Tröstlich predigen im Krankenhaus: Anleitung und Beispiele 9783666630446, 9783525630440, 9783647630441

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Tröstlich predigen im Krankenhaus: Anleitung und Beispiele
 9783666630446, 9783525630440, 9783647630441

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

DIENST AM WORT Die Reihe für Gottesdienst und Gemeindearbeit Band 150

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Hans Günter Scheuer

Tröstlich predigen im Krankenhaus Anleitung und Beispiele

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Für Claudia, meine Frau, ohne deren Ermutigung dieses Buch nie zustande gekommen wäre.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-63044-0 ISBN 978-3-647-63044-1 (E-Book) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: E Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Predigten im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Advent: Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! 19 Advent: Ich bin das Licht der Welt! . . . . . . . . . . . . 24 Weihnachten: Wir haben seinen Stern gesehen . . . . . 29 Weihnachten: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Jahreswechsel: Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Epiphanias: Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe . . . . . . . . . . . . . . 46 Passionszeit: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt . . . . . . 51 Passionszeit: Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Passionszeit: Die Verleugnung des Petrus . . . . . . . . 62 Passionszeit: Aus der Tiefe rufe ich zu dir . . . . . . . . 66 Karfreitag: Jesus von Nazareth, der König der Juden . . 69 Karsamstag: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? . . . . . . . . . . . . . . 74 Ostern: Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Erster Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti): Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube umsonst 84 Fünfter Sonntag nach Ostern (Rogate): Bittet, so wird euch gegeben . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Pfingsten: Wenn der Tröster zu euch kommen wird . . 94 Nach Trinitatis: Ihr seid das Salz der Erde! . . . . . . . 99 Nach Trinitatis: Talita kum! . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Nach Trinitatis: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Nach Trinitatis: Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Nach Trinitatis: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Nach Trinitatis: Der sinkende Petrus . . . . . . . . . . 124 Nach Trinitatis: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Nach Trinitatis: Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen . . . . . . . 133 Nach Trinitatis: Und du darfst hinter mir her sehen . . 138 Nach Trinitatis: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ende des Kirchenjahres: Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Gedenkgottesdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Gedenkgottesdienst: Und der Tod wird nicht mehr sein 155 Gedenkgottesdienst: Sieh, in die Hände habe ich dich gezeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

4. Trauerfeiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Trauerfeier für Kurt: Dein Wille geschehe . . . . . . . . 165 Trauerfeier für Anette: Die Liebe höret niemals auf . . 171

6 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

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Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser, als Pfarrer in der Evangelischen Kirche von Westfalen arbeite ich seit 1991 als Krankenhausseelsorger am St. Marien-Krankenhaus in Siegen. Das ist eine lange Zeit, in der sich das Krankenhaus, seine Strukturen und seine Abläufe sehr verändert haben. Aber eines ist so geblieben, wie es am Anfang war: die Menschen, die dieses Haus aufsuchen – auch wenn sie heute andere Namen tragen als vor zwanzig Jahren. Noch immer werden sie mit Diagnosen lebensbedrohlicher Erkrankungen konfrontiert, noch immer müssen sie sich mit den Folgen von Operationen auseinandersetzen, die ihren Körper für immer verändern. Noch immer kommen Angehörige in dieses Haus, die wissen, dass sie den von ihnen geliebten Menschen, den Vater, die Mutter, den Ehepartner, das Kind, den Freund verlieren werden. Natürlich geht es nicht allen Patienten und Angehörigen so, aber nicht wenige sind genau in dieser Situation. Als Krankenhausseelsorger habe ich es meist mit diesen Menschen zu tun, die ich eben andeutungsweise versucht habe zu beschreiben – nur andeutungsweise, denn würde ich hier mehr als Andeutungen liefern, so würde allein die Schilderung der Menschen und ihrer verschiedenen Schicksale ein Buch füllen. Ich betreue im Marienkrankenhaus hauptsächlich Menschen, die an Krebs erkrankt sind; hinzu kommen noch Patienten der Intensivstation bzw. deren Angehörige. Nicht selten bin ich auch im Hospiz, um dort einen Sterbenden zu besuchen, den ich in „meinem“ Haus kennengelernt habe und der auch nach diesem letzten Ortswechsel seines Lebens von mir begleitet werden möchte. 7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Aber nicht um meine Arbeit als Krankenhausseelsorger im engeren Sinne geht es in diesem Buch, nicht um die Gespräche, die ich führe, um die Menschen, die ich begleite, geht es  – jedenfalls nicht in erster Linie –, sondern um einen anderen Bereich meiner Arbeit, der dennoch für mich Teil der Seelsorge ist und der seit über zwanzig Jahren ebenso dazugehört: das Predigen. Ich predige regelmäßig in den drei Krankenhäusern Siegens. Zurzeit findet der Gottesdienst im Marienkrankenhaus samstagabends um 19.00 Uhr statt, in Weidenau sonntagmorgens um 9.30 Uhr. Der Gottesdienst im Jung-Stilling-Krankenhaus ist ebenfalls sonntags, er beginnt eine Stunde später. Die Predigtaufgabe teile ich mir den anderen Krankenhausseel­sorgern in Siegen so, dass jeweils einer der Seelsorger alle drei Gottesdienste an einem Wochenende übernimmt. Ich weiß nicht, ob Sie bereits Erfahrungen mit Krankenhausgottesdiensten gemacht haben. Wenn ja, dann werden Sie wissen: Die Atmosphäre ist hier anders als in einem „normalen“ Gemeindegottesdienst in einer Kirche oder in einem Gemeindehaus. Diese andere Atmosphäre hat mit den Menschen zu tun, die hier den Gottesdienst besuchen, und damit, dass die Kapelle oder der Andachtsraum Teil eines Krankenhauses, Teil dieser eigentümlichen Welt aus moderner Medizin und Technik, menschlicher Fürsorge, Freud und Leid ist. Die Räume, in denen im Krankenhaus Gottesdienst gefeiert wird, und die Menschen, die hierher kommen, sind so etwas wie ein Teil der Predigt. Deshalb möchte ich diesen Teil Ihnen, den Lesern, beschreiben. Vielleicht hilft dies Ihnen, sich – wenn Sie eine der Predigten lesen – in Ihrer Phantasie zu den Menschen zu setzen, die diese Predigt im Krankenhaus gehört haben. Es ist Samstagabend, 18.40 Uhr. Der Aufzug trägt mich nach oben in den 5. Stock des St. Marienkrankenhauses. Als katho8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

lisches Krankenhaus besitzt das Marienkrankenhaus eine relativ große Kapelle hier im 5. Stock, in deren langen, geschwungenen Holzbänken etwa 100 Besucher Platz finden können. Eine Seitenwand der Kapelle bildet eine wunderschön gestaltete Fensterwand aus dickem farbigen Glas: Links deuten rote Flammen die Schöpfung an, die Mitte wird gebildet von einer Marienfigur mit dem Kind auf ihrem Schoß  – besonders im Sommer, wenn es um 19.00 Uhr noch hell ist, entfaltet dieses Fenster seine ganze Schönheit auch für die Besucher des evangelischen Gottes­ dienstes. Die Kapelle vermittelt dem Besucher trotz ihrer Größe das Gefühl von warmer Geborgenheit. Anders als meine katholischen Kollegen stehe ich nicht am Altar, sondern halte den Gottesdienst von einem links davon stehenden Lesepult aus weißem Marmor. Noch weiter auf der linken Seite steht eine anrührende moderne Pieta aus grauem Metall: Eine Frauengestalt hält eine andere männliche Figur  – kraftlos, vielleicht sterbend  – in ihren Armen. Der Mund der Frauengestalt ist weit geöffnet, schreit sie? Weint sie laut? Vor der Pieta brennen immer einige Kerzen – die Übertragung auf Situationen im Krankenhaus drängt sich auf. In der Weihnachtszeit steht an der Stelle der Pieta eine wunderschöne große Krippe vor einem Hintergrund aus meterhohen Weihnachtsbäumen. Die Kapelle wird seit vielen Jahren von den im Hause tätigen Ordensschwestern betreut, 150 lange Jahre von den Vinzentinerinnen, seit deren Weggang 2010 von den indischen Josefsschwestern. Sie sorgen mit großer Selbstverständlichkeit dafür, dass auch für den evangelischen Gottesdienst alles am Platze ist, die Kerzen werden angezündet, das Mikrophon eingeschaltet, die Gesangbücher vorbereitet. Manchmal nimmt die „dienst­ habende“ Schwester selbst am Gottesdienst teil. Inzwischen ist die Organistin da, ich weiß gar nicht mehr, seit wie viel Jahren wir diesen Gottesdienst schon gemeinsam durchführen. Ist sie 9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

einmal krank, wird es eng; dann versuche ich mit den Menschen, die den Gottesdienst besuchen, trotzdem zu singen, aber etwas verloren fühlen wir uns schon dabei. Der Gottesdienst wird durch eine Übertragungsanlage auf die Zimmer des Hauses übertragen  – das ist für die Pfarrerinnen und Pfarrer, die hier Gottesdienst halten, wichtig zu wissen, denn die Zahl der Menschen, die den Gottesdienst besuchen, ist manchmal nicht gerade groß. Früher kamen auch aus der Umgebung des Krankenhauses einige Frauen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchten, aber diese sind inzwischen verstorben. „Nachfolgerinnen“ fanden sich nicht. Insgesamt erleidet der Krankenhausgottesdienst dasselbe Schicksal wie die Gottesdienste in den Gemeinden, d. h. ebenso wie diese verzeichnet er einen langsamen Rückgang der Besucherzahlen. So ist es für mich wichtig, daran zu denken, dass auch eine unbekannte Zahl von für mich nicht sichtbaren Patienten und Angehörigen mir zuhören … Manchmal kommt es vor, dass ich die Kapelle betrete, und es sitzen Menschen dort, die ich kenne, vielleicht ein Patient, den ich in der vergangenen Woche besucht habe, vielleicht die Angehörigen eines anderen, von dem ich weiß, dass er im Sterben liegt. Ich erschrecke dann manchmal etwas und frage mich, ob meine Predigt heute Abend besonders diesen Menschen etwas bieten kann? Ich denke an einen Gottesdienst vor etwa einem halben Jahr: Ein älteres Ehepaar sitzt in einer der Bänke, zwischen beiden sitzt ein junges Mädchen, etwa zwölf Jahre alt. Das Ehepaar kenne ich, vor etwa zehn Jahren habe ich hier im Marienkrankenhaus ihre Tochter Stefanie begleitet, die dann auch hier verstorben ist. Das Mädchen muss Friederike sein, die ich damals hier ge10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

tauft habe. Während des Gottesdienstes steigen die Erinnerungen an damals auf, auch an den Taufgottesdienst: Schon da war allen bewusst, dass Stefanie ihre Tochter nicht mehr würde aufwachsen sehen. Sonntagmorgen, 9.00 Uhr, ich bin auf dem Weg in das Kreiskrankenhaus in Weidenau. Der Kontrast zum Marienkrankenhaus könnte nicht größer sein: Der Gottesdienstraum ist hier der sogenannte Musik- und Gruppenraum. Er befindet sich im dritten Stock in der Mitte zwischen einer geschlossenen und einer offenen Station der Psychiatrie. Der Musikraum ist ein mäßig großer Raum mit rechteckiger Grundfläche, der aber einen großen, halbkreisförmigen, durchgängig mit einer Fensterreihe versehenen Anbau besitzt. Die Stühle sind ebenfalls in einem Halbkreis angeordnet. In der Mitte dieses Halbkreises aus Stühlen steht das Lesepult, ein mit grünem Stoff bezogener Schaumstoffwürfel, der außerhalb des Gottesdienstes anderen, mir unbekannten Zwecken dient. Ein Unbekannter hat einmal hierfür ein Tuch mit Seiden­ malerei gestiftet (oder einfach im Musikraum vergessen?). Dieses Tuch bildet zusammen mit einer Kerze  – die der Prediger besser selbst mitbringt! – den einzigen Schmuck bzw. die einzige Kennzeichnung des Würfels als Lesepult. Der Pfarrer schaut von diesem nach draußen in Richtung der Fenster und des Lichtes – links von ihm steht nicht nur ein Klavier, sondern eine ganze Reihe von z. T. exotischen Musikinstrumenten, die für die Musiktherapie eingesetzt werden. Im Rücken des Predigers steht eine Tischtennisplatte – ein Hinweis auf den Mehrzweckcharakter dieses Raumes. Immerhin wurde kürzlich das nicht mehr zu stimmende Klavier gegen ein neues ausgetauscht. Hier sorgen keine hilfreichen Ordensschwestern dafür, dass alles am Platze ist. Selbst ist der Mann, heißt hier die Devise: Wenn 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ich viel Pech habe, ist hier am Samstagabend noch Tischtennis gespielt worden und ich muss erst mal die Platte wegräumen (und gegebenenfalls die Fenster aufmachen und lüften…). Der Schaumstoffwürfel muss aufgestellt, die Gesangbücher müssen verteilt werden. Inzwischen ist der Organist eingetroffen (oder die Organistin) und legt manchmal noch letzte Hand mit an. Es ist 9.20 Uhr, die ersten Gottesdienstbesucher treffen ein; manche werden in Rollstühlen gefahren oder von Pflegenden gebracht. Ich werde gebeten, doch nach dem Gottesdienst auf der Station XY anzurufen und Bescheid zu sagen, damit Herr Z. wieder abgeholt werden kann. Eine Frau – offenkundig eine Patientin des Hauses – fragt mich, ob sie den Gottesdienst auf einer Trommel leise begleiten dürfe. Möglichst freundlich und vorsichtig lehne ich dieses Ansinnen ab. Die Frau geht zu einem der Stühle, setzt sich und beginnt zu weinen. Ein junger Mann tröstet sie. Diese wenigen Sätze machen vielleicht deutlich, dass so besonders wie der Gottesdienstraum auch die Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes selbst sind. Die Mehrzahl der Frauen und Männer sind Patienten der Psychiatrie. Nicht selten sehe ich einige von ihnen mehrfach hintereinander, und weil ich nicht jede Woche hier predige, weiß ich dann: Auch nach zwei oder drei Monaten geht es ihm oder ihr noch nicht viel besser. Oft denke ich dann an den Refrain eines Liedes von Joan Baez: „There but for fortune may go you or I“, das heißt: „Wenn du oder ich hier nicht landen, dann haben wir einfach Glück gehabt.“ Manche kommen auch wieder und es ist ihnen anzusehen, dass es ihnen schlechter geht als vorher. Ich denke an eine Frau, die ich vor einem Jahr bestimmt über drei Monate immer wieder im Gottesdienst sah und die mir immer wieder durch ihre Magerkeit aufgefallen war. Jetzt ist sie wieder da, und eher noch dünner als vorher. 12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Manchen Besuchern fehlt jeglicher Gesichtsausdruck, sie wirken wie abwesend – vielleicht sind es Medikamente, die diesen Zustand hervorrufen? Weil ich nicht der Seelsorger dieses Krankenhauses bin, kenne ich in der Regel die Menschen nicht und kann nur mutmaßen, woran sie leiden. Immer wieder kommt es vor, dass es jemand im Gottesdienst nicht mehr aushält und den Raum verlässt; manchmal setzt sich jemand, aber schon bevor der Gottesdienst angefangen hat, verlässt er den Raum wieder, vielleicht weil schon die Rahmenbedingungen, so wenig typisch kirchlich sie ja sind, Erinnerungen oder Gefühle hervorrufen, die noch nicht aushaltbar sind. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dieses Hinausgehen nicht als eine Kritik an meinem Gottesdienst oder an meiner Predigt aufzufassen, sondern als Ausdruck innerer Not. Der Pfarrer hier weiß im Grunde nie, was ihn dieses Mal im Gottesdienst erwartet. Manchmal gibt es keinen anderen Weg, als die „Klingel“ zu betätigen, d. h. jemand von der Pflege herbeizurufen. Die Gottesdienste hier haben so eine sehr besondere Atmosphäre, sie sind unmittelbarer, näher, intensiver als so mancher Gottesdienst in der schönen Kapelle des St. MarienKrankenhauses. Wer in Weidenau in seiner Predigt eine rhetorische Frage stellt, kann damit rechnen, dass sie als echte Frage verstanden und von Hörern spontan beantwortet wird! Einmal habe ich eine Frau, die sich auf eine solche rhetorische Frage hin meldete, gefragt, was sie denn sagen wolle: Wie sich schnell herausstellte, war das ein Fehler, denn ihre Antwort nahm ein anderer Besucher zum Anlass, lautstark seine eigene, sehr gegensätzliche Auffassung zu vertreten, woraufhin sich wiederum andere zu Wort meldeten. Das Geschehen drohte in ein heftiges Streitgespräch zu eskalieren und ich musste trotz aller Empathie entschieden darauf bestehen, meine Predigt wie gewohnt fort­setzen zu können. 13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Eine andere Geschichte, die sich ebenfalls für mich mit dem Gottesdienst im „Musik- und Gruppenraum“ verbindet, möchte ich erzählen. Kurz vor Gottesdienstbeginn betreten zwei Männer in Anzügen den Raum und setzen sich in die erste Reihe (vor einigen Jahren haben wir die Stühle noch anderes angeordnet). Sie verhalten sich unauffällig, aber kaum habe ich meine Predigt begonnen, steht der eine auf, und sagt, er habe sich von diesem Gottesdienst etwas ganz anderes erwartet, einen lebendigen Gottesdienst, aber hier würde ja nur vorgelesen, da sei er doch sehr enttäuscht. Da fiel mir nur ein zu antworten, dass es jedem ja frei stehe, zu gehen oder zu bleiben. Natürlich half das gar nichts. Der Mann fuhr fort von seiner Enttäuschung zu sprechen. Ich erklärte daraufhin, jetzt den Gottesdienst fortsetzen zu wollen, und forderte ihn auf sich zu entscheiden, ob er gehen oder bleiben wolle. Beide entschieden sich wortreich fürs Gehen, und bevor sich die Tür hinter ihnen schloss, rief er mir noch zu, ich habe ihn hinausgeworfen, ich sollte doch aber eigentlich zum Gottesdienst einladen … Aufgewühlt setzte ich den Gottesdienst fort.  – Hatte ich mich richtig entschieden? Was waren das für Männer gewesen? Patienten oder Besucher von außerhalb, die sich vorgenommen hatten, den Gottesdienst zu stören? Noch eine abschließende Anmerkung zum Gottesdienst auf der Psychiatrie: Ich denke hier noch mehr als sonst darüber nach, wie die Predigt, wie biblische Texte, die als Lesetexte des betreffenden Sonntags gelesen werden, auf die Menschen hier wirken könnten. Manche der Sonntagslesungen sind hier einfach nicht zumutbar oder sogar bedenklich, so dass ich sie austausche. Der Gottesdienst endet mit dem Segen, einer Liedstrophe und einem letzten Orgelstück, es ist 10.15 Uhr, Zeit, sich auf den Weg ins Jung-Stilling-Krankenhaus zu begeben. Gut, dass um diese Zeit verkehrstechnisch nicht viel los ist, so lässt sich der Weg 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

in fünfzehn Minuten zurücklegen. Wieder eine ganz andere Situa­tion: Das Jung-Stilling-Krankenhaus besitzt als evangelisches Krankenhaus einen eigenen Andachtsraum im Erdgeschoß. Der Raum ist hell und freundlich, ungefähr dreißig Personen finden in ihm Platz. Unter den Gottesdienstbesuchern sind auch Menschen, die von außerhalb kommen. Vielleicht kommen sie, weil sie hier andere Rahmenbedingungen als in einem Gemeindegottesdienst vorfinden? Ich weiß, dass manche kommen, weil sie sich dem Krankenhaus verbunden fühlen, wie beispielsweise ein emeritierter Professor, der hier Chefarzt der Neurologie war. Manchmal habe ich ihn gesehen, wie er sich mit seinem Rollator, unterstützt durch eine Pflegerin, den steilen Berg zum Krankenhaus empor mühte. Seit einiger Zeit kommt er nicht mehr – ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist … Hier im Jung-Stilling-Krankenhaus sind die „Grünen D ­ amen“ für den Andachtsraum zuständig. In der Regel finde ich schon zwei der Damen vor, die alles vorbereitet haben. An die Stelle des Schaumstoffwürfels in der Psychiatrie ist ein elliptischer Abendmahlstisch aus hellem Holz getreten. Eine Kerze brennt, Blumen stehen auf dem Tisch. An der Stirnwand des Raumes  – hinter dem Abendmahlstisch  – hängt ein sehr schöner Wandbehang. Er zeigt eine Mauer mit einer Tür, die etwas geöffnet ist. Über der Mauer scheint ein heller Stern, dessen Licht durch die Tür in der Mauer hinaus fällt. Die Mauer, das ist für mich die Wirklichkeit, die sozusagen vor Augen ist, die Wirklichkeit, die wir sehen und anfassen können. Und oft genug ist diese Wirklichkeit im Krankenhaus mehr als Menschen ertragen können. Aber hinter dieser Mauer liegt noch etwas anderes, eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit Gottes, und manchmal öffnet sich uns eine Tür, durch die 15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

hindurch zu uns in unsere manchmal so leidvolle Wirklichkeit ein Schein dieser anderen Wirklichkeit hineinfällt. Und was ist die Tür? Natürlich fällt mir der Vers aus dem Johannesevangelium ein, wo Jesus sagt: „Ich bin die Tür.“ Aber ich weiß: Es gibt viele solcher Türen, durch das Licht der Wirklichkeit Gottes uns erreicht. Während der Lieder sitze ich in der ersten Reihe, singe mit und denke über dieses so trostreiche Bild nach, das jedem die Freiheit lässt, seine eigenen Deutungen hineinzulegen. Wie im St. Marien-Krankenhaus wird im Jung-Stilling-Krankenhaus ebenfalls der Gottesdienst in die Zimmer übertragen, so dass Patienten, die dies wollen, über Kopfhörer zuhören können. Und auch mit diesem Gottesdienstraum verbinde ich Geschichten, die ich hier erlebt habe. So denke ich an einen Gottesdienst im letzten Jahr, wo ich unter den Gottesdienstbesuchern ein bekanntes Gesicht entdecke, das Gesicht einer ehemaligen Nachbarin und ich lese in diesem Gesicht, dass es ihr schlecht gehen muss. Nach dem Gottesdienst sprechen wir zusammen und sie sagt mir, dass sie an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leide. Wieder in einem anderen Gottesdienst, ich glaube, es war im Advent, sehe ich vor mir ein Ehepaar sitzen. Vor einem Jahr habe ich hier auf der Palliativstation ihren Sohn begleitet und später beerdigt. Das Krankenhaus ist für mich ein Ort oder besser eine Landschaft in einem Grenzgebiet. Es steht auf der Grenze zwischen dem, was Menschen möglich und was ihnen unmöglich ist – sowohl aus wissenschaftlich-technischer als auch aus personalmenschlicher Perspektive. So ist das Krankenhaus unter anderem ein Ort auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Hier begegnen sich die Macht der Medizin, dem Tod zu wehren, und 16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ihre Ohnmacht, ihr Scheitern, immer wieder. Die Ohnmacht von Wissenschaft und Technik ruft in der Folge nach einer ganz anderen Macht – oder besser: nach einer besonderen Kraft, der Kraft der menschlichen Zuwendung, Fürsorge und Liebe, ohne die die medizinisch-technische Ohnmacht nicht oder nur sehr schlecht ertragbar ist. Zugleich zeigt sich hier im Übergang von Macht und Ohnmacht unser aller Angewiesenheit auf eine Wirklichkeit, deren Möglichkeiten sehr viel andere sind als unsere und nicht mit unseren Möglichkeiten enden. Das Krankenhaus zeigt auf diese Weise sehr viel davon, was der Mensch ist. Etwas vornehm ausgedrückt ist es so etwas wie ein Ort anthropologischer Konzen­ tration: Alle Fähigkeiten des Menschen finden sich hier, alle seine Möglichkeiten: seine Klugheit, seine Fähigkeit zur Organisation, zur Empathie, zu Treue und Liebe, aber auch seine ganze Ohnmacht, seine ganze Zerbrechlichkeit, nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer Hinsicht. Aber es findet sich auch seine Fähigkeit, in sehr unterschiedlicher Weise für die Wirklichkeit Gottes ansprechbar, offen zu sein und sich ihr anzuvertrauen. Im Krankenhaus brechen die Grundfragen des Menschen auf: die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage nach dessen Gelingen oder Scheitern, nach dem, was wichtig und prägend war im Rückblick auf das gelebte Leben. Die Frage nach dem, was trägt in der Erfahrung der Gefährdung leiblicher und seelischer Gesundheit, in der Erfahrung von Trauer und Ohnmacht. Letztlich versuche ich in meinen Predigten immer wieder, dieses alles zusammen zur Sprache zu bringen und mit der Quelle der bi­ blischen Tradition zu verknüpfen. Am Schluss jedes Gottesdienstes steht das Fürbittengebet. So ist es einem Buch, das Predigten enthält, sicher angemessen, wenn 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ich an dieser Stelle einen kurzen Passus aus einem Fürbitten­ gebet zitiere: Wir bitten Dich: Rühre uns doch mit Deinem Wort in unserem Innersten an, damit es auf diese Weise unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unseren so unterschiedlichen Lebenswegen sein möge.

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Predigten im Krankenhaus

ADVENT Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! Lesung des Predigttextes Mt 21,1–9

Wieder ist es so weit, liebe Gemeinde: Die Adventszeit hat begonnen, wieder ist ein Jahr vergangen, die Tage sind kürzer geworden, wir bereiten uns auf das Weihnachtsfest vor. Aber keineswegs allen ist diese Zeit wichtig, keineswegs alle freuen sich auf Weihnachten, sondern nicht wenige Menschen sind gerade jetzt mit Dingen beschäftigt, die die Adventszeit für sie ganz und gar unwichtig sein lassen: Wenn wir uns sorgen  – um die eigene Gesundheit oder gar um das Leben selbst oder uns sorgen um einen anderen Menschen, dann ist es im Grunde egal, ob Advent ist oder Hochsommer. Wenn es uns nicht gut geht, dann wollen wir eigentlich nur eines: dass sich das wieder ändert. Dass einem irgendwie geholfen werden kann. Oder dass dem Ehepartner geholfen wird oder dem Kind – wer auch immer derjenige ist, um wir uns sorgen. Denn die Sorge kümmert sich nicht um die Jahreszeit und dem Leid, das Menschen erfahren, ist der Advent egal. Wenn das aber schon alles wäre, was zum Thema Advent gesagt werden könnte, wäre dann nicht die Adventszeit eine Zeit nur für diejenigen, denen es gut geht? Die sich nicht sorgen um jemanden, eine Zeit für die, bei denen alles stimmt, gesundheitlich, beruflich, in der Familie? Eine Zeit der Lichter vor allem für diejenigen, die sowieso auf der Sonnenseite des Lebens wohnen? 19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Advent heißt Ankunft. Und wenn wir über die Adventszeit nachdenken, dann denken wir über dieses Thema nach: Ankunft. In Filmen sieht man manchmal einen Mann oder eine Frau, die gerade in einer großen Stadt, wie vielleicht New York, ankommt; wir sehen, wie sie aus dem Zug steigt, wir folgen ihr in den vollen Bahnhof, treten mit ihr hinaus auf die Straße, sehen den endlosen Strom der Autos, die Passanten, Frauen und Männer, die mit unbekannten Gedanken und Zielen unterwegs sind. Kein Mensch nimmt Notiz von ihr, keiner kennt sie, alle gehen vorbei. Dennoch sind wir Zuschauer gespannt: Wie wird es mit ihr weitergehen in der großen Stadt? Wird sie einen Menschen finden, der sie liebt, wird sie hier ihr Glück machen können? Ein ganz anderes Bild malt uns der Predigttext vor die Augen unserer Phantasie: Ein Mann kommt vor 2000 Jahren in einer damaligen Großstadt – in Jerusalem – an. Seit langer Zeit – so will es der Evangelist Matthäus uns vermitteln – ist sein Kommen angekündigt: Denn schon der Prophet Sacharja, lesen wir bei Matthäus, habe vor einigen hundert Jahren von ihm gesagt: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig, und er reitet auf einem Esel.“ Offenbar erwarten die Menschen sehnsüchtig sein Kommen: Eine sehr große Menge säumt die Straße, sie breiten ihre Kleider aus auf seinem Weg, sie rufen: „Hosianna dem Sohn Davids!“ Welche Erwartungen werden die Menschen damals wohl mit diesem Mann verbunden haben? Auf welche Veränderung in ihrem Leben werden sie gehofft haben? Ankunft ist mit Erwartung, mit Hoffnung verbunden. Die Frau im Film, die in der großen Stadt ankommt, erwartet sich etwas für ihre persönliche Zukunft, sie ist auf der Suche nach Liebe, auf der Suche nach dem großen Glück. Die Menschen in Jerusalem, die Jesus zujubeln, erwarten etwas von diesem 20 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

­ enschen, der für sie nicht ein gewöhnlicher ZimmermannsM sohn aus Galiläa, sondern ein ganz besonderer Mensch ist. Sie ziehen die Linie von Jesus weit zurück in die Geschichte Israels und sagen: „Er ist vom Hause Davids, des großen Königs.“ Mich spricht dieses Bild von dem in Jerusalem einziehenden Mann sehr an. Es spricht mich an, weil für mich hier etwas Neues beginnt: Der, der hier in Jerusalem einzieht, war wie nur wenige andere Menschen in der Weltgeschichte Gott nahe. Und wenn ich mich in dieses Bild hineinversetze, dann denke ich: Das Neue, das er bringt, ist vielleicht ein anderer Weg zu Gott, hier wird vielleicht eine Seite von Gott erkennbar, die vorher über­ sehen worden war. Dieser Mensch macht es vielleicht möglich, dass Menschen neue Erfahrungen mit Gott machen. Aber so einfach war es damals nicht. Jesus hatte mit den Menschen in Jerusalem damals große Schwierigkeiten, weil viele wohl sehr konkrete Erwartungen hatten, was er sein sollte: so etwas wie ein neuer König, der die Fremdherrschaft der Römer beseitigen würde, oder gar der erwartete Messias. Die Menschen haben ihn festgelegt auf etwas, dass er für sie sein sollte. Sie wurden enttäuscht. Und deshalb ist es Jesus so ergangen wie es ihm dann erging. Und wie ist es heute? Ich denke, auch wir legen Jesus oftmals fest, auch wir sind nicht offen, sondern engen ihn durch unsere Erwartungen ein, nur anders als damals. Vielen Menschen, mit denen ich spreche, ist Jesus unwichtig. Für wieder andere scheint er im Gegenteil von großer Bedeutung sein, aber im Gespräch mit ihnen spüre ich: Sie haben sehr genaue Vorstellungen davon, wer Jesus war. Sie sprechen von ihm mit Worten, die sich wie auswendig gelernt anhören, und ich habe das Gefühl dass sie schon alles von Jesus zu wissen glauben. Sie erwarten sich nichts mehr von ihm, obwohl sie so viel von ihm sprechen. Andere wiede21 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

rum haben ihn negativ festgelegt und würden sagen, wenn man sie fragte: Er kann mir auch nicht helfen, was soll ich mit Jesus anfangen? Ob wir mit Advent wirklich etwas anfangen können, hängt sehr damit zusammen, ob wir uns noch etwas von Gott er­warten. „Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!“, haben die Menschen damals in Jerusalem gerufen. Sie haben erwartet, dass Gott ihnen den neuen machtvollen König schickt und dass Jesus dieser König ist. Die Frage ist: Was erwarte ich mir von Gott in dieser Adventszeit – oder habe ich ganz damit aufgehört, mir von Gott noch irgendetwas zu erwarten? Oder habe ich noch nie damit angefangen? „Wie soll ich dich empfangen, und wie begegn’ ich dir?“, heißt es in dem bekannten Adventslied von Paul Gerhardt: „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Blätter hin“ – hier wird auf unseren Predigttext angespielt. Paul Gerhardt ist schon einen Schritt weiter als wir in dieser Predigt, er ist sich sicher, dass hier einer zu ihm kommen wird, und fragt sich schon, wie er diesem begegnen soll. Für mich ist die Adventszeit eine Einladung, sich sozusagen versuchsweise mit an die Straße zu stellen und sich den anzuschauen, der da in Jerusalem einzieht. Sie verstehen wahrscheinlich, was ich damit sagen will: In dieser Adventszeit zu versuchen, sich auf den einzulassen, der hier kommt, an dessen Kommen in die Weltgeschichte wir uns jedes Jahr erinnern. Durch die innere Begegnung mit Jesus kann sich in uns selbst etwas verändern. Aber es ist wichtig, sich das nicht dadurch zu verbauen, dass man von vornherein weiß – oder wissen will – was dadurch geschehen kann. Es geht darum, nicht denselben Fehler zu machen wie die Menschen damals in Jerusalem und sich von 22 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Jesus ganz bestimmte Dinge zu erwarten und von vorn­herein ganz genau zu wissen, wer er ist und wer nicht. Es geht um Offenheit. Vielleicht in etwa so wie bei der Frau, die in New York ankommt und auf der Suche nach dem Glück ist, aber noch nicht weiß, worin dieses bestehen soll. Es ließe sich durchaus Einiges dazu sagen, was Jesus mit dem Glück von Menschen zu tun hat. Obwohl Jesus nicht vom Glück, sondern vom Reich Gottes sprach. So soll er gelehrt haben: „Das Reich Gottes ist nicht hier oder dort, sondern es ist inwendig in euch!“ Aber der, der da kommt im Namen des Herrn, ist kein Glücksbringer, er kommt nicht nur zu denen auf der Sonnenseite des Lebens, die Adventszeit ist nicht ausschließlich für diejenigen da, die sorglos über die Weihnachtsmärkte hier in Siegen oder anderswo schlendern können. Das Gegenteil ist der Fall: Das Kirchen­lied, aus dem ich eben zitiert habe, hat auch noch andere Strophen: „Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los“, heißt es da und: „Als Leib und Seele saßen in ihrem großen Leid, da bist du mein Heil kommen und hast mich froh gemacht.“ Paul Gerhardt war keiner, der sich sorglos in der warmen Wohnstube besinnliche Texte ausdachte: Der dreißigjährige Krieg hatte ihm viel persönliches Leid beschert. Er wusste sehr genau Bescheid um die schweren Bande von Leib und Seele. „Er kommt, er kommt mit Willen“, schrieb er weiter, „all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst.“ Jesus zieht heute nicht mehr in Jerusalem ein, sondern in die Seele von Menschen. Nicht nur in die von so berühmten Leuten wie Paul Gerhardt, sondern auch in die Seele von solchen wie dir und mir. Meine Hoffnung ist, dass damit Erfahrungen verbunden sind, die zumindest ein Gegengewicht gegen die Sorge oder die Angst sein können. Glauben wir Paul Gerhardt, dann sind 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

solche Erfahrungen mit Jesus möglich. Aber wenn das so ist, dann wäre die Adventszeit gerade für die Menschen von Bedeutung, von denen er schreibt und die es nach wie vor, damals wie heute, gibt: „Als Leib und Seele saßen in ihrem größten Leid, da bist du, mein Heil, kommen und hast mich froh gemacht.“ Amen.

ADVENT Ich bin das Licht der Welt! Lesung des Predigttextes Joh 8,12

Liebe Gemeinde, von Jahr zu Jahr scheinen in der Adventszeit die Lichter zu­ zunehmen. In immer neuen Formen hängen oder stellen Menschen Lichterketten, Kometenschweife, Weihnachtsmänner und Sterne in ihre Fenster. Manche leuchten ganz einfach, aber andere blinken abwechselnd blau, rot und grün in unruhigen Rhythmen. Kaum ein Garten oder ein Balkon, der nicht wenigstens einen kleinen beleuchteten Christbaum sein Eigen nennt. Die Lichter nehmen zu – nimmt auch das Licht zu? Noch ein Gedanke zum Thema Licht: Sie kennen vielleicht die Moritat des Mackie Messer aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht. In der letzten Strophe dieses Liedes heißt es: „Und die einen sind im Dunklen, und die andren sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunklen sieht man nicht.“ Die einen sind im Dunklen, die anderen sind im Licht … – Wenige Tage vor Weihnachten stirbt eine junge Frau im Marienkrankenhaus. Die Angehörigen gehen nach Hause, können sie nie mehr mitnehmen dorthin, nehmen nur den Schmerz mit nach Hause. – Die einen sind im Lichte, sie singen „O du fröh­liche“, zünden Kerzen an am Weihnachtsbaum – die anderen aber sind 24 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

im Dunklen. Gibt es für sie dort ein Licht? Für wen halte ich diese Predigt: Für die im Licht? Für die im Dunklen? Auf welcher Seite stehe ich selbst? Ich bin gesund – aus der Perspektive von jemandem, der unheilbar erkrankt ist, bin ich eindeutig auf der Lichtseite des Lebens! Was habe ich für ein Recht, über das Licht zu predigen? Da hat einer damals vor 2000 Jahren gesagt: Ich bin das Licht. Alles, was ihr mit Licht verbindet: Ich bin es: Die Helligkeit, das Strahlen, die Wärme: Ich bin es. Ich bin das Licht der ganzen Welt. Wenn das einer in Siegen auf dem Weihnachtsmarkt predigen würde  – wir würden ihn auslachen oder vielleicht noch eher einen großen Bogen um ihn machen: „Achtung, Spinner!“ Aber gehen wir mit dem, der das vor 2000 Jahren gesagt hat, denn anders um? Wohlerzogen, wie wir sind, würden wir ihn natürlich nicht gerade einen Spinner nennen. Aber ist nicht ein Spinner einer, der den Kontakt mit der Realität verloren hat? Der nicht mehr so genau weiß, was eigentlich gespielt wird? Was hat so einer zu suchen zwischen Kernspin und Intensivmedizin, zwischen Chemotherapie und Operationssaal? Ich stelle mir vor, Jesus würde hier im Krankenhaus sagen: Ich bin das Licht der Welt. „Schon gut, junger Mann“, würde eine Krankenschwester zu ihm sagen, „mag ja sein, aber würden Sie mal eben auf die Seite gehen, ich muss hier eine In­f usion anhängen. Und verunsichern Sie doch bitte unsere Patienten nicht durch solche Worte, die haben schon genug um die Ohren. Außerdem können wir auch ohne Sie eine ganze Menge für die Menschen hier tun!“ Hand aufs Herz: Brauchen wir einen, der uns sagt: Ich bin das Licht der Welt? Trauen wir ihm das wirklich zu? Oder wenn wir den Bogen nicht gar so weit spannen wollen: Traue ich ihm 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

zu, Licht für mich zu sein? Können wir nicht aus eigener Kraft eine Menge Lichter anzuzünden? Damit meine ich nicht die adventliche Beleuchtung, sondern unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, nicht zuletzt die Möglichkeiten der Medizin hier im Krankenhaus. Licht und Finsternis, dieser uralte Gegensatz, hat hier im Krankenhaus ein besonderes Gesicht: Die Finsternis, hier heißt sie: Krankheit, Schmerzen, Angst, Sterben, Tod und Trauer. Draußen in der Welt hieß die Finsternis schon immer und heißt sie heute noch: Verfolgung, Unterdrückung, Folter und Gewalt. Und nur die Mittel zu ihrer Durchsetzung haben sich geändert im Laufe der Jahrhunderte. Und wie heißen unsere Lichter? Sie heißen Computer­ tomographie und Darmzentrum, heißen Palliativmedizin und Knochenmarktransplantation, heißen aber auch gelebte Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit hier im Krankenhaus, heißen Anteilnahme und Treue. Auch draußen gibt es Lichter, sie heißen „Amnesty International“, heißen „Ärzte ohne Grenzen“, heißen auch dort draußen Nächstenliebe, Mut und Treue. Ja, es gibt die Lichter, die wir Menschen selbst anzünden können oder könnten, und sie sind nicht gerade klein. So liegt die Versuchung nahe, sie manchmal für alles zu halten, was an Licht möglich ist, und zu sagen: Mehr geht nicht. Aber wenn das so wäre, dann reichte das Licht gerade so weit wie unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, nicht weiter. Und wo diese enden, da finge die Nacht an. Jenseits des von uns und durch uns Mach­ baren gäbe es keinen Raum für Hoffnung. Wollen wir das glauben? Wollen wir als Menschen, die von der Hoffnung leben, die Grenze der Hoffnung mit der Grenze des Machbaren gleichsetzen? Wenn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt!“, so ist das zunächst eine Zumutung: Er mutet uns zu, die Grenzen unserer 26 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Möglichkeiten zu erkennen. Um weiter mit der Lichtsymbolik zu sprechen: Er mutet uns zu, zu erkennen, dass wir zwar Lichter haben oder sozusagen selbst kleine Lichter sind, aber nie das Licht selbst. Aber der Satz ist auch ein Versprechen: dass es da, wohin unsere Lichter nicht mehr scheinen, Licht gibt, über das wir aber nicht verfügen können, das Licht der Wirklichkeit Gottes. Jesus mutet uns zu, über das hinauszugehen, was wir sehen, anfassen, beweisen oder berechnen können, und an diese ganz andere Wirklichkeit zu glauben. Ich bin das Licht der Welt: Dieser Satz ist die Verheißung, dass das Licht Gottes nicht an der Grenze unserer Möglichkeiten endet, sondern auch in die Dunkelheiten scheint, die menschliche Macht nicht beseitigen kann – oder im Bereich des Politischen – auch nicht will. – „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Ein altes chinesisches Sprichwort heißt: „Hart ist der Tod, weich ist das Leben.“ Denn Leben ist Veränderung, ist Wachstum. Oft jedoch verhärten wir schon mitten im Leben, inneres Wachstum und Reife finden nicht mehr statt, unsere Beziehungen zueinander erstarren, wir drehen uns in den Kreisen der Gewohnheit, erwarten uns nicht mehr wirklich etwas von der Zukunft. Manchmal fängt das Sterben noch mitten im Leben an. Da ist die Finsternis in unserem Alltag, die wir manchmal kaum wahrnehmen, so langsam breitet sie sich aus. Ich bin das Licht des Lebens, sagt Jesus. Eigentlich müsste ich eine eigene Predigt darüber halten, wie sich das auf unser inneres Wachsen, auf unsere Beziehungen untereinander auswirken würde, wenn wir das ernst nehmen würden und einen Versuch damit machten. Ich bin das Licht des Lebens: Das heißt für mich: Der Macht der Finsternis, die uns mitten im Leben innerlich 27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

verhärten und erstarren lässt, ist eine andere Macht entgegengesetzt, eine Lebenskraft, eine andere Wirklichkeit, die der Finsternis nicht das letzte Wort lässt. Das Licht des Lebens aber bewegt auch etwas, seine Lebenskraft setzt in Bewegung, Menschen werden selbst zu Lichtern, nicht immer, indem sie ganz viel für andere tun, manchmal auch nur dadurch, dass sie einfach da sind. Wer wir sind, was uns trägt, auf was wir hoffen: Das wirkt sich immer aus, so wie noch das Licht einer Kerze in der Nacht kilometerweit zu sehen ist. „Wer mir nachfolgt, der wird nicht in der Finsternis wandeln“, sagt Jesus. Gefragt ist Nachfolge, etwas Aktives. Das Licht, um das es hier geht, ist demnach kein Automatismus, niemand kann es für mich anschalten. Nachfolge: Das ist ein großes Wort, zu groß für den Schluss einer Predigt. Ich möchte Nachfolge heute als Hinwendung verstehen: Das Licht sehe ich nur dann direkt, wenn ich mich zu ihm hinwende. Sonst sehe ich allenfalls seinen Widerschein, – was aber manchmal ja auch schon etwas ist. Wenn ich also diese Lebenskraft erfahren will, muss ich mich zu ihrer Quelle hinwenden: Ich muss dem Menschen Jesus von Nazareth etwas zutrauen, mit ihm meine Erfahrungen machen, mich von ihm begleiten lassen auf den Wegen, die ich gehe. Ich glaube, bevor ich Jesus nachgehe, ihm nachfolge, geht er zunächst mir nach, sucht er mich dort, wo ich bin. Vielleicht beginnt die Nachfolge dort, wo ich mich in meinem Leben von Jesus finden lasse? Jesus, das ist zu Weihnachten das Kind in der Krippe, in der Passionszeit der Leidende, zu Ostern der Auferstandene: drei Gestalten der Lebenskraft. Als das Kind in der Krippe begegnet er mir als die Verheißung eines neuen Anfanges, als das Versprechen seelischen Wachstums, als die Zusage der Unschuld. Wenn ich einverstanden bin damit, dass er mich dort aufsucht, wo ich 28 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

bin, dann darf ich gewiss sein, dass auch mich das Licht des Lebens erreichen wird. Amen.

WEIHNACHTEN Wir haben seinen Stern gesehen Lesung des Predigttextes Mt 2,1–11

Liebe Gemeinde, „Mir ist gar nicht weihnachtlich zumute“, höre ich in dieser Zeit oft Menschen sagen, „Ich bin gar nicht in weihnachtlicher Stimmung“, oder: „Ich kann dieses Jahr mit Weihnachten überhaupt nichts anfangen!“ Es scheint so zu sein, als müssten wir irgendetwas tun, damit Weihnachten für uns von Bedeutung ist, als müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit dieses Fest zu uns spricht. Eine bestimmte Stimmung muss da sein oder andere Dinge wiederum dürfen nicht da sein, weil sie das Entstehen des besonderen weihnachtlichen Gefühls stören. Dabei ist doch das Schönste an Weihnachten, dass die Wahrheit seiner Botschaft ganz und gar nicht von uns abhängt, von unseren Stimmungen, von dem, was uns blockiert oder es uns erleichtert, an diesem Fest teilzunehmen. Weihnachten hat es mit unserem gesamten Leben zu tun, nicht nur mit den Weihnachtsfeiertagen, dem 24. bis 26. Dezember jeden Jahres. Weihnachten hat es mit einer Wirklichkeit zu tun, die jeden Tag da ist, insofern könnte man Weihnachten durchaus auch im Juli feiern. Aber zum Wesen eines Festes gehört seine regel­ mäßige Wiederkehr zu einer bestimmten Zeit, auch wenn die Bedeutung des Festes für alle Zeiten gilt. Wenn wir uns nun auch an diesem Weihnachtsfest der zeitlosen Bedeutung des Weihnachtsfestes vergewissern, dann tun 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

wird das, indem wir uns wieder mit einer der alten Geschichten befassen, die von Weihnachten handeln. Es erstaunt mich übrigens immer wieder, dass wir das noch immer tun, obwohl sich die Welt doch so sehr verändert hat. Aber ich glaube: Was sich nicht verändert, ist der Mensch – mit seinen Erwartungen und seinen Ängsten, mit seiner Sehnsucht nach Orientierung und Halt. Unsere Geschichte heute Abend handelt von drei Männern, die wir längst kennen, sie handelt von den drei Weisen aus dem Morgenland, aus den Ländern, wo die Sonne aufgeht. Sie haben sich auf eine weite Reise gemacht, hören wir. Menschen im Krankenhaus erzählen mir manchmal von Reisen – manchmal sind es Reisen in ferne Länder, um die es geht, manchmal geht es aber auch um den Wunsch noch einmal – vielleicht zum letzten Mal – an einen Ort zu reisen, den man sehr geliebt hat und mit dem sich viele schöne Erinnerungen verbinden. Manchmal geht es den Menschen aber nicht um äußere Reisen, bei denen Kilometer zurückgelegt werden, sondern um eine innere Reise. So sie reisen sie beispielsweise in ihre Erinnerung zurück, zu den vielen Stationen, die ihr gelebtes Leben aus­ machen. Sie erzählen von der Kindheit oder davon, wie sie ihre spätere Frau kennengelernt, von dem Beruf, den sie ausgeübt haben. So wird das Leben selbst zu einer Reise, der Lebensreise. Nicht immer verläuft diese Lebensreise glatt, das wissen Sie alle hier sehr gut. Manchmal gelangt man unterwegs in Gegenden, in die man nie wollte. Oder man ist heilfroh, bestimmte Orte der Lebensreise hinter sich gelassen zu haben. Nicht selten fragen sich Menschen im Krankenhaus, wohin ihre Reise nun gehen wird. Sie suchen nach Orientierungshilfen, weil der Weg sie in eine ihnen noch unbekannte Landschaft geführt hat. Dann wird die innere Reise zu einer Suche nach etwas, das jetzt trägt, 30 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

das jetzt Halt gibt. Manchmal ist diese innere Reise einer Vergewisserung dessen, was schon immer wichtig war, manchmal führt sie Menschen dazu, sich etwas ganz Neues zu erschließen, sich vielleicht wieder neu dem Glauben an Gott zuzuwenden. Unsere drei Reisenden haben auf ihrer Reise eine Orientierungshilfe. Ein Stern leitet sie, zieht vor ihnen her, ihm sind sie bisher gefolgt, hören wir. Er soll sie zu ihrem Ziel führen. Aber zunächst scheinen sie in die Irre gegangen zu sein – nicht weil der Stern sie fehlgeleitet hat, sondern weil sie ihr Ziel da suchen, wo sie selbst denken: Dort müsste es zu finden sein. Wir wissen schon: Sie suchen den neugeborenen König der Juden – lassen wir für einen Moment noch beiseite, was wir mit diesem Ziel dieser Männer anfangen können oder auch nicht – bleiben wir noch einen Moment bei ihnen: Sie suchen diesen König da, wo sie meinen: Dort müsste er sein. Im Königspalast in Jerusalem. Aber: Eben dort ist er nicht. Wer unter uns könnte wohl sagen, er habe sich noch nie verirrt auf seinem Lebensweg? Meist verlaufen wir uns, kommen wir vom Wege ab, weil wir bestimmten Vorstellungen folgen: Es sind Vorstellungen davon, wie unser Lebensglück, unser Lebensziel aussehen soll – und sind wir da, haben wir es erreicht, so merken wir: Das ist es nicht! Unsere drei Männer haben sich verlaufen – und so bleibt ihnen nichts anderes übrig als umzukehren und sich wieder von ihrem Stern leiten zu lassen – wiederum ein wichtiges Thema der Lebensreise: die Umkehr. Der jüdische Philosoph Martin Buber hat einmal gesagt: „Das wirklich Schlimme sind nicht die vielen kleinen Sünden, die wir täglich begehen, an uns selbst, an den anderen, an der Welt, sondern dass wir nicht umkehren.“ Bei dem Thema der Umkehr von falschen Lebenswegen könnte ich noch länger verweilen, aber ich 31 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

verpasse den Anschluss an die drei Männer, denn die haben Jerusalem inzwischen wieder verlassen, sie lassen sich nun nicht mehr leiten von ihren eigenen Vorstellungen, sondern sie folgen wieder ihrem Stern. Jeden Tag setzen wir unsere Lebensreise weiter fort. Welchen Sternen folgen wir dabei? Was ist mein Leitstern, meine Orientierungshilfe? Sterne braucht man besonders in der Nacht, wenn alle anderen Hilfen, sich zu orientieren, versagen. Wer von uns könnte schon sagen, seine Lebensreise habe immer bei schönem Wetter und Sonnenschein stattgefunden? Bei Sonnenschein geht es sich leicht, der Weg liegt klar vor einem, mag er vielleicht auch anstrengend sein. Hauptsache, wir sehen wenigstens einigermaßen, wo der Weg entlang führt. Ist das einmal nicht so, verschwinden Sonne und Licht in Nebel oder gar Dunkelheit, so wandelt sich die vorher so angenehme Leichtigkeit, mit der wir unseren Weg gehen, in Sorge, wenn nicht gar in Angst, den Weg zu verlieren, jähe Felsabstürze nicht mehr rechtzeitig zu erkennen. Vielleicht ist jemand hier oder es hört jemand zu, der seine Lebensreise gerade heute so erlebt, als führe sie durch die Nacht. Was also ist der Stern, dem ich folge? Was ist das, was mich in meinem Leben leitet? Ein Ziel, ein Ideal, eine Wunschvorstellung? Vielleicht leitet mich die Suche nach Glück – aber was ist das, das Glück? Ist der Stern, dem ich folge, auch in der Lage, mich zu leiten, wenn meine Lebensreise durch Nächte führt? Was ist dann mein Halt, was trägt mich? Wir orientieren uns oft am Vorläufigen, streben nach bestimmten Dingen, und wenn wir sie erreicht haben, stellen wir fest, dass sie uns nicht das gebracht haben, was wir uns von ihnen versprochen hatten: Menschen im Krankenhaus sind manch32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

mal in der Situation, dass von dem, was ihnen vorher so wichtig war, nur wenig übrig geblieben ist, aber gerade dieses ist auf einmal von unschätzbarer Bedeutung, erweist sich als das Kostbarste. Ich spreche von der Beziehung zu anderen Menschen. Wenn alles andere bedroht ist, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, ja, das Leben selbst, dann sind es die Beziehungen zu anderen Menschen, zu Frau, Mann, Kindern, Freunden, die Halt geben. „Wir warten auf einen menschlichen Stern“, heißt es in einem Gedicht von Wilhelm Willms, „der unser Leben hell macht, der unser Leben froh macht. Wir warten auf einen Stern, der Hand und Fuß hat.“ Der Stern im Leben so mancher Menschen, denen ich in meiner Arbeit als Seelsorger begegnet bin, ist der geliebte Andere, der an die Tür des Krankenzimmers klopft und dann da ist, vielleicht für ein paar Stunden, manchmal aber auch die ganze Nacht. Und die Angst wird ein wenig kleiner, der Atem geht ruhiger. – In einem alten walisischen Volkslied heißt es: Tief breitet sich die Stille um uns herum aus, in der Nacht Dunkel ist der Pfad, dem wir folgen, in der Nacht. Aber die Hoffnung die in uns brennt, lässt uns schon den Tag entdecken. Unsere Füße wenden sich in die Richtung der Morgen­ dämmerung, in der Nacht. Stern des Glaubens, der du das Dunkel schmückst, in der Nacht. Führe uns furchtlos zum Morgen, durch die Nacht. Obwohl unsere Herzen von Kummer umwunden sind, leihen wir uns von der Hoffnung auf die Morgendämmerung das Versprechen eines glücklichen neuen Tages, in der Nacht. Der Andere als menschlicher Stern – der Stern des Glaubens, der durch die Nacht führt und Hoffnung auf den Morgen schenkt – 33 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

zwei Sterne oder doch nur einer? Beide Male Sein Stern, Gottes Stern, oder doch nur einer? Es ist schwer dem Stern des Glaubens zu folgen, wenn man ganz und gar einsam ist – und: begegnet uns Gott nicht im Anderen? Was würde aus unserem Leben, wenn man uns predigte, dass Gott die Liebe sei, aber es uns an der Liebe anderer Menschen ganz und gar fehlt? „Wir haben seinen Stern gesehen“, sagen die Weisen aus dem Morgenland. Ob es der Andere, der Mitmensch ist, der dieser Stern ist, ob es der Stern des Glaubens ist oder ob der Stern eine noch ganz andere Gestalt hat: Ich glaube, diesen Sternen zu folgen, führt letztlich dorthin, wohin auch die Weisen gelangt sind: Sie finden ihren König in der Gestalt eines Kindes in einem Stall und sie beten es an. Aber sie sehen darin keinen Gegensatz: Sie nehmen das Mächtige in der Ohnmacht wahr, das Wertvollste in der Armut. Gott im Menschen. Uns führt der Stern, wenn wir nur nach ihm Ausschau halten, zu Gott, der mitten in der Welt uns nahe ist, in der Nacht, in der Angst, wenn nichts Anderes mehr Halt gibt, so nahe, dass wir Christen sagen: Er sei Mensch geworden. Amen.

WEIHNACHTEN Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht Lesung des Predigttextes Lk 21,25–31

Liebe Gemeinde, wenn es eine Stelle aus dem Lukasevangelium gibt, die auch heute noch viele Menschen kennen, dann ist es die Weihnachtsgeschichte: „Und es begab sich zu der Zeit, als …“ – Schafe und Hirten, Ochs und Esel, dazu die Engel, Maria und Joseph, das 34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Kind in der Krippe: Das ist ein Bild, das wir alle kennen, das uns vertraut ist, das vielen auch ans Herz gewachsen ist. Der Predigttext für heute stammt auch aus dem Lukasevangelium, aber er malt mit seinen Worten ein ganz anderes Bild, kein so liebliches wie die Weihnachtsgeschichte mit Stall, Tieren und Krippe, sondern ein eher beängstigendes Bild, das Bild des Weltendes: Es werden Zeichen an Sonne und Mond geschehen, die Völker werden Angst haben, es wird Sturmfluten geben und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken kommen. Nichts weniger als das Ende der Welt wird uns hier vor Augen gemalt. Das Matthäusevangelium und das Markusevangelium ergänzen dieses Schreckensbild, indem dort außerdem noch steht: Und die Sterne werden vom Himmel fallen. Dieses Bild passt nicht so recht in die Adventszeit, nicht zu Weihnachtsmarkt und Glühwein, nicht so recht zu weihnachtlich mit Kerzen und vielem mehr geschmückten Wohnungen und Häusern. Diese Schilderung des Endes der Welt hier im Lukasevangelium mag uns fremd und unpassend vorkommen, aber so mancher Mensch, so manche Familie, der ich im Krankenhaus begegne, erlebt diese Zeit jetzt genau so, nämlich als das Ende – nicht der Welt im Großen, mit Sonne, Mond und Sternen, sondern als das Ende der Welt im Kleinen, seiner oder ihrer eigenen persönlichen Welt. Denn in diese Welt hat vielleicht eine schwere Krankheit Einzug gehalten oder gar der Tod eines geliebten Menschen, und damit ist die Welt, so wie so vorher war, nicht mehr da: Alles ist anders geworden, alles hat sich verändert. Das Ende der Welt – wenn wir das auf unser Leben übertragen, wenn wir das übersetzen in unsere Lebenserfahrungen, dann ist das gar nicht so weit weg, dann hat das schon mit uns zu tun, oder wenn nicht direkt mit uns, dann doch mit Menschen, die wir kennen. Das Ende unserer persönlichen Welt, das muss nicht gleich das Ende des Lebens selbst sein, das kann auch sonst eine 35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

persönliche Katastrophe sein, die uns ereilt: eine Ehe, die scheitert, ein Arbeitsstelle, die gekündigt wird. In den Evangelien kündigt diese befremdlich oder sogar bedrohlich wirkende Vorstellung das Kommen des Menschensohnes an: „Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ Für die Evan­ gelien ist der Menschensohn Jesus, der als der Gesandte Gottes am Ende der Zeit und der Welt wiederkehrt. Aber was fangen wir damit an? Ist das noch unsere Hoffnung? Ist es das noch, was wir erwarten? Können wir noch so denken, und wollen wir es? Ich denke, den meisten von uns wird das schwer fallen, ihre Zuversicht, ihren Lebensmut aus der Hoffnung auf eine so gewaltige Veränderung der Welt zu beziehen, wie sie hier geschildert wird. Und können wir eine Beziehung haben zu dem Jesus der Endzeit, zum Menschensohn, der da kommt in seiner ganzen Kraft und Herrlichkeit? Aber dann, unerwartet, kommt noch ein ganz anderer Satz. Wie ein Kontrastprogramm zu den Schilderungen des ­Schreckens des Weltendes steht er da: „Wenn aber dies anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht!“ Ich stelle mir Menschen vor, denen ich in der vergangenen Woche im Krankenhaus begegnet bin, stelle mir vor, ich würde ihnen diesen Satz sagen. Was würden sie wohl antworten, wie würden sie reagieren? Vielleicht würden manche sagen: „Ich will nicht erlöst werden, ich will gesund werden!“ Vielleicht wäre aber auch jemand dabei, der sagt: „Ja, ich will erlöst werden von meinem Leiden, weil ich es nicht mehr ertrage.“ Wieder ein anderer würde sagen: „Wozu brauche ich Erlösung – ich will doch nur wieder laufen können!“ 36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wie gehen wir dann um mit dieser Verheißung der Erlösung? Sollen wir sie beiseitelegen als unrealistisch, oder gar unbrauchbar? Was aber brauchen wir denn? Was braucht der Mensch, wenn seine persönliche kleine Welt, die doch alles ist, was er hat, zu Ende geht? Er braucht Hoffnung! Und er braucht Begleitung, Freundschaft, Nähe, Verständnis, am besten Liebe, damit er nicht allein ist in diesem Weltende. Er braucht Vertrauen  – auf Menschen und vielleicht auch noch auf Gott; oder vielleicht sogar an erster Stelle auf Gott, aber das darf jeder so sehen, wie er es will. Vertrauen ist wichtig. Vielleicht sogar das Wichtigste. Das Vertrauen berührt wiederum die Hoffnung, denn die Hoffnung lebt von dem Vertrauen auf jemanden, der das bewirkt, worauf die Hoffnung hofft. Aber hier im Predigttext ist von dem allen nicht die Rede, hier wird uns Erlösung angeboten – in dem gewaltigen Bild, das ­Lukas entwirft, eilt die Geschichte der Menschheit auf die große Erlösung hin. Aber was hilft uns die große Erlösung, wenn es keine kleine Erlösung für unsere eigenen Weltenden gibt? Denn für uns ist die kleine, persönliche Erlösung – das, was wir erleben und erfahren am eigenen Leib und an eigener Seele  – das Eigentliche, das Wichtige. Alles andere, wohin die Menschheit treibt, ob sie dem Untergang geweiht ist oder der Erlösung ent­ gegen geht am Ende der Zeiten ist uns schnurz und herzlich egal. Damit uns der Predigttext etwas bedeuten kann, muss er von etwas sprechen, was auch unsere Erfahrung sein kann. Erlösung, das kann auch heißen: frei werden von etwas. Versuchen wir es damit: Kann ein kranker Mensch frei werden von Sorge oder gar von seiner Angst? In meiner Arbeit als Krankenhausseelsorger habe ich beides erlebt: dass es geht und dass es nicht geht. Wie gelang es Menschen, von ihrer Angst frei zu werden? Ich glaube, 37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

das ist die falsche Formulierung. Ich glaube nicht: Ihnen gelang es, sondern es gelang Gott. Und doch wieder haben sie auch etwas dazu getan. „Ich bin in Gottes Hand“, hat einmal jemand zu mir gesagt. Die Menschen, die frei geworden sind von ihrer Angst, haben sich der Hand Gottes anvertraut. Das sagt sich so einfach, aber ist es nicht. Ich glaube, es bedeutet zu erkennen, dass einem nichts anderes hilft. Nicht der Arzt, nicht die Angehörigen, obwohl das alles auch wichtig ist. Menschen die frei geworden sind von Angst, brauchten den Gedanken an den Tod nicht mehr zu verdrängen. Ich glaube, das gilt so oder so ähnlich für jedes kleine oder große Weltende, die ein Mensch erlebt. Ich glaube aber auch, dass mitunter die Erlösung oder die Befreiung auch ein Vorgang sein kann, der Zeit braucht. Glaube ist kein Zaubermittel gegen Angst oder Schmerz. Aber Glaube hilft, den Weg zu gehen, auf dem Angst oder Schmerz bewältigt werden können. Das ist Erlösung. Wir haben nun vielleicht verstanden, dass das Lukasevangelium doch nicht so weit weg ist von unserer Wirklichkeit. Kann es eigentlich auch gar nicht, denn es wurde ja nicht für Engel oder Heilige geschrieben, sondern Menschen wie wir sollten es lesen, sollten für sich etwas daraus mitnehmen. Menschen wie wir, also auch solche, die von kleinen oder großen Katastrophen bedroht worden sind, die auch damit rechnen mussten, dass ihre kleine persönliche Welt zerbrechlich und letztlich vergänglich ist. Aber Lukas mutet uns noch mehr zu als befremdliche Vorstellungen. „Wenn dies alles geschieht“, lässt er Jesus sagen  – und dann erzählt er das Gleichnis vom Feigenbaum. So, wie man aus den Blüten des Baumes das Kommen des Sommers ablesen kann, so kann aus den Zeichen des Weltendes auf das Kommen der Erlösung geschlossen werden. Etwas simpler ausgedrückt: Wenn es am schlimmsten ist, ist die Rettung am nächsten. 38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Ich denke an ein Gespräch aus den letzten Wochen. Ein Mann erzählt mir, wie wichtig der Glaube für ihn sei. Das sei nicht immer so gewesen sagt er, aber der Tod seiner Frau habe das alles geändert. Ein Spruch, eine Volksweisheit fällt mir ein: „Not lehrt beten.“ Und der Dichter Hölderlin sagt. „Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch.“ Ist das so? Meine Erfahrung als Krankenhausseelsorger lehrt mich, dass das nicht immer stimmt. Manche Menschen versinken durch ihre Not in einen Abgrund von Depressivität, aus dem nicht immer ein Weg hinausführt. Eine Aufforderung zum Gebet, so wohlmeinend sie auch wäre, richtete hier gar nichts aus. Dennoch ist an der Volksweisheit etwas dran, denn manchmal gelingt es Menschen in der Not, sich an etwas zu erinnern, was lange verschüttet lag. Vielleicht fällt ihnen ein Bibelvers wieder ein, der sie einmal vor langer Zeit berührt hat, vielleicht denken sie an die Großmutter, die ihnen in ihrer schlichten Weise vom Glauben erzählt hat. Über dieses Thema wäre vielleicht noch länger zu sprechen, das kann ich hier nicht tun. Ich will meine Predigt damit schließen, dass ich sage: Nach meiner Erfahrung könnte da etwas dran sein, dass dann, wenn unsere eigene kleine persönliche Welt bedroht ist, dass gerade dann auch uns die Rettung nahe ist. Vielleicht kann uns das Hoffnung geben, vielleicht kann das für uns der Anstoß sein, neu zu hoffen, dass wir in Sorge, in Angst, in Schmerz nicht allein gelassen sind. Amen.

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JAHRESWECHSEL Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes Liebe Gemeinde! Das alte Jahr geht zu Ende – ich weiß nicht, wie Sie es halten, aber am Ende eines Jahres denke ich oft darüber nach, was alles war in diesem Jahr; ich lasse es noch einmal an mir vorüber ziehen – das Gute, und manchmal, je nach Jahr, auch das weniger Gute. Aber es mag auch jemand hier sein oder jemand zuhören, der gerade auf dieses Jahr 2011 nicht gerne zurück sehen mag, jemand, der einfach nur will, dass dieses Jahr endlich zu Ende geht und ein Strich darunter gezogen werden kann. Nicht immer ist es einfach, zurückzuschauen. Aber andererseits kann das, was geschehen ist an Gutem und an weniger Gutem, nicht ausgelöscht, weggewischt werden, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen mögen: Dass das weniger Gute unseres Lebens fortgewischt werden könnte, so wie früher am Ende jeder Schulstunde die Tafel mit einem feuchten Schwamm sauber gewischt wurde, bereit für den Tafelanschrieb der nächsten Schulstunde – aber das gilt für Schultafeln, nicht für unser Leben. Und vielleicht ist das sogar gut so … Ich stelle mir dieses vergangene Jahr 2011 wie eine solche große Schultafel vor: Was mag alles darauf zu lesen sein? Es gibt Ereignisse, die wohl auf allen unseren Jahrestafeln stehen, wie zum Beispiel … (aktuell ergänzen) Was mag alles auf Ihren eigenen Jahrestafeln stehen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer? Schönes und weniger Schönes, vielleicht sogar Schreckliches, was kaum jemand kennt außer uns selbst. Momente, Stunden, Tage die wir um nichts in der Welt wieder erleben möchten. Aber vielleicht auch solche, zu denen wir wie Goethes Faust gern sagen würden: „Verweile doch, du bist so schön!“ 40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Und es gab es in diesem Jahr hoffentlich auch die ganz normalen Tage, an denen nichts Besonderes geschehen ist. Die Tage, an denen wir ganz einfach den normalen Alltag gelebt haben. Und alles, das Schöne, das Schlimme, das Normale, die ganze Geschichte dieses Jahres, trägt seinen Teil dazu bei, dass wir der einzigartige, unverwechselbare Mensch sind, der wir sind. „Wir sind unsere Vergangenheit“, sagt der Philosoph Martin Heidegger. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit – ist denn die Vergangenheit alles? Es wäre nicht gut, wenn sie die einzige uns prägende Macht wäre, der wir uns nicht entziehen könnten. Kommt es nicht sehr darauf an, wie wir mit ihr umgehen? Aber davon gleich noch mehr. Der Jahreswechsel ist nicht nur Anlass, um zurückzuschauen, nicht nur Anlass, über die Vergangenheit nachzudenken, sondern er ist auch die Schwelle zum nächsten Jahr. Aber bevor wir unsere Gedanken in die Zukunft gehen, lassen Sie uns einen Moment innehalten und auf dieser Schwelle zwischen Altem und Neuem den Predigttext für heute hören  – er stammt aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom:

Lesung des Predigttextes Röm 8,38–39

„Nichts kann mich scheiden von der Liebe Gottes“, schreibt ­Paulus – ein guter Satz. Vielleicht tut es uns gut, ihn heute Abend bewusst zu hören, als einen trostreichen Satz, der im Rückblick für die Vergangenheit gilt, und als einen hoffnungsvollen Satz, den wir mitnehmen könnten in die Zukunft des neuen Jahres. Paulus schreibt aber nicht einfach „Nichts“, sondern er zählt allerhand auf, was sich zwischen uns und Gott schieben könnte, was uns trennen könnte von Gott, so dass Gott nichts mehr mit uns zu tun haben könnte oder wollte. 41 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Er beginnt mit dem wohl größten Gegensatz, dem wir aus­ gesetzt sind: Leben und Tod. Über beides wäre gewiss viel zu sagen und nachzudenken  – zum Beispiel könnten wir fragen, wie uns wohl das Leben von Gott trennen könnte? Vielleicht so, dass wir über das Leben mit seinen Höhen und Tiefen Gott ver­ gessen könnten? Dass uns das Leben selbst, mit dem, was es in ihm von Tag zu Tag alles zu bewältigen gibt, so anfüllen und ausfüllen könnte, dass Gott keine Rolle mehr dabei spielte? Ich kann mir denken, dass Menschen im Krankenhaus wohl dieser Gefahr am wenigsten ausgesetzt sind, denn hier fällt der Alltag mit seinen Nebensächlichkeiten und Belanglosigkeiten, mit seiner Eile und Hast, schlechterdings aus – er fällt so sehr aus und wird so bedeutungslos, dass sich mancher wieder nach ihm zurück sehnt, weil leider nicht selten der Alltag ersetzt wird durch ein Leben auf der Grenze zwischen Leben und Tod, ersetzt wird durch ein Leben, das geprägt ist von der Sorge um die Zukunft, um sich selbst oder um einen geliebten Menschen. Und vielleicht ist es dann auch diese Art von Leben, in dem Gott keine Rolle mehr spielt, weil er ja doch wie machtlos scheint angesichts der Mächte, die dann eine Rolle spielen: Not, Sorge, Angst. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, nicht das Leben, nicht der Tod. Wenn das so ist, dann ist die Liebe Gottes immer da und immer erfahrbar, im Leben, im Tod. Wenn das so ist, dann ist Angst da, Sorge, Not, aber nicht nur diese, sondern auch die Liebe Gottes. Von Mächten und Gewalten schreibt auch Paulus und auch hier lohnt das Nachdenken darüber, was alles solche Mächte sein können. So kann auch die Vergangenheit eine Macht sein, die uns gefangen nimmt: Fehlentscheidungen, die wir nicht mehr korrigieren können, Chancen, die wir verpasst, Schuld, die wir auf uns geladen haben. Und so mag es noch manch andere Macht geben, die an uns zieht und uns für sich haben möchte. Was das 42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

konkret sein könnte, wird jeder für sich selbst wissen. Mir geht es heute auf der Schwelle zwischen altem und neuem Jahr allgemein um die Macht der Vergangenheit – und auch auf diese Macht lässt sich die Gewissheit des Paulus übertragen, dass auch sie uns nicht scheiden kann von der Liebe Gottes. Was geschieht in mir, wenn ich beides zusammenbringe: das Schwere des vergangenen Jahres oder gar der vergangenen Jahre und die Liebe Gottes? Was kann dann alles geheilt oder doch gelindert werden in mir und eine neue Bedeutung gewinnen? Paulus selbst scheint mit den Mächten und Gewalten die Zeit im Blick gehabt zu haben, denn er fährt fort: „Gegenwär­ tiges oder Zukünftiges“. Nehmen wir also das Zukünftige in den Blick, die Zukunft des neuen Jahres: Sie wissen, dass der Lärm den Raketen und Böller an Silvester nicht nur ein Ausdruck der Freude über das neue Jahr ist, sondern früher auch dazu diente, mit Lärm etwaige böse Geister zu vertreiben. An böse Geister glauben wir heute nicht mehr, aber wie viele werden wohl mög­ licherweise versuchen, die Stimme der Besorgnis vor der Zukunft mit Krach zu übertönen? Wie geht es Ihnen, wenn Sie auf das Jahr 2012 sehen? Was erwarten, erhoffen Sie sich für dieses Jahr? Was könnte geschehen, was dieses Neue Jahr zu einem guten Jahr für Sie werden ließe? Es kann aber auch sein, dass Sie in erster Linie mit Sorge an die nächsten Wochen oder Monate denken. Es kann sein, dass Sie schon wissen, dass in diesem Jahr Schweres zu bewältigen sein wird. Es gibt nun keinen Satz, den ein Prediger sagen könnte, der diese Sorge einfach wegwischt – auch wenn es ein Bibelvers wäre, auch wenn es die Worte von Paulus sind. Weder lässt sich die Vergangenheit durch Worte allein bewältigen noch durch bloße Worte die Angst vor der Zukunft aushalten. Dazu braucht es die Erfahrung selbst, von der die Worte sprechen. Nur durch diese besondere Erfahrung, von der Paulus 43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

verspricht, dass es sie gibt. Paulus könnte auch sagen: Ich weiß genau, dass nichts uns trennt von der Liebe Gottes, ich weiß das, ich bin dessen gewiss, weil ich das so erfahren habe, und diese Erfahrung verspreche ich auch euch, auch ihr könnt das spüren. Paulus sagt nicht: Die Liebe Gottes ist größer als die Macht der Sorge, er sagt auch nicht, dass Glaubende Sorge und Angst nicht kennen werden, sondern er sagt: Die Macht der Sorge kann uns von der Liebe Gottes nicht trennen, das heißt: In der Sorge, in der Angst kann die Liebe Gottes erfahren werden. Was könnte in der Seele einer Frau oder eines Mannes oder eines Kindes geschehen, wenn dort die Furcht vor der Zukunft von der Liebe Gottes berührt wird? Die Liebe Gottes, „die in Christus Jesus ist“ – die Liebe Gottes hat ein Gesicht, sie kein abstrakter Gedanke. Die Liebe Gottes hat ein Gesicht, das Gesicht eines Menschen, wir kennen dieses Gesicht nicht, keiner von uns hat es gesehen, auch Paulus nicht. Das ist wichtig: Auch er kannte ja Jesus nicht! Aber dennoch berichtet er, dieser Mensch sei ihm erschienen auf der Reise nach Damaskus und habe sein Leben verändert. Paulus hat in seiner Vision einen Menschen gesehen und trotzdem mehr als einen Menschen. Die Liebe Gottes ist eine Wirklichkeit, eine menschliche Wirklichkeit und eine göttliche Wirklichkeit. Eine menschliche, weil sie von uns Menschen erfahren werden kann, und eine göttliche, weil sie nicht in unserer Macht steht. Und nur deshalb kann uns nichts von ihr scheiden. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes – in einem kurzen Text, den ich neulich las, fand ich einen Gedanken, der gut zu den Worten des Paulus passt und den ich Ihnen zum Schluss weitergeben möchte: Sie wissen vielleicht, dass man vor einigen hundert Jahren hinter die Jahreszahl die Buchstaben A. D. schrieb. Man kann das heute noch an den Inschriften alter Fachwerk­ 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

häuser lesen, zum Beispiel 1650 A. D., das heißt: „Anno Domini, im Jahre des Herrn“ oder „das Jahr des Herrn“. Das vergangene Jahr war das Jahr 20xy Anno Domini mit allem, was in diesem Jahr war, und auch für das kommende Jahr (das neue Jahr) wird das wieder gelten: 20xz Anno Domini, das Jahr des Herrn. Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie in diesem Jahr 20xz etwas davon erfahren: 20xz Anno Domini, Jahr des Herrn. Amen. Barmherziger Gott, an der Schwelle zwischen altem und neuem Jahr kommen wir zu dir mit dem, was gut war in diesem Jahr, mit dem Schönen, das uns begegnete, aber auch mit all dem, was schwer war in diesem Jahr: mit unserem Kummer, mit unserer Trauer, mit dem, was nur wir selbst wissen. Wir kommen zu dir mit unserer Sorge vor der neuen Zeit, mit unserer Hoffnung, mit unserer Sehnsucht. Wir bitten dich: Rühre uns an mit der Erfahrung deiner Gegenwart, deiner Liebe, deiner Fürsorge, deiner Vergebung, deinem Erbarmen, deiner Geborgenheit. Dies bitten wir für uns, aber auch alle anderen 45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Frauen und Männer hier in diesem Krankenhaus. Geh mit uns in die neue Zeit, in das neue Jahr. Vater unser im Himmel …

EPIPHANIAS Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe Liebe Gemeinde, ich möchte Sie auf eine Phantasiereise mitnehmen. Sie führt nach Israel, zum Fluss Jordan. Stellen Sie sich dabei einen nicht allzu breiten Fluss mit eher trübem Wasser vor. Zwei Männer stehen an seinem Ufer, vor ihnen fließt der Fluss von rechts nach links in Richtung Totes Meer, denn sie stehen an seinem jordanischen Ufer. Sie sprechen miteinander. Schließlich steigen beide ins Wasser und gehen ein Stück in den Fluss hinein. Als dieser ihnen etwa bis zur Hüfte reicht, taucht der eine unter und der andere fasst in den Fluss und zieht ihn wieder an die Oberfläche, dann begießt er ihn mit Wasser und spricht etwas dazu. Am Jordan gibt es viele Vögel und zufällig fliegt in diesem Moment auch einer, vielleicht eine Wildtaube, über die beiden Männer. Diese Geschichte hat sich vor fast 2000 Jahren zugetragen. Sie wird uns von dem Evangelisten Matthäus überliefert:

Lesung des Predigttextes Mt 2,13–15

Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, beschreibt der Evangelist Matthäus das Geschehen am Jordan etwas anders als ich. Er weiß 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

anscheinend sogar, was die beiden Männer, Johannes der ­Täufer und Jesus miteinander besprochen haben. Das allein ist schon interessant, denn wir wissen noch nicht einmal genau, wer das Evangelium verfasst hat. Aber hören wir das Matthäusevangelium weiter:

Lesung des Predigttextes Mt 2,16–17

War eben noch alles sozusagen normal, bewegte sich das Geschehen noch in einer Wirklichkeit, die wir auch kennen – zwei Männer an und in einem Fluss, die dort bestimmte Dinge tun –, so wird die normale Wirklichkeit in diesen letzten beiden Versen verlassen und ein ganz anderes Geschehen wird uns berichtet. „Und ihm tat sich der Himmel auf“, hören wir. Wie mag es einem Menschen ergehen, der so etwas erlebt? Wissen kann ich das nicht, denn so etwas gehört nicht zum Bereich meiner Erfahrungen. Aber ich möchte von zwei Menschen erzählen, die ich getauft habe. Beide waren Erwachsene, Tatjana und Andreas. Beide waren unheilbar krank, beide ahnten, dass sie sterben würden. Und beide wünschten sich, getauft zu werden. Andreas habe ich dann in einem Krankenhaus in Wies­ baden getauft, Tatjana im Marienkrankenhaus in Siegen. Diese beiden Taufen werde ich nie vergessen. Die Taufe eines Kindes ist ja in der Regel ein fröhliches Ereignis, der kleine Mensch hat seinen Lebensweg noch vor sich – aber dieser junge Mann und diese junge Frau wussten, dass ihr Lebensweg bald zu Ende sein würde. Die Taufe war für sie eine Vorbereitung auf ihr Sterben. Warum wollten sie getauft werden? Letztlich ist das ihr Geheimnis geblieben. Vielleicht wollten sie durch die Taufe spüren, erfahren, erleben: „Du gehörst zu Gott – was immer auch geschieht.“ Ich gehöre zu Gott, ganz 47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

gleich was immer auch geschieht – könnten wir nicht auch die Taufe Jesu so verstehen – also, dass Jesus seine Taufe so oder so ähnlich erlebt hat? Wir sind zu sehr daran gewöhnt, die Geschichten über und von Jesus als Zeugnisse über ein Wesen zu lesen und zu hören, das es nur einmal in der Menschheitsgeschichte gab: Christus, den Gott-Menschen, Gott in menschlicher Gestalt. Wir sind zu sehr daran gewöhnt, damit meine ich: Wir setzen diese Erzählungen nicht mehr mit uns selbst in Beziehung, wir halten es für ganz und gar ausgeschlossen, dass sie auch etwas mit uns zu tun haben könnten, wir halten es für ganz und gar ausgeschlossen, dass die Erfahrungen Jesu, von denen wir in den Evangelien hören, auch unsere Erfahrungen sein oder werden könnten, wenn nicht völlig gleich, so doch ähnlich. Traditionell denkt die Kirche hauptsächlich über das nach, was Jesus für uns getan hat, oder sie denkt über die Lehre Jesu nach. Höchstens, wenn es um Leidenserfahrungen geht, hält man eine Ähnlichkeit zwischen den Erfahrungen des Gott-Menschen und unseren Erfahrungen für möglich. Aber auch in dieser Beziehung höre ich oft, dass Christen der Auffassung sind, niemand hätte so gelitten wie Jesus – weder vorher noch nachher. Doch kennt man sich in der Geschichte der Menschheit nur ein wenig aus, so kann man an dieser Auffassung durchaus zweifeln! Aber kehren wir zurück: Ich denke, dass alles, was von Jesus überliefert worden ist, auf Erfahrungen mit Gott beruht, die Jesus selbst gemacht hat, oder auf Erfahrungen von Menschen, die Jesus begegnet sind. Doch was bedeuten solche Erfahrungen, wenn sie nur einmal in der Geschichte möglich waren? Denn dann wäre es ausgeschlossen, dass wir ähnliche Erfahrungen mit Gott machen können. Der Glaube aber beruht auf Erfah48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

rung. Alle Predigt, alles Lesen in der Bibel, alle klugen Bücher über den Glauben sind sozusagen zweitrangig, sie können zu Erfahrungen mit Gott hinführen, diese Erfahrungen aber nicht ersetzen. Ich meine: Wir versperren uns den Zugang zu großen Schätzen der Evangelien, wenn wir sie ausschließlich mit der Brille der kirchlichen Lehre lesen, also als Zeugnisse von den Taten und den Worten eines Gott-Menschen, dem wir nicht gleich sind und nie gleich sein werden. Manche dieser Schätze erschließen sich uns jedoch, wenn wir Jesus einmal als Mensch sehen, also sozusagen eine ganz normale menschliche Brille aufsetzen. Das mag ungewohnt sein, aber versuchen wir es. Ist es also vielleicht möglich, die Geschichte von der Taufe Jesu nicht als Beschreibung eines äußeren Geschehens zu verstehen, als etwas, das prinzipiell auch mit einem Videorecorder hätte aufgezeichnet werden können  – komplett mit Taube und Stimme, sondern als die Beschreibung einer inneren, seelischen Erfahrung Jesu? Dann hätte der Predigttext zwei Seiten, eine äußere und eine innere Seite. Die äußere Seite wäre: Zwei Männer, Johannes und Jesus, am Jordan, Johannes tauft Jesus. Alles, was darüber hinausgeht in der Erzählung des Matthäus, wäre dann die innere, seelische Seite: Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Wie muss es sein, so etwas zu erleben? Ich weiß das nicht und vielleicht haben Sie eine solche Erfahrung auch noch nicht gemacht. Aber vielleicht gab es ähnliche Erfahrungen in Ihrem Leben, zum Beispiel das Erleben einer großen Liebe oder die Erfahrung des Einsseins mit der Natur, vielleicht gab es auch in Ihrem Leben eine Glaubenserfahrung, die Sie sehr berührt hat. Ich 49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

stelle mir vor, dass Jesus etwas erlebt hat, das ähnlich war, aber so tief, so überwältigend, dass er von diesem Erlebnis ganz und gar ausgefüllt und verändert worden ist. Es ist ja nicht von ungefähr, dass in den Evangelien die Taufe am Beginn der Wirksamkeit Jesu steht. Erst kommt seine Taufe, dann alles andere: die Versuchung in der Wüste, die Berufung der ersten Jünger, die ersten Heilungen. Ist es so fern liegend, anzunehmen, dass die Erfahrung seiner Taufe Jesus auf diesen Weg gebracht hat? In der Bibel begegnen wir ähnlichen Erfahrungen bei den Propheten des Alten Testaments, deren oft ebenfalls sehr leidvolle Wege immer mit der Erfahrung ihrer Berufung begannen, d. h. einer völlig intensiven Erfahrung Gottes, die ihnen keine andere Wahl ließ, als Gottes Aufträge ausführen. Auch in unserer Zeit ist es oft eine besondere Erfahrung, die Menschen auf ihren Weg schickt. Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe – so heißt es bei Matthäus. Im Markusevangelium heißt es: Du bist mein geliebter Sohn. Genau das hat Jesus bei seiner Taufe erfahren. Die Erfahrung totaler Annahme und Liebe. Die Bedeutung der Geschichte von der Taufe Jesu liegt in diesem Satz – und der gilt nicht nur für Jesus, sondern für jede Frau und jeden Mann hier: „Du bist meine geliebte Tochter an der ich Wohlgefallen habe. Du bist mein geliebter Sohn, über den ich mich freue.“ Ich glaube, dass das von uns auch so erfahren werden kann. Für manche Menschen ist das ja ganz und gar unproblematisch; sie erleben das schon so. Für andere wiederum ist das gar nicht so leicht, vor allen Dingen dann nicht, wenn jemand die Liebe des leiblichen Vaters oder überhaupt die Liebe der leib­ lichen Eltern nicht oder nur eingeschränkt erlebt hat. Aber das ist ein neues Thema für eine neue Predigt. Auch wäre noch darüber 50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

nachzudenken, wie das von uns erfahren werden kann, welche Wege wir gehen können, um für die Erfahrung der Liebe Gottes offen zu werden. Vielleicht nehmen Sie einmal den Satz Du bist mein gelieb­ ter Sohn, du bist meine geliebte Tochter, mit in den Alltag hier im Krankenhaus oder außerhalb des Hauses und machen Ihre Erfahrungen mit ihm? Und Sie versuchen, sich einmal so zu sehen, wie dieser Satz es ausdrückt? Sich von dem Gott geliebt zu fühlen, der das ganze All mit seinen Sternen und Galaxien er­ schaffen hat? Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter. Haben Andreas und Tatjana das erfahren? Haben sie gespürt: Ich gehöre zu Gott, ganz gleich, was immer auch geschieht? Ich hoffe es. Ich glaube daran. Amen.

PASSIONSZEIT Ich weiß, dass mein Erlöser lebt Lesung des Predigttextes Hiob 19,25–27

Liebe Gemeinde, immer wieder höre ich sie, die Frage Warum; es ist vielleicht die meist gestellte Frage im Krankenhaus, aber nicht nur da. Warum? Warum traf es mich? Warum traf es meine Frau, meinen Mann? Warum so früh? Warum immer noch mehr? Reichte es denn nicht, was wir schon erlitten haben? „Ich darf nicht nach dem Warum fragen, dann werde ich verrückt!“, sagte mir eine Frau in dieser Woche. Ich will das Leid, das hinter diesen Fragen steht, gar nicht erst erzählen, ich denke, Sie haben ohnehin eine Vorstellung davon. 51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

„Früher haben wir gesagt: Nicht warum wollen wir fragen, sondern wozu. Aber das können wir nicht mehr. Was sollte das, was wir jetzt erleben, für einen Sinn machen?“, sagte mir ein Ehepaar, mit dem ich vor zwei Wochen sprach. – Die Beispiele ließen sich vermehren. So sagte mir ein Patient: „Nach dem Warum frage ich nicht, darauf gibt es keine Antwort!“ Gibt es eine Antwort? Und in welchen Sinne? Der Predigttext für heute kommt aus einem Buch des Alten Testa­ments, dem Buch Hiob. In wohl keinem anderen Buch der Bibel wird die Frage nach dem Warum des Leidens so umfassend gestellt wie hier: Sie kennen die Geschichte Hiobs, eines frommen Mannes, dem nach und nach alles genommen wird, was ihm lieb und teuer ist. Hab und Gut nicht nur, sondern auch seine Familie. Genomen wird, habe ich gesagt: Das ist die Kernfrage, um die es im Buch Hiob geht: Wird ihm tatsächlich das alles genommen, also gibt es jemanden, der hier aktiv handelt, ist es Gott, der ihm das alles antut? Hiob hat Freunde, die ihn trösten wollen in seinem Leid. Im Mittelteil des Buches aber versuchen sie, ihn davon zu überzeugen, dass es in der Tat Gott ist, der hier an Hiob handele, dass Gott ihn bestrafe, für das, was er ja getan haben muss. Er muss schuldig geworden sein, denn sonst würde Gott ihm das alles ja nicht antun. Hiob wehrt sich vehement gegen solche Deutungsversuche und am Schluss des Buches spricht Gott selbst zu ihm und gibt ihm Recht gegen seine Freunde. Die Geschichte Hiobs geht gut aus: Für seine Treue gegen Gott wird er belohnt: „Und der Herr gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte.“ (Die Frage, ob man verlorene Kinder ersetzen könne, stellt der Erzähler des Buches nicht!) Die Geschichten, die wir erleben, gehen oft nicht gut aus. Ist es Gott, der uns das Leid antut, aus welchen Gründen auch im52 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

mer? Das kann nicht sein, denn was wäre das dann für ein Gott? Das Hiobbuch setzt sich auch mit einem anderen Gedanken auseinander, nämlich dass Gott Leid, Krankheit und Tod zwar nicht selbst verursacht, aber doch zulässt. Auch das ist keine Antwort, mit der wir leben können, keine Antwort, mit der ich leben will. Denn ist das nicht ebenso verwerflich: Leid, das ich im Prinzip ändern könnte oder verhindern könnte, zuzulassen, also mich herauszuhalten? Gott wäre dann jemand, der sich heraushält aus dem Gang der Welt, obwohl er im Prinzip sehr wohl anders könnte. In der Rahmengeschichte des Hiobbuches wird der arme Hiob zum Testfall: Der Satan, so heißt es, bezweifelt die Gottestreue Hiobs, und um zu beweisen, dass Hiob nicht nur im Glück, sondern auch im Leid zu ihm halte, überlässt Gott Hiob dem Wirken des Satans. Das muss man sich mal klar machen, was hier von Gott erzählt wird! Hiob wird nicht nur zum Testfall für den Glauben, sondern zugleich zum Spielball eines Konfliktes zwischen der Macht des Guten und des Bösen, wobei das Gute, also Gott, hier nicht wirklich gut, sondern moralisch eher zweifelhaft ist, weil er sich überhaupt auf dieses Spiel einlässt. Aber so ist Gott nicht: Weder ist er der willkürliche Verteiler von Glück und Unglück noch lässt er körperliches oder seelisches Leid wissentlich zu. Das glaube ich nicht und ich denke, ein solcher Gott wäre auch nicht der, den die Bibel bezeugt. Wie Gott nicht ist, das lässt sich sagen, jedenfalls, wenn es um die Frage nach dem Warum des Leidens geht. Aber wie ist er? Wie ist Gott? Was für eine Frage! Als könnte es darauf eine kurze Antwort geben! Als könnte in einer Predigt umfassend darüber Auskunft gegeben werden wie Gott ist, auch nicht in hundert Predigten ginge das – immer vorausgesetzt, der Prediger wüsste es genau und vollständig. Im Islam gibt es die Tradition der „hundert Namen Gottes“: 53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Jeder dieser Namen steht für eine seiner Eigenschaften. So heißt Gott „der Barmherzige“, „der Gnädige“, „der Schützer und Be­ wacher“ und so geht es fort, 99 Namen lang. Der hundertste Name aber ist unbekannt. Das bedeutet, dass Gott eigentlich unendliche viele Namen und Eigenschaften hat, also in seiner ganzen Fülle unerkennbar und durch den Menschen und seinen beschränkten Verstand unerfassbar ist. Ähnliches wird auch im Hiobbuch gesagt. Dort redet Gott am Ende des Buches mit Hiob aus einem Sturm heraus und verweist ihn auf die Größe und Schönheit der Schöpfung und darauf, dass er dies alles geschaffen habe: „Wo warst du, als ich die Erde erschuf? Kannst du die Bande des Siebengestirns zusammen­ binden oder den Gürtel des Orion auflösen?“ Trotz dieser Einsicht in die Unbegreiflichkeit Gottes hat Hiob dennoch etwas von Gott erkannt und daran hält er sich fest: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, sagt er und er ist gewiss, dass er trotz allem, was an ihm geschehen ist und noch geschehen wird, Gott sehen wird: „Ihn selbst werde ich sehen, meine Augen werden ihn schauen.“ Wer ist Gott? Für Hiob ist er der Erlöser. Wie ist das gemeint? Martin Luther hat damals diesen Vers aus dem Hebräischen im christlichen Sinne übersetzt: „Ich weiß dass mein Erlöser lebet und er wird mich hernach aus der Erde auferwecken.“ Aber: Das Denken und Fragen der Israeliten damals richtete sich nicht so sehr auf den Tod, und was danach mit dem Menschen ge­schehen wird, sondern es richtete sich auf das Leben. Wenn Hiob also sagt: Mein Erlöser lebt, dann bezieht sich das eher auf sein Leben jetzt, auf die Gegenwart oder die nähere Zukunft, und nicht auf das, was erst hinter der Todesgrenze auf uns wartet. Hier und jetzt in diesem Leben hofft er darauf, Gott zu schauen, und ist sich sicher, dass sich seine Hoffnung erfüllen wird. 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Aber wichtiger als die Frage, was hier im Buch Hiob gemeint ist, ist ja die Frage, ob wir etwas damit anfangen können. Was sagt mir diese Stelle im Hiobbuch? Mir ist wichtig, beide Gedanken festzuhalten: Gott ist mir hier in diesem Leben nahe und dann vielleicht noch einmal ganz anders im Leben hinter der Grenze des Todes. Beiden Gedanken ist eines gemeinsam: Gott ist keineswegs der Verursacher des Leidens, sondern der Erlöser. Das heißt: Derjenige, der mir hilft zu ertragen, was nicht geändert werden kann, was nicht er, sondern im Falle von Krankheit eher die Gesetze der Biologie über mich verhängt haben. Vielleicht gibt es eine Erlösung vom Leid, die eher eine seelische als eine körperliche Dimension hat? Das aber ist eine Frage, die von außen, also als Gesunder kaum oder gar nicht beantwortet werden kann. Als gesunder Mensch davon zu sprechen und hier gar mit Gewissheit eine seelische Erlösung zu predigen, wäre eine Anmaßung. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Gott sich für Menschen im Leid dennoch als Erlöser zeigen kann und von ihnen so erfahren werden kann, auch wenn „Erlösung“ nicht bedeutet, dass sich das Leid mit einem Mal auflöst, der Krebs plötzlich verschwindet, oder gar das Sterben rückgängig gemacht werden kann. Als Krankenhausseelsorger erlebe ich oft, dass Menschen sterben, und so ist für mich die Hoffnung unverzichtbar, dass Gott auch für sie eine Erlösung bereithält, von der wir Lebenden nichts mehr wahrnehmen können. „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, sagt Hiob. Ich sage: Ich halte mich daran fest, dass Gott mir nahe ist, in diesem und in einem anderen Leben. Amen.

55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

PASSIONSZEIT Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing Lesung des Predigttextes Jer 15,16 in zwei Versionen:

Dein Wort ward meine Speise sooft ich’s empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und mein Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt, Herr, Gott Zebaot. (Martin Luther 1984) Empfing ich deine Worte, so habe ich sie verschlungen, und deine Worte wurden meine Wonne, die Freude meines Herzens, denn dein Name ist ausgerufen über mir. (Züricher Bibel) Liebe Gemeinde! Dein Wort ward meine Speise … – Wovon leben Menschen im Krankenhaus? Das hört sich an wie eine einfach zu beantwortende Frage: „Natürlich von dem, was die Küche des Krankenhauses dreimal am Tag produziert“, könnte man mir antworten. Dass die Antwort auf meine Frage aber vielleicht nicht ganz so einfach ist, zeigt eine kleine Begebenheit, wie ich sie oft erlebt habe: Da bringt eine Frau ihrem Mann eine Suppe von zu Hause mit. Er sagt: „Ich bin das Krankenhausessen leid!“ Als wir noch etwas weiter darüber sprechen, stellt sich heraus, dass es ihm gar nicht um den Geschmack des Krankenhausessens geht, sondern er sehnt sich vielmehr nach dem vertrauten Geschmack der Suppe, die seine Frau schon seit vielen Jahren auf diese Weise kocht. Der vertraute Geschmack ist wie eine Botschaft von zu Hause, eine Botschaft aus der vertrauten Welt des Alltags, eine Botschaft gleichsam aus der Heimat, und diese Botschaft macht Hoffnung darauf, eines vielleicht sogar nicht mehr allzu fernen Tages wirklich wieder nach Hause zurückzukehren. 56 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wir können im Nachdenken über die Frage, wovon Menschen im Krankenhaus leben, in der Meditation über das Essen im Krankenhaus noch einige Schritte weiter gehen: Ich denke an die Menschen, die durch eine Chemotherapie im Moment gar nichts essen können oder mögen, weil ihnen andauernd übel ist. Ich habe noch den Satz eines Patienten in Erinnerung: „Es schmeckt alles nach Metall, ganz egal, was ich esse oder trinke!“ Ich denke aber auch an Menschen, die vielleicht an einer Depression leiden, die nichts mehr essen wollen, weil selbst das Essen als Nahrungsaufnahme ihnen sinnlos geworden ist. Ich denke an die Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen Erkrankung nicht nur vorübergehend, sondern nie wieder Nahrung werden zu sich nehmen können. Was ich damit sagen möchte ist: Menschen geraten im Krankenhaus in Situationen, in denen das Essen mehr und mehr zur bloßen Ernährung oder völlig unwichtig wird, weil es um ganz andere Dinge geht. Dann geht es um Speisen, die ebenso lebensnotwendig sind und die die Küche des Hauses, so gut sie auch sein mag, nicht herstellen kann. Solche lebensnotwendige Nahrung ist zum Beispiel die Zuwendung von Menschen, die dem Erkrankten nahestehen, es sind die Worte, es sind die Berührungen, die kleinen Gesten der Zärtlichkeit seiner Familie, seiner Freunde. Auf eine weitere lebensnotwendige Nahrung weist der Bibelvers hin, den ich am Anfang vorgelesen habe: „Dein Wort ward meine Speise …“ Es gibt einen guten Grund, diese Worte im Zusammenhang unserer Ausgangsfrage, wovon der Mensch im Krankenhaus – aber nicht nur dort! – denn lebe, zu bedenken: Der Grund ist, dass diese Worte nicht von einem Menschen gesprochen worden sind, der in Ruhe und Behaglichkeit sein Leben inmitten seines Lebenskreises lebte; nicht von einem Menschen, der gelegentlich auch über Gott nachdachte und seine Gedanken der Nachwelt überliefern wollte. Denn dann könnten wir sagen: 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

„Ja, er hat gut reden! Wenn es einem so gut geht, dann kann man gut auch einmal von der Religion sprechen und sich bemüßigt fühlen, hier anderen etwas mit auf den Weg geben zu wollen!“ Das Gegenteil aber ist der Fall: Die Worte stammen von Jeremia, der als Prophet am Ende des 6. und am Anfang des 5. Jahrhunderts vor Christus in Israel wirkte. Ich möchte Ihnen einige Verse aus dem 15. Kapitel des Jeremiabuches vorlesen, dem sie entstammen: „Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast, gegen den jedermann hadert und streitet im ganzen Lande! Hab ich doch weder auf Wucherzinsen geliehen noch hat man mir geliehen, und doch flucht mir jedermann. (…) Ach, Herr, du weißt es! Gedenke an mich und nimm dich meiner an und räche mich an meinen Verfolgern! (…) Ich habe mich nicht zu den Fröhlichen gesellt noch mich mit ihnen gefreut, sondern saß einsam, gebeugt von deiner Hand. (…) Warum währt mein Leiden so lange und sind meine Wunden so schlimm, dass niemand sie heilen kann? Du bist mir geworden wie ein trügerischer Born, der nicht mehr quellen will.“ Es wird deutlich, dass hier einer spricht, dem das Wasser bis zum Hals steht, einer, der verzweifelt ist wegen der Konflikte, in denen er sich befindet: „Weh mir, meine Mutter, dass du mich geboren hast, gegen den jedermann hadert!“ Einer, der einsam geworden ist: „Ich habe mich nicht zu den Fröhlichen gestellt noch mich mit ihnen gefreut, sondern saß einsam, gebeugt von deiner Hand!“ Einer, der offenbar nicht nur seelisch, sondern auch körperlich leidet: „Warum währt mein Leiden so lange und sind meine Wunden so schlimm, dass niemand sie heilen kann?“ Einer, dem auch Wut auf seine Feinde nicht fremd ist: „Räche mich an meinen Verfolgern!“ Einer, der sich sogar von Gott verraten fühlt: „Du bist mir geworden wie ein trügerischer Born, der nicht mehr quellen will!“ 58 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wie Sie vielleicht wissen, hatte sich Jeremia damals in Israel ausgesprochen unbeliebt gemacht, weil er nichts weniger als den bevorstehenden Untergang Jerusalems verkündigt hatte, und zwar im Auftrage Gottes! Das war natürlich damals – harmlos ausgedrückt – sehr unpopulär. Sie können sich denken, dass sich Jeremia damit mehr Feinde als Freunde machte. Er wurde verfolgt, geschlagen, man trachtete ihm gar nach dem Leben. Ich will hier nicht das Leben Jeremias erzählen, das ist nicht mein Schwerpunkt, sondern ich will deutlich machen, was das für ein Mensch ist, der sagt: „Dein Wort ist meine Speise!“ Ich möchte deutlich machen, vor welchem Hintergrund dieser Mann das sagte, und dass wir es ihm deshalb abnehmen können, dass es sich für ihn genauso verhält, wie er es sagt. Noch deutlicher wird, was hier gemeint ist, in der Übersetzung der Züricher Bibel: „Empfing ich deine Worte, so habe ich sie verschlungen.“ Hier kommt noch mehr als in Luthers Übersetzung das Lebensnotwendige dieser Worte Gottes an Jeremia zum Ausdruck: Sie sind so wichtig für den Propheten, sie werden so sehr ersehnt, dass sie nicht ruhig gegessen, sondern geradezu gierig verschlungen werden! Wir wissen nicht, was das für Worte gewesen sind, die J­ eremia gehört und gierig verschlungen hat. Sind es die Worte, die Jeremia in der Schilderung seiner Berufung mitgeteilt hat: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest?“ Wir wissen es nicht. Wir können es Jeremia aber abnehmen, dass er hier von einer wesentlichen, ihn im tiefsten Inneren berührenden und tragenden Erfahrung mit Gott spricht. Aber zugleich entsteht in uns die Frage, wie sich diese Worte mit ganz anderen Worten vertragen, die wir auch bei Jeremia lesen und die nicht weniger authentisch sind, wie z. B. „Du bist mir geworden wie ein trügerischer Born, der nicht mehr quellen will.“ 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wenn wir Jeremia ernst nehmen wollen, dann müssen wir ihn auch hier ernst nehmen. Ein trügerischer Born, übersetzt Luther den hebräischen Text. Eine trügerische Quelle: Ist das nicht eine, die mal sprudelt und mal nicht, deren Wasser einmal den Durst löscht und ein anderes Mal fast versiegt scheint? Auf die man sich also nicht verlassen kann? Wenn wir Jeremia ernst nehmen und uns durch seine Erfahrungen ins Nachdenken bringen lassen wollen, dann müssen wir zugeben: „Ja, auch so kann Gott offenbar erfahren werden.“ Aber wir müssen genauer hinsehen, dass wir das auch richtig verstehen. Welche Erfahrung ist hier gemeint? Ich denke, es ist die Erfahrung gemeint, dass die Begegnung mit Gott kein Automa­ tismus ist, etwa in dem Sinn: „Ich bete zu Gott und klage ihm meine Not und sofort erfahre ich Trost; ich wende mich an ihn und automatisch ist löst sich meine Angst auf.“ Gott wird im Alten Testament als lebendiger Gott bezeichnet, ein sich ständig wiederholender Naturvorgang wie eine Quelle aber lebt ja nicht, ist in ihrer Funktion von vielen Faktoren abhängig. Wenn Jeremia sagt: „Du bist mir ein trügerischer Born“, dann klagt er Gott an. In seiner Enttäuschung unterstellt er Gott absichtliches Handeln, also etwa die willentliche Verweigerung des Trostes. Das ist nachvollziehbar angesichts all dessen, was Jeremia im Auftrag Gottes erleidet an Konflikt, Verfolgung, Einsamkeit, Todesdrohung. In seiner Enttäuschung kommt uns Jeremia, der große Prophet, nahe, wir können seine und unsere Erfahrungen vergleichen: Denn so mancher Mann, so manche Frau, mit der ich spreche, ist von Gott ähnlich enttäuscht wie Jeremia. Erst vor einigen Wochen sprach ich mit einer Frau, der die Beziehung zu Gott immer wichtig war. Durch die lebensbedrohliche Erkrankung ihres Mannes ist das alles anders geworden: In ihrer Enttäuschung darüber, dass Gott ihren Mann und sie das alles erleben lässt, wendet sie sich von Gott ab. 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Was ich damit sagen will, ist: Obwohl wir keine Propheten sind, obwohl wir keine göttlichen Aufträge auszurichten haben, machen wir ähnliche Erfahrungen mit Gott wie Jeremia. Gott scheint uns nicht zu hören, er gibt uns nicht, was wir von ihm wollen. Wir erleben, dass Gott kein Automatismus ist, der immer dann Trost und Geborgenheit von sich gibt, wenn wir es erwarten. Woran liegt es, dass auch wir mit Gott solche Erfahrungen machen, von denen Jeremia spricht, wenn er Gott anklagt: „Du bist mir ein trügerischer Born geworden!“? Es liegt nicht daran, dass Gott willkürlich wäre, trügerisch, unzuverlässig, dass er uns manchmal stärkt und manchmal leer lässt, ohne Antwort. Gott ist nicht trügerisch, sondern treu. Vielleicht liegt der Sinn solcher Erfahrungen darin, dass wir uns entwickeln, dass sich unsere Beziehung zu Gott weiter entwickelt, dass wir von Gott und der Welt, in der wir leben, ein neues Verständnis gewinnen, dass wir zunehmen an Einsicht und Weisheit. „Ich will nicht sterben“, betet ein Mensch zu Gott. „Rette mich vor dem Tod“, bittet er ihn. Aber seine Krankheit schreitet voran. „Nimm mir meine Angst“, betet er nun, aber seine Angst bleibt; „nimm mir wenigstens meine Tränen“, betet er, aber auch seine Tränen bleiben. Er hört auf zu beten. Im Laufe der Zeit wird ihm klar: „Ja, ich werde wirklich sterben.“ Ihm wird klar, dass seine Tränen Ausdruck seiner Trauer darüber sind, sich vom Leben, von seinen Angehörigen verabschieden zu müssen: Seine Enttäuschung über Gott beginnt sich langsam zu verändern, er betet wieder, aber er verlangt von Gott nicht mehr, dass er ihn rettet, er beginnt darüber nachzudenken, ob Gottes Macht vielleicht ganz anders ist, als er es immer gedacht hat. Er denkt jetzt darüber nach, ob vielleicht Gottes Macht darin besteht, dass auch der Tod ihn nicht von Gott trennen kann, er denkt darüber nach, was das für ein Gott ist, der 61 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

im auch im Tod noch da ist und ihn auch dort nicht loslässt. Er lässt sein Leben an sich vorbei ziehen, er gelangt er zu der Überzeugung, dass er in seinem Leben nie von Gott getrennt war, weil das gar nicht geht, dass ein Mensch von Gott getrennt ist. Er denkt jetzt anders, er betet jetzt anders, er geht seinen Weg mit Gott weiter. Und vielleicht sagt er jetzt manchmal zu Gott: „Dein Wort ward meine Speise, sooft ich’s empfing, und dein Wort ist meines Herzens Freude und mein Trost; denn ich bin ja nach deinem Namen genannt, Herr, Gott Zebaot.“ Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie ihren eigenen Wege mit dem lebendigen Gott suchen, finden und gehen. Amen.

PASSIONSZEIT Die Verleugnung des Petrus Liebe Gemeinde, Auf der Spitze mancher Kirchtürme ist ein Hahn zu sehen, ein Wetterhahn, wie man auch oft sagt. Kommt ein Wind, dreht er sich und zeigt dahin, wohin der Wind weht. Die eigentliche Bedeutung dieses Hahnes ist eine andere. Sie hat zu tun mit dem Predigttext von heute Morgen.

Lesung des Predigttextes Mk 14,66–72

Die Szene des Predigttextes spielt unmittelbar nach der Gefangennahme Jesu und vielleicht während dem Verhör von Jesus durch den Hohenpriester Kaiphas. Man hat die Szene förmlich vor sich, so lebendig wird sie bei Markus beschrieben, und ich denke, sie könnte sich genau so zugetragen haben: Ein viel62 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

leicht von einer Mauer umgebener Hof eines größeren Gebäudes mit einem flachen Dach, es ist Nacht, Feuer brennen im Hof, Petrus wärmt sich an einem von ihnen – die Nacht ist kalt. Menschen kommen und gehen – sind neugierig, was sich zugetragen hat – einer ist verhaftet worden, sagt man – dieser Jesus aus Galiläa. Ein Rabbi, ein Wundertäter gar, der sich mit Prostituierten und Steuereintreibern einlässt, vielleicht sogar ein Aufrührer? Schließlich hat der die Geldwechsler und die Händler aus dem Tempel geworfen. Und er hat gesagt, dass Gott einen neuen Tempel an die Stelle des alten setzen werde. Das konnte ja nicht gut gehen! Was mag Petrus alles gedacht haben? Welche Gefühle mögen Petrus bewegt haben in dieser Nacht? Immerhin scheint er den Waffenknechten des Hohenpriesters Jesus nachgegangen zu sein, obwohl es noch vorher bei Markus heißt: „Da verließen ihn alle und flohen.“ Petrus wird sicherlich Angst gehabt haben. Um Jesus, aber auch um sich selbst. Vielleicht denkt er jetzt darüber nach, ob nun alles zu Ende ist, die Jesus-Bewegung, das Umherziehen mit Jesus, vielleicht denkt er auch an das eine oder andere, das Jesus gesagt hat. Hat er Hoffnung, dass Gott Jesus doch noch retten werde? Die anderen Jünger scheinen nicht da zu sein, vielleicht verstecken sie sich schon. Denn wir hören lange nichts mehr von ihnen, nur von einigen Jüngerinnen hören wir, dass sie später von ferne der Kreuzigung zugesehen haben. Noch am selben Abend, bevor Jesus und die Jünger zum Garten Gethsemane gekommen waren, hatte Petrus Jesus versprochen, ihn nie zu verleugnen, auch wenn er deswegen sterben müsste. Dann kamen sie in den Garten, Jesus betete und die Jünger schliefen, auch Simon Petrus schlief und Jesus sagte zu ihm: „Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht eine Stunde zu wachen?“ Und jetzt im Hof des Hohenpriesters spricht ihn eine Magd an: „Du warst auch mit dem Jesus von Nazareth!“ Petrus gibt vor, 63 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

sie nicht zu verstehen. Er geht hinaus aus dem Hof in einen Vorhof, und er hört einen Hahn krähen. „Und die Magd sah ihn“ – heißt es bei Markus, sie scheint nicht locker zu lassen, ist ihm vielleicht nachgegangen.  – Welches Interesse hat sie daran gehabt, warum besteht sie so hartnäckig auf der Verbindung von Petrus und Jesus? Sie spricht jetzt nicht mehr direkt mit Petrus, sondern mit anderen, zeigt oder deutet auf Petrus und sagt: „Das ist einer von denen“  – von denen: Jünger Jesu. Petrus verneint abermals. Nein, zu denen gehöre er nicht. Und noch ein drittes Mal wird Petrus, diesmal von mehreren, für einen der Jünger gehalten: „Wahrhaftig, du bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer. Diesmal schwört Petrus sogar, Jesus überhaupt nicht zu kennen. Und wieder kräht der Hahn. „Da gedachte Petrus an das Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte.“ Warum haben die ersten Christen diese doch eigentlich für Petrus sehr unrühmliche Geschichte überliefert? Petrus, das heißt: Fels: „Du bist der Fels, auf dich will ich meine Kirche bauen“, soll Jesus einmal zu ihm gesagt haben. Petrus hat nach den Evangelien eine Sonderstellung unter den Jüngern: Er wird uns als derjenige geschildert, der als Erster die wahre Bedeutung Jesu erkannte: „Was sagen die Leute, wer ich sei?“, fragt Jesus einmal seine Jünger. Und Petrus sagt: „Du bist der Christus“ – du bist der Gesalbte. Petrus scheint derjenige gewesen zu sein, der unter den Jüngern auch später – nach dem Tod Jesu – das Sagen hatte. Mit ihm muss sich Paulus auseinandersetzen, als es darum geht, ob die Christen sich als eine jüdische Splittergruppe oder als etwas ganz anderes sehen wollen. Später, als aus wenigen ersten Christen die Kirche geworden war, haben sich die Bischöfe in Rom als Nachfolger auf dem Stuhle Petri bezeichnet. 64 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wenn Petrus solch eine Bedeutung hatte, warum hat man diese allzu menschliche Geschichte nicht einfach verschwiegen? Diese Überlegung spricht übrigens auch dagegen, dass man die Verleugnung Jesu durch Petrus nur erfunden hat. Warum sollte man ausgerechnet eine solche Geschichte erfinden? Dann doch schon besser eine Geschichte, die Petrus als standhaften Zeugen schildert? Außer Johannes kennen alle drei Evangelien die Geschichte von der Verleugnung des Petrus. Warum hat man sie nicht unter den Tisch gekehrt? Das kennen wir schließlich auch zur Genüge aus unseren Zeiten, dass man unrühmliche Geschichten bekannter Persönlichkeiten verschweigt, dass man Skandale eher vertuscht oder versucht zu vertuschen. Die ersten Christen haben diesen Skandal um Petrus nicht vertuscht, sondern weitererzählt und schließlich veröffentlicht. Und nicht nur das: Als Teil der Passionsgeschichte wird sie bis heute jedes Jahr immer wieder gelesen. Warum? Vielleicht, weil die ersten Christen damit etwas deutlich machen wollten? Vielleicht weil sie deutlich machen wollten, was für Menschen das sind, die sich zu Jesus zählen und sich Christen nennen dürfen? Es sind keine Übermenschen, das lernen wir hier. Es sind Menschen, die Angst haben dürfen so wie Petrus. Denn ich bin sicher, Petrus hat Angst gehabt, Angst davor, wie Jesus verhaftet zu werden, mit sehr ungewissem Ausgang, Angst vor Folter und Tod. Manche meiner Gesprächspartner im Krankenhaus erzählen mir von ihrem Glauben. Sie sagen: „Ich gehöre zu Jesus.“ Und sie sagen: „Mir geht es gut, eigentlich brauche ich keinen Seelsorger.“ Gleichzeitig sehe ich ihr Gesicht, ich sehe ihre Augen und ich fühle ihre Angst, ihren Schrecken vor Chemotherapie oder Operation. Aber sie geben ihre Angst nicht zu, sie sagen, es gehe ihnen gut, aber ihr Gesicht, ja ihre ganze Körperhaltung spricht eine andere Sprache. Warum sagen sie nicht wie andere 65 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Menschen auch: „Ich habe Angst! Ich zweifele, ob es Gott gibt? Wie kann Gott das zulassen, dass ich jetzt so krank bin?“ Vielleicht, weil sie denken, dass sie das als Christen nicht dürften? So als wären Christen nur solche, die keine Angst kennen, weil der Glaube so stark ist – oder doch so stark sein müsste? So, als würde Glauben und Angst oder Glaube und Zweifel sich nicht miteinander vereinbaren lassen? Die Geschichte von Petrus lehrt das Gegenteil. Christen dürfen so sein wie er. Christen dürfen Angst haben, Christen dürfen zweifeln. Das bedeutet nicht, dass sie Gott untreu werden, sondern das bedeutet, dass sie Menschen bleiben dürfen. Wenn schon Petrus, der Fels, Petrus, der Apostel, Angst hatte, vielleicht sogar zweifelte, dann dürfen wir das auch. Christen sind und bleiben Menschen. Aus diesen fehlbaren, angefochtenen Menschen, aus Zweifelnden und sich Ängstigenden besteht die Kirche. Das bedeutet der Hahn auf dem Kirchturm. Und wenn Sie das nächste Mal einen solchen Hahn sehen, dann denken Sie an Petrus! Amen.

PASSIONSZEIT Aus der Tiefe rufe ich zu dir Lesung des Predigttextes Psalm 130,1–8

Liebe Gemeinde, dieser Psalm rührt mich sehr an: Hier sehnt sich ein Mensch nach Gott, nach Gottes Kommen, nach dem Wort Gottes. Er kann es kaum erwarten: So, wie damals die Wächter, die eine Stadt bewachten, auf den Morgen warteten, dass er sie erlöse von der Kälte, der Müdigkeit, der Anspannung der Nachtwache, so wartet dieser Mensch auf Gott. Zugleich ist er voller Vertrauen: 66 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Gott wird Israel erlösen. Das scheint außer Frage zu stehen. Wenn Gott damit anfangen würde, die Schuld der Menschen zu zählen, anzurechnen, dann würde niemand vor ihm bestehen können. Der Mensch, der so nach Gott fragt, so nach Gott ruft, sich so nach Gott sehnt, ist ein Mensch in der Tiefe: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Wir hören nichts Genaues über diese Tiefe, erfahren nichts darüber, was sie ausmacht, aber schon das Wort „Tiefe“ genügt im Grunde, denn wir sind ja keine Kinder mehr und jeder einige Jahrzehnte durchs Leben gegangen ist und über sich und seine Erfahrungen nachdenkt, der kennt solche Tiefen: Lebenskrisen, Abschiede, Scheitern, Schuld: Die Tiefe trägt viele Namen. Wir wollen diese Tiefen nicht, in keiner Weise, aber vielleicht wäre es auch ein Verlust für uns, sie nie kennengelernt oder zumindest erahnt zu haben? In der Tiefe ist Wahrheit, schrieb der bekannte Theologe Paul Tillich. In der Tiefe, und nicht auf den Höhen, oder besser: Seltener ist sie dort. Ich weiß nicht, durch welche Tiefen Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, schon gegangen sind in Ihrem Leben oder vielleicht gerade jetzt gehen müssen. Im 130. Psalm scheint es die Tiefe der Schuld zu sein, aus der ein Mensch nach Gott ruft: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Die Verstrickung in schuldhafte Zusammenhänge ist für die meisten von uns unvermeidlich, wenn nicht gar für alle. In mehr oder weniger großem Ausmaß gehört sie zu unser aller Erfahrung. Deshalb ist auch „Vergebung“ genau wie „Liebe“, wie „Hoffnung“, wie „Glaube“ eines der großen Lebensworte. Jeder Mensch braucht Hoffnung, jeder Mensch sehnt sich nach Liebe und braucht sie zu einem guten Leben. Jeder Mensch braucht irgendeine Form des Glaubens als Fundament für sein Leben. Und wir alle sind angewiesen auf die Vergebung. Damit meine ich die Vergebung von Menschen. 67 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Der Psalm sieht es anders. Sein Bild von Gott ist zwiespältig. Einerseits heißt es: „Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.“ Andererseits sehnt sich der Beter des Psalms nach Gott: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen.“ Einerseits ist Gott derjenige, der zu fürchten ist und auf dessen Vergebung man lebensnotwendig angewiesen ist. Und dann ist Gott wiederum derjenige, der aus der Tiefe errettet, dessen Kommen von ganzem Herzen ersehnt wird. Der Gnade mit sich bringt, nicht nur für den Beter oder die Beterin des Psalms, sondern Gnade und Erlösung für ganz Israel. Es ist, als würden hier zwei Gottesbilder miteinander ringen: Der Gott, der zu fürchten ist, und der Gott, der in der Tiefe anwesend ist, dessen Kommen und dessen Wort von Herzen erhofft wird. Obwohl der Psalm schon so alt ist, begegne ich diesen beiden Bildern von Gott in meiner Seelsorgepraxis immer wieder. Erst vor Kurzem sprach ich mit einer Frau, der von anderen seit ihrer Kindheit Gott als derjenigen verkündet wurde, der schon wegen der kleinsten Vergehen zu fürchten ist. Mit größter Mühe hat sie seither versucht, sich von der Angst zu befreien, die dieses Gottesbild bei ihr ausgelöst hat. Andere Menschen sagen mir, dass sie in der Tiefe ihres Leidens, das ihre Erkrankung mit sich bringt, Gottes Nähe erfahren. Ich will dieser Erfahrung mit Gott vertrauen, weil die Angst für mich nur eine Erfahrung mit Menschen, nicht aber mit Gott ist. Ich glaube an den nahen Gott und nicht an die Angst auslösende Vorstellung eines Gottes, der zu fürchten ist. Für mich ist Gott in der Tiefe der Schuld derjenige, der mich versteht, wie mich kein anderer verstehen kann: „Von allen Seiten umgibst du mich, du verstehst meine Gedanken von Ferne“, heißt es im 139 Psalm. „Der Mensch sieht an, was vor Augen ist, aber der Herr sieht das Herz an.“ (1 Samuel 16,7). Je härter das Herz 68 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

eines Menschen ist, desto mehr holen ihn die Folgen seiner Verstrickungen ein. Nicht Gott urteilt über uns, sondern das Leben selbst tut es. Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Der Gott, der mich richten würde, wäre zugleich auch einer, der mich in der Tiefe allein ließe, der seine Ohren vor meiner Stimme verschließen würde. Der barmherzige Gott aber, bei dem die Vergebung ist, der ist mein Begleiter in der Tiefe, welchen Namen diese auch immer tragen mag. In der Tiefe meiner Verstrickung hält es Gott dort mit mir aus. Er ändert meine Tiefe nicht im Nu zur Höhe, aus dem Tal lässt er nicht mit einem Mal einen Berg werden, aber durch seine Gegenwart in der Tiefe lässt er mich diese ertragen und bietet mir durch sein Wort Wege an, auf denen ich die Tiefe wieder verlassen kann. So verschließt er mir nicht die Zukunft durch ein Urteil, sondern öffnet sie mir durch seine Barmherzigkeit. Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Das ist die Wahrheit, die in der Tiefe ist, dass sie die Sehnsucht nach dem weckt, der auch dort gegenwärtig ist. Amen.

KARFREITAG Jesus von Nazareth, der König der Juden Lesung des Predigttextes Joh 19,17–22

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer hier im Krankenhaus, liebe Gemeinde, am Karfreitag begegnen wir einem Sterbenden: Jesus von Nazareth. Wir begegnen ihm, sofern wir uns auf diese Begegnung einlassen wollen. Und das ist nicht selbstverständlich, für Sie nicht hier in der Kapelle und auch für Sie nicht, die Sie jetzt hier im Krankenhaus zuhören. Vielleicht denken einige von Ihnen: Ich 69 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

habe selbst schon genug Schweres erlebt. Oder andere denken: Wozu sollte das gut sein, was soll mir das helfen? Ich finde es wichtig, eine solche innere Abwehr gegen die Auseinandersetzung mit dem Tod Jesu bewusst wahrzunehmen. Zum einen ist sie ja sehr legitim und verständlich, wenn es einem selbst nicht gerade gut geht. Zum andern bewahrt diese innere Abwehr den Ernst der Passionsgeschichte und beschützt sie und uns so davor, sie zu irgendeiner Erzählung aus alter Zeit herabzuwürdigen. Und doch ist es ja gerade der Sinn von Karfreitag, sich auf dieses letzte Stück der Passionsgeschichte, der Leidensgeschichte Jesu, einzulassen. Die Hoffnung dabei ist, dass es hier für uns eine Hilfe zu entdecken gibt für unsere eigenen Passionsgeschichten. Ich habe es oft erlebt: Wenn ein Mensch im Sterben liegt, wird alles bedeutungsvoll, jedes seiner Worte hat Gewicht, jede Handbewegung, jeder Blick, alles gewinnt Bedeutung, weil es das Letzte ist, was die Angehörigen und Freunde mit dem Sterbenden erleben, die letzte Kommunikation. So verhält es sich auch in der Passionsgeschichte. Viermal wird sie erzählt, von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Jede dieser Passionsgeschichten hat ihren eigenen Schwerpunkt, ihre eigene Botschaft, die sie vermitteln will. Matthäus, Markus und Lukas erzählen vom Leiden Jesu. Sie haben seinen Schrei überliefert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wir hören vom Spott der Soldaten und der Oberen des Volkes: „Hilf dir selbst! Steig vom Kreuz herab!“ Wir hören, dass der Vorhang des Allerheiligsten im Tempel in zwei Teile zerriss, als Jesus starb, dass die Erde bebte und dass sich die Gräber auftaten. In unserem Predigttext heute, in der Passionsgeschichte des Johannes, ist von all dem nichts zu hören. Es ist ein beinah stilles 70 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Geschehen. So, als wäre da gar kein Volk gewesen, sondern nur wenige Menschen: vier Soldaten und einige andere Frauen und Männer, die Jesus nahe standen: Seine Mutter und seine Tante, Maria, die Frau des Klopas, Maria von Magdala und sein Lieblingsjünger. Pilatus lässt eine Tafel über Jesus auf dem Kreuz anbringen: „Jesus von Nazareth, König der Juden.“ Die Hohenpriester, so heißt es bei Johannes, wollen das nicht. Pilatus sollte schrieben, Jesus habe nur gesagt, er sei der König der Juden. Aber Pilatus weigert sich: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben“. Was in den anderen Evangelien nur Spott ist, hier ist es wie ein Bekenntnis des Römers Pilatus: Jesus von Nazareth, kein Verbrecher, kein Aufrührer, sondern: ein König. Diese Tafel ist gleichsam die Überschrift über das, was sich hier vollzieht: Hier auf der Schädelstätte geschieht für diejenigen, die nur sehen, was vor Augen ist, eine Hinrichtung. Eigentlich aber geschieht noch etwas ganz anderes und das will der Evangelist hier vermitteln: Es zeigt sich, wer Jesus wirklich ist: der König der Juden. Und nicht nur der Juden! Die ganze damalige Welt soll erfahren, was hier geschieht. Deshalb steht es in allen drei wichtigen Sprachen der Zeit auf der Tafel über Jesus, in Latein, in Griechisch und in Hebräisch, so dass alle es lesen und verstehen können: Die Römer, die Griechen und die Juden. Im Sterben eines Menschen wird manchmal deutlich, wer dieser Mensch gewesen ist, was das für ein Mensch war, das habe ich selbst oft so erlebt. Genauso ist es im Johannesevangelium: In seinem Sterben zeigt sich, wer Jesus schon immer war: der ­König, der nach den Schlägen, nach der Folter mit einer Dornenkrone gekrönt wurde, ein König, der sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Das bedeutet: Im Schrecken, in der Angst, im Leiden ist etwas verborgen, das nur mit den Augen des Herzens gesehen werden 71 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

kann. Das ist die Botschaft des Johannes. Aber was beginnen wir mit ihr? Spricht sie uns an? Berührt sie uns? Wie kann diese Widersprüchlichkeit in unser Leben kommen? Der Hingerichtete, der ein König ist. Der König der sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die eine Seite dieses Widerspruchs, der Tod am Kreuz, die Todesseite, die Leidensseite, ist ja in der einen oder anderen Form Teil auch unseres Lebens. Wenn wir diese Seite nicht aus eigener Erfahrung kennen, dann doch aus dem Leben unserer Angehörigen, unserer Freunde oder – schon ein gutes Stück weiter von uns weg – aus den Nachrichten. Diese Seite kennen wir gut und kaum bedarf sie der Beschreibung. Ich möchte Ihnen deshalb eine Passionsgeschichte aus dem Jahr 1941 erzählen. In Ponar in Polen werden 1941 über 47 000 Juden ermordet. Sie müssen sich an tiefen Gräben aufstellen. Die Getöteten fallen in das Massengrab. Eine schöne Frau steht in der ersten Reihe derer, die erschossen werden sollen. Ein deutscher Offizier sagt zu ihr: „Du bist so schön, du darfst weiter leben.“ Wie im Traum dreht sie sich um und geht. Nachdem sie einige Schritte gegangen ist, zieht der Offizier seine Pistole und schießt ihr in den Rücken. Die Passionsgeschichte wiederholt sich. Immer wieder, und niemand weiß, wie oft noch. Die andere Seite des Widerspruchs ist die Tafel des Pilatus über dem Kreuz: Jesus von Nazareth, König der Juden. Liebe Gemeinde: Dass im Leid eine andere Wirklichkeit verborgen sein könnte  – das einfach so zu behaupten, gar zu behaupten von der Passionsgeschichte in Ponar, das wäre Menschenverachtung. Wir können, wir dürfen nicht sagen: Ja, aber da ist doch noch eine andere Seite. Das kann nur unsere verzweifelte Hoffnung sein, dass das Leiden doch noch eine andere Seite haben könnte, eine andere Wirklichkeit, die mit ihm verbunden ist. Jede Gewissheit, jedes Argument dafür wäre nichts als Anmaßung. 72 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Und doch ist die Stimme der Hoffnung da, auch wenn sie kaum zu hören ist. Und diese Hoffnung wagt es, angesichts des Leidens den Gottesnamen zu flüstern. Die Passionsgeschichte kann nur eine Einladung sein, nicht von Gott zu sprechen – sozusagen abstrakt davon, ob er dieses oder jenes getan oder zugelassen hätte und warum  –, sondern vielmehr mit Gott zu reden und zu sagen oder zu seufzen: „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht!“ (Psalm 22,3). Zu sagen: „Ich bin ausgeschüttet wie Wasser (Psalm 22,14). Zu sagen: „Meine Kräfte sind vertrocknet!“ (Psalm 22.15). Zu rufen: „Aber du, Herr, sei nicht ferne!“ (Psalm 22,19). Dies alles zu sagen, zu seufzen, zu rufen mit den eigenen Worten, wenn die Leidensseite oder gar Todesseite des eigenen Lebens erlebt wird, und dann zu hören, was Gott darauf ant­wortet. Denn die Predigt, was kann sie sein? Sie kann nur einladen, die Nähe Gottes zu suchen, sie kann diese Nähe nicht beweisen, sie hat keine Argumente. Sie kommt mit leeren Händen, aber sie kommt mit der Hoffnung. Und vielleicht kommt sie mit einer Ahnung von dem, was im Tod verborgen sein könnte. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Das Reich dieses Königs ist kein Jenseits, das wir erst nach dem Tode betreten. Das Reich dieses Königs ist mitten in der Welt. Das Reich dieses Königs ist die andere, die verborgene Seite der Wirklichkeit, verborgen in dem Sinne, dass sie nur mit den Augen des Herzens gesehen – und wenn das Herz Hände hätte – auch nur mit diesen Händen berührt werden könnte. Diese andere Wirklichkeit aber, das Reich dieses Königs, ist das Leben, das im Tod verborgen ist. Dass das so von uns, von Ihnen, von mir erfahren werden kann und wird, dass wir mit diesem Leben in Berührung kommen und von ihm berührt werden, das ist meine Hoffnung. Amen 73 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

KARSAMSTAG Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Lesung des Predigttextes Mt 27,45–55

Liebe Gemeinde, was sagt Ihnen diese Geschichte? Einigen von Ihnen wird sie vertraut sein, anderen wiederum eher fremd. Vielleicht sind einige unter Ihnen auch verärgert und Sie fragen sich: Warum wird Menschen im Krankenhaus eine solche Geschichte zugemutet? Ich hoffe, dass meine Predigt darauf eine Antwort zu bieten hat. Was dieser Abschnitt aus der Passionsgeschichte des Evangelisten Matthäus uns heute bedeutet, hängt sehr damit zusammen, was wir über Jesus denken. Für die einen ist das Entscheidende, dass Jesus der Sohn Gottes ist, und das Bekenntnis des Hauptmanns ist auch das ihre: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Für sie zieht sich durch die ganze Passionsgeschichte ein Satz wie ein roter Faden hindurch: „Für mich und für uns alle ist er gestorben.“ Für andere wiederum ist der Mann am Kreuz vor allem ein leidender Mensch, ein Opfer der Gewalt von Menschen gegen Menschen, ein Opfer der Mächtigen. Nicht alles, was uns in der Passionsgeschichte berichtet wird, hat sich wirklich so zugetragen: So ist wahrscheinlich das Bekenntnis des Hauptmanns später hinzugefügt worden und auch der Vorhang im Tempel ist wohl damals nicht wirklich zer­rissen, sondern der Evangelist wollte damit seine Deutung des Todes Jesu ausdrücken. Anderes wiederum könnte sich durchaus genau so zugetragen haben: Es fällt auf, dass von den Jüngern keine Rede ist: Sie sind nicht da, sie sind aus Angst geflohen. Aber einige der Frauen, 74 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

auch sie Nachfolgerinnen Jesu, sind geblieben, und werden Zeuginnen der Kreuzigung. Auch die Tafel, die nach den Evangelien oben am Kreuz an­ gebracht war, ist wahrscheinlich wirklich dort gewesen: Jesus, König der Juden. Wie vorher in der Passionsgeschichte berichtet wird, scheint Jesus der Behauptung, er halte sich für den König der Juden, im Verhör vor Pilatus nicht widersprochen zu haben. Hat er sich vielleicht selbst für den neuen, ganz anderen König gehalten, mit dem die Herrschaft Gottes anbrechen sollte? Wir wissen es nicht. Für Pilatus wird allein die Tatsache gezählt haben, dass andere ihn für einen solchen Anwärter auf den Königsthron hielten; so etwas musste er als möglichen Anfang eines Aufstandes der Juden gegen die Römerherrschaft mit allen Mitteln unterdrücken. Dass die Sorge der Römer vor Aufständen nicht unberechtigt war, zeigte sich etwa vierzig Jahre später im ersten großen Aufstand der Juden gegen die Römer, der zur Zerstörung des Tempels und ganz Jerusalems führte. Nach den Evangelien scheint Jesus vorgeworfen worden zu sein, er halte sich für den Sohn Gottes oder für den Messias, der am Ende der Zeiten erscheinen soll. Wieder wissen wir nicht, ob das so gewesen ist. Es ist eher fraglich. Jesus sprach kaum von sich selbst. Seine Lehre war: Das Reich Gottes ist nahe herbei­ gekommen! Aber auch wenn man von diesen Vorwürfen absieht: Sowieso hatte sich Jesus für das konservative Judentum zum Stein des Anstoßes gemacht: als er sagte, dass nicht der Mensch für den Schabbat, sondern der Schabbat für den Menschen da sei, als er die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb, als er weissagte, dass von dem gewaltigen Bau des Tempels kein Stein auf dem anderen bleiben werde. Sowieso hatte er sich mit Menschen einge­lassen, 75 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

die für die Frommen ganz unten auf der sozialen Skala standen: mit Steuereintreibern und Prostituierten. So mag es sein, dass Jesus seinen Tod als Konsequenz für sein Lehren und sein Handeln akzeptiert hat. Für mich hat der Kern der Passionsgeschichte mit dem Menschen Jesus zu tun: Als er stirbt, schreit dieser Mann: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Hier schreit ein Mensch, der sich im Sterben allein gelassen fühlt von dem, dem er sein Leben gewidmet hat, dem er sein ganzes Leben lang vertraut hat, in dessen Namen er durch das Land zog, dessen kommendes Reich er predigte. In dessen Namen er Kranke geheilt, Jünger gesammelt hat. Immer wieder in der Geschichte mindestens der letzten 2000  Jahre hat sich dieser Schrei äußerster Verzweiflung und Einsamkeit wiederholt. Wie vielen Menschen mag es schon so ergangen sein? So steht der Jesus der Passionsgeschichte für mich für alle Leidenden, vor allem aber für alle, die Opfer der Gewalt von Menschen an Menschen geworden sind und immer noch werden, wie jetzt in dieser Woche die Opfer des Terroranschlages in Moskau (29.3.2010). Aber die Gewalt gegen Menschen fängt nicht erst da an, wo Menschen durch Terroranschläge in U-Bahnstationen gemordet werden, sondern sie beginnt schon sehr viel früher, sie beginnt im Grunde schon da, wo Kinder nicht die Liebe bekommen, die ihnen zusteht, und ohne diese Liebe aufwachsen müssen. Sie setzt sich dort fort, wo Kinder in den Hass der Erwachsenen gegeneinander hineingeboren werden und kaum anders können, als selbst diesen Hass zu leben und weiterzutragen. In diesem Zusammenhang kann ich kaum anders als an die Kinder zu denken, die in Schulen, Kirchengemeinden und kirchlichen Einrich76 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

tungen Opfer von Gewalt und Missbrauch von Seiten derjenigen geworden sind, die eigentlich für ihren Schutz und für ihr Ge­deihen verantwortlich waren. Beinah jeder Tag bringt neue Schreckensnachrichten mit sich. Die ersten Christen haben den leidenden Jesus als den unschuldig leidenden Gerechten, den Knecht Gottes, gesehen, wie sie ihn als Juden aus dem Buch des Propheten Jesaja kannten. Manche Menschen im Krankenhaus kommen mir vor wie dieser leidende Gerechte aus Jesaja: Menschen, die dem Verlauf ihrer Krankheit ausgeliefert sind, die in ihr Leben eingebrochen ist und alles verändert hat. Junge Menschen, die an Aids erkrankten und die nun wissen, dass sie nicht das lange Leben haben werden, auf das sie vorher hoffen durften. Eltern, die ihr Kind ver­ loren haben, durch Unfall oder Krankheit – die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ich glaube, hier wiederholt sich überall die Passion Jesu – in den Opfern des Terrors in Moskau, in dem Leiden der missbrauchten Kinder, in dem Leiden von Menschen im Krankenhaus. Und immer wieder geschieht es, dass Menschen dabei die Erfahrung der Gottesferne erleiden – so wie Jesus damals. Und so kann man sehr wohl fragen: Wie kommt es, dass der Gott, der uns von allen Seiten umgibt – wie es im 139. Psalm heißt – auch der Gott ist, der gerade dann, wenn wir ihn am dringendsten brauchen, wie abwesend ist, unerreichbar, nicht zugänglich ist, oder zu sein scheint? Jesus schreit: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“, weil er die Macht Gottes nicht mehr spürt und wohl auch nicht mehr spürt, dass Gott bei ihm ist. Ausgerechnet der Mensch, von dem wir glauben, dass er Gott besonders nahe stand, ausgerechnet dieser Mensch fühlt sich von Gott verlassen. Liebe Gemeinde, ich glaube, es hat die ersten Christen viel Mut gekostet, diesen Satz zu überliefern, und ich staune im77 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

mer wieder darüber, dass sie es überhaupt getan haben! Warum hat man ihn nicht ersetzt, durch einen weniger anstößigen Satz, durch einen Ausruf etwa, der von Jesu ungebrochenem Gott­ vertrauen gezeugt hätte? Was hat den ersten Christen diesen Mut gegeben? Ich denke, dass können nur ihre Ostererfahrungen gewesen sein. Ohne diese Erfahrungen des Auferstandenen wäre Jesus vielleicht einer der großen Gestalten der jüdischen Geschichte geworden, weil er das Judentum ausweiten wollte über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus für alle Völker. Geschehen aber ist etwas ganz anderes. Aus der kleinen Zahl der Jüngerinnen und Jünger Jesu wurde eine Weltreligion, die zusammen mit der griechischen und der römischen Kultur zur geistigen Grundlage Europas und des ganzen Westens wurde. Was wäre Karfreitag ohne Ostern? Nichts anderes als: gewaltsamer Tod, Erfahrung tiefster Verlassenheit – wieder einmal hat sich der Mensch als des Menschen Wolf erwiesen – weder zum ersten noch zum letzten Mal. Ich will heute an Karsamstag noch nicht viel von Ostern reden, denn dann würde ich diesen Tag heute zwischen Karfreitag und Ostersonntag nicht ernst nehmen. Aber wie auch immer man sich zu Ostern stellt – es ist damals etwas Ungeheures in Bewegung gekommen: Es entstand der Osterglaube der Jünger – und dann später auch der des Paulus – aufgrund besonderer Erfahrungen, wie sie im Neuen Testament als Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus überliefert worden sind. Diese Erfahrungen, dieser Glaube, der sich auf sie beruft, ist ein Protest gegen Gewalt und Tod, er ist Ausdruck der Hoffnung darauf, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, Ausdruck der Gewissheit, von Gott auch oder erst recht im Tod nicht verlassen zu werden. Es kann nicht anders sein! – Diese Gewissheit war es, die den ersten Christen den Mut ge­geben hat, den Schrei Jesu am Kreuz nicht zu verschweigen oder abzuschwächen. 78 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wie ertragen wir unsere eigenen Karfreitage? Wie ertragen wir unsere eigenen Erfahrungen des Leidens, des VerlassenSeins? Manchmal ertragen wir sie gar nicht, da sind wir einfach nur verzweifelt. Manchmal ertragen wir sie durch die Hoffnung, dass die Erfahrung dieser Zeit nicht die einzigen Erfahrungen bleiben werden, durch die Hoffnung, dass uns Gott dennoch nicht verlässt. Amen.

OSTERN Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich Lesung des Predigttextes 1 Kor 15,12–14

Liebe Gemeinde, Zwanzig Jahre sind nach dem Tod Jesu vergangen. Paulus schreibt an die Christen in Korinth und – wie so oft in seinen Briefen – so scheint er sich auch hier verteidigen oder rechtfertigen zu müssen. Wie gesagt: Den Brief hat er etwa zwanzig Jahre nach Jesu Tod geschrieben, das wissen wir einigermaßen genau. Anders als bei den Evangelien, über deren Verfasser wir wenig oder gar nichts wissen, haben wir hier mit Paulus einen konkreten Zeugen der damaligen Zeit vor uns und durch seine Briefe haben wir Einblick in sein Denken und seine Erfahrungen. Aber nicht nur das: Paulus ist den Jüngern begegnet oder wenigstens einigen von ihnen, zum Beispiel dem Petrus und dem Jakobus. So tut sich uns durch Paulus ein Fenster auf, durch das wir einen Blick tun können auf das, was damals nach Jesu Tod geschehen ist. Hier, in seinem Brief an die Korinther, schreibt Paulus von dem, was er empfangen habe, also: was er an Bericht und Be79 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

kenntnis von den Nachfolgern Jesu gehört hat. Und hier lesen wir erstaunliche Dinge, eine Chronologie der Erscheinungen des Auferstandenen: Zuerst habe Petrus den auferstandenen ­Jesus gesehen, dann sei er den Jüngern erschienen, danach sei Jesus über 500 Menschen auf einmal erschienen  – „von denen einige noch leben“, schreibt Paulus. Der Nächste, dem er erscheint, ist Jakobus, dann nochmals den Aposteln, also wieder den Jüngern. Fast scheint es, als wolle Paulus einen Beweis für die Wirklichkeit der Auferstehung führen, indem er die Zeugen dafür nennt. Warum tut er das? Wenn wir weiter lesen, über den Predigttext hinaus, dann wird deutlich, dass es in Korinth Zweifel an der Wahrheit der Auferstehung gegeben haben muss: „Wenn aber Christus gepredigt wird, dass er von den Toten auferstanden ist, wie sagen dann einige unter euch: Es gibt keine Auferstehung von den Toten?“ Jetzt wird deutlich, worum es geht: Es geht nicht nur um die Auferstehung Jesu, sondern es geht um die Frage, ob es überhaupt eine Auferstehung der Toten gibt. Das eine ohne das andere gibt es nicht. Denn, so schreibt Paulus: „Christus ist auf­erstanden von den Toten als Erstling unter denen, die da schlafen.“ So wie Christus auferstanden ist, so werden auch alle anderen von den Toten auferstehen: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind die elendesten unter allen Menschen!“ Mit der Wahrheit der Auferstehung scheint hier für Paulus alles auf dem Spiel zu stehen. Aber es geht ihm nicht um theoretische Erkenntnisse. Es geht ihm, glaube ich, im Kern um die Angst von Menschen angesichts ihrer Sterblichkeit, es geht um die Frage, was aus denen wird, die an Christus glauben. Jesus hatte das Kommen des Gottesreiches gepredigt, sein Tod und die Ostererfahrungen der Jünger hatten bei den ersten Christen zu der zunächst gewissen Erwartung geführt, das 80 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Gottesreich werde nun jetzt bald anbrechen. Aber zwanzig Jahre nach den Ereignissen war davon nichts eingetreten – ja, einige Frauen und Männer waren schon verstorben. So stand jetzt nach zwanzig Jahren für viele nichts weniger als ihr Glaube auf dem Spiel. Es war eine kritische Zeit für das Christentum: Es musste sich von der Erwartung lösen, dass das Reich Gottes schon bald anbrechen werde, es musste sich auf eine vielleicht lange Zeit einstellen, in der die Geschichte im Großen und vor allem im Kleinen, also die Lebensgeschichte der einzelnen Menschen von der Geburt bis zum Tod, so weitergehen würde wie vorher auch. Geht es uns eigentlich viel anders als den Korinthern? Einerseits geht es uns sehr wohl anders. Wir leben schon sehr lange nicht mehr in der Naherwartung: Wer von uns rechnet schon damit, dass das Reich Gottes noch zu seinen Lebzeiten anbrechen wird? Das unterscheidet uns von den Korinthern. Andererseits kennen auch wir den Zweifel an der Wahrheit der Auferstehung, vielleicht ist es uns heute sogar noch schwerer als den Korinthern, an das zu glauben, was uns von den Evangelien überliefert wird. Denn die Korinther wussten noch nichts von der modernen Naturwissenschaft, ahnten noch nichts von den Möglichkeiten und den Gefahren, die ihr Siegeszug mit sich bringen würde. Menschen von heute fällt es schwer an etwas zu glauben, das nicht wissenschaftlich beweisbar ist. Aber wenn wir Paulus fragen würden: „Ist das, was du da erzählst, auch wissenschaftlich beweisbar?“, so würde die Antwort „Nein!“ lauten müssen. Zugleich würden wir aber sozusagen das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn: Nichts, was für unser Leben unverzichtbar ist, ist wissenschaftlich beweisbar. Liebe kann man nicht beweisen, Vertrauen auch nicht, Mut ebenso wenig. Und dennoch ist die Liebe zwischen Menschen eine Wirklichkeit, ebenso der Mut, 81 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ebenso das Vertrauen. Will sagen: Es gibt etwas, das wahr ist, unabhängig davon, was die Wissenschaft dazu sagt. Liebe ist nicht beweisbar, aber sie zeigt sich, sie wird erfahren, niemand von uns würde sagen: Ich werde geliebt, wenn er oder sie das nicht erfahren würde. Ähnlich könnte es sich mit der Auferstehung verhalten: Niemand kann sie beweisen, aber dennoch ist damals von den Menschen etwas ganz Besonderes erfahren worden, sie haben etwas erlebt, das ihr Leben verändert hat: Von solchen Erfahrungen erzählt Paulus. Dabei geht er in zwei Schritten vor: Einmal fasst er zusammen, was ihm selbst berichtet worden ist, berichtet also von den Erfahrungen anderer. Dabei hören wir erstaunlicherweise von einer Ostererfahrung, die in den Evangelien nicht überliefert wird: dass der Auferstandene 500 Menschen auf einmal erschienen sei. Die Erscheinungen des Auferstandenen scheinen also nicht nur in den Evangelien überliefert worden zu sein, sondern auch unabhängig davon  – ein Argument dafür, dass sich damals wirklich etwas Außer­ gewöhnliches ereignet hat. Das alles ist Paulus sehr wichtig, aber vielleicht noch wichtiger ist ihm das, was er selbst erlebt hat. „Zuletzt von allen ist er auch von mir gesehen worden.“ Paulus spricht hier von seiner eigenen Erfahrung einer Erscheinung des Auferstandenen, die er im Brief an die Galater ausführlicher beschreibt. Wie mag es den Korinthern mit diesen Zeugnissen außergewöhnlicher Erfahrungen gegangen sein? Es könnte sein, dass sie überzeugt worden sind, kannten sie doch Paulus persönlich und durch ihn auch die Apostel in Jerusalem. Und all die Ereignisse, um die es ging, waren ja nicht wirklich lange her, Auch wir können uns doch ganz gut an Dinge erinnern, die zwanzig oder viel mehr Jahre her sind. Aber wie geht es uns mit diesen Erfahrungen? Der zeitliche Abstand hat sich enorm vergrößert. Der Glaube aber lebt erst an zweiter Stelle von den Erfahrungen anderer, seien sie auch die der 82 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Apostel oder die des Paulus selbst. Der Glaube lebt in erster Linie von den eigenen Erfahrungen. Manchmal erzählen mir Menschen im Krankenhaus von solchen Erfahrungen. Manchmal sind es Erfahrungen der Bewahrung: wie sie von schlimmen Dingen verschont geblieben sind und ihr Leben eine ganz andere Wendung erfahren hat. Sie sagen dann: „Das war mein Schutzengel“ oder: „Das war Gott.“ Solche Erfahrungen sind unendlich kostbar, von ihnen lebt der Glaube. Paulus schreibt: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter den Menschen.“ Ich möchte diesen Satz heute versuchsweise umkehren und sagen: „Hoffen wir allein für das jenseitige Leben auf Christus, so sind wir die Ärmsten unter den Menschen!“ Lange haben die Kirchen den Menschen beigebracht, das Leben sei ein Jammertal und erst hinter dem Tod finge das gute Leben an. Das hieß: Erst hinter der Grenze des Todes erfahren Menschen etwas von der Macht Gottes, die das Leben neu schenkt. Das hieß im Zusammenhang von Ostern: Erst drüben wird Ostern erfahren. Aber von was sollen wir hier und jetzt leben? Nur von der Hoffnung auf eine bessere Welt? Ich glaube: Manchmal erleben wir mitten in unserem Leben, mitten in dieser Welt etwas von Ostern, erleben wir ein Stück Auferstehung. Folgende Geschichte hat mir eine Patientin von sich selbst erzählt: Als junges Mädchen ging sie zu einer Brücke, es war Winter, sie war verzweifelt, fühlte sich allein und von allen Menschen verlassen, sie wollte auf das Geländer steigen und sich in das kalte Wasser stürzen. Auf der Brücke angekommen, sah sie unter sich zwei größere Schiffe liegen. Auf einem fand gerade eine Taufe statt. Sie erkannte den Pfarrer. Es war derselbe, der sie konfirmiert hatte. Er rief ihr zu, rief sie hinunter, zurück ins Leben. – Ein Stück Auferstehung. 83 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Auferstehung, eine Osterspur mitten in ihrem Leben, wünsche ich Ihnen, in welcher Form, für welche Lebenssituation auch immer. Es gibt sie diese Osterspuren, daran glaube ich. Amen.

ERSTER SONNTAG NACH OSTERN (QUASIMODOGENITI) Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube umsonst Lesung des Predigttextes 1 Kor 15,14

Liebe Gemeinde, Sie merken es gleich an dem Vers aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther: Mir geht es heute noch einmal um Ostern. Um die Auferstehung. Die Auferstehung Jesu und vielleicht auch unsere. Ein gutes Thema und ein schwieriges Thema. Was würden mir wohl die Menschen, die ich in letzter Zeit begleitet habe, auf die Frage antworten, ob sie an die Auferstehung Jesu glauben? Ich kann mir denken, dass ihre Reaktion sehr unterschiedlich ausfallen würde. Sicher würden einige sagen: Natürlich glaube ich daran, dass Jesus auferstanden ist! Andere würden eher sagen, dass sie darüber noch nicht nachgedacht hätten und dass diese Frage für sie auch nicht von Bedeutung sei. Wieder andere würden sogar sagen, dass sie die Geschichte von der Auferstehung Jesu für ein Märchen halten: nett, aber ohne jede Realität. „Wäre Christus nicht auferstanden, so wäre euer Glaube umsonst!“ So schrieb Paulus an die Korinther. Die Auferstehung scheint schon damals nicht unproblematisch gewesen zu sein, sonst hätte Paulus nicht so starke Worte benutzt. Wie ist es heute? Im Gegensatz zu damals hat sich unser Weltbild völlig verändert. Dass Jesus gelebt und seine Botschaft verkündigt 84 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

hat, das ist erwiesen. Auch dass er hingerichtet wurde und am Kreuz starb. Wir Christen aber bekennen jeden Sonntag: „Am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Wie sollen Menschen heute, die durch das Weltbild der Naturwissenschaft geprägt sind, wie sollen Menschen, die Computer und Internet benutzen, das verstehen oder glauben? Fragt man nach dem, was geschichtlich wahr ist, an den Ostererscheinungen im Neuen Testament, so ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Jünger eine Erscheinung, eine gemeinsame Vision hatten. Von einem anderen haben wir sogar den Bericht einer solchen Vision, nämlich von Paulus. Es ist damals etwas geschehen, was Paulus, was die Jünger zu der Überzeugung brachte: Jesus lebt! Der Osterglaube der Jünger und des Paulus ist unbestreitbar, aber im Glaubensbekenntnis heißt es ja nicht: Ich glaube an den Osterglauben der Jünger, sondern: Ich glaube an Jesus Chris­ tus, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage aufer­ standen von den Toten. Unser Verstand des 21. Jahrhunderts sagt dazu: Das geht nicht. Ein Mensch kann nicht sterben, drei Tage im Grab liegen, den Verwesungsprozessen ausgesetzt sein und wieder lebendig werden. Das widerspricht nicht nur unserem naturwissenschaftlichen Weltbild, sondern auch unserer Erfahrung. Die entscheidende Frage aber ist: Was wäre denn damit gewonnen, wenn es beweisbar wäre, dass Jesus auferstanden ist? Wenn die Auferstehung genauso sicher wäre wie beispielsweise die Tatsache, dass es Pontius Pilatus wirklich gab? Würde dann nicht die Auferstehung zu einem Geschehen wie anderes auch, zu einem Geschehen, das natürlich einzigartig und unerklärlich, aber doch eben auch nur eine Tatsache wie andere Tatsachen wäre? Ich denke, wir würden dann diese Tatsache einordnen unter das, was eben noch nicht ausreichend erforscht ist. Wir würden sie als etwas ansehen, dessen Ursache wir noch nicht kennen, 85 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

aber irgendwann eben doch kennen würden und in eine Theorie einordnen könnten! Manche Menschen sagen: Wenn man beweisen könnte, dass es Gott gibt oder dass Jesus auferstanden ist, dann könnte ich glauben! Ich denke: Das Gegenteil ist der Fall. Denn wie verhält es sich denn mit dem, was wir beweisen können? Wir finden es vielleicht interessant, wir finden es vielleicht faszinierend, wir möchten mehr darüber wissen, aber damit endet es auch schon. Es kann uns nicht tragen, es hilft uns nicht in der Angst, wir können zu ihm nicht „Du“ sagen: „Und ob ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir!“ (Psalm 23) Das, was wir beweisen können, ist nicht in der Lage, uns Hoffnung oder Sinn zu geben. Die Wahrheit der Auferstehung ist keine, die beweisbar wäre. Sie ist anders, ist eine andere Art von Wahrheit. Deshalb bringt es uns nicht weiter, wenn wir fragen, ob sie denn wirklich geschehen sei! Die Frage ist vielmehr, ob wir uns durch die Auferstehung innerlich anrühren lassen, ob die Auferstehung für uns etwas ist, das uns – wie ich eben gesagt habe – in der Angst hilft, ob sie etwas ist, das uns Hoffnung oder Sinn gibt? Als Krankenhausseelsorger begegne ich dem Sterben und dem Tod in sehr vielen verschiedenen Formen: Ich spreche mit einer Mutter, der man gesagt hat, dass ihr ungeborenes Kind nicht mehr am Leben ist, ich spreche mit einer jungen Frau im ­Hospiz, die weiß, dass sie sterben wird und ihre kleine Tochter zurücklassen muss, ich spreche mit der Ehefrau eines Mannes, die seit einigen Tagen weiß, dass ihr Mann, der schon so lange auf der Intensivstation liegt, nicht mehr nach Hause zurückkehren wird. Ich begegne dem guten Tod am Ende eines erfüllten Lebens und dem Tod als Ende eines Lebens, in dem es viel Leid, Scheitern und Einsamkeit gegeben hat. Meine Hoffnung ist, dass die Auf86 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

erstehung mit dem Sterben in seinen vielen Gestalten zu tun hat, das ich beinah jede Woche erlebe. Im Marienkrankenhaus wird sterbenden Menschen manchmal ein Kreuz auf den Nachttisch gelegt. Ich habe oft erfahren, dass mich dieses Kreuz getröstet hat, weil es mir zu sagen schien: „Gott ist auch im Tode gegenwärtig, nicht als abstraktes Prinzip, sondern als Du, dort im Tod.“ Dieses Du kann aber nur dort im Tod sein, wenn es frei ist vom Tod – und auch das wiederum nicht abstrakt, als Prinzip oder wie auch immer, sondern konkret, als etwas Lebendiges, als lebendiges Du, das durch den Tod hindurch gegangen ist. Das ist für mich die Wahrheit der Auferstehung. Meine Hoffnung, meine Zuversicht ist, dass Gott mit den Menschen, von denen ich eben sprach, durch den Tod gegangen ist, dass er dort bei ihnen war und dass sie mit ihm auferstanden sind zu einem neuen Leben, das unsere Augen nicht sehen können. Es gibt aber den Tod nicht nur als den Tod des Körpers, sondern auch in vielen anderen Formen, als Erkrankung der Seele, als Trauer, als Empfindung der Sinnlosigkeit und vieles mehr. Meine Hoffnung ist, dass es auch hier Auferstehung gibt, meine Zuversicht ist, dass Gott auch durch die Todesnacht seelischer Erkrankungen, durch die Todesnacht von Trauer und Sinnlosigkeit mitgeht zu einem neuen Leben. Auferstehung ist für mich überall da, wo Menschen durch den Tod hindurch wieder ins Leben zurückfinden. Wenn ich über Ostern nachdenke, dann spüre ich die Sehnsucht: Es möge so gewesen sein, wie es uns die Ostergeschichten berichten, Jesus möge wirklich, wie Paulus schreibt, der „Erstling geworden sein unter denen, die da schlafen.“ Und wenn Jesus der Erstling gewesen ist, dann richtet sich meine Sehnsucht darauf, dass Gott auch die vielen anderen erwecken möge, die ich begleitet habe und deren Sterben und Tod ich gesehen habe. 87 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wie schreibt Paulus: „Hoffnung die man sieht, ist nicht Hoffnung.“ Auch ich werde einmal sterben, das ist sicher. So hoffe ich darauf, dass Gott auch mich erwecken wird. Auf eine mir jetzt noch unverstehbare Weise. Amen.

FÜNFTER SONNTAG NACH OSTERN (ROGATE) Bittet, so wird euch gegeben Lesung des Predigttextes Lk 11,9–13

Liebe Gemeinde, Rogate, so heißt unser der Sonntag heute im Kirchenjahr. ­Rogate, das heißt: Betet! Ich glaube, man kann schon sagen, dass das Beten zum Glauben gehört. Wobei ich nicht sagen will, dass es mit dem Beten immer so ganz einfach ist. Keineswegs erfüllt sich immer, worum wir Gott im Gebet bitten, und damit meine ich nicht Wünsche wie die um schönes Wetter für den nächsten Tag oder Ähnliches. Für Jesus scheint die Erhörung von Gebeten ganz und gar unproblematisch zu sein. Aber dennoch wird dem Thema, wie wir gleich sehen werden, viel Raum eingeräumt: Im Lukasevangelium ist das elfte Kapitel unter anderem dem Thema des Betens gewidmet. So findet sich zum Beispiel am Anfang des Kapitels eine etwas kürzere Version des Vaterunsers. Jesus erzählt dann eine Geschichte von zwei Freunden: Der eine kommt nachts zum anderen, klopft an seine Tür, und bittet um Brot. Ein Freund sei überraschend gekommen und nun habe er nicht mehr genug. Natürlich erfüllt ihm sein Freund den Wunsch. Jesus scheint sagen zu wollen: Genauso wie der eine Freund dem anderen die Tür öffnet, und ihm gibt, wessen er bedarf, so ist auch Gott. 88 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Aber ganz so einfach ist es wohl doch nicht, es gibt hier wohl noch eine Lehre über das Beten, die nicht sofort sichtbar ist. Denn wenn wir genau nachlesen, dann wird die Bitte um Brot ja zunächst abgelehnt und der Freund sagt erst mal: Lass mich in Ruhe! Dann sagt Jesus: „Und wenn er“ – also der Freund im Haus  – „schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.“ Sollte hier etwa vermittelt werden, dass Gott im Gebet erst richtig bedrängt werden muss, damit ein Gebet erhört wird? Das kann ja nicht sein, denn dann würden unsere Gebete nur dann erhört, wenn wir uns beim Beten auch tüchtig abmühen. Aber wenn hier das Beten sozusagen mit dem Hämmern der Fäuste des einen an die Tür des anderen verglichen wird, dann ist es wohl wichtig  – vielleicht besonders in Notsituationen  –, das Beten nicht sofort aufzugeben, wenn es ungehört zu verhallen scheint! So als würde der, der unten an die Tür klopft, sofort nach den ersten vorsichtigen Klopfern an die Tür des Freundes schon gleich aufgeben. Darauf werde ich am Schluss der Predigt noch einmal mal zurückkommen. Hören wir weiter: Im Anschluss an die Geschichte mit den beiden Freunden belehrt Jesus die Jünger mit dem bekannten Satz: „Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan.“ So selbstverständlich, wie einer etwas findet, nach dem er gesucht hat, oder so einfach wie sich eine Tür öffnet, an die man angeklopft hat, so klar scheint, dass Gott Gebete erhört. Aber ist das denn wirklich so? Keineswegs finden wir immer das, wonach wir suchen, und keineswegs öffnen sich alle Türen, wenn wir an ihnen klopfen oder die Klingel betätigen. Das werden sich die Leser des Lukasevangeliums oder die Hörer dieser Jesusgeschichte auch schon gefragt haben. Die Leute damals waren ja nicht dümmer als wir. 89 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Jesus zieht weiter Vergleiche heran, um klar zu machen, wie es sich mit dem Gebet und seiner Erhörung durch Gott verhält: Im Matthäusevangelium sagt Jesu: Kein Vater gibt seinem Kind einen Stein, wenn dieses ihn um Brot bittet. Bei Lukas wird der Vergleich auf die Spitze getrieben: Kein Vater gibt seinem Sohn eine Schlange oder einen Skorpion. Warum lassen die Evangelisten Jesus sich hier so mühen? Warum lassen sie ihn Vergleich auf Vergleich häufen? Vielleicht deshalb, weil schon damals die Menschen erlebten, dass ihre Gebete selbst dann, wenn sie sich sehr Bedeutsames von Gott erbaten, vielleicht die Rettung vor Krankheit oder anderer Not, keineswegs immer erfüllt wurden. Bereits im Alten Testament gibt es eine ganze Sammlung von Gebeten und Gebetsliedern  – die Psalmen. Wenn ich einzelne Psalmverse mit dem vergleiche, was Jesus hier sagt, so kommt mir Jesus beinah naiv vor, so, wie er hier die Erhörung von Gebeten als völlig selbstverständlich ansieht und den Jüngern auch so vermittelt. In den Psalmen liest man da manchmal ganz anderes: „Hilf mir, Gott, denn das Wasser reicht mir bis zur Kehle. Täglich schreie ich zu dir, aber du hörst mich nicht.“ Gott scheint seine Ohren verschlossen zu haben vor der Not des Beters, keine Rede ist davon, dass er so selbstverständlich hilft wie ein Vater, der von seinem Kind um Brot gebeten wird. Ich unterstelle einmal, dass Jesus keinen naiven Kinder­ glauben hatte, der damit rechnet, stets das zu bekommen, um was er bittet. Ich unterstelle auch, dass er als Jude die Psalmen kannte. Also: Wie hat er das gemeint: Bittet, so wird euch ge­ geben? Und: Welche Erfahrungen machen wir selbst mit dem Beten, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer? Manchmal bitte ich Gott um etwas Konkretes, habe ein bestimmtes Anliegen, das ich Gott vortrage. So bitte ich ihn darum, dass er einen mir lieben Menschen behüten und beschützen möge. Mir tut es gut, Gott darum zu bitten, ich habe das Gefühl 90 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

von Geborgenheit und Beschützt-Sein. Wenn ich aber darüber nachdenke, um was ich da im Gebet bitte, dann kann ich nicht anders, als daran zu zweifeln, ob Gott das auch wirklich kann, ob seine Macht so ist, dass er den Menschen, den ich liebe, etwa vor Verkehrsunfällen beschützen kann. Könnte Gott das, würde es keine Unfälle mehr geben. Oder beschützt Gott nur die, die an ihn glauben? Aber auch das scheint nicht immer zu geschehen. Läge es nur am Glauben, so wären unsere Krankenhäuser zumindest halb leer! Vom Beten zu sprechen, heißt also zugleich, die Frage nach Gottes Macht zu stellen und zu fragen, ob diese Macht so ist, wie wir sie uns wünschen, nämlich als eine Allmacht, kraft derer Gott tun kann, was immer er will. Das heißt: Das Thema des Gebetes führt mitten hinein in das Zentrum des Glaubens: Wenn wir über das Beten nachdenken und uns fragen, was wir da tun, dann geht es dabei immer um das Bild, das wir von Gott haben. Als Krankenhausseelsorger spreche ich manchmal mit Menschen die sagen mir: „Ich habe Gott gebeten, dass er mich wieder gesund werden lässt, und er hat mich erhört.“ Manchmal aber höre ich von ganz anderen Erfahrungen mit dem Beten: Jemand sagt mir: „Ich habe Gott so sehr gebeten, dass er mich gesund macht, und er hat es nicht getan. Jetzt zweifele ich an Gott und hadere mit ihm.“ Was soll ich diesem Menschen sagen? Hat Gott bei sich beschlossen, ihn nicht gesund werden zu lassen, warum auch immer? Ich glaube nicht an einen Gott, der die Gebete der einen um Gesundheit verwirft, die der anderen aber erhört. Ein solcher Gott wäre für mich unberechenbar und nicht vertrauenswürdig. Warum dann aber beten, wenn Gott sowieso nicht die Macht hat, meine Gebetsanliegen zu erfüllen – wenn er sowieso nicht die Macht hat, den Menschen zu behüten, den ich liebe? Warum 91 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

vertraue ich ihm dann überhaupt diesen Menschen an? Was bedeutet mir das Gebet? Beten bedeutet für mich: Ich trete in Beziehung zu Gott. Nicht so, als wäre vor meinem Gebet noch keine Beziehung da! Die ist ja immer da – als eine Beziehung, die von Gott ausgeht. Gott steht vor allem meinem Beten schon in Beziehung zu mir, schon allein dadurch, dass ich in seiner Welt, in seinem Kosmos lebe. Das ist so, als würde als würde einer immer wieder versuchen, mich per Telefon oder Handy zu erreichen, aber ich merke das nicht, weil ich den Apparat auf „stumm“ geschaltet habe. Indem ich bete, schalte ich sozusagen das Telefon ein und wähle nun meinerseits die richtige Telefonnummer. Das Gebet dient nicht dazu, dass ich Gott daran erinnere, dass es mich gibt und dass es mir gut oder weniger gut geht. Ich denke, das weiß Gott längst. Sondern ich vergegenwärtige mir Gott, ich erinnere mich daran, dass er da ist. Von diesem Da-Sein Gottes spricht der 139  Psalm: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. (…) Führe ich gen Himmel, so bist du da, bettete ich mich bei den Toten, siehe so bist du auch da.“ Das ist die Macht Gottes: Da zu sein im Tod, da zu sein, wenn die andere große Macht, die Todesmacht, von mir Besitz ergriffen hat. „Bettete ich mich bei den Toten, siehe so bist du auch da.“ Hat Gott die Macht, auch dort bei mir zu sein, so ist das für mich erst recht der Fall, wenn ich anderen vorläufigen Mächten ausgeliefert bin, wenn Krankheit, wenn körperliches oder seelisches Leiden nach mir fassen und von mir Besitz zu ergreifen drohen: Siehe so bist du auch da. Dieses Da-Sein Gottes für mich vergegenwärtige ich mir im Gebet, an dieses Da-Sein erinnere ich mich, wenn ich bete. Aber ich erinnere mich im Gebet nicht so an das Da-Sein Gottes wie an eine Tatsache, sondern ich rede ihn ja an. Ich wage es, 92 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

mich halten zu lassen, ich wage es mich, dem anzuvertrauen, der unsichtbar und unbeweisbar ist, dessen Gegenwart ich mit Augen und Ohren nicht wahrnehmen kann. Wenn ich es wage, mich so halten zu lassen und mich so anzuvertrauen, dann fühle mich geborgen. „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand.“ (Psalm 73) Jesus schließt seine Predigt über das Gebet mit dem Satz: „Wenn ihr, die ihr arg seid, euren Kinder gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten?“ Ich glaube, dass die ganze Predigt Jesu über das Beten auf diesen Satz hinausläuft, dass es also Jesus nur um eine einzige Bitte geht: Die Bitte um den Heiligen Geistes. Der Heilige Geist: Das ist wieder so ein schwieriges Thema. Aber im Grunde geht es darum, dass ich mir im Gebet nicht selbst etwas gebe. Im Gebet findet nicht etwas statt, das sich auch mit einer guten Entspannungsübung erreichen ließe. Sondern im Gebet werden wir von Gott angerührt, also von etwas, das nicht aus uns selbst kommt. Gebet ist kein Selbstgespräch mit frommen Worten. Sondern: Gott rührt uns an mit seinem Geist. Das Unendliche berührt mich. Der, der auch in der fernsten Galaxie noch gegenwärtig ist, kommt mir nahe. Das geschieht im Gebet, so selbstverständlich, wie ein Vater seinem Kind Brot gibt statt eines Steines. Insofern ist das Gebet schon so etwas wie Anklopfen – und Gott öffnet die Tür. Aber wir erleben das nicht immer. Manchmal sind wir wie gefangen in uns selbst. Manchmal ist es unser Leid, unser Schmerz, unsere Angst, die sozusagen die Tür zuhalten, und wir haben das Gefühl, als würde unser Gebet ins Leere gehen und doch ein Selbstgespräch sein und bleiben. Vielleicht können wir uns dann an dem Gedanken festhalten, dass Gott trotzdem da ist, so wie der Mann, der nachts an die Tür des Freundes klopft, ja weiß, dass er da ist und irgendwann schon aufmachen 93 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

wird, auch wenn er nicht sofort kommt. Dass er ihm dann doch die Tür öffnen wird „und ihm geben wird, so viel er bedarf!“ Amen.

PFINGSTEN Wenn der Tröster zu euch kommen wird Lesung des Predigttextes Joh 14,26

Liebe Gemeinde, als ich diesen Abschnitt aus dem Johannesevangelium las, da dachte ich: Ja, diesen Tröster hätten so viele der Menschen, die ich in den vergangenen Woche besucht habe, dringend nötig gehabt. Es waren alte und junge Menschen, Menschen, die wussten oder ahnten, dass sie sterben werden, andere Frauen und Männer, die noch Hoffnung hatten, wieder andere, die sich um Angehörige sorgten und sich in dieser Sorge ohnmächtig und hilflos fühlten. Aber nicht nur an Patienten des Marienkrankenhauses denke ich dabei, sondern auch an die Frauen und Männer, die sich um diese Menschen kümmern, ihnen zur Seite stehen wollen, weil es ihr Beruf ist, dies zu tun, und dabei schließe ich mich selbst als Krankenhausseelsorger mit ein. Ein älterer Kollege sagte mir einmal: „Wenn wir predigen, dann predigen wir erst einmal uns selbst. Wir sind der erste Hörer des Wortes, das wir als Predigerinnen und Prediger sagen.“ Und es geht auch gar nicht anders, ich kann kaum etwas Anderes predigen, kann nur die Botschaft eines Textes predigen, die mich zuerst selbst erreicht hat. Was ist aber die Botschaft dieses Abschnittes im Johannesevangelium? Er gehört zu den soge94 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

nannten Abschiedsreden Jesu, zu Worten also, die er seinen Jüngern mit auf den Weg gibt für die Zeit, in der er nicht mehr bei ihnen sein wird. Er verspricht ihnen hier, dass sie nicht allein sein werden, auch dann, wenn er nicht mehr da ist. „Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater …“. Über diesen Tröster, den Geist, den Jesus senden wird, denkt an Pfingsten die ganze Christenheit überall auf dieser Welt nach. Alle Evangelien erzählen von den vier großen Erfahrungen der Frauen und Männer damals vor 2000 Jahren, die sie mit Jesus gemacht haben: Die erste große Erfahrung ist die mit dem Menschen Jesus, den sie Rabbuni, Lehrer, Meister nannten. Sie hörten, was Jesus sagte, und wurden Zeuge von dem, was er tat. Die zweite große Erfahrung ist die seines gewaltsamen Endes; diese Erfahrung stellte alles in Frage, was sie mit Jesus erlebt hatte. Es muss so gewesen sein, dass mit seinem Tod am Kreuz für sie eine Welt zusammenbrach. Die dritte große Erfahrung ist die seiner Auferstehung und die vierte die der Ausgießung des Heiligen Geistes: dass sie von der Gegenwart Gottes unmittelbar angerührt und ergriffen wurden. Es sind besonders diese beiden letzten Erfahrungen – die Begegnung mit dem auferstandenen Christus und die Ausgießung des Heiligen Geistes –, die bewirkt haben, dass die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht eine jüdische Sekte wurden, sondern dass aus ihnen die Christenheit entstand und wuchs mit all den Lichtund auch Schattenseiten, die das für die Geschichte der Menschheit hatte und worüber man lange nachdenken und sprechen könnte. Das aber sind Erfahrungen von damals, sie wären wenig wert, sie würden uns kaum etwas helfen, wenn es nicht heute etwas von 95 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

damals zu erfahren gäbe. Mir kommt es so vor, als wäre unser Predigttext eine Brücke zwischen damals und heute, er spannt den Bogen zwischen den Erfahrungen der Menschen damals zu unseren Erfahrungen, die wir heute mit Gott machen können. Es kommt mir so vor, als würden über die vielen Jahre, die zwischen uns und dem Johannesevangeliums liegen, diese Worte gerade zu uns gesprochen, als würden sie gerade uns etwas versprechen, nämlich den „parakletos“, wie es im griechischen Urtext heißt. Luther hat dieses Wort sehr schön mit „Tröster“ übersetzt, man könnte es aber auch mit „Beistand“ übersetzen. Trösten, Beistand leisten, das kennen wir aus unserer eigenen Erfahrung. Beistand geben bedeutet für mich, jemandem zur Seite stehen, ihn nicht zu verlassen, wenn ihn Schicksalsschläge er­ eilen, wie etwa eine Krankheit oder sonst ein Übel – ihn auch in den schlechten Tagen nicht zu verlassen. Trost geben: das wird manchmal missverstanden. Manche Menschen meinen, sie trösten den anderen, wenn sie ihm sagen: „Ist doch nicht so schlimm!“ oder: „Das wird schon wieder!“ Aber: Damit wird das Leid des anderen bagatellisiert, es wird nicht ernst genommen, man hält es sich vom Leibe. Deshalb gefällt mir das Wort „Beistand“ zunächst eigentlich besser, weil es beinhaltet, den anderen in seinem Leid nicht allein zu lassen, es mit ihm auszuhalten, ihm dort, wo er ist, in seiner Lebenssituation, mit all den Gedanken und Gefühlen, die sie auslöst, nahe zu sein. Das mag schon aller Trost sein den wir uns gegenseitig geben können. Dennoch spricht mich auch das Wort „Trost“ an. Es hat eine sehr kindliche Seite, dieses Wort. Es erinnert mich an die Art und Weise, mit der Eltern auf Verletzungen, Schmerzen, Tränen ihres Kindes reagieren. Sie sagen zu ihm: „Das wird wieder gut!“ Das können Eltern oft guten Gewissens tun, weil sie wissen, dass 96 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ein verletztes Knie oder ein Splitter in der Hand, eine schlechte Schulnote kein Weltuntergang sind. Sie überschauen das Leid des Kindes und können es als das begrenzte Leid sehen, das es ja auch ist. Das Kind kann das nicht. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Tochter einmal auf einem Spaziergang ihren Stoffhund verloren hatte. Für sie war das ein schrecklicher, unersetzlicher Verlust. Als Vater aber wusste ich, dass der Schmerz um den Hund vorübergehen und der Hund bald durch ein anderes Lieblingstier ersetzt werden würde. „Das wird schon wieder!“  – Dieser Satz mag im Alltag mit Kindern hoffentlich meistens zutreffend sein. Existenzielles Leid jedoch vermag er in keiner Weise zu lindern. Wenn es für Kranke, Leidende, Trauernde Trost geben soll, dann darf dieser Trost auch nicht damit verbunden sein, dass jemand gar im Namen Gottes oder im Namen des Glaubens das Leid, das erlebt wird, bagatellisiert, im Sinne etwa, dass uns einer sagte: „Wenn man nur fest genug glaubt, ist das alles nicht so schlimm!“ Wenn der Glaube einen Trost für uns bereithält, dann nicht auf die Weise, dass durch den Glauben Trauer oder Angst einfach so verschwinden könnten, sondern vielleicht so, dass der Glaube hilft, beispielsweise Angst oder Trauer auszuhalten. Ich glaube weiter, dass der Trost, der im Glauben gefunden werden kann, etwas mit der Erfahrung der Gegenwart Gottes zu tun hat. Oder um mit den Worten des Johannesevangeliums zu sprechen: mit der Erfahrung des Trösters, des Geistes, von dem Jesus hier bei Johannes sagt, er gehe vom Vater aus. Die Erfahrung dieses Trösters ist an keine Bedingung gebunden, sie setzt nicht besondere Glaubensstärke oder sonstige geistigen oder geistlichen Leistungen voraus. Diese Erfahrung ist allen Menschen versprochen, hier in diesem Krankenhaus und 97 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

auch außerhalb dieses Hauses. Sie ist den Sterbenden versprochen, aber auch denen, die gesund wieder nach Hause gehen. Wenn ich das so sage, dann denke ich wieder an die Menschen, mit denen ich in den vergangenen Wochen gesprochen habe, und am liebsten möchte ich zu jeder Frau und zu jedem Mann hingehen und sagen: „Auch dir ist versprochen, dass der Beistand zu dir kommen wird.“ Und nicht zuletzt bin auch ich dieser Erfahrung bedürftig. Wie könnte es sein, diesen Beistand zu erfahren? Ich glaube, jeder Mensch wird das anders erfahren. Manchmal wurden in der Geschichte der Christenheit Frauen oder Männer vom Geist Gottes so erfüllt, dass die Worte, mit denen sie ihre Erfahrung beschrieben haben, uns noch heute anrühren. So beschreibt Therese von Avila, die im 16. Jahrhundert lebte, ihre Erfahrung des Heiligen Geistes so: „Es scheint also, dass das himmlische ­Wasser jener Quelle, wenn es der Tiefe unseres Wesens entquillt, sich ausbreitet, unser ganzes Inneres ausweitet und vielerlei Güter hervorbringt, die sich nicht nennen lassen. Nicht einmal die Seele kann verstehen, was ihr da geschenkt wird. Sie gewahrt einen Duft – so wollen wir einmal sagen – als befinde sich in jenem inneren Abgrund ein Glutbecken, auf das man wohlriechende Räucherstoffe streute. Man sieht nicht die Glut und man weiß auch nicht, wo sie ist; doch die Wärme und der duftende Rauch durchziehen die ganze Seele.“ Wahrscheinlich erleben nur wenige von uns die Gegenwart des Heiligen Geistes so intensiv wie diese Frau. Vielleicht sind unsere Erfahrungen des Heiligen Geistes oft auf den ersten Blick unscheinbar: Wir fühlen uns nicht allein, auch wenn kein Mensch an unserer Seite ist. Wir fühlen uns geborgen, auch wenn unsere Gesundheit oder gar unser Leben bedroht ist. Wir sind in der Lage auf Gott zu vertrauen, auch wenn wir gerade eine Lebenskrise durchleben. 98 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Ich vergleiche diese Erfahrung mit Perlen auf einer Schnur. Aber anders als bei einer Perlenkette sitzt hier nicht Perle an Perle, sondern die einzelnen Perlen sind voneinander durch leere Abschnitte getrennt. Auf diesen leeren Abschnitten leben wir von den Perlen, also von den kostbaren Erfahrungen un­seres eigenen Lebens. Aber manchmal helfen uns auch die Erfahrungen anderer Menschen. Das können die Worte des Johannesevangeliums uns sein: Sie sind aufgeschrieben worden, weil Menschen das erlebt haben, dass sie, auch als Jesus von ihnen nicht mehr gehört oder berührt werden konnte, von Gott nicht allein gelassen worden sind, sondern dass Gott ihnen parakletos, Beistand, Tröster mitten in ihrem Leben geworden ist. Ihre Erfahrungen können für uns die Brücke über die Jahrtausende sein, die uns zu unseren Erfahrungen der Gegenwart Gottes in unserem eigenen Leben führt. Amen.

NACH TRINITATIS Ihr seid das Salz der Erde! Lesung des Predigttextes Mt 5,13–16

Gewaltige Sätze, liebe Gemeinde, wie sollen wir sie verstehen, und: Wie sollen wir sie erfüllen? Können wir das überhaupt? Legt uns Jesus damit nicht eine ungeheure Verpflichtung auf? Aber versuchen wir erst einmal zu verstehen, was hier gemeint ist. Unser Predigttext ist Teil eines der berühmtesten Abschnitte des Neuen Testamentes, er stammt aus der Bergpredigt, in der auch die Seligpreisungen stehen, die Sie vielleicht kennen: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. 99 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen!“ Wem hält Jesus diese berühmte Predigt? Seinen Jüngern, ­denen, die ihm nachfolgen. Nachfolge, das ist ein großes Wort, ich möchte es heute Abend so verstehen: Nachfolger Jesu sind die, die damals wie heute seine Worte hören und versuchen, sie in ihr Leben zu übersetzen. Wollen wir dazu gehören? Ihr seid das Salz der Erde, sagt Jesus. Salz ist für uns heute etwas, das wir selbstverständlich zu billigsten Preisen im Laden nebenan einkaufen können. Doch das war nicht immer so: In der Antike und noch im Mittelalter war Salz eine Kostbarkeit, man brauchte es nicht nur, damit das Essen besser schmeckte, sondern vor allem zum Konservieren von Lebensmitteln. Mit Salz wurde viel Geld verdient, um Salz wurden Kriege geführt. Salz war eine lebensnotwendige Kostbarkeit: Das ist der Sinn, wenn Jesus hier vom Salz der Erde spricht. Ihr seid das Salz der Erde: Das heißt: Ihr seid so kostbar für die Welt, wie es das Salz ist. Ihr seid unverzichtbar! Salz kann unbrauchbar werden, ungenießbar, wenn es mit anderen Stoffen vermischt wird, so wie es beim Streusalz der Fall ist. „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man dann salzen?“, fragt Jesus. Wenn der Glaube also so etwas Kostbares für die Welt ist, dann ist es wichtig, damit achtsam umzugehen, und sich diese Kostbarkeit zu bewahren. Ihr seid das Licht der Welt! Das braucht man nicht weiter zu erklären: Der Gegensatz zwischen Licht und Dunkelheit ist jedem bekannt. Die Dunkelheit, die Nacht, ist ja ein altes Symbol für so vieles, das im Leben schwer ist, ein Symbol für Sorge, Angst, Trauer. Aber vielleicht ist es wichtig, sich klar zu machen, in wel100 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

cher Zeit das gesagt wurde: in einer Zeit nämlich, als die ersten Christen nicht mehr als eine jüdische Sekte waren, wenige an der Zahl, von Verfolgung und Untergang bedroht. Und ausgerechnet diesen Menschen wird gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt!“ Beinahe eine absurde Vorstellung! Aber offenbar hat dieses Licht, das die Nachfolger Jesu, die Glaubenden, für die Welt sein sollen, nichts mit Macht und Einfluss zu tun. In der Dunkelheit, die so oft und an so vielen Orten in der Welt ist, ist das Licht eine große Kostbarkeit. Licht – und ist es noch so klein  – gibt Orientierung und Ziel, es spricht davon, dass die Dunkelheit nicht alles ist, dass die Macht des Todes, die Macht der Angst begrenzt und nicht die ganze Wirklichkeit ist. „Stellt euer Licht nicht unter den Scheffel!“, mahnt Jesus. Das ist keine Aufforderung zur Mission. Das ist keine Erlaubnis zu einer Art Glaubensüberlegenheit. Sondern das ist eine Mahnung, auf die Kostbarkeit des Glaubens achtsam zu sein, diese Kostbarkeit nicht zu entwerten oder von anderen entwerten zu lassen. Sieht man sich die Geschichte der Christenheit an, so ist es ins­ gesamt nicht so weit her damit gewesen, dass Christen in ihrer Gesamtheit Licht der Welt, Salz der Erde gewesen sind. Auch wenn man sich in der Geschichte der Kirche und des Abendlandes nicht so sehr auskennt, fallen einem schnell die Kreuzzüge und die Inquisition ein. Aber auch und gerade das letzte Jahrhundert war für die Kirchen kein Ruhmesblatt, wenn man nur an die Zeit des sogenannten Dritten Reiches denkt. Zugleich hat es aber immer wieder Einzelne gegeben, die kleinere oder größere Lichter in der Dunkelheit der Welt gewesen sind. Manchmal schien ihr Licht so hell, dass es uns noch heute erreicht. Ich denke an große Gestalten wie Franz von Assisi. Oder Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer oder Mutter Teresa. 101 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Aber inwiefern könnten Christen ein solches Licht oder – als Salz der Erde – eine solche Kostbarkeit für die Welt sein? Antwort darauf liefern uns die Seligpreisungen. Selig sind die Fried­ fertigen: Ist es nicht das, was die Welt so dringend braucht: Friedfertige? Stellen Sie sich doch nur einmal versuchsweise vor, die vielen Millionen Christen würden alle samt und sonders solche Friedfertigen sein – wie anders wäre der Lauf der Weltgeschichte wohl geworden? Kaum vorstellbar, wie unsere Welt heute aussehen würde, wenn alle 1,9 Milliarden Christen solche Friedfertigen wären! Aber was im Großen gilt, gilt ja auch im Kleinen, gilt in den Städten, in den Gemeinden und in den Familien. Selig sind die Barmherzigen: Wie würde unser Leben aussehen, wenn wir alle solche Barmherzigen sein würden? Wie ginge es wohl in der Politik, in der Wirtschaft, in Unternehmen, Schulen und Krankenhäusern zu, wenn dort lauter Barmherzige am Werk wären? Nicht auszudenken! Aber wir haben bei diesem Nachdenken etwas Wichtiges vergessen, eine wichtige Eigenschaft von Salz und Licht: In der Nacht ist eine einzige kleine Kerze kilometerweit zu sehen. Und Salz braucht es manchmal nur eine Prise, um einem Essen Wohlgeschmack zu verleihen. Der Vergleich mit Licht und Salz bedeutet: Schon das Kleine, schon das Wenige, kann viel bewirken! Christen brauchen keine Heiligen zu werden, keine Übermenschen, keine Superhelden der Barmherzigkeit und des Friedens. Schon das Wenige wirkt viel! Und ist in seiner Wirkung manchmal gar nicht von vornherein abschätzbar. Und vor allem: Jesus sagt nicht: Ihr sollt das Salz der Erde, ihr sollt das Licht der Welt sein, sondern er sagt: Ihr seid es! Jesus macht auf etwas aufmerksam, dass diejenigen, die ihm zuhören, schon sind und nicht erst noch werden müssen: etwas, das die Welt so dringend braucht wie Licht in der Dunkelheit, etwas, 102 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

das so kostbar und ebensolche Mangelware ist, wie es das Salz damals war. Ich denke an ein Gespräch von letzter Woche: Ich betrete ein Zimmer, stelle mich einem Patienten vor. Er sagt: „Christentum, Buddhismus, Islam und so weiter, das ist doch alles Mist!“ Er sei vor 25 Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil er mit seiner Kirchensteuer nicht einem Pfarrer den Jahresurlaub bezahlen wolle. Ich sage ihm: „Wenn alle so denken würden wie Sie, dann gäbe es keine Kirchen mehr. Dann würde es in unserer Gesellschaft viel kälter werden.“ Das könne es ruhig, antwortete er. Es gäbe ohnehin genug Schmarotzer hier. An diesem Punkt habe ich das Gespräch abgebrochen. Aber es zeigt, was ich meine: Christen sorgen dafür, dass es in unserer Welt nicht noch kälter wird, als es ohnehin schon ist. Und nicht nur Christen tun das, sondern jeder glaubende Mensch, überhaupt jeder Mensch, auf den die Seligpreisungen zutreffen, jeder Friedfertige, jeder Barmherzige, mag er sich Christ, Muslim, Hindu, Buddhist oder gar nichts nennen. Alle Friedfertigen, alle Barmherzigen haben Jesus zugehört, obwohl sie vielleicht nicht einmal seinen Namen kennen. Jeder Mensch, der anfängt, Friedfertigkeit und Barmherzigkeit in seinem Leben zu verwirklichen, ist eigentlich ein Hörer der Bergpredigt. Und: Jedes Tun beginnt mit uns selbst. Das Kostbare, das Christen für die Welt sein können, das Licht, beginnt in uns selbst. Beginnt mit den kostbaren Spuren und Anfängen des Glaubens, beginnt mit dem Hören auf Worte, die uns anrühren. Wie kann ich Licht für andere sein, wenn es in mir dunkel ist? Also ist es wichtig, auf das Licht aufmerksam zu werden, das in mir vielleicht schon längst angefangen hat zu leuchten wie eine Kerze in der Nacht. Wie kann ich friedfertig nach außen sein, wenn ich mit mir selbst im Widerstreit liege? Also ist es wichtig, dass der innere Friede, den der Glaube mit sich bringt, in mir selbst anfängt, Raum zu gewinnen. 103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Nach Ihren Möglichkeiten, mit dem Glauben, den Sie leben, mit dem Sie unterwegs sind von Tag zu Tag, manchmal mit Vertrauen, manchmal mit Zweifel, manchmal mit Hoffnung, manchmal mit Ungewissheit, mit diesem Glauben sind Sie alle, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Salz der Erde, Licht der Welt. Amen.

NACH TRINITATIS Talita kum! Lesung des Predigttextes Mk 5,21–43

Diese Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus berührt mich sehr. Immer wieder höre ich die Worte Jesu, die uns aramäisch überliefert sind: Talitha kum: Mädchen steh auf! Warum zieht mich diese Geschichte so an? Ich höre sie vor einem zweifachen Hintergrund von Erfahrungen aus den letzten Wochen. Immer wieder bin ich in der Begleitung sterbender Menschen und ihrer Angehörigen mit Entscheidungssituationen wie der Folgenden konfrontiert: Einem Menschen ist medizinisch nicht mehr zu helfen, er liegt auf der Intensivstation, es wird alles für ihn getan, was möglich ist, und dennoch ist sein Sterben nur noch hinauszuzögern, nicht mehr abzuwenden. Was ist wohl der Wille dieses Menschen für diese Situation? Das fragen sich die ihn behandelnden Ärzte, fragen sich auch seine Angehörigen, die ihn treu jeden Tag besuchen. Er selbst kann nicht mehr gefragt werden, er liegt in einem künstlichen Koma. Würde er wollen, dass sein Tod hinausgeschoben, sein Sterben verlängert wird, um Tage oder gar Wochen? Oder würde er sagen: Wenn ich sowieso nicht mehr leben kann, dann soll mein Sterben nicht durch die Medizin verlängert werden? 104 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Schweren Herzens ringen sich die Angehörigen zu einer Entscheidung durch: „Er würde nicht wollen, dass sein Sterben nur hinausgeschoben wird!“, sagen sie. Nach und nach werden die medizinischen Maßnahmen, die ihn noch am Leben erhalten, beendet, in Frieden stirbt der Mann einige Stunden später, umgeben von seinen Angehörigen. Das ist eine der Situationen aus der letzten Zeit, die ich vor Augen habe, wenn ich über den Predigttext nachdenke. Die andere ist eine Frage, über die ich in der letzten Zeit immer wieder mit Menschen diskutiert habe, die wie ich Sterbende und Angehörige begleiten: Wie weit geht das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung, also sein Recht über sein Leben und Sterben selbst zu entscheiden? Schließt diese Selbstbestimmung den Suizid, die Selbsttötung, ein? Dürfen andere Menschen, ein Freund vielleicht oder sogar ein Arzt, ihn dabei begleiten? Oder müssen sie sein Leben um jeden Preis schützen, auch wenn er selbst das gar nicht will? Was sagt die Bibel zu diesem Thema? In beiden Fällen, auf der Intensivstation und in der ethischen Diskussion, geht es um die Macht des Menschen, es geht um seine Möglichkeiten, den Tod abzuwehren oder ihn gar herbeizuführen, bevor Zeit und Stunde gekommen ist, wie man sagt. Um die Macht des Menschen geht es, um die Frage, wie diese Macht eingesetzt werden soll und wo sie ihre Grenze hat. Der Predigttext spricht mich an, weil es in ihm um eine ganz andere Macht geht. Es geht um die Macht, die Jesus im Namen Gottes ausübt, Gottes Macht über Leben und Tod. Wir hören die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus damals. Aber liegt nicht auch die Frage nahe: Was nützt uns diese Macht heute? Ich denke zurück an den Tod eines dreizehnjährigen Mädchens vor vielleicht zehn Jahren auf der Intensivstation des Ma105 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

rienkrankenhauses. Niemand ist da gekommen und hat gesagt: Talitha kum. Wo war da Gottes Macht? Manchmal spreche ich mit Menschen, die sagen: „Durch meine Krankheit habe ich meinen Glauben verloren.“ Im Gespräch mit ihnen erfahre ich, dass diese Menschen enttäuscht sind von Gott, sie bitten ihn verzweifelt, dass er sie wieder gesund werden lasse, und sie erfahren, dass das, was sie sich am meisten wünschen, nicht eintrifft. Sie fühlen sich von Gott im Stich gelassen und wenden sich von ihm ab. Die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus steht im völligen Gegensatz zu unseren Erfahrungen. Das, wovon sie erzählt, suchen oder ersehnen wir heute vergeblich. Wenn wir nicht annehmen wollen, dass Gott wohl damals durch Jesus seine Macht ausgeübt hat, es aber heute willkürlich nicht mehr tut, dann drängt sich uns der Gedanke auf, dass Gottes Macht eine andere ist, als wir sie uns manchmal so sehr ­w ünschen. Und trotzdem, trotz dieser Gedanken und Einwände, ist mir die Geschichte von der Tochter des Jairus sehr wichtig. Ich werde versuchen zu sagen, warum das so ist. Eigentlich sind es ja zwei Geschichten, die hier erzählt werden. In die Geschichte von der Auferweckung der Tochter des Jairus ist die von der Heilung der Frau eingeschoben, die schon seit zwölf Jahren an Blutungen leidet. Dieser Einschub ist nicht zufällig, sondern Absicht. Die Geschichte der Frau hält den Fluss der Erzählung scheinbar auf, man fragt sich unwillkürlich: Warum lässt sich Jesus so viel Zeit mit der Frau, wo er doch weiß, dass das Mädchen im Sterben liegt? Fast erwarten wir schon, was dann auch wirklich geschieht: Das Geschehen spitzt sich dramatisch zu, Männer kommen und sagen zu Jairus: „Deine Tochter ist gestorben, was bemühst du weiter den Meister?“. 106 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Jesus antwortet darauf mit dem Satz, der für mich die Mitte, das Zentrum des Textes ist, der aber zugleich auch der Schwierigste ist: „Fürchte dich nicht, glaube nur“, sagt Jesus zu Jairus. Ich glaube, die ganze Geschichte wird für diesen einen Satz erzählt: „Fürchte dich nicht, glaube nur.“ So viel gibt es, vor dem wir uns fürchten oder fürchten können. Was hilft es uns angesichts dessen, zu glauben? Jesus kommt in das Haus des Jairus, sieht das Mädchen und sagt einen weiteren sehr erstaunlichen Satz: „Was weint ihr, das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft.“ Wie kann er das sagen? Er sieht doch, was los ist. Alle sehen es. Er wird ausgelacht. Von denen, die nur sehen und für wahr halten, was vor Augen ist. So, wie wir oft nur sehen, was vor Augen ist, nur das für wahr halten, was wir sehen und anfassen können oder was gängigerweise in unserer Kultur für wahr gilt. Der Glaube aber wagt es, sich verlachen und vielleicht sogar als kindisch verachten zu lassen, und nicht nur das zu sehen, was vor Augen ist. Sondern der Glaube wagt das Vertrauen auf eine andere Wirklichkeit. Er vertraut auf die Macht Gottes, aber er besteht nicht darauf, dass Gottes Macht so ist, wie wir es uns wünschen. Die Geschichte und die Art und Weise, in der sie mich anrührt, bestärken mich in meinem Glauben darin, dass es Gottes Macht gibt, auch wenn ich keine Auferweckungen erlebe. Zwei Weisen der Macht Gottes kommen vor in unserer Geschichte. Das eine ist eine stille leise, fast verborgene Weise, heilsam, heilend. Die Frau berührt Jesu Gewand und wird geheilt, ohne dass irgendetwas getan oder gesagt worden wäre. Manchmal erlebe ich, wie der Glaube eine solche stille heilsame oder gar heilende Kraft ist, nicht im Sinne großer Umwälzungen oder Einsichten, sondern eine Kraft, die leise und langsam wirkt. 107 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Die andere Weise der Macht, die hier zum Ausdruck kommt, ist nicht still, leise, verborgen, sondern eine gewaltige Macht, die zu Recht alle die erschreckt, die ihre Zeugen werden: die Macht Gottes über den Tod: „Und sie entsetzten sich sogleich über die Maßen.“ Die Reaktion der Eltern und der anderen, die im Haus waren, ist sehr angemessen: Sie erschrecken vor dieser Macht. Die leise stille Macht Gottes, die erfahren wir oder können wir erfahren – mitten im Leben. Die gewaltige Macht Gottes über den Tod in seiner realen körperlichen Form aber ist für uns wahrscheinlich erst im Tod unmittelbar erfahrbar. Wir denken viel nach über die Möglichkeiten und die notwendigen Grenzen menschlicher Macht. Mir hilft mein Glaube daran, dass die Menschen, die ich begleite, denen ich begegne in meiner Arbeit als Krankenhausseelsorger nicht nur der Macht und Ohnmacht von Menschen ausgesetzt sind, sondern umgeben sind von der Macht Gottes. Und in ihr geborgen sind, so wie ich selbst in ihr geborgen sein möchte. So höre ich den Satz von Jesus, als wäre er auch zu mir gesprochen: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ Amen.

NACH TRINITATIS Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete Lesung des Predigttextes Jer 1,1–10

Liebe Gemeinde, unser Predigttext heute ist etwas ganz Besonderes, er ist der Beginn der Autobiographie eines außerordentlichen Menschen einer längst vergangenen Zeit. Es geht um den Propheten ­Jeremia. Nur von wenigen Gestalten des Alten Testaments wissen wir so viel über ihr persönliches Erleben wie von Jeremia. 108 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Im Predigttext, der den Anfang des Buches Jeremia bildet, geht es darum, wie alles anfing. „Zu ihm geschah das Wort des Herrn zur Zeit Josias … im dreizehnten Jahr seiner Herrschaft“, erfahren wir gleich zu Anfang. Josia aber war von 647 bis 609 König des sogenannten Südreiches, also des südlichen Teils des ehemaligen Königreiches Israel, mit Jerusalem im Zentrum. So muss das Ereignis, von dem Jeremia erzählt, sich 634 vor Christus zugetragen haben. Ein Jugendlicher ist Jeremia damals gewesen, als Gott zu ihm sprach, wohl etwa sechzehn Jahre alt. Aber was beginnen wir mit diesem Stück Autobiographie? Wie mögen Menschen hier im Krankenhaus diese Geschichte hören? Vielleicht mit einem Gefühl der Befremdung, vielleicht mit dem Gedanken: Was kann ich in meiner Situation mit dieser Geschichte schon anfangen? Immerhin war Jeremia einer der großen Propheten in Israel. Wie kann das, was er erlebt hat, eine Bedeutung für mich haben? Und überhaupt: Ist das nicht alles vor sehr langer Zeit geschehen? Über 2500 Jahre her? So sehr ich diese Bedenken oder Einwände verstehe, so sehr denke ich doch, dass die Geschichte Jeremias, und besonders die Erzählung von seiner Berufung, trotz des großen zeitlichen Abstandes zwischen heute und damals bedeutsam für uns heute ist. Denn es geht in dieser Geschichte um etwas, das für den Glauben an Gott außerordentlich wichtig ist, es geht darum, dass Gott redet. Damit ist aber nicht eine allgemeine Aussage über Gott gemeint, sondern es geht hier um die konkrete und deshalb so kostbare Erfahrung eines wirklichen Menschen zu einer konkreten Zeit, es geht um die Gotteserfahrung Jeremias, des Sohnes des Hilkias, geschehen im Jahr 634 vor Christus. Aber ist das denn wahr? Können wir Jeremia Glauben schenken? Natürlich können wir Jeremias Erzählung in Zweifel ziehen, – das ist ja bei allen Erzählungen möglich –, natürlich können wir sagen, dass der Bericht des Jeremia über seine Berufung 109 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

der Phantasie eines Jugendlichen mitten in der Pubertät entstammt. Wir müssen eine Entscheidung treffen, ob wir Jeremia den Bericht von seiner Berufung abnehmen wollen. Ein Argument dafür ist, dass es Zweifel an der Wirklichkeit solcher Erfahrung sicherlich auch schon damals gab. Man wird auch damals nicht einfach jedem geglaubt haben, der von sich sagte, Gott habe zu ihm gesprochen. Ein Prophet musste mit Sicherheit die Menschen in seiner Umgebung von der Wahrheit dessen, was ihm widerfahren war, erst überzeugen. Das wird auch damals nicht einfach gewesen sein. Man kann sich gut vorstellen, dass nicht das Berufungserlebnis die Glaubwürdigkeit eines Propheten bewies. Sondern das gesamte Handeln und Leben des Menschen, der angeblich von Gott auserwählt worden war, machte umgekehrt auch die Geschichte von seiner Berufung glaubwürdig. Ich halte Jeremias Erzählung über seine Berufung auch deshalb für glaubwürdig, weil uns über die Jahrtausende auch sein Zweifel, ja seine Verzweiflung an Gott überliefert worden ist. Jeremia war kein Sektengründer oder Guru, dem sein Sendungsbewusstsein nicht nur Ruhm, sondern vor allem auch Reichtum einbrachte. Im Gegenteil: Dass er Gottes Botschaft ausrichten musste, bedeutete oft Lebensgefahr für ihn und ließ ihn an seinem Auftrag verzweifeln: „Ich wollte, ich wäre nicht geboren“, soll er einmal gesagt haben. Ich plädiere also dafür, dass wir Jeremia glauben. Gott hat zu diesem Menschen geredet. Aber sofort stellt sich dann die Frage: Gott redete vielleicht damals, aber redet er auch heute? Denn das ist ja eigentlich die entscheidende Frage: Ob Gott wohl noch heute redet! – Aber warum sollte er nur damals in Israel zu den Propheten geredet haben? Warum sollte er später nur zu Jesus gesprochen haben, und dann 110 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

aber nicht mehr? Ist der Gedanke, dass Gott seit fast 2000 Jahren schweigt, nicht wenig plausibel? Das Gegenteil halte ich für überzeugender: Gott hat immer schon geredet und redet auch immer noch, nicht nur zu uns Christen, sondern zu allen Menschen. Nur: Wir Menschen haben immer Verschiedenes gehört und Verschiedenes verstanden. Darum gibt es auch nicht nur eine Religion. Gott redet. Noch heute. Er redet auch zu Ihnen, auch zu mir, die Frage ist nur: Höre ich? Ich glaube, es ist heute schwerer als damals, Gott zu hören. Einmal sind unsere Möglichkeiten uns abzulenken ungleich größer. Wir werden überschüttet mit einem überlauten Angebot an Musik, Kultur, Fernsehshows, Sport, mit mehr oder minder belanglosen Informationen, die morgen schon veraltet sind und keinen mehr interessieren. Gott redet mit leiser Stimme, sie setzt sich nicht durch, sie tritt nicht in Konkurrenz zu den vielen anderen Stimmen, die wir tagtäglich hören. Gottes Stimme braucht die Stille, um gehört werden zu können. Aber selbst dann, wenn wir sie einmal hören, dann schenken wir ihr möglicherweise kein Gehör, weil heute mehr denn je nur das als wahr gilt, was wissenschaftlich erwiesen ist. Und dass ein Mensch etwas von Gott hört oder erfährt, lässt sich niemals mit den Mitteln der Wissenschaft nachweisen. Ich glaube: Gott redet, noch heute. Zu Ihnen, zu mir. Aber: Wir sind doch keine Propheten! Oder? Und die Zeit der Propheten ist vergangen. Prophet als Gegenüber zum König – im Auftrag Gottes – das ist vorbei. Die Zeiten haben sich geändert. Andererseits: Viele Menschen heute tun das, was damals die Propheten getan haben: aufstehen, mahnen, Missstände anprangern, nicht nur, aber auch im Namen Gottes. Jeremias Auftrag kann nicht 111 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

der unsrige sein, der Mantel der alten Propheten passt uns nicht mehr – auch nicht dem Pfarrer. Aber eines ist geblieben: Gott redet noch heute, wie Gott damals zu Jeremia geredet hat. Das Erste, was Gott zu Jeremia sagte, war ja keineswegs ein Auftrag. Sondern als allererstes sagt er: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitet hatte.“ Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitet hatte: Gilt das nur für die Propheten, für die großen Gestalten des Alten und des Neuen Testaments? Sind nur die ihm wichtig? Jesaja, Jeremia, Mose, Hesekiel, Elia, die Jünger Jesu …? Nur die be­reitet er im Mutterleibe, nur die sondert er aus? Und die ungezählten anderen? Du? Ich? Sind wir lediglich biologische Produkte? Gott unbekannt? Aber können wir uns Gott wirklich so vorstellen? Als einen, der aus welchen Gründen auch immer Unterschiede macht zwischen „Ausgesonderten“ und Ungenannten, Unbekannten, Ungezählten? Wenn wir das weiter denken, gelangen wir zu der kühnen Schlussfolgerung: Wir alle sind „bereitet“, uns alle kannte Gott von Anfang an, uns alle hat er ausgesondert. Aber wozu? Ich glaube, dass die Zusage Gottes an Jeremia auch für uns gilt. Mehr noch: Auch von uns will Gott etwas, auch für uns hat er einen Auftrag. Vielleicht will er etwas, das zunächst nur mit deinem eigenen Leben etwas zu tun hat? Was nur dich etwas angeht? Wir sind es gewöhnt zu denken, dass Gottes Aufträge immer etwas sind, was sich auf andere bezieht. Dass wir für andere dies oder jenes tun sollen. Es könnte aber auch anders sein, nämlich dass Gott will, dass wir zunächst etwas für uns selbst tun: vielleicht umkehren von Wegen, die uns nur schaden, oder uns Wege suchen, auf denen wir mehr zu uns selbst finden? Ich weiß nicht, was Gottes Auftrag an dich ist, vielleicht liegt der auch nicht ein für alle Mal fest, sondern verändert sich im 112 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Laufe deines Lebens? Vielleicht bist du auch schon längst dabei, ihn zu erfüllen? Ich glaube, wenn ein Mensch das tut, was Gottes Auftrag an ihn ist, dann spürt er das, nämlich als die Gewissheit, das Richtige zu tun. Und ebenso auch bei dem, was er nicht tut. Aber wahrscheinlich ist das Erste nicht das Tun, sondern das Hören, daraus wird alles andere schon von selbst wachsen. Die Autobiographie Jeremias, des Propheten Gottes im siebten Jahrhundert vor Christus: kein Leitfaden für bedeutende Menschen oder solche, die es werden wollen, sondern ein Hinweis, ein Zeugnis für jeden von uns, eigentlich für alle Menschen: Gott redet! Werde ich versuchen zu hören, was er zu mir sagt? Amen.

NACH TRINITATIS Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn Liebe Gemeinde, in den letzten Wochen haben mir Menschen, die ich als Krankenhausseelsorger im Marienkrankenhaus besucht habe, viel von ihrem Leben erzählt, und was sich in diesem Leben so alles zugetragen hat. Ein Mann erzählte von der schrecklichen Zeit, als sein Sohn mit zwanzig an einer Krebserkrankung verstarb, eine Frau erzählte mir von ihren vielen Krankenhausaufenthalten, eine andere, die selbst schwer erkrankt ist, von ihrem Mann, der schwer pflegebedürftig zu Hause liegt. Immer frage ich mich dann: Wie halten Menschen so etwas eigentlich aus? Was hilft ihnen, das, was ihnen das Leben so vor die Füße wirft, diese Steine oder gar Felsbrocken, zu überklettern? Wie ertragen sie das alles, ohne daran seelisch zugrunde zu gehen? Und dann sind die Menschen, die Frauen und die Männer, mit denen ich spreche, ja selbst oft schwer erkrankt und su113 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

chen nach Wegen, das Leid zu bewältigen, was sie jetzt gerade selbst erleiden müssen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen höre ich den Predigttext für heute, den ich Ihnen vorlesen möchte:

Lesung des Predigttextes Mt 13,31–32

Das Senfkorn ist wirklich eines der kleinsten Samenkörner die es gibt. Jesus meinte in seinem Gleichnis wahrscheinlich den schwarzen Senf – die Pflanzen, die aus den kleinen, fast kugelförmigen Samen entstehen, werden bis zu zwei Meter hoch. So ist es vielleicht etwas übertrieben, wenn Matthäus Jesus sagen lässt, dass die Vögel in ihr wohnen, aber die Senfpflanze wird ja wirklich größer als alle anderen Kräuter. Jesus will mit seinem Gleichnis etwas über das Himmelreich lehren. Das Himmelreich? So mancher, der von Sorgen frei durchs Leben gegangen ist, wird das Wort als religiösen Kitsch abtun. Es scheint ein Wort zu sein, das vielleicht etwas für Kinder ist, höchstens, aber doch nichts für Erwachsene! Für Jesus aber ist die Predigt vom Himmelreich – oder vom Reich Gottes – nichts Kindisches, sondern im Gegenteil, der Kern seiner Lehre, der Kern dessen, was er den Menschen damals vermitteln wollte. (Denn Jesus hat ja nicht sich selbst gepredigt, hat nicht von seinem Tod und der Auferstehung gesprochen und hat nach allem, was wir heute wissen, auch nicht seinen Tod als Erlösung für alle Menschen von der Sünde aufgefasst. Was er den Menschen vermitteln wollte, war eigentlich nur eines: „Siehe, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen!“ ) Das war seine Predigt, und: „Trachtet allein nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles andere zufallen!“ Hier in unserem Predigttext lässt Matthäus Jesus nicht vom Reich Gottes spre114 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

chen  – wie zum Beispiel im Lukasevangelium  – sondern vom Himmelreich. Sonst aber ist das Gleichnis vom Senfkorn in allen Evangelien außer bei Johannes gleich überliefert. Das ist so zu erklären, dass Matthäus für jüdische Leser schrieb. Für Juden aber war die Verwendung des Gottesnamens problematisch, weshalb der Evangelist „Reich Gottes“ durch „Himmelreich“ ersetzte. Jesus hat aber nicht nur verkündet, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, er hat nicht nur das Trachten nach diesem Reich als das wichtigste Ziel des Menschen bezeichnet, sondern hat auch versucht, in Gleichnissen zu beschreiben, was es mit diesem Reich auf sich hat. Das Reich Gottes (oder das Himmelreich) ist ein Bereich, in dem Gott allein die Herrschaft hat und nichts und niemand sonst. Das aber widerspricht ja zunächst unserer Erfahrung. Bricht eine Krankheit in unser Leben ein und bedroht sie die Gesundheit oder das Leben unserer Nächsten – oder gar unser eigenes Leben, dann scheint ganz Anderes die Herrschaft zu haben: Ärzte, Schwestern, Operationen, Therapien und Medikamente scheinen das Reich zu beherrschen, dem wir dann angehören – Sorgen und Ängste kommen hinzu – wie passt das zum Reich Gottes? Jesus soll einmal gesagt haben: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ – daraus haben seine Nachfolger, die ersten Christen und dann die Kirche, die Lehre gemacht, dass das Leben ein Jammertal sei und dass Schönste erst nach dem Tod anfängt. Ich möchte den Satz etwas verändern und möchte Jesus sagen lassen: „Mein Reich ist in dieser Welt.“ Damit meine ich: Mitten in der Welt ist etwas von diesem Reich Gottes erfahrbar, wir können von diesem Reich mitten in der Welt etwas erleben! Denn wenn das nicht ginge, dann wäre unser Glaube leer, ohne Leben, wir versuchten uns an etwas zu klammern, was nicht mal ein Strohhalm ist, sondern nichts. Der Glaube wächst nicht durch Lehre oder durch Wissen, sondern 115 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

durch Erfahrung, am besten durch eigene Erfahrung und nur mittelbar durch die Erfahrung Anderer. Wenn das Reich Gottes nicht mitten in der Welt erfahrbar wäre, dann hätte Gott streng genommen herzlich wenig mit der Wirklichkeit zu tun, die wir täglich erleben. Also: Das Reich Gottes ist in dieser Welt, vielleicht nicht nur in dieser, vielleicht gibt es auch Gebiete dieses Reiches jenseits dieser Welt, aber darum geht es mir heute nicht. Das Reich Gottes in der Welt kann uns berühren, kann von uns erfahren werden. Das denke ich mir nicht aus. Vielmehr höre ich in meinen Gesprächen mit Menschen im Krankenhaus nicht nur von dem Reich der Krankheit und des Leidens, vom Reich der Sorgen und der Angst, sondern die Menschen erzählen auch von anderen Erfahrungen. Eine Frau sagte mir: „Ich bete auch im Krankenhaus vor jeder Mahlzeit, das lasse ich mir nicht nehmen!“ Gerade in der letzten Zeit spreche ich mit Menschen viel über das Beten. Ich höre von Problemen mit dem Beten, höre aber auch, wie wichtig Menschen das Gespräch mit Gott ist. Ein Mann erzählte mir, er habe jetzt viel Zeit, und er denke viel über Gott nach. Er spreche mit Gott im Gebet: „Natürlich höre ich nicht, dass Gott mir irgendwas sagt, aber er antwortet mir in Kleinigkeiten, die ich erlebe.“ Damit bin ich schon fast beim Senfkorn. Denn ich glaube: Alle diese Erfahrungen, von denen ich eben gesprochen habe, haben mit dem Reich Gottes zu tun, sogar die Erfahrung des Zweifels. Denn ich glaube: Der Zweifelnde ist vom Reich Gottes angerührt, aber er sucht es am falschen Ort oder in der falschen Weise. Manchmal sagen Menschen: „Ich sehne mich nach einem starken Glauben!“ Und sie sind enttäuscht oder sie haben schon seit langer Zeit resigniert, weil sie nicht das Senfkorn suchen, 116 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

sondern die fertige Pflanze. Die aber finden sie nicht, weil die nämlich zum Wachsen Zeit braucht. Das Gleichnis sagt: Senfkorn und die fertige Pflanze gehören zusammen. Und da ist noch der Mann, der das kleine Senfkorn in die Erde legt. Der Mann achtet den kleinen Samen, er legt ihn in den Acker, damit er sich verwandeln kann. Das Reich Gottes in dieser Welt: Menschen erfahren etwas davon, wie ich eben erzählt habe, sie werden angerührt von diesem Reich, sie sind sich gewiss, dass es nicht nur die Krankheit und die Angst, sondern noch etwas anderes gibt. Vielleicht fühlen sie sich gehalten, oder geborgen trotz allem. Aber ich glaube auch, jeder erfährt dieses Reich Gottes auf eine andere Weise. Manchmal erfahren Menschen im Krankenhaus etwas von diesem Reich in sich selbst, manchmal in der Begegnung mit den anderen, mit ihren Angehörigen, Freunden, aber auch mit Schwestern und Pflegern, den Ärzten usw. Jesus sagt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Das heißt für mich: Wir erfahren etwas davon in den guten Beziehungen untereinander. Auch das erlebe ich hier im Krankenhaus: Wie Angehörige seit Wochen jeden Tag kommen, auch wenn der Mann, der Vater auf der Intensivstation liegt und sie gar nicht mit ihm sprechen können. Jeden Tag kommen sie und geben die Hoffnung nicht auf. Das Gleichnis könnte allen Hoffnung geben, die auf der Suche nach dem Reich Gottes sind und es noch nicht gefunden haben. Die sich nach den Erfahrungen sehnen, die mit ihm verknüpft sind und die es ausmachen. Das Gleichnis gibt den Weg vor, wie das Reich Gottes, das Himmelreich, in dieser Welt wachsen kann. Der erste Schritt ist, Senfkörner zu finden, kleinste Samenkörnchen, unscheinbar und doch so wertvoll. Alles, was mir am Tag begegnet und mich in guter Weise anrührt – ein Wort, das 117 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ich höre, eine Berührung, die mir gilt, eine Farbe, die ich sehe –: Was auch immer meine Seele in guter Weise anrührt, ist ein solches Senfkorn. Der zweite Schritt wäre, achtsam mit diesen Körnchen umzugehen, sie sozusagen bewusst und sorgfältig in den Acker der Seele zu versenken. Mehr muss man nicht tun, nur das. Das Wachsen geschieht von selbst. Jesus sagt: „Wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, so dass die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.“ Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, unser Predigen und unsere vielen Worte, ziehe in eure Herzen ein. Amen.

NACH TRINITATIS Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Vorlesen des Predigttextes, Psalm 8

Liebe Gemeinde, Der 8.  Psalm, der Predigttext für heute, ist ein Lobpsalm, das ist unschwer erkennbar. „Herr unser Herrscher, wie herrlich ist deine Name in allen Landen!“ So heißt es gleich am Anfang. Aber vielleicht ist Ihnen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, heute Morgen gar nicht so sehr danach, Gott zu loben? In meiner Ausbildungszeit wurde mir gesagt: Ein Gebet fängt immer mit Lob an. Wenn man Gott im Gebet um etwas bitten will, dann muss man ihn zuerst loben! Als wäre Gott jemand, dem es auf eine Reihenfolge im Gebet ankäme! Schon damals – vor den Erfahrungen, die ich später als Krankenhausseelsorger gemacht habe – habe ich mich gefragt: Was ist denn, wenn es einem Men118 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

schen so schlecht geht, an Leib oder Seele oder an beidem, dass er – wenn er überhaupt noch betet – nur noch sagen oder vielleicht nur noch innerlich schreien kann: „Mein Gott, hilf mir!“ Ich kenne Sie ja nicht, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich weiß nicht, in was für einer Lebenssituation Sie sind und welche Worte heute Morgen Ihrem Herzen näher sind: Ob es der Vers des achten Psalms ist: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!“ Oder ob Sie ein Vers aus einem anderen Psalm viel eher anrührt: „Gott, rette mich, denn das Wasser steht mir bis an die Kehle, hilf mir, dass ich nicht im Schlamm versinke!“ Vielleicht ist jemand hier, der in einer Lebenskrise ist, ohne dass jemand, der neben ihm sitzt, davon weiß. Vielleicht hört jemand zu, der unter einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet, vielleicht ist jemand hier, der sich um einen Angehörigen Sorgen macht oder gar um ihn trauert. Wie kann Menschen in einer solchen Situation eine Predigt über einen Lobpsalm erreichen? Wo ist die Brücke zwischen ihrer Lebenssituation und den Worten des Psalms? Diese Brücke schlägt der Psalm selbst, indem er fragt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Dieser Vers spricht mich an, weil er selbstverständlich davon ausgeht, dass Gott in der Tat des Menschen gedenkt. Denn das ist ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, die Frage zu stellen: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Gott gedenkt des Menschen, und nicht des Menschen als der Menschheit, sondern er gedenkt konkreter Menschen, er gedenkt Ihrer, er gedenkt jeder Frau und jedes Mannes, die heute Morgen hier sind. Was bedeutet aber gedenken? Gedenken hat zu tun mit sich er­ innern, an etwas oder an jemanden, aber nicht an etwas, das vergangen ist, oder an jemanden, der einmal war, sondern gedenken hat einen Bezug zur Gegenwart: So bedeutet für mich gedenken: 119 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

in Gedanken bei jemandem in seiner Situation jetzt sein, sich fragen: „Wie geht es ihr, wie geht es ihm wohl jetzt?“ – und in dieser Weise Anteil zu nehmen an dem anderen. Wenn ich jemandes gedenke, dann bin ich ihr oder ihm in meinen Gedanken nahe. Oft höre ich von Menschen im Krankenhaus, wie wohl es ihnen tut, dass andere ihrer im Gebet gedenken. Eine Patientin hat dieses Gedenken einmal als einen warmen Mantel beschrieben, der ihr fürsorglich um die Schultern gelegt würde. Es scheint sich etwas zu übertragen zwischen Mensch und Mensch in solchem Gedenken. Gott gedenkt des Menschen: Wenn Gott Gedanken hat, dann kommt der Mensch, der konkrete Mensch darin nicht nur vor, sondern Gott ist ihm in seinen Gedanken nahe. Es fällt auf, dass dieses Gedenken hier im Psalm nicht vom Glauben oder Unglauben eines Menschen abhängt, auch nicht von seiner Religion – denn hier geht es nicht speziell um die Israeliten, sondern um alle Menschen: Was ist der Mensch… Nicht nur der Israe­ liten gedenkt Gott und nicht nur der Christen, sondern auch der ­Buddhisten, auch der Muslime, auch der Hindus, auch derjenigen, die in keiner Weise mit der Existenz von etwas Göttlichem rechnen wollen oder können. Manchmal sagen mir Frauen oder Männer, mit denen ich im Krankenhaus spreche, dass sie nach Gott suchen. Als wäre Gott jemand, der irgendwo weit weg wohnt und dessen Aufenthaltsort unbekannt ist, der deshalb gesucht werden muss und zu dem ein weiter Weg zurückzulegen ist. Das Gegenteil aber ist der Fall: Gott gedenkt meiner, das heißt: Unabhängig von meinem Suchen oder Nichtsuchen ist Gott in seinen Gedanken mir nahe. Es kommt nicht auf die Stärke meines Glaubens an, sondern darauf, ob ich mich auf etwas einlasse, das so wirklich und so real ist wie ein Tisch, ein Stuhl oder Ähnliches: Gott gedenkt des Menschen, er gedenkt meiner. 120 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Aber ist dieses Nahesein Gottes nicht anders als das gedankliche Nahesein von Menschen, die räumlich voneinander getrennt sind? – Der nächste Psalmvers nimmt diesen Gedanken auf: „Was ist der Mensch und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst …“ Gott gedenkt nicht nur des Menschen, sondern er nimmt sich seiner an. Sich jemandes annehmen … – wir nehmen uns etwa eines Tieres an, das wir verletzt am Wege finden, oder eines Kindes, das sich verlaufen hat, oder einer Aufgabe, die wir für wichtig halten. Damit lassen wir Not, Hilfe­ bedürftigkeit, Verletzt-Sein – die Situation mit ihrer Bedeutung und Anforderung – zu unserer persönlichen Angelegenheit werden. Wir investieren unsere Zeit, unsere Kraft, die Hilfsmöglichkeiten, die uns zu Verfügung stehen. Der Psalm setzt auch das als selbstverständlich voraus und hinterfragt es nicht: dass Gott sich des Menschen annimmt, meiner und deiner, dass er unsere Not, unsere Hilfebedürftigkeit, unser Verletzt-Sein – unsere Situation mit ihrer Bedeutung und Anforderung –, unsere Krisen, unsere Sorge, unsere Angst, unsere Trauer zu seiner persönlichen Angelegenheit macht. Anders ist Gott für mich auch gar nicht denkbar. Liebe Gemeinde, man kann in einer Predigt nicht alles sagen und über alles sprechen. So müssten wir eigentlich hier weiterdenken, und uns fragen, was das bedeutet, dass Gott sich unserer annimmt, vor allen Dingen in Bezug auf die Erfahrungen fast unendlichen Leides auf dieser Erde, inwiefern sich Gott dessen annimmt und wo die Grenzen dieses Annehmens verlaufen. Oder wie wir uns für dieses Annehmen Gottes öffnen können und es unsererseits annehmen, wahrnehmen und ein Teil, wenn nicht gar die Mitte unseres Lebens werden lassen können. Der Mensch, der den Psalm vor langer Zeit aufgeschrieben hat, denkt über diese Fragen nicht weiter nach, dass Gott der Menschen gedenkt, dass er sich aller Menschen annimmt, das steht 121 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

für ihn unzweifelhaft fest. Aber er fragt, wie das kommt, warum Gott das tut, wo doch die Welt so groß und der einzelne Mensch in ihr so unbedeutend ist: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast…“. Wir wissen heute sehr viel mehr über das Universum als die Menschen damals. Wenn wir uns den Himmel in einer klaren Nacht ansehen, dann wissen wir, dass es dort nicht nur die Sterne gibt, die selbst schon weit genug entfernt sind, sondern auch Millionen von Galaxien, Sterninseln im Kosmos, die wiederum selbst Milliarden von Sternen enthalten, und die mit dem bloßen Auge gar nicht gesehen werden können, so weit sind sie von uns entfernt. Aber auch die Israeliten damals hatten schon eine Ahnung von der Größe des Kosmos und davon, dass die Erde und die Menschheit auf ihr nicht mehr als ein Staubkorn in dieser Unendlichkeit und vielleicht auch Unermesslichkeit ist. Für die Israeliten war alles, was sie in einer klaren Wüstennacht am Himmel in seiner ganzen Schönheit und Größe sahen, die vielen vielen Sterne und dazu noch das geheimnisvolle Band der Milchstraße, Gottes Schöpfung, Werk seiner Hände. Aber genauso war sich der Mensch, der den Psalm geschrieben hat, sicher: Gott gedenkt des Menschen auf diesem Staubkorn Erde. Inmitten der Unendlichkeit der Welt und der Welten ist der Mensch, ist jeder Mensch ihm wichtig. Darin besteht die Größe Gottes, beides zu vereinigen und zu vereinbaren: den Kosmos geschaffen zu haben und zu erhalten, mit all den Monden, Planeten und Sternen, und gleichzeitig jeder Frau und jedes Mannes zu gedenken, und sich jeder Frau und jedes Mannes – und auch jedes Kindes – anzunehmen. Dafür wird Gott gelobt, deshalb ist sein Name für den Psalm „herrlich in allen Landen.“ Die Größe und Schönheit des Himmels und der Sterne wäre letztlich sogar beängstigend, wenn der Mensch, wenn jeder Ein122 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

zelne für Gott nicht wichtig wäre, wenn es Gott höchstens um die Menschheit als Ganzes gehen würde. Dann würde nicht die Schönheit des Himmels wahrgenommen, sondern der Mensch – wenn er in der Nacht zu den Sternen aufschaut – würde sich verloren und heimatlos vorkommen und er hätte keinen Anlass, ein Wesen für seine kosmischen Großtaten zu loben, das an ihm als Einzelnen kein Interesse hätte. Das ist ein großes Geheimnis, wie diese Gegensätze zu vereinbaren sind: Schöpfer und Erhalter des ganzen Kosmos zu sein, und gleichzeitig jedem Einzelnen, Frau, Mann oder Kind nahe zu sein und an seinem Schicksal Anteil zu nehmen. Jede Predigt muss einmal an ihr Ende kommen, dabei wäre noch so viel Stoff zum Nachdenken da. Zum Beispiel könnten wir uns fragen, ob wir heute das Staunen des Psalmisten über die Fähigkeiten des Menschen noch teilen könnten: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht wie Gott … Du hast ihn zum Herren gemacht über deiner Hände Werk.“ Was hat der Mensch mit dem Geschenk seiner Macht getan? Es spricht nun viel dafür zu behaupten: Der Mensch hat seine Macht missbraucht, seine Macht, die heute ungleich größer ist als damals. Er hat sie dafür missbraucht, nicht nur seine Umwelt, sondern auch seine Mitmenschen zu schädigen, wenn nicht gar zu vernichten – und feiert doch oft genug seine eigene Größe. Nein, das uneingeschränkte Staunen über die Fähigkeiten des Menschen können wir nach rund 2500 Jahren weiterer Menschheitsgeschichte nicht mehr ohne Weiteres teilen: Wir staunen vielleicht noch immer über das, was der Mensch heute kann, erschrecken aber auch über die Zunahme seiner Möglichkeiten. Aber das will ich hier nicht weiter vertiefen, sondern zum Schluss noch einmal das sagen, was mir am Herzen liegt: Gott gedenkt jeder Frau, und jedes Mannes hier, in ihrer in seiner Situation, und ist Ihnen allen, liebe Zuhörerinnen und 123 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Zuhörer, in Gedanken nahe. Und wenn du einmal in einer klaren Nacht zum Himmel schaust und die Sterne und die Milchstraße siehst, dann darfst du gewiss sein: In dieser Welt bist zu Hause, und der, der das alles geschaffen hat, ist dir mit all seiner Macht, die dafür erforderlich war, nahe und nimmt sich deiner an. Amen

NACH TRINITATIS Der sinkende Petrus Lesung des Predigttextes Mt 14,22–33

Liebe Gemeinde, die Geschichte vom sinkenden Petrus auf dem See Genezareth ist so wichtig, dass es wert wäre, eigentlich jede Einzelheit der Geschichte zu bedenken. Aber dafür reicht die Zeit einer Predigt nicht aus. So fange ich direkt mit Jesus an, der nach der Speisung der 5000 auf einen Berg steigt. Er zieht sich zurück, er sucht die Einsamkeit um zu beten. Allein dieser kurze Bericht könnte Anstoß zu einer Predigt für alle sein, die sich für andere Menschen einsetzen, die andere Menschen im übertragenen Sinne speisen, also nicht mit Brot und Fischen, sondern mit Pflege, mit Beratung, mit Psychotherapie, mit Zuwendung und Empathie. Alle Menschen in helfenden Berufen brauchen das: sich zurückzuziehen, um mit sich allein zu sein, um vielleicht zu meditieren oder sogar um zu beten. Der Abend findet Jesus allein auf dem Berg. Und unten, weit draußen auf dem See Genezareth, sind seine Jünger in einem Boot. Es wird Nacht, Sturm kommt auf, die Wellen gehen hoch. Haben die Jünger Angst? Wahrscheinlich schon, denn sie sind 124 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ja schließlich Menschen wie du und ich. Das Schiff in den Wellen mit den Jüngern: Das ist oft als Symbol für die Kirche gedeutet worden. Sie kennen vielleicht das Adventslied „Ein Schiff das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit.“ Das Schiff – das könnte auch das Lebensschiff sein, mit dem jeder von uns Tag für Tag durch seine Lebenszeit unterwegs ist, und manchmal ist dieses Lebensschiff auch im Sturm, und es wird von den Wellen hin und her geworfen. Noch eine Deutung des Schiffsymbols Schiff ist möglich: Das Schiff könnte für unsere Einstellungen, unsere Überzeugungen stehen, mit denen wir ja auch in der Zeit unterwegs sind, es könnte ein Sinnbild für das sein, was uns trägt, für unsere Werte, für unsere Bindungen und unsere Beziehungen untereinander. Mit all dem sind wir unterwegs, jeden Tag. Und ist der See oder das Meer, auf dem unser Lebensschiff unterwegs ist, ruhig, dann scheint das Schiff sicher zu sein. Aber im Sturm, der das Schiff hin- und herwirft, wird das anders: Das, was wir vorher für sicher und selbstverständlich hielten, gerät möglicherweise ebenso wie ein wirkliches Schiff ins Wanken oder droht gar unterzugehen. Es ist Nacht, genauer: Die vierte Nachtwache ist angebrochen. Das ist keine zufällige Zeitangabe, im Gegenteil. Die vierte Nacht­ wache, das sind die Stunden zwischen drei und sechs Uhr morgens zwischen völliger Dunkelheit und erstem Morgengrauen. Das ist die Zeit, in der die Nacht am tiefsten ist. Manchmal erzählen mir Menschen von ihren Nachtwachen hier im Krankenhaus. Sie sprechen von ihren durchwachten Nächten, wenn die Stunden einfach nicht vergehen wollen. In der Nacht wiegt alles noch schwerer: In der Nacht wachsen Sorgen und Angst und auch Schmerzen oder anderes körperliches Leid scheinen in der Nacht zuzunehmen. Andere Menschen hier im Krankenhaus halten Wache: Ärzte, Schwestern und Pfleger. Ich denke an die 125 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Nächte, in denen ich ins Krankenhaus gerufen wurde, vielleicht an das Bett eines Sterbenden. Ich denke an die Stunden, in denen ich gemeinsam mit den Angehörigen den letzten Atemzügen eines Menschen zugehört habe. Die Nacht konzentrierte sich auf dieses eine Zimmer, verdichtete sich zu dem, was hier geschah: Ein Mensch verlässt das Schiff seines Lebens. In der vierten Nachtwache aber kommt Jesus über den See, in der Finsternis, über die Wellen. Die Jünger erwarten ihn nicht, sie haben ihn nicht gerufen, ganz anders als in der Geschichte von der Sturmstillung, in der Jesus von Anfang an mit den Jüngern im Boot ist, und sie ihn wecken, weil sie Angst haben. Jesus kommt ungerufen, unerwartet. Kein Wunder eigentlich, dass er nicht erkannt wird. Stellen wir uns das doch nur einmal vor: In tiefster Nacht, in Sturm und Regen nähert sich eine Gestalt über die Wellen dem Boot, in dem die Jünger sich sowieso ängstigen. Die Jünger greifen zum Aberglauben und halten Jesus für ein Gespenst. Sie schreien vor Furcht, bis Jesus sie anspricht: „Seid getrost: Ich bin’s.“ Ich weiß nicht, wie es Ihnen mit diesen Worten geht, aber in mir wecken sie eine Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht danach, so Manches, vor dem ich mich fürchte, so Manches, vor dem ich mich erschrecke, könnte beim Näherkommen sagen: „Sei getrost: Ich bin’s.“ Und ich entdecke, dass meine Lebenslage jetzt, der Sturm, die Wellen, die Angst, nicht ohne Gott sind, dass Gott für mich dort erfahrbar wird und er es ist, der zu mir sagt: „Sei getrost: Ich bin’s.“ Was jetzt im Predigttext folgt, ist der Kern der Geschichte. Jesus ruft Petrus zu sich auf das Wasser. Er ruft ihn heraus aus dem Schiff. Er soll den Halt aufgeben, den er bis jetzt hatte, er soll die Schiffsplanken vertauschen mit dem Wasser, er soll das tun, was mit dem sogenannten gesunden Menschenverstand betrachtet, nicht nur gefährlich, sondern schlichtweg unmöglich ist. 126 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Liebe Gemeinde, was Petrus dann tut, zeigt, was Glaube ist oder wie man den Glauben beschreiben kann: Unser Lebensschiff fährt ganz gut bei wenig Wind und schönem Wetter. Dann scheint alles, was dieses Lebensschiff ausmacht, seine Schiffsplanken, seine Bordwände, uns Halt und Sicherheit zu geben: unsere Einstellungen, unsere Werte, unsere Ziele, unsere Beziehungen und vieles mehr. Aber immer wieder spreche ich mit Menschen, in deren Leben sich mit einem Schlage alles verändert hat: Gesundheit und Wohlbefinden waren beispielsweise plötzlich einer lebensbedrohliche Krankheit gewichen. Erst letzte Woche sprach ich mit einem Mann, dem allmählich klar wurde, dass es mit einem einmaligen Aufenthalt im Krankenhaus nicht getan sein würde, sondern dass es mindestens ein Jahr dauern würde, bis er als geheilt gelten könnte, wenn alles gut geht. Alles geht gut bei schönem Wetter und leichtem Wind. Aber im Sturm ändert sich das, wir erleben, dass wir unterwegs mit etwas sind, das in Wahrheit eher gefährdet und zerbrechlich ist und nur vorübergehend, nur begrenzt Halt gibt. Ich denke an die Gespräche mit einem Mann, der an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet. Er hat eine wunderbare Familie, alle stehen zu ihm und unterstützen ihn. Dennoch hat er Angst zu sterben. Aller Rückhalt der Familie, so wichtig dieser auch ist, kann ihm diese Angst nicht nehmen, Glaube, so wie er hier im Predigttext beschrieben wird, bedeutet, das aufzugeben und zu verlassen, was nur scheinbar tragfähig ist, und sich einer Wirklichkeit anzuvertrauen, die allein Halt geben kann. Sehen wir uns noch einmal an, was da auf dem See geschieht: Petrus ist dabei, über die Bordwand des Schiffes zu steigen und hinaus auf das Wasser zu gehen. Der Verstand sagt: „Wahnsinn! Wie kann er das tun, er wird mit Sicherheit ertrinken! Die anderen werden in dem Sturm keine Chance haben, ihn 127 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

wiederzufinden und an Bord zu ziehen.“ Der Verstand warnt, er rät, bei dem zu bleiben, was man sehen und anfassen kann oder sonst für wahr, wirklich und tragfähig halten kann. Der Glaube aber vertraut. Petrus sagt nicht zu Jesus: „Erklär mir erst mal, wie ich das machen soll und inwiefern mich das Wasser auch tragen wird“, sondern weil er vertraut, steigt er hinab in die Wellen. Alles geht gut, solange Petrus Jesus ansieht und nicht auf die Wellen achtet. Und so könnte unsere Geschichte auch enden: Und Petrus ging ohne Furcht auf Jesus zu und gemeinsam kehrten sie zum Boot zurück. Aber wäre das ein befriedigendes Ende der Geschichte? Würden wir angesichts eines solchen Schlusses nicht dazu neigen zu sagen: „Ja, der Petrus, der konnte das! Der war ja immerhin ein Jünger, ein Held des Glaubens, der Fels, auf den Jesus seine Kirche bauen wollte. Aber ich: Ich bin kein solcher Glaubensheld!“ So würden wir reagieren und die Geschichte letztlich enttäuscht beiseitelegen, als Geschichte für Glaubenshelden ohne Furcht und Tadel, aber eben nicht für uns. Aber: So geht die Geschichte ja nun nicht aus: Petrus steigt zwar über die Bordwand auf das Wasser und geht auf Jesus zu. „Als er aber den starken Wind sah erschrak er und begann zu sinken.“ Petrus hat Angst, trotz seines Vertrauens, und so rückt er uns wieder näher, wird er uns wieder ähnlicher  – aus dem übermenschlichen Glaubenshelden wird wieder ein Mensch wie wir – denn so geht es uns ja auch: Wir glauben, wir vertrauen, aber manchmal, wenn die Wellen in unserem Leben wieder mal hochgehen, dann sorgen wir uns und haben doch Angst. Denn: Das Alte haben wir hinter uns gelassen, dahin können wir nicht mehr zurück. Und so bleibt uns in der Angst nur zu übrig, das zu tun, was Petrus hier tut, nämlich zu schreien: Herr, hilf mir! „Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn.“ Amen.

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NACH TRINITATIS Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet Lesung des Predigttextes Jer 29,13–14

Liebe Gemeinde, Gott von ganzem Herzen suchen, wer tut das schon? Da gibt es die einen, die glauben, ihn gefunden zu haben, und meinen, nicht mehr weiter suchen zu müssen. Da gibt es die anderen, die sagen, dass sich die Suche nicht lohne, denn es gäbe nichts zu finden. Gott, so sagte im 19. Jahrhundert der Philosoph Feuerbach, ist nur eine Projektion der Sehnsüchte des Menschen. Der Mensch denkt sich Gott aus als Zusammenfassung, als Personifikation seiner Sehnsucht – nach Macht, nach Geborgenheit. Hätte Feuer­ bach recht, so würde der Mensch, der sich aufmachte Gott zu suchen, am Ende nur sich selbst, diese Sehnsucht, und vielleicht auch seine Angst finden. Aber im Krankenhaus geht es nicht um philosophische Spekulationen, sondern um existenzielle Not: Sorge um das eigene Schicksal oder um das eines Angehörigen oder Freundes, wenn nicht gar Angst. Manche Menschen im Krankenhaus warten auf Gott, sie warten darauf, dass er sich zeigt, oder doch eine Spur von ihm zu sehen, zu entdecken. Sie warten auf die Erfahrung seiner Hilfe, seiner Nähe. Immer wieder leiden Menschen daran, dass sie Gott nicht spüren, dass er ihnen nicht schenkt, was sie sich am dringendsten wünschen: Gesundheit, Rettung. Andere sagen: „Ohne die Kraft, die er mir schenkt, würde ich das alles gar nicht aushalten!“ Wo finden Sie sich selbst wieder, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer? Bei denen, die nicht mehr zu suchen brauchen? Bei denen, die aufgegeben haben und sagen: „Es lohnt sich nicht!“? Gott von ganzem Herzen suchen  – Das hat zu tun mit der 129 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Frage: Was mache ich eigentlich von ganzem Herzen? Wo bin ich ganz dabei, mit aller Energie, und nicht nur halbherzig? Wo setze ich mich ganz ein? Wo investiere ich, was ich an Begabungen und Kräften besitze? In meinen Beruf, in meine Hobbys, in die Beziehungen zu anderen Menschen? Wo gebe ich mich ganz? Können wir das überhaupt? Liegt es uns nicht näher, vorher über Gewinn und Verlust nachzudenken? Zu fragen: „Was habe ich davon?“ Vielleicht geben wir uns ganz, wenn wir lieben. Aber das ist ja auch wieder so ein Thema, das nicht gerade einfach ist. Nicht immer liebt man den anderen um seiner selbst willen, oft verwechseln wir die Liebe mit anderen Gefühlen, manchmal sogar mit der Selbstliebe, manchmal mit dem Bedürfnis, gebraucht zu werden. Der Verwechslungsmöglichkeiten gibt es viele. Und oft geht es Menschen in der Liebe auch gar nicht darum, sich oder etwas von sich zu geben, sondern im Gegenteil, den anderen mehr oder minder zu besitzen. Liebe ist ein schwieriges Thema. Und das gilt auch für die Liebe zu Gott: „Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen“, zitiert Jesus aus den Büchern Mose, als er nach dem höchsten Gebot gefragt wird. Kann Liebe geboten werden? Sicher nicht, aber was für einen Sinn macht dann dieses Gebot? Wir sehen: Wenn wir von „ganzem Herzen suchen“ durch mit „ganzem Herzen lieben“ ersetzen, wird es nicht einfacher. Was tue ich von ganzem Herzen – wem oder was messe ich eine so große Bedeutung zu, dass ich alles dafür gebe, dass das Streben danach den Einsatz meiner ganzen Person verlangt? Die Antwort wird jeder von Ihnen sich selbst geben können! Aber – so könnt man mir entgegnen – was sollte mir das bringen, mich auf die Suche nach Gott zu begeben? Löst es meine Probleme? Nimmt es mir meine Krankheit, ist diese Suche oder gar das Finden eine Arznei gegen Angst und Tod? Wäre das so, 130 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ließen sich zumindest einige dieser und anderer Fragen zuverlässig mit Ja beantworten, so wäre das Unternehmen „GottesSuche“ kalkulierbar, wir könnten abwägen, was dafür und was dagegen spräche. Wir bräuchten auch nicht mehr mit ganzem Herzen zu suchen, bräuchten nicht mehr diese Suche zur Chefsache zu erklären, sondern „halbe Kraft voraus“ würde vielleicht ja auch reichen! Aber ist es nicht eher so: Was es bedeutet, Gott zu finden, lässt sich nicht ausrechnen, noch nicht einmal ausreichend beschreiben, sieht wahrscheinlich für jeden von uns anders aus, wird von jedem vielleicht unterschiedlich erfahren. Denn es gibt ja nicht den abstrakten Menschen, der einen ebenso abstrakten Gott suchte, sondern es gibt immer nur den einen besonderen Menschen, diesen einen besondere Frau oder Mann, den es sonst nicht mehr gibt, der nach dem Gott sucht, den die Bibel immer wieder als den lebendigen Gott beschreibt: Gott ist ja nicht ein philosophisches Prinzip, sondern er ist der, zu dem Jesus sagt: Abba, lieber Vater. So kann diesen lebendigen Gott zu finden Gelassenheit mit sich bringen, inneren Frieden, die Freiheit, weniger Angst zu haben, mit etwas mehr Vertrauen in die Zukunft zu sehen. Das alles kann geschehen, wenn Gott sich finden lässt. Aber das ist sicher nicht das ganze Geschehen des Findens, dieses ist mehr als Vertrauen, Gelassenheit, Frieden, obwohl dieses alles schon sehr viel ist. Die Bibel redet von diesem Suchen und Finden in Bildern und in Gleichnissen. Wie es sein kann, Gott zu suchen, davon spricht der 42. Psalm: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ Wie es sein kann, Gott zu finden, beschreibt das Gleichnis von der kostbaren Perle, das Jesus erzählt: Da zieht einer los auf der Suche nach Perlen zum Kaufen 131 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

und Verkaufen, aber er findet eine, die so außergewöhnlich ist, von so großer Schönheit, dass er alles verkauft, was er hat, um diese einzige kostbare Perle zu erwerben. Aber im Gleichnis von der kostbaren Perle hat es letztlich der Kaufmann selbst in der Hand, ob er bekommt, was er begehrt, oder nicht. Zwar muss er alles dafür geben, aber dafür erfüllt sich auch Sehnsucht. Bei Jeremia aber heißt es: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.“ Das Suchen, so aktiv es auch ist, und mit so viel Einsatz es auch erfolgt, hat doch das Finden nicht von selbst zur Folge. Das Ziel der Suche schenkt sich selbst. Durch Einsatz und Anstrengung allein ist es in keiner Weise zu er­reichen, obwohl es ohne auch nicht geht. Wobei aber eigentlich auch darüber zu reden ist, was das genau für eine Anstrengung ist, die bei dieser Suche unternommen werden muss. Sicher geht es dabei ja nicht um Leistung und ihre Belohnung. Das Gleichnis von der kostbaren Perle unterscheidet sich aber noch in einer zweiten Weise von dem, was der Prophet als Wort Gottes verkündet: Eine Perle lässt sich besitzen, man kann sie hervorholen, betrachten, sich an ihrer Schönheit erfreuen und sie wieder an ihren sicheren Ort zurücklegen. Mit Gott aber kann es sich ja so nicht verhalten: Diese Suche endet nicht mit einem Besitz, den man ein für alle Mal hat. Gott lässt sich nicht besitzen, auch nicht in der Form von frömmsten und gewissesten Überzeugungen. Sie kennen vielleicht das Gedicht von Hermann Hesse, „Stufen“. Dort heißt es in einem Vers: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne.“ In gewisser Weise gilt das auch für die Suche nach Gott: Das Gefundene, sei es eine Einsicht, sei es eine Erfahrung kann von uns nicht als Besitz festgehalten werden, den wir nach Bedarf hervorholen, um ihn uns anzusehen und uns daran zu erbauen. Ein solcher Glaube wäre dann, wenn es darauf ankommt, wenn wir ihn dringend als 132 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Lebenshilfe, als Ermutigung zum Leben brauchen, nicht tragfähig. Ein kluger Mann hat einmal gesagt: Religion ist ein Weg und kein Haus. Das, was ich auf meiner Suche nach Gott finde, lässt mich nicht stillstehen. Es verlangt danach, den Weg weiterzugehen und es in Beziehung zu setzen zu meinen Lebenserfahrungen, zu der großen Vielfalt dessen, was mir täglich begegnet. Liebe Gemeinde, das Anliegen meiner Predigt ist, dass ich Ihnen Mut machen möchte, sich auf die Suche nach dem zu machen, was ich für das Wesentlichste des Lebens halte. Zugleich möchte ich Ihnen sagen, dass bei dieser Suche sich ein Grund finden lässt, auf dem sich sowohl in des Lebens Glück als auch in des Lebens Krisen in innerem Frieden wohnen und leben lässt. Oder, wie es in einem Psalm heißt: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott auf den ich hoffe.“ „So spricht der Herr: Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.“ Das ist zum einen die Erfahrung eines Menschen mit Gott, vor langer Zeit, zugleich aber auch eine Verheißung für uns: Genauso wird es geschehen! Amen.

NACH TRINITATIS Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen Lesung des Predigttextes Mt 21,18–22

Liebe Gemeinde, manchmal, wenn wir einen Bibeltext hören, dann ist ein Wort dabei oder ein Satz, der uns nahe kommt, der uns anrührt. Das 133 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ist nie zufällig, sondern hat immer mit uns selbst zu tun, vielleicht mit unserer Vergangenheit, vielleicht mit der Gegenwart, in der wir jetzt, heute leben. Bei der Arbeit an dieser Predigt für heute hat mich der letzte Satz des Predigttextes besonders berührt: „Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen.“ Dieser eine Vers berührt mich, weil er auf der einen Seite so eine große Zusage ist und weil er auf der anderen Seite unseren Erfahrungen oft widerspricht. Für mich zielt dieser Vers in den Kern des Glaubens, weil es hier um die Beziehung zwischen Gott und uns geht, es geht modern gesprochen um die Kommunikation zwischen Gott und uns, um unser Sprechen mit Gott und um sein Antworten. Dieser Vers stellt uns auch Fragen. Er fragt uns nach unserer Gebetspraxis, nach un­ seren Gebetserfahrungen. Das Thema, das hier angesprochen ist, ist klar: Es geht um das Gebet und um seine Erhörung. Das ist eines der großen Themen der Christenheit, und immer wieder sind in der Kirchengeschichte Antworten auf diese Frage gegeben worden. Und weil schon 2000 Jahre lang Menschen darüber nachgedacht haben, können wir nicht hoffen, hier eine endgültige oder gar allgemeinverbindliche Lösung zu finden. Wenn es so etwas geben würde, dann wüssten alle diese Antwort und wir brauchten darüber nicht mehr nachzudenken. Aber eines können wir tun: Wir können uns über unsere eigenen Erfahrungen mit dem Gebet und seiner Erhörung klar werden. „Und alles, was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen.“ Was für eine Zusage! Was für ein Versprechen! Und wie gern würde ich hier von ganzen Herzen sagen zu können: Genau so ist es! Aber die Wirklichkeit, dass wissen Sie so gut wie ich, liebe Gemeinde, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer im Krankenhaus, sieht anders aus. Da können wir nicht dran vorbei: Wenn es nur an der Kraft von Gebeten und am fes134 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ten Glauben der Beterinnen und Beter läge, dann würde hier im Krankenhaus kaum ein Mensch lange bleiben, niemand müsste an seiner Krankheit leiden – und schon gar nicht würden Menschen sterben. Was wäre das für eine Welt! Und doch ist es nicht so. Menschen beten zu Gott um Gesundheit, um Bewahrung vor Leiden und Tod – und doch geschieht es nicht. Und sie fragen Gott, wenn sie noch mit ihm sprechen: „Wieso, Gott, tust du mir das an? Hörst du mich nicht? Siehst du mich nicht?“ Die Erfahrungen, von denen ich hier spreche, sind nicht neu, die Frauen und Männer, denen wir die Psalmen verdanken, haben das vor mehr als 2000 Jahren schon so aufgeschrieben: „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“ (Psalm 22,3). Es gibt aber auch andere Erfahrungen mit dem Beten. So sagen mir Menschen manchmal: „Ich weiß, dass viele für mich beten, das hilft mir, das tut mir gut. Denn manchmal kann ich selber nicht mehr beten.“ Ich erinnere mich noch an einen sehr schönen Vergleich, von dem mir eine Frau vor einigen Jahren erzählte: „Die Fürbitten der anderen“ – sagte sie – „sind für mich wie ein warmer Mantel, der mich umhüllt.“ „Und alles was ihr bittet im Gebet, wenn ihr glaubt, so werdet ihr’s empfangen.“ Wenn ihr glaubt … Also liegt es an der Qualität unseres Glaubens, wenn unsere Gebete nicht erhört werden? Menschen, deren Gebete nicht in Erfüllung gehen, greifen manchmal zu dieser Erklärung und sie geben sich selbst die Schuld. Und das stürzt sie nur noch mehr in Verzweiflung: Nicht nur werden sie nicht gesund, sondern suchen auch noch die Schuld dafür bei sich selbst. Liebe Gemeinde, ich glaube nicht, dass Gott das will, dass Menschen an Worten der Bibel verzweifeln. Ich glaube das erst recht nicht von Worten, die von Jesus selbst stammen sollen. Ich kann nicht glauben, dass Gott will, dass Menschen auch noch an ihrer Seele Schaden neh135 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

men, wenn schon die Medizin ihrem Körper nicht helfen kann. Deshalb muss ich hier diesem Vers aus dem Matthäusevangelium widersprechen und sagen: Es kann nicht am mangelnden Glauben der Beterinnen und Beter liegen, dass Gebete nicht so erhört werden, wie sie ausgesprochen  – oder innerlich geschrien! – werden. Wie viele Juden haben in den Lagern zu Gott geschrien, dass er ihnen helfe! Zu sagen, dass es an ihrem mangelnden Glauben an Gott gelegen habe, dass er ihnen nicht geholfen habe, ist eine Verhöhnung dieser Menschen und letzten Endes auch eine Verhöhnung Gottes, denn es schriebe Gott eine Hartherzigkeit zu, die wir allzu gut von Menschen kennen, aber von Gott nicht annehmen wollen. Was wäre das für ein Gott? Jedenfalls nicht der Gott, auf den ich im Leben und im Sterben mein Vertrauen setze. Der Gott auf den ich mein Vertrauen setze, das ist der Gott, zu dem ich bete und an den ich mich mit meinen Bitten wende. Aber auch dann, wenn es im Gebet nicht um eine von uns zu erbringende Glaubensleistung geht, bleibt es bei der Erfahrung, dass unsere Gebete nicht so erhört werden, wie wir es uns manchmal so sehr ersehnen. Woran liegt das? Daran, dass Gott uns nicht hört? Daran, dass ihm unsere Not gleichgültig ist? Daran, dass Gott willkürlich die Gebete der einen erhört und die der an­deren verwirft? Wieder muss ich sagen: Der Gott, dem ich mich im Leben und im Sterben anvertraue, ist so nicht. Er ist weder taub noch abwesend noch gleichgültig noch willkürlich. Was ist das für ein Gott, zu dem ich bete? Es ist der Gott, dem ich mein Vertrauen schenke, aber er ist für mich nicht der Allmachtsherrscher über die Welt und über uns, der alles so lenkt, wie er es will. Der Gott, zu dem ich bete, lenkt den Lauf der Geschichte und der Geschicke einzelner, Länder, Nationen Völker nicht von außen nach einem verborgenen Plan. Sondern Gott wirkt von innen, er wirkt 136 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

in mir und in dir, er ist angewiesen auf unser Handeln und unser Denken und so ist sein Wirken an die Bedingungen der Welt gebunden. Gott hat sich mit dieser Welt und mit den Menschen ver­ bunden und damit auch ein Stück Machtlosigkeit auf sich genommen. Warum glaube ich das? Ich glaube das um Jesu willen. „Er nahm an sich eins Knechts Gestalt, ward elend und gering“, so heißt in einem Kirchenlied. Ein Papst hat gesagt, als man ihm Bilder der in den Konzentrationslagern ermordeten Juden zeigte: „Hoc est Corpus Christi“ – dies ist der Leib Christi. Das heißt, Gott hat sein Leben und sein Wirken mit unserem Leben und unserem Wirken verbunden, die Leidenden sind sein Leib, sein Körper. „Was ihr den Elendesten unter euch antut, dass tut ihr mir an“, sagt Jesus. Was aber hat das mit unserer Frage nach der Gebetserhörung zu tun, fragen Sie jetzt vielleicht. Was ich sagen will ist: Weil Gott sich für die Verbindung mit uns entschieden hat, weil er sich entschieden hat, in der Welt und nicht jenseits von ihr zu sein, deshalb ist vielleicht manchmal der verzweifelte Wunsch nach Gesundheit auch für Gott nicht erfüllbar. Zugleich aber ist mir bewusst, dass es Hochmut ist zu sagen, etwas sei für Gott unmöglich und damit ganz und gar auszuschließen, dass Gott so etwas tun kann. Wenn mich jetzt jemand fragen würde: „Ist es denn sinnlos, dass ich Gott um meine Heilung bitte?“, dann würde ich antworten: „Nein, überhaupt nicht. Denn das ist eine Sache zwischen Gott und dir, und vielleicht, wenn du Gott um Heilung bittest und du offen dafür bist, was Gott dir antwortet, dann wirst du seine Antwort auch hören oder spüren oder erfahren. Und wenn du geheilt wirst, dann freue ich mich mit dir und lobe Gott für das, was er an dir getan hat. Und wenn du nicht geheilt werden kannst, dann ist es wichtig, dass du die Beziehung mit Gott 137 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

nicht abbrichst, dass du weiter mit ihm redest, ihm sagst, was du fühlst und was du denkst, so wie es die Menschen in den Psalmen getan haben: „Ich schreie täglich zu dir, aber du hörst mich nicht.“ Und ich wünsche mir für dich, dass du vielleicht auch wie in den Psalmen sagen kannst: „Dennoch“ – trotz dieser Erfahrung, dass ich nicht geheilt werden kann – „dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat, und nimmst mich am Ende mit Ehren an.“ (Psalm 73,24–24). Amen.

NACH TRINITATIS Und du darfst hinter mir her sehen Lesung des Predigttextes: Ex 33,12–23

Liebe Gemeinde, obwohl ich schon einige Male über diesen Text gepredigt habe, zieht er mich immer noch an und noch immer habe ich das Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein mit meiner Predigt. Was ist es denn, was ich hier so anziehend finde? Einmal ist es die Situation des Mose und seine sehr menschliche Art mit Gott zu reden. Und dann das Versprechen G ­ ottes, dass Mose wenigstens hinter ihm her sehen dürfe. Ich frage mich, ob dieses „Gott hinterher sehen“ nicht auch für uns gelten kann oder eine Möglichkeit für uns ist? Hätte Gott dem Wunsch des Mose entsprochen, hätte das den Mose sehr weit von uns entfernt, hätte die Distanz, die zwischen uns und so einer großen Gestalt der Bibel ohnehin liegt, noch weiter vergrößert: Mose, der einzige Mensch, der die Herrlichkeit Gottes gesehen hätte! Aber würden wir dann dieser Geschichte Glauben schenken, würden wir sie nicht eher als Vision oder sogar als bloßen 138 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Wunschtraum beiseitelegen, weil sie mit unserem Leben sehr wenig zu tun hat? Ich glaube, wir hätten es noch schwerer, in diese Geschichte hineinzukommen, ihr etwas abzugewinnen, als wir es vielleicht ohnehin schon haben. Aber bevor ich diesen Gedanken weiter folge, lassen Sie mich die Geschichte noch einmal kurz rekapitulieren: Das Volk Israel war zum Berg Sinai gekommen, Mose war auf den Berg gestiegen und hatte dort von Gott die Tafeln mit den Zehn Geboten bekommen. Als er wieder vom Berg hinunter stieg, sah er, dass die Israeliten in seiner Abwesenheit ein goldenes Kalb gegossen hatten und es anbeteten. Auf Moses Fürsprache hin, wird erzählt, verzeiht Gott den Israeliten. Folgen hat die Episode aber doch: Erst ihre Nachkommen werden in das gelobte Land einziehen. Mose soll nun mit den Israeliten weiter in die Wüste hinein wandern: ein schwerer Weg liegt vor ihnen. Anstatt dass sich nun Mose, wie wir das von einer großen Gestalt erwarten würden, mutig und tapfer auf den Weg macht, beklagt er sich bei Gott darüber, dass er den Weg nicht wisse und auch nicht wisse, wer ihn bei seiner Aufgabe unterstützen soll. Zweimal scheint er auf diese Weise einen Anlauf zu nehmen, bis er auf sein eigentliches Anliegen kommt: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“, verlangt er von Gott. Warum tut er das? Natürlich können wir das nur vermuten. Und die naheliegendste Vermutung ist, dass dieser Wunsch etwas mit der Lebenssituation des Mose zu tun hat. Mit seiner Situation, eine schwierige Aufgabe vor sich zu haben, von der er noch nicht weiß, wie er sie bewältigen soll. Mit seiner Situation, einen langen Weg vor sich zu haben, von dem er noch nicht weiß, wie er ihn gehen kann und wohin er ihn führen wird. An dieser Stelle rückt uns Mose vielleicht ein Stück näher, weil sich hier bei ihm etwas sehr Menschliches zeigt, weil hier von 139 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Dingen die Rede ist, das wir auch kennen: eine schwere Aufgabe, ein unbekannter Weg. Eine ungewisse Zukunft, Sorge, wenn nicht gar Angst. Frauen oder Männer, die von einer schweren Erkrankung betroffen sind, sagen manchmal, dass sie sich vor dem fürchten, was vor ihnen liegt: eine schwere Operation, eine belastende, lange Therapie. Wie die Wüste vor Mose und den Israeliten stand, so steht auch vor Menschen, die sich so fühlen, eine große Weglosigkeit. Wie das Volk Israel stehen auch sie vor dem Aufbruch hinein in eine Art Wüstenlandschaft ihres Lebens. Vergangene Woche sprach ich mit einer Frau, die erneut an Krebs erkrankt ist. Im Gegensatz zu damals weiß sie heute, was auf sie zukommt, wie anstrengend eine Chemotherapie sein kann. Sie fürchtet sich vor dem Weg, der vor ihr liegt, und sie fragt sich, wohin dieser Weg sie führen wird. Im Alten Testament begegnen uns die großen Gestalten und die großen Ereignisse in der Geschichte des Volkes Israel: Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und seine Brüder, Mose, der Auszug aus Ägypten, der Durchzug durch das Rote Meer und vieles mehr. Alles das wird unter anderem auch deshalb erzählt, weil hier allgemein Menschliches zur Sprache kommt, weil in diesen Gestalten und Erzählungen Probleme und Situationen im Leben beinah aller Menschen dargestellt werden, die immer wieder auftreten, damals vor vielleicht 3000 Jahren, und auch heute noch. Die Welt, in der wir leben, hat sich seit damals sehr verändert, aber hat sich der Mensch geändert? Keine einfache Frage. Wir gehen heute mit Dingen selbstverständlich um, die damals als Zauberei gegolten hätten oder als göttliches Wunder. Wir denken über so Manches nach, was damals noch nicht einmal vorstellbar war. Und trotzdem glaube ich, dass sich der Mensch in seinem Wesen wenig geändert hat. 140 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Heute wie damals werden Menschen mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert: Schwere Entscheidungen müssen getroffen werden, Krankheit und andere Schicksalsschläge führen zu großen körperlichen und seelischen Belastungen, nach wie vor haben Menschen Angst, können die Zukunft nicht über­ blicken, fürchten sich vor dem, was kommen kann, oder auch davor, dass etwas nicht geschieht. Im Alten Testament wird nun das allgemein Menschliche in Gestalt großer Personen und Ereignisse in Beziehung gesetzt zu Gott. So auch hier bei Mose in seiner Situation zwischen den dramatischen Ereignissen am Sinai und dem Aufbruch in die Wüste, in die Ungewissheit. Zweimal nimmt er einen Anlauf, bevor er Gott um das bittet, was er eigentlich will: Es reicht ihm nicht, dass Gott ihm versichert, er – Mose – habe Gnade vor seinen Augen gefunden, es reicht ihm auch nicht, dass Gott ihm seinen eigenen Namen sagt  – übrigens in einem rätselhaften Spruch: „Wessen ich gnädig bin, dem bin ich gnädig und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Mose will mehr als das oder besser gesagt: er will etwas anderes. Mose will etwas sehen, nicht hören, spüren, oder sonst wie erfahren, sondern sehen will er. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen“, sagt jemand, der einen anderen überzeugen will, dass sich etwas ganz Besonderes zugetragen hat. „Ich glaube das erst, wenn ich es selbst gesehen habe“, sagen wir auch manchmal. Das Sehen gilt uns oft als Beweis für etwas, an dem ansonsten gezweifelt werden könnte, so, wenn man beispielsweise von etwas nur gehört hat. Bei uns galt lange eine Photographie als Beweismittel, dass sich etwas so und so zugetragen hat. Inzwischen ist das anders geworden, wir misstrauen längst den Bildern, die uns etwas beweisen wollen, weil wir wissen, wie leicht Bilder heute manipuliert oder ganz und gar künstlich erzeugt werden können. 141 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Mose also will etwas zu sehen bekommen, nämlich Gottes Herrlichkeit: Das ist aber ganz unanschaulich für uns: Wie ist das zu verstehen? Gottes Herrlichkeit sehen: Das ist ja nicht ein ästhetisches Erlebnis, etwas, dessen Schönheit man genießt, sondern etwas ganz anderes. Es hat etwas damit zu tun, sich mit den eigenen Augen von der Macht Gottes zu überzeugen, ja noch mehr, mit den eigenen Augen Gottes Wesen zu sehen. Warum wünscht sich Mose das? Will er sich von Zweifeln befreien? Zweifeln an Gottes Macht, Zweifel daran, ob Gott wirklich seinen Weg mit ihm gehen wird? Mir scheint es eher so zu sein, als ob Mose nicht nur von Zweifeln frei werden möchte, sondern sich vor allem nach der Nähe Gottes sehnt. Vielleicht deshalb, weil sich dann in dieser Nähe Zweifel, Sorgen, Ängste auflösen würden? Sie kennen vielleicht das Lied von Reinhard Mey: „Über den Wolken“: Der Refrain dieses bekannten Liedes heißt: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein  – alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns hier groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“ Ich frage mich, ob sich nicht Mose nach einer solchen Erfahrung sehnt: Dass die Herrlichkeit Gottes seine Sorgen und Ängste vor der Zukunft überstrahlen möge, so dass auch sie nichtig und klein würden? Wer einmal Gottes Herrlichkeit gesehen hätte, der hätte eine völlig andere Perspektive, eine Perspektive, aus der alles, was ihn irgendwie bedrücken könnte, seiner Macht entkleidet, klein und unbedeutend wäre. Gott schlägt Mose diese Bitte ab: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Das leuchtet ein: Den unendlichen Gott selbst zu sehen, übersteigt bestimmt alles, was das so sehr begrenzte Menschenwesen fassen kann. Aber vielleicht hat die Antwort Gottes hier noch einen tieferen Sinn: Ich frage mich, ob wir nicht, wenn sich alle Ängste, alle Sorgen in einer alles überstrahlenden Ge142 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

wissheit und Sicherheit, wenn nicht gar Seligkeit auflösen würden, aufhörten, noch menschlich zu sein? Anders gesagt: Sich zu sorgen und gar manchmal Angst zu haben, manchmal auch zu zweifeln, ob Gott wirklich unsere Wege mitgeht, gehört zu unserem Menschsein dazu, und wenn das alles nicht mehr wäre, hörten wir auch auf, Menschen zu sein. „Niemand lebt, der mich sieht.“ Der Apostel Paulus hat das, was ich meine, sehr viel später so ausgedrückt: „Wir leben im Glauben, nicht im Schauen.“ Schauen, also endgültige Gewissheit, das war es vielleicht, was Mose wollte. Mose wollte aus dem „Noch nicht“, ein „schon jetzt“ machen. Das eigentlich Schöne an unserer Geschichte aber ist, dass es nicht bei der Ablehnung bleibt. Gott wird Mose in eine Felskluft stellen und die Hand über ihn halten. Wenn Gott vorübergezogen ist, darf Mose ihm hinterher sehen. „Hier ist ein Raum bei mir“, sagt Gott, „dort will ich meine Hand über dich halten.“ Das sind sehr fürsorgliche Worte. Gott nimmt die Sehnsucht des Mose ernst, er weist sie nicht zurück, sondern stellt einfach fest, dass es nicht geht. Aber weil Moses Sehnsucht ernst genommen wird, tut Gott das, was dennoch möglich ist – zwischen dem großen Gott und dem Menschen mit seinen Ängsten, Zweifeln und Unzulänglichkeiten. So könnte es ein, dass das, was Gott hier für Mose tut, sich auch auf uns beziehen lässt: Mose kann Gott hinterher sehen, er darf sozusagen die Spur sehen, die Gott hinterlässt. Die Frage, auf die uns das führt, heißt: Gilt das vielleicht für uns auch? Gibt es Gottes Spuren in unserem Leben, in unserer Erfahrung mit uns selbst, mit anderen, und mit der Welt in der wir leben? Ich glaube: ja, obwohl diese Spuren möglicherweise nicht einfach zu entdecken sind. Vielleicht überlegen Sie einmal, ob Sie in Ihrem Leben nicht schon einmal eine ganz besondere Erfahrung gemacht haben, ob 143 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Sie das Gefühl gehabt haben, mit etwas in Berührung gekommen zu sein oder etwas erfahren zu haben, was mit den Alltagserfahrungen nicht oder kaum verglichen werden kann? Ich erinnere mich etwa an die Geschichte einer Patientin, der ich ganz am Anfang meiner Arbeit als Krankenhausseelsorger, also vor mehr als zwanzig Jahren, begegnet bin. „Einmal“, sagte sie, „bin ich als Kind auf einen kleinen Berg gegangen, da hatte ich auf einmal das Gefühl, Gott zu begegnen, ohne dass ich das gewollt hätte oder mir vorgenommen hätte oder auch nur über Gott nach­gedacht habe.“ Ich glaube, wir alle machen in unserem Leben – vielleicht nur einmal oder einige wenige Male  – eine ähnliche Erfahrungen und es ist dann so, als ob sich uns auf einmal eine Tür oder ein Fenster zu etwas Wunderbarem öffnen würde. Aber dieser kostbare Moment kommt und vergeht auch wieder. Manchmal ist es eine Begegnung mit einem anderen Menschen, die uns stark berührt, oder eine Naturerfahrung. Es ist vielleicht das Gefühl, auf einmal Teil von etwas viel Größerem zu sein, oder es ist ein Gefühl tiefen Friedens. Manchmal rührt uns ein Vers aus der Bibel in besonderer Weise an oder ein Satz eines Schriftstellers oder ein Bild, das wir betrachten. Alles das sind Erfahrungen, die ich gerne als die Spuren Gottes verstehen möchte. In diesen Erfahrungen, in diesen kost­ baren Momenten, die uns manchmal geschenkt werden, sehen wir wie Mose Gott hinterher. Leider neigen wir dazu diese Momente zu entwerten und zu sagen: Ach das war ja nur eine Einbildung, ein Wunschtraum, kindliche Phantasie, und wir vergessen, dass es sie jemals gab. Wir sollten aber im Gegenteil diese kostbaren Momente sehr ernst nehmen, denn es sind sie, in denen wir mitten im Leben etwas von den Spuren Gottes erfahren. Diese kostbaren Augen­ blicke sind wie ein Schatz, an den wir uns erinnern, wenn wir Le144 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

benszeiten erleben, die eher von Sorgen, Ungewissheit, oder gar Angst erfüllt sind. Wir leben im Glauben und nicht im Schauen, aber der Glaube hat sehr viel mit diesen kostbaren Erfahrungen zu tun, in denen wir Gott hinterhersehen durften und seine Spuren gesehen oder doch geahnt haben, die er in unserem Leben hinterlassen hat. Amen.

NACH TRINITATIS Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen Lesung des Predigttextes Lk 17,11–19

Liebe Gemeinde, die Botschaft dieser Erzählung an uns scheint ganz klar zu sein. Sie scheint in der Mahnung zu bestehen: „Macht es nicht so, wie die neun, sondern wie der eine: Seid dankbar!“ Und so könnte ja meine Predigt darin bestehen, meinerseits den moralischen Zeigefinger zu heben und Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu ermahnen: „Seid auch ihr dankbar!“ Aber das will ich nicht tun. Aus zwei Gründen: Einmal, weil vielleicht so mancher hier ist oder zuhört, dem heute Abend so gar nicht nach Dankbarkeit zumute ist, weil dieser Mann oder diese Frau zu viel erlebt hat im Leben, wofür zu danken schwer fällt, oder weil er oder sie gerade jetzt eine schwere Zeit durchmacht, für die Dankbarkeit nur schwer oder gar nicht möglich ist! Wie kann man jemand zur Dankbarkeit ermahnen, der vielleicht schon seit Monaten unter einer Depression leidet? Wofür soll einer danken, dem vielleicht gerade die Diagnose einer ernsten Krankheit mitgeteilt wurde? Mein zweiter Grund, hier keine Mahnungen zur Dankbarkeit zu verkünden, ist: Mahnungen helfen nicht wirklich. Rund 145 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

500 Jahre ist von deutschen Kanzeln zum Beispiel die Nächstenliebe gepredigt worden und es ist gemahnt worden: Liebe deinen Nächsten! Aber alle diese Tausende von Predigten haben das Grauen des „Dritten Reiches“ nicht verhindert. Ein Appell, eine Mahnung, ist immer etwas, das Menschen nur äußerlich erreicht, dadurch allein geschieht keine innere Veränderung oder gar Entwicklung. Und alles, was äußerlich ist und bleibt, das rinnt an unserer Seele herab wie Regentropfen an einer Regenjacke und dringt nicht tiefer in uns ein. Eigentlich will aber eine Predigt ein Anstoß zu einem innerlichen, also seelischen Geschehen sein. Deshalb ist eine Predigt vielleicht vor allem eine Art Einladung. Aber nun zu unserer Geschichte. Ich möchte ihnen erzählen, warum ich heute über diesen Text predige: Keineswegs bin ich als Seelsorger immer nur der Gebende, sondern oft nehme ich aus einem Gespräch auch etwas für mich selbst mit. Vor einiger Zeit besuchte ich einen Mann, der in keiner einfachen Situation war. Während unseres Gespräches erzählte er mir die Geschichte von Jesus und den zehn Aussätzigen, und zum Schluss sagte er: „Dankbarkeit muss man lernen!“ Der Satz hat mich angerührt, ohne dass ich schon wusste, warum, und ich habe ihn mir mitgenommen aus diesem Gespräch. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Geschichte selbst. Die Aussätzigen: Wer war das damals zur Zeit Jesu? Das waren Menschen, die an offen sichtbaren Hauterkrankungen litten, häufig war es Lepra. Menschen, die an Lepra litten, wurden aus Angst vor Ansteckung buchstäblich ausgesetzt: Sie durften nicht mehr mit den andern zusammen wohnen, sondern mussten vor den Toren der Stadt leben. Wenn sie unter Menschen gingen, um sich ihren Lebensunterhalt zu erbetteln, dann mussten sie im Mittel146 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

alter mit einer Klapper aus Holz auf sich aufmerksam machen, damit die Menschen ihnen aus dem Weg gehen konnten. Lepra war damals anders als heute unheilbar und vor dem körperlichen Tod kam oft der soziale Tod durch Einsamkeit und Isolation. Die Erkrankten mussten sich von ihren Familien für immer trennen, es sei denn, auch diese wählten ein Leben draußen vor der Stadt und teilten das Leben der Leprakranken, denn diesen blieb in der Regel nur noch der Kontakt mit anderen ebenfalls Erkrankten. So ist es gut vorstellbar, dass sich die Szene, die das Lukasevangelium beschreibt, so oder so ähnlich zugetragen hat, nämlich dass Jesus am Rand eines Dorfes von einer ganzen Gruppe von Lepra-Kranken angesprochen oder besser angerufen wird: „Sie standen ferne“, heißt es: Aussätzige durften sich anderen Menschen nicht nähern. Sie rufen: „Erbarme dich unser“. Er­ barmen: Das kann sehr viel heißen, das kann heißen: „Sieh unsere Not an, nimm uns wahr, geh nicht einfach so vorbei, vielleicht hast du ein freundliches Wort für uns? Oder einen Trost? Oder noch besser: Etwas Geld!“ Vielleicht ist es aber auch so gemeint: „Hilf uns! Heile uns!“ Es ist sehr erstaunlich, was jetzt kommt: Jesus heilt die Zehn nicht, sondern er sagt: „Zeigt euch den Priestern.“ Es war nämlich damals so: Nur ein Priester in Jerusalem konnte beurteilen, ob tatsächlich eine Heilung vorlag, und nur er konnte genehmigen, dass die Geheilten wieder am normalen Leben teilnehmen durften. Das Erstaunliche ist, dass sich die Kranken tatsächlich auf den Weg machen. Und erst auf diesem Weg nach Jerusalem, also während sie noch gehen, werden sie geheilt. Sie müssen ein sehr großes Vertrauen gehabt haben, diese Menschen. Dass sie Jesus geglaubt haben, ohne dass irgendetwas an ihnen geschehen war. Sie hätten ja auch sagen können: „Moment mal: Das ist es nicht, was wir wollten, wieso sollen wir uns den Priestern zeigen? 147 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Es hat sich doch nichts geändert!“ Sie lassen sich von Jesus auf einen Weg schicken und vertrauen darauf, dass sich auf diesem Weg etwas ereignen wird. Und in der Tat ereignet sich auf diesem Weg ihre Heilung. Wir erfahren nun nichts weiter darüber, was in neun von ihnen nach ihrer Heilung vorgegangen ist, nur von einem erfahren wir etwas, nämlich dass er umgekehrt ist und Gott und Jesus gedankt hat für das, was an ihm geschehen war. Die Frage Jesu: „Sind ihrer nicht zehn heil geworden?“, ist oft so verstanden worden, als würde Jesus hier die neun gleichsam als schlecht erzogene Kinder ansehen, denen die Eltern das Wörtchen „Danke“ nicht beigebracht haben. Tatsächlich ist hier etwas ganz anderes gemeint, wie der nächste Satz von Jesus zeigt. Er sagt nämlich: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Ein merkwürdiger Satz an dieser Stelle: Ist ihm und auch den anderen neun nicht schon längst geholfen worden, indem sie geheilt worden sind? Ich verstehe das so: Nur für einen Menschen ist noch mehr geschehen als die Heilung von einer Krankheit. Nur für einen Menschen hat sich auch innerlich etwas geändert, ist auch innerlich nichts mehr, wie es war. Er hat über die Heilung Gott gefunden in seinem Leben. Seine Dankbarkeit ist der Ausdruck für dieses Finden. Die neun anderen sind Beispiele dafür, wie sich Gutes im Leben ereignen kann, ohne dass diese Erfahrung des Guten oder sogar Heilsamen weitere Auswirkungen hat. Das erinnert mich an Gespräche mit Menschen im Krankenhaus, die gesagt haben: „Sobald ich wieder nach Hause komme, werde ich mein Leben ändern, so soll es nicht weitergehen!“ – und ich habe mich gefragt, ob sie es wohl wirklich tun werden. Denn wir neigen dazu, auch nach guten Erfahrungen schnell wieder zum Alltag überzugehen. Der eine, der umgekehrt ist, tut das nicht. „Dein Glaube hat dir geholfen“: Bei ihm und an ihm wird deutlich, was Dankbarkeit ist: Keine moralische Verpflichtung, keine moralische 148 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Bringschuld, sondern eine seelische Bereicherung, ein seelischer Schatz. Dankbarkeit bereichert den Dankbaren, ist so etwas wie ein Stück seelischen Reichtums, das sich der Dankbare erwirbt. So ist die Geschichte von den zehn Aussätzigen gar keine moralische Mahnung, sondern eine Einladung. Eine Einladung zu versuchen – ich sage mit Absicht: „zu versuchen“, denn das mag manchmal sehr schwer sein – zu versuchen, das Gute im eigenen Leben – in der Gegenwart, aber auch in der Vergangenheit – bewusst wahrzunehmen. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Ich zitiere noch einmal meinen Gesprächspartner: „Dankbarkeit muss – oder vielleicht besser: kann – man lernen.“ Das Gute in unserem Leben ist in der Regel das, was wir uns nicht selbst besorgen oder verschaffen können: Vertrauen, Zuneigung, Freundschaft, Liebe, Schönheit, Sinn, Glaube, Hoffnung. Darüber und wie das zu Gott in Verbindung steht, ließe sich noch viel sagen. Dass dieses alles, was ich genannt habe, mit Gott in Beziehung steht, das lässt sich nicht beweisen, aber daran glaube ich. Amen.

ENDE DES KIRCHENJAHRES Wer nicht mit – mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut Lesung des Predigttextes Lk 11,14–23

Liebe Gemeinde, die Tage werden kürzer, vor uns liegen nur noch zwei Sonntage bis zur Adventszeit: Volkstrauertag und Ewigkeitssonntag, dazwischen, fast schon vergessen, Buß- und Bettag. Die Predigttexte dieser Zeit im Kirchenjahr sind oft düster, dunkel, hart und der Predigtext von heute macht – besonders mit seinen letz149 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ten Sätzen – da keine Ausnahme: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, wer nicht sammelt, der zerstreut.“ Was sollen wir damit anfangen? Wie stellen wir uns zu diesem Satz? Angesichts dieses harten Schlusses ist es umso wichtiger, dass wir uns daran erinnern, wie der Text anfängt, nämlich mit einer ausgesprochen guten Nachricht: „Jesus trieb einen bösen Geist aus, der war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der Stumme.“ Jesus tritt hier ein einer problematischen Doppelrolle auf: als der Heilende, der Menschen von psychischem oder körperlichen Leiden befreit, und als der harte, unbarmherzige Jesus. Wie gehen wir damit um? Wie gehe ich selbst damit um? So, wie dieser Satz da steht, ist er wie eine Drohung: „Sei für mich, eindeutig, ohne Zweifel, sonst bist du gegen mich!“ Für mich ist sehr wichtig, wie ein Bibelwort wirkt: Wirkt es befreiend? Stärkend, tröstend? Oder macht es Angst? Bedrückt es Menschen? Der Schlusssatz des Predigttextes gehört eher zu der letzten Gruppe. Denn hier wird der Zweifelnde, der unsichere Mensch entwertet, wenn nicht gar bedroht. Aber wer von uns ist in Glaubensdingen immer sicher? Wer von uns hat noch nie gezweifelt? Oder war gar verzweifelt? Hat nicht Jesus am Kreuz nach den Überlieferungen der Evangelien gesagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wenn wir Jesus ernst nehmen wollen, dann müssen wir den leidenden Jesus am Kreuz in der Nacht der Gottverlassenheit mit hinzunehmen zu dem Jesus, der sagt: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.“ Und wenn wir das tun, so verliert der Satz seine unbarmherzige Härte, denn wenn Jesus selbst den tiefsten Zweifel kennt, warum sollte uns dann Unsicherheit und Zweifel verboten sein? Jetzt kann der Satz für mich einen positiven Sinn annehmen. Ich verstehe ihn jetzt als eine Mahnung Jesu zur Klarheit, nicht 150 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ihm gegenüber, sondern gegenüber mir selbst: Er fragt mich: „Wer bin ich für dich? Woran glaubst du? Was trägt dich? Was ist der Sinn deines Lebens?“ Nicht ein harter, urteilender, verurteilender Jesus fragt mich, sondern der Jesus, der mit der ihm in besonderer Weise gegebenen Gotteskraft Menschen heilte an Leib und Seele. Dieser Jesus ist es, der mich zur Klarheit gegenüber mir selbst bringen will. Also ist es für mich auch möglich zu antworten: „Ich weiß es nicht.“ Oder: „Heute weiß ich es nicht.“ Mir fällt ein Satz des Paulus ein: „Nicht, als ob ich es schon ergriffen hätte; ich jage ihm aber nach, auf dass ich es ergreife.“ Noch einmal: Worüber soll ich mir klar werden? Das lässt sich vor dem Hintergrund des Predigttextes beantworten. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich: Zu wem sagt das Jesus? Er sagt es zu den Leuten, die gerade noch Zeugen einer Heilung gewesen sind. Ein Stummer kann wieder sprechen. Die Zeugen sind aber weit davon entfernt, sich für den Betroffenen und jetzt Geheilten zu freuen, sondern sie werfen Jesus vor, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Wenn wir das mit den Geistern und dem Beelzebub einmal als ein antiquiertes Weltbild weglassen, was nicht mehr unseres im 21.  Jahrhundert ist, dann bedeutet das: Die Zeugen bezweifeln, dass hier etwas wirklich Gutes geschehen ist, sie beharren auf ihrer Sicht der Dinge, sie erkennen nicht an, dass in Jesus oder mit Jesus eine heilsame, heilende Macht am Werk ist. Sie sortieren Jesus in ihr Weltbild ein. Aber nicht nur das, es wird auch deutlich, dass sie eher mit der Kraft des Bösen, als mit der Kraft Gottes rechnen. Wir wissen nicht genau, was damals geschehen ist, das können wir auch nicht. Was aber wichtiger ist als die Frage, was damals geschehen ist, ist die Frage, was heute geschieht. Die Frage ist: 151 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Was denke ich, was glaube ich von Gottes Wirken heute? Welche Kräfte sehe ich in der Welt am Werk? Mit welchen Mächten rechne ich? Die Zeugen der Heilung sehen nicht, nehmen nicht wahr, dass mit Jesus das Reich Gottes gekommen oder angebrochen ist  – an anderen Stellen heißt es nahe herbei­gekommen  – und die Heilung des Stummen dafür ein Zeichen ist. Jesus hat einen stummen Menschen geheilt, einen Menschen, der nicht aus organischen, sondern aus seelischen Gründen stumm war, das konnte man damals voneinander unterscheiden, wenngleich man den Begriff einer psychischen Erkrankung nicht kannte und deshalb von Besessenheit durch einen Geist sprach. In meiner Arbeit als Krankenhausseelsorger begegne ich manchmal solchen verstummten Menschen. Ich kenne Menschen, die sind verstummt, weil sie in eine Depression hingekommen sind, alles Sprechen ist ihnen schwer, zu schwer, scheint sinnlos zu sein. Manche hat ihre Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen in diese Depression gestürzt, andere hatten erfahren, dass sie selbst sterben würden oder der Verlust ihrer Gesundheit dauerhaft sein würde. Eine solche Begegnung werde ich nie vergessen, obwohl sie schon viele Jahre zurückliegt. Eine Frau war an Krebs erkrankt, sie wusste um ihre Krankheit und wir hatten schon viel miteinander gesprochen. Eines Tages bekam sie Rückenschmerzen, wurde untersucht und es wurden bei ihr Metastasen in der Wirbelsäule festgestellt. Von da an lag sie nur noch im Bett, mit dem Gesicht zur Wand, und sprach nicht mehr, kein Wort, oder nur dann, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Dann ist sie gestorben. Das Wort, das sie wieder hätte sprechen lassen, haben wir nicht gefunden, so wie Jesus dieses Wort gefunden hat. Der berühmte Philosoph Immanuel Kant hat einmal gesagt, wenn sich Gott dafür entschieden hätte, sich ganz und gar in sei152 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ner Herrlichkeit zu offenbaren, so hätte dies die Versklavung der Menschen bedeutet. Denn die Menschen hätten dann keine Freiheit mehr gehabt, sich für oder gegen Gott zu entscheiden. Deshalb habe sich Gott für die Verborgenheit entschieden. Diese Verborgenheit ist selbst bei den Reaktionen auf Jesus hier in unserem Predigttext zu erleben: Es ist Jesus, in dem die Kraft Gottes in besonderer Weise am Werke und heilend in der Welt wirksam ist, und trotzdem beharren die Menschen darauf, er möge ihnen ein Zeichen zeigen. Sie sehen nicht, dass dieses Zeichen in der Heilung längst geschehen ist. Sie überlegen, ob es nicht gar der Beelzebul, der Dämonenfürst, gewesen sein könnte, der den geringeren Geist vertrieben habe. Das heißt: Selbst im Handeln Jesu bleibt Gott um der Freiheit der Menschen willen verborgen, er wird nur von wenigen erkannt. Umso mehr ist das heute der Fall. Gottes heilsames Wirken können wir auch heute noch wahrnehmen, aber immer in Spuren, die nicht für jeden offensichtlich sind. Die Klarheit, die Jesus will – die Klarheit uns selbst gegenüber – ist die Entscheidung dafür, in der Welt – und vielleicht sogar im eigenen Leben – solche Spuren des heilsamen Handelns Gottes zu sehen, auch wenn sie für die Augen anderer vielleicht zweideutig und verborgen sind. Dass es solche Spuren von Gottes heilsamem Handeln gibt, die von uns erfahren und gefunden werden können, daran glaube ich. Amen.

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Gedenkgottesdienste

Die beiden folgenden Predigten sind mit besonderen Anlässen verknüpft und unterscheiden sich so von den anderen Predigten dieses Buches. Sowohl das St. Marienkrankenhaus als auch die „Ambulante ökumenische Hospizhilfe Siegen e. V.“ laden einmal im Jahr Angehörige und Freunde zu einem solchen Gedenkgottesdienst ein. Dabei wird der Menschen gedacht, die im Marienkrankenhaus innerhalb des letzten Jahres verstorben sind, bzw. der Verstorbenen, die von der Hospizhilfe und vom Pflegedienst der Caritas zu Hause ambulant gepflegt und begleitet worden sind. An dem Gedenkgottesdienst des Marienkrankenhauses nehmen fast dreihundert Menschen teil, wir feiern ihn immer in der dem Krankenhaus benachbarten St. Michaelskirche. Der Gedenkgottesdienst der Hospizhilfe fand 2012 an einem gänzlich anderen Ort statt, nämlich unter freiem Himmel in der Wallfahrtsanlage der Eremitage in der Nähe von Siegen. In beiden Gottesdiensten werden die Namen der Verstor­ benen verlesen, soweit die Angehörigen dazu ihre Einwilligung gegeben haben. Für jeden Verstorbenen wird dazu eine Kerze angezündet.

GEDENKGOTTESDIENST Und der Tod wird nicht mehr sein Gnade und Friede sei mit euch, von dem der da ist, und der da war, und der da kommen wird, Amen. 155 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Lesung des Predigttextes Offb 21,4–5

Große, gewaltige Worte und Vorstellungen bekommen wir hier zu hören in diesem Ausschnitt aus der Johannesoffenbarung, und doch steht am Anfang eine kleine, anrührende, intime menschliche Geste: Gott, der die Tränen abwischt. Damit fängt alles an, und erst dann folgen die großen Verheißungen: Der Tod wird nicht mehr sein, Schmerz und Leid wird es nicht mehr ge­ ben … Was wäre das für eine Welt – wir würden sie nicht mehr wieder erkennen, diese neue Welt, deren Kommen hier in der Offenbarung des Johannes am Ende der Bibel versprochen wird. Zu sehr gehörten der Tod, das Leid, das Weinen, Klagen, ja das Schreien zu der Welt, in der wir leben. Ich frage mich: Wie mögen Sie  – liebe Trauernde, liebe Gedenkende  – diese Worte wohl hören? Was lösen sie bei Ihnen aus? Vielleicht denken Sie: Ist ja schön und gut, steht ja auch in der Bibel, aber was hilft mir das in meiner Trauer? Oder Sie denken: Ich glaube ja, dass das so ist, dass Gott auch meine Tränen abwischen wird  – aber gilt das nicht für irgendwann später, wenn auch ich nicht mehr sein werde? Und überhaupt: Was soll das heißen, dass Gott die Tränen abwischen wird? Wird hier vielleicht versucht, mir in meiner Trauer einen billigen Trost zu verkaufen in dem Sinne: „Glaube nur, dann ist es halb so schwer mit der Trauer! Nimm ’s nicht so schwer, es wird schon wieder!“ Ich jedenfalls bin nicht der Auffassung, dass hier in der Johannesoffenbarung ein billiger Trost angeboten wird, ich glaube vielmehr, dass sich etwas von dem Versprechen dieser Worte schon jetzt, schon in der Gegenwart erfüllen kann – und nicht erst dann, wenn wir selbst die Schwelle des Todes überschritten haben. 156 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Ich möchte versuchen zu erklären, warum ich dieser Auffassung bin. In der Begleitung und in Gesprächen mit trauernden Menschen habe ich erfahren, dass die Trauer kein Zustand ist, in dem trauernde Menschen ein für alle Mal bleiben, sondern ein Prozess, ein Geschehen in der Seele von Menschen. Deshalb möchte ich sie einem Weg vergleichen. Trauernde Menschen gehen diesen Weg sehr unterschiedlich und außerdem sieht dieser Weg für jeden anders aus. Für jeden führt er durch unterschiedliche Landschaften, ist unterschiedlich steil, unwegsam, schwer zu gehen. Manch einem kommt es so vor, als würde er gar nicht gehen, als würde sich nichts verändern an der inneren Erstarrung, am inneren Schmerz. Und manch einem kommt es so vor, als wäre der Verlust mit der Zeit immer schwerer zu ertragen anstatt leichter. Ich stelle mir vor: Würden Sie, liebe Trauernde, jetzt miteinander sprechen, dann würden Sie feststellen, dass es Ihnen in Ihrer Trauer zum Teil ähnlich, zum Teil aber auch sehr unterschiedlich geht. Es wird vielleicht unter Ihnen Frauen und Männer geben, die sogar sagen würden: „Mir geht es gut“, und es wird andere geben, die würden sagen: „Ich kann es kaum aushalten, ich weiß nicht, wie es mit mir weitergehen soll.“ Und diese Unterschiedlichkeit darf genauso sein, wie sie ist. Kann überhaupt ein Bibelvers eine Hilfe sein, diesen Weg der Trauer zu gehen? Etwas anderes als eine Hilfe beim Gehen  – oder vielleicht ein Ort, um einmal auszuruhen auf dem Weg – kann er jedenfalls nicht sein. Dietrich Bonhoeffer hat einmal geschrieben: „Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann, auch Gott kann diese Lücke nicht schließen.“ Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen – das kann also nicht heißen, dass Gott und der Glaube an ihn an die Stelle des Verstorbenen treten. Denn diese Stelle kann nie wieder aus157 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

gefüllt werden, weil jeder Mensch einzigartig ist und die Beziehung zu ihm einzigartig ist. Eine Witwe sagt mir: „Meine Kinder geben sich alle Mühe, aber man hat ja zu den Kindern eine andere Beziehung.“ Den Ehepartner können die Kinder nicht ersetzen und auch niemand sonst. Auch Gott nicht. Und weil das so ist, ist auch hier nicht ein billiger Trost gemeint: Glaube macht keineswegs die Trauer halb so schlimm. Was aber ist dann die Hilfe, die hier zu finden ist, was ist die Stärkung, die dieser Vers, diese Worte aus der Offenbarung des Johannes vielleicht be­ deuten können? Ich kehre noch einmal zurück zum Bild des Weges: Auf dem Trauerweg muss vieles ausgehalten werden, das wissen Sie viel besser als ich. Jeden Tag muss ausgehalten werden, dass der andere nicht mehr da ist: Der leere Platz am Tisch, der leere Sessel im Wohnzimmer, das leere Bett und so viel anderes mehr: Alles das muss ertragen werden. Eine Frau hat einmal gesagt: „Er war mein Anker“ – wie muss es sein, jetzt wie ein Schiff ohne Anker zu sein? Manchmal ist der Schmerz so stark, dass er kaum er­ tragen werden kann, manchmal fehlen auf dem Trauerweg Ziel und Sinn. Manche möchten überhaupt nicht mehr weitergehen. Eine Frau sagte mir: „Am liebsten möchte ich einschlafen und nie mehr aufwachen – dann wäre ich wieder bei ihm.“ Auf dem Wege stellen sich manchmal scheinbar unangemessene Gefühle ein, die aber dennoch da sind und da sein dürfen. So sprach eine Frau über ihre Wut auf die anderen, die noch ihren Partner haben: „Ich sehe überall nur noch Ehepaare“, sagte sie. „Das macht mich wütend!“ Manche haben das Glück, den Trauerweg mit anderen, der Familie oder mit Freunden gehen zu können – manche sind allein auf diesem Weg oder allein gelassen. Manchmal muss man sich gut gemeinte und doch zwecklose Ratschläge anhören: „Du 158 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

musst ihn endlich loslassen!“ oder: „Das Leben geht doch weiter!“ oder: „An deiner Stelle würde ich nicht so oft auf den Friedhof gehen.“ – „Wenn ich dir helfen kann, dann ruf doch an!“ Wie schön wäre es, wenn manchmal einer von sich aus anriefe! Tränen gehören zum Trauerweg als die, die man wirklich weint, oder als die, die man sich wünscht, weinen zu können, manchmal auch als die Tränen, die man nicht oder nicht mehr weinen will: „Was nützt das, wenn ich weine, das bringt sie auch nicht wieder.“ Nicht immer sind es die Tränen des Schmerzes, manchmal sind es auch Tränen der Hilflosigkeit oder solche, mit denen Versäumnisse beweint werden. Und Gott wird abwischen alle Tränen …  – für mich ist das ein sehr zärtlicher Satz: Der unendliche Gott, der alles erschaffen hat, Sonne, Mond, Sterne und dieses riesige Universum, dieser Gott wird hier zu einem liebevollen, zärtlichen Gegenüber, er nimmt beinah menschliche Gestalt an und fast meint man es sehen zu können, wie er liebevoll mit einem Tuch vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht eines Menschen fortwischt. Vielleicht haben Sie selbst so etwas schon getan, jemandem vorsichtig Tränen abgewischt, oder so etwas selbst an sich erlebt. Und Sie haben dabei gespürt, dass dieser zärtliche, fürsorgliche Liebesdienst etwas zeigen soll. Er soll zeigen: „Ich bin bei dir, du kannst und darfst deine Tränen weiter fließen lassen, ich gehe nicht fort, ich kann dir deinen Schmerz nicht nehmen, aber ich bin bei dir.“ Ich glaube daran, dass Gott in unserem Innersten auf ähnliche Weise fürsorglich, zärtlich liebevoll an uns handelt, an jedem von uns so, wie wir es brauchen. In der Offenbarung des Johannes kommen die gewaltigen Worte, die die neue kommende Welt beschreiben, eine Welt ohne den Tod, ohne den Schmerz, erst an zweiter Stelle. Zuerst kommt die Zärtlichkeit Gottes, seine Nähe. Und es ist diese Zärtlichkeit Gottes, dieses vorsichtige Abwischen der Tränen als Zeichen – 159 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

„Ich bin bei dir, ich halte mit dir aus, was jetzt aus­gehalten werden muss, auch wenn ich dir den anderen nicht wiederbringen kann“: Es ist diese Zärtlichkeit Gottes, die mich anrührt. Auf diese Zärtlichkeit Gottes hoffe ich und wünsche mir, dass Sie, liebe Trauernde, diese erfahren auf ihrem Trauerweg. Amen.

GEDENKGOTTESDIENST Sieh, in die Hände habe ich dich gezeichnet Lesung des Bibeltextes Jes 49,14–16

Liebe Gemeinde, so oder so ähnlich habe ich die folgende kleine Begebenheit im Krankenhaus oft erlebt: Ich bin in einem Stationszimmer, spreche mit einer Krankenschwester, das Telefon klingelt, meine Gesprächspartnerin nimmt ab, spricht kurz mit dem Anrufer, legt auf. Sie greift zum Kugelschreiber und schreibt sich einen Namen und eine Zahl in die Hand – „Damit ich das nicht vergesse“, sagt sie. Siehe in die Hände habe ich dich gezeichnet Vorgestern biege ich auf dem Weg ins Krankenhaus in die Friedrichstraße ein, eine junge Frau kommt mir entgegen – wohl weil es wieder wärmer geworden ist, trägt sie ein ärmelloses T-Shirt – und ich sehe: Ihr linker Oberarm zeigt ein kompliziertes blau-schwarzes Muster, das sie sich auf die Haut hat tätowieren lassen. Sie kennen das. Immer mehr Menschen lassen so etwas mit sich machen. Und wenn es nur ein Blumenmuster ist, mache ich mir nicht viele Gedanken darüber, aber oft sieht man auch anders: einen Totenkopf gar oder Knochenmuster. Und ich frage mich dann immer: Warum machen die Leute das? Was wollen sie damit von sich selbst zeigen? Früher gab es das auch, aber da trug ein Mann allenfalls den 160 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Namen der von ihm geliebten Frau auf dem Oberarm, da stand: Heike! Oder: Ute! Und darunter ein Herz, von einem Amorpfeil durchbohrt. Jemand, der das tat, wollte aller Welt zeigen: „Die ist es, die ich liebe, genau die! Alle sollen es wissen!“ – Siehe in die Hände habe ich dich gezeichnet …. Meine Hände – was tue ich nicht alles damit – was habe ich nicht schon alles damit getan in meinem Leben! Stimmt etwas mit ihnen nicht, habe ich mich etwa verletzt, mir beim Holzmachen wieder mal einen Splitter zugezogen, spüre ich das sofort. Wahrscheinlich sind die Hände der Teil  unseres Körpers, den wir am deutlichsten wahrnehmen. Unsere Hände haben ihre Geschichte  – sie haben Verletzungen, Narben, die geblieben sind, oft sieht man ihnen unser Alter an. Was wären wir ohne unsere Hände? In die Hände habe ich dich gezeichnet … – das ist ein anderer Blickwinkel. Meinen Oberarm sehe ich meist nur im Spiegel oder andere sehen ihn, aber wie oft sehe ich täglich meine Hände … Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen! Der Herr hat mei­ ner vergessen! – Das war damals vor über 2500 Jahren die Klage der Israeliten, nachdem die Babylonier Jerusalem erobert, den Tempel zerstört und den größten Teil der Bevölkerung ins Zweistromland, heute Iran und Irak genannt, verschleppt hatten. Unvorstellbar muss es damals für das Volk Israel gewesen sein, dass Gott so etwas zulässt! „Aber das ist doch lange her!“, könnten Sie jetzt sagen. „Was interessiert uns das!“ Aber leider sind die Zeiten von Krieg, Vertreibung und Gefangenschaft keineswegs vorbei. Immer wieder begegne ich im Krankenhaus Menschen, für die die schreck­lichen Dinge, die damals passiert sind, Teil  ihrer eigenen Biographie, Teil ihres Lebens geworden sind und sie noch heute belasten. 161 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Der Herr hat mich verlassen!  – Das ist keineswegs nur die Klage eines Volkes aus vergangener Zeit über seine Stadt und sein zerstörtes Heiligtum, das ist auch die Klage so mancher Menschen heute, denen nicht die Geschichte, sondern Krankheit und Tod ihr Leben wie zerstört haben. Vorgestern noch sprach ich mit der Mutter einer jungen Frau, die am Morgen im Marienkrankenhaus verstorben war  – und ich spürte am Telefon ihre große Fassungslosigkeit, die nicht in Worte zu fassen war. Das Leben geht weiter, aber wie? Wie soll der Lebensweg weiter fortgesetzt werden? Und vor allem: Warum? Für wen jetzt leben? Für was? Viele von Ihnen, die Sie heute Nachmittag hier sind, wissen, wie das ist. Sie kennen diesen Zustand, dieses seelische Niemandsland. Und vielleicht haben auch Sie gesagt, geseufzt, geklagt, vielleicht sogar innerlich geschrien: „Der Herr hat mich verlassen!“ Auch wenn Sie dafür wahrscheinlich andere Worte gefunden haben als Jesaja. Das Niemandsland der Trauer scheint auch ein Land ohne Gott zu sein, Gott scheint aus der Lebenslandschaft verschwunden, er hat sich davon gemacht … Im Krankenhaus erlebe ich immer öfter, dass Menschen nie eine Beziehung zu Gott hatten – weder in ihren guten noch in den weniger guten oder sogar schlechten Tagen, die jetzt für sie angebrochen sind. Sie können noch nicht einmal über das Verschwinden Gottes aus ihrem Leben klagen, sie haben ja für diese Klage keinen Adressaten, weil Gott noch nie eine Rolle für sie gespielt hat. Ihre Beziehung zu Gott ist nicht in die Krise geraten, kann sie auch gar nicht, weil es keine gab. Aber wie alle anderen kennen auch sie die Angst, kennen auch sie das Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere. Man kann nun darüber streiten, was schlimmer ist: Wenn die Vokabel „Gott“ ohne Bedeutung ist oder die Erfahrung der Got162 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

tesverlassenheit? Wenn es Gott aber gibt, kann es dann ein von Gott verlassenes Niemandsland geben? Jesaja führt hier keine theologische Diskussion. Er gibt Gott eine Stimme, er vermittelt uns, wonach sich im Grunde alle die sehnen, die innerlich „Warum“ schreien: Dass Gott antwortet. Jesaja gibt Gott eine Stimme, er lässt Gott selbst sprechen. Und so spricht Gott: „Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen?“ Gott redet durch den Mund des Propheten Jesaja: sehr menschlich, sehr nahe, sehr warm. Aber trotzdem auch sehr wirklichkeitsnah. Kann eine Mutter ihr Kind vergessen? Die Antwort muss heißen: Ja! Leider kommt das vor. Leider gibt es das. Deshalb heißt auch der nächste Satz: „Und ob sie seiner vergäße, will ich dich doch nicht vergessen.“ Die Worte Jesajas sind die Farben, mit denen er ein warmes Bild, ein menschliches Bild von Gott malt, nicht nur für die Israeliten damals, sondern auch für uns heute. Das Bild, das er mit seinen Worten vor die Augen unserer Seele malt, zeigt nicht Gott den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der irgendwo über den Sternen wohnt, sondern dieses Bild zeigt uns Gott als Mutter, die mütterliche Seite Gottes: So wie die Kinder die Frucht des Leibes der Mutter sind, so eng und so nah sind wir Gott gewesen, bevor wir zur Welt kamen. Jesaja sagt nicht: Gott hat uns geboren – aber dennoch ist klar, dass Gott für ihn der Ursprung von uns Menschen ist. Aber er will keine theologische, keine gelehrte Aussage über Gott machen, sondern von der Erfahrung der Nähe Gottes sprechen und diese Erfahrung weitergeben. Deshalb vergleicht er das Verhältnis von Gott und Mensch mit einer Mutter und ihrem Kind. Und kommt es kaum vor, dass eine Mutter ihr Kind vergisst, und sich nicht mehr um es kümmert, obwohl es doch vorher neun Monate in ihr war, so vergisst Gott keinen Menschen, niemals. Im Leben nicht, im Sterben nicht, und auch nicht im Tod. 163 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Siehe ich habe dich in meine Hände gezeichnet. Auf dem uns mit Worten vor die Augen unserer Seele gemalten Bild scheint uns Gott geradezu die Hände entgegenzustrecken und sie uns zu zeigen: „Siehe, schau her: Hier steht auch dein Name!“ Hier steht der Name der Lebenden, hier – in Gottes Händen – stehen auch die Namen unserer Verstorben, stehen die Namen unserer Liebsten. Gott hat sie nicht vergessen, nicht nur ihre Namen, sondern auch sie selbst, ihr Wesen, ihre Geschichte, alles von ihnen ist bei ihm bewahrt für immer. Daran dürfen wir glauben. Vielleicht kann dieser Gedanke Hoffnung geben im Niemandsland der Trauer, vielleicht kann er helfen, den eigenen Weg weiter fortzusetzen, obwohl es manchmal sinnlos scheint. Vielleicht kann er helfen, die Hoffnung daran zu bewahren, dass dieses Niemandsland einmal durchschritten sein wird und uns der Ruf des Lebens wieder erreicht. Unsere Namen stehen in Gottes Hände eingeschrieben, von ihm selbst  – wenn Gott ebenso oft, wie wir es tun, seine Hände ansieht, wie kann er uns dann vergessen? Amen.

164 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

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Trauerfeiern

Manchmal, wenn ich Menschen über längere Zeit begleitet habe, bitten mich die Angehörigen, sie auch zu beerdigen. Mir sind diese Beerdigungen immer sehr wichtig, weil sie das Letzte sind, was ich für den Menschen, mit dem ich manchmal ein langes Stück gegangen bin, tun kann. Und sie helfen auch mir, Abschied zu nehmen. Kurt und Anette waren keine 50 Jahre alt. Beide waren an Krebs erkrankt. Beide hatten sie Kinder. Ich habe diese beiden Ansprachen aus vielen ausgewählt, weil sie exemplarisch die beiden Themen, die beiden geistigen Nöte behandeln, in die viele Menschen im Fall von Leid, Trauer und Tod geraten. Bei Kurt ist diese Not in der Bitte des Vaterunsers ausgesprochen: Dein Wille geschehe. Bei Anette ist es die nach dem Warum: „Wer ist Gott, dass er so etwas zulässt?“

TRAUERFEIER FÜR KURT Dein Wille geschehe Liebe Familie, liebe Freunde von Kurt, liebe Trauergemeinde, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Ein schweres Wort, und vielleicht auch ein gutes Wort. Vielleicht. Aber erst einmal ein schweres Wort. Es ruft unseren Widerstand hervor, vielleicht sogar unseren Zorn: Gottes Wille? Ist es wirklich dein Wille, Gott, dass Kurt mit 46 Jahren sterben musste? Kann es sein Wille sein, dass nicht nur ihm dies geschehen ist, sondern 165 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

seiner Familie dieser Schmerz zugefügt wurde? Die Frage muss uns erlaubt sein, auch wenn Kurt vielleicht nicht so gefragt hat. Kurt, am 26. Juni., im Park des Marienkrankenhauses: „Man darf nicht immer auf die Erde schauen, sondern muss zum Himmel gucken.“ Am 20.  Oktober.: „Die Krankheit ist etwas zum Üben.“ Und am 29.  November: „Wenn ich den da oben nicht hätte.“ Und wenig später: „Zu akzeptieren ist das Schwerste.“ Von Gott sprach Kurt nicht, er sprach immer vom Chef. „Der Chef“ sagte er. Der Chef war für ihn einer, den man nicht immer verstehen kann, aber auch einer, der weiß, was er tut. Wenn Kurt „der Chef“ sagte, dann hörte sich das beinah liebevoll an und es war ein Wort für Gott, das Vertrauen ausdrückte, trotz des Ringens darum, dessen Willen zu akzeptieren. Einmal hat er aber auch gesagt: „Letztlich ist man allein.“ In dem Sinne allein, dass alle, auch wenn sie einen noch so lieben, nur ein Stück des Weges mitgehen können, in dem Sinne allein vielleicht auch, dass einem die innere Auseinandersetzung niemand abnehmen kann. Warum erzähle ich das? In einem Gedicht spricht Hilde Domin von dem „kostbarsten Unterricht an den Sterbebetten“: Jeder der geht, belehrt uns ein wenig über uns selber. Wir, deren Worte sich verfehlen, wir vergessen es. Und sie? Sie können die Lehre nicht wiederholen. Dein Tod oder meiner der nächste Unterricht. Kurt würde schlichter sagen: „Denkt mal über euch nach!“ Denn Kurt war sehr fürs „Schwarzbrot“; damit meinte er: echt zu sein, 166 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

über wirklich wichtige Dinge sprechen. Dieses Schwarzbrot fand er zum Beispiel in Gesprächen mit Angehörigen der Heils­armee. Dort hielt man sich, wie er sich ausdrückte, nicht mit Kleinigkeiten und Oberflächlichkeiten auf: „Die wollen zum Kern!“, sagte er. Zum Kern, das wollte auch er – wenn er wollte und mit wem er es wollte  – und er wollte es nicht mit allen und manchmal wollte er gar nicht und zog sich in sich selbst zurück. Jemand hat mal über ihn gesagt: „Wenn Introvertiertheit einen Namen hätte, hieße sie Kurt!“ Aber das – diese scheinbare Introvertiertheit – war nur eine Seite von ihm, die schweigsame, zurückgezogene Seite; da war er wie eine Schnecke, die nur dann aus ihrem Haus kommt, wenn es ihr passt und wenn die Umgebung hinreichend freundlich ist und auch Geduld mitbringt, sich auf ihn und seine Art einzulassen. Der andere Kurt, das war der, der viele Kontakte hatte und auch immer wieder neue knüpfte – wobei „viele“ vielleicht nicht richtig ist. Wahrscheinlich sollte ich besser von intensiven Kontakten sprechen, intensiven Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen, nicht immer nur in Deutschland, sondern auch in England und in den USA. Manchmal begannen diese Freundschaften mit E-Mails, bevor es dann zum persönlichen Treffen kam. Immer wieder knüpfte er Kontakte mit Menschen, die wie er „zum Kern“ und „Schwarzbrot“ statt Oberflächlichkeit wollten. Durch die Musik, durch den MZ-Club, wenn er auf Montage war und wer weiß wo und wodurch sonst noch. Musik: Wir alle drücken uns durch Sprache aus, mittels der Sprache öffnen und verbergen wir uns, so wie es uns entspricht. Kurt sprach nicht nur Deutsch und fließend Englisch, sondern er „sprach auch Musik“. Musik war seine Leidenschaft. In der Musik, die er spielte, war er präsent, sie war sein unüberhörbarer Ausdruck. In ihr wollte er voranschreiten, weiterkommen, sich vervollkommnen. Sein Freund Marty schreibt im Internet: 167 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

„Kurt saugte alle Ratschläge über das Tuba-Blasen auf wie ein Schwamm“ Vor allem aber war Musik für ihn etwas, das man mit anderen gemeinsam tut, ihm kam es auf die Gemeinschaft dabei an und die beiden Bläsergruppen, die heute hier sind und die sich zusammengetan haben, um hier ihm zu Ehren zu spielen, legen dafür Zeugnis ab. Im Internet schreibt Marty: „Kurt hat es geschafft, ein Ziel in seinem Leben zu verwirklichen, nämlich in Torbay in England bei dem großen Musik-Wettbewerb dabei zu sein.“ Musik war seine Leidenschaft, habe ich gesagt, aber im Grunde weiß nur ein Musiker, was das bedeutet. Andererseits spielen wir ja alle ein Lied, unser Lebenslied. Und mit den Leidenschaften, die wir von uns selbst kennen, können wir ihn ein Stück verstehen. Als ich diese Ansprache schrieb, merkte ich, wie wenig ich eigentlich von ihm weiß. Und wie viel es eigentlich noch zu sagen gibt. So müsste ich auch über den Kurt sprechen, der Motorräder liebte. Und er liebte hier wohl nicht nur die technische Seite, obwohl das sicher eine große Rolle spielte. Auch hier war ihm das „Schwarzbrot“ wichtig, die echte Begegnung mit anderen Bikern und Bastlern, das authentische Sprechen miteinander über Freud und Leid des wirklichen Lebens, zu dem das Reden über das Motorrad oft die Brücke war. Aber auch darüber, wie dieser wichtige Teil seines Lebens aussah, weiß so mancher hier besser Bescheid als ich. Eigentlich müsste ich auch noch mehr über seine Fähigkeit sagen, komplexe und tiefgehende Dinge einfach in einem Satz auszudrücken, manchmal für den Gesprächspartner plötzlich und unvermittelt  – wie eine Sternschnuppe am Himmel, die kurz, aber intensiv aufleuchtet – und wenn man genug Geduld hatte, dann kamen noch mehr dieser wunderbaren Lichterscheinungen, in denen etwas von seiner Klugheit aufleuchtete, die den Dingen stets auf den Grund ging. 168 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

So viel gäbe es noch zu sagen, das aber hier ungesagt bleibt: Über Kurt, den Vater seiner Söhne, über Kurt, den Bruder seiner Schwester, über Kurt, den Lebensgefährten, und vieles mehr. Je länger ich als Pfarrer und Seelsorger arbeite, desto mehr wird mir klar, dass jeder Mensch in sich selbst ein Geheimnis ist und dass dieses Geheimnis respektiert werden muss. Ihr, die Familie, und die Freunde von Kurt, ihr werdet an dem Bild, das ich von ihm mit Worten zu zeichnen versucht habe, ergänzen müssen, was euch daran fehlt. Ich bin ihm im Krankenhaus Ende Juni zum ersten Mal be­ gegnet. Da war schon klar, dass er Metastasen hatte. Er fragte sich, wie es zu dieser Krankheit gekommen war und warum er nicht schon eher etwas davon gemerkt hat: „Der“ – also der Krebs – „ist ja nicht erst seit drei Wochen da“, sagte er. Trotz Behandlung und Krankenhaus hat er in den nächsten Monaten noch einiges tun können, was er sich vorgenommen und was er sich gewünscht hat. Zu einem Treffen in England konnte er nicht mehr fahren, aber er war noch mit seiner Lebensgefährtin auf einer Freizeit in Plön, die ihm viel bedeutet hat. Hier verband sich das gemeinsame Musizieren mit der Auseinandersetzung mit biblischen Texten und mit echten Begegnungen. Sehr schwer war ihm, dass im November sein englischer Freund Mark verstorben war. Es kann sein, dass ihn das auch deshalb so traf, weil er dadurch mit dem möglichen eigenen Sterben konfrontiert wurde. In seiner Krankheit ist ihm seine Lebensgefährtin ein großer Halt gewesen, das hat er mir einmal gesagt, und ich denke, es ist wichtig, das hier zu sagen. Aber wie groß der Halt ist, den ein Mensch, der einen liebt, in einer solchen absoluten Lebenskrise sein kann, das kann man nur von innen erleben und äußerlich kaum beschreiben. 169 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

„Die Krankheit ist etwas zum Üben“, hat Kurt gesagt. Als Musiker war ihm das Üben bestens vertraut, er wusste aus eigener Erfahrung um die Notwendigkeit des Übens. Was war es, das er nun üben musste? Was war das für ein Musikstück, das es hier zu erlernen gab? Hieß dieses Stück „Dein Wille geschehe?“ Wurde gar das harte Wort für ihn zum guten Wort? Letztlich wird das ein Geheimnis zwischen Kurt und „dem Chef“ bleiben. So wie die Musik, die er jetzt wohl hört. Dein Wille geschehe – ich kann diesen Satz so nicht ohne Weiteres sagen, denn ich selbst glaube nicht, dass Gott den Tod eines Menschen will. Aber: Für mich drückt dieser Satz aus, dass nicht die Krebszellen, die Metastasen und die Moleküle das letzte Wort über den Menschen sprechen, ich glaube, dass nicht die Erde das letzte Wort hat, sondern der Himmel. Dass Gott das letzte Wort über den Menschen spricht. Ich glaube, dass Menschen trotz Krankheit und Sterben in Gottes Hand sind und dass etwas davon als Gewissheit einer letzten Geborgenheit erfahren werden kann. Kurt hat das so ausgedrückt: „Wenn ich den da oben nicht hätte …“ Was wäre dann? Dann bliebe nur noch Verzweiflung, oder Angst. Dein Wille geschehe auf der Erde wie im Himmel. Das, was auf der Erde geschieht, kennen wir nur zu gut. Das, was im Himmel geschieht, ist das Geheimnis. „Man darf nicht immer auf die Erde schauen, sondern muss zum Himmel gucken.“ Vielleicht können wir diesen Satz von Kurt mitnehmen auf die Wege, die wir weiter gehen müssen. Und dann und wann zum Himmel sehen. Vielleicht hilft uns das. Amen.

170 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

TRAUERFEIER FÜR ANETTE Die Liebe höret niemals auf Lesung des Predigttextes 1 Kor13,1.2.8.13

Liebe Familie, liebe Freunde, liebe Trauergemeinde, es ist schon für mich so unfassbar, dass sie nicht mehr da ist und dass nichts von ihrem Körper geblieben ist, als das, was jetzt hier vor uns steht  – wie wird das dann erst für Sie sein, liebe Familie, liebe Freunde? Aber es geht ja nicht anders, wir müssen heute gemeinsam diesen letzten Schritt gehen und auch das wenige, was von ihr noch haben, loslassen. Was uns bleibt, sind die Erinnerungen an den Menschen, an diese einzigartige Frau, Mutter, Freundin, Nachbarin und so vieles mehr. Und es ist noch etwas anderes, was bleibt: die Liebe und ihre Spuren, so wie es auch in ihrer Todesanzeige heißt: „Das einzige Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.“ Wie diese Spuren ihrer Liebe aussehen, die sie hinterlassen hat, dass wird am besten ihre Familie wissen, ihr Mann, ihre Kinder, aber auch ihre Freunde werden das wissen. Und auch in den Freunden werden diese Spuren ihrer Liebe bleiben und im Herzen und Leben vieler anderer. Seit über zwanzig Jahren arbeite ich als Krankenhausseel­ sorger und ich habe viele Sterbende begleitet, aber unter diesen Vielen gibt es einige Menschen, Frauen und Männer, die ich nie vergessen werde, und dazu gehören auch Anette und die Ge­ spräche mit ihr und ihrem Mann, zu Hause, und dann später im Marienkrankenhaus. Mich hat gleich in unserem ersten Gespräch der Mut beeindruckt, mit der sich diese Frau und ihr Mann ihrem Schicksal gestellt haben, und die Entschlossenheit, dieses Schicksal gemein171 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

sam zu tragen und in irgendeiner Weise auszuhalten. Der Mut, alles zu ertragen, was damit verbunden ist. Und was das alles ist, dass kann nur jemand wissen, der das selbst so oder so ähnlich erlebt hat. Wir anderen können nur erahnen, was es heißt jeden Tag aufs Neue damit leben zu müssen, dass die Krankheit voranschreitet, jeden Tag aufs Neue mit dem Wissen zu leben, dass die eigene Lebenszeit sehr begrenzt sein wird. Wie erträgt man das? Wie hält man das aus, ohne zu verzweifeln? Wahrscheinlich nur gemeinsam … Beide haben diese Zeit gemeinsam ausgehalten, und sich dabei gegenseitig geholfen nach Kräften, so wie sie schon damals bei dem Tod ihres Sohnes die Trauer und den Schmerz gemeinsam ertragen haben. Es geschieht nicht oft, dass ich mit Menschen schon Monate vorher darüber spreche, dass sie sterben werden, dass ich miterlebe, wie Menschen mit offenen Augen ihrem Tod Schritt für Schritt entgegen gehen, so wie sie es getan hat – wie es ihre ganze Familie getan hat, tun musste. Dabei hat sie trotz allem Realitätsbewusstsein die Hoffnung nie aufgegeben. Weiß ich den Weg auch nicht – das hatte für sie zwei Seiten: natürlich die eine Seite der Ungewissheit, aber auch die andere Seite, dass sie immer damit gerechnet hat, dass ihr Weg doch noch mal eine Kurve nehmen würde und sie doch noch mehr Zeit haben würde. Im Krankenhaus Ende Mai ist ihr klar geworden, dass der Fortschritt ihrer Krankheit sich beschleunigt hatte – das war schwer für sie zu akzeptieren – aber sie spürte es, wie sich ihr Zustand weiter verschlechterte. Und dennoch war da immer wieder die Hoffnung: „Wenn ich erst wieder etwas laufen kann“, sagte sie. Darunter hat sie sehr gelitten: Wie ihr die Krankheit nach und nach immer engere Grenzen zog, ihr, die sie so sehr daran gewöhnt war, aktiv zu sein, in Haus und Garten, für die Fami172 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

lie, mit den Freunden. Sie hat ihre Aufgabe, als Hausfrau für die Familie da zu sein, geliebt: Das, was für andere eine große Einschränkung bedeutet hätte: auf Beruf oder Arbeit zu verzichten, war für sie ihre Erfüllung. So hat sie auch, nachdem sie erkrankt war, immer noch weiter das gemacht, was ihr irgend möglich war, hat sich noch kurz, bevor sie ins Krankenhaus kam, an den Herd gestellt und Reibekuchen gebacken. Sie ist immer an die Grenzen gegangen, die ihr ihre Krankheit gezogen hat, hat sie überschritten oder doch versucht, sie zu verschieben. Diese Grenzen haben sie manchmal zornig gemacht, sie hat sich innerlich dagegen aufgelehnt, und doch dann wieder versucht zu akzeptieren, was sie nicht ändern konnte. Im Krankenhaus haben wir einmal über das Thema „Ge­ rechtigkeit“ gesprochen bzw. darüber, dass sie ihr Schicksal als so ungerecht empfunden hat, angesichts dessen, was sie und ihr Mann an Schicksalsschlägen schon alles erlebt hatten. Warum lässt Gott das zu – darüber haben wir schon in unserem ersten Gespräch geredet. Und es kann sein, dass auch heute hier auf dem Friedhof in manchem dieser innere Schrei „Warum?“ ist: Anklage, Zorn. Schmerz. Ich glaube nicht, dass Gott es zugelassen hat, dass Anette an Krebs erkrankt und daran gestorben ist mit 47 Jahren, Mutter zweier noch nicht erwachsener Kinder. Ich glaube nicht, dass Gott das zugelassen hat. Gott ist nicht so, dass er das Glück der einen und das Unglück der anderen zulässt, aus welchen Gründen auch immer. Gott hat es weder gewollt noch zugelassen. Sonst wäre er – paradox gesprochen – unmenschlich, so wie wir Menschen nicht selten unmenschlich sind. Auf den Schrei nach dem Warum kann nur mit leiser Stimme geantwortet werden. Gott ist nicht so, nicht grausam, nicht willkürlich, nicht gleichgültig. Manchmal können wir nur wissen, wie Gott nicht ist  – und dann vielleicht versuchen zu glauben, 173 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

was wir eben im Psalm gehört haben: Von allen Seiten umgibst du mich… im Leben und auch im Tod. „Sie ist nicht belohnt worden!“, hat einer ihrer Freunde gesagt, „für ihren Mut, für ihre Tapferkeit, ihren Willen, trotzdem dem Leben noch etwas abzugewinnen, trotz fortschreitender Krankheit.“ „Ich bin eine Kämpferin, ich gebe nicht auf“, hat sie in einem unserer Gespräche gesagt, und: „Der soll mich so schnell nicht kriegen!“  – Der, das war der Tod, gegen den sie sich gewehrt hat, für den sie aber auch Vorsorge getroffen hat. Sie hätte alles getan, um noch ein Jahr, einige Monate oder doch wenigstens noch ein paar Wochen länger zu leben. Besonders wichtig war ihr, an K.s Konfirmation teilnehmen zu können, dafür hat sie alle ihre Kräfte noch einmal zusammen genommen. Und sie hat sich so gefreut, dass es geklappt hat. Natürlich hat sie auch darüber nachgedacht, wie sie sterben würde, aber ihre größte Sorge galt ihrer Familie, ihrem Mann und ihren Kindern. Was würde aus ihnen werden? Wie würde ihre Lebensgeschichte weitergehen? Nur jemand, der so etwas erlebt hat, kann das von innen fühlen, aber diejenigen, die es von innen gefühlt und erlebt haben, sind ja nicht mehr unter uns. Sie hat sehr gelitten unter der eigenen Hilflosigkeit, weil sie doch sonst immer ihrer Familie geholfen hat und das jetzt nicht mehr konnte, sondern im Gegenteil auf die Hilfe der anderen an­ gewiesen war. An dieser Stelle ist es mir wichtig, noch einmal etwas über ihre Familie zu sagen, über ihren Mann, der sie immer wieder versucht hat aufzubauen, wenn die dunklen Stunden kamen, die wir anderen vielleicht nicht so sehr mitbekommen haben, über ihre Kinder, die in den vergangenen Monaten der Mutter und dem Vater mit Umsicht vieles abgenommen und eine helfende und unterstützende Rolle eingenommen haben, wie man sie ja Kindern in diesem Alter auf keinen Fall zumuten möchte. Und 174 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

ich möchte wenigstens einen Satz über die treuen Freunde der Familie sagen, deren Anteilnahme, Hilfe, Zuwendung, liebevolle Art, Tränen, Treue bis zuletzt und vieles mehr – mich als Außenstehenden sehr angerührt haben. Was die Freunde für sie und für ihre Familie getan haben, das habe ich so selten erlebt. In einer solchen Krisensituation zeigt sich oft der Wesenskern von Menschen, des Sterbenden, aber auch der anderen. Nicht selten zerbrechen Beziehungen in einer solchen Krise, aber manchmal – so wie hier – zeigt sich in der letzten Krise des Lebens die Tiefe der Beziehungen in einer Familie und zu den Freunden. Es zeigt sich also etwas, das unendlich kostbar ist. Dieses Kostbare war schon lange da, aber wird jetzt noch einmal offenbar: Die innere Stärke eines Menschen und die Liebe, die in den Be­ ziehungen ist, in denen dieser Mensch lebt, die Liebe, die sie selbst gegeben hat, die Liebe, die sie empfangen hat. Die Liebe höret niemals auf … Was hat sie getröstet in den letzten Wochen? Sie hat sich daran festgehalten, dass sie ihren Sohn M., der damals mit fünf Mo­ naten verstorben war, und ihren ebenfalls schon verstorbenen Vater wiedersehen würde. Sie war sich sicher, dass sie „drüben“ erwartet werde. Das helfe ihr, sagte sie mir Ende Mai  – „Aber auch nicht immer“, fügte sie hinzu. Alles, was ich über sie sage, bleibt doch immer nur ein unvollkommenes Bild, so vieles wäre noch über sie zu sagen und zu nennen: Ihre Liebe zur Natur, und zu den Blumen und anderen Pflanzen, die sie zu wunderbaren Gestecken anordnete, ihre Liebe zu den kleinen Dingen und die Fähigkeit, sich über sie zu freuen, und überhaupt ihre offene, sympathischen, liebevolle Art, die viele Menschen berührt hat. Wenn ich an sie denke, dann fällt mir als erstes ihr Lächeln ein, sie hatte eine ganz bestimmte Art zu lächeln. An dieses Lächeln habe ich gedacht als ich sie zum letzten Mal sah, vergangenen Mittwoch im Hospiz… 175 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441

Es gibt ein Gedicht von Hilde Domin, dass Sie vielleicht kennen. Es heißt „Kostbarster Unterricht“: Jeder der geht“, schreibt sie, „erteilt uns einen kostbaren Unterricht – er kann ihn nur einmal erteilen – dann nicht mehr“ – und wir haben die Aufgabe zu verstehen und in unser Leben zu übersetzen, bis wir selbst daran sind, diesen Unterricht zu erteilen. Was ist der kostbare Unterricht, den Anette erteilt hat? Sich durch Krankheit und Sterben die Menschenwürde nicht nehmen zu lassen, die Augen vor dem Tod nicht zu verschließen, sich auf ihn vorzubereiten, soweit das überhaupt geht, und dennoch die Hoffnung nicht aufzugeben, für dieses und für das nächste Leben. Und auf diesem letzten Abschnitt des Lebens hier in der Liebe nicht nachzulassen, sondern den anderen so viel Liebe zu geben, wie irgend möglich ist. „Die Liebe höret niemals auf.“ Amen.

176 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525630440 — ISBN E-Book: 9783647630441