus und Kurt Rusenberg, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 78. 57 Wilhelm Busch, Sämtliche Bildergeschichten. Prisma Verlag, Gütersloh 1985. 56

7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich über Wasser zu halten (Teil I)

Ward Lene Madame Schmöck genannt. S’war Heidelberg, das sich erwählten Als Freudenort die Neuvermählten. Wie lieblich wandelt man zu zwein Das Schloss hinauf im Sonnenschein. [Lene spricht, indem sie auf das beschädigte Renaissance-Schloss zeigt:] «Ach sieh nur mal, geliebter Schorsch Hier diese Trümmer alt und morsch». «Ja» sprach er – «Aber diese Hitze! Und fühle nur mal, wie ich schwitze». Ruinen machen vielen Spass. – Auch sieht man gern das grosse Fass. [Vor dem grossen Fass stehend sagen die beiden:] Und – alle Ehrfurcht! – muss ich sagen. Alsbald, so sitzt man froh im Wagen Und sieht das Panorama schnelle Vorüberziehn bis zum Hotelle.58

Wilhelm Busch zeigt in dieser kurzen Episode die Banalität, ja Nichtigkeit oder Leere (lateinisch: vanitas) des Verhaltens der in ihr auftretenden alternden Helene und ihres Bräutigams Georg I. C. Schmöck. Vor der teilweise zerstörten, aber in ihrer ursprünglichen Schönheit noch sichtbaren Prachtfassade des Schlosses, die vom damaligen Kurfürsten der Pfalz 1556 bis 1559 aus rotem Sandstein erbaut wurde und als Höhepunkt der deutschen Renaissance gilt, sagt Helene in einem von ihr ungewollt, aber von Wilhelm Busch gewollt humorvollen Reim nur: «Ach sieh nur mal, geliebter Schorsch, / Hier diese Trümmer alt und morsch.» (Hervorhebung von mir) Und Schorsch (Georg I. C. Schmöck) schaut auf der dazugehörigen Zeichnung Wilhelm Buschs gar nicht aufs Schloss hin, sondern sagt nur: «‹Ja› sprach er – ‹Aber diese Hitze! / Und fühle nur mal, wie ich schwitze›.» Das grosse Holzfass, das 195’000 Liter Wein fassen kann und im Jahre 1664 gebaut wurde, ist sicher ein Meisterstück des Zimmermannhandwerks. Doch was wohl Schorsch (oder doch Helene?) davor sagt: «Und – alle Ehrfurcht! – muss ich sagen», ist wiederum lächerlich. Wie soll man Ehrfurcht vor einem Fass haben, mag es noch so gross sein? «Ehrfurcht», zusammengesetzt aus «fürchten» und «verehren», hat eine religiöse Konnotation. Vor Gott kann man Ehrfurcht empfinden, aber nicht vor einem Fass. Auch die oben zuletzt zitierten drei Verse: «Alsbald, so sitzt man froh im Wagen, / Und sieht das Panorama schnelle / Vorüberziehn bis zum Hotelle», zeigen die Nutzlosigkeit oder Leere der ganzen beschwerlichen Hochzeitsreise: Die beiden sind froh, in einem von einem Pferd gezogenen Wagen zu sitzen, se58

Ebd., S. 247 f.

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

hen schnell das schöne Panorama der am Neckar liegenden Universitätsstadt Heidelberg vorbeiziehen und sind glücklich, im Hotel sich leiblichen Genüssen hingeben zu können, die sie sich auch ohne beschwerliche Reise und Besichtigung in ihrem eigenen Wohnort hätten verschaffen können, und dies noch billiger. Aber zu einer Hochzeit tut man eben eine Hochzeitsreise, auch wenn man schon älteren Datums ist. Nehmen wir an, G. I. C. Schmöck habe, wieder zu Hause angekommen, Selbstkritik an diesem eitlen Unternehmen geübt, so wäre er nach einem Gedicht aus Wilhelm Buschs Gedichtsammlung Kritik des Herzens (1874) über diese Eitelkeit doch nicht hinausgekommen: Die Selbstkritik hat viel für sich. Gesetzt den Fall, ich tadle mich, So habe ich erstens den Gewinn, Dass ich so hübsch bescheiden bin. Zum zweiten denken sich die Leut, Der Mann ist lauter Redlichkeit. Auch schnapp ich drittens diesen Bissen Vorweg den anderen Kritiküssen. Und viertens hoff ich ausserdem Auf Widerspruch, der mir genehm. So komm es denn zuletzt heraus, Dass ich ein ganz famoses Haus.59

Abschnitt 31. Eine Geschichte von Tobias Knopp und Dorothea Lickefett Die zweite Geschichte aus Wilhelm Buschs Bildergeschichten, an die ich mich nach mehr als 20 Jahren noch erinnere, handelt vom wie G. I. C. Schmöck ebenfalls fettleibigen und glatzköpfigen Tobias Knopp, der zwar von seiner Haushälterin Dorothea Lickefett bestens versorgt wird, aber doch nicht zufrieden ist und in höherem Alter noch heiraten möchte, und der auszieht, um eine Ehefrau zu finden. Dabei erlebt er sieben peinliche Abenteuer und kehrt schliesslich nach einer grossen beschwerlichen Reise wieder heim, um seine Haushälterin Dorothea zu heiraten, was er ja auch schon vor seiner Reise hätte tun können. Knopp sieht sein Kanarienvogelpaar, das miteinander schnäbelt: Seine zwei Kanarienvögel Sind immer froh und kregel. Während ihn so manches quält, Weil es ihm bis dato fehlt.

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Wilhelm Busch, Sämtliche Bildergeschichten. Prisma Verlag, Gütersloh 1985, S. 504a.

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Ja, die Zeit entfliehet schnell, Knopp, du bist noch Junggesell! – Zwar für Stiefel, Bett, Kaffe Sorgt die gute Dorothee. Und auch, wenn er dann und wann Etwas nicht alleine kann, Ist sie gleich darauf bedacht, Dass sie es zurechte macht. Doch ihm fehlt Zufriedenheit.60

Knopp stellt mithilfe zweier Spiegel fest: Vornerum ist alles blank, Aber hinten, Gott sei Dank, Denkt er sich mit frohem Hoffen, Wird noch manches angetroffen. Oh, wie ist der Schreck so gross! Hinten ist erst recht nichts los. [Und an sich vorn hinunterblickend:] Auch bemerkt er ausserdem, Was ihm gar nicht recht bequem, Dass er um des Leibes Mitten Längst die Wölbung überschritten.61

Nachdem er Abmagerungsübungen gemacht hat, die aber zu keinem sichtbaren Resultat führen, gerät er in tiefes Sinnen: Ach, so denkt er, diese Welt Hat doch viel, was nicht gefällt. Rosen, Tanten, Basen, Nelken Sind genötigt zu verwelken. Ach, und endlich auch durch mich Macht man einen dicken Strich. Auch von mir wird man es lesen Knopp war da und ist gewesen. Ach, und keine Träne fliesst Aus dem Auge, das es liest. Keiner wird, wenn ich begraben, Unbequemlichkeiten haben. Keine Seele wird geniert, Weil man keinen Kummer spürt. Dahingegen spricht man dann: Was geht dieser Knopp uns an. Dies mag aber Kopp nicht leiden. 60 61

Ebd., S. 392. Ebd., S. 393.

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Beim Gedanken, so zu scheiden In ein unverziertes Grab, Drückt er eine Träne ab.

Und er kommt zur Feststellung und zum Entschluss: Dieses ist ja fürchterlich. Also, Knopp, vermähle dich! Mach dich auf und sieh dich um, Reise mal ‹n bissel› rum. Sieh mal dies, und sieh mal das, Und pass auf, du findest was.62

Knopp besucht nun nicht weniger als sieben Orte, und sechs Mal steht als Schlussvers mehr oder weniger das Gleiche: Schnell verlässt er diesen Ort Und begibt sich weiter fort.

Und beim siebenten Mal steht: Schnell verlassend diesen Ort, Eilet er nach Hause fort.63

Und als er zu Hause angekommen ist, findet er folgende Situation vor: Grade lüftet seine nette, Gute Dorothee das Bette. ‹Mädchen› spricht er, sag mir ob …› Und sie lächelt: ‹ja Herr Knopp›. Bald, so wird es laut verkündet: Knopp hat ehlich sich verbündet. Erst nur flüchtig und zivil, Dann mit Andacht und Gefühl. Na, nun hat er seine Ruh, Ratsch! – Man zieht den Vorhang zu.64

Auch in dieser Geschichte fällt die Nutzlosigkeit von Knopps Unternehmen, eine Frau zu suchen, auf, denn die beste hat er ja schon bei sich zu Hause und lernt erst nach sechsmaligem Scheitern seines Wahns, mit der guten Dorothee Lickefett zufrieden zu sein. Wie in der Geschichte von G. I. C. Schmöcks und Helenes Hochzeitsreise nach Heidelberg ist seine Frauensuche ein eitles Unternehmen.

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Ebd., S. 394. Ebd., S. 414. Ebd.

7. Kapitel. Humor als verzweifeltes Mittel, um sich über Wasser zu halten (Teil I)

Abschnitt 32. Buschs Gedicht Der Einsame und einige Bemerkungen dazu Zum Abschluss dieses Kapitels über Wilhelm Busch wiederhole ich sein Gedicht Der Einsame aus seiner letzten Gedichtsammlung Zu guter Letzt (1904); ich habe es bereits oben am Ende des Kapitels über Menanders Dyskolos zitiert: Der Einsame Wer einsam ist, der hat es gut, Weil keiner da, der ihm was tut. Ihn stört in seinem Lustrevier, Kein Tier, kein Mensch und kein Klavier. Und niemand gibt ihm weise Lehren, Die gut gemeint und bös zu hören. Der Welt entronnen, geht er still In Filzpantoffeln, wann er will. Sogar im Schlafrock wandelt er Bequem den ganzen Tag umher. Er kennt kein weibliches Verbot, Drum raucht und dampft er wie ein Schlot. Geschützt vor fremden Späherblicken, kann er sich selbst die Hose flicken. Liebt er Musik, so darf er flöten, Um angenehm die Zeit zu töten. Und laut und kräftig darf er prusten, Und ohne Rücksicht darf er husten. Und allgemach vergisst man seiner. Nun allerhöchstens frägt mal einer: «Ach lebt er noch? Ei Schwerenot, ich dachte längst, er wäre tot.» Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen, Lässt sich das Glück nicht schöner malen. Worauf denn auch der Satz beruht: «Wer einsam ist, der hat es gut.»65

Auch dieses Gedicht zeigt die Leere des menschlichen Lebens, des einsamen, sich selbst genügen wollenden Lebens. Vielleicht ist es von Busch ironisch gemeint, wahrscheinlich selbstironisch: So endet man, wenn man eine wichtige Person sein will. Pascal sagte: «On meurt tout seul (man stirbt allein)». Die beiden Verse «Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen, / Lässt sich das Glück nicht schöner malen» scheinen mir das Gegenteil von dem zu meinen, was sie sagen. Denn der Mensch als ein Beziehungswesen kann das Glück nicht in der 65

Ebd., S. 507.

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absoluten Einsamkeit finden. Der Mensch muss sicher auch allein sein können, ein blosser «Gesellschaftstiger» lebt nicht sich selbst, kommt nicht zu sich selbst. Aber der Gedanke im Alleinsein soll sein: «Allein, aber nicht einsam.» Denn auch im Alleinsein kann man sich mit Mitmenschen eng verbunden wissen und wird mit ihnen wieder zusammen sein, zur richtigen Zeit und bei Gelegenheit. Gerade ausgesprochen soziale Menschen sind auch des Alleinseins fähig. Ich weiss nicht, ob Wilhelm Busch die Pensées Blaise Pascals kannte, nämlich deren Gedanken über die Niedrigkeit (bassesse) und Leerheit (vanité) und das Elend (misère) des menschlichen Lebens. Er verstand Französisch, da er sogar einige französische Verse schrieb. Diese Sprache hatte er wohl in Antwerpen (französisch: Anvers) gelernt, als er in seiner Jugendzeit die Gemälde in dieser reichen, internationalen Handelsstadt studierte. Antwerpen ist zwar flämischer (niederländischer) Sprache, aber ihre Internationalität liess damals ihre oberen Schichten Französisch sprechen. Also hätte er sehr wohl die Pensées lesen können. Aber da Pascal (1623–1662) katholisch war, hat Busch wahrscheinlich dessen bekanntestes, nach Pascals Tod von dessen Neffen und Freunden zusammengestelltes und ediertes Werk gemieden. Aber in ihrer Analyse des menschlichen Lebens scheinen sie mir doch in manchem übereinzustimmen.66

Siehe Iso Kern, Die Religion von Philosophen. Konfuzius, Sokrates, Epiktet, Montaigne, Pascal, Teil V. Pascal, 4. Kapitel. Die philosophische Anthropologie in Pascals Pensées (S. 263– 295). 66

8. Kapitel. Loriots Humor angesichts die Leerheit von Gesprächen

Abschnitt 33. Loriot (Bernhard-Victor ChristophCarl von Bülow, kurz Vicco Bülow, 1923–2011): Bayreuther Pausengespräch Eine Dame sagt zur anderen: Ich weiss nicht, wie Sie zu Wagner stehen, Verehrteste, aber ich kenne einen Erwin Wagner, der auch sehr gut Gitarre spielt, nur eben viel gefälliger und niemals mehr als zweieinhalb Stunden hintereinander. Auch rhythmisch ganz anders und ohne Gesang. Er hat seinerseits in Wanne-Eickel einen Patentstöpsel für gebrauchte Flaschen erfunden und die Vertretung für Süddeutschland selbst übernommen. Der Wagner-Stöpsel, wissen Sie, hat sich ja weitgehend durchgesetzt. Wir haben uns vor acht Jahren im Speisewagen im Rheingold-Express67 kennengelernt. Wir haben schon Zukunftspläne gemacht – aber im Bahnhofgedränge haben wir uns dann leider wieder aus den Augen verloren. Erst kürzlich traf ich ihn in einem Gartenrestaurant in Bochum wieder. Sind die Wanne-Eickeler-Wagner nicht verwandt mit Rudolf Wagner, der sich in Bayreuth als Hals-Nasen-Ohren-Arzt einen Namen gemacht hat? Ich habe mich zwei Tage vor ‹Lohengrin› von ihm mal durchblasen lassen und hörte bereits im ersten Akt sechs ganz neue Leitmotive.68

Abschnitt 34. Drei Bemerkungen zu Loriots Bayreuther Pausengespräch Das Humorvolle, Komische dieses Pausengesprächs während des Besuches einer Oper von Richard Wagner ist erstens, dass es gar kein Gespräch ist, denn es spricht ja nur die eine der beiden Damen; zweitens, dass diese viel über Wagner Das Rheingold ist das Bühnenfestspiel für den Vorabend des dreitägigen Der Ring der Nibelungen mit Die Walküre für den ersten Tag, Siegried für den zweiten Tag und Götterdämmerung für den dritten Tag. «Rheingold» war seit 1928 ein Luxuszug des Deutschen Reiches von Hoek van Holland bis in die Schweiz, ab 1938 bis Mailand und zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er ab 1951 als Fernzug weitergeführt und 1987 eingestellt. Anm. von mir. 68 Loriot, Menschen, Tiere, Katastrophen, Reclam Verlag, Stuttgart 1992, S. 102 f. 67

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Teil I: Humor in der Form der Kunst

spricht, nur nicht über Richard Wagner, und drittens, zum Schluss nur erwähnt, dass aufgrund der ‹Durchblasung› von Rudolf Wagner sie bereits im ersten Akt «sechs ganz neue Leitmotive» hört, die aber nicht ganz neu sein können, wenn sie wirklich von Richard Wagner stammen.

Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

1. Kapitel. Humor in der Funktion, sich im Leben über Wasser zu halten. Der «Galgenhumor» Teil II: Kari Dällenbach (1877–1931)

Abschnitt 35. Biografie Kari Dällenbach hat bei Weitem nicht das geistige Niveau von Wilhelm Busch, er war nur von lokaler Bedeutung. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war er in der Stadt Bern sicher bekannter als Wilhelm Busch, und seine Bekanntheit reichte über den Kanton Bern, aber nicht über die Schweiz hinaus. In der jüngeren Generation der heutigen Stadtberner kennt man ihn wohl kaum mehr, obschon eine Erinnerungstafel sein Wohn- und Geschäftshaus an der Neuengasse 4 in der Berner Altstadt ziert, ebenso wenig wie Wilhelm Busch bei der jüngeren Generation der heutigen Stadtberner bekannt ist. Kari Dällenbach oder Däuebach Chäru, wie die Berner in ihrer Mundart ihr Stadtoriginal nannten, war ein Bauernsohn und wurde Coiffeurmeister. Er hatte eine Nasenscharte und eine entsprechend nasale Stimme. Deshalb wurde er von seiner Umgebung belacht. Seit 1900 betrieb er an der Neuengasse 4 in der Berner Altstadt, einer Gasse zwischen dem Waisenhausplatz und dem Bahnhof, einen «Haarkunstsalon». Seine Liebe zur Tochter eines reichen Fabrikbesitzers war aus Standesgründen gescheitert und so blieb er Junggeselle. Er war stadtbekannt, auch mein in der Ostschweiz geborener und dort aufgewachsener, aber ungefähr seit 1930 in Bern lebender Vater (1897–1978) hat mir, der ich 1937 geboren wurde, noch von ihm erzählt. Durch seine humorvollen, schlagfertigen Witze versuchte er die Lächerlichkeit seines Aussehens und seiner Stimme, an die er wie die anderen selbst glaubte, zu überspielen. Ein anderes Mittel dazu war der Genuss von Wein in Beizen der Berner Altstadt, sodass er manchmal in den Gassen von Bern betrunken anzutreffen war. Doch sein Humor vermochte Chäru nicht im Leben zu halten. Nach zwei Krebsoperationen beging er Suizid. Er stürzte sich am 31. Juli 1931 von der Kornhausbrücke, die vom Kornhausplatz Richtung Norden hoch über die Aare zum Breitenrainquartier führt, in die Aare hinunter.

1. Kapitel. Humor in der Funktion, sich im Leben über Wasser zu halten (Teil II)

Abschnitt 36. Der Humor von Kari Dällenbach Ich kenne nur drei seiner humorvollen, schlagfertigen Witze: Mein Vater, der obschon seit dem 30. Lebensjahr in Bern lebte, unverändert Ostschwiezer (Bischofszeller) Dialekt sprach, erzählte mir folgende Geschichte: Dällebach Chari habe an einem späten Nachmittag, nachdem er einen ihn nicht ernst nehmenden Kunden eingeseift und halb rasiert hatte, diesem gesagt, dass er nun seinen Salon schliessen müsse. Er löschte die Lichter seines Salons und verschwand. Zwei weitere habe ich von einem älteren Bekannten gehört: Däuebach Chäru ging etwas betrunken zwischen den Tramschienen die Marktgasse hinauf Richtung Neuengasse 4, wo er auch wohnte. Der Tramführer klingelte, Chäru blieb zwischen den Schienen. Der Tramführer, der Chäru kannte, öffnete das Fenster und rief zu ihm: «Kannst du nicht weg von den Schienen gehen!?» Chäru antwortete: «Ich schon, aber du nicht!» Chäru war auf seinem Heimweg betrunken umgefallen und konnte nicht mehr aufstehen. Zu zwei Polizisten, die ihm aufhalfen, sagte er: «Zwei Italiener haben mich zu Boden gebracht.» Auf die Frage der Polizisten, ob er die Namen der beiden kenne, bejahte er, indem er antwortete: «Der Barbera und der Chianti».

Abschnitt 37. Lied des Berner Mundartdichters, Sängers und Gitarrenspielers Mani Matter (1936–1972) über das Schicksal von Kari Dällenbach Mani Matter, 1936 in Bern geboren, wurde 1965 zum Doktor der Rechte promoviert und war dann Rechtskonsulent der Stadt Bern. 1972 starb er bei einem Verkehrsunfall. Er war ein in der ganzen Schweiz bekannter berndeutscher Liederdichter und Sänger. Er dichtete und sang folgendes Lied über Kari Dällenbach, nannte darin aber dessen Namen nicht. So wurde es zu einem allgemein menschlichen, lustig-traurigen Schicksalslied: S’isch einisch eine gsi, dä het vo früech a drunder glitte, Das ihn die andere geng usglacht hei. Am Afang het er grännet, het er sech mit de andre gschtritte. S’nützt nüt, das isch ja nume, was sie wei. Wenn’s mänge druurig macht, wo d’Lüt sech luschtig drüber mache, S’hets sälte eine luschtig gmacht wie dä. Är het sech gseit – nu guet, wenn dir so gärn ab mir düet lache, I will nech jitz e Grund zum lache gä. Und är isch häregange und het afa Witze risse, Dass d’Lüt sech jitz hei d’Büüch vor Lache gha.

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Het Witze gmacht, wo chutzele, und Witze gmacht, wo bisse, Und het ke Antwort ohne Antwort gla. Und i däm grosse Glächter, wo’s het gäh vo sine Witze, Isch ihn uszlache keim i Sinn me cho. Da het är all die Lacher in däm Glächter drin la sitze Und het sech himmeltrurig z’Läbe gno.69

Mein Versuch einer Übersetzung dieses Liedes von der Berner Mundart in die deutsche Schriftsprache: «Es war einmal einer, der von früh an darunter litt, Dass ihn die anderen immer auslachten. Am Anfang weinte er, stritt sich mit den anderen. Das nützt nichts, das ist ja nur, was sie wollten. 69

Wenn es viele traurig macht, wenn sich die Leute über ihn lustig machen, Dann hat es selten einer lustig gemacht wie dieser. Er sagte sich – nun gut, wenn ihr über mich lacht, Ich will euch jetzt einen Grund zum Lachen geben. Und er ging hin und begann Witze zu reissen, Dass sich die Leute jetzt vor Lachen die Bäuche hielten. Er machte Witze, die kitzelten, machte Witze, die bissen, Und liess keine Antwort ohne Antwort. Und in diesem grossen Gelächter, das es wegen seiner Witze gab, kam es keinem in den Sinn, ihn auszulachen. Da liess er all die Lacher in diesem Gelächter sitzen, Und nahm sich himmeltraurig das Leben.»

2. Kapitel. Humor in der Funktion der politischen Kritik

Abschnitt 38. Humorvolle Kritik unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland, welche die Funktion hatte, eine hässliche Situation besser zu ertragen Unter der Regierung der Nationalsozialisten in Deutschland wandelten Gegner dieses Regimes das Sprichwort «Lügen haben kurze Beine» zum Sprichwort «Wer lügt, der hat ein kurzes Bein» um. Sie spielten dabei an auf den sehr einflussreichen Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Josef Goebbels, der wegen eines verkürzten Unterschenkels und eines Klumpfusses hinkte. Goebbels war der einzige Intellektuelle des Naziregimes. Er hatte an der Universität Heidelberg den Doktortitel in den Fächern Germanistik und Geschichte erworben, den er selbst immer gebrauchte und mit dem er sich ansprechen liess.

Abschnitt 39. Humorvolle Kritik unter dem kommunistischen Regime in Polen In der Zeit des kommunistischen Regimes ging in Polen folgende humorvolle Geschichte um: Ein US-Amerikaner fragte eine Polen, wie die wirtschaftliche Lage Polens sei. Der Pole antwortete: «Gleich wie in Amerika. Mit (US‐)Dollars kann man alles kaufen, mit Zloty nichts.» Der Amerikaner fragte erstaunt nach, ob denn die wirtschaftliche Lage wirklich so gut wie in Amerika sei? Der Pole antwortete: «Nein, nur mittel gut, schlechter als letztes Jahr, aber besser als nächstes.» Diese humorvollen Antworten des Polen enthalten eine Kritik am kommunistischen System seines Landes, aber gleichzeitig sind sie für diesen doch eine Erhebung über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines Alltags, sie haben auch die Funktion, eine schwierige wirtschaftliche Situation leichter zu ertragen.

3. Kapitel: Humor in der Funktion der Kritik am übertriebenen Glauben an Autoritäten

Abschnitt 40. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die Autorität der Ärzte Eine Frau, deren Gatte schwer krank war und sich nicht mehr regte, liess schliesslich einen Arzt kommen. Dieser kam, untersuchte den Mann und sagte der Frau: «Ihr Mann ist tot.» Darauf regte sich der Mann und sagte. «Nein, ich lebe noch!» Worauf seine Frau sagte: «Schweig! Der Herr Doktor wird es wohl besser wissen als du.»

Abschnitt 41. Humorvolle Kritik am übertriebenen Glauben an die katholische Kirche Die Bretonen gelten oder galten wenigstens als strenggläubige Katholiken. So wird von einem Bretonen erzählt, der sagte: «Ich glaube alles, was die katholische Kirche zu glauben vorstellt, selbst wenn es falsch ist.»

Abschnitt 42. Humorvolle Kritik an der übertriebenen Autorität wissenschaftlicher Theorien Der niederländische Biologe, Psychologe und Begründer der psychologischen und von der durch die moderne Phänomenologie beeinflussten psychologischen Anthropologie, F. J. J (Frederik Jakobus Johannes) Buitendijk (1887–1974), kritisierte karikierend die psychologische Theorie der konditionierten Reflexe durch folgendes Gesetz: Wenn man Flöhe darauf konditioniert, bei einem gewissen Ton hochzuhüpfen, und ihnen dann die Beine abschneidet und sie nicht mehr hüpfen, beweist dies, dass sie den Ton nicht mehr hören.

4. Kapitel. Humorvolle Witze in der Funktion, eine verehrte, einem selbst sympathische Person zu karikieren

Abschnitt 43. Ruedi Minger, Bundesrat (Verteidigungsminister) der Schweiz (1881–1955) Ruedi Minger wurde 1881 auf einem Bauernhof der Gemeinde Mülchi im Bernischen Seeland (Kanton Bern, zwischen den Städten Bern und Biel/Bienne) als jüngstes von drei Kindern geboren. Er besuchte die Primarschule in Mülchi und die Sekundarschule im benachbarten, südöstlich von Mülchi gelegenen Fraubrunnen. Da er ein guter Schüler war, schickten ihn seine Eltern ins französischsprachige, an den Kanton Neuchâtel angrenzende Städtchen Neuveville (Kanton Bern) zu einem Volontariat in der Amtsschreiberei. Er lernte dort Französisch. Aber er bevorzugte doch den Bauernberuf. Er heiratete die mit ihm entfernt verwandte Bauerntochter Sophie Minger, und sie erwarben zusammen von Verwandten Sophie Mingers den grossen Bauernhof Herrschmatt in der etwa 20 km südlich von Mülchi gelegenen Gemeinde Schüpfen, die an der Zugstrecke zwischen Bern und der zweisprachigen Stadt Biel/Bienne liegt. Ruedi Minger war zuerst Mitglied der liberalen Freisinnigen Partei, der damals grössten Partei der Schweiz, die fünf der sieben Bundesräte stellte. 1918 wurde er Mitbegründer der Bernischen Bauern- und Bürgerpartei. 1919 wurde er in den schweizerischen Nationalrat in der Hauptstadt Bern gewählt und wurde dort Mitbegründer der schweizerischen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). Im Jahre 1928 war er Präsident des Nationalrates und wurde 1929 auf Kosten der Freisinnigen zum Bundesrat gewählt, d. h. zum Mitglied der siebenköpfigen Schweizer Regierung. Er übernahm das Militärdepartement (Verteidigungsministerium). In dieser Funktion gelang es ihm, im National- und im Ständerat seit 1933, als Hitler in Deutschland die Macht übernahm, jedes Jahr die Verteidigunsausgaben massiv erhöhen und die Militärdienstzeit der Rekruten und Reservisten verlängern zu lassen. Zudem gewann er Geld für die Landesverteidigung durch die Prägung von besonders schönen Fünffrankenstücken, die von vielen Schweizern und Schweizerinnen gekauft, aber nicht als Zahlungsmittel gebraucht, sondern als Medaillen gesammelt wurden. Mein Vater hat mir davon mehrere geschenkt, die ich vor wenigen Jahren an einen Grossneffen

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

ben habe. So war die Schweiz beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges relativ gut gerüstet, was Adolf Hitler wahrscheinlich davon abgehalten hat, die Schweiz anzugreifen, um mithilfe der Schweizer Nationalsozialisten wenigstens die deutschsprachige Schweiz (ungefähr 70 % der Bevölkerung) Nazideutschland einzugliedern. Er soll gesagt haben: «Die Schweiz, das Stachelschwein, / Nehmen wir beim Rückweg ein!» Während des Zweiten Weltkrieges war die Schweiz von Nazideutschland, dem eingegliederten Österreich, dem mit Nazideutschland verbündeten Italien unter Benito Mussolini und dem von Nazideutschland besetzten Teil Frankreichs völlig eingekreist. Die Schweizer Regierung, der Bundesrat, die Angriffe durch Hitlers Armeen befürchtete, machte an diesen Konzessionen, indem sie ihn Züge durch die Schweiz (den Gotthardtunnel) nach Italien und zurück fahren liess. Vielleicht missfiel diese Politik Ruedi Minger. Jedenfalls trat er 1941, nach elfjähriger Amtszeit, aus dem Bundesrat zurück. Man wunderte sich, dass er als Verteidigungsminister während des Krieges zurücktrat. Er verstarb, vom grössten Teil der schweizerischen Bevölkerung hochverehrt, 14 Jahre später, 1955, im Alter von 74 Jahren. Man erzählte von ihm mehrere Anekdoten, von denen mir drei bekannt sind: Als Ruedi Minger Bundesrat wurde, sagte er seiner Frau, dass er seine Berner Wohnung wegen der Besuche von hohen Gästen gediegen möblieren lassen wolle. Seine Frau Sophie empfahl ihm Möbel im Stil Louis XV., da sie von einer anderen Bundesratsgattin gehört hatte, dass diese sehr gediegen seien. Ruedi willigte ein. Nachdem aber diese Möbel, die kleinen Tische, Stühle und Schränke mit ihren feinen geschwungenen Beinchen, von einer Möbelfirma geliefert worden waren und Ruedi sie sah, sagte er zu seiner Frau: «Diese Möbel sind mir zu klein, ich will eine Nummer grösser, Louis XVI.» Jemand telefonierte vor einem Geburtstag von Bundesrat Minger mit seiner Frau Sophie und fragte sie, womit man ihm zu seinem bevorstehenden Geburtstag eine Freude bereiten könne, vielleicht mit einem Buch? Sophie Minger antwortete: «Nein, er hat schon eines!» In seinem Arbeits- und Empfangszimmer im Bundeshaus liess Ruedi ein Bild eines sterbenden Soldaten aufhängen, sterbend für das Vaterland. Ein Besucher fragte Bundesrat Minger, ob er wisse, woran denn dieser Soldat sterbe. Ruedi antwortete, dass er es nicht wisse, ging aber auf das Bild zu, um vielleicht ein Indiz für die Todesursache zu finden. Plötzlich rief er freudig aus: «Da steht es ja: Nach einem Stich von Albrecht Dürer».

4. Kapitel. Humor, um eine verehrte Person zu karikieren

Abschnitt 44. Friedrich August III., der letzte König von Sachsen Als Friedrich August III. (1865–1932), der letzte, sehr beliebte Kurfürst von Sachsen (und König von Polen), durch die Novemberrevolution 1918 gezwungen wurde, abzutreten, soll er nur gesagt haben: «Dann macht Ihr halt den Dreck alene [allein]!» Als er sich danach in Dresden in der Öffentlichkeit zeigte und das Volk ihm zujubelte, sagte er: «Ihr seid mir schene [schöne] Demokraten!» An den Trauerfeierlichkeiten in Dresden nach seinem Tod 1932 nahmen mehr als eine halbe Million Menschen teil.

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5. Kapitel. Humorvolle Anekdoten in der Funktion, eine respektierte Berufsgruppe zu karikieren. Die Berufsgruppe der Gelehrten und Philosophen

Abschnitt 45. Ein vergesslicher Gelehrter Gelehrte und Professoren sind bekannt dafür, dass sie vergesslich sind, im Besonderen, was ihre Regenschirme betrifft. Als eine wahre Geschichte wurde mir in den Jahren meiner Studentenzeit zwischen 1956 und 1959 an der Universität Löwen (Leuven/Louvain) von irgendeinem der vier Schweizer Jesuitenpatres in Egenhoven bei Leuven über einen ihrer gelehrten Mitbrüder die folgende Geschichte erzählt: Dieser fuhr zuerst mit dem Bus, dann mit dem Zug an jedem Werktag von Egenhoven über Leuven nach Brüssel ins Zentrum der Société des Bollandistes, welche wissenschaftlich-historisch das Leben der Heiligen erforscht und ihre Forschungsergebnisse in den Acta Sanctorum ediert.70 Da es in Belgien oft regnet, nahm er jeweils einen Regenschirm mit, den er abends in jenem Zentrum vergass. Mit der Zeit gingen den Jesuiten in Egenhoven die Schirme aus, sodass der Obere dieser Niederlassung jenem gelehrten Mitbruder den Auftrag gab, nach Brüssel ins Zentrum der Société des Bollandistes zu fahren, nur um alle Schirme zurückzuholen, die er dort vergessen hatte. Auf seiner Reise nach Brüssel dachte der gelehrte Mann nun nur noch an die Schirme und nicht an eine wissenschaftliche Arbeit, die er in jenem Zentrum zu erledigen hatte. Bei seiner Rückkehr nach Egenhoven hatte er an die 20 Schirme bei sich. Als er in Löwen sich aufs Aussteigen vorbereitete, ergriff er nicht nur seine Schirme, sondern versehentlich auch noch denjenigen dessen, der ihm gegenübersass. Dieser sagte auf Französisch freundlich zu ihm: «Mon Révérend Père, Sie haben heute eine grosse Beute gemacht, aber ich bitte Sie, mir meinen Schirm zu lassen.»

Die Bollandisten verdanken ihren Namen dem Jesuiten Jean Bolland (1596–1665), der die historische Erforschung des Lebens der in der katholischen Kirche verehrten Heiligen begann. Dies geschah im Zuge der Gegenreformation. Luther war gegen die Heiligenverehrung, er argumentierte, dass es sich bei den Heiligengeschichten um blosse Legenden handle, und tat sie als «Lügenden» ab. 70

5. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um Gelehrte und Philosophen zu karikieren

Abschnitt 46. Vergessliche Professoren Philosophen sind auch bekannt dafür, dass sie sich so sehr auf ihr Denken oder Diskutieren konzentrieren, dass sie das vergessen, was sie eigentlich tun sollten. Ein Professor hatte seinen Schirm verloren: Man fragte ihn, wann er bemerkt habe, dass er keinen Schirm mehr habe. Er antwortete: «Als ich ihn schliessen wollte.» Ein Professor für Altphilologie wurde als Fussgänger von einem Fahrzeug angefahren, zu Fall gebracht und lag am Boden. Ein herbeigerufener Polizist fragte den am Boden Liegenden, der noch ansprechbar war, nach seinen Personalien und auch nach seinem Beruf. Dieser antwortete: «Ich bin Altphilologe». Der Polizist fragte darauf, was das sei. Der Altphilologe antworte: «Ich studiere tote Sprachen.» Der Polizist: «Diese hätten Sie jetzt beinahe brauchen können.»

Abschnitt 47. Edmund Husserl Malvine Husserl, die Gattin des Philosophen Edmund Husserl (1859–1938), berichtete über ihren Gatten folgende zwei wahre Anekdoten. Ich hörte sie von Professor Pater Herman Leo Van Breda (1911–1974), der den philosophischen Nachlass des christlich getauften Juden und Deutschen Edmund Husserl vor der Zerstörung durch das nationalsozialistische Regime rettete. Darauf wurde Van Breda Begründer und Direktor des Husserl-Archivs Löwen, in dem dieser Nachlass bearbeitet und teilweise in der Reihe Husserliana ediert wurde. Er hatte auch die Gattin Husserls, die Jüdin Malvine Husserl, vor den Nazis in Löwen versteckt. In der Zeit, in der Husserl an der Universität Freiburg unterrichtete, wurde er von seinem von ihm sehr geschätzten Kollegen und bekanntesten Vertreter des Marburger Neukantianismus, Paul Natorp (1854–1924), in Freiburg besucht. Nach dem Besuch begleitete ihn Husserl zum Freiburger Bahnhof, wo die beiden auf dem langen Bahnsteig, auf den Zug nach Marburg wartend, hin und her wandelten und miteinander diskutierten. Plötzlich sahen sie, dass der Zug am anderen Ende des Bahnsteiges eingetroffen war, und beeilten sich sehr, ihn noch vor seiner Abfahrt zu erreichen. Als der Zug abgefahren war, befand sich Husserl im Zug nach Marburg und Natorp auf dem Bahnsteig in Freiburg. Als Edmund Husserl in Göttingen lehrte, wohnte er mit seiner Malvine und seinen drei Kindern Elisabeth, Gerhart und Wolfgang in einem eigenen Haus. An einem Abend hatten Edmund und Malvine Gäste zu sich eingeladen, und Malvine sagte zu Edmund vor dem Eintreffen der Gäste, dass er in das obere Stockwerk des Hauses gehen und dort noch ein frisches Hemd anziehen solle. Die Gäste trafen ein, aber Edmund war noch immer nicht heruntergekommen. Da entschuldigte sich Malvine bei den Gästen und sagte, sie müsse nachsehen, was ihr Mann im oberen Stock treibe. Als sie hochgestiegen war, fand sie Edmund

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

schlafend in seinem Bett. Er hatte sein altes Hemd ausgezogen und, in Gedanken verloren und der Gewohnheit folgend, mit dem Ausziehen weitergemacht, das Nachthemd angezogen und sich schlafen gelegt.

Abschnitt 48. Joseph Dopp (1901–1978), Professor für Klassische Logik, moderne und zeitgenössische Philosophie am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Löwen Professor Dopp war für mich der beste der Professoren, deren Vorlesungen und Kursen ich während der Jahre 1956 bis 1959 am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Löwen folgte. Er lehrte auch über zeitgenössische analytische Philosophen Englands. Besonders erinnere ich mich an einen Kurs über die Méditations philosophiques von Descartes, die Professor Dopp mit grösster Akribie analysierte und interpretierte. Alle Teilnehmer des Kurses hatten dieselbe Ausgabe dieses Werkes vor sich wie Professor Dopp und konnten dabei seiner Analyse des Textes genau folgen. Das Humorvolle bei seinen Lehrveranstaltungen war nun für uns Zuhörer, dass er, wenn er etwas mit Kreide an die Wandtafel schrieb und ein Kreidestück abbrach und er dieses am Boden suchte, dabei weitersprach, sodass die Zuhörer ihn vorne sprechen hörten, aber nicht mehr sehen konnten. Er war durch das Professorenpult verdeckt. Seine Stimme kam für uns Studenten gewissermassen aus der Unterwelt. Wenn er dann oben wieder auftauchte und uns alle lachen sah und hörte, lachte er fröhlich mit. Man konnte ihn alles fragen, nicht nur über seine Kurse, sondern auch ganz Persönliches, z. B. ob er an die Existenz Gottes glaube. Wenn man dies tun wollte, konnte man ihn ohne Weiteres bei ihm zu Hause aufsuchen. Wenn man an seine Türe klopfte und nach seinem Ruf «Entrez!» hineinging, sah man vorerst nichts anderes als einen Säulenwald von aufgeschichteten Büchern. Nach einiger Zeit erschien er lächelnd zwischen zwei Büchersäulen, sagte «Venez mon fils!» oder «Venez ma fille!» und führte einen zu seinem Pult, wo sich sein eigener und ein weiterer Sessel für seinen Besucher oder seine Besucherin befanden. Wenn er ein Buch benötigte, vermochte er es aus einer Büchersäule mit einer solchen Geschicklichkeit herauszuziehen, dass sie nicht einstürzte.

6. Kapitel: Humor in der Funktion, drei verschiedene Professoren gleichen Familiennamens zu unterscheiden, die an derselben Univerität unterrichteten (Abschnitt 49).

In der ersten Hälfte und Mitte des 20. Jahrhunderts gab es an der Universität Bern drei Professoren, die alle denselben Familiennamen Stein trugen. Es waren dies: Der aus Erdö (Ungarn) in die Schwiez eingewanderte Ludwig Stein (1859– 1930). Dieser studierte an der Eidgenössischen Technischen Hochschue (ETH) in Zürich und war dann dort Privatdozent und ausserordentlicher Professor. 1891 wurde er als Prof. für Physik und Philosophie nach Bern berufen. Er war an dieser Universität bis 1909 und ging dann nach Berlin. Er war der Vater der beiden folgenden Berner Professoren: Wilhelm Stein (1886–1970), ab 1946 Honorarprofessor für Kunstgeschichte, und Arthur Stein (1888–1978), ab 1920 Privatdozent für Philosphie, 1931 ausserordentlicher Professor für Philosophie, 1955 ordentlicher Professor für Philosophie, theoretische Pädagogik und Geschichte der Pädagogik. Die Studenten nannten diese drei Professoren Stein, um sie kurz und bündig voneinander zu unterscheiden, humorvoll: den «Naturstein», den «Kunststein» und den «Denkstein».

7. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um die Berufsgruppe der schweizerischen Bundesbeamten zu karikieren (Abschnitt 50)

Mein Vater, der ein sehr gewissenhafter Mensch war und selbst noch seine Freizeit für seine Arbeit als Bundesbeamter einsetzte, erzählte mir über die Bundesbeamten (Staatsbeamten) folgende (selbst‐)kritische Anekdote: «Frauen haben am liebsten Bundesbeamte als Ehemänner. Denn am Abend kehren sie ausgeruht heim und haben die Zeitung auch schon gelesen.»

8. Kapitel. Humorvolle Anekdoten, um verschiedene Völker oder Volksgruppen zu karikieren

Abschnitt 51. Deutsche, Franzosen und Engländer Ungefähr gleichzeitig erschien in Deutschland, Frankreich und England je ein wissenschaftliches Buch über die Elefanten. Das deutsche trug den Titel: Die Entwicklung der Elefanten in ihren verschiedenen Unterarten von der Steinzeit bis zur Gegenwart; das französische trug den Titel: La vie sexuelle des élephants; das englische trug den Titel: On Elephants.

Abschnitt 52. Die Preussen und die Wiener Ein Preusse kam nach Wien und sah einen Wiener Arbeiter, der vergeblich eine schwere Gusseisenplatte hochzuheben versuchte. Der Preusse trat vor ihn hin und versetzte ruckzuck die Gusseisenplatte an den richtigen Ort. Er schaute den Wiener triumphierend von oben herab an. Dieser zuckte nur die Achseln und sagte mit Bedauern: «Na ja, mit Gewalt geht alles!»

Abschnitt 53. Die Deutschen Ein Ausländer lernte die beiden ungefähr gleichbedeutenden deutschen Wörter Meerbusen und Busenmeer und bemerkte: «Deutsche Sprache komische Sprache, einmal Busen vorn, einmal Busen hinten.» Als unter Kaiser Wilhelm II. (1888–1918) die Flotte des Deutschen Kaiserreiches für die deutschen Kolonien Tansania, Kamerun, Togo, Gabun, Namibia, Ruanda-Burundi und andere sowie die Handelsniederlassung der Hafenstadt Qingdao in der chinesischen Provinz Shandong ausgebaut wurde, fragte der Prüfer einen Matrosenkandidaten für diese Flotte barsch: «Können Sie schwimmen?» Worauf dieser erstaunt antwortete: «Ja, haben Sie denn keine Schiffe?»

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Abschnitt 54. Die schnellen Zürcher und die langsamen Berner Ein Zürcher und ein Berner gingen zusammen spazieren, wobei der Berner dem Zürcher immer wieder zurufen musste, dass er auf ihn warten solle. Der Berner sah, als der Zürcher vor ihm lief, wie dieser in seiner Eile eine Weinbergschnecke zertrat, und machte ihm darauf Vorwürfe, ein so schönes, unschuldiges Tier getötet zu haben. Der Zürcher wusste dafür keine Entschuldigung. Kurz darauf zertrat der Berner eine Weinbergschnecke, worauf der Zürcher ihn triumphierend auslachte. Doch der langsame Berner hatte eine Entschuldigung: Er sagte, die Schecke sei von hinten gekommen und habe ihn zwischen seinen Beinen zu überholen versucht. So konnte er die Schnecke gar nicht sehen und habe sie versehentlich zertreten. Nebenbei bemerkt: Ich bin ein Berner.

9. Kapitel. Humor in der Funktion, sich Respekt zu verschaffen (Abschnitt 55)

Mein Vater erzählte mir folgende Geschichte aus dem Collegium (Gymnasium) des Klosters Engelberg (Kanton Obwalden, Schweiz) Es gab in diesem Kloster zu seiner Studienzeit zwischen 1911 und 1919 einen als Gymnasiallehrer wirkenden Pater, der ziemlich dick war und bei den Schülern den Übernamen «das Fass» hatte. Als dieser Pater sich einmal dem Zimmer näherte, in dem er unterrichten musste, hörte er von Ferne die Studenten rufen, die sich noch im Gang vor jenem Zimmer tummelten: «Das Fass kommt!», worauf sie sich ins Unterrichtszimmer begaben. Nachdem der Pater das Zimmer betreten hatte, stellte er seinen Studenten folgende Frage: «Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Fass und mir?» Die Studenten schwiegen verblüfft und betroffen. Darauf beantwortete der Pater selbst seine Frage wie folgt: «Ein Fass ist von Reifen umgeben, ich von Unreifen.» Worauf die Studenten jenen Übernamen vermieden.

10. Kapitel. Humor als Erheiterung des Zusammenlebens mit dem Ehepartner (Abschnitt 56)

Wenn man sich gegenseitig liebt und Humor hat, kann man sich zur Erheiterung die grössten Frechheiten an den Kopf werfen. Erstes Beispiel: Zur Erheiterung des Zusammenlebens kann die Mehrdeutigkeit der Sprache dienen. Meine Frau Shiping sagte mir, dass ich baden und den Kopf waschen müsse. Ich antwortete, dass ich zwar baden, aber den Kopf nicht waschen würde, denn ich hätte saubere (reine) Gedanken. Die Folge war, dass sie herzlich lachte. Zweites Beispiel: Ich ass McVitie’s Digestive, The Original Wheat Biscuit aus England. Danach erklärte ich meiner Frau auf Englisch, dass ich jetzt nur noch Englisch könne, aber besser als vorher. Sie verstand es halb und halb nicht, und wenn sie es verstand, versuchte sie mir in ihrem sehr fehlerhaften Englisch zu antworten. Dabei korrigierte ich sie auf Englisch und schliesslich brachen wir beide in ein gemeinsames Lachen aus. Drittes Beispiel: Jeden Morgen esse ich, seit ich über 80 Jahre alt bin, eine Eisen-Tablette, um mein Blut mit genügend Eisen zu versorgen; dadurch kann es genügend Eiweiss aufnehmen. Einmal waren keine solchen Tabletten mehr vorhanden, und meine Frau sagte mir auf Chinesisch, sie müsse eine neue Schachtel aus der Vorratskammer holen, in der ich mich nicht auskenne. Ich sagte ihr in derselben Sprache, dies sei nicht nötig, denn ich könne auch einen Eisennagel schlucken. Dies sei gefährlich, meinte sie. Ich antwortete, dass ich nichts fürchte. Denn ich würde ja nun schon mehr als 20 Jahre einen solchen Nagel schlucken und es sei noch nichts passiert. Sie lachte und meinte dazu, den Nagel auf den Kopf treffend, dass ich dadurch an Widerstandskraft gewonnen habe. Dazu muss erklärt werden, dass meine chinesische Frau mit Familiennamen Ding (丁) heisst, was Nagel bedeutet. Viertes Beispiel: Einmal im April ass ich von meiner Frau zubereiteten, leicht gebratenen Löwenzahn, den sie selbst auf einer Wiese abseits allen Verkehrs gesammelt hatte. Ich fand darin ein kleines Stückchen Gras, legte es neben den Teller und erklärte ihr, dass dieses hochgiftig sei und zum Tod führe. Im ersten Jahr nach dem Genuss würde man Tag und Nacht mit dem Kopf von links nach rechts und umgekehrt wackeln, im zweiten Jahre von vorne nach hinten, im

10. Kapitel. Humor als Erheiterung des Zusammenlebens mit dem Ehepartner

dritten Jahr würde man den Kopf Tag und Nacht im Urzeigersinn im Kreise drehen, im vierten Jahr gegen den Urzeigersinn, im fünften Jahr müsse man unwiderstehlich Tag und Nacht in grosser Geschwindigkeit absitzen und aufstehen, wieder absitzen und wieder aufstehen, und im sechsten Jahr würde man an Erschöpfung kläglich sterben. Meine Frau lachte aus vollem Hals. Fünftes Beispiel: Ich sagte zu Shiping, sie sei der Bodensatz der Menschheit (ren lei de za zhi), während ich deren Auslese (qing hua) sei. Sie lachte und sagte, ich könne noch besser Chinesisch als die Chinesen. Sechstes Beispiel: Ein anderes Mal sagte ich ihr, sie sei ein lianghang junzi (ein Edler auf dem Dachbalken), weil sie manchmal Äpfel von uns nicht gehörenden Apfelbäumen aufliest. Dazu ist zu bemerken, dass der chinesische Ausdruck lianghang junzi «Dieb» bedeutet.

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11. Kapitel. Einen anderen der Familie zum Narren halten, sodass auch der Genarrte lacht (Abschnitt 57)

Das ist bei den Scherzen am ersten April der Fall, am Tag, an dem «Lügen» erlaubt ist, um andere ins Boxhorn zu jagen. Erstes Beispiel: Als meine beiden Schwestern und ich noch Kinder waren, sagten wir unserem Vater, dass die von ihm auf dem Estrich mühsam aufgebaute Beige von Holzscheitern zum Heizen eingestürzt sei. Unser Vater glaubte dies und beeilte sich, zum Hausestrich emporzusteigen. Als er herunterkam und wir Kinder lachend schrien: «Erster April! Du bist hineingefallen», lachte auch er. Zweites Beispiel: An einem ersten April sagte ich meiner Frau, es sei eine Kuh in unserem (mit Gemüse und Blumen bepflanzten) Garten. Sie sprang sofort in unseren Garten hinunter. Als sie zurückkam, rief ich ihr, da wir zusammen Chinesisch sprechen, lachend zu: Yunong jie, was bedeutet: «Festtag, an dem man zum Narren hält», worauf auch sie lachte. Drittes Beispiel: Es war nicht an einem ersten April: Ich sagte meiner Frau beim Mittagessen, dass eines ihrer ausgefallenen langen Haare auf dem Tischtuch liege, was aber in Wirklichkeit nur der dünne, lange Stil eines auf unser Tischtuch gedruckten Zweiges war. Sie glaubte mir und versuchte es mit ihren Fingern zu entfernen, wodurch sie den wahren Sachverhalt erkannte. Das chinesische Wort für «täuschen» und «betrügen» ist dasselbe (pian). Ich sagte ihr darauf, ich würde sie gerne betrügen, worauf sie lachte. Dann sagte ich ihr, das Betrügen hätte ich bei ihr gelernt, wobei sie noch mehr lachte. Ich erklärte ihr dann, dass sie mir selbst gesagt habe, dass Chinesen und Chinesinnen gerne betrögen (meistens bei Geld). Sie stimmte mir lachend zu.

12. Kapitel. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten und bei Wortspielen zur Belustigung der Gemüter

Abschnitt 58. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten Erstes Beispiel: «Drum prüfe, wer sich ewig bindet, / Ob sich nicht was Bess’res findet.» Hierbei handelt es sich um eine Verballhornung von zwei Versen aus Friedrich Schillers Lied von der Glocke: «Drum prüfe, wer sich ewig bindet, / Ob das Herz zum Herzen findet.» Zweites und drittes Beispiel: «Aller Anfang hat Gold im Mund (aber es ist schwierig, etwas gut zu vollenden)» und «Morgenstund’ ist schwer (besonders für die Spätaufsteher)» sind Vermischungen der folgenden beiden Sprichwörter: «Morgenstund’ hat Gold im Mund» und «Aller Anfang ist schwer».

Abschnitt 59. Humor, zum Teil kritischer Art, bei Wortspielen und Sprachübersetzungen (sechs Beispiele) Erstes Beispiel: In Brüssel wurde 1905 in Nachahmung des Panthéon in Paris auf dem Koekelbergh, einer erhöhten Fläche bei Brüssel, eine Kirche zunächst im neugotischen Stil begonnen. Nach dem Ersten Weltkrieg sollte sie als belgisches Nationalheiligtum und als nationaler Wallfahrtsort dienen und wurde im Stil des Art déco nach verschiedenen Plänen von verschiedenen Architekten weitergebaut. 1970, nach 65 Baujahren, war sie vollendet. Ihr offizieller Name lautet Basilique du Sacré-Cœur de Jésus, also genauso wie die Kirche auf dem Montmartre in Paris; sie wird aber einfach nur Basilique de Koekelberg genannt. Sie ist von enormer Grösse, die sechstgrösste Kirche der Welt. Sie hat eine Länge von 164,5 Metern, ihr Querschiff ist 107 Meter breit, und die Kuppel erreicht eine Höhe von 93 Metern. Ihr Baumaterial besteht aus einer unglücklichen Kombination von Beton und Terrakotta. Sie ist ein architektonisch sehr fragwürdiges Gebäude.

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Um sie in ihrer Architektur lächerlich zu machen und zu kritisieren, nennt man sie humorvoll durch ein Wortspiel auch La Koekelik de Baselberg (nach der deutschen Phonetik ausgesprochen: Kukelik dö Baselberch). Das ist wirklich ein drolliger Name für einen solch riesigen Sakralbau. Zweites Beispiel: In Löwen befand sich, als ich dort studierte, das Rotlichtoder Prostituierten-«Viertel» an der Ravenstraat (flämisch) oder Rue du corbeau (französisch), was auf Deutsch Rabenstrasse bzw. Strasse des Raben bedeutet. Der französische Name dieser Strasse wurde durch die Inversion der beiden Silben von corbeau zu Rue du beaucorps. Dabei ist zu bemerken, dass die Silbe cor und das Wort corps im Französischen gleich ausgesprochen werden. Auf Deutsch übersetzt lautet also der volkstümliche französische Name dieser Prostituiertenstrasse auch: Strasse des schönen Leibes. Drittes Beispiel: In der Stadt Löwen, in der, als ich dort studierte, alle Strassennamen in Französisch und in Flämisch (Niederländisch) angeschrieben waren, gab es parallel zum grossen Platz des Oude markt (Vieux marché / alter Markt) eine kleine Strasse, die auf Niederländisch Porreestraat hiess, wobei porree Lauch bedeutet, welcher früher hier verkauft wurde. Der Name dieser Strasse wurde auf Französisch groteskerweise mit Rue de Paris wiedergegeben – grotesk deshalb, weil völlig unverständlich ist, was diese kleine Strasse mit der grossen Stadt Paris zu tun haben soll. Das Groteske in Potenz aber ist, dass 2018, als ich das letzte Mal in Löwen war, diese Strasse Parijsstraat hiess, was die flämische Übersetzung von Rue de Paris ist – es gibt heute seit den Kämpfen zwischen den französischsprachigen Wallonen und den Flamen (flamingen) nur noch flämische Strassenschilder. Viertes Beispiel: Als ich meine Doktordissertation in Philosophie fertiggestellt, aber sie am Institut Supérieur de Philosophie an der Universität Löwen noch nicht verteidigt hatte, machte ich mir Sorgen, wovon ich nach der Promotion (die dann am 16. Dezember 1961 stattfand) als ein in Philosophie Promovierter leben konnte. Professor Maximilian Roesle von der Universität Salzburg, den ich kannte und der auch viel früher als ich an jenem Institut studiert hatte, gab mir das Buch Dieu caché (Der verborgene Gott) von Fernand van Steenbergen zur Übersetzung ins Deutsche und versprach, mich dafür zu bezahlen. Van Steenbergens von mir besuchte Vorlesungen und Kurse und auch seine beiden von mir pflichtmässig studierten Bücher Ontologie und Théorie de la connaissance hatte ich nicht geschätzt. Doch faute de mieux sagte ich zu und begann in Bern die Übersetzung. Doch nach meiner Promotion in Löwen erhielt ich auf den 1. Januar 1962 im Husserl-Archiv Löwen eine Stelle als «wissenschaftlicher Mitarbeiter», womit mein finanzielles Problem gelöst war. Ich schrieb Professor Roesle, dass ich Arbeit im Husserl-Archiv gefunden hätte, und schickte ihm die angefangene Übersetzung zu. Als ich dann im Husserl-Archiv arbeitete, erzählte ich dem französischsprachigen Professor Jacques Taminiaux, der dort Sekretär der vom Husserl-Archiv

12. Kapitel. Humor bei Verballhornungen von geflügelten Worten

herausgegebenen Reihe Phaenomenologica war, dass ich das Buch Dieu caché teilweise übersetzt hatte und wie langweilig und ungeniessbar ich es fand. Er antwortete mir darauf, dass man «Dieu caché, par Fernand van Steenbergen» folgendermassen lesen müsse: «Dieu, caché par Fernand van Steenbergen» (auf Deutsch: «Gott, versteckt/verborgen durch Fernand van Steenbergen»). Fünftes Beispiel: Der eine sagte zum anderen: «Meine Frau ist nobel, sie ist von und zu.» Da sagte der andere: «Meine ist noch nobler, sie ist auf und davon.» Sechstes Beispiel (Humor in der Funktion der Kritik an Übersetzungsmaschinen): Ein frommer Mann wünschte, dass seine Übersetzungsmaschine die Bibelstelle «Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach» (Matthäus, Kapitel 26, Vers 41) ins Englische übersetze. Nachdem er den erwähnten deutschen Satz in die Maschine eingegeben hatte, kam die folgende englische Übersetzung heraus: «The Whisky was good, but the steak was lousy.»

Abschnitt 60. Humor im Spiel mit der phonetischen Ähnlichkeit von Wörtern mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen Ich fragte meine Frau Shiping auf Chinesisch, was der Unterschied zwischen mugua und guma sei. Shiping lachte nur und sagte, dass diese Begriffe etwas sehr Unterschiedliches bezeichneten. Sie wusste, dass ich den Unterschied kenne. Mugua wird im Deutschen mit «Papaya», guma mit «Schwester des Vaters» (Tante väterlicherseits) übersetzt.

Abschnitt 61. Humoristische Wortdefinitionen Ein Freund antwortete, nachdem ich von meiner Schwierigkeit gesprochen hatte, als etwa dreijähriges Kind zwischen gestern und morgen zu unterscheiden: «Das ist doch ganz einfach: Morgen ist, wenn heute gestern war.»

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13. Kapitel. Humor, um die Gebrechen des Alters erträglicher zu machen (Abschnitt 62)

Erstes Beispiel: Meine jüngere Schwester sagte im Alter: «Wenn man morgens erwacht und einem nichts wehtut, ist dies ein Zeichen, dass man tot ist.» Zweites Beispiel: Als mein Vater pensioniert war, schickte ihn meine Mutter, die den Haushalt besorgte, des Öfteren zum Einkaufen, indem sie im Berner Dialekt z. B. sagte: «gang go Brot choufe (gehe Brot kaufen)», oder: «gang go Chalbsbratwürst choufe (gehe Kalbsbratwürste kaufen)». Mein Vater tat dies willig, obschon er lieber zu Hause in seiner eigenen Bibliothek gesessen und irgendein Buch gelesen hätte. Während seiner Einkäufe lernte er schnell andere Männer ungefähr seines Alters kennen, welche ihren Gattinnen denselben Dienst erbrachten. Eines Tages kam er nach Hause und sagte lachend, er und seine Leidgenossen hätten nun den «Gangoclub» gegründet. Drittes Beispiel: Einmal erzählte er auch, als er vom Einkaufen nach Hause kam, dass auf seine Frage, wie es ihm gehe, ein Mitglied des Gangoclubs geantwortet habe: «Gemütlich hinten abwärts».

14. Kapitel. Humorvolle Kinderlieder

Abschnitt 63. Kinderlied als Kritik am immer Unzufriedenen Der Hans im Schneckenloch hat alles, was er will. Und was er will, das hat er nicht, und was er hat, das will er nicht. Der Hans im Schneckenloch hat alles, was er will.

Abschnitt 64. Humorvolles Bubenlied, genannt Lumpeliedli (Lumpenliedchen), zur Belustigung der Singenden Es wott es Froueli s’Märit gah, z’Märit gah, Wott dr Ma deheime la. Tra la la la la lalla

Es will ein Frauchen zum Markt gehen, Will den Mann zu Hause lassen.

Hans, du muesch deheime blybe, heime blybe, Muesch de Hüehner d’Eier gryffe! Tra la la la la lalla

Hans, du musst zu Hause bleiben, Musst nach den Eiern der Hühner greifen!

Im Ofe si sächs grossi Chüeche, grossi Chüeche, Muesch mir ou zu däne luege! Tra la la la la lalla

Im Ofen sind sechs grosse Kuchen,

Am Abe wo’s isch sächsi gsi, sächsi gsi, Si di Chüeche gfrässe gsi, gfrässe gsi. Tra la la la la lalla

Am Abend, als es sechs Uhr war, Waren die Kuchen gefressen.

Und wo di Frouw isch hei isch cho, Ma, wo si die Chüeche wo, d’Chüeche wo? Tra la la la la lalla

Und als die Frau nach Hause kam: Mann, wo sind die Kuchen, wo?

Du musst auch nach denen schauen!

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Da nimmt si dr Hans bim Bärtli, Bärtli Und keit ne use is Gärtli, Gärtli. Tra la la la la lalla

Da nimmt sie den Hans am Bärtchen Und wirft ihn hinaus ins Gärtchen.

Dr Hans, dä louft zum Nachbarhuus, Nachbarhuus, Dr Chasper luegt zum Fänschter uus, Fänschter uus. Tra la la la la lalla

Der Hans, der geht zum Nachbarhaus,

Chasper, i sött dir öppis chlage, öppis chlage. Frou het mir dr Grind verschlage. Tra la la la la lalla

Kaspar, ich muss dir etwas klagen, Die Frau hat mir den Kopf verhauen.

O wärsch du ou scho geschter cho, geschter cho! Lueg, myni macht mir’s ou äso. Tra la la la la lalla

O wärst du doch schon gestern gekommen!

Die Froue si es Lumpepack, Lumpepack, Si us Schtroh und Hudle gmacht. Tra la la la la lalla

Die Frauen sind ein Lumpenpack, Sind aus Stroh und Lumpen gemacht.

Mir Manne si gan andri Lüüt, andri Lüüt.

Wir Männer sind ganz andere Leute,

Suffe viel und schaffe nüüt. Tra la la la la lalla

Saufen viel und arbeiten nichts.

Der Kaspar schaut zum Fenster raus.

Schau, meine macht es ebenso.

15. Kapitel. Von Menschen mit Humor verstandene Situationen in ihrem Verhältnis zu Tieren

Abschnitt 65. Die Hausrotschwänze Einer meiner Freunde erzählte mir einmal, dass Hausrotschwänze auf der Lampe seines Balkons ihr Nest gebaut hätten und kräftig mit ihm «schimpften», wenn er auf seinem Balkon zu seiner körperlichen Ertüchtigung auf seinem sich nicht bewegenden Velo fahren wolle. Seitdem habe er dies unterlassen. Ich musste laut lachen. Was mich belustigte, war, dass mein Freund, ein sehr guter Professor und ein noch besserer Mensch, kleinen Vögeln gehorchte.

Abschnitt 66. Der Steinbock Auf einer Wanderung am 5./6. September 2006 von Praz Jean im Jauntal über den Pas (Pass) de la Borière (2316 m. ü. M.) unterhalb des Vanil Noir (2389 m. ü. M.) in die Haute Gruyère (Hohes Greyerzer Tal, auch Pays d’Entremont genannt) sah ich am 6. September schon weit unterhalb des Pas de la Borière durch meinen Feldstecher eine ganze Prozession männlicher Steinböcke, die vom Vanil Noir her über die Passhöhe hinter dem Dent de Folliéran auf seiner Schattenseite verschwanden. Am Morgen hatten sie sich an der Sonne der Abhänge des Vanil Noir gewärmt und suchten nun am Mittag die Kühle des Schattens hinter dem Dent de Folliéran. Ich beeilte mich, um diese prächtigen Tiere aus der Nähe zu sehen, bevor alle hinübergezogen waren. Als ich oben war, befanden sich zu meiner Linken an der Krete zum Vanil Noir zu meiner Freude immer noch einige dieser Tiere. Ich setzte mich genau auf den höchsten Punkt des Passes, durch den sie durchzogen, und schaute mir die Landschaft auf der anderen Seite des Passes in Richtung Schweizer Mittelland an. Ich sah in das Vallée (Tal) de Motélon, das in nördlicher Richtung zum Ferienort Charmey unten im Jauntal führt, etwas westlich davon den Tsermon (1793 m. ü. M.), den man auch vom Haus eines befreundeten Ehepaares in Sciernes sur Albeuve sieht, in der Ebene das Städtchen Bulle, den Hauptort des Greyerzerlandes (Kanton Fribourg/Freiburg), und gegen Westen in die Ebene vorgelagert den mächtigen Block des Moléson (1982 m. ü. M.).

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Plötzlich hörte ich links von mir das Schnauben eines alten Steinbockes mit mächtigen Hörnern. Den Steinböcken wachsen die Hörner während ihres ganzen Lebens, sodass man deren Alter an ihren Hornringen ablesen kann. Ich verstand sofort, was er wollte: Er wollte genau dort durchgehen, wo ich sass. Da sagte ich zu ihm: «Du bist schon viel länger hier als ich, das ist dein Weg!», und zog mich etwa sieben bis acht Meter in die Richtung, von der ich gekommen war, zurück. Darauf stolzierte der würdige Alpenkönig erhobenen und gekrönten Hauptes an mir, seinem gehorsamen Untertanen, vorbei. Ihm folgten noch drei weitere Tiere, zuhinterst das jüngste mit den am wenigsten langen Hörnern. Es waren alles nur Böcke; ich sah an jenem Tag kein einziges Weibchen oder Jungtier. Diese waren an einem anderen Ort in der Gegend versammelt. So etwas hatte ich noch nie erlebt und erzählte noch am selben Tag diese Geschichte dem mit mir befreundeten Ehepaar, das mich unten im Pays d’Entremont mit dem Auto erwartete. Als ich ihnen die Geschichte mit dem Steinbock erzählte, lachten sie herzlich darüber.

Abschnitt 67. Der Beo Als ich in jungen Jahren einmal mit dem Auto von Löwen in Belgien durch Frankreich nach Bern in die Schweiz fuhr und in Frankreich in einem Restaurant zu Mittag ass, war dort in einem Käfig ein Vogel, der zur Freude der französischen Gäste die Marseillaise, die französische Nationalhymne, pfiff. Dies brachte mich zum Lachen, indem ich dachte: Hier in Frankreich singen sogar die Vögel die Marseillaise. Auf meine Frage hin antwortete die serveuse, dass dieser Vogel un merle indien (eine indische Amsel) sei. Zu Hause in Bern schlug ich dann in meinem 13-bändigen Grzimeks Tierleben (1968) nach und fand in Band 9 (Vögel, Band 3) ein Bild dieses Beo genannten Vogels und u. a. folgende Erklärung: «Der Beo oder die Hügelatzel (lat. Gracula religiosa) bildet von Ceylon bis Heinan [zur VR China gehörige Insel] elf Unterarten aus. […] Sie lernen in der Gefangenschaft die menschliche Sprache manchmal besser als der Papagei mit sehr deutlicher Aussprache nachzuahmen, schliessen sich dem Pfleger eng an […].» (S. 455)

Abschnitt 68. Der Papagei Ein Mann besass einen Papagei, der von ihm den Satz gelernt hatte: «Wenn nur der Teufel meine Schwiegermutter holen würde!» Dies war ihm, wenn Gäste kamen, peinlich, und so gab er ihn für einige Wochen dem Pfarrer des Dorfes, der auch einen Papagei hatte, in der Hoffnung, er würde dort schönere Sprüche lernen. Nach dieser Zeit kam der Papagei zurück zu seinem Besitzer und krächzte: «Wenn nur der Teufel meine Schwiegermutter holen würde! Wir bitten dich, erhöre uns.»

16. Kapitel. Humor über christlichen Missionseifer

Abschnitt 69. Gerardo Molina Ortiz: Der junge Missionar und der Löwe Mein 1966 mit 30 Jahren innert weniger Tage an Blutkrebs verstorbener mexikanischer Freund Gerardo aus der Stadt Morelia hatte mir folgende Geschichte erzählt (wir sprachen miteinander Französisch): Ein junger Missionar wurde schon am ersten Tag seiner Missionstätigkeit in Afrika von einem Löwen überfallen. Er sprach zu Gott: «Je veux bien mourir comme missionaire et sacrifier ma vie à vous, mon Dieu, mais non pas déjà le premier jour avant avoir converti un seul paien (Ich will gerne als Missionär sterben und für dich, mein Gott, mein Leben opfern, aber nicht schon am ersten Tag, bevor ich einen einzigen Heiden bekehrt habe)». Da kniete der Löwe vor ihm nieder. Der Missionar: «O un miracle, mon Dieu, quelle grâce! Je vous en remercie infiniment (Oh, ein Wunder, mein Gott, welche Gnade! Ich danke Ihnen unendlich dafür).» Er hörte den Löwen beten: «Seigneur, bénissez ce repas que nous allons prendre! (Herr, segnen Sie die Mahlzeit, die wir einnehmen werden!)»; darauf stürzte sich der Löwe auf den Missionar und frass ihn auf.

17. Kapitel. Sigmund Freud über Humor

Abschnitt 70. Einiges aus Sigmund Freunds kurzer Abhandlung Der Humor71 Ich möchte mich hier nicht auf das Glatteis von Freuds Lehre von Es, Ich und Überich und seiner lust-ökonomischen Interpretation von psychischen Erkrankungen begeben, die in dieser Abhandlung auch berührt werden, sondern nur deren Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Humors hervorheben. Um diese Frage zu beantworten, wählt Freud ein Beispiel für Galgenhumor. Er schreibt: Wenn […] der Delinquent, der am Morgen zum Galgen geführt wird, die Äusserung tut: «Na, die Woche fängt gut an», so […] vollendet sich der humoristische Vorgang an seiner Person und trägt ihm offenbar eine gewisse Genugtuung ein.72

Kein Zweifel, das Wesen des Humors besteht darin, dass man sich die Affekte erspart, zu denen die Situation Anlass gäbe, und sich mit einem Scherz über die Möglichkeit solcher Gefühlsäusserungen hinaussetzt.73 Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik, sondern auch etwas Grossartiges und Erhebendes, welche Züge an den beiden anderen Arten des Lustgewinns aus intellektuellen Tätigkeiten [Witz und Komik] nicht gefunden werden. Das Grossartige liegt offenbar im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen der Aussenwelt kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, dass ihm die Traumen der Aussenwelt nicht nahe gehen können, ja es zeigt, dass sie ihm nur Anlässe des Lustgewinns sind. Dieser letzte Zug ist für den Humor durchaus wesentlich. Nehmen wir an, der am Montag zur Hinrichtung geführte Verbrecher hätte gesagt: Ich mach mir nichts daraus, was liegt denn daran, wenn ein Kerl wie ich aufgehängt wird, die Welt wird daran nicht zugrunde gehen, – so müssten wir urteilen, diese Rede enthält zwar eine grossartige Überlegenheit über die reale Situation, sie ist weise und berechtigt, aber sie verrät auch nicht die Spur von Humor, ja sie beruht auf einer Einschätzung der Realität, die der des Sigmund Freud, Der Humor, in: ders., Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1925 bis 1931, S. Fischer Verlag, 1. Auflage Frankfurt a. M. 1948, 5. Auflage Frankfurt a. M. 1972, S. 383–389. 72 Ebd., S. 383. 73 Ebd., S. 384.

71

17. Kapitel. Sigmund Freud über Humor

Humors direkt zuwiderläuft. Der Humor resigniert nicht, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ich, sondern auch des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag.74

Abschnitt 71. Vier Bemerkungen zu Sigmund Freuds kurzer Abhandlung Der Humor Erste Bemerkung: Freud schreib in der zitierten Abhandlung, dass «das Wesen des Humors darin besteht, dass man sich die Affekte erspart, zu denen die Situation Anlass gäbe, und sich mit einem Scherz über die Möglichkeit solcher Gefühlsäusserungen hinaussetzt». Solches «Ersparen von (schmerzlichen, schrecklichen und anderen unangenehmen) Affekten, zu denen die Situation Anlass gäbe», geschieht aber auch im Hören oder Spielen von Musik, in einem Gespräch mit einem Freund, durch eine Wanderung in und Betrachtung der schönen Natur, in der meditativen Versenkung, im Gebet und anderem. Zweite Bemerkung: Im oben zitierten Text aus Freuds Abhandlung über den Humor steht: «Das Grossartige [des Humors] liegt offenbar im Triumph des Narzissmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs.» Mir scheint, dass der Galgenhumor, von dem allein Freund in diesem Text spricht, mit Narzissmus im eigentlichen Sinn wenig zu tun hat. Die Gestalt des Narcissus (griechisch: Narkissos) stammt aus einer griechischen Sage, die verschiedene Überlieferungsvarianten hat: Narkissos ist der Sohn des Flussgottes Kephissos, verschmäht die Liebe der Nymphe Echo und wird von der Liebesgöttin Aphrodite (lateinische Entsprechung: Venus) bzw. vom Liebesgott Eros mit unstillbarer Selbstliebe bestraft. Als Narkissos sein Spiegelbild im Wasser sieht, verliebt er sich in dieses und verzehrt sich vor Gram. Nach einer Version der Sage wird er in die Blume Narzisse verwandelt; nach einer anderen stürzt er sich auf sein Spiegelbild im Wasser, umarmt es und ertrinkt. Wenn der Delinquent, der am Morgen zum Galgen geführt wird, die Äusserung tut: «Na, die Woche fängt gut an», dann triumphiert nicht sein Narzissmus und er behauptet nicht siegreich die Unverletzlichkeit seines Ich. Vielmehr erhebt er sich durch seine humoristische Haltung in Heiterkeit über sein am selben Tag bevorstehendes Leiden und Sterben. Mir scheint, dass Wilhelm Buschs oben zitiertes Gedicht aus dem Jahre 1874 über den Galgenhumor diese Situation besser ausdrückt. Ich zitiere es hier nochmals: Es sitzt ein Vogel auf dem Leim. Er flattert sehr und kann nicht heim. Ein schwarzer Kater schleicht herzu, Die Krallen scharf, die Augen gluh. 74

Ebd., S. 385.

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Teil II. Humor im gewöhnlichen Leben

Am Baum hinauf und immer höher Kommt er dem armen Vogel näher. Der Vogel denkt: Weil das so ist Und weil mich doch der Kater frisst, So will ich keine Zeit verlieren, Will noch ein wenig quinquilieren Und lustig pfeifen wie zuvor. Der Vogel, scheint mir, hat Humor.75

Der Wahrheit näher als Sigmund Freud scheint mir auch die bereits oben in der Einleitung zitierte Haltung des Romantikers Friedrich Schlegel (1772–1829) zu kommen. Er verstand die Selbstironie als eine geistige Überlegenheit, besonders des schöpferischen Menschen, der im Widrigen und Angenehmen des Lebens die Herrschaft über das Materielle und die Gefühle frei spielend zu gewinnen sucht. Dritte Bemerkung: Man kann das «Wesen des Humors» nicht aufgrund eines Beispiels von Galgenhumor bestimmen, wie dies Freud tut. Denn es gibt Humor in sehr vielen anderen Situationen, wie mein ganzer obiger Text zeigt: z. B. in Teil II das zweite Kapitel («Humor in der Funktion der politischen Kritik»), das dritte Kapitel («Humor in der Funktion der Kritik am übertriebenen Glauben an Autoritäten») und das vierte Kapitel («Humorvolle Witze in der Funktion, eine verehrte, einem selbst sympathische Person karikierend zu charakterisieren»). Vierte Bemerkung: Wie ich schon am Anfang dieser Studie sagte, kann man, scheint mir, das Wesen des Humors überhaupt nicht definieren, sondern nur verschiedene seiner Funktionen charakterisieren.

75

Busch, Sämtliche Bildergeschichten, S. 504.

Sechzehn Charakterisierungen des Humors und seiner Funktionen

Erstens, Humor ist eine mögliche Haltung der Vernunft. Zweitens, Humor ist etwas spezifisch Menschliches. Tiere haben keinen Humor. Deshalb spricht man von «tierischem Ernst», obschon Tiere auch fröhlich sein können, wenn sie spielen. Doch ist dies nicht Humor. Drittens, der Gegensatz von Humor ist Ernst, der Ernst des Lebens. Viertens, nicht alle Menschen haben und verstehen Humor. Fünftens, Humor im alltäglichen Gespräch lässt sich nicht willentlich vorausplanen, man kann sich nicht vornehmen, humorvoll zu sein. Es ist auch sinnlos, jemandem als Lebenshilfe oder Lebensberatung zu sagen oder vorzuschreiben, dass er humorvoll sein solle, weil dies guttue. Humor kommt spontan, wenn er echt ist, oder er kommt nicht. Er ist mit der Schlagfertigkeit verwandt, die man sich auch nicht vornehmen und die einem auch nicht eingetrichtert werden kann. Sechstens, Humor kommt überall vor, wo es Menschen gibt, in der Kunst (in Komödien, Opern, wortloser Musik) und im alltäglichen Leben. Siebtens, Humor enthält Unerwartetes, wenn jemand mit Humor spricht, sagt er plötzlich etwas, was der Hörer überhaupt nicht erwartet hat. Achtens, er erleichtert das Leben, indem er einen (zeitweise) über den Ernst des Lebens erhebt, von den Sorgen des Lebens befreit. Neuntens, man kann das Wesen des Humors nicht definieren, sondern nur sagen, dass er eine mögliche Haltung der Vernunft, der Gegensatz zum Ernst und den Sorgen des alltäglichen Lebens sei, und verschiedene seiner Formen und Funktionen charakterisieren. Zehntens, der Humor bringt zum Lachen, was gesund ist. Man sagt zwar: «Wir haben uns zu Tode gelacht», was aber nicht richtig ist, denn es ist noch niemand durch Lachen gestorben. Elftens, im sozialen Streit, z. B. zwischen Ehemann und Ehefrau, kann er die Schlichtung des Streites einleiten, indem er vom Zorn, der Wut, der Aufregung befreit. Zwölftens, Humor hat verschiedene Funktionen, besonders auch kritische, ihre Anzahl ist unbestimmt.

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Schluss

Dreizehntens, über den Tod anderer spricht man nicht mit Humor, über den eigenen Tod möglicherweise nur dann, wenn man zum Tod verurteilt wird (Galgenhumor). Vierzehntens, auch über die Geburt anderer und die eigene Geburt spricht man nicht mit Humor. Fünfzehntens, über Gott spricht man nicht mit Humor, es sei denn, man ist der Teufel. Sechzehntens, es gilt, was Goethe sagte: «Der Humor ist ein Element des Genies, aber sobald er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben» (Maximen und Reflexionen, § 65).

Anhang I. Das Leben von Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, geboren am 15. Januar 1622, gestorben 51-jährig am 17. Februar 1673

Molière war ein Zeitgenosse von Blaise Pascal (1623–1662). Er war ein Jahr älter als dieser und starb elf Jahre nach diesem. Beide lebten einen grossen Teil ihres Lebens in Paris, Molière länger als Pascal. Beide waren Beobachter und Analysten des menschlichen Verhaltens, vor allem von dessen Niedrigkeit und Lächerlichkeit. Beide waren Meister der Ironie, welche bei Pascal vor allem in seinen zwischen Januar 1656 und März 1657 entstandenen 18 Lettres Provinciales (mit dem Fragment eines 19. Briefes) zum Ausdruck kommt. In dieser Zeit (1656) schrieb Molière seine vierte Komödie, Dépit amoureux. Beide Schriftsteller waren in Paris berühmte Persönlichkeiten. Ich nehme an, dass sie voneinander wussten. Aber wahrscheinlich kannten sie sich nicht persönlich. Sie verkehrten in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus. Molière lebte im nördlichen Teil von Paris, im Teil der Gewerbetreibenden und der Händler, im Norden der Seine; Pascal südlich der Seine, im Teil des Quartier Latin, der Sorbonne und der Intellektuellen. In Molières Theaterstücken und Poesien wird Pascal, dieser Meister der französischen Sprache, nirgends erwähnt, und in Pascals Schriften ist der Name Molière nicht zu finden. Wahrscheinlich hat Pascal nie eine Komödie von Molière besucht, dies hätte er wahrscheinlich als divertissement (Ablenkung) empfunden. In Pensée 620 (nach der Ausgabe der Pensées von Louis Lafuma, Paris 1962) schrieb Pascal: Der Mensch ist klar zum Denken gemacht. Das ist seine ganze Würde, sein ganzes Verdienst; und seine ganze Pflicht besteht darin, zu denken, wie man soll (comme il faut). Nun besteht die Ordnung des Denkens darin, bei sich selbst anzufangen und bei seinem Schöpfer und seinem Ziel. Aber woran denkt die Welt? Nie an das, sondern ans Tanzen, ans Lautenspiel, ans Singen, ans Verseschmieden […].

In der nun folgenden Biografie Molières stütze ich mich nur auf die oben im zweiten Kapitel, Abschnitt 7, erwähnte Chronologie. Die Biografie La vie de M. de Molière von Grimarest, d. h. Jean-Léonor le Gallois, Sieur de Grimarest, liess ich beiseite. Grimarest wurde wahrscheinlich in Paris geboren, man weiss nicht genauer wann, und starb um 1715. Er wäre völlig vergessen worden, wenn er nicht La vie de M. de Molière geschrieben hätte. Diese Biografie ist die erste Biografie

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Anhang

über diesen Komödiendichter, aber alles andere als wissenschaftlich-historisch abgesichert. Einiges davon hat die spätere historische Forschung als richtig anerkannt, anderes als falsch aberkannt. Die Chronologie ist historisch weit abgesicherter. Was Grimarests Beschreibung an historisch Bestätigtem enthält, wird auch in der Chronologie angeführt. Deshalb stütze ich mich im Folgenden ausschliesslich auf Letztere und füge nur einige Erläuterungen aus anderen Quellen an. Jean-Baptiste Poquelin (nachmals Molière) wurde am 15. Januar 1622 im Gewerbe- und Händlerviertel von Paris im Norden der Seine an der Rue SaintHonoré Nr. 93 als ältestes von sechs Kindern geboren; zwei davon starben noch im Kindesalter. Am selben Tag wurde er in der nahe gelegenen Kirche SaintEustache getauft. Die Rue Saint-Honoré ist eine sehr lange Strasse, die von den damaligen Halles (Markthallen) im Osten über die heutige Comédie Française zur Kirche Saint Philippe du Roule im Westen führt. Seine Eltern, Jean Poquelin und Marie Cressé, waren wie ihre Gross- und Urgrosseltern wohlhabende Händler für Innenausstattungen (marchands tapissier). Am 11. Mai 1632, als JeanBaptiste zehn Jahre alt war, wurde seine Mutter begraben. Jedem ihrer vier Kinder hinterliess sie ein Erbe von 5000 Pfund. Ein Jahr später, am 30. Mai 1633, verheiratete sich Jean Poquelin, der Vater von Jean-Baptiste, mit der Händlertochter Catherine Fleurette. Darauf installierte sich die Familie Poquelin-Fleurette in den Arkaden der Pariser Markthallen (les Halles). Am 15. März wurde die Halbschwester von Jean-Baptiste , Cathérine, geboren, die Nonne (religieuse) werden sollte. 1635, im Alter von 13 Jahren, wurde Jean-Baptiste externer Schüler des Jesuitenkollegiums Clermont in Paris, wo er eine solide humanistische Ausbildung erhielt und wo auch die beiden römischen Komödiendichter Plautus und Terenz studiert wurden. Unter den Komödien des Plautus befinden sich freie Bearbeitungen von Komödien des Menander. Es ist wahrscheinlich, dass Molière auf diesem Weg die Idee des Misanthropen von Menanders Komödie Dyskolos hat. Doch Molières Misanthrope ist eine ganz andere Gestalt. Unter seinen dortigen Mitschülern befanden sich u. a. der Prinz von Conti, der Bruder des Grand-Condé; Chapelle, zusammen mit Bachaumont Autor des Werkes Voyage (Reise); Bernier, der durch seine Reisen in den Fernen Osten berühmt wurde; und der künftige Schriftsteller und Freidenker Cyrano de Bergerac (1619–1655). Als Jean-Baptiste 14 Jahre alt war, am 12. November 1636, starb seine Stiefmutter Catherine Fleurette bei der Geburt eines Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Am 18. Dezember des nächsten Jahres, 1937, kurz vor seinem 16. Geburtstag, leistete Jean-Baptiste einen Eid darauf, dass er den väterlichen Auftrag als tapissier du roi (Tapezierer und Möbellieferant des Königs) weiterführen werde. Jean-Baptistes Grossvater mütterlicherseits war ein Theaterliebhaber und nahm seinen jungen Enkel immer wieder zu Theateraufführungen mit, besonders zum volkstümlichen Jahrmarkttheater (théâtre de la foire).

I. Das Leben von Molière

1640, nach Abschluss seiner fünf Jahre dauernden Studien am Jesuitenkollegium Clermont in Paris, begann der 16-jährige Jean-Baptiste Poquelin das Studium des Rechts in Orléans, das er mit dem Titel eines Advokaten abschliessen sollte. Im selben Jahr 1640 kam Tiberio Fiorelli (Scaramouche genannt, 1608– 1694), Schauspieler und Erneuerer der italienischen Komödie (Commedia dell’Arte), nach Paris. Jean-Baptiste Poquelin lernte ihn kennen und erhielt von ihm wahrscheinlich Unterricht. 1643, 21-jährig, entschied sich J.-B. Poquelin endgültig für das Theater. Er verzichtete auf den väterlichen Auftrag des tapissier du roi. Dadurch erhielt er die Summe von 639 Pfund als Vorschuss auf seinen Erbanteil. Als Wohnsitz nahm er ein Haus in der Rue de Thorigny. Am 30. Juni dieses Jahres 1643 schloss er sich durch einen Vertrag mit Madeleine Béjart, ihrer jüngeren Schwester Geneviève Béjart, ihrem älteren Bruder Joseph und fünf anderen Komödianten zur Vereinigung L’Illustre-Théâtre zusammen. Die Hauptperson in dieser Vereinigung war Madeleine Béjart. Sie allein hatte das Recht, «die Rolle zu wählen, die ihr gefallen wird». J.-B. Poquelin und zwei andere Mitglieder der Gruppe hatten tragische Rollen zu spielen. Am 1. Januar 1644 wurde das Illustre-Théâtre eröffnet. Es befand sich an der Porte de Nesle, einem ehemaligen westlichen Ausgangstor von Paris, was den heutigen Nummern 10–14 der Rue Mazarin in der Nähe des Institut de France am südlichen Ufer der Seine gegenüber dem Louvre am Nordufer entspricht. Auf dem Programm standen ein Bühnenwerk von Tristan L’Hermite (François L’Hermite, Seigneur du Solier, 1601–1655) und eines von Pierre Du Ryer (ca. 1600–1658). Diese Aufführungen waren ein vollständiger Misserfolg. Am 28. Juni desselben Jahres 1644 übernahm Jean-Baptiste Poquelin unter dem Namen Molière die Theatertruppe. «Molière» war der Name eines Komödianten und des Autors des damals sehr bekannten Romans Polyzène. Die Theatertruppe hatte die Unterstützung von Tristan L’Hermite. Am 19. Dezember dieses Jahres war Molière völlig verschuldet und musste den Vertrag mit dem Vermieter des Theatersaales Jeu de Paume des Métayers kündigen. Die verkleinerte Theatergruppe mietete den Theatersaal Jeu de Paume de la Croix Noire am ehemaligen Stadttor Saint-Paul, heute Quai des Célestins Nr. 12, am Nordufer der Seine ganz im Osten des damaligen Paris. Die Theatergruppe war dort völlig vom SaalVermieter und Kreditgeber François Pommier abhängig. Am 8. Januar 1645 wurde dort das Illustre-Théâtre neu eröffnet, aber es war ihm kein Erfolg beschieden. Da Molière die dem Kerzenlieferanten Antoine Fausser geschuldeten 142 Pfund für die Theateraufführungen nicht bezahlen konnte, wurde er am 2. August 1645 im Gefängnis Châtelet eingekerkert. Auch andere Kreditgeber widersetzten sich Molières Entlassung aus dem Gefängnis, sodass diese erst am 5. August dadurch erfolgen konnte, dass ein Freund der Theatergruppe, der Pflasterer und Steinsetzer Léonard Aubry, Bürge stand. Doch war dies auch das Ende des IllustreThéâtre. Am Ende desselben Jahres 1645 verliessen Molière und jener Teil, der

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von seiner Theatergruppe übrig blieb, Paris Richtung Bordeaux. Sie verbanden sich mit der aus zwischen 20 und 25 Komödianten bestehenden Theatergruppe von Ch. Du Fresne, die von Duc (Herzog) d’Epernon, Gouverneur der Guyenne, patroniert wurde. Damit begann für Molière das Leben einer fahrenden Theatertruppe, das bis 1658 dauern sollte, 13 Jahre lang, bis zu Molières 36. Lebensjahr. Die Truppe spielte in Bordeaux, Toulouse, Albi, Carcassonne, Nantes, Poitiers, wiederum Toulouse, Montpellier, Lyon, Grenoble. Zwischen 1653 und 1655 wurde Molière der eigentliche Chef der Theatergruppe, welche damals den Namen ihres Mäzens übernahm, des Monsieur le Prince de Conti, des Gouverneurs der Languedoc. 1655 wurde die erste Komödie von Molière aufgeführt: L’Etourdi (Der Unbesonnene, Leichtsinnige); 1656 seine zweite: Dépit amoureux (Verliebter Verdruss/Ärger). Doch 1655 bekehrte sich der Prince de Conti, der Mäzen der Komödiantengruppe Molières, zu einem strengen Christentum, sodass er 1657 seine Patronage dieser Theatergruppe aufgab und als Mitglied der Confrérie du Saint-Sacrement (Bruderschaft des heiligen Sakramentes) zum erbitterten Gegner von Molière wurde. Ganz offensichtlich hielten die strengen Katholiken Frankreichs, zu denen damals auch Pascal gehörte, das Komödiantentum für mit dem Christentum unvereinbar. Nach der Rückkehr nach Paris unter der neuen Patronage des Bruders des französischen Königs konnte Molières Theatergruppe am 24. Oktober 1658 vor dem königlichen Hof auftreten. Während sich König Ludwig XIV. bei der Aufführung der Tragödie Nicomède von Pierre Corneille (1605–1684) ein wenig langweilte, amüsierte er sich köstlich über Molières Komödie Docteur amoureux. Dies hatte zur Folge, dass Molières Truppe in der königlichen Salle du PetitBourbon im Wechsel mit der italienischen Truppe von Saramouche ihre Aufführungen geben durfte. Dies war Molières Durchbruch und der Beginn seines wachsenden Erfolges auch bei einem weiten Theaterpublikum. 1659 bestand seine Theatergruppe aus sechs Schauspielern (Molière mit eingerechnet) und vier Schauspielerinnen. Nachdem im Juli die italienische Truppe von Saramouche nach Italien zurückgekehrt war, konnte Molières Truppe allein über die Salle du Petit-Bourbon verfügen. Am 5. April 1660 starb Molières Bruder Jean Poquelin. Darauf versöhnte sich Molière mit seinem Vater und übernahm wiederum die Aufgabe des tapissier du Roi. Am 20. Januar 1661 begann Molières Theatergruppe im Palais Royal (im königlichen Palast) zu spielen. Die erste Aufführung, diejenige von Molières Komödie Dom Garcie de Navarre, war ein Misserfolg, der aber aufgewogen wurde durch den grossen Erfolg seiner Komödie L’Ecole des maris (Die Schule der Ehegatten). Am 17. August wurde Molières Komödie Les Fâcheux (Die Lästigen) vor dem König und am 25. August vor dem königlichen Hof im Schloss Fontainebleau aufgeführt.

I. Das Leben von Molière

Am 23. Januar 1662, als Molière 40 Jahre alt war, wurde der Heiratsvertrag mit der ungefähr 20 Jahre jüngeren Armande Béjart, der Tochter oder jüngeren Schwester von Madeleine Béjart, abgeschlossen. Am 20. Februar fand die kirchliche Hochzeit in der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois statt. Vom 26. Dezember dieses Jahres 1662 an wurde während drei Wochen Molières Komödie L’Ecole des femmes (Die Schule der Frauen) mit einem enormen Erfolg aufgeführt. Die Einnahmen beliefen sich auf 11’000 Pfund, was den Neid und die Verunglimpfung durch seine Konkurrenten erregte. Am 6. Januar 1663 wurde diese Komödie im Theater des Königspalastes Louvre aufgeführt. Nach Dokumenten «lachte der König so sehr, dass er sich den Bauch halten musste». Am 17. März publizierte Molière diese Komödie und kündigte im Vorwort dazu an, dass er den Streit um diese Komödie auf die Bühne bringen werde. Am folgenden 3. April gewährte Ludwig XIV. Molière als «excellent poète comique (vorzüglicher Komödiendichter)» eine jährliche Pension von 1000 Pfund (livres). Am 1. Juni dieses Jahres wurde zum ersten Mal Molières Komödie Critique de l’Ecole des Femmes gespielt, die er in jenem Vorwort angekündigt hatte. Diese Aufführung hatte zur Folge, dass Molière von seinen Gegnern auf der Strasse misshandelt wurde. Am 7. August dieses Jahres publizierte Molière diese Komödie mit einer Widmung an die Königsmutter. Am 19. Januar 1664 wurde Molières und Armande Béjarts erster Sohn Louis geboren. Er wurde am 28. Februar in der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois getauft, wobei König Louis XIV. und die Königin Pate und Patin standen. Doch schon nach zehn Monaten, am 10. November, sollte dieser erste Sohn Molières sterben. Am 29. Januar dieses Jahres 1664 wurde im Louvre Molières Komödie Le mariage forcé (Die erzwungene Ehe) gespielt, in der König Ludwig XIV. als Ägypter verkleidet tanzte. Diese Aufführung war der Anfang einer achtjährigen Zusammenarbeit zwischen Molière und dem königlichen Hofkomponisten JeanBaptiste Lully (1632–1687). Am 8. Mai dieses Jahres 1664 wurden im königlichen Schloss Versailles am sechsten Tag eines vom König der Königin dargebotenen Festes die ersten drei Akte von Molières Tartuffe ou l’imposteur (Tartuffe oder der religiöse Heuchler/Betrüger) aufgeführt. Diese drei Akte hatten im Juli/ August dieses Jahres 1664 die sogenannte «affaire Tartuffe» zur Folge. Vor ihrer Fertigstellung wurde diese Komödie aufgrund der von der Königsmutter unterstützen Intervention der Confrérie du Saint-Sacrement (Bruderschaft des Heiligen Sakramentes) verboten. Sie war vom Pfarrer Pierre Roullé im Büchlein Le Roi glorieux du monde denunziert worden. Dieses Büchlein bzw. dessen Autor bezeichnet Molière als «homme ou plutôt un démon vêtu de chair et habillé en homme et le plus signalé impie et libertin qui fût jamais (Menschen oder eher als einen mit Fleisch und Kleidern verkleideten Dämonen und den berüchtigtsten Gottlosen und Freidenker, den es je gab)», «au dernier supplice exemplaire et public et le feu même (bestimmt zur exemplarischen und öffentlichen Todesstrafe

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und selbst zum Feuer)». Am 4. August wurden die ersten drei Akte des Tartuffe vor Kardinal Chigi, Neffe und Legat von Papst Alexander VII., vorgelesen. Dieser gab dazu seine Approbation. Am 31. August gab König Ludwig XIV. dazu sein Plazet und blieb gegenüber den Attacken gegen Molière unbeugsam. Am 25. September wurden die drei ersten Akte des Tartuffe beim König in Villers-Cotterèts aufgeführt. Am 29. September wurde auf Anordnung des Prince de Condé (1621–1686), erster Prinz vom Geblüt des Königshauses Bourbon, bei der Prinzessin Palatine in Raincy die ganze Komödie Tartuffe mit allen fünf Akten gespielt. Am 15. Februar 1665 wurde mit Erfolg Molières Komödie Dom Juan ou le festin de pierre aufgeführt. Darauf erschien am 18. April 1665 Januar Rochemonts Pamphlet «Observations sur la comédie Dom Juan», das wahrscheinlich von Freunden des berühmten Klosters Port-Royal inspiriert war, mit dem Blaise Pascal (gestorben 1662) eng verbunden gewesen war. Am 3. August 1665 wurde Molières Tochter Esprit-Madeleine geboren, die 1773 ohne Nachkommenschaft sterben sollte. Pate standen bei der Taufe Madeleine Béjart und der Fürst von Modène. Am 14. August dieses Jahres 1665 erhielt Molières Theatergruppe das Privileg, den Titel «Troupe du Roi au Palais-Royal» zu tragen, und die jährliche königliche Pension Molières wurde auf 6000 Pfund erhöht. Am 17. Dezember spie Molière Blut und musste sein Theaterspiel bis zum Ende des Winters im Jahre 1666 einstellen. Im Frühling wurden die Spannungen zwischen ihm und seiner Frau so gross, dass sie sich entschieden, getrennt zu leben. Molière mietete sich darauf ein Haus auf dem Land in Auteuil im Südwesten von Paris. Am 4. Juni 1666 wurde die Tragikomödie Le Misanthrope zum ersten Mal aufgeführt, an der er zwei Jahre gearbeitet hatte, länger als an jeder anderen Komödie. Molière spielte dabei die Rolle des Alceste, des Menschenfeindes. Im Frühling 1667 wurde Molière erneut krank und konnte während zwei Monaten nicht auftreten. Am 5. August dieses Jahres 1667 fand die erste Vorstellung der Komödie L’imposteur (Der religiöse Heuchler), eine gemilderte Version des Tartuffe, statt, die Vorstellung war eine Sensation. Doch am Tag danach verbot in Abwesenheit des Königs, der auf einem Feldzug in Flandern war, Präsident Guillaume I. de Lamoignon, Marquis de Basville (1617– 1677), weitere Aufführungen dieser Komödie. Am 11. August erliess der Erzbischof von Paris, Hardouin de Péréfixe, den Erlass, dass diese Komödie unter Androhung der Strafe der Exkommunikation weder gelesen noch angehört werden dürfe. Am 20. August erkrankte Molière in seinem Haus in Auteuil wiederum für mehr als einen Monat. Am 13. Januar 1668 wurde Molières Komödie Amphytrion und am 14. März seine Komödie Tartuffe im Hôtel de Condé aufgeführt. Die Aufführung des L’Avare (Der Geizige) im Palais Royal am 9. September war ein Misserfolg. Die Gesundheit Molières wurde immer schlechter, es ging sogar das Gerücht um, dass er gestorben sei. Seine finanzielle Lage wurde so schlecht, dass er sich bei seinem Vater Geld ausleihen musste. Vom 5. Februar 1669 bis an Ostern dieses

I. Das Leben von Molière

Jahres konnte der Tartuffe in seiner ursprünglichen und auch in seiner abgeschwächten Gestalt aufgrund eines dritten königlichen Plazets aufgeführt werden. Im September dieses Jahres 1669 folgte Molières Theatergruppe dem königlichen Hof nach Chambord, wo zum ersten Mal Molières Komödie Monsieur de Pouceaugnac aufgeführt wurde; am 15. November wurde sie im Palais Royal mit grossem Erfolg wiederholt. Im Januar 1670 publizierte Le Boulanger de Chalussay das satirische Stück L’Elomire [Anagramm von Molière] hypochondre, also eigentlich «Der hypochondrische Molière». Molière erhielt im selben Monat Januar den Auftrag, vom 30. Januar bis zum 18. Februar in Saint-Germain den König zu unterhalten. Am 23. November dieses Jahres 1670 triumphierte im Palais Royal zum ersten Mal Molières Komödie Le Bourgeois gentilhomme (Der Bürger als Edelmann). Am 17. Januar 1671 fand die Premiere von Molières Psyché in der Salle des machines in den Tuilerien statt. Molière investierte darauf eine grosse Summe, um den Palais Royal seiner Psyché entsprechend einzurichten, die dort am 24. Juli dieses Jahres gespielt wurde. Dies verärgerte den königlichen Hofkomponisten JeanBaptiste Lully, mit dem er in den vergangenen acht Jahren zusammengearbeitet hatte. Denn dieser hatte kurz zuvor an der Rue Mazarine die prächtige Opéra bauen lassen. Am 8. Juli 1672 fand im Palais Royal die Premiere von Molières Comtesse d’Escarbagnas statt, ohne die Musik von Lully. Am 26. Juli 1672 unterschrieb Molière den Mietvertrag für ein Haus an der Rue Richelieu, wo er bis zu seinem Tod wohnen sollte. Er versöhnte sich damals auch mit seiner Frau Armande. Am 17. September 1672 wurde ihr dritter Sohn geboren, dem der Name Pierre Jean-Baptiste Armand gegeben wurde. Den Vornamen seiner Eltern ging der Vorname seines Paten voraus, Pierre Boileau. Ein Monat nach seiner Geburt, am 16. Oktober 1672, starb auch dieser Sohn. Mit angeschlagener Gesundheit und gegen den Rat seiner Freunde erschöpfte sich Molière Anfang 1673 mit den Repetitionen seiner Komödie Le Malade imaginaire (Der bloss durch Einbildung Kranke) mit der Musik des hervorragenden und Lully überlegenen Komponisten Marc Antoine Charpentier (1643– 1704). Schon vor Weihnachten hatte er gewusst, dass diese Komödie nicht vor dem Hof gespielt werden würde, da Ludwig XIV. Lully die Exklusivität der musikalischen Aufführungen zugesichert hatte. Die Premiere von Le Malade imaginaire fand am 10. Februar 1673 mit grossem Erfolg statt. Bei der vierten Aufführung dieser Komödie am 17. Februar 1673 wurde Molière von Krämpfen erfasst. Er wurde in sein Haus an der Rue Richelieu gebracht, wo er an Blutungen starb. Vor seinem Tod hatte er nach einem Priester verlangt. Dieser Bitte wurde nicht entsprochen. So begleiteten ihn bei seinem Tod zwei religiöse Schwestern (Nonnen). Am 21. Februar fand um neun Uhr abends in der Dunkelheit sein Begräbnis auf dem Friedhof Saint-Josef statt. Der Pfarrer der Kirchgemeinde Saint-Eustache, zu der die Bewohner der Rue Richelieu gehörten, verweigerte aufgrund eines

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Reglements die religiöse Leitung des Begräbnisses. Doch aufgrund der Bitten von Molières Frau Armande und von Monsieur Baron empfahl König Ludwig XIV. dem Erzbischof von Paris, Monseigneur de Harley, «den Skandal zu vermeiden». Der Erzbischof erteilte dazu dem Pfarrer eine beschränkte Autorisation. Dies verhinderte nicht, dass ein grosser Leichenzug den Toten zum Friedhof Saint-Josef und dem dortigen Begräbnis begleitete. Anlässlich dieses Begräbnisses liess Molières Frau Armande Almosen im Wert von 1200 Pfund an die Armen verteilen. 1674 ging das Gerücht um, dass der Leichnam von Molière aus seinem Grab auf dem Friedhof Saint-Josef exhumiert und in die gemeinsame Grube der mit dem Kirchenbann Belegten und Ungetauften geworfen worden sei. 1772 wurden diese Leichname dort wieder ausgegraben und in das Stadthaus des dritten Arrondissements von Paris gebracht. Am 28. Januar 1676 kamen Michel de Montaignes Essais, denen Molière nahestand, auf den römischen Index librorum prohibitorum (Index verbotener Bücher). Vom Stadthaus des dritten Arrondissements von Paris wurden die Gebeine Molières ins Kloster der Kleinen Augustiner (Petits-Augustins) gebracht und schliesslich auf dem Friedhof PèreLachaise begraben. Ob im dortigen Grab Molières wirklich dessen Gebeine ruhen, ist völlig ungewiss. Nach Molières Tod blieb seine Theatergruppe berühmt genug, um diejenige des Marais zu absorbieren. Sie erhielt den Namen Troupe du Roi. Sie stand unter der Leitung von Molières Frau Armande und La Grange. Am 18. August 1680, sieben Jahre nach Molières Tod, wurde auf Anordnung von Ludwig XIV. die Comédie Française, «Molières Haus», im Herzen des Palais Royal gebaut. Diese wird heute von den Parisern einfach «la Française» genannt.

Anhang II. Die Überlieferungsgeschichte von Menanders Komödien

Menander ist der letzte Klassiker unter den griechischen Dramatikern (Tragödien- und Komödiendichtern). Er lebte in der hellenistischen Zeit, welche mit dem Abschluss der Eroberung des persischen Königreiches durch Alexander den Grossen (329 v. Chr.) begann. Neben Aristophanes ist Menander der einzige Komödiendichter, von dessen Werk wir uns ein Bild machen können. In seinen nur ungefähr 50 Lebensjahren bzw. ungefähr 30 Schaffensjahren brachte er mehr als 100 Werke auf die Bühne. Er muss durchschnittlich pro Jahr etwa drei Komödien geschrieben haben. Mit nur acht Siegen im Wettbewerb der Komödien verschiedener Dichter war Menander zu seinen Lebzeiten nicht besonders erfolgreich. Von seinem reichen Werk ist allein der Dyskolos nahezu vollständig erhalten. Drei Komödien, nämlich Aspis (Der Schild), Epitrepontes (Das Schiedsgericht) und Samia (Die Frau aus Samos) lassen sich in ihrem Ablauf wenigstens überblicken. Diese fragmentarische Überlieferung seines Werkes erklärt sich dadurch, dass es in der Antike als zu einfach galt, als dass es des wissenschaftlichen Kommentars benötigt hätte. Jeder gebildete Grieche und Römer hatte es gelesen, und noch Jahrhunderte nach Menanders Tod beherrschten seine Komödien neben den Tragödien des letzten der drei grossen athenischen Tragödiendichter, Euripides (vor 480 bis 405 v. Chr.), des jüngeren Zeitgenossen des Aristophanes, die Bühnen der griechischsprachigen Welt. Doch trotz seiner grossen Beliebtheit ging sein Werk in der Spätantike unter. Kein Exemplar seiner Werke fand daher den Weg ins Oströmische Kaiserreich, nach Byzanz; Menander war verschollen. Durch die lateinischen Bearbeitungen einzelner seiner Werke durch die römischen Komödiendichter Plautus (geboren vor 250 v. Chr. in Umbrien, gestorben 184 v. Chr. in Rom) und Terenz (geboren 190 v. Chr. in Karthago, gestorben 159 v. Chr. in Griechenland) liess sich kein verlässliches Bild seiner Kunst gewinnen. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein durch den ägyptischen Wüstensand gut erhaltenes, sorgfältig geschriebenes Papyrusbuch entdeckt. Dieser 1907 veröffentlichte Papyrus Cairensis (genannt nach Kairo, seinem Aufbewahrungsort) enthält Teile von fünf Menander-Komödien. Ein halbes Jahrhundert später wurde ein weiterer Papyrus-Codex gefunden, der in die Sammlung des Genfer Bibliophilen Baron Martin Bodmer gelangte (seit 2019 Fondation

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mer, Cologny, Genève). Dieser Codex aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts enthält Teile von drei Komödien des Menander, von denen die mittlere, der Dyskolos, bei Weitem am besten erhalten ist. Der Dyskolos wurde im Oktober 1958 publiziert. Seither haben viele Gelehrte weltweit an der Rekonstruktion des originalen Textes gearbeitet.

Zitierte Literatur

Aristophanes, Die Wolken (423 v. Chr.): – Griechischer Text (Νεφέλαι, Nephelai): The Comedies of Aristophanes, Vol. 3: Clouds. Edited with Translation and Notes by A. H. Sommerstein, Warminster 1982. – Deutsche Übersetzung: Aristophanes, Die Wolken, aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg, Reclam Verlag, Stuttgart 2014. – Griechisch-französische Parallelausgabe: Aristophane, Comédies, Nuées/Νεφέλαι, premier volume, texte établie par Victor Coulon et Jean Irigion, traduit par Lilaire van Daele, Les Belles Lettres, Paris 2002. Busch, Wilhelm, Sämtliche Bildergeschichten. Mit über 3300 Zeichnungen und einer Auswahl der schönsten Gedichte, Prisma Verlag, Gütersloh 1985. Freud, Sigmund, Der Humor, in: ders., Gesammelte Werke, Werke aus den Jahren 1925 bis 1931, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. , 5. Auflage 1972, S. 383–389. Goethe, Johann Wolfgang, Maximen und Reflexionen, § 65. Ders.,Faust, in ursprünglicher Gestalt (Urfaust), in: Berliner Ausgabe, Band 8: Dramatische Dichtungen, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1973, S. 7–143. Ders., Faust. Eine Tragödie, in: Berliner Ausgabe, Band 8: Dramatische Dichtungen, AufbauVerlag, Berlin und Weimar 1973, S. 147–545. Ders., Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 18. August 1949, herausgegeben von Ernst Beutler, Band 20: Briefwechsel mit Friedrich Schiller, Artemis Verlag, 2. Auflage Zürich und Stuttgart 1964. Gogol, Nikolai, Die Nase (1836), in: ders., Sämtliche Erzählungen, aus dem Russischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Josef Hahn, Winkler Verlag, München 1961, ungekürzte Lizenzausgabe für den Bücherclub Ex Libris Zürich, S. 563–593. Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreiches, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1968, Band 9 (Vögel, Band 3). Kern, Iso, Die Religion von Philosophen. Konfuzius, Sokrates, Epiktet, Montaigne, Pascal, Schwabe Verlag, Basel 2021. Ders., Was ist Vernunft?, Schwabe Verlag, Basel 2022. Loriot [Bernhard-Victor Christoph-Carl von Bülow, kurz Vicco Bülow], Menschen, Tiere, Katastrophen, Reclam Verlag, Stuttgart 1992. Menander, Dyskolos. Der Menschenfeind. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Horst-Dieter Blume, Reclam Verlag, Stuttgart 2007. Molière [Jean-Baptiste Poquelin], Œuvres complètes, Préface par Pierre-Aimé Touchard, Administrateur général honoraire de la Comédie Française, Directeur général des spectacles, Aux Editions du Seuil, Paris 1962, S. 323–345. Molière, Le Misanthrope / Der Menschenfeind. Französisch-Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Hartmut Köhler, Reclam Verlag, Stuttgart 1993.

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Pascal [Blaise], Œuvres complètes, présentation et notes de Louis Lafuma, Aux Editions du Seuil, Paris 1963. Platon, Des Sokrates Apologie, bearbeitet von Heinz Hofmann, griechischer Text von Alfred Croiset, Louis Bodin, Maurice Croiset et Louis Méridier, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, in: Platon, Werke in acht Bänden, Band 2, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, 17a–41d. Schostakowitsch, Dimitrij, Die Nase, Oper in drei Akten (zehn Bildern) 1928 (aufgrund von Nikolai Gogols gleichnamiger Novelle: Die Nase, 1836).

Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»

Wie sich die Vernunft im Humor zeigt Beispiele aus der Kunst und dem gewöhnlichen Leben Humor ist nicht definierbar, so die Position dieses Bandes. Da man also nicht sagen kann, was Humor genau ist, nähert sich der Autor seinem Thema, indem er fragt, was dieser bewirken soll. Im ersten Teil des Buches («Humor in der Form der Kunst») erörtert er die Funktionen von Humor anhand von einem weiten Spektrum literarischer Beispiele. Neben zwei antiken griechischen Komödien nimmt er etwa die Komödie «Der Menschenfeind» von Molière und die humoristische Novelle «Die Nase» von Gogol in den Blick, ausserdem Gedichte von Wilhelm Busch und eine Erzählung von Loriot. Im zweiten Teil untersucht er diese Frage anhand von Beispielen aus dem alltäglichen Leben: Humor in der Politik, der Karikierung von verschiedenen Nationen und Volksgruppen («die Preußen», «die Wiener») sowie von Berufsgruppen (Professoren, Philosophen), in Kinderliedern und anderem. Iso Kern promovierte mit einer Untersuchung über das Verhältnis von Husserl zu Kant in Löwen. Er edierte drei Bände über die Phänomenologie der Intersubjektivität aus Edmund Husserls Nachlass, ehe er sich an der Universität Heidelberg habilitierte. Es folgten Lehrtätigkeiten in Heidelberg, Bern, Zürich und Freiburg i. Ue. In dieser Zeit veröffentlichte er zum Verhältnis von europäischer und chinesischer Philosophie und zu phänomenologischen Fragen. Bei Schwabe erschienen von Iso Kern Das Wichtigste im Leben (2010), Der gute Weg des Handelns (2020), Die Religion von Philosophen (2021), Erinnerung – Personale Einheit – Reflexion (2021), Phänomenologie der Intersubjektivität und metaphysische Monadologie (2021) sowie Was ist Vernunft? (2022).

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