Sehen - Macht - Wissen: ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung [1. Aufl.] 9783839414675

Kein Bild kommt aus dem Nichts oder bildet einfach ab - jedes Bild beruht immer schon auf Vor-Bildern. Als Teil kulturel

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German Pages 216 Year 2014

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Sehen - Macht - Wissen: ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung [1. Aufl.]
 9783839414675

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina
Savoir. Revoir. Déjà vu. Kommentar zu Nicholas Mirzoeff
Das ethische Regime der Bilder oder: Wie leben Bilder? Kommentar zu Nicholas Mirzoeff
Im Auge des Piloten. Ordnungen des Territorialen in der Aeropittura des Futurismus
Re-rezipierte Erinnerung an den Nationalsozialismus in Comicsequenzen von Art Spiegelman und Volker Reiche
Das Nachleben der Schulfotos
… und Schulfotografien heute? Kommentar zu Marianne Hirsch und Leo Spitzer
Gasping at violence: der Klang des Subjektiven/der Atem des Körpers in Berninis Daphne und Apollon
Zwischen Einfühlung und Analyse. Zur Tradierung von Affektgestaltung und einigen Motiven in der aktuellen Warburg-Rezeption
From here I saw what happened … Fotografische Evidenz, Rahmen-Spiele und Ent/Fixierungen bei Carrie Mae Weems
Repräsentationskritik als ein Zeigen auf das Zeigende. Beobachtungen zur Darstellung von Kunstvermittlung
XXY oder: Die Kunst, Theorien zu durchque(e)ren
Autor_innen

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Angelika Bartl, Josch Hoenes, Patricia Mühr, Kea Wienand (Hg.) Sehen – Macht – Wissen

Studien | zur | visuellen | Kultur Herausgegeben von Sigrid Schade und Silke Wenk | Band 18

Angelika Bartl, Josch Hoenes, Patricia Mühr, Kea Wienand (Hg.)

Sehen – Macht – Wissen ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung

Die Herausgabe des Buches erfolgte mit freundlicher Unterstützung von

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Umschlagabbildung: Matthias Krispin, [email protected] Lektorat: Ulrike Schuff Satz: Matthias Krispin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1467-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung 11 Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina NICHOLAS MIRZOEFF 29 Savoir. Revoir. Déjà vu Kommentar zu Nicholas Mirzoeff LINDA HENTSCHEL 45 Das ethische Regime der Bilder oder: Wie leben Bilder? Kommentar zu Nicholas Mirzoeff SABINE HARK 53 Im Auge des Piloten. Ordnungen des Territorialen in der Aeropittura des Futurismus IRENE NIERHAUS 59 Re-rezipierte Erinnerung an den Nationalsozialismus in Comicsequenzen von Art Spiegelman und Volker Reiche KATHRIN HOFFMANN-CURTIUS 75 Das Nachleben der Schulfotos MARIANNE HIRSCH UND LEO SPITZER 99

… und Schulfotografien heute? Kommentar zu Marianne Hirsch und Leo Spitzer NICOLE MEHRING 117 Gasping at violence: der Klang des Subjektiven/ der Atem des Körpers in Berninis Daphne und Apollon GRISELDA POLLOCK 125 Zwischen Einfühlung und Analyse. Zur Tradierung von Affektgestaltung und einigen Motiven in der aktuellen Warburg-Rezeption SIGRID SCHADE 143 From here I saw what happened … Fotografische Evidenz, Rahmen-Spiele und Ent/Fixierungen bei Carrie Mae Weems KERSTIN BRANDES 157 Repräsentationskritik als ein Zeigen auf das Zeigende Beobachtungen zur Darstellung von Kunstvermittlung STEPHAN FÜRSTENBERG UND JENNIFER JOHN 175 XXY oder: Die Kunst, Theorien zu durchque(e)ren BARBARA PAUL 187 Autor_innen 205

Danke! Der vorliegende Band ist aus dem Symposium ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung hervorgegangen, das wir (Angelika Bartl, Kerstin Brandes, Josch Hoenes, Patricia Mühr und Kea Wienand) am 10. Januar 2009 anlässlich des Geburtstages unserer Professorin und Doktormutter Silke Wenk organisiert haben. Konzipiert war das Symposium als Geschenk an Silke Wenk, aber auch als Geschenk an uns selbst sowie an alle eingeladenen Freund_innen, Kolleg_innen, Bekannte, (ehemalige) Studierende und all jene, die an einem Austausch über visuelle Kultur, Geschlechterstudien, postkoloniale und queere Kritik interessiert sind. Die Idee für eine solche Veranstaltung entstand aus unserem Wissen um Silke Wenks Lust an kontroversen Diskussionen und unserem Wunsch, ihre wissenschaftlichen Leistungen und ihr Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs anzuerkennen und zu feiern. Wir wollten dafür eine Form finden, die sich von traditionellen Riten akademischer Ehrungen und den dabei üblichen Lobreden unterscheidet. Um Themen und Fragen, zu denen Silke Wenk arbeitet, weiter zu diskutieren und mit anderen Forschungen zu verknüpfen, haben wir drei Hauptvortragende zu verschiedenen Themen eingeladen, deren Vorträge von langjährigen Freundinnen und Kolleginnen Silke Wenks kommentiert wurden. Auf der Bühne hinter den Redner_innen wurde der Salon des Élèves als eine Installation präsentiert, in der Nachwuchswissenschaftler_innen ihre Forschungsarbeiten vorstellten. Die spannenden Debatten, Überlegungen und neu gezogenen Verbindungen, die sich auf dem Symposium ergaben, haben uns motiviert einen Band zu publizieren, in dem diese fortgeführt und aufgeschrieben sind. Insofern ist unser Buch keine Festschrift, die eine Wissenschaftlerin einfach nur zustimmend würdigt, sondern eine Publikation, die ihre Forschung anerkennt, indem sie diese zum Anlass nimmt, weitere Analysen zu erstellen und Diskussionen fortzusetzen.

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Sehen – Macht – Wissen Sowohl das Symposium als auch der vorliegende Sammelband wären ohne die Hilfe einer ganzen Reihe von Personen nicht möglich gewesen. Ganz besonders danken wir unseren Kommiliton_innen, die Teile der Veranstaltung mitorganisiert und uns tatkräftig unterstützt haben: Wir danken Verena Rodatus für die Organisation des Salon des Élèves sowie Sophie Eliot und Stephan Fürstenberg für die Organisation und Mitgestaltung des Buffets und des abendlichen Festes – jenen Teil der Veranstaltung, der vielleicht am wichtigsten war. Großer Dank gilt Matthias Krispin, der uns durch die Gestaltung des Plakats für das Symposium und des Buchcovers einen großartigen Anlass für Diskussionen bereitet hat. Wir möchten uns an dieser Stelle auch vielmals bei unserer Lektorin Ulrike Schuff bedanken, ohne die die Endphase der Publikation nicht zu denken gewesen wäre, bei Marco Atlas für seine Übersetzungstätigkeit und Christine Jüchter vom transcript Verlag für die professionelle und entgegenkommende Betreuung des Bandes. Sehr herzlich danken wir schließlich all jenen, die uns ideell und finanziell unterstützt und zur Seite gestanden haben – auch, um im System der Akademia unser Vorhaben durchzusetzen und durchzuhalten.

Wir danken ganz herzlich Karl Ackermann, Marco Atlas, Silke Bangert, Christa Bargmann-Müller, Leonie Baumann, Irene Below, Ulrike Bergermann, Katja von der Bey, Jan Blum, Christina von Braun, Sabine Broeck, Eske Brören, Brigitte Bruns, Anja Cherdron-Modig, Maike Christadler, Thomas Doeren, Dorothea Dornhof, Sabine Doering, Edith-Ruß-Haus für Medienkunst, Sophie Eliot, Karen Ellwanger, Fachbereich 9 der Universität Bremen, Fakultät III Sprach- und Kulturwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Annegret Friedrich, Caroline Fröhlich, Stephan Fürstenberg, Jutta Göner, Christiane Großmann, Kirstin Grulke, Laura Haendel, Daniela HammerTugendhat, Sabine Hark, Birte Heidkamp, Kathrin Heinz, Traute Helmers, Heike Hemmersbach, Linda Hentschel, Gerd Hentschel, Renate Herter, Sabine Himmelsbach, Katharina Hoffmann, Kathrin Hoffmann-Curtius, Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen, Institut für Musik der Universität Oldenburg, Institute for Art Education – Departement Kulturanalysen und Vermittlung der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Institute for Cultural Studies in the Arts – Departement Kulturanalyse und Vermittlung der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Jutta Jacob, Astrid Janssen, Katja

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Danke! Jedermann, Elke Jentschek, Karin Jerzembeck-Steinberger, Ninja Kaupa, Christiane Keim, Tanja Kinzel, Matthias Krispin, Karolin Künkler, Barbara Lange, Dawn M. Leach, Claudia Lehmann, Birte Lipinski, Sabine Lohwasser, Renate Lorenz, Nanna Lüth, Stefanie Mallon, Tanja Maier, Nicole Mehring, Herbert Mertens, Karin Mettjes, Christoph Micklisch, Carmen Mörsch, Noah Munier, Judith Nánási, Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V., Irene Nierhaus, Helene von Oldenburg, Maraike Osterkamp, Ilona Pache, Barbara Paul, Lydia Potts, Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Sylvia Pritsch, Pauline Raczkowski, Franziska Rauh, Claudia Reiche, Verena Rodatus, Christian Rollwage, Claudia Rosam, Magdalena Ross, Isi Samthandschuh, Sigrid Schade, Rainer Schmidt, Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Seminar für Materielle Kultur der Universität Oldenburg, Seminar für Kunst, Kunstgeschichte und Kunstpädagogik der Universität Oldenburg, Barbro Schönberger, Barbara Schrödl, Eva Schulte, Thomas Seeger, J. Seipel, Heinrich Böll Stiftung, Andrea Sick, Judith Siegmund, Katharina Sykora, Jens Thiele, Georg Christoph Tholen, Ellen Thormann, Lüder Tietz, Ismet Tolan, Corinna Tomberger, Natascha Tomchuk, Wiebke Trunk, Moritz Uibel, Universitätsgesellschaft Oldenburg, Melanie Unseld, Verein zur Förderung der Kommunikation unter Frauen, Monika Viezens, Sabine Wallach, Roswitha Werner-Mann, Eske Wollrad, Peter Vollhardt, Zentrum für Frauen und Geschlechterstudien (ZFG) der Universität Oldenburg sowie den vielen anderen, deren Hilfen und Unterstützungen anonym geblieben sind, oder die versehentlich nicht erwähnt wurden, weil unser Gedächtnis vor Abgabe des Bandes schon zu überlastet gewesen ist.

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Einleitung Sehen – Macht – Wissen R E S A VOIR – B ILDER IM S PANNUNGSFELD VON K ULTUR, P OLITIK UND E RINNERUNG

Auf dem Cover des vorliegenden Bandes ist ein schwarzer, innen runder Rahmen zu sehen, der verschiedene horizontale Farbflächen einfasst: eine bräunlich grüne im unteren Teil des Bildes und eine hellere graublaue im oberen Teil, die durch einen dunkleren Streifen in der Mitte voneinander getrennt sind. Relativ rasch lassen sich die unscharfen Bildelemente als Visualisierung eines Blicks durch ein Fernrohr auf eine Seelandschaft identifizieren. Es können vage die Umrisse von Gräsern oder Büschen entdeckt werden und im oberen Teil ein lang gestreckter Schatten, der ein Schiff erahnen lässt. Der Blick durch ein Fernrohr ermöglicht ein weit entferntes Objekt nah zu sehen. Dem Wunsch oder dem Begehren, etwas weit Entferntes sehen zu wollen (fern-sehen zu wollen), wird hier jedoch nur bedingt entsprochen: Die Flächen bleiben unscharf, die Landschaft ist mehr eine Assoziation. Diese Unschärfe konnotiert etwas Geheimnisvolles, aber auch Idyllisches, fast schon Romantisches. Die Lust am Schauen wird gereizt, der Blick herausgefordert. Vielleicht sucht er sehnsüchtig den Horizont ab, will sich in die Landschaft versenken, ein bisschen dort – in der nahen Ferne – verweilen. Sucht er nach Kontemplation oder wird er in das Bild hinein gezogen? Doch gerade wenn der Blick sich abgelegt hat, erinnert der sichtbare Rahmen wieder daran, dass hier nur ein Ausschnitt zu sehen ist, ein Blick, der durch das in seiner Materialität sichtbare technische Hilfsmittel überhaupt erst möglich geworden ist. So wird das neugierige Schauen auf die Fotografie von der erwarteten Durch-Sicht (wie durch ein Fernrohr, eine Kamera…) zu einer Drauf-Sicht. Die farbfeldartige Anordnung des Zu-Sehen-Gegebenen erscheint zunächst als Landschaft, wird in einer Gegenbewegung jedoch zur

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Sehen – Macht – Wissen Wahrnehmung des Bildes als einer zweidimensional flächigen Struktur. Das Versprechen von Evidenz und Sichtbarkeit, das fotografischen Darstellungen zu eigen ist, aber auch der Akt des Blickens, seine Implikationen und Parameter lassen sich anhand des Covers zur Disposition stellen: Ersichtlich wird, dass der Blick – ein Blick – niemals natürlich, sondern durch historisch kontingente Technologien des Sehens strukturiert ist, die bestimmen, was auf welche Weise gesehen und auch gedacht werden kann. So wird ausgerechnet an einer Landschaftsdarstellung, die im alltäglichen Verständnis als Natur abbildend gilt, deutlich, dass es keine unmittelbare, direkte Wahrnehmung, kein reines Sehen gibt. Die Weise, in der wir wahrnehmen, in der Bilder in unseren Köpfen entstehen, ist immer von Wissensformationen mitbestimmt und von Machtstrukturen durchzogen.1 Und so gewinnt auch das Coverbild des vorliegenden Bandes ganz spezifische Bedeutungen, wenn es mit Erzählungen über den Ort der Entstehung des Bildes und dem Wissen um diesen Ort verknüpft wird. Das geheimnisvoll, nebulös und vielleicht auch romantisch wirkende Setting wird zum Bild einer Geschichte von Vernichtung, Tod und Überleben. Die Fotografie, die auf dem Cover zu sehen ist, wurde in unmittelbarer Nähe zum Ehrenfriedhof Cap Arcona in Neustadt/ Holstein aufgenommen. Dort steht zwischen Promenade und Strand, mit Ausrichtung auf die Neustädter Bucht, eine Gedenkinstallation in Form von zwei Metallstelen, in die die Besucher_innen ähnlich wie in ein Fernrohr für Touristen hineinsehen können. Eine Durch-Sicht ist allerdings nicht möglich. Im Inneren der Apparatur befindet sich die unscharfe Fotografie des Schiffes Cap Arcona, die die Fotografie auf unserem Cover zeigt.2 Erinnert wird damit an die Katastrophe, die sich am 3. Mai 1945 in der Bucht ereignete und bei der ungefähr 8.000 Menschen aus 24 Nationen, überwiegend Gefangene aus den Konzentrationslagern Neuengamme, Stutthof und Auschwitz, getötet wurden. Die Cap Arcona, einst ein Luxusdampfer, der reiselustige reiche Bürger_innen und Auswanderer_innen nach Südamerika transportierte, war während des Krieges zunächst zum Transport 1

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Zu Landschaften als kulturell, gesellschaftlich und politisch geprägten Räumen s. Irene Nierhaus/Josch Hoenes/Annette Urban (Hg.), Landschaftlichkeit. Forschungsansätze zwischen Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2010. Die Stelen wurden 2007 als Teil einer Informationsplattform von Dörte Michaelis und Wilhelm Lange gestaltet.

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Einleitung von Flüchtlingen aus Ostpreußen in den Westen und später für die Unterbringung und Verschiffung von KZ-Häftlingen verwendet worden. Sie war Teil der sogenannten KZ-Häftlingsflotte, auf der am Ende des Krieges zahlreiche Häftlinge untergebracht worden waren. Viele starben dort durch Hunger, Entkräftung, Seuchen, Witterungseinflüsse oder wurden von den Nazis ermordet. Die meisten kamen bei einem Großangriff der Royal Air Force ums Leben, die in den letzten Kriegstagen die zahlreichen Schiffe in der Kieler, Lübecker und Neustädter Bucht fälschlicherweise für eine Absetzbewegung der deutschen Truppen gehalten und sie daher versenkt hatte.3 Der Tod der KZ-Häftlinge war von den Nazis einkalkuliert und in Kauf genommen worden. Die See verschluckte die Opfer, spie sie aber auch tot und lebendig wieder aus. Das Sterben und Überleben wurde dabei auch versucht zu regulieren. So verließen die SS-Leute als erste die Schiffe. Es gab aber auch Mitglieder der SS-Wachmannschaften, die im Chaos der Bombardierung den Insassen auf den Schiffen die Fluchtwege versperrten, bis sie von diesen überrannt wurden. Reguliert wurde das Überleben beispielsweise auch dadurch, dass im Vorfeld des Bombardements die Schwimmgürtel eingesammelt wurden, damit die von Bord springenden SS-Leute und die Besatzung damit ihr Leben retten konnten. Auch die Rettungsboote waren im Besitz der Nazis und der Besatzung, die alles daran setzten, nur Marine- und SS-Angehörige an Bord zu ziehen. Noch während der Bombardements machten sich Minensuchboote auf den Weg zur Rettung deutscher Schiffbrüchiger. Den meisten Häftlingen wurde die Rettung verweigert. Aber selbst wenn sie aus eigener Kraft das Land erreichten, garantierte das noch nicht ihr Überleben. Denn dort gingen die Massaker der Nazis an den KZHäftlingen weiter. Erst mit der Besetzung von Neustadt durch die Alliierten konnte das Überleben von wenigen Verfolgten des NSGenozids gesichert werden. Die verschwommene Fotografie des Coverbilds führt die Inszenierung eines Sehens vor, das nicht allein auf die Dokumentation des historischen Szenarios abzielt, sondern auch den be3

Zur komplexen Geschichte der Cap Arcona und der Häftlingsflotte vgl. u.a. Detlef Garbe: »‚Cap Arcona‘-Gedenken«, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Hilfe oder Handel? Rettungsbemühungen für NSVerfolgte (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 10), Bremen: Temmen 2007, S. 168–172. Wilhelm Lange: Cap Arcona, Das tragische Ende einiger KonzentrationslagerEvakuierungstransporte im Raum Neustadt in Holstein am 3. Mai 1945, erw. Neuauflage, Eutin: Struve 2005.

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Sehen – Macht – Wissen trachtenden Blick selbst thematisiert. Dieser Blick ist weniger der Blick auf eine unfassbar tragische Vergangenheit, sondern einer, in dessen Unschärfe sich historische Zeugenschaft und militärisches Fehlidentifizieren durchkreuzen. Ein Blick, der uns gegenwärtig daran erinnert, dass die Objekte der Erinnerungen immer auch durch den eigenen Blick formiert werden, dass sie selten eindeutig und unbezweifelbar sind, stets politisch umkämpft und niemals lediglich Fakten abbilden. In diesem Sinne erzählt auch unsere Einleitung nur eine der möglichen Geschichten über die Ereignisse in der Neustädter Bucht am 3. Mai 1945. Die wechselvolle Geschichte der Cap Arcona entfaltet ein komplexes Gewebe von See und Luft, Luxus und Armut, Krieg und NS-Genozid, Reise, Flucht und Migration, Erinnerung, Gedenken, Trauma und Medialität, Sehen, Erkennen und Verkennen, das viele Aspekte berührt, die die Beiträge in diesem Band thematisieren.

ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung Das anhand des Coverbildes exemplarisch skizzierte Spannungsfeld zwischen Sehen, Bildern, Subjektivierungsformen und Machtverhältnissen, das zudem durch tiefgreifende historische Transformationen und antagonistische Aushandlungsprozesse geprägt ist, markiert den breiten und kontrovers verhandelten Forschungsbereich der visuellen Kultur. Visuelle Kultur umfasst eine Vielzahl von Forschungsansätzen, die die zunehmende Bedeutung und Wirkmächtigkeit visueller Repräsentationen innerhalb gegenwärtiger Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu erfassen suchen und hierfür die Theorien und Methoden der traditionellen Disziplinen überschreiten und/oder verschieben.4 In der deutschsprachigen Kunstwissenschaft hat sich Silke Wenk gemeinsam mit anderen maßgeblich für eine machtkritische und -analytische Forschungsperspektive auf visuelle Repräsentationen 4

„Visual culture has come into a certain prominence now because many artists, critics and scholars have felt the new urgency of the visual cannot fully considered in the established visual disciplines. One way of connecting these disciplinary dilemmas – whether in art history, film studies or cultural studies – is to emphasize the continuingly dynamic force of feminism (taken in the broad sense to incorporate gender and sexuality studies) to challenge disciplinarity of all kinds“ (Nicholas Mirzoeff: »The Subject of Visual Culture«, in: ders. (Hg.), The visual culture reader, London u.a.: Routledge 2007, S. 6).

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Einleitung und deren Etablierung eingesetzt.5 Diese Arbeit sollte mit dem Symposium ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist, anerkannt, reflektiert und fortgesetzt werden.6 Als Ausgangspunkt entwarfen wir den Begriff ReSaVoir. Die Wortschöpfung ReSaVoir verknüpft das französische savoir (Wissen), dem selbst bereits das Sehen (voir) eingeschrieben ist, mit dem Präfix re (rückwärts, zurück, neu, erneut). Diese Referenzen öffnen einen konzeptuellen Raum zwischen foucauldianischem Macht/Wissen und dem Visuellen, und markieren diesen als historisch und kulturell kontingent und in einem beständigen Prozess des Wiederholens und Erneuerns befindlich. Zugleich klingt in ReSaVoir auch der Begriff des Reservoirs an. Ähnlich wie das kulturelle Bildrepertoire im Sinn von Kaja Silvermans screen7 benennt das Reservoir das Vor-Gesehene sowie die Darstellungsparameter, welche bestimmen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt sichtbar wird, gesehen und gedacht werden kann. Der Begriff – selbst eine Vorstellungskategorie – lenkt dabei unsere Aufmerksamkeit auf die Kontexte und Rahmungen, innerhalb derer Bilder bedeutsam werden. Anders als das Repertoire, das eher eine zur Verfügung stehende Bildersammlung assoziieren lässt, aus der sich jede_r nach Belieben und Bedarf bedienen kann, schwingt im 5

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Siehe u. a. Silke Wenk: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996; Kathrin HoffmannCurtius/Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg: Jonas 1997; Sigrid Schade/Silke Wenk: »Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2005, S. 144–184; Sigrid Schade/Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011. Zur Forschungsarbeit von Silke Wenk s. auch Irene Nierhaus: »Silke Wenk: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne«, in: Martina Löw/Bettina Mathes (Hg.), Schlüsselwerke der Geschlechterforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 306–318. Im Bereich der Lehre leitet sie seit 1996 gemeinsam mit Karen Ellwanger den Promotionsstudiengang Kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung sowie gemeinsam mit Sigrid Schade, Irene Nierhaus und Barbara Paul das Kolloquium Methoden kunst- und kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Symposium, 10.01.2009, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Kaja Silverman: The Threshold of The Visible World, New York: Routledge 1996.

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Sehen – Macht – Wissen Begriff des Reservoirs viel stärker das Unbekannte, das Unbewusste und Kontingente mit. Zwar ist das Reservoir eine höchst bedeutungsvolle Quelle, aus der sich immer wieder schöpfen lässt, zugleich aber bleiben diese Schöpfungen und ihre Bedeutungen auch unbeherrschbar und unvorhersehbar. Was sich im Reservoir befindet, zu welchem Zeitpunkt etwas in welcher Form an die Oberfläche tritt, in welchen Zusammenhängen es erscheint und welche neuartigen Verknüpfungen dadurch entstehen, kann niemals vollständig erfasst, kalkuliert oder objektiv beurteilt werden. Entscheidend ist für ein Konzept des ReSaVoir, dass jede Form des Umgangs mit dem Bildreservoir nicht einfach nur ein Rückgriff auf Vorhandenes ist, sondern notwendigerweise immer auch einen Eingriff bedeutet, der die Gesamtformation verändert und daher immer auch mit der Option eines Neu-Sehens oder Anders-Sehens verbunden ist. Nicht nur, weil vielleicht etwas zuvor Ungesehenes und Unbenanntes ins Spiel gebracht wird, sondern vor allem deswegen, weil eine Exklusivität von Wissen und des Nutzens von Wissen aufgebrochen werden kann. Das Reservoir wird zu einem Handlungsfeld, in dem mit Bildreserven operiert und neue ebenso wie alte Sichtbarkeiten entworfen werden, in das auch die Betrachtenden mit eingespannt sind, das bestimmte Sehweisen nicht nur ermöglicht, sondern gleichzeitig strukturiert, formiert und sedimentiert. Der Begriff des ReSaVoir fordert eine Aufmerksamkeit für visuelle Politiken, die sich mit dem Einsatz und dem Auftauchen spezifischer Bilder verbinden. Visuelle Politiken können, wie Silke Wenk zeigt, nicht auf ihren strategisch-intentionalen Einsatz reduziert werden. Mit dem Vermögen, „Ängste der Auflösung ebenso zu mobilisieren, wie Formen ihrer Beruhigung“, sind Bilder immer auch an der Produktion und Aufrechterhaltung von Identitäten und Gefühlen der Zugehörigkeit beteiligt.8 Insofern operieren Bilder immer auch im Feld des Politischen, das Silke Wenk mit Bezug auf Chantal Mouffe als jene Ebene beschreibt, „auf der stets mit dem Problem gekämpft wird, eine heile, nicht-antagonistische Gesellschaft zu repräsentieren“. Und weiter: „[D]ieses unmögliche oder nie abzuschließende Unterfangen hält schließlich die Produktion des Visuellen im Gang, in und jenseits einer strategisch

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Silke Wenk: »Neue Kriege, kulturelles Gedächtnis und visuelle Politik«, in: FrauenKunstWissenschaft, Heft 39 (Gender Memory, Repräsentationen von Gedächtnis, Erinnerung und Geschlecht), Juni 2005, S. 122–132, hier: S. 122.

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Einleitung geplanten Politik mit Bildern, insbesondere dann, wenn Selbstbeschreibungsmodelle eines Kollektivs in eine Krise geraten und nicht mehr einfach haltbar erscheinen.“9 Damit wird es erforderlich, die jeweils im ReSaVoir auftauchenden Bilder in ihren Verknüpfungen mit weiteren Bildern und Texten auf ihre Effekte innerhalb herrschender Machtverhältnisse zu befragen: In welcher Weise beteiligen sie sich an der Konstruktion und Reproduktion von Geschlecht, Rasse, Klasse, Nation? Wie tragen sie dazu bei, Gefühle der Sicherheit und Zugehörigkeit zu vermitteln oder zu unterlaufen und zu verunsichern? Welche Bilder werden in Krisenzeiten aufgerufen, aus dem Reservoir hervorgeholt und in welcher Weise werden sie in Prozessen der Re-Semiotisierung und Re-Aktualisierung mit neuen Bedeutungen aufgeladen? Erfordert eine solche Perspektive zwangsläufig die Berücksichtigung der jeweiligen kulturell-gesellschaftlichen und historischen Kontexte, innerhalb derer Bilder bedeutsam werden? Gilt es darüber hinaus, die eigene Positionierung und die spezifischen Wissenskontexte – darauf verweist nicht zuletzt das Savoir – zu reflektieren, innerhalb derer Bilder mit Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft, gegengelesen und/oder konterkariert werden? Das eingangs beschriebene Coverbild kann in diesem Sinn auch als Rahmung verstanden werden, die eine Reflexion des eigenen Blicks nahelegt und im Aufrufen spezifischer ästhetisch-inhaltlicher Problemstellungen auch als Visualisierung des Kontextes der kulturwissenschaftlichen Geschlechterstudien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg fungieren kann, aus dem der vorliegende Sammelband hervorgegangen ist. Die Beiträge des Buches sind in vier thematische Bereiche untergliedert, die jeweils bestimmte Aspekte des ReSaVoir behandeln.

Bilder und Biopolitiken Bildet der Holocaust und dessen Erinnerung einen zentralen Bezugspunkt der deutschen Debatten um Fragen der Repräsentierbarkeit von Leben, Tod und Vernichtung sowie der Grenzen der Repräsentation, diskutiert Nicholas Mirzoeff diese Fragen am Beispiel des Hurrikan Katrina, der im Jahr 2005 die Stadt New Orleans zerstörte. Anhand des Dokumentarfilms von Spike Lee When the Levees Broke: A Report for New Orleans (2006) disku9

Vgl. ebd., S. 123.

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Sehen – Macht – Wissen tiert der Text, wie das Meer, die Grenze der Repräsentation, und Fragen des Lebens und das Leben der Bilder repräsentiert werden können. Entgegen einer noch immer verbreiteten Auffassung, die das Meer als weitestgehend natürlich begreift, zeichnet der Text ein dichtes Geflecht historischer Diskursivierungen des Meeres: von Hugo Grotius‘ Theorie des Handels, in der das Meer als res nullis – grenzenloses und unveräußerliches Nichtding – und zugleich als wichtiger Aspekt der Etablierung des Imperiums gilt, über die verschiedenen religiösen Metaphern der Flut, die einen zweiten Anfang ermöglichen, und die Gemälde William Turners, die ein Spannungsverhältnis zwischen dem Widerstand der Multitude und der Trauer um den Niedergang des traditionellen England figurieren, bis hin zu den aktuellen filmischen Aufnahmen der Flutwelle in New Orleans 2005, die mit der Frage, ob die Deiche gesprengt worden seien, die Geschichte von Sklaverei und Kolonialismus aktualisieren. In der Verknüpfung der kapitalistischen, rassistischen und mythologischen Formationen des Meeres deckt Mirzoeffs Text auf, wie das Meer, Klimawandel und Klimakatastrophen als Bestandteile gegenwärtiger biopolitischer Regime und ihrer Krisen fungieren. Wenn Mirzoeff das Leben mit Foucault als historisch-politischen Diskurs versteht, dann sind die Bilder und Visualisierungen unseres Planeten als Domäne des Lebens der Bilder nicht nur einer der wichtigen Bereiche, in denen die Biopolitik wirkt, sondern auch derjenige, mit dem sich eine kritische Forschung auseinandersetzen muss. Die Texte von Linda Hentschel und Sabine Hark greifen im Anschluss daran die Frage nach dem Leben der Bilder auf und verschieben sie zugleich. Ausgehend von den visuellen Techniken der Überwachung und Kontrolle des Meeres, wie sie Silke Wenk anhand von Flüchtlingsfotografien analysiert hat und die Hentschel als „visuelle Techniken der Geburt der Nation“ begreift, fragt Letztere, was es bedeutet, „wenn Klimakatastrophen, nacktes Überleben und Schwarz-Sein immer wieder medial aneinander gekoppelt werden?“ Schlägt Hentschel ein Zusammendenken bzw. -sehen von aktuellen Klimapolitiken und Bilderpolitiken vor, die im Kontext aktueller Kriege an den Konstruktionen islamischer und weißer Männlichkeiten arbeiten, rückt Hark die Frage nach dem „ethischen Regime der Bilder“ (Rancière) in den Blick. Insofern die Seinsweise der Bilder das ethos, also das Gefüge moralischer Verhaltensweisen der Individuen, aber vor allem auch der Kollektive betrifft, lässt sich die Frage nach dem ethischen Regime der Bilder mit der von Judith Butler aufgeworfenen Frage, wer als anerkennungsfähiger Mensch gilt, verknüpfen. In dieser Verbin-

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Einleitung dung wirft Hark die Frage nach einer Gegenvisualität auf, die uns dazu bewegen könnte, „jene Leben wahrzunehmen und zu betrauern, die nicht zu ‚uns‘, sondern zu ‚denen‘ gehören“, ja die über eine Analyse dessen, wie Bilder die Ontologie regulieren, hinaus zu „Aufständen auf der Ebene der Ontologie“ (Butler) beitragen könnte. Irene Nierhaus wendet sich in ihrem Beitrag gleichsam der anderen Seite des Meeres zu, wenn sie danach fragt, wie der sich in der europäischen Moderne konstituierende panoramatische Blick Vorstellungen gänzlich beherrschbarer Territorien installiert und befördert. Im Zentrum von Nierhaus’ Analysen steht die Figur des Piloten, die im faschistischen Italien auf Bild- und Textebene mit der Figur des Staatslenkers verschmilzt und mit mythischen Themen der herakleiischen Umgestaltung von Gesellschaft aufgeladen wird. Als Technologie von Kriegsführung und Kolonialisierung wird die neue Blickposition von hoch oben nicht nur massiv virilisiert, sondern auch sexualisiert. Nierhaus zeigt, dass Kunst – in diesem Fall die Aeropittura des italienischen Futurismus – keineswegs immer ein kritischer Einspruch in dominante Macht- und Herrschaftsverhältnisse ist. Ihr Text zeichnet vielmehr ein diskursives Geflecht verschiedener Repräsentationen des panoramatischen Blicks, die zusammenwirken und sich sowohl an einer Blickschulung der Bevölkerung als auch an der Konstruktion von Einheits- und Omnipotenzphantasmen beteiligen.

Bilder und Erinnerung Der Abschnitt Bilder und Erinnerung umfasst Beiträge, die Formen der Erinnerung an traumatische Geschichten und Ereignisse diskutieren. Die Aufsätze knüpfen an kritische Forschungen zu Gedächtnispolitiken und Erinnerungskulturen an, die dargelegt haben, inwiefern Repräsentationen von traumatischer Geschichte häufig dem Wunsch der Verdrängung und Entschuldung von dieser entsprechen und zuweilen Gewaltstrukturen auf einer anderen Ebene wiederholen. Gerade in Analysen von Darstellungen des Holocaust wurde deutlich, wie sich dominante Diskurse und Formationen einer Erinnerungsgemeinschaft gegenüber störenden Faktoren zu immunisieren suchen. Innerhalb dieser Perspektive, wie sie von der zweiten Generation der Täter_innen gegenüber den Erinnerungspraktiken ihrer Elterngeneration geäußert wurde, haben Insa Eschebach und Silke Wenk für die Wichtigkeit einer 19

Sehen – Macht – Wissen geschlechtertheoretischen/feministischen Perspektive plädiert.10 Sie konnten zeigen, „wie Vorstellungen von der Natur des ‚Weiblichen‘ und des ‚Männlichen‘ dazu führten, dass viele Geschichten und Erfahrungen im Gedenken keinen oder nur einen marginalen Ort finden konnten, dass sie verdrängt und verleugnet wurden“.11 Der von ihnen herausgegebene Band Gedächtnis und Geschlecht beleuchtet, „in welcher Weise gerade im auf den Holocaust bezogenen Gedächtnis Metaphern von Geschlecht und Sexualität die Funktion nicht nur einer Naturalisierung oder Universalisierung des historischen Ereignisses innehaben können, sondern auch die einer Besänftigung und Beruhigung, wo weiterhin Beunruhigung angesagt wäre“.12 Die Frage nach dem Wie der Erinnerung des Holocaust und der erinnernden Darstellung stellten sie vor diesem Hintergrund noch einmal neu. Kathrin Hoffmann-Curtius schließt mit ihrem Beitrag an diese Perspektivierung an und unternimmt eine ausführliche analytische Lektüre der 2008 erschienenen Neuauflage von Art Spiegelmans Comicalbum Breakdowns. From Maus to Now. An Anthology of Strips von 1977 und der ebenfalls in Comicform produzierten Antwort darauf von Volker Reiche. Spiegelman hat seine Autobiographie als Sohn New Yorker Juden, die das KZ überlebten, in zwei Comicbänden bearbeitet. Hoffmann-Curtius zeigt, in welcher Weise der Comic bei Spiegelman als Medium der Bearbeitung von Erinnerung fungiert, die sich als Traumarbeit nach Sigmund Freud lesen lässt. Im Durcharbeiten der traumatischen Erlebnisse seiner Eltern und der Erinnerung daran greift Spiegelman die in den 1970er Jahren gängigen Muster der Pornographisierung des Faschismus auf und artikuliert sie zugleich auf entscheidende Weise neu: Statt im Sinne Freuds auf eine Latenz des verbotenen sexuellen Begehrens zu verweisen, werden die Szenen bei Spiegelman zur Manifestation des Mordgeschehens im 20. Jahrhundert und die Repräsentation des NS als weibliches Monster als ein Phantasma aus der Traumarbeit des Mannes erkennbar. Das sexuelle Begehren wird durch die NS-Geschichte überschrieben. Bei Reiche dagegen bleibt es, wie Hoffmann-Curtius zeigt, erhalten. Unumwunden problematisiert Reiche das Fehlen seiner/der deutschen Auseinandersetzung mit dem NS und die 10 Insa Eschebach und Silke Wenk: »Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung«, in: dies. (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des Nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/Main: Campus 2002. 11 Vgl. ebd., S. 13. 12 Vgl. ebd.

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Einleitung Verharmlosung der Ermordung von sechs Millionen Juden. Wenn Reiche das Negieren und Verschwinden der Schreckensbilder im Nachkriegsdeutschland thematisieren, seine Ängste und Verdrängungen aufzeichnen kann, dann hat bei Spiegelman das Erinnern-Müssen an die Vernichtung der sechs Millionen Juden Freuds phalluszentrierte Traumdeutung außer Kraft gesetzt. Der Beitrag von Marianne Hirsch und Leo Spitzer vergleicht ebenfalls zwei unterschiedliche künstlerische Positionen und diskutiert ihre Formen von Erinnerung an traumatische Geschichte: die des französischen Künstlers Christian Boltanksi und die des argentinischen Künstlers Marcelo Brodsky. Beide Künstler verwenden Schulfotos, erinnern damit aber an unterschiedliche Geschichten und Ereignisse. Während sich Boltanski als Angehöriger der sogenannten zweiten Generation mit der Erinnerung an den Holocaust auseinandersetzt, bearbeitet Brodsky als Zeitgenosse die Erinnerung an Opfer der argentinischen Militärdiktatur der Junta-Zeit. Die Autor_innen diskutieren, welche Bedeutungen, aber auch welche Effekte entstehen, wenn die beiden Künstler in ihren je spezifischen Weisen Klassenfotos als Erinnerungsmedium für unterschiedliche Geschichte(n) verwenden. Hirsch und Spitzer verstehen Schulfotos als „Archive komplexer und widersprüchlicher Gefühle“, sie können Gefühle der Zugehörigkeit, aber auch des Widerwillens gegen die Unterordnung in die Gruppe ausdrücken. Anhand der Arbeiten der beiden Künstler gehen sie der Frage nach, ob die künstlerischen Verwendungen von Klassenfotos gewaltvolle Strategien des Ausschlusses und der Auslöschung auf einer visuellen Ebene wiederholen oder ob sie vielmehr dazu beitragen, brutale Machtstrukturen und ihre Auswirkungen offenzulegen und zur Anklage zu bringen. Im Vergleich der Arbeiten von Boltanski und Brodsky wird außerdem deutlich, dass der lateinamerikanische Künstler Brodsky zwar bewusst Zeichen der europäischen Erinnerungskultur zitiert, sich gleichzeitig aber auch lokale Praktiken des Gedenkens und des Protests aneignet. Der Text von Nicole Mehring fällt in dieser Sektion insofern aus der Reihe, als dass er nicht Formen der Erinnerung an traumatische Geschichte thematisiert, sondern die Ausführungen von Hirsch und Spitzer zum Anlass nimmt, um über die gegenwärtige Praxis der Schulfotografie nachzudenken. Mehring, die selbst als Lehrerin an einer Schule tätig ist, beschreibt drei aktuelle Klassenfotografien. Diese Fotografien irritieren insofern, als dass sie einerseits auf tradierte und bekannte Darstellungsparameter zurückgreifen, andererseits in ihnen aber auch Verschiebungen und

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Sehen – Macht – Wissen Brüche zu erkennen sind. Mehrings Text formuliert Fragen an diese Fotografien, die Anstoßpunkte bilden, um über veränderte fotografische Praktiken, Formen von Zugehörigkeit und Subjekttechnologien weiter nachzudenken.

Bilder, Kunstwissenschaft und feministische Lektüren Feministische Forschungspositionen sind – wie auch die zuvor genannten Textbeiträge zeigen – in einer differenzierten und kritischen Auseinandersetzung mit Bildern unumgänglich. Dennoch wird ihre Bedeutung und ihr Verdienst von der sogenannten neuen Bildwissenschaft zumeist ignoriert, die Themen und Methoden der feministischen Forschung neu zu erfinden vorgibt.13 Tatsächlich widerspricht die feministische Kunstwissenschaft aber bereits seit den 1970er Jahren der klassischen Kunstgeschichte als Meistergeschichte und macht diese auf ihre Auslassungen und Aporien aufmerksam. Die feministischen Studien zeigen, dass und auf welche Weise geschlechterduale Verhältnisse im Kontext visueller Produktion und Rezeption reguliert und naturalisiert werden und bestehende Machtstrukturen und Hierarchien authentisieren und verfestigen – nicht nur, aber auch im Bereich der Bildenden Kunst und Kunstwissenschaft. Die feministischen Untersuchungen wirken mit ihrer Bildkritik aber nicht nur dekonstruktivistisch, sondern sie führen zugleich auch praktisch vor, dass neben dem dominanten Dualismus männlicher Blick- und Handlungsmacht und weiblicher Bildhaftigkeit immer auch andere, widerständige Subjektpositionen möglich sind.14 Eine kritische, feministische Analyseperspektive legt nicht nur die vorgesehenen Blick- und Bildpositionen offen und macht die damit verbundenen Geschlechterordnungen 13 Vgl. auch Gabriele Werner: »Einleitung. Wo stehen wir? Die feministische Kunstgeschichte hat seit ihren Anfängen Theorien des Bildlichen geschrieben und wohlweislich nie eine Bildtheorie«, in: FrauenKunstWissenschaft – Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, Heft 48 (Kanones), Dezember 2009, S. 5–13 sowie Sigrid Schade: »Vom Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein. Pirouetten im sogenannten ‚pictorial turn‘«, in: Zeitschrift des schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft – zum 100jährigen Bestehen, Zürich 2001, S. 1–11. 14 Teresa de Lauretis: Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema, Hampshire/Bloomington: McMillan/Indiana University Press 1984, S. 15ff.

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Einleitung sichtbar, sondern sie entwirft in diesem Tun auch selbst eine (prekäre) Handlungsposition; ein kritisches „Wi(e)derlesen und Umschreiben“15, verstanden als Arbeit „mit, aber gleichzeitig auch gegen die Erzählstruktur“.16 Dass diese politisch-kritischen Lektürepositionen dabei auch selbst nicht frei von Auslassungen, dominanten Zuschreibungen und hegemonialen Ansprüchen sind, wurde vielfach aufgezeigt. Feministische Bildkritik ist in diesem Sinn ein „situiertes Wissen“17, das sich im Umgang mit seinem Gegenstand auch auf die eigenen Auslassungen und Ausschlussmechanismen befragen (lassen) muss. Eine Analyseposition, die ihr geschlechterkritisches und zugleich produktiv gestaltendes Potenzial als deutlich subjektiven Vorgang inszeniert, entwirft Griselda Pollock mit ihrem Projekt des virtual feminist museum (vfm).18 Methodisch greift Pollock dazu auf Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Sigmund Freuds Psychoanalyse zurück, die sie für eine kritisch-experimentelle Neu- bzw. Umschreibung kanonisierter, patriarchaler Bedeutungen nutzt. Im vorliegenden Sammelband ist der Anlass für dieses Vorgehen ein Schockerlebnis, das Pollock beim Anblick von Berninis Skulptur Daphne und Apollo (1622–1625) überrascht: der Anblick des in Stein gemeißelten Mundes der Daphne, der einen erstickten Hilferuf kurz vor der drohenden Vergewaltigung andeutet. Pollocks Begegnung mit diesem (ihrem) punctum der Skulptur, das auch ihren Atem stocken lässt, ist der Ausgangspunkt für eine weit in das kunsthistorische Bildreservoir ausgreifende 15 Teresa de Lauretis: »Strategien des Verkettens. Narratives Kino, feministische Poetik und Yvonne Rainer«, in: Yvonne Rainer (Hg.), Talking Pictures. Filme, Feminismus, Psychoanalyse, Avantgarde. Wien: Passagen Verlag 1994, S. 41–63, hier: S. 43. 16 Ebd. 17 Donna Haraway: »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive« [1986], in: Elvira Scheich (Hg.), Vermittelte Weiblichkeit: feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg: Hamburger Edition 1996, S. 217–248. 18 In ihrem Buch „Encounters in the Virtual Feminist Museum“ (2007) beschreibt Pollock dieses Unternehmen folgendermaßen: „The VFM […] is about argued responses, grounded speculations, exploratory relations that tell us new things about femininity, modernity and representation. […] It counters the narratives of heroic, nationalist and formalist art history to discover other meanings by daring to plot networks and transformative interactions between images differently assembled in conversations framed by feminist analysis and theory.“ Griselda Pollock: Encounters in the Virtual Feminist Museum. Time, Space and the Archive, London/New York: Routledge 2007, S. 11.

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Sehen – Macht – Wissen Bewegung, in der sich zwei Dinge überlagern: die feministische Kritik an der heroischen Repräsentation einer Vergewaltigungsszene, welche die sexuelle Bedrängnis der weiblichen Protagonistin visuell genießbar macht, und die affektiv positionierte Identifikation der Kunstwissenschaftlerin mit der weiblichen Figur. Aus Pollocks feministisch situierter Lektüreperspektive geht die repräsentierte Frau nicht gänzlich im vorgesehenen Opferbild auf, sondern verweist auch auf widerständige, feministische Äußerungsformen der Darstellung. Wenn Pollock das Moment des Affektiven praktisch in ihrer Lektüre nutzt und gegen dominante Bedeutungskonventionen und Vorstellungen künstlerischer Intentionalität wendet, verweist Sigrid Schade in ihrem Beitrag auf die Problematik, dass innerhalb der klassisch-künstlerorientierten Kunstgeschichtsschreibung der aktuelle Hype um Affekte dazu genutzt wird, um ein emphatisch-entpolitisiertes Rekonstruieren der scheinbar unverfälschten Gefühle des Künstlers wiederzubeleben. Schade kritisiert, dass ein solches Vorgehen die diskursive Kontingenz von Produktion und Rezeption genauso ignoriert wie die kulturelle und politische Durchdringung von Affekten, für deren Sichtbarmachung die poststrukturalistische Kunstwissenschaft seit Langem eintritt. Diese Erkenntnisse suspendierend wird stattdessen die methodologische Referenz Aby Warburg in einem unmittelbar emotionalisierenden Sinn uminterpretiert. Dieser verkürzten Warburg-Rezeption hält Schade die historisch-kritische Dimension des ikonologischen Ansatzes entgegen, die auch die feministische Kunstwissenschaft vielfach genutzt hat und weiter nutzen kann.

Bilder und Handlungs/Un/Möglichkeiten Der Abschnitt Bilder und Handlungs/Un/Möglichkeiten versammelt Beiträge, die Beziehungen zwischen einer kritischen feministischen Kunstwissenschaft und ihren Feldern außerhalb der Akademia verhandeln bzw. die Verknüpfung dieser Felder produktiv zu machen suchen. Die Beiträge setzen sich auf methodischtheoretisch sehr unterschiedliche Weise mit politischen Fragestellungen der Bild-Betrachter_innen-Beziehung (Brandes), der gegenwärtigen Transformationen des Kunstfeldes (Fürstenberg/ John) und des kritischen Durchqueerens künstlerischer und wissenschaftlicher Felder (Paul) auseinander. Dabei eint sie eine Perspektive, die unter aktuell sich wandelnden Macht- und Herr24

Einleitung schaftsverhältnissen nach Formen einer Wissenschaft als kritische Praxis sucht. Dieser Ansatz knüpft sowohl an die intellektuelle Kritik feministischer Kunstwissenschaft an wie auch an Traditionen politisch-kritischer (akademischer) Bewegungen und transformiert diese zugleich. Wenn Sabine Hark angesichts eines akademisch gewordenen Feminismus auf die Notwendigkeit verweist, dass kritisches feministische Wissen neben der intellektuellen Kritik noch ein zweites Standbein – die soziale bzw. institutionelle Kritik – benötigt,19 scheinen die Beiträge Aspekte einer solchen Kritik zu formulieren und/oder noch ein drittes Standbein (bzw. vielleicht auch eine invisible hand?) ins Spiel zu bringen, die sich mit dem Begriff der kulturellen Kritik fassen ließe. Die folgenden Beiträge bieten einen Einblick in unterschiedliche Forschungsgebiete und Fragestellungen, die sich diesen Verschiebungen und Handlungs/Un/Möglichkeiten annehmen, die es in Zukunft weiter zu bearbeiten gilt. Ausgehend von visueller Repräsentation als ein von hierarchischen Machtstrukturen durchzogenes Feld des Zu-Sehen-Gebens, analysiert Kerstin Brandes eine Foto-Text-Reihe der afrikanischamerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems als Beispiel dafür, wie alterisierte Subjekte sichtbar werden und ein Bild bekommen können, ohne zugleich in einem Status-als-Bild – als Projektionsfläche für einen hegemonialen Blick – neu fixiert zu werden. Dies geschieht durch Weems’ Reflexion fotografischer Medialität, die Thematisierung des (Bild-)Rahmens und eine bestimmte Lenkung der Betracher_innen auf eine Weise, die Brandes Strategien des Ent/Fixierens nennt. Gemeint ist die Inszenierung einer spezifischen Beweglichkeit des Bild-Status dadurch, dass „auf und zwischen verschiedenen Ebenen der Bedeutungsproduktion zwischen Bild und Blick fortwährend gleichzeitig Verknüpfungen und Ablösungen stattfinden“. Der Beitrag von Stephan Fürstenberg und Jennifer John setzt sich mit derzeitigen Debatten im Feld der Kunst auseinander. Der Kunstvermittlung als kulturell-ästhetischer Bildungsarbeit kommt aktuell eine neue Aufmerksamkeit zu. Die Arbeit von sogenannten museumspädagogischen Diensten war ein bislang in der (Kunst-)Öffentlichkeit wenig beachtetes Arbeitsfeld, das aufgrund der Arbeitsbedingungen, der geforderten Fähigkeiten sowie deren Abwertung und Marginalisierung als feminisiert beschrieben werden kann. Im Diskurs einer Gesellschaft, die über spezifi-

19 Sabine Hark: »Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute«, in: Feministische Studien 1 (2009), S. 23.

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Sehen – Macht – Wissen sche Formen der Ausbildung und des Wissens Subjekten Anerkennung verspricht, eröffnen sich für diesen Bereich nun jedoch neue Möglichkeiten, an die das Versprechen auf mehr Teilhabe an kulturellem und finanziellem Kapital gekoppelt ist. Der zunehmenden Sichtbarkeit von Kunstvermittlung trägt die wissenschaftliche Forschung bislang jedoch kaum Rechnung. Weder findet eine systematische Archivierung, noch eine wissenschaftliche Analyse und Reflexion der hier geleisteten Bildungsarbeit statt. Fürstenberg und John nehmen sich dieses Forschungsdesiderats an und befragen den sich gegenwärtig abzeichnenden strukturellen Wandel des Kunstfeldes auf seine ermöglichenden und verunmöglichenden Bedingungen und transformativen Potenziale. Die in der zunehmenden Bedeutung der Kunstvermittlung anklingende Relevanz künstlerischer Produktionen für die Produktion von Subjektpositionen und Wissensvorräten nimmt der Beitrag von Barbara Paul zum Ausgangspunkt, um nach den Handlungsmöglichkeiten und -unmöglichkeiten einer queeren Kunstwissenschaft zu fragen. Vom Beispiel des Spielfilms XXY ausgehend, der die Geschichte des_der intersexuellen Alex erzählt, ortet Paul in visueller Kultur spezifische Potenziale, um die Definitionsmacht von Biologie und Medizin in Frage zu stellen und die normalisierenden Verknüpfungen von sex, gender und Begehren zu kritisieren. Aus diesem Potenzial visueller Arbeiten resultiert für die (Kunst-)Wissenschaft eine politische Notwendigkeit der Einmischung. Indem Paul Kunst und Theorie, Wissenschaft und Praxis als ineinander verwobene Aussageformationen betrachtet, entwickelt sie eine Strategie des Durchquerens von Kunst- und Theorieproduktionen, die auch als ein Durchqueeren bezeichnet werden kann. Entscheidend ist es dabei, sowohl Kunst- und Theorieproduktionen im Gebrauch queerer Ermöglichungen zu modellieren. Eine solche Kunstfertigkeit des Durchqueerens verspricht nicht nur, Möglichkeiten einer allzu schnellen Aneignung eigener kritischer Arbeit durch hegemoniale Diskurse entgegenzutreten, sondern auch die eigene wissenschaftliche Praxis als Form des Regierens und Sich-selbst-Regierens zu reflektieren. Ist ein solches Reflektieren in die feministische Diskursgeschichte eingeschrieben, so regt der Text von Barbara Paul dazu an, hier weitergehend über konkrete Möglichkeiten dissidenter

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Einleitung Partizipation in und mit Kunst nachzudenken, sie auszuprobieren und damit zu experimentieren.20 In diesem Sinne hoffen wir, dass die Lektüre dieses Bandes Leser_innen findet, die sich mit Spaß und Schweiß zu neuen Modellierungen dissidenter Partizipationen verleiten lassen. Angelika Bartl, Kerstin Brandes, Josch Hoenes, Patricia Mühr und Kea Wienand im Februar 2011

20 Sabine Hark hat unter dem Titel der Dissidenten Partizipation die Diskursgeschichte des wissenschaftlich gewordenen Feminismus verfasst, die die wichtigen Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit kritischer Wissensproduktion analysiert: Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005.

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Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina NICHOLAS MIRZOEFF

Als ich im August 2008 diesen Text zu schreiben begann, war es drei Jahre her, dass der Hurricane Katrina die Golfküste von Mississippi erreicht hatte. Die darauf folgende Flutwelle und der Regen führten zu verheerenden Überschwemmungen in New Orleans, wie wir sie seitdem auch in anderen Teilen der Welt – von England bis Thailand – gesehen haben. Katrina und ähnliche Ereignisse stellen eine Herausforderung für unsere Vorstellungskraft dar, genauso wie für Ingenieure und Wissenschaftler. Was ist Landschaft im Zeitalter des Klimawandels? Wie können wir das Meer, die Grenze der Repräsentation, repräsentieren? Wie können wir Fragen des Lebens und das Leben der Bilder repräsentieren? Und damit einhergehend: Welche Beziehung besteht zwischen dem Meer und dem Einfordern staatlicher Hoheitsmacht? Die ‚Erste-Hilfe-Leistenden‘ in dieser Krise der Vorstellungskraft waren Dokumentarfilmemacher, allen voran Spike Lee, dessen vierstündiges Filmepos When the Levees Broke: A Requiem for New Orleans (2006) sein Werk auf eine neue Ebene hebt. Heutige imperiale Landschaftsgestaltung bildet eine Schnittstelle mit dem weiten Feld des ‚Zeitgenössischen‘, umrahmt es und schiebt seine Definition permanent weiter auf. Ein Sturm umgibt die kritische Theorie und zwingt uns, in einem Atemzug Fragen zum Empire, zum Meer, zur Souveränität und zum Klimawandel zu stellen. Das Meer hat sich lange der Repräsentation entzogen, obwohl es immer ein vitaler Repräsentationsort gewesen ist. John Ruskin hat sämtliche künstlerischen Bilder des Meeres vor William Turner mit den Worten, sie seien „so execrable, so beyond all expression and explanation bad“1, zurückgewiesen. Da1

John Ruskin: »Modern Painters«, in: The Works of John Ruskin. Vol. 3, London: George Allen 1903 [1843], S. 489.

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Nicholas Mirzoeff mit markiert Turner eine entscheidende Ausnahme in der Figurierung des Meeres, die es als Antwort auf das imperiale Gesetz des Meeres zu verstehen gilt. Seine Repräsentationen des Meeres werden also unser Reservoir für eine Annäherung an Spike Lees Filmdokument von New Orleans sein.

Abbildung 1: Film Still Spike Lee, When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts (USA, 2006)

Res Nullius Landschaft ist lange Zeit als eine imperiale Konstruktion verstanden worden.2 So definierte etwa James Harrington in seiner Abhandlung Oceana von 1656 das Empire als Herrschaft über Länder: „and such … as is the proportion or balance of dominion or property in land, such is the nature of the empire“.3 Die unsichtbare Dialektik dieser Herrschaft über Länder ging mit der legalen, ökonomischen, geografischen und militärischen Formierung des Meeres als Ort des Imperialismus (mare liberum, das freie Meer) und der nationalen Souveränität (mare clausum, das

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W.J.T. Mitchell, ‘Imperial Landscape’. Landscape and Power. Chicago: University of Chicago Press, 1994 James Harrington: Works: The Oceana and Other Works, Rpr., Darmstadt: Scientia Verlag Aalen, 1963 [1771], S. 37.

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Das Meer und das Land geschlossene Meer) einher.4 Während jedoch Landschaft als Form von Kultur akzeptiert wurde, gilt das Meer nach wie vor auf unsichtbare Weise als ‚natürlich‘. In einem Ausstellungskatalog wurde etwa jüngst behauptet: „In contrast to landscape, which centuries of human activity changes irrevocably, the sea remains the same whatever may happen upon it“.5 So viel also zu Themen wie Landgewinnung, Meeresmauern, Kanälen, Piers, Wracks, Fischerei, Ausbaggerungen, Umweltverschmutzung, durch Kohlendioxid verursachte Versauerung des Wassers und potenzielle Störungen der thermohalinen Zirkulation als Folge des Klimawandels; ganz zu schweigen von der Neubenennung von Hoheitsgewässern, den Hochsee-, Durchfahrts- und Handelsrechten, die allesamt dazu beitrugen, die Erfahrung des Imperi-alen zu bilden, und deren Durchsetzung viele Leben kosteten. Kartierungen sowie Längen- und Tiefenvermessungen der Meereslandschaft geben die Grenzen, Expansionen und Ansprüche des Empires wieder. Erst vor Kurzem, im August 2007, versenkten russische Wissenschaftler im arktischen Seebett eine Flagge als theatralischen Hoheitsanspruch über die Mineralien und Kohlenwasserstoffe, die der Klimawandel höchstwahrscheinlich in der nahen Zukunft für eine Nutzbarmachung freisetzen wird. Angesichts solch offensichtlicher Gegenbeispiele wird deutlich, dass es eine bemerkenswerte Investition (in jeglicher Hinsicht, ob ökonomischer, psychoanalytischer oder emotionaler Art) in die Vorstellung vom Wasser als etwas Elementarem, Ursprünglichem, Unveränderlichem – und damit Totem – gibt. Mit einer Perspektive, die vom Wasser ausgeht, verändert sich jedoch das Verständnis von Zeit und Ort. Das Wasser kreiert Bilder und hält sie aufrecht. In der Mythologie der Klassik sieht Narziss nur sich und sonst nichts. So grundlegend wie die Anwesenheit des Wassers in der normalen westlichen Landschaft für den Imperialismus war, so wirkte sie auf ähnliche Art und Weise als Grenze und als Bestätigung des (westlichen) Selbst. In der Malerei markiert das Wasser den Horizont, den Ort der vermeintlichen Blickachse des implizierten Betrachters der jeweiligen Szenerie. Wasser ist offensichtlich die Grenze der Landschaft und gleichzeitig, wie Derrida uns lehrt, ihr Rahmen und ihre Begrenzung. Gleiches könnte auch über das Meer selbst gesagt werden, welches

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Mónica Brito Vieira: »Mare Liberum vs. Mare Clausum: Grotius, Freitas, and Selden’s Debate on Dominion over the Seas«, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 64, No. 3. Jul., 2003, S. 361–377. Hamilton 2003, S. 2.

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Nicholas Mirzoeff von seinem Status als Gemeingut in den Besitz des westlichen Staates (personifiziert durch den römischen Kaiser, auf welchen spätere europäische Monarchen ihre rechtliche und personale Genealogie zurückführen) überführt wurde. Es war Hugo Grotius, der niederländische Theoretiker des offenen Meeres und freien Handels, der in seiner Abhandlung aus dem Jahre 1609, welche demonstrieren sollte, dass das Meer für alle, besonders für die Niederländer, offen ist, ein Konzept des Meeres formulierte, das dieses als direkten Weg zur Schaffung eines Imperiums begreift. Aus Grotius’ Sicht definiert sich Staatsmacht über Besitz – und das Meer kann man nicht besitzen. Vielmehr sei das Meer eines jener Dinge, die ‚im Besitz der gesamten Menschheit‘ sein müssen.6 Grenzenlos und unveräußerlich, galt ihm das Meer als res nullius, als ‚Nichtding‘. Ein Nichts kann nicht lebendig sein, besessen oder geteilt werden. Dieses Konzept entspricht dabei jenem rechtlichen Grundsatz, wonach auch die in den Amerikas und in Australien ‚entdeckten‘ Ländereien als terra nullius, wie Nichtländer behandelt werden und als frei zur Inbesitznahme durch bewaffnete Westler gelten. Aber auch wenn das res nullius potenziell für alle als Gemeingut zur Verfügung stand, so war es doch nicht kommunal, geschweige denn kommunistisch. Das heißt, Grotius gründete sein Argument nicht auf den traditionellen Rechten des Gemeinguts, welche mehr Brauch als ein Code waren, sondern auf den seltenen Fall des res communis im römischen Recht. Hiernach gehört ein Fisch, obwohl Fische zunächst für jedermann zum Fangen da sind, sobald ein solcher Bewohner der Tiefe denn gefangen wurde, der Person, die ihn gejagt hatte. Die Markttheorie hat übrigens auch die Falschmeldung von der ‚Tragik des Gemeinguts‘ hervorgebracht, die besagt, dass Gemeingut zu übermäßiger Ausbeutung und damit zu seiner eigenen Zerstörung führt. Die Gemeingüter Meer und Wasser waren somit für einige gleicher als für andere. In der Tat argumentierten die römischen Behörden, dass eben weil das Meer ‚öffentlich sei‘, es deshalb auch im Einzugsbereich des Staates und damit des Kaisers läge.7 So setzte die Staatsmacht im 17. Jahrhundert, widerspruchslos einen Besitzanspruch über Wasserrechte in landnahen Gebieten durch – trotz ihrer Überzeugung, dass das Meer ein Nichts und Gut aller war. In Bezug auf das Meer wurde die Frage der Ansprüche also eine Rechtsfrage, welche von Staatstheoretikern als

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Hugo Grotius: The Freedom of the Seas. Trans. Ralph van Deman Magoffin, New York: Oxford University Press, 1916 [1609]. Vieira 2003, wie Anm. 3, S. 374.

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Das Meer und das Land Besitztum verstanden wurde. Die Argumentation erreichte eine scholastische Ebene der Komplexität (Vieira), wobei beide Seiten dieselben Grundlagen als Stütze ihrer Argumente in Anspruch nahmen; jedoch wurden beide Ideen – die von Meeresterritorien und die des offenen Zugangs aufs Meer – aufrecht erhalten. Die Ausbreitung der Reichweite der Macht wurde dermaßen schnell naturalisiert, dass Sir John Burroughs 1651 deklarierte, „that Princes may have an exclusive property in the Soveraigntie [sic] of the severall parts of the sea, and in the passage, fishing and shores thereof, is so evidently true by way of fact, as no man that is not desperately impudent can deny it“.8 Die Überschätzung ist hierbei augenfällig und verdeutlicht, dass der Besitzanspruch weder selbstevident war noch ist, sondern dass er vielmehr eine jener ‚Aufteilungen des Sinnlichen‘ darstellt, die, wie Jacques Rancière argumentiert, erst die Möglichkeit von Politik begründen.

‚Die mannigfaltigen Meere‘ Macbeth II ii: 59. Entgegen dieser juristischen Behandlung als Eigentum galt das Meer lange Zeit als lebendig und handlungsfähig. Es ist der Ort von Rechtsansprüchen und die metaphorische Verkörperung einer von imperialer Gouvernementalität ausgeschlossenen Multitude. Dieser Austausch kann, sowohl im ‚modernen‘ wie auch im ‚traditionellen‘ Diskurs beobachtet werden und bringt Bewegung in eine allzu starre Aufteilung des Sinnlichen. Nehmen wir einige Beispiele: Am Ende von Spike Lees Film wird der Hurrikan Katrina in einer Second-Line-Jazzbeerdigung bestattet, um den Geist des Sturmes zu besänftigen. Polynesische Segler stellten sich ihre Schiffe als stillstehend vor, während sich der Ozean um sie herum bewegt. Im zentralafrikanischen Denken ist Wasser keine neutrale Oberfläche, die auf menschliches Einwirken wartet, sondern ein aktiver Teil eines Kosmos, in dem die menschliche und die spirituelle Welt miteinander interagieren. Diese Wechselwirkung wird im ‚Kosmogramm‘ dargestellt, einem Kreis, durchtrennt von einer Linie, die eine Kreuzung bildet. Im oberen Teil des Kosmogramms leben und interagieren Menschen. Darunter befindet sich die Welt der Geister, die ebenfalls mit der Welt der Menschen 8

Philip Allot: »Mare Nostrum: A New International Law of the Sea«, in: The American Journal of International Law. Vol. 86, No. 4 (Okt. 1992), S. 764–787, hier S. 764.

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Nicholas Mirzoeff interagieren kann. Alle gehen in einer kreisförmigen und wiederkehrenden Bewegung von der einen in die nächste Welt über. Die Begrenzung zwischen den beiden Domänen wird durch Wasser markiert. Versklavte Afrikaner ertränkten sich aufgrund des für Europäer als dumm erscheinenden Glaubens, sie würden dadurch nach Afrika zurückkehren. Im Vorstellungsrahmen des Kosmogramms aber macht das Sinn: Durch ein Hindurchtauchen unter dem Wasser kehrt man zurück in die spirituelle Welt, um dann zu gegebener Zeit in die afrikanische Lebenswelt zurückzukehren. Gegen ein solches multidimensionales Verständnis vom Meer als Lebewesen oder als Begrenzung zwischen Leben und Tod lässt sich Joseph Conrads Lord Jim zitieren. Dieser zeichnet den Kurs der verhängnisvollen Patna nach Aden als gerade Linie über die Seekarte – ein Kurs, der nichtsdestotrotz direkt zur mysteriösen Kollision des Schiffes führte. Man sagt, die Lebendigkeit des Meeres manifestiere sich als Zorn in Form von Überschwemmungen, Taifunen, Tsunamis und anderen, für menschliches Leben oft tödlich endenden Ereignissen – als gebe es in der menschlichen Vorstellungskraft nur Raum für eine einzige Form des Lebens. Dabei ist die Flut die womöglich älteste Metapher, welche die Menschen zunächst in der mesopotamischen und dann in der jüdischen Legende erhalten haben. In der Tat ist der altertümliche Gott Yahweh ein Gott des Sturmes, der in der Lage ist, sich wie die mysteriöse Flut überall und jederzeit zu manifestieren. Um nach dem ersten Anfang neu anzufangen, kommt die Flut – dieses Narrativ nimmt einen zentralen Platz in den eurasischen Religionen ein. In der Moderne wurde sie paradoxerweise eng mit der Formierung von ‚Rasse‘ in Verbindung gebracht. Seit dem 17. Jahrhundert wurden die als Rassismus institutionalisierten Unterschiede zwischen Volksgruppen durch die Legende von Ham gerechtfertigt. Diesem Auswuchs der biblischen Geschichte zufolge wurde Ham dafür bestraft, dass er seinen Vater nackt gesehen hatte, während dieser betrunken gewesen war. Zur Strafe wurde er nach Afrika verbannt, wo er und seine Nachkommen unter dem ‚Mal des Ham‘, d. h., ‚schwarz‘ zu sein, litten. Diese Geschichte tauchte zusehends zu einer Zeit in der europäischen Geschichtsschreibung auf, in der der Sklavenhandel zum primären Generator des Kapitals avancierte.9

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Benjamin Braude: »The Sons of Noah and the Construction of Ethnic and Geographical Identities in the Medieval and Early Modern Periods«, in:

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Das Meer und das Land Im 19. Jahrhundert gelangte der Schweizer Geologe Louis Agassiz zu Ruhm, indem er die damals geltende These von der Sintflut mit neuen Beweisen über die Eiszeit der alpinen Gletscher, wie er sie nannte, anfocht. Seine These basierte auf Beobachtungen sogenannter ‚Findlinge‘, Gesteine, die Spuren einer glazialen ‚Politur‘ und einer Streifung trugen, die übrig geblieben war, nachdem sich das Eis wieder zurückgezogen hatte. Während der Neptunismus davon ausging, dass diese Findlinge von den Strömungen der Flut und anderen Überschwemmungen mitgerissen worden waren, zeigte Agassiz, dass Wasser die Findlinge, so wie er sie vorfand, weder geformt noch verteilt haben konnte. Dabei fußte seine These darauf, ‚Natur von einem physiologischen Standpunkt‘ aus zu untersuchen, was ihn zu einer Erklärung des Aufstiegs und Verfalls von Lebensformen führte, die nicht zwingenderweise voneinander abstammten.10 Mit anderen Worten bestritt Agassiz, dass heutige Geschöpfe in direkter Linie von sehr ähnlichen oder sogar identischen Spezies, die als Fossilien erhalten sind, abstammen. Vielmehr brachte er Argumente für eine Serie von umwälzenden Reformationen des Lebens vor. Die Implementierung dieser disjunktiven Form von Biopolitik in die Geologie war mit seiner Überzeugung von einer radikalen Trennung der Menschen in unterschiedliche Spezies verbunden. In Harvard tätig, gab er eine heute verrufene Serie von Fotografien versklavter Afrikaner auf karolinischen Plantagen in Auftrag, die jenen essenziellen Rassenunterschied zum Ausdruck bringen sollten.11 So falsch diese Bestrebungen auch waren, so konnte Agassiz durch die Anwendung seiner alpinen Beobachtungsmethoden nichtsdestotrotz einen wichtigen Fortschritt im Verständnis des nordamerikanischen Eisschildes erzielen. Agassiz’ Einführung eines biopolitischen Ansatzes in die Geologie war in gleichem Maße erfolgreich, wie seine rassifizierenden Bemühungen als Verfehlungen zu bewerten sind. Seine eigene Schlussfolgerung, dass sowohl das Klima als auch Menschen periodisch ‚sterben‘ und dann in ähnlichen oder identischen Formen wiederkehren, hätte er selbst als uniforme Reaktionen unterschiedlicher Lebensformen auf gleiche Bedingungen ablehnen müssen.

The William and Mary Quarterly. 3rd Ser., Vol. 54, No. 1. (Jan. 1997), S. 103–142. 10 Louis Agassiz: Studies on Glaciers. Trans. Albert V. Carozzi, New York: Hafner 1967, S. lxvii–lxviii. 11 Brian Wallis: »Black Bodies, White Science: Louis Agassiz’s Slave Daguerreotypes«, in: American Art. Vol. 9, No. 2, (1995), S. 39–61.

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Nicholas Mirzoeff Die metaphorische Macht der Flut als Lebensform, die zwischen Revolution und Rache oszilliert, blieb jedoch entsprechend unversehrt. Der Zorn des Meeres wurde lange Zeit als Wut der Menge verstanden, die gegen die Macht des Landreiches tobt. So etwa bei John Ruskin, der die Kraft der Meereslandschaften in William Turners Sturmszenen folgendermaßen kommentiert: „there are indicated a fitfulness and fury in the tossing of the individual lines, which give to the whole sea a wild, unwearied, reckless incoherency, like that of an enraged multitude, whose masses act together in phrensy, while no tone individual feels as another“.12 Das sind komplexe Zeilen, die inmitten der Chartisten-Unruhen der 1840er Jahre die Angst vor dem auf den Punkt bringen, was Edmund Burke schillernd die ‚swinische Multitude‘ mit ihrer für das 19. Jahrhundert typischen Nosologie des Wahnsinns genannt hat. Das Aquarell, das diese Zeilen inspirierte, Laugharne Castle (William Turner, ca. 1831, Columbus Museum of Art, OH), stellt in der Tat einen Kampf zwischen den traditionellen Rechten des Gemeingutes und der selbstbewussten modernen Staatsmacht dar. Aus Ruskins Kommentar geht hervor, dass die Szene nicht einfach nur malerisch ist. Sie zeigt Menschen an der Küste von Pembrokeshire (heute Carmarthenshire) beim Wracken, das heißt beim Zusammentragen von nach einem Schiffbruch angespülten Waren und Objekten. Dieses traditionelle Recht am Gemeingut wurde im frühen 18. Jahrhundert kriminalisiert und mit der Todesstrafe (Vorschrift 1975) belegt. Das Gemälde zeigt also tatsächlich die Raserei der Menge, indem es eine Reihe von Kapitalverbrechen festhält. Im Gegensatz dazu war das Wracken aus Sicht der Bevölkerung eine Form der Gemeindeaktivitäten, so wie das von Michel de Certeau zelebrierte Wildern, das weitgehend als absolut legitim angesehen wurde. Die Wracker tragen im Schatten der Burg zusammen, was sie können. Sie repräsentiert eine traditionelle Autorität, unter der das Wracken einstmals erlaubt gewesen war, die aber nunmehr selbst von den zentralisierenden Kräften der Staatsmacht eingeholt wird. Die mittelalterliche Burg wurde von den Parlamentarischen Armeen erobert und verwüstet. Zur Zeit der englischen Revolution und zur Zeit Turners war sie längst zur malerischen Ruine geworden. Turner verwandelt das Meer in eine fulminante Masse, die entweder dazu dienen konnte, den Niedergang des traditionellen Englands zu betrauern oder den Widerstand des Volkes zu feiern oder beides in einem Spannungsverhältnis zueinander zu repräsentie12 Ruskin 1903 [1843], wie Anm. 1, S. 564.

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Das Meer und das Land ren. Sein Werk bildet den Ruin der Aristokratie ab und den Schiffbruch des Handelskapitalismus, mit der Multitude als der im wahrsten Sinne letzten Überlebenden. Das Meer erscheint organisch, lebendig, auf dramatische Weise über irgendeinem unter Wasser liegenden Hinderniss gespalten – vielleicht ein Teil des Schiffes –, das hatte ich bisher immer als dichterische Freiheit gedeutet, bis ich genau solche Effekte in den Hochwassern von New Orleans nach Katrina sah. Katrina hat einen gewaltsamen Zusammenstoß von Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukünften produziert. In When the Levees Broke wird von den afroamerikanischen Protagonisten wieder und wieder die Sklaverei in Erinnerung gerufen. So zum Beispiel von der Bewohnerin Gina Montana, die ihre Erfahrung, mit Gewalt per Bus aus der Stadt an einen unbekannten Ort gebracht zu werden, als Erwachen ‚einer uralten Erinnerung‘ des Versklavt-Werdens beschrieb. Fred Johnson, ein Organisator für The Black Men of Labor, erinnert sich an eine Diskussion mit einem seiner Freunde, in der beide darin übereinstimmten, dass Katrina von den Geistern der Afrikaner ausgelöst wurde, die auf der Middle Passage ums Leben gekommen und mit den Lebensbedingungen ihrer Nachkommen in New Orleans nun unzufrieden waren. Eine ‚logische‘ Erwiderung fragt, warum die Geister die afroamerikanischen Nachbarschaften zerstörten und nicht die der Nachkommen der Sklavenhalter – doch wer hat gesagt, Geister wären logisch? Der entscheidende Punkt ist, dass die Sklaverei und ihr Vermächtnis ein Sturm bleibt – sowohl für die atlantischen Weltnationen als auch für die Kritischen Studien. In aktuellen Untersuchungen zur Visuellen Kultur wurde Turners Gemälde Slavers Throwing Overboard the Dead and Dying, Typhon Coming On (1840) emblematisch für diese Theorie des Sturms.13 Das Gemälde stellt die berüchtigte Überfahrt des Sklavenschiffes Zong von 1781 dar, dessen Kapitän während eines Sturmes anordnete, 132 Afrikaner über Bord zu werfen, um das Schiff leichter zu machen und zugleich seinen Besitzern zu ermöglichen, Versicherungsansprüche wegen verlorengegangener ‚Ladung‘ geltend zu machen. Turner zeigt jenen Moment, in dem die mit Gewichten beschwerten Gefangenen gerade ins Meer geworfen werden – noch vor dem Versinken. Ketten, Hände, Arme

13 Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modernity and Double-Consciousness, Cambridge MA: Harvard University Press, 1993, S.13–14; Ian Baucom: Specters of the Atlantic: Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History, Durham NC: Duke University Press, 2005, S. 265–296.

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Nicholas Mirzoeff und ein Bein sind im Gefolge des Schiffes sichtbar, das auf die untere rechte Ecke ausgerichtet ist In seiner Erläuterung zitiert Ian Baucom Ruskins Kommentar über Turner, um seine Behauptung, es gebe keinen Punkt, von dem aus eine Identifikation mit diesen Körpern möglich sei, zu stützen: „we are not allowed to tumble into it, and gasp for breath as we go down“.14 Diese Form der Grenzüberwachung (border policing) argumentiert, es gäbe keine Betrachterposition innerhalb des Gemäldes, muss dazu aber Ruskins Überlegungen missinterpretieren. Denn sein machtvolles Zitat bezog sich auf Turners Darstellung des ruhigen Wassers und der Notwendigkeit, eine Oberfläche, die aus Reflektionen zusammengesetzt ist, darzustellen. Ruskin zufolge zeigt Turner das Meer bei stürmischem Wasser niemals vom Strand aus, sondern von einem Punkt aus, der zwanzig oder dreißig Meter im Wasser liegt: „the sensation of power is also trebled … the whole action is different; it is not a passive wave … but a sweeping exertion of tremendous and living strength“.15 Kurz gesagt, der Sturm ist Biomacht und Turner visualisiert ihn als solche vom Ort der Immersivität. In Slavers befindet sich der Betrachter weit draußen auf dem Meer, an einem von drei potenziellen Gesichtspunkten: Man kann aus der Sicht derer schauen, die gleich untergehen, jedoch noch nicht tot sind und noch in der Lage, vom Wasser aus zu sehen. Zweitens gibt es den Gesichtspunkt der Meereslebewesen, der Fische und der seltsamen Kreatur ganz rechts, deren Blick von Turner als Bestandteil des visualisierten Dramas gestaltet ist. Und schließlich gibt es jenen Ort, der von einer Lichtsäule markiert ist – den Ort von Benjamins Engel der Geschichte. Dieses Licht kann nicht die Sonne sein, es sei denn, sie repräsentierte das Voranschreiten der göttlichen Zeit, was in dialektischem Widerspruch zu jenem Augenblick der menschlichen Zeit stünde, der im Wasser zu sehen ist. Was in diesem Gemälde mitschwingt, ist Geschichtlichkeit, die Kommodifizierung von Menschen, die versicherungsmathematische Übertragung dieses Eigentums und die Verdoppelung von Visualitäten. Im Verständnis dieser von den Stürmen der Middle Passage geformten Geschichte sind die Körper immer am Punkt des Ertrinkens, noch nicht untergegangen, noch nicht vergessen. Das entsetzliche Schauspiel der Nachwirkungen des Hurrikan Katrina machte erneut deutlich, dass manche Leben höher be-

14 Ruskin 1903 [1843], wie Anm. 1, hier S. 539, Baucom 2005, wie Anm. 12, hier S. 292. 15 Ruskin 1903 [1843], wie Anm. 1, hier S. 562–564.

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Das Meer und das Land wertet werden als andere und dass die Unterscheidung nach wie vor rassifizierend erfolgt. Wieder einmal ist dabei der Kontext einer radikalen Transformation von Kapital maßgebend gewesen. Wenn Turners Repräsentation des Meeres zu einer Zeit entstand, in der der Industriekapitalismus an Kraft gewann, indem er das Meer zum Mittel globaler Zirkulation werden ließ, dann schlug Katrina zu einer Zeit zu, in der das Kapital derart vorherrschend geworden ist, dass es vorgibt, Natur zu sein. Mit anderen Worten, der Kapitalismus übt eine derart machtvolle Vorherrschaft aus und erscheint in solchem Ausmaß natürlich, dass die Menschen nur versuchen, seine Auswirkungen zu mildern, wie sie es mit den Stürmen und Unwettern der Vergangenheit getan hatten. Sogar der aktuelle Finanz-Crash wird oft als mystischer Erguss eines sogenannten Schuldenmeeres repräsentiert. So meinte etwa ein verwirrter Investor: „We are so dislodged from fundamentals, what we’re left to is just the vagaries of the oceans“ (New York Times: 11/18/08, B4). Auf ganz ähnliche Weise sollte auch in New Orleans eine ausgelagerte Nothilfe die unmittelbare Krise bewältigen, die dann vom ‚natürlichen‘ Vorgehen des Marktes bereinigt werden würde. Die Ruinen des afroamerikanischen New Orleans enthüllen dabei das Scheitern dieses Vorhabens, das globalisierte Kapital durch Natur zu ersetzen. Das von Smiths berühmter unsichtbarer Hand geführte ‚Leben‘ des Marktes erhält kein anderes Leben, ob nackt oder sozial, sondern versucht, nur sich selbst zu immer weiter ansteigendem Mehrwert zu klonen. Als Condoleeza Rice während der Katrina-Krise Schuhe einkaufen ging, führte sie die Polizei-Theorie des Kapitals vor, wie sie Jacques Rancière artikuliert: „The police say, there is nothing to see, nothing happening, nothing to be done, but to keep moving, circulating; they say that the space of circulation is nothing but the space of circulation.“16 Dieses Gewaltmoment lenkt die Aufmerksamkeit weg von dem, wovon wir zwar wissen, dass es da ist, das wir aber der beispielhaften ‚Rechtskraft‘ folgend nicht anschauen sollen. Katrina ist der Name eines Augenblicks, in dem dieser Machtanspruch ausnahmsweise seine Macht verfehlte, in dem die Bedürfnisse der Menge nach einem Anteil an den Biopolitiken inmitten der ganz elementaren Kraft der Biomacht Meer deutlich wurden.

16 Rancière, Jacques: Aux Bords de la Politique, Paris: La Fabrique, 1998, S. 217.

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Nicholas Mirzoeff

Abbildung 2: Film Still Spike Lee, When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts (USA, 2006)

Die auffälligste visuelle Antwort auf Katrina kam von Spike Lee. When the Levees Broke ist sowohl wegen seines außergewöhnlichen visuellen Stils als auch wegen seines Inhalts bemerkenswert. Der Film beginnt mit einer langen visuellen Sequenz über die Auswirkungen von Katrina, ohne jegliche Stimmen, Kommentare oder Interviews – vier Minuten, die jedoch viel länger empfunden werden. Lee hat der Montage, einem der ältesten Werkzeuge des modernen Films eine verblüffend neue Wendung gegeben, indem er sie explizit nicht dazu nutzt, Antworten zu liefern. Er erlaubt der Kombination aus Bildern, Worten und Musik, ihre eigene Visualität zu entfalten, welche die Schauenden inmitten der widersprüchlichen Interpretationen der Ereignisse platziert. Der Film versammelt eine Anzahl von Amateur- und professionellen Video- und Fotoaufzeichnungen der Ereignisse von August und Anfang September 2005, die durch nachträgliche Interviews mit jenen, die den Sturm erlebt hatten, miteinander verbunden sind. Durch die Abwesenheit einer Erzählstimme und die direkt in die Kamera gesprochenen Interviews wird dem Betrachter ein hohes Maß an visueller und kritischer Arbeit abverlangt. Deswegen und wegen der unauslöschlichen Wirkung all dessen, was gesehen und gesagt wird, scheint sich das vierstündige Stück zugleich mit großer Geschwindigkeit und großer Bedachtsamkeit zu entfalten. Es ist öffentliche Kunst höchster Güte. In einem dramatischen Segment diskutiert der Film eine der kontroversesten Fragen, die nach Katrina zirkulierten: Sind die Deiche gesprengt worden? In rapider Abfolge zeigt Lee sechs

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Das Meer und das Land afroamerikanische Bewohner, die berichten, so etwas wie eine Explosion gehört zu haben. Zwei Personen meinen, es gab keine Explosion. Dann erinnern sich ältere Leute an die Ereignisse um den Hurrikan Betsy von 1965 und bezeugen den weitverbreiteten Glauben, dass damals die Deiche in die Luft gesprengt wurden, um weiße Wohnviertel zu beschützen. Der sprichwörtliche Experte offeriert eine Erklärung, die zeigt, wieso ein unter Druck brechender Deich zwangsläufig wie eine Explosion klingt. Noch bevor man die Zeit hat, dies aufzunehmen, wird ein Archivfilm über tatsächlich gesprengte Deiche während des Hurrikan von 1927 gezeigt, in dem zu sehen ist, wie ein weißer Ingenieur schwarze Arbeitskräfte überwacht. John Barry, ein weißer Historiker, erklärt, dass diese Detonation mehr mit Klasse als mit Rasse zu tun hatte, denn sie betraf die Gemeinde St Bernard, wo meist Weiße wohnten. Doch das Archivfilmmaterial von Flüchtlingen, das gleich darauf gezeigt wird, zeigt vor allem afroamerikanische Menschen. In diesen dichten Sequenzen ist deutlich zu sehen, wie und warum sich der populäre Diskurs über Katrina in New Orleans formierte. Die Menschen glaubten, dass die Deiche absichtlich gesprengt wurden, weil sie wussten, dass dies in der Vergangenheit geschehen war und sich in der Geografie von New Orleans die Kategorien Klasse und Rasse anhand der relativen Höhe zum Meeresspiegel ablesen lassen. Wenngleich die Expertenmeinung zeigen kann, dass die Deiche 2005 nicht absichtlich zerstört wurden, macht der gesamte Film klar, dass dies aus mehreren Gründen durchaus hätte passiert sein können. In der Tat ist die Stadt mittlerweile zu einer kleineren, majoritär weißen Stadt geworden, die dazu beitrug, dass 2006 ein republikanischer Gouverneur in Louisiana gewählt wurde und die Demokratin Kathleen Blanco ersetzte, deren Hilfegesuch von einem parteilichen Weißen Haus verzögert wurde. Das ruinierte New Orleans ist von einem Standort, der einst 20 Prozent aller Exporte und Importe in die USA abwickelte17, zu einem viel kleineren, von Kaffeeimporten dominierten Handelsraum herabgestuft worden. Der Handel mit Rohöl und Petrochemikalien, der vormals in New Orleans abgewickelt wurde und die Haupteinnahmequelle bildete, wurde in den Hafen von South Louisiana verlagert, der weiter oben am Mississippi gelegen ist und globalen multinationalen Firmen einen gewerkschaftsfreien Aktionsraum bietet. Im Gegensatz dazu gibt es in New Orleans seit Jahrzehnten die International Longshoremen’s

17 Douglas Brinkley: The Great Deluge: Hurricane Katrina, New Orleans, and the Mississippi Gulf Coast, New York: William Morrow, 2006, S. 125.

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Nicholas Mirzoeff Union Local ILA 3000, deren Hauptaufgabe jetzt in der Organisation der Entlassungen ihrer Mitglieder besteht. Aus einer demokratischen, gewerkschaftlich organisierten afroamerikanischen Industriestadt ist eine weiße, republikanische Dienstleistungsstadt und ein Touristenziel geworden. Katrinas Biomacht ermöglichte diese neoliberale Transformation, die die Politik nicht aufzuführen vermochte. Katrina ließ New Orleans das Subjekt firmengeleiteter Kapitalisierung des urbanen Raumes werden und verlieh ihm den Ruf einer ‚sicheren‘ Suburbia. Angesichts dieser Ereignisse ist es schwer, Brinkleys zentrale Behauptung zu unterstützen, die betont, dass „Inkompetenz, nicht Rassismus den Schlüssel der Reaktion“ auf Katrina ausmacht.18 Während die meisten weißen Mitwirkenden bei When the Levees Broke (inklusive Brinkley) dieser These zustimmen, tat dies keiner der Afroamerikaner. Dass der Umstand, dass Menschen, die in Abwesenheit einer Zivilgesellschaft Waren für den persönlichen Gebrauch aus den Läden entnahmen, zu einem Rassenkrieg gemacht wurde, während gleichzeitig das Versagen der Hilfe als einfache Inkompetenz abgetan wurde, passte für sie nicht zusammen. Einen Kontrapunkt dazu stellt die Dokumentation Trouble the Water (produziert von Tia Lessin und Carl Deal, 2008) dar, in deren Zentrum das Camcorder-Material von Kimberly Rivers Roberts steht. Roberts filmte ihre Familie während des Sturms in der Lower Ninth Ward, bei ihrer darauf folgenden Odyssee nach Memphis und schließlich bei ihrer Rückkehr in die Stadt. Da Rivers die Videokamera zum ersten Mal benutzte, sind ihre Bilder verschwommen, beinahe ausgewaschen, und bilden einen starken Kontrast zur saturierten Farbe der Fernsehbilder, die ihre Arbeit am Anfang des Films konterkarieren. Es wird spürbar, dass während der gesamten Zeit der Fernseher an war, d. h. alle in der Nachbarschaft von der Gefahr wussten und nur die Mittel (oder wie Rivers sagt: der ‚Luxus‘) für die Evakuierung fehlte. Die Familie lebte wenige Blöcke vom Industriekanal entfernt und lief, als Katrina hereinbrach, relativ früh Gefahr, überschwemmt zu werden. Während alle Angehörigen auf den Dachboden klettern, erreicht das Wasser bereits das Fenster im zweiten Stock. Mit seiner simplen Holzrahmenkonstruktion, dem engen Raum und dem schwachen Licht erinnert mich dieser Dachboden, der sich zunehmend mit afroamerikanischen Menschen füllt, an die Middle Passage. Dieser Anblick ist ernüchternd und fesselnd zugleich. Bemerkenswert ist dabei, dass es keine Panik in der Szene gibt. 18 Brinkley 2006, wie Anm. 16, hier S. 618.

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Das Meer und das Land Geschickt ermöglicht Scott Roberts die Räumung aller aus dem Dachboden in ein nahe gelegenes zweistöckiges Haus, indem er einige Fässer zu Flößen umfunktioniert. Eine Rekonstruktion zeigt im Anschluss, wie eine Gruppe ansässiger Überlebender nach Unterschlupf suchend zu einer nahegelegenen US-MarineAkademie zieht, einem vierstöckigen Gebäude, nur um dort von einer ca. zwanzigköpfigen bewaffneten Truppe davongejagt zu werden. Dass Präsident Bush die Wächter später für ihre Taten und ihren Mut auszeichnete, zählt keineswegs zu den urbanen Mythen, wie der damalige Lieutenant-Governor von Louisiana, Mitch Landrieu, solche Begebenheiten in When the Levees Broke nennt. Die Familie Rivers Roberts schaffte es schließlich, sich mit einem Lastwagen, der ihnen angeblich dafür zugewiesen worden war, zu retten. Hinsichtlich all des Aufsehens, das in Bezug auf Eigentumsrechte gemacht wurde, klärt der Film darüber auf, dass solche Selbsthilfe-Aktionen, unterstützt durch Gebet und Selbstermächtigungsstrategien, erheblich dazu beigetragen haben, die Zahl der Toten durch den Hurrikan relativ niedrig zu halten. Während ich Lees Film sah, bemerkte ich, dass der CNN über Katrina unter der Rubrik ‚Ausnahmezustand‘ berichtete. Die Definition eines solchen Moments lautet, ‚Notwendigkeit kennt kein Gesetz‘. Wenn dieses Diktum des Römischen Gesetzes gilt, um Kriegsrecht auszurufen, dann gilt es auch für Menschen, die LKWs an sich nehmen, um zu überleben, oder Kettensägen, um Hilfebedürftige zu retten. Als Metonymie für die gesamte Krise sollten wir uns das Wasser selbst anschauen. In Trouble the Water ist während der Sturmszenen zu sehen, dass das Wasser klar und sauber ist. In When the Levees Broke zeigen die Rettungssequenzen jedoch bräunlich-schwarzes Wasser, das häufig als toxisch beschrieben worden ist. Die Annahme, dass Abwasser ins Wasser gelangt ist, vermischt sich hier mit dem uralten Vorurteil gegenüber Armen und ethnisch Anderen, sie seien schmutzig, was auf unartikulierte, unausgeformte Art und Weise für den Zustand des Wassers verantwortlich gemacht wird. Tatsächlich war die Hauptursache sowohl für den Schmutz als auch für die Toxizität das Rohöl. 743.400 Gallonen Öl liefen in der gesamten Golfregion während der beiden Hurrikans Katrina und Rita aus. (Um das in Relation zu setzen: 100.000 Gallonen werden als Ölpest gewertet und die oben genannte Menge beträgt etwa die Hälfte des Exxon-ValdezDisasters.) Rohöl ist toxisch und verbrennt die Haut. Die Lecks resultierten aus dem Unvermögen der Ölfirmen, ihre Tanker trotz der langfristigen Sturmprognose effizient abzuziehen. Und den-

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Nicholas Mirzoeff noch waren es die mittellosen, meist afroamerikanischen Stadtbewohner und nicht die oftmals unsichtbaren Raffineriefirmen, die getadelt wurden, weil bei ihnen die Evakuierung scheiterte. Das Meer ist eine Figur der Biomacht und ein Disput innerhalb ihres Regimes. Steuerung ist Regierung in der alten Metapher vom Staatsschiff. Aus dem gleichen Grund ist das Sehen des Meeres jetzt ein kybernetisches (kyber von kubernetes (Griechisch), Steuermann oder Gouverneur): Es wird von miteinander in Verbindung stehenden, digitalen Maschinen bewerkstelligt, es ist ein komplexes System und es ist der Lokus der Navigation. Wie wir gesehen haben, ist das Meer biokybernetisch, womit gemeint ist, dass es lebendig ist, beziehungsweise wir glauben, dass es lebendig ist. Wir geben seinen Stürmen Namen, verfluchen sie und begraben sie, wenn sie vorbei sind. In diesem Zusammenhang nannte Norbert Weiner die Kybernetik „das gesamte Feld der Kontroll- und Kommunikationstheorie, ob bei Maschine oder Tier.“19 Ich würde argumentieren, dass das Leben als etwas verstanden werden sollte, das Foucault den ‚historisch-politischen‘ Diskurs nennt. Mit anderen Worten, alles Leben ist soziales Leben und innerhalb von Biopolitiken umkämpft. Gleichzeitig ist Katrina eines von vielen Ereignissen, die deutlich gemacht haben, dass die Bedrohung sämtlichen Lebens mittlerweile global ist und sowohl das Tier- und Pflanzenleben als auch das menschliche Überleben betrifft. Der Klimawandel ist ebenso ein Produkt menschlicher Biopolitik, doch die Antwort darauf erfordert eine Revolution biopolitischer Angelegenheiten, die mit einer militärischen Revolution übereinstimmt und ihr gleichzeitig entgegentritt. Zur selben Zeit ist die für diese Revolution erforderliche Visualisierung des Planeten genau die Domäne des Lebens der Bilder. Es ist höchste Zeit, das Meer zu sehen. Aus dem Englischen übersetzt von Marco Atlas

A BBILDUNGEN Abbildung 1-2: Film Stills Spike Lee, When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts (USA, 2006)

19 Mitchell, W.J.T: »What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images.« Chicago: University of Chicago Press, 2005, S. 313.

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Savoir. Revoir. Déjà vu Kommentar zu Nicholas Mirzoeff: Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina

LINDA HENTSCHEL

Lange Zeit glaubte ich nicht an ein Leben der Bilder. Vor einigen Jahren allerdings begann diese Idee mich zu verführen – und tat es immer wieder. Obwohl mir die Vorstellung einer Bildern intrinsischen Kraft immer noch suspekt ist, kann ich nur schwerlich bestreiten, dass einige von ihnen mich nicht losließen und, oft ohne Zustimmung meines Willens, mich am Weitergehen hinderten. Ich könnte natürlich solche Momente im Nachhinein rational erklären: Mein Blick wurde durch diese oder jene für mich neue Perspektive geschärft, sodass es kein Wunder war, dass ich beim Durchstreifen der visuellen Kultur an einer Stelle anhielt, die meine Neugierde berührte. Dann hätte ich ein Bild gefunden gehabt. Was aber, wenn das Bild mich gefunden hatte? Wenn es mir von anderswo zufiel, sich ungefragt in meinem Leben einrichtete, ich es willentlich nicht übersehen konnte, weil es mich anblickte, mich bestach und wie ein Gast eine Zeit, von der ich nicht wissen konnte, wie lange sie dauern würde, begleitete? Es sind jene Augenblicke des flüchtigen Erinnerns, in denen wir uns selbst fremd werden, weil uns etwas/jemand sehr nahegekommen ist. Je intensiver diese Blicke mich treffen, desto ferner scheint ihr Ort, von dem aus sie mir entgegenkommen. Weder vertraut noch fremd ist mir so, als wüsste ich etwas über sie, als hätte ich sie schon einmal gesehen. Zwischen Savoir und Revoir funkelt ein Déjà vu. Es ist ein Geheimnis, das nicht mir, jedoch zu mir gehört und das ich, weil es sich nicht mitteilen lässt, mit anderen teile. Ein Déjà vu kann ein geheimnisvolles Ereignis gewesen sein und es wird immer in einer geheimen Beziehung zu mir stehen.

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Linda Hentschel

Abbildung 1: Anzeige der Klima-Allianz, Süddeutsche Zeitung, 10.12.2008.

Ende 2008 wurde ich bei meinen Streifzügen durch die westliche visuelle Kultur beim Anblick einer Anzeige der Klima-Allianz wieder einmal in ein Déjà vu verwickelt. Diese Allianz, bestehend aus über 100 internationalen Umweltorganisationen, startete im Dezember 2008 einen Aufruf an die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (Abb. 1). Sie wurde darin aufgefordert, einen Blick zurück in die Zukunft des globalen Klimawandels zu riskieren. Ich hatte gerade Nicholas Mirzoeffs Artikel über Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina1 gelesen und war dabei, einen Text von Silke Wenk, den sie mit Rebecca Krebs über The Migration of People and Images2 verfasst hatte, wieder zu lesen. Aus meinem Re-lire wurde ein Relais. Denn auch Silke Wenk hat1 2

Vgl. Nicholas Mirzoeff: »Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina«, in diesem Band. Vgl. Silke Wenk mit Rebecca Krebs: »Analysing the Migration of People and Images: Perspectives and Methods in the Field of Visual Culture«, 2007.http://www.york.ac.uk/res/researchintegration/Integrative_Research_ Methods/Wenk%20Visual%20Culture%20April%202007.pdf vom März 2010.

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Savoir. Revoir. Déjà vu te sich, wie Nicholas Mirzoeff, mit Relationen zwischen globalisierten Regierungstechniken und kulturellen Machtverhältnissen, Biopolitik und Entmenschlichung, dem Mythos ozeanischer Grenzenlosigkeit und maritimer Territorialherrschaft, dem Überdauern und Untergehen auf dem Feld des Visuellen beschäftigt. In jener Situation kam diese Anzeige zu mir, deren apokalyptisches Sintflut-Szenario in Berlin spielte, für Silke Wenk kein Ort des trennenden au revoir, sondern des wiederkehrenden à revoir (… à mon savoir …), und die Kritik an einer Politikerin übte – oder sollte ich sagen, an der weiblichen Verkörperung der deutschen Klimapolitik? Dies zu entscheiden, würde ich gerne der ausgewiesenen Allegorikerin überlassen. Was ich vielmehr sagen möchte ist, dass mir mit diesen Texten und dem Bild eine Frage zugefallen war: Wie war das Verhältnis von See, Flut und bloßem Leben in der aktuellen westlichen visuellen Kultur zu denken und warum repräsentierte gerade das bewegte Wasser sogenanntes nacktes Leben? In Nicholas Mirzoeffs Text finden sich einige Überlegungen dazu. Nicht nur betont er die Funktion der See in der visuellen Kultur der Moderne als Grenze der Repräsentation und Krise der Imagination, sondern erkennt auch ihre politische Bedeutung als Begrenzung und Herausforderung gouvernementaler Regierungstechniken. Er skizziert die Geschichte des Seerechts seit dem 17. Jahrhundert und legt dar, wie der Status der See zwischen privat und öffentlich, Hoheitsgebiet und Allgemeingut, kultivierbarbeherrschbar und natürlich-tödlich oder Teil des Empire und Reich der Götter changierte. Mirzoeff bezieht sich dabei auch auf Jacques Rancières Begriff der Politik. Die See ist politisch, schreibt er, weil sie sich tendenziell der Regierbarkeit entzieht und den Willen zum Regieren genau dadurch erst anstachelt. Mit Michel Foucault könnte man die See auch eine Heterotopie nennen,3 und nicht zufällig taucht darin das Schiff als ein anderer Raum auf. Hier werden Machtverhältnisse gleichermaßen stabilisiert wie irritiert. Die See repräsentiert demnach das latente Un/Vermögen, das jeglicher Souveränität innewohnt, und sie tut dies insbesondere in der Metapher der Flut, wie uns die Bilderpolitik über Hurrikan Katrina erneut bestätigte. Dass nach Katrina New Orleans keine demokratische afro-amerikanische Stadt mehr

3

Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 34–46.

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Linda Hentschel ist, sondern eine republikanisch weiße Topografie, mögen einige Kollateralschaden nennen. In ihrem Text über die Migration von Menschen und Bildern wandte sich Silke Wenk der polizeilichen Seite der See zu, um in Rancières Vokabular zu bleiben. In Die Aufteilung des Sinnlichen4 ist die Polizei der Politik entgegengesetzt. Die Polizei versucht mit aller Macht, Ordnung zu halten, Souveränität zu behaupten, unerwünschte Wanderungen – ob nun von Menschen oder medialen Bildern – zu regulieren. Deshalb ist es kein Zufall, wie Silke Wenk zu Recht betont, dass ein Großteil der Darstellungen afrikanischer Flüchtlinge der Perspektive des weißen, europäischen Küstenaufsichtspersonals entspricht. Oft von oben aufgenommen, dem grellen Licht des Scheinwerferlichts ausgesetzt, werden die zumeist männlichen Migranten zu Gesehenen, ohne selbst sehen zu können – eine Lichtregie, die wiederum nicht zufällig an panoptische Sichtbarkeitsverhältnisse erinnert. Macht regiert visuell, sie will zu sehen geben: Das Boot ist voll. Diese Bilderpolitik erinnert an die alte Metapher des Staates als Schiff und des Steuermanns als Staatsoberhaupt, der sein Volk zu navigieren weiß und in den sicheren Hafen der Nation geleitet. Eine Nation, die nicht erst seit der Globalisierung des Kapitals, der Migration vieler Menschen, der Festsetzung anderer Menschen in Konzentrations-,Auffang- und Gefängnislagern sowie der Herausforderung eines Empire durch planetarische Bedrohungen wie Flut, Tsunami oder Hurrikans die nachträgliche, utopische, rassistische, melodramatische Konstruktion eines Ortes der verlorenen Unschuld war und bleiben wird. Bei diesen visuellen Techniken der Geburt einer Nation angekommen, fragte ich mich, was es bedeuten soll, wenn Klimakatastrophen, nacktes Überleben und Schwarz-Sein immer wieder medial aneinander gekoppelt werden? Gab es hier vielleicht eine Parallele zur Konstruktion des islamistischen Schurken in aktuellen Kriegen? Inwiefern sollte weiße, heteronormative Männlichkeit die Rettung der Nation, der Freiheit, der Welt von dem ganz anderen repräsentieren? In welchem Verhältnis stünden dann eine westliche Schaupolitik der Entschleierung arabischer Frauen und eine islamische Zensurpolitik der Wiederverdeckung weißer Weib-

4

Vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2006.

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Savoir. Revoir. Déjà vu lickeit, wie sie in einer von Wenk aus Indonesien reimportierten Ausgabe der Zeitschrift Spiegel zu sehen gegeben wird (Abb. 2)?5

Abbildung 2: Westliche Lebenswirklichkeit, Spiegel, 2.2.2006 (Ausgabe Indonesien).

Wie tragen Sichtbarkeitsverhältnisse dazu bei, dass bestimmte Leben und Tode betrauernswerter als andere erscheinen sollen? Begründe ich meine Freiheit auf dem Zwang anderer? Wenn ich dies nicht will, wie könnte ich dann ein kritisches, ein ungehorsames Sehen innerhalb neoliberaler Bilderpolitiken intensivieren? Ein Jahr später, im Januar 2010, halte ich wieder ein Exemplar des Spiegel in der Hand.6 Auf dem Titelblatt ist eine schwarze Frau in Großaufnahme zu sehen; mit ihrer Hand verbirgt sie ihr Gesicht und ihre Tränen. Ein starkes Erdbeben hatte Haiti erschüttert und über 200 000 Menschen das Leben gekostet. Über dem Kopf der Frau steht weiß wie ihr T-Shirt: „Ein Land stirbt“. Es trifft mich wieder ein Moment des re/sa/voir, das mich bereits an den ungehorsamen Texten von Nicholas Mirzoeff und Silke Wenk bestach: die Metonymie von Topografie und Weiblichkeit, von bloßem (Über)Leben und schwarzer Haut, von weißen Masken und Sichtbarkeitsverhältnissen der Melancholie, nicht aber der Trauer.

5

6

Vgl. Silke Wenk: »Sichtbarkeitsverhältnisse: Asymmetrische Kriege und (a)symmetrische Geschlechterbilder«, in: Linda Hentschel (Hg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin: b_books 2008, S. 31–49. Spiegel, Nr. 3, 18.1.2010.

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Linda Hentschel

Abbildung 3: Die Frau, die aus Wasilla kam, Spiegel, 18.1.2010, S. 95.

In der Mitte des Heftes werde ich noch einmal angehalten, weil mir ein Bild zufällt und mich am Weitergehen hindert. Es ist Sarah Palin (Abb. 3). Da steht sie, eine Mischung aus Cranachs Eva, Miss Alaska und Marcia Cross aus Desperate Housewives, in dunkelblauen Hotpans, rotem Sportshirt und weißen Turnschuhen. Da, wo sonst Adam steht, hängt ein in ebensolchen Farben gehaltenes Fähnchen am Fenster: U.S. Army Track Palin. Auf der anderen Seite wiederholt sich das Farbenspiel in einem lässig über den Stuhl geknautschten Stars-and-Stripes-Stillleben. Palin lehnt sich lächelnd an, hält souverän gleich zwei Blueberrys in der Hand, während hinter ihr ein alaskisches Gewässer friedlich, glatt und sanft seine Oberfläche den Wäldern als Spiegel leiht. Mein Déjà vu im Angesicht dieser Situation: Der Bodensee ist fern.

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Savoir. Revoir. Déjà vu

A BBILDUNGEN Abbildung 1: Anzeige der Klima-Allianz, Süddeutsche Zeitung, 10.12.2008. Abbildung 2: Westliche Lebenswirklichkeit, Spiegel, 2.2.2006 (Ausgabe Indonesien). Abbildung 3: Die Frau, die aus Wasilla kam, Spiegel, 18.1.2010, Nr. 3, S. 95.

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Das ethische Regime der Bilder oder: Wie leben Bilder? Kommentar zu Nicolas Mirzoeff: Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina

SABINE HARK

Nicolas Mirzoeff bearbeitet in seinem Text Das Meer und das Land: Das Leben der Bilder nach Katrina neben vielem anderen die wichtige Frage nach dem Leben der Bilder. Nach dem Leben der Bilder zu fragen, setzt indes bereits voraus, dass Bilder leben. Übersprungen wird damit die vielleicht erste Frage in diesem Zusammenhang: Leben Bilder? In welcher Hinsicht kann davon gesprochen werden, dass Bilder leben? Gemeinhin klassifizieren wir Bilder als der Dingwelt zugehörig. Sie gehören – vermeintlich? – dem an, was wir die unbelebte Natur, die Welt der ‚toten Dinge‘ nennen. Demzufolge leben Bilder nicht. Sie bedeuten zwar, wir schreiben ihnen Bedeutungen zu, auch organisieren sie Wahrnehmung, aber ‚leben‘ tun sie nicht. So sieht es jedenfalls der Alltagsverstand. Die Bildwissenschaften sind da anderer Meinung. Sie liefern überzeugende Argumente, warum es sinnvoll ist, vom ‚Leben der Bilder‘ zu sprechen, so schon der britische Künstler und Kunstkritiker John Berger in seinem gleichnamigen Buch Anfang der 1980er Jahre.1 Wenn aber die Bilder leben, genügt es nicht, sie beispielsweise hermeneutisch zu entschlüsseln und nach ihrem Sinn zu fragen, sie ästhetisch zu beurteilen oder kunsthistorisch und -wissenschaftlich zu analysieren. Vielmehr gilt es zu fragen, was es heißt, dass sie leben oder genauer: zu fragen, wie sie leben. Und das heißt letztendlich zu fragen, was Bilder wollen und tun. 1

John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin: Wagenbach 1981.

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Sabine Hark Genau so hat der US-amerikanische Kunsthistoriker W. J. T. Mitchell die Frage nach dem Leben der Bilder ausbuchstabiert: „What do pictures want“, fragt er in seinem gleichlautenden Buch.2 Mitchell plädiert hier für eine Poetik der Bilder, die sich diesen in der Tat so zuwendet, als würde es sich bei ihnen um lebendige Wesen mit eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Begierden handeln. Und er spricht den Bildern nicht nur Leben, sondern sogar eine Art Subjekt-Status zu. Sie sind im Latourschen Sinne ‚Akteure‘, nicht passive Objekte der Betrachtung, aber auch nicht souveräner Ursprung von Handlung. „Akteur ist, wer von vielen anderen zum Handeln gebracht wird“, so Bruno Latour.3 Bilder werden durch einen solchen Zugriff selbst sichtbar als machtvoll handelnde Entitäten. Sie sind aktiv, sie verlangen etwas von denen, die sie betrachten. Eben weil sie leben, fordern sie Reaktionen von uns, sie provozieren und verführen und benehmen sich manchmal so gar nicht wie tote Gegenstände. Bilder bilden nicht ab, was jenseits von ihnen ist, sie schaffen erst das, was sie uns zu sehen geben. Bilder intervenieren, sie vereindeutigen, sie stellen her, was sie zeigen, sie sind beteiligt am Umschlag von (anzweifelbarem) Wissen in (unhintergehbare) Faktizität, an der Transformation von subjektivem in objektiven Sinn, an der Produktion und Stabilisierung wissenschaftlichen Wissens. Bilder sind zudem produzierende und reproduzierende Medien des kulturellen Gedächtnisses; sie konditionieren Sehweisen, prägen Wahrnehmungsmuster, transportieren historische Deutungsweisen und organisieren die ästhetische, aber auch und vielleicht vor allem die ethische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit. Kurzum: Bilder sind, mit Nelson Goodman gesprochen, Welterzeuger, nicht Weltabbilder.4 Das mag prima vista banal erscheinen, kann aber in der visuellen Ära, in der wir leben, eine Ära, in der insbesondere durch die allzeit und alltäglich verfügbare digitale Foto- und Videografie Bilder den Charakter des Authentischen und Unmittelbaren wiederzugewinnen scheinen, nicht oft genug betont werden. Bilder als Welterzeuger zu betrachten, sie, wie Mitchell sagt, als lebendige Wesen zu verstehen, die etwas 2

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W. J. T. Mitchell: What do pictures want?, Chicago Ill. u.a.: University of Chicago Press 2005 (dt.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München: Beck 2008). Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 81. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984.

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Wie leben Bilder? (von uns) wollen, bedeutet darüber hinaus aber vor allem, zu fragen, welche Welt sie für uns je erzeugen. Also zu fragen, wen und was sie uns zu sehen geben, wen und was sie für uns verständlich machen, wie sie uns in Bewegung setzen, in welcher Weise sie uns Anlass geben, uns (um andere) zu sorgen, aber auch uns (von ihnen) abgestoßen zu fühlen, ob, wie und wem gegenüber sie uns empfindsam machen – und nicht zuletzt, wem sie die Chance „zur Darstellung, insbesondere zur Selbstdarstellung“ bieten, wodurch diese „eine bessere Chance haben, vermenschlicht zu werden“.5 Nach dem Leben der Bilder zu fragen, danach zu fragen, was sie wollen und tun, in welches Netzwerk von Aktivität, das uns so oder anders handeln macht, sie eingebunden sind, ist, mit anderen Worten, die Frage nach dem „ethischen Regime der Bilder“, wie Jacques Rancière es genannt hat, insofern „die Seinsweise der Bilder das ethos, also die Seinsweise der Individuen und der Kollektive betrifft“.6 Ethos steht dabei nicht nur für das Verhalten Einzelner, sondern vor allem für das Gefüge moralischer Verhaltensweisen, die die Gemeinschaft, in der eine lebt, konstituiert, integriert und stabilisiert und durch das diese Gemeinschaft sich zugleich von anderen Gemeinschaften abgegrenzt. Es ist Judith Butler, die diese ethische Dimension auch in Bezug auf Visualität und die Politik der Bilder in jüngster Zeit wohl am dringlichsten formuliert hat. Ihr Denken kreist dabei zentral um die Frage, wer als Mensch zählt, welche Leben als Leben zählen, welche Leben wir wahrnehmen, welche wir in Betracht ziehen und anerkennen als Leben. Was heißt es, ethisch empfänglich zu sein, das Leiden anderer zu berücksichtigen, welche Leben finden wir der Trauer wert, welche nicht? Und schließlich: Welche Rolle spielen Bilder in diesem Zusammenhang? Das sind keine kleinen, sondern sehr große, wenn nicht die großen – ethischen – Fragen unserer Zeit. Was hier auf dem Spiel steht, ist, wie Butler überzeugend darlegt, die Frage menschlicher Intelligibilität und deren Regulierung. Es ist die Frage, „was ein anerkennungsfähiger Mensch ist und was nicht als anerkennungsfähiger Mensch bezeichnet oder betrachtet werden kann, was also als Figur des Nichtmenschlichen zu gelten hat“7, und wie das Feld wahrnehm-

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Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 167. Jaques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2006, S. 36. Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/Main: Campus 2010, S. 65.

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Sabine Hark barer Realität organisiert ist, das festlegt, was als menschlich gelten kann. Dass die Frage, wer als menschlich gelten kann und wie jenes ‚ethische Regime der Bilder‘ hier regulierend eingreift, die vielleicht wichtigste Frage unserer Zeit ist, gilt sowohl im Angesicht der zahllosen Kriege, in die die Welt derzeit verwickelt ist, als auch im Licht der staatlichen und nicht-staatlichen Gewalt, die wahlweise im Namen (westlicher) Freiheit oder göttlicher Bestimmung, der Sicherheit und Souveränität von Nationen und Ethnien, dem Selbstbestimmungsrecht von Religionen und Kulturen oder zur Verteidigung säkularer bzw. nicht-säkularer Werte ausgeübt wird. Es gilt auch und gerade, weil wir in der Tat und tagtäglich überflutet werden mit Bildern, die jegliche Art von Gewalt, Krieg und Terror zeigen, weil wir übersättigt sind mit Bildern, die uns Menschen in Verhältnissen zeigen, in denen selbst die basalsten Güter – Unterkunft, Nahrung, Zugang zu Wasser und Hygiene, körperliche Unverletzlichkeit – fehlen, ebenso mit Bildern sogenannter Naturkatastrophen und deren nachteiligen Auswirkungen für menschliches (ebenso wie tierisches und pflanzliches) Leben – und dies oft genug, ohne dass wir bewegt werden. Die Frage, der wir uns daher nicht nur zuwenden müssen, ist, wie Silke Wenk und Rebecca Krebs in ihrem Text Analysing the Migration of People and Images: Perspectives and Methods in the Field of Visual Culture schreiben, „wie Bilder in die (Re)Produktion von Machtbeziehungen verwickelt sind“.8 Wie sie, mit anderen Worten, Ontologien regulieren, wie sie daran beteiligt sind, Bevölkerungen aus der polis heraus zu definieren und wie personifizierte Bilder benutzt werden im Dienst der Dehumanisierung. Wir müssen vielmehr, so möchte ich vorschlagen, noch viel weiter gehen. Denn worum es auch geht – und dies gerade angesichts der überbordenden Menge an Bildern von Gewalt – ist, zu fragen, welche Art von Bildern uns bewegen (könnten), jene Leben wahrzunehmen und zu betrauern, die nicht zu ‚uns‘, sondern zu ‚denen‘ gehören. Es ist in aller Kürze die Frage danach, ob und wenn ja welche Gegenvisualität die Aufgabe erfüllen könnte, uns zu „Aufständen auf der Ebene der Ontologie“9 zu bewegen. Wie kön8

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Silke Wenk und Rebecca Krebs: Analysing the Migration of People and Images: Perspectives and Methods in the Field of Visual Culture, 2007 (http://www.york.ac.uk/res/researchintegration/Integrative_Research_ Methods/Wenk%20Visual%20Culture%20April%202007.pdf) Judith Butler: »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi und Tilo Wesche, Was ist Kritik?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 225.

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Wie leben Bilder? nen wir – und es ist unzweifelhaft, dass dies geschehen muss – dominante Formen der Repräsentation so stören, dass wir fähig sind, die Prekarität und Verletzlichkeit von Leben sowie die wechselseitige Abhängigkeit des einen von einem anderen Leben wahrzunehmen? Welche Repräsentationen mobilisieren unsere Fähigkeit, zu sorgen und zu trauern, sodass wir jene Empfindsamkeit für Leben gewinnen, die uns dazu bewegt, uns Gewalt in all ihren Manifestationen zu widersetzen? Wie, mit anderen Worten, können wir anders imaginieren?

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Im Auge des Piloten. Ordnungen des Territorialen in der Aeropittura des Futurismus IRENE NIERHAUS

Das Beschauen der Erde, das Vermessen des Territoriums, das Kontrollieren des Bodens ist historisch an Sehtechnologien gebunden, die ihren Ursprung oft in militärischen Verfahren haben, wie der Militär- oder Kavalierperspektive. Diese Verbindung von Sehtechnologien mit instrumenteller und politischer Macht ist seit den 1990er Jahren und den neuen elektronischen Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung ausgehend von Michel Foucaults Panoptikumsparadigma in der Diskussion.1 Wenngleich weite Bereiche der Diskussion zur tendenziellen Gegenüberstellung und problematischen Spaltung von Auge/Blick/ Bild/Macht und Körper/Bewegung/Raum/‚Eigentlichkeitʻ geführt haben2, sei hier auf die visuelle Organisation des Territorialen als Geste der Fixierung von Herrschaft eingegangen.

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Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992. Zur mannigfaltigen Auseinandersetzung mit der Thematik und zur Weiterentwicklung siehe u. a. Tom Holert: »Visual, Virtual, Visceral Culture: Im Cockpit der Wahrnehmung ca. 1999«, in: Texte zur Kunst, Juni 1999, 9. Jg. Heft 34, S. 68–85. In der Videokunst gibt es eine Vielzahl von Beiträgen, z. B. zur Problematik der Überwachungskameras. Vgl. z. B. Michel De Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988; siehe auch eine Reihe der Performanztheoreme. Zur Kritik dieser Spaltung s. Irene Nierhaus: »Landschaftlichkeiten. Grundierungen von Beziehungsräumen« in: Irene Nierhaus/Josch Hoenes/Annette Urban (Hg.), Landschaftlichkeit. Forschungsansätze in Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer, 2010.

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Irene Nierhaus Das panoptische Paradigma bezeichnet das zentrierte Überblicken und Erzeugen eines permanenten Sichtbarkeitszustandes als generelle Methode der Macht, Kontrolle und Disziplinierung der Neuzeit. Im 19. Jahrhundert wird im Zuge der Verräumlichung der bürgerlichen Gesellschaft und im Umbau der Städte zum modernen bürgerlichen Darstellungsraum die auf den Regeln des perspektivischen Sehens basierende Raumauffassung durchgesetzt. Deutlich wird das in dem auf dem Sichtbarkeitsprinzip fußenden modernen Städtebau und seiner räumlichen Organisation von Bevölkerungsmassen.3 Im Städtebau geht es gesellschaftspolitisch darum, große Menschenansammlungen – die im Staat demografisch Bevölkerung und in der Nation ins Imaginäre verpflichtend Volk genannt werden – in einem Raum der (Re)Produktion räumlich zu ordnen, d. h. Biopolitik zu verräumlichen.4 Der Konnex von Sehen und großem Raum (und weitem Horizont) ist mit der Moderne seit 1800 jedoch generell in die Repräsentation von Staat, Nation und Öffentlichkeit eingegangen. Das im Panoramatischen in einer miniaturisierten Ansicht fassbar gemachte jeweilige Totale – genauso wie sein herausfokussierter Teil durch den skopisch vergrößerten Einblick – sind Bausteine des bürgerlichen (Ver)Handlungsraumes und zeigen diese visuellen Formen der Horizonterfahrung auch als politische an. Das Panoramatische ist ein kontemplativ und kreativ vorgeführter Distanz- und Fernraum, der sich für die großen Ordnungen (Nation, Weltgeist, Schöpfung …) im Kontext von Verbürgerlichungsvorgängen neu formuliert hat. Es wird in Referenz zu einem Übergeordneten und gesellschaftlich Visionären entwickelt, an dem partiell Teil genommen werden kann. Das sich darin aufhaltende, von Sigmund Freud als „ozeanisch“, „unbegrenzt“ und „schran-

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Das geläufigste Beispiel dafür ist die ‚Haussmannisierungʻ von Paris, in der die alte Stadtmasse mit linearen, kanalisierenden Blickachsen (Korridorstraßen) durchkreuzt und potenzielle Übersichtlichkeit hergestellt wurde. Im Überblick, der an den Blick von oben gekoppelt ist, wird ein bildhaft erfassbarerer Stadtraum entwickelt, „etwas Ähnliches wie ein Faksimile, das Raumplaner, Stadtplaner und Kartografen durch eine Projektion erzeugen [...]. Die Panorama-Stadt ist ein ‚theoretisches‘ (das heißt visuelles) Trugbild, also ein Bild.“ M. de Certeau: Kunst des Handlens, S. 181. Vgl. Städtebau und Biopolitik am Beispiel des Wohnbaus nach 1945. Irene Nierhaus: »Grün/Plan. Landschaft und Re-Territorialisierung im Wohnbau des Wiederaufbaus«, in: Annette Maechtel/Katrin Peters (Hg.), „Die Stadt von Morgen“. Beiträge zu einer Archäologie des Hansa-Viertels Berlin, Köln: König, 2008, S. 66–77.

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Im Auge des Piloten kenlos“ beschriebene Gefühl von Einheit5 richtet sich auch auf die Verschmelzung des Subjekts mit einem imaginären und transzendentalen Ganzen, jenem von Gemeinschaft und Nation. Dieses moderne Panoramatische musste als neue Wahrnehmungsweise, um wirksam zu sein, erst verbreitet und erlernt werden. Das zeigt sich in der Fülle und Vielfalt der im perspektivischen Apparat der Stadt entwickelten urbanen Bildräume und seinen neuen Orten des Überblicks. So etwa in Darstellungen der bildenden Kunst, Illustration und Fotografie oder in den Panoramen, jenen spektakulären aus der Theater- und Prospektmalerei kommenden Rundbauten, in denen Stadt-, Landschafts- oder Schlachtenbilder als gleichsam begehbare Bildräume ausgestaltet wurden. Die impressionistische Malerei entwickelte ein breites Repertoire an panoramatischen Überblicken (z. B. Camille Pissarro, Avenue d’Opera, 1897) wie skopischen Einblicken (z. B. Gustave Caillebotte, Verkehrsinsel) als neue Blickweisen des Städtischen. Und das bürgerliche Territorium wurde von regelrechten Aussichtsarchitekturen und Blickstandpunkten durchsetzt: die Aussichtswarte am Berg, die Panoramastraße, der Aussichtsturm oder die Aussichtsterrasse mit Sucherblick durch das Fernrohr. Diese Bilder und Orte setzten in der auf Integration zielenden bürgerlichen Gesellschaft auf Teilhabe der BürgerInnen: Ein Blick vom Aussichtsturm, ein Gang auf die Aussichtswarte, eine Fahrt auf der Panoramastraße oder ein Blick auf die massenweisen Stadtbilder am Postkartenstand oder im Stadtmuseum. So sind Stadtbilder, -images und -identitäten reproduktiv im Umlauf. Das Prinzip der Teilhabe soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Autorschaft und Autorität über das im Panoramatischen Festgestellte nicht einfach teilbar sind. D. h., wir können Postkarten verschicken oder als jämmerliche Trugbilder zerreißen, doch die Autorschaft über die Bildherstellung bleibt eine Frage der sozialen und kulturellen Hegemonie. Es sind bestimmte Protagonisten, die diese Blickmächtigkeit als Auftrag im Sinne einer die Öffentlichkeit (als vermeintlich Ganzes einer Gesellschaft) repräsentierenden Aufgabe innehaben und die als Autoren dieses Blicks und seines Raumes gelten, so z. B. Planer, Architekten, Wissenschaftler (Kartografen, Geografen, Astronomen etc.), militä-

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Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« (1930), in: ders., Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 197.

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Irene Nierhaus rische Strategen wie auch Politiker.6 D. h., das Panoramatische wird im Sinn eines exklusiven und exkludierenden Subjekts konstruiert. Dieses ideale Zentrum ist leer – als Raum der Projektion und der Hegemonie entsprechend männlich, heterosexuell und weiß gesteuert und bewacht. Wie die visuelle Kultur des 20. Jahrhunderts reichhaltig und eindeutig belegt hat, dürfen beispielsweise weibliche, nichtweiße und animalische Figuren das Zentrum nicht einnehmen bzw. müssen im als Missbrauch deklarierten Fall verjagt werden: Im Film King Kong und die weiße Frau (USA, 1933) wird der Menschenaffe, der von falschen weißen Männern in die Stadt gebracht wurde und sich nun der Spitze des Empirestatebuildings – jenem die Stadt New York und die USA repräsentierenden höchsten Punkt – bemächtigt, von den richtigen weißen Männern abgeschossen, die folglich auch die geraubte Frau in die Stadt hinunter retten und somit die sexuelle Ordnung und die Dominanz über das imaginäre Zentrum wieder zurückgewinnen. Diese richtigen Männer sind Piloten, die mit ihren Flugzeugen den Luftraum sichern und kontrollieren. In der Figur des Piloten und Fliegers taucht die Verbindung von Technologiebeherrschung, Pioniergeist und Schöpferkraft als navigatorische und kreative Kompetenz auf. Mit dem Ersten Weltkrieg erneuert dieser 6

Entsprechend sind in der Repräsentation mächtiger Subjekte panoramatische und skopische Züge enthalten, wie beispielsweise im Film Metropolis (D, 1925) von Fritz Lang, in dem das Büro des aus der Spitze des Hochhauses regierenden Herrschers mit Panoramafenster, Apparaturen und Schalttafeln zur Kontrolle ausgestattet ist. Die Darstellung der Großen Halle (1938) in Hitlers Residenz Berghof am Obersalzberg ist damit vergleichbar, nur dass an die Stelle der Stadt die Gebirgskulisse tritt. Landschaft war seit dem 19. Jahrhundert auch Repräsentationsmedium der Nation bzw. des Nationalen. Das vielfach publizierte Bild dramatisiert die Raumrhetorik: Das (national) Visionäre im großartigen Bergpanorama und das rationale Konstruieren, vertreten durch das dem Perspektivapparat gleichenden Fenster mit orthogonalem Konstruktionsnetz. In einem zweiten Bild ist Hitler im Rückgriff auf die Romantik als kontemplative Rückenfigur zu sehen. Das Bild formuliert das ‚Pathos des Hervorbringens‘ in der im Totalen angelegten Leitfigur, wie ein zeitgenössisches Zitat besagt: „Hier inmitten dieser großartigen Natur, die ein Sinnbild ist des menschlichen Geschehens, lebt der Führer, wenn er seine großen Reden ausarbeitet, die schon oft nicht nur dem Geschehen in Deutschland, sondern auch in der Politik der Welt einen neuen Anstoß oder eine neue Richtung gegeben haben.“ »Adolf Hitler: Bilder aus dem Leben des Führers«, zit. nach: Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus, NGBK., Kreuzberg, Berlin: Nishen 1987, S. 158.

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Im Auge des Piloten Blick aus dem Flugzeug (als Aufklärungs- und als Zerstörungsmaschine) das panoramatische Prinzip in besonderem Maße. Das mobile Fliegerauge scheint eine vom Terrestrischen losgelöste, im Ubiquitären angelegte Raumwahrnehmung zu ermöglichen und eine mitten aus dem Universellen selbst heraus agierende Raumorganisation bzw. Neuordnung von Raum greifbar zu machen. Das mobilisierte Auge des Fliegers wird für Planer, Architekten und Künstler zum Instrument und Faszinosum. Sowohl in Malerei wie auch in Architektur galt es, das alte allmächtige, Zeit und Raum homogenisierende Auge der klassischen Perspektive zu zerstreuen, um die Komplexität moderner Wahrnehmung u. a. mit Vielansichtigkeit vermitteln zu können. Das beinhaltete jedoch nicht die Aufhebung des panoramatischen Prinzips, eher seine Übersetzung und Aktualisierung mit Hilfe neuer Technologien. Viele Architekten (wie Carlo Moleno), Künstler (wie Arnold Böcklin, Robert Delaunay) und Schriftsteller (wie Franz Kafka, Gabriele d’Annunzio) sowie Intellektuelle (wie Ludwig Wittgenstein) waren am Fliegen interessiert und beschäftigten sich selbst mit Fliegen und Flugtechnik. Le Corbusier handelt z. B. das Konzept des modernen Hauses am Vorbild des Flugzeuges ab und illustriert den Text zur Wohnfrage mit 15 Fotos von Flugzeugen, wobei der Zusammenhang Funktionalität, Planbarkeit und Präzision ist.7 Die historische Verbindung der Perspektive mit militärischen Techniken der Truppenführung und Beobachtung geht um 1930 in Stadtplanung und Kriegsführung in die Diskussion um luftkriegssichere Städte ein. So sagte 1929 wiederum Le Corbusier stolz, dass nach Meinung eines Spezialisten „vom Stab der Luftabwehr“ sein Plan für Paris mit den Hochbauten, den „riesigen freien Flächen“, […] den „Parks mit Teichen Punkt für Punkt die drohenden Gefahren eines künftigen Krieges, der ein Luftkrieg, ein Gaskrieg sein wird, pariert.“8 Das faszinierte Sprechen über dädaleiische Mechanik, Machbarkeit und Präzision ist zumeist vom Pathos des Omnipotenten begleitet, das die ikarische Sehnsucht nach dem Luftraum als Universales und Großes mitspricht. 7

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Le Corbusier: 1922. Ausblick auf eine Architektur, Berlin: Frankfurt/Main/Wien: Ullstein 1963. Insgesamt bezieht sich Le Corbusier dabei auf Autos, Ozeandampfer und Flugzeuge als Vorbilder für eine zeitgemäße Planung, wobei das Flugzeug auf das Wohnen und Haus bezogen wird. So zeigt das erste Bild ein Flugzeug über einem Territorium fliegend, gleichsam integriert in den Text „Ratgeber für Wohnfragen“. Le Corbusier: »Der Plan Voisin von Paris. Kann Buenos Aires zu einer der meisterhaften Städte der Welt werden?« (1929), in: ders., Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Berlin: Ullstein 1964, S. 179.

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Irene Nierhaus Im Amalgam von Flugbegeisterung, Techno- und Fortschrittseuphorie, ökonomischer Potenz und staatlich-militärischer Macht ist zugleich eine explizite Virilisierung präsent, die als Subtext flüstert oder auch direkt vom prometheischen Subjekt spricht. Das macht auch verständlich, dass – obwohl es viele und teilweise sehr prominente Pilotinnen gab9 – die mythische Konstruktion des Fliegers so gut wie ausschließlich männliche Zuschreibungsmuster enthält.

Abbildung 1: Alessandro Bruschetta: Akrobatik in den Wolken, 1934.

Fliegen Malen Bomben Im Weiteren geht es hier um diese mythischen Verstrebungen von mächtigem Subjekt, Sehen und Geschlecht, was gleichzeitig zeigt, wie Seh-, Raum- und Politikstrategien konvergieren und wie insbesondere in den 30er Jahren und dem internationalen Regress auf autoritäre Politik Geschlechtlichkeit im Kontext mit Kriegsvisionen aktiviert und expliziert wird. Am Beispiel des italienischen

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Vgl. Die Schwestern des Ikarus: Frau und Flug, Zeppelin Museum Friedrichshafen, Marburg/Lahn: Jonas 2004.

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Im Auge des Piloten Faschismus und seiner Führerfigur Benito Mussolini, mit dem seit dem Marsch auf Rom 1922 Italien zum faschistischen Staat formiert wurde, kann das deutlich gemacht werden. Bei Mussolini werden der navigierende Flieger und der visionäre Staatenlenker narrativ verschmolzen: „to fly … is to detach oneself from the body and soul of mediocrity; to rise above the ‚ordinary‘“.10 Mussolini, selbst Pilot, sah schon 1909 in den fliegenden Männern – den antiken Helden Odysseus, Herkules oder den Argonauten vergleichbar – die Verwirklicher des ikarischen Traums und die „Vorreiter der zukünftigen Rasse der Übermenschen“, die den Beginn einer neuen Geschichtsepoche mit der Herrschaft „über Natur, über Leben, über das Universum“ einläuten.11 Diese Verkoppelung von ikarischem Fliegen und herakleiischer Umgestaltung von Gesellschaft und Politik war in Italien durch die staatliche Förderung der Entwicklung der Flugtechnologie seit 190012 wie durch die Flugfaszination (wie bei Gabriele d’Annunzio und den Futuristen) bzw. durch die damit einhergehenden Versprechen einer umfassenden Erneuerung des Menschen gegeben. Insbesondere der Promotor der Futuristen, Filippo Tommaso Marinetti, hatte seit den im Aeroplano del Papa (1908) beschriebenen Ansichten Italiens aus der Luft und dem 1. Futuristischen Manifest (1909) einen wort- und tatenreich umfassenden Diskurs um das Fliegen ausgebaut. Wobei von Anbeginn an Fliegen, politische Nationalbewegung und gesellschaftliche Erneuerung im Futurismus verschränkt waren, wie u. a. die Geschichte des Flugs der Futuristen über das habsburgische Wien und des Abwurfs der Flugzettel mit dem Aufruf der Bevölkerung zur Parteinahme gegen die österreichische Kriegspolitik im August 1918 belegt. Wien war die

10 Vgl. Guido Mattioli: Mussolini Aviatore,1936, S. 18, zit. nach: Gerald Silk: »‚Il Primo Pilotaʻ Mussolini, Fascist Aeronautical Symbolism, and Imperial Rome«, in: Claudia Lazzaro/Roger J. Crum (Hg.), Donatello among the Blackshirts. History and Modernity in Visual Culture of Fascist Italy, Ithaca/London: Cornell Univ. Press 2005, S. 71. 11 Benito Mussolini: „Gli uomini del Giorno, Latham“, Il Popolo, 22 Luglio 1909 und ders.: „Gli Uomini del Giorno, Blériot“, Il Popolo, 28 Luglio 1909 (Latham und Blériot waren Piloten, die mit den Versuchen des Überflugs des Ärmelkanals international berühmt wurden). Zit. nach: G. Silk, Primo Pilota, S. 71. („Champions of the future race of supermen“; „over nature, over life, over the universe“ Übers. I. N.). 12 Zur italienischen Entwicklung der Flugtechnik und Luftwaffe s. Maurizio Pagliano: »L’Aeronautica militare dall’ Eritrea alla Spagna« in: Volare! Futurismo, Aviomania, Tecnica e Cultura italiana del Volo 1903–1940, Roma: De Luca Editori 2003, S. 39–43.

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Irene Nierhaus Hauptstadt der langjährigen Besatzer Norditaliens und Kontrahenten der Einigungsbewegungen des 19. Jahrhunderts gewesen (Marinetti hatte bereits 1914 an der Verbrennung österreichischer Fahnen in Mailand teilgenommen, was ihm einige Tage Gefängnis einbrachte). In der futuristischen Kunst sind gerade und aufgrund ihrer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Bewegung im Allgemeinen Motive des Fliegens ausgebildet worden. Beispielsweise werden im Bild Die Trikolore über Rom von Roberto M. Baldessari (1923) die bekannten Bauzeichen des monumentalen Rom (Kolosseum etc.) durch die Flugschleife der Trikolore verbunden. Dies kann auch als Zeichen für die faschistische Einheit Italiens gelesen werden, denn ein Jahr zuvor war der Marsch auf Rom und damit die nationale Konsolidierung der faschistischen Bewegung erfolgt. Die in künstlerischen und politischen Proklamationen zum Fliegen, als einer in die Zukunft gerichteten Bewegung, enthaltenen Versprechen von Globalität und Totalität durchsetzen im Laufe der Jahre den faschistischen Alltag: So wurde z. B. 1933 bei der Rückkehr der unter Führung des Luftfahrtministers Italo Balbo den Atlantik zum zweiten Mal überquerenden Flugzeugstaffel ein von Marinetti verfasstes Luftpoem via Äther in ganz Italien übertragen. Bilder wie jenes von Baldessari sind Vorläufer der 1929 zur Aeropittura (Flugmalerei) zusammengefassten Malerei, die den beweglichen Perspektivwechsel während des Fliegens vermitteln sollte und zudem auf der 21. Biennale von Venedig 1938 als „Tochter der faschistischen Flugkunst und des italienischen Futurismus“13 bezeichnet worden war. Das Bild Akrobatik in den Wolken von Alessandro Bruschetta (1934) ist ein typisches

13 „Daughter of Fascist aviation and Italian Futurism“, zit. nach G. Silk/Primo Pilota, S. 6. Für einen guten deutschsprachigen Überblick über die Aeropittura siehe Gudrun Escher: »Aeropittura – Arte Sacra Futurista. Die italienische Flugmalerei im Kontext von Fluggeschichte und zeitgenössischer Kunst« in: Ingo Bartsch/Maurizio Scudiero (Hg.), …auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!… Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915–1945, Bielefeld: Kerber 2002, S. 47–56. Aus der italienischen und französischen Literatur sei u. a. genannt: Stefano De Rosa (Hg.), Aeropittura 1930–1944. Settanta opere da collezioni private, Firenze/Siena: Maschietto/Musolino 1996; M. Pagliano, L’Aeronautica, 2003; Claudia Salaris: Futurismo e mito del volo, Roma: Le parole gelate 1985; Enrico Crispolti (Hg.), Futurismo 1909–1944: Arte, Architettura, Spettacolo, Grafica, Letteratura …, Milano: Mazzetta 2001; La conquete de l’air: Une aventure dans l’art du XXieme siécle, Toulouse: Les Abattoire 2002.

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Im Auge des Piloten Beispiel der Aeropittura, die Landschaft – es sind sehr oft Seen, Meeresbuchten, Vulkane oder Amphitheater – in Kurven, Rotationsformen und Auffächerungen anlegt. Auffallend ist bei vielen Bildern der Aeropittura, dass trotz aufgerufener Bewegung, Perspektivwechsel und endlosem Kontinuum die Bildgefüge in Komposition und Motiven ausgesprochen stabil sind und wenig Fragmentarisierungen, Zeit- und Raumsprünge aufweisen. Im Gegensatz zu manchen älteren Bildern des Panoramatischen sind kaum jene verunsichernde Uferlosigkeit und Ambivalenz enthalten, die noch etwas davon andeuten, dass im Totalen des Panoramas eine Überschreitung der Wahrnehmungskonvention enthalten ist. Spuren davon sind in visuelle Verarbeitungen, wie in dem oben genannten Bild Avenue d’Opera von Camille Pissaro eingegangen, das den Blick auf und in eine Straße mit Mitteln der lang gezogenen Tiefenführung, der Überdehnung und der Expansion des Horizonts konstruiert. Es ist eine ausufernde, entgrenzende Sichtbarkeit, die dann doch noch zum Bildganzen geschlossen wird. Und auch impressionistische Bilder mit dem Blick auf dem Niveau des Passanten arbeiten häufig mit der Überdehnung, wie z. B. im Bild Pariser Straße – Regnerischer Tag von Gustave Caillebotte (1877). In der panoramatischen Überdehnung, dem Ausufern der Blicke ist auch so etwas wie eine Verunsicherung des Bildlichen zu spüren bzw. ein Wissen um Grenzen der Wahrnehmungskonvention und des Bildfeldes. Es ist eine formulierte Instabilität und Fragilität. Demgegenüber erscheint das Gesehene in den Bildern der Flugmalerei zumeist trotz kurvilinearer Formationen und Facettierungen als geometrisch fest im Griff – Landschaft wird zum fest gefügten, wohlgeordneten Territorium und zum korporativen Ornament. Das streng subordinative Bildraumprinzip, das laut Manifest der Aeropittura eine „tiefe Verachtung gegenüber dem Detail“14 hegt, ist dem gesellschaftspolitischen Raum, der alles homogenisierenden und stereometrisierenden Disciplina vergleichbar, die mit der politischen Durchsetzung Mussolinis 1925 grundlegend werden sollte: „Jeder von Euch muss sich selbst als Soldat verstehen: als Soldat, auch wenn Ihr keine Uniform tragt, ein Soldat auch wenn Ihr arbeitet, […] ein Soldat, der sich immer dem Ganzen der Armee verpflichtet fühlt, 14 „… disprezzo profondo per il dettaglio“ (Übers. I. N.), Punkt 4 des 9 Punkte umfassenden Manifests der Aeropittura, in: I Futuristi. I manifesti, la poesia, le parole in libertà, i disegni e le fotografie di un movimento „rivoluzionario“, che fu l’unica avanguardia italiana della culturaeuropea, Francesco Grisi (a Cura), Roma: Grandi Tascabili Economici Newton 1994, S. 101.

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Irene Nierhaus ein Bestandteil, der mit dem ganzen Organismus fühlt und kämpft“.15 Diese militärische Formierung der Bevölkerung korreliert mit dem des Territoriums. Doch die physisch räumliche Struktur war seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr jene, „bei der ein Mann im Zentrum war, umgeben von vielen anderen Männern, sondern [...] eine, die weder einen Anfang noch ein Ende hatte“.16 Der zivile und militärische Alltag erschien also zunehmend unübersichtlich und orientierungslos. In der mythischen Figuration des Piloten konnte jedoch der Überblick, Orientierung und Handlungskompetenz erfolgreich reformuliert werden.17 In einer ähnlichen Mythenbewegung wurde im Ersten Weltkrieg der Ritter mit Harnisch und Schwert zur international eingesetzten Figur des sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehenden Kämpfers mit wehr- und tugendhaften Attributen – also gerade zu einem Zeitpunkt, an dem die neue technisierte Kriegswirklichkeit genau jene Struktur der Angesichtigkeit des Zweikampfes auf-

15 „Each of you must consider himself a soldier: a soldier also when you are not wearing the uniform, a soldier when you work […] a soldier tied to all the rest of the army, a molecule that feels and beats with the entire organism.“ (Übers. I. N.), Rede Mussolinis am 28. Oktober 1925, zit. nach: Simonetta Falasca-Zamponi: Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy., Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1997, S. 89. 16 Zum Vergleich der Raumstrukturen des Kubismus und der durch die Kriegsführung im Ersten Weltkrieg hervorgerufenen Raumwahrnehmungen siehe Gertrude Stein: Picasso (1938), zit. nach Stephen Kern: »Der kubistische Krieg«, in: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart: Reclam 1998, S. 319. Einen Vergleich zwischen Kriegsführung und Malkunst zog auch Henry Nevinson bezogen auf die italienische Besetzung von Lybien 1911 und den Futurismus: „It is ‚militant tactics‘ in paint, and ‚Syndikalism‘ on canavas. One hears the clatter of broken glass […] The impulse which slaughtered the Arabs of the oasis is the same frenzy which struggles to paint on canavas these fantastic ‚lines of force‘. Zit. nach: Matthew Gale: »A Short Flight. Between Futurism and Vorticism«, in: Didiers Ottinger (Hg.), Futurism, Paris: Centre Pompidou 2009, S. 68f. 17 Kern beschreibt eindrücklich die Auflösung und Verschiebung von festen Raum- und Zeiteinheiten durch die neue Kriegsstruktur und berichtet u. a. über eine Studie zu Kriegsneurosen, in der die defensive Passivität und das untätige Abwarten in verdeckten Stellungslinien von Frontsoldaten als mit als Gründe für psychische Erkrankungen analysiert wurden, während „Piloten die wenigsten Nervenzusammenbrüche erlitten“ hatten. St. Kern: Der kubistische Krieg, S. 333.

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Im Auge des Piloten hob.18 Der Pilot bzw. Flieger scheint in einem vergleichbaren Prozess – jedoch unter betont technisierten und zukunftsorientierten Vorzeichen – eine Fixierung von Autorität und Männlichkeit zu bedeuten, die der potenziellen Destabilisierung auch des Territorialen entgegenzuwirken vermochte.

Abbildung 2: Ivano Gambini: Die beiden Zeitalter, 1936. Abbildung 3: Ivano Gambini: Caproni aus Amba zurückgekehrt, 1936.

Fliegen als Zeichen für eine auf Zukunft gerichtete Moderne wurde im faschistischen Italien als ideale Korrespondenz zwischen politischer Gegenwart und eigener römischer Reichstradition angesehen. Gleichsam ein zeitgenössisches Analogon zu den ingenieurstechnischen Errungenschaften, wie den Verkehrs- und Infrastrukturbauten des römischen Reiches. Das Bild Die beiden Zeitalter (1936) von Ivano Gambini (Abb. 2) zeigt das gefeierte Caproni-Flugzeug, das 1935 im Angriff auf Äthiopien zum Einsatz kam, gepaart mit Kolosseum und Triumphbogen. D. h., die Leistung des alten und des neuen Rom sind überblendet. Das erinnert an das Postulat von Le Corbusier, dass dem Parthenon als antiker kultureller Spitzenleistung das Flugzeug als jene der Moderne gegenüberstünde. Im Übrigen gibt es im Kontext militärischer Okkupation das gerne publizierte Bild eines deutschen Kampflugzeuges über der athenischen Akropolis. Die ständigen Bezugnahmen auf das römische Reich bilden die mythische Grundierung des italienischen Faschismus, dessen expansionistische Dimension in der offiziellen Vorbereitung der Okkupation Äthiopiens seit 1931 und in der Ausrufung des Impero 1936 gipfelte. Die Darstellung von Flugzeug und Territorium wird zur Ges-

18 Zur Ritterfigur im Ersten Weltkrieg vgl. Irene Nierhaus: »Nationale Narrationen. Stadt, Staat und Männlichkeit«, in: dies., Arch 6. Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999, S. 143–179.

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Irene Nierhaus te des Einnehmens, wie dies italienische Plakate anlässlich des Eroberungskrieges in Ostafrika wiederholen. „Im Nachtflug bei erloschener Sonne werden wir sie (die Flugstraßen, I. N.) wie sternengleißende Milchstraßen von den Alpen bis Mogadischu das Wort ‚Italien!‘ schreiben, sehen“19, steht im Manifest der italienischen Architettura area (Flugarchitektur) 1934 (in allen Kunstgattungen wurde die Spezialisierung auf das Fliegen formuliert: Architektur, Malerei, Skulptur, Keramik, Tanz etc.). Das zweite Bild von Ivano Gambini (Abb. 3) zeigt dasselbe Caproni-Flugzeug, nun aus Äthiopien zurückkehrend. Das Land besteht dabei nur aus Sand bzw. entsprechend der kolonialistischen Gewalt aus kultureller und zivilisatorischer Leere, die erst durch die italienische Besatzungszivilisation gefüllt werden würde. Hier bleibt zu betonen, dass die nach 1945 „vergessene“ Okkupation Ostafrikas durch „extreme Besatzungsbrutalität“ mit „genozidaler Dimension“ gekennzeichnet war und der erste moderne „Vernichtungskrieg auf kolonialem Boden“20 ist, in dem das Flugzeug erstmals als Massenvernichtungsinstrument eingesetzt worden war. Die italienische Luftwaffe war seit dem Ersten Weltkrieg prestigereich ausgebaut und insbesondere seit 1923 auf technisch sehr hohen Stand aufgerüstet worden – auch in Verbindung mit chemischen Kampfstoffen, die in massenhaften Giftgasangriffen in Ostafrika eingesetzt wurden. Der militärstrategische Hintergrund war von den 1921 veröffentlichten Theorien der Massenvernichtung, des strategischen Bombardements und der psychologischen Terrorisierung gerade der Zivilbevölkerung des Turiner Militärpublizisten Gilio Douhet vorbereitet worden.21

19 Übers. I. N., „Manifesto Futurista dell’ architettura aerea“, Februar 1934 u. a. von F. T. Marinetti, Angiolo Mazzoni und Mino Somenzi verfasst, abgedruckt in: Ezio Godoli: Il Futurismo, Roma/Bari: Laterza 1997, S. 196. 20 Aram Mattioli: »Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–45«, in: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 51. Jg., Heft 3/2003, S. 311–338 (hier S. 311, 312, 313). Der italienische Krieg in Afrika hatte seine koloniale Vorgeschichte am Beginn des 20. Jahrhunderts. 21 Danièle Voldman: »Les Villes francaises dans le deux conflits mondiaux 1914–1945«, in: Antoine Picon (Hg.), La Ville et la Guerre, Besancon: Les editions de l’imprimeur 1996, S. 189.

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Im Auge des Piloten

Abbildung 4: Alfredo Ambrosi: Luftsinnlichkeit, 1932. Abbildung 5: Tullio Cralli: Das Dröhnen des Flugzeugs, o.J.

Die diskursiven Formationen von Faschismus wie Futurismus sind durch eine implizite Virilisierung charakterisiert, die je nach Bedarf des Eigenen wie eines dann abgesetzten Anderen Zuschreibungen erstellt22 – dieses Andere ist zumeist tendenziell bis explizit feminisiert und trifft Frauen fast immer, jedoch auch entsprechend deklarierte Männer, wie u. a. Zivilisten oder degenerierte Liberale. D. h., Feminisierung als Subjektpositionierung kann darin als sexualisierende Strategie der Subordination eingesetzt werden. Konventionell gefasst, zeigt das Bild Luftsinnlichkeit von Alfredo Ambrosi (1932, Abb. 4) Cockpit, Karte, Navigations- und Steuerungsgeräte und kreisende Propeller, die weibliche Körper multiplizieren und fragmentieren. Das Bild kann als Modernisierung des Bildes Der Zeichner des liegenden Weibes (1525) von Albrecht Dürer gelten, das als neuzeitliches Gründungsbild der Perspektive und für deren duale Geschlechterstruktur steht. Der Blick ist nun gedreht: Der Zeichner und das Modell sind im Bild nicht mehr als bipolares Gegenüber angeordnet, sondern der 22 Zu Strategien der Geschlechtlichkeit siehe die entsprechenden Beiträge von Elisabeth Tiller, Christoph Kühberger und Giulietta Stefani in dem erhellenden Band: Christoph Kühberger/Roman Reisinger (Hg.), Mascolinità italiane: Italienische Männlichkeiten im 20. Jahrhundert, Berlin: Logos 2006. Die Beiträge versuchen, einer einseitigen Dichotomisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit zu entkommen. So macht Elisabeth Tiller eine auch weibliche Anteile umfassende Männlichkeit in der Romanfigur „Mafarka“ bei Marinetti aus. Elisabeth Tiller: »Marinettis afrikanische Männerfiktion ‚Mafrarka il futurista’ (1909)«, S. 39–62. Stefani beschreibt differenziert, wie im besetzten Äthiopien die männlichen erwachsenen Äthiopier von den Besatzern nach geschlechtlich unterschiedlichen Kriterien dargestellt wurden – von der Verkindlichung bis zum explosiv virilen Feind. Giulietta Stefani: »Gender and Race in Italian Ethiopia 1935–1941«, S. 77–91.

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Irene Nierhaus Blick der BetrachterInnen richtet sich mit dem – nun selbst nicht mehr sichtbaren – männlichen Akteur auf weibliche Körper. Wie bei Dürer ist der maskulinisierte Raum – hier das Cockpit – durch Logos und analytische Techniken des Messens, Verortens, Kartografisierens visualisiert. Der Fluchtpunkt liegt bei Dürer (hinter dem quadrierendem Velum) wie bei Ambrosi (hinter den facettierenden Propellern) im weiblichen ‚Materialʻ. Der feminisierte Raum ist ungeordnete Masse, Körperlichkeit und Geschlecht und fokussiert Sexualität jenseits des vom Autor gesteuerten Raums des Logos. In der Aeropittura kreieren Künstler und Flieger kongenial neue Sichtweisen, in ihnen verschmelzen Körper und Gerät. Entsprechend dem Manifest der Aeropittura vereint jedes Werk in sich zwei Vorgänge, „die der Bewegung des Flugzeuges einerseits und die der den Stift, den Pinsel oder Zerstäuber führenden Hand des Künstlers andererseits.“23 In den häufigen Spiralblicken oder Sturzflügen vermittelt die Flugmalerei das Hineinstürzen und darin ein Sehen als „Deflorationstechnik“ und eine „Sexualisierung des Raumes“.24 Im Gedicht Areoplano von Ardengo Soffici von 1915 wird Fliegen als Sexualakt beschrieben: „Ich versenke mich im Trichter des Paradieses […] mein Herz stürzt und fließt wie Sperma in die fruchtbaren Abgründe des Blutes […] Ich küsse die Vulva des Firmaments […] und die verrückt gewordenen Maschinengewehre der Sonnenglut müssen übermannt werden […]“.25 Das Gesehene wird um ein phallisch errichtetes Zentrum angeordnet – und dafür bedarf es keineswegs immer des Figurativen. Wie im Bild Das Dröhnen des Flugzeugs (Abb. 5) von Tullio Crali ist das Raumpenetrieren im Abstraktionsvorgang nachvollziehbar. Das Abheben von und das Hineinstürzen in die Erde als De- und Intra-Territorialisierung sind Phantasmen von Befreiung und Bemächtigung, die die Ambivalenz von Überwindung und Distanzierung zum Weiblichen bei gleichzeitiger Rückkehr und Be-Wohnung des Weiblichen thema23 Zit. nach: Lucia Caramel u. a.: Italiens Moderne. Kassel/Milano: Mazzotta 1990, S. 184. 24 Linda Hentschel: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas 2001, S. 9, 8. Wobei gerade der Senkrechtblick, der mit der spezifischen „Erotik des stereoskopischen Tunnelblickes“ (S. 90) vergleichbar ist, eine Sexualisierung des Raumes und Gesehenens vermittelt. Tullio Crali zeigt 1939 einen Sturzflug in eine Häuserschlucht oder Bruno Munari füllt 1939 den Umriss eines Flugzeuges mit einem in die Tiefe springenden Männerkörper. 25 Übers.: I. N., Zit. nach: I Futuristi, S. 366, 370.

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Im Auge des Piloten tisieren.26 Die abhebenden oder eindringenden Technokörper sind viril: Das Flugzeug, der Fallschirm, die Bordkamera, das Zielgewehr sind phallische Mittel eines dädaleiisch ausgerüsteten Ikarus, wie viele Bilder der Flugmalerei ganz unverblümt formulieren (z. B. Renato Di Bosso, Maschinengewehrschütze im Flugzeug in Afrika, 1941; Alfredo G. Ambrosi, Vom Himmel herabgleitend, 1933/34). Hingegen wurde nach der relativ folgenlosen Verurteilung des Angriffs auf Äthiopien durch den Völkerbund im Dezember 1935 an der Heimatfront die Giornata della fede gefeiert (im Italienischen steht Fede für Glaube und Ehering), anlässlich der Mütter und Ehefrauen am Altar des Vaterlandes oder an Gefallenendenkmälern ihren Ehering für den Krieg spendeten. Das Bild Abenteuer in Afrika von Renato Righetti, genannt di Bosso (1936, Abb. 6) soll abschließend das Panoramatische und seine sexualisierende Strategie der Subordination im kolonialistischen Krieg exemplarisch zeigen: Das Bild produziert afrikanische Landschaft als Gegensatz von kolonialisiertem und vorkolonialisiertem Territorium. Der Bildraum rechts ist von organoiden Formen geprägt: Wege, Felder und Dörfer (als unregelmäßig angelegte und eingezäunte Rundbauten), darüber befinden sich in die lokale weiße Kleidung gehüllte Körpermassen mit schwarzen Köpfen. Als Gegensatz ist der kolonisierte Bildraum links stereometrisch geordnet: gerade breite Straßen, orthogonale Gebäude und Platzanlagen, an die nun im standardisierten Intervall auch die Rundbauten angeschlossen sind. Von BewohnerInnen ist hier nichts zu sehen. Zwischen den beiden Territorien findet der Angriff statt: ein in Land und BewohnerInnen getriebener Keil. Es ist eine Batterie von schiffsbug- oder rostra-ähnlichen, mit Adlern besetzten Formen, die in das organoide Gefüge der Körper der Ethnie stößt. Die Spitze des Keils ist grün, weiß und rot, trägt also die Farben der italienischen Flagge. Dieser phallische Effekt des kolonialen Eindringens wird durch den kartografischen Blick von oben vervollständigt, der am Horizont in eine Weite verläuft … 26 Sie vermitteln das „Verlassen der Erde und mit ihr verknüpfter Weiblichkeit“, Silke Wenk: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln: Böhlau 1996, S. 299. Vgl. auch Insa Härtel im Zusammenhang mit dem Platon’schen Höhlengleichnis (Insa Härtel: »Phantasmatische Räume erkunden. Vom Gleichnis der Höhle«, in: Irene Nierhaus/Felicitas Konecny (Hg.), Räumen. Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur, Wien: Selene 2002, S. 61–76); auch de Certeau spricht von einem „Verlassen der Mutter“ und der Exteriorität aufgrund einer Abwesenheit (M. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 207).

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Irene Nierhaus

Abbildung 6: Renato Rigetti gen. di Bosso: Abenteuer in Afrika, 1936.

* Der vorliegende Text ist eine umfassende Überarbeitung von »Big Scale: Zum Dispositiv von superlativem Blick und großem Raum«, in: Irene Nierhaus/Felicitas Konecny (Hg.), Räumen: Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur, Wien: Selene 2002, S. 41–74.

A BBILDUNGEN Abbildung 1, 4: Enrico Crispolti (Hg.), Futurismo 1909–1944: Arte, Architettura, Spettacolo, Grafica, Letteratura…, Milano: Mazzetta 2001, S. 392, 380. Abbildung 2, 3: Ingo Bartsch, Maurizio Scudiero (Hg.): …auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!… Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915–1945, Bielefeld: Kerber 2002, S. 270, 271. Abbildung: 5, 6: La conquete de l’air: Une aventure dans l’art du XXieme siècle, Toulouse: Les Abattoire 2002, S. 123, S. 132.

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Re-rezipierte Erinnerung an den Nationalsozialismus in Comicsequenzen von Art Spiegelman und Volker Reiche KATHRIN HOFFMANN-CURTIUS

Im Jahr 2008 erschien eine autobiografisch aktualisierte Wiederauflage von Art Spiegelmans Comicalbum Breakdowns. From Maus to Now. An Anthology of Strips von 1977.1 Unter dem von James Joyce2 entlehnten Titel Portrait of the Artist as a Young %@ *!3 arbeitete er freudianisch geprägt an seinen Erinnerungen. Die Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Deutschen stellte und stellt er, Sohn New Yorker Juden polnischer Herkunft, die das KZ überlebten, als das Einschneiden der NS-Herrschaft in

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New York: Nostalgia Press 1977, wieder abgedruckt in: Art Spiegelman: Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@ *!, New York: Pantheon Books 2008; zugleich auf Deutsch erschien: ders: Breakddowns. Portrait des Künstlers als junger %@ *!, übersetzt von Jens Balzer und Heinz Emigholz, Frankfurt/Main: Fischer 2008. A Portrait of the Artist as a Young Man, New York 1916. Spiegelman nennt deutlich J. Joyce als Autor, mit dem er sich zur Zeit des ersten Erscheinens von Breakdowns auseinandergesetzt hat. Vgl. http:// panelsandpixels.blogspot.com/2008/10/graphic-lit-interview-with art. html vom 2.1.2010. „Blankity Blank“, empfiehlt Spiegelman in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 29.11.2008 diese Zeichen auszusprechen. Sie sind nicht verbalisierte Ausrufe plötzlicher Emotionen aus Underground Comics, ergänzt um das Zeichen des Computerzeitalters schlechthin: @. Vgl. Cover Robert Crumb: Promethean Enterprises, 1971, und ders.: Krude Kut Ups, 1968, Abbildungen, in: Ausst.-Kat., Yeah, but is it Art? Robert Crumb, Museum Ludwig, Köln: König 2004, S. 72, 166.

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Kathrin Hoffmann-Curtius seine Familiengeschichte dar. Die mehrfach gebrochene Erinnerung an die NS-Erinnerung aus der Nachkriegszeit in den 2008 publizierten Bilderfolgen erfährt in der FAZ vom 2. Dezember 2008 eine Antwort von Volker Reiche4, einem deutschen Comiczeichner derselben Generation. Spiegelman verschränkt die Schuldgefühle eines Kindes überlebender Juden mit dessen Suche nach Identität, was Reiche in sechs auf Anregung von Andreas Platthaus entstandenen Comickolumnen rezensierend aufgreift und mit eigenen Erinnerungen vergleicht. Die Differenz der Positionen und Kommentare zum NS, das Erinnern von Reiche und das internalisierte Nicht-Vergessen-Dürfen von Spiegelman, wird dabei gerade in der jeweiligen Verknüpfung mit der sogenannten sexuellen Befreiung der 1970er Jahre5 evident.

Abbildung 1: Art Spiegelman, Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@ *!, 2008.

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Reiche wurde bekannt, nachdem er für die im Springer Konzern erscheinende Zeitschrift HÖRZU die Comic-Abenteuer des Redaktionsigels Mecki übernommen hatte. 2004 wurde sein täglicher Politkommentar mit der Comicfigur des Büroangestellten Strizz als bester deutschsprachiger Comic ausgezeichnet. Reiche lieferte auch Karikaturen für Pardon und Titanic. http://de.wikipedia.org/wiki/Volker_Reiche vom 1.3.2010. Zum Anteil der Comics an dieser Bewegung s. Mark James Estren: A History of Underground Comics, New York: Quick Fox und San Francisco: Straight Arrow Books 1974. Paul Gravett/Peter Stanbury: Holy Sh*t, The World’s Weirdest Comic Books, New York: St. Martin’s Press 2009. James Danky/Denis Kitchen: Underground Classics. The Transformation of Comics into Comix, New York: Abrams ComicArts 2009. Joseph Witek: »Imagetext, or, Why Art Spiegelman Doesn’t Draw Comics«, in: ImageTexT: Interdisciplinary Comics Studies, 1.1 (2004), Dept. of English, University of Florida http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v1_1/ witek/index.shtml vom 6 .1. 2010.

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Re-rezipierte Erinnerung Mit aufklappbarem Koffer und Kasten kommentiert Spiegelman im Vorspann zur Neuausgabe die Erinnerung an seine Jugend, die er und die ihn in den Comicserien verfolgt. Ihm gelingt es, die simple Alltagshandlung des Ein- und Auspackens eines Koffers (Abb. 1), vielbesetztes Zeichen für Mobilität, für Flucht und Vertreibung,6 als einfaches Modell psychoanalytischer Arbeit darzustellen, so wie Freud z. B. den Wunderblock, eine mit Zelluloid abgedeckte Wachstafel zum Be- und Überschreiben von Notizen, als Modell des „seelischen Wahrnehmungsapparats“7 beschrieb. Zugleich kennzeichnet er mit dem Gebrauch des Koffers seine psychische und berufliche Prägung durch die erzählte NSErfahrung des Vaters. Ein die Sequenz einleitendes Rundbild zeigt anstelle seines Kopfes das aufgeklappte Gepäckstück mit charakteristischen Dingen aus seiner Geschichte als Heranwachsender, die er mit der Jahresangabe 2005 wieder auspackt und die ihn wiederum selbst schmerzvoll packt. Die vertikalen Streifen der KZ-Kleidung auf seinem Oberkörper verbinden die zum Emblem schmerzlicher Erinnerung verdichtete Handlung des Auspackens mit den darunter liegenden panels. Immer, wenn er in diesem Band schuldbeladen an den Selbstmord seiner Mutter erinnert, zeichnet er sich selbst in dieser Sträflingskleidung.8 Die Streifen führen einige Seiten weiter in das Jahr 1959 (Abb. 1) zurück zum Einpacken eines Koffers mit dem Vater, der seine Erfahrung als Deportierter weitergibt: „It’s important to know to pack! Many times I had to run with only what I can carry!“ Daraufhin weist er den Sohn an: „You have to use what little space you have to pack inside everything what you can!“ Spiegelman wendet die aus der Not geborene Maxime zum bestmöglichen Rat für einen Comiczeichner: „This was the best advice I’ve ever gotten as a cartoonist!“ Nach traditioneller Rollenverteilung lässt Spiegelman in diesem Rückblick das Kind Artie in seinem beruflichen Werdegang dem Wort des Vaters folgen, während die Mutter Schuld, Emotionen und Desillusionen repräsentiert, Liebe wie Schmerz und Verzweiflung. Zugleich gibt er zu erkennen, wie Deportation und Verfolgung der Eltern auch sein Leben und Arbeiten bestimmen. Ein komprimierter Zeichen- und Erzählstil in bo6 7 8

Vlg. Irit Rogoff: »Luggage«, in: dies., Terra Infirma, Geography’s Visual Culture, London: Routledge 2000, S. 36–72. Sigmund Freud: »Notiz über den Wunderblock« (1925), in: ders., Das Ich und das Es, Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 311–318, hier S. 318. So in dem Comic »Prisoner on the HELL Planet«, Breakdowns 2008, s. dazu Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale, München: Fink 2006, S. 245.

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Kathrin Hoffmann-Curtius xes, wie Spiegelman seine panels häufig gleich einem dreidimensionalen Behälter benennt, sind sein erklärtes künstlerisches Ziel, seine künstlerische Heimat. „I am interested in highly compressed visual information, what can be fit into a box and be readable and make it composed well.“9

Abbildung 2: Art Spiegelman, Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@ *!, 2008.

Zwei Dialoge zwischen Vätern und Söhnen überschreibt Spiegelman mit „A Father’s Guiding Hand“ und datierte sie mit „Rego Park, nyc. ca. 1961“ und „Soho, nyc. ca. 2004“. Im zweiten Strip wird der Springteufel, der in seinem ebenfalls 2008 publizierten Kinderbuch „Jack and the Box“10 eine Metapher für das Buch insgesamt ist und mit der Absicht gezeichnet wurde, bei den kindlichen Leserinnen und Lesern durch wiederholtes Aufklappen des ungewöhnlichen neuen Kastens Neugierde zu wecken und Angst zu nehmen11, zu einem Reservoir und Resavoir des NS über die Generationen hinweg. Er nimmt hier die Gestalt eines bedrohlich brennenden Monsters an, das beim Öffnen der vererbten Lade (Abb. 2) herausspringt und den Sohn von Neuem überwältigt. Der Schrecken der NS-Gewaltherrschaft ist auch mit den wiederholten Bearbeitungen in der Generationenfolge nicht zu bewältigen – die Angst wird auch noch den Sohn treffen. Diesen Kommentar liefert Spiegelman 17 Jahre nach der Vollendung seines zweibändigen 9

Art Spiegelman im Interview mit Chris Mautner, http://panelsandpixels. blogspot.com/2008/10/graphic-lit-interview-with-art. vom 12.03.2009. 10 Trimonium: Diamond Comics 2008. 11 „[…] it won’t really hurt you so you get to put the jack in the box back in and anticipate happily that the little puppet will pop out again. That’s the essence of what gets people to get interested in stories that play with your anxieties and then release them […] the book itself would become a metaphor for a jack in the box […] “, Art Spiegelman im Interview mit Chris Mautner, http://panelsandpixels.blogspot.com/2008/10/ graphic-lit-interview-with-art.html vom 12.03.2009.

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Re-rezipierte Erinnerung Comics MAUS. A Survivor’s Tale zur NS-Geschichte12, als er längst selbst Vater ist. Das teuflische Erbe vermittelt, so prophezeit Spiegelman dem Jungen, das Gefühl eigener Wertlosigkeit, das ihn kaum atmen lässt: „It makes you feel so worthless you don’t believe you even have the right to BREATHE!“ Spiegelman akzentuiert die unentrinnbare Weitergabe des Schreckens noch dadurch, dass er voller Zynismus im Gespräch zwischen dem zerknirschten Sohn und dem Vater dessen Gesicht mit offenem Mund und Zigarette13 der Hitlerfratze des Lindwurms angleicht, der aus der vagina dentata des feuerspeienden Drachens entspringt. Die Geschichte des NS und die familiäre der Einzelschicksale sind für den Comiczeichner, das Kind der ersten Generation, nicht voneinander zu trennen. Seine Einsicht in die Vergangenheit lässt ihn jedoch gerade deshalb im letzten panel der Folge zusammengekauert melancholisch allein, als er das Desinteresse der Jugend an Geschichte beklagt. „Bah! Kids today… they’re just not interested in history!“ Direkte Erinnerungen an Kindheit und Jugend tauchen in Breakdowns 1977 und 2008 nur in Einschüben zwischen anderen strips auf; es wird nicht kontinuierlich erzählt, denn – wie Spiegelman selbst schreibt – „[M]emories can be juxtaposed … to echo the way the mind works!“14 Sigmund Freud analysierte diese Funktionsweise des Gedächtnisses in der Traumarbeit, in der Produzent und Rezipient kaum voneinander zu trennen sind. Die von Freud für den Träumenden als so entscheidend charakterisierte Arbeit des Verschiebens, Verdichtens und Dramatisierens lässt sich in Panelfolgen deutlich darstellen, zumal Freud das Sichtbarmachen der Traumarbeit als deren genuines Spezifikum hervorhob. „Die Umarbeitung aufs Anschauliche bleibt hingegen

12 Art Spiegelman: MAUS. A Survivor’s Tale, New York: Pantheon Books 1986; dt. Ausgabe: Reinbek bei Hamburg: rowohlt 1989; ders.: MAUS. A Survivor’s Tale II: And Here My Troubles began, New York: Pantheon Books 1991¸ dt. Ausgabe: Reinbek bei Hamburg: rowohlt 1992. 13 Ole Frahm interpretiert die brennende Zigarette, ein Attribut Spiegelmans in fast allen Selbstportraits, die mit der Erinnerung an Auschwitz arbeiten, als das Unausweichliche der Erinnerung: „An der Zigarette, ihrem Rauch, wird deutlich, wie die Souveränität des Autors zu Asche verbrennt“; in: ders.: Genealogie, S. 244. 14 Letzte Seite des Vorspanns von 2008, 6. panel.

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Kathrin Hoffmann-Curtius der Traumarbeit eigentümlich.“15 Der Psychoanalytiker bildete sogar eine Comicsequenz in seiner Publikation zur Traumdeutung ab.16 Tatsächlich griff die moderne Produktion von Comics mit der bis heute berühmten Serie Winsor McCays, Little Nemo in Slumberland, schon 1905, gleich zu Beginn ihrer Entwicklung in der New Yorker Presse, das Traumthema auf.17 Vermutlich ohne unmittelbare Kenntnis von Freuds Thesen setzte der Comiczeichner in den Traumdarstellungen als uneinheitlichen, verwirrenden Darstellungsräumen mit ständig variierten Größenverhältnissen neue Wahrnehmungsweisen ein, denen die für den „zerstreuten Blick“18 des großstädtischen Publikums produzierten Comics ebenso verpflichtet sind wie die Traumdeutung des Psychoanalytikers. Freuds Beschreibung des Trauminhaltes erinnert an die collagierende Wahrnehmung des Städters: „Der Trauminhalt besteht aber nicht ausschließlich aus Situationen, sondern schließt auch unvereinigte Brocken von visuellen Bildern, Reden und selbst Stücke von unveränderten Gedanken ein.“19 15 Sigmund Freud: »Über den Traum« (1901), zitiert nach: ders., Schriften über Träume und Traumdeutungen, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1994, S. 35–86, hier S. 72. 16 Abgebildet in: Martin Langbein/Klaus Theweleit: Bruch® Zugabe zu Art Spiegelman, Breakdowns, Basel und Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern 1981, o. S. (S. 39). Die Zeichnung Traum der französischen Bonne wurde von Sandor Ferenczi in der ungarischen Zeitschrift Fidibusz entdeckt und an Freud geschickt, der sie wiederum Otto Rank überließ für die Publikation: »Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im mythischen Denken«, in: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, 1. Jg., 4. Bd., 1. Hälfte, Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1912, S. 51–115, hier S. 100, zit. nach www.archive.org/stream/jahrbuchfrps04junguoft/jahrbuchfrps04jung uoft_djvu.txt] vom 12.5.2009. In der 1961 erschienenen Neuauflage der Traumdeutung wird der Comic neben dem Artikel abgebildet, in dem Freud diesen Aufsatz bereits zitiert (Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch), S. 304. 17 Dt. Übersetzung: Winsor McCay, Little Nemo, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1974–1976, 7 Bde. 18 S. Jens Balzer: Das Wesen der Comics. Über Dialektik und Indifferenz in Bild-Text-Verhältnissen, Hamburg: unveröffentl. Magisterarbeit 1996, S. 58ff. Ders.: »Welches Bild? Welche Bewegung? Über einige Bezüge zwischen Chronophotographie und frühen Comics«, in: Mediengeschichte des Films Bd. 1, Die Mobilisierung des Sehens, München: Fink 1996, S. 279–293, hier besonders S. 292. Eine darauf aufbauende Analyse des „zerstreuten Blicks“ liefert Ole Frahm: Die Sprache des Comics, Hamburg: Fundus-Bücher 139, Philo Fine Arts 2010, S. 182–208. 19 S. Freud: Traum, S. 61.

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Re-rezipierte Erinnerung Die „anschauliche Zurichtung des psychischen Materials“20 im Traum setzt Spiegelman in Breakdowns gleich dreimal ein. Seine Traumdarstellungen unterscheiden sich im „manifesten Trauminhalt“ (Freud) von den fantastischen Narrationen eines McCay von 1905 besonders durch die Konzentration auf die gegenwärtige Alltagserfahrung des Autors und die Erkundung seiner selbst, die um 1970 in der Comicliteratur zwar ungewöhnlich war, jedoch durch die damalige politische Aufbruchstimmung initiiert wurde. Nach eigener Erzählung sah sich Spiegelman durch den erfolgreichen ‚Underground Comix‘ Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary seines Freundes Justin Green aus dem Jahr 197221 ermutigt, selbst autobiografische Episoden in Comics darzustellen.22 Green skizzierte in vielen kurzen Sequenzen Binkys Adoleszenz im traumatischen Konflikt mit den sexualfeindlichen Geboten der katholischen Kirche und seine book boxes werden dabei laut Spiegelman zu intimen säkularen Beichtstühlen23. Sowohl die Gewalt des amerikanischen Militärs gegen die Indianer als auch Auschwitz und Anne Franks Tagebuch werden mit Binkys Phallomanie bzw. seinen Zwängen, Buße zu tun, verbunden. Green schilderte ein Kontinuum sexueller Obsessionen, in denen er als Vorbilder die „war heros“ aufzeigt, mit Witz die Bußanweisungen der katholische Kirche attackiert und deren Kultbild der Madonna zum Schluss zerstückelt. Spiegelman arbeitet 1972 wie andere Comiczeichner des Underground mit dem Hardcore-Comic The Viper24 am Thema der Enthauptung: Ein junger Mann wird entführt, enthauptet und der Täter onaniert schließlich in den abgetrennten Kopf. Mit dem Thema der Enthauptung versucht der Autor, die dem Comic inhärente Kastration25 zu überwinden und sich als Künstler der Avantgarde zu positionieren. Gleichzeitig erscheint

20 S. Freud: Traum, S. 67. 21 Justin Green: Binky Brown meets the Holy Virgin Mary, Berkeley: LastGasp Ego-Funnies 1972. 22 Art Spiegelman: »An Afterword«, in: ders., Breakdowns 2008, o. S., S. 4. 23 „[…] and Justin turned comic book boxes into intimate secular confession booths“. Art Spiegelman: »Symptoms of Disorder/Signs of Genius, Introduction«, in: Justin Green, Binky Brown, Sampler, San Francisco: Last Gasp 1995, S. 4–6, hier S. 4. 24 The Viper, Vicar of Vice, Villainy, and Vickedness!, in: BijouFunnies, Nr. 7, 1972. 25 Ole Frahm: »Enthauptung. Independent-Comics und ihre Unabhängigkeit von Bürgerlichen Kunstbegriffen«, in: ders., Die Sprache des Comics, S. 292–322.

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Kathrin Hoffmann-Curtius MAUS26, seine allererste, dreiseitige Comicserie zur elterlichen Erzählung der Verfolgung, und er bearbeitet in Prisoner on the Hell Planet – A Case History27 die Erinnerung an den Selbstmord seiner Mutter, beide werden fünf Jahre später in Breakdowns erneut publiziert. In den drei, als real dream gekennzeichneten Comics in Breakdowns diskutiert er erneut seine gegenderte künstlerische Position als Jude. Diese strips enden jedoch nicht wie bei Crumb28 und Green mit der martialischen Zerstörung der Gegnerinnen und der zumindest temporären Rückgewinnung einer autonomen Handlungsposition. Alle drei strips zeigen Elemente aus dem Leben des Träumenden als verdichtete, überdeterminierte Teilstücke „in Bilderschrift“, wie Freud sagt.29 Schon er meinte, „dass man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum vollständig gedeutet zu haben.“30 Aus der grundsätzlichen Erkenntnis des unabschließbaren Prozesses der Deutung versucht Spiegelman sie mit vorangestellten Motti, wie Goyas „the sleep of reason produces monsters“, einzugrenzen. Der erste Real Dream, A Hand Job, handelt vom Jüdischsein des mit den Händen arbeitenden und deutenden Künstlers in der Auseinandersetzung mit Afroamerikanern in New York und betont die Anlehnung an das schon oben erwähnte große künstlerische Vorbild McCay der Comicserie des träumenden Little Nemo. Den Vornamen des Autors und das immer wieder gleiche Schlußbild mit dem Träumer im Bett zitierend unterzeichnet er mit „Winsor MC Spiegelman“. Im zweiten Traum erkundet Spiegelman die eigene dramatische Klassifizierung durch die Gesellschaft als Hetero. Der hier in den Mittelpunkt gestellte dritte von Spiegelmans Träumen (Abb. 3) ist auf einer Seite zwischen den Serien As the Mind Reels und The Malpractice Suite zu lesen. Von den beiden vorigen Träumen unterscheidet er sich durch seine Bilderfolge in zwei voneinander getrennten Teilen. Der erste stellt in drei Reihen den Trauminhalt dar und der zweite dessen Deutung, die ihn auf eine für die Betrachter und Betrachterinnen unvorhersehbare Weise um die Ermordung der Juden zentriert. Die panels des drit26 Zuerst publiziert in: Funny Aminals (sic!) 1972, S.1–3, vgl. Frahm: Genealogie, S. 298. 27 Wiederabgedruckt in: Breakdowns 1977/2008. 28 Wiederabgedruckt in: Robert Crumb: »R. Crumb Versus The Sisterhood!«, in: The Complete Crumb Comics Volume 9, Seattle, WA: Fantagraphics Books 1992. 29 Sigmund Freund: Die Traumdeutung (1900), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 1991, S. 284. 30 Ebda, S. 285.

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Abbildung 3: Art Spiegelman, Breakdowns. From Maus to Now. An Anthology of Strips, 1977, wieder abgedruckt in Breakdowns 2008.

ten real dream und des inhaltlich verwandten Prisoner on the Hell Planet zitieren die Holzschnitttechnik des Expressionismus31 und 31 „In the grip of my recovered memories and an Expressionist art style that I associated with Real Art“, Text zu einem Selbstportrait im Vorspann zu Breakdowns 2008. Siehe auch Art Spiegelmans Artikel „Lesen Sie das Bild!“ in der FAZ vom 9.10.2010, in dem er Frans Masereel und den von diesem und Otto Nückel beeinflussten Lynd Ward als Inspiration für sich benennt.

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Kathrin Hoffmann-Curtius des Holzstiches, was ihnen – in festen, wie eingekerbten Linien – bildhafte Monumentalität verleiht. Ihre Darstellungen sind anders als die der davor und danach stehenden Serien, die moderne Film- und Fernsehbilder imitieren, betont flächig gehalten. Sie täuschen keine illusionistischen Guckkastenräume mehr vor, vielmehr verschärft der Wechsel der Zeichentechnik den traumatischen Einschnitt. Eine Ansicht des stöhnenden Spiegelman mit Karnevalshütchen und Feder in seinem Bett leitet die Bilderfolge ein. Unterschrieben ist sie mit einem Shakespearezitat aus Macbeth32, das als ein verdecktes Leitmotiv für die ganze Seite gelesen werden kann: „Infected minds to their deep pillows discharge their secrets.“ Spiegelman schreibt es Lady Macbeth zu, aber es ist der Rede des Arztes entnommen, der die schlafwandelnde Lady beobachtet und die Schuld der Mittäterin anspricht, die sie nur im Traum preisgibt. „More needs she the divine than the physician“, stellt der Doktor im unmittelbaren Anschluss an das ausgewählte Motto fest.33 Weitere Anspielungen an Shakespeares Tragödie, wie die Platzierung der Untaten im Kontext eines Festes, durchziehen den Traum und seine Deutung. In der obersten Zeile erscheint neben dem Beginn des Angsttraumes ein Karnevalsfest mit geilen Männern und sich anbietenden Frauen. Der Träumer ist einer der Gäste; verloren blickt er mit grimmig-traurigem Blick aus dem Bild heraus. Darunter zeigen zwei panels als Wirtin dieser Party oder Partei eine korpulente Frau, verwandt dem Typ üppigsinnlicher Frauen des deutschen, im NS verfemten Malers Paul Kleinschmidt.34 Unter dem Bild mit dem stöhnenden Spiegelman im Bett und in dazu passender Pose präsentiert die Frau in zwei panels eine glatte riesige Wurst vor ihrem Leib. Die Wurst ist so groß, dass sie den Rahmen der panels sprengt. Im zweiten panel zeigt die Wurst eine jüdische Seite mit der Aufschrift koscher in hebräischen Schriftzeichen. Hier speit die Frau, was an Albrecht

32 Originaltitel: The Tragedy of Macbeth; 1971 von Roman Polanski opulent verfilmt. 33 www.shakespeare-literature.com/Macbeth/21.html vom 20.5.2009. 34 Kleinschmidt wurde seit 1927 von dem New Yorker Fabrikanten und Kunstsammler Erich Cohn gefördert. In Chicago und Philadelphia 1933/34 in einer Einzelausstellung gezeigt, floh er 1933 in die Schweiz, Holland und Frankreich. 1964/65 wurden seine Arbeiten in New Yorker Privatgalerien ausgestellt. Vgl. Ausst.-Kat.: Paul Kleinschmidt, zwischen Bar und Boudoir, Malerei, Ulm: Ulmer Museum 2003.

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Re-rezipierte Erinnerung Dürers blasende „Vier Windengel“ aus der Apokalypse35 erinnert, zum Gelächter der Gäste. Alle genießen den abstoßenden Auftritt, nur der Träumer nicht, vom Waschen seines Gesichtes verspricht er sich eine bessere Stimmung, doch erblickt sich danach Spiegelman im Spiegel (!) auf einmal ohne Schnauzer, sein Unterscheidungsmerkmal von den anderen Gästen. Er ähnelt voller Entsetzen einem Hitler ohne dessen zum Erkennungszeichen gewordenes Lippenbärtchen. Die Reflexion des Ich im Spiegel deutet schuldhafte Verstrickung an und macht die Szene zum Scharnier zwischen dem Traum und der Deutung. Mit weißem Hintergrund, statt mit dem nächtlich schwarzen des ersten Teils, sowie durch die Dominanz der Schrift in der „Dream Interpretation“ spielt Spiegelman auf eine protokollierende Schuld-Diagnose des Arztes der Lady Macbeth an, und die eingedeutschte Schreibweise des eigenen Namens (Doctor Shpiegelmann) verweist auf Dr. Freud. In Bildern wird nur die spuckende Wirtin mit der Wurst erläutert. Vermutlich würde Freuds Deutung der 3. Klasse der Träume, „die zwar einen verdrängten Wunsch darstellen, aber ohne oder in ungenügender Verhüllung“, hier am ehesten zutreffen. Freud klassifiziert weiter: „Diese letzten Träume sind regelmäßig von Angst begleitet, welche den Traum unterbricht.“36 Aber Dr. „Shpiegelmann“ führt die Freudsche Diagnose des Traumes, die auch den Betrachtenden von 1977 eingeleuchtet hätte, nicht durch, sondern interpretiert die erwartbare Deutung zur Schuld um. Statt im Sinne Freuds die Latenz des verbotenen sexuellen Begehrens zu konstatieren, sei es allein die Tatsache der Teilnahme an der karnevalistischen Orgie oder sei es seine zu vermutende Onanie in die Kissen – gespiegelt im Bild der Wirtin –, wird die Party als das manifeste Mordgeschehen des 20. Jahrhunderts gedeutet. Als Gast der Party, deren Amüsement er nicht mitmachen kann, erblickt Spiegelman sich dennoch als schuldiger Täter in der Spiegelszene: Die Abgrenzung von dieser Gesellschaft gelingt nicht. „The Party is obviously the Nazi Party!“ Die beleibte Frau habe „an uncanny resemblance“ mit Odilo Globocnik, die Wurst, „a polish sausage“, zeige ungefähr die Silhouette der Landkarte des von Deutschen besetzten Polens und „the ‚revolting‘ display“, das Erbrechen der Frau, symbolisiere „the tragic uprising oft the jews in the Warsaw Ghetto! … And when the

35 Abgebildet in: Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers, München: Rogner & Bernhard (Reprint) 1977, Abb. 79. 36 S. Freud: Traum, S. 75.

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Kathrin Hoffmann-Curtius dreamer attempts to wipe away the horrors of World War Two (his mustache), he is, nevertheless, left face-to-face with the naked truth of his own guilt!“ Auch wenn es im untersten Streifen des Comics hell wird, zeigt das Ende kein erlösendes Erwachen aus dem Schlaf, so wie Little Nemo sich immer wieder in seinem Bett im Kinderzimmer wiederfindet, sondern verstärkt die traumatische Erinnerung. Spiegelmans familiäres Trauma und zugleich die NS Geschichte besetzen die Sicht auf die kotzende Frau, sie wird von Spiegelman zur faschistischen Gewaltherrschaft bzw. zu dem NSMassenmörder neben Eichmann erklärt, dem für die Organisation und Durchführung der Ermordung von circa zwei Millionen Juden in Polen verantwortlichen SS-Brigadeführer Globocnik.37 Die namentliche Nennung ist ungewöhnlich, denn trotz seiner entscheidenden Position ist er weitgehend unbekannt; weniger ungewöhnlich ist hingegen die Darstellung der NS-Männerherrschaft in weiblicher Gestalt.38 Der Autor und Interpret des Traumes wählt hierzu ein Bild der monströsen Frau, das schon seit Beginn der faschistischen Herrschaft für Hitler und den NS eingesetzt wird.39 Die Domina-Gestalten mit Hakenkreuz von Robert Williams aus dem Underground Comic Coochy Cooty, Men’s Comics No. 1 von 197040 waren Spiegelman sicher bekannt, denn er und Williams publizierten in demselben Underground Comicheft.41 Es ist auch anzunehmen, dass er die Bordellschilderung aus Ka-

37 Joseph Poprzeczny: Hitler’s Man in the East, Odilo Globocnik, Jefferson, North Carolina/London: McFarland 2004. 38 Irit Rogoff: »Von Ruinen zu Trümmern. Die Feminisierung von Faschismus in deutschen historischen Museen«, in: Silvia Baumgart/Gotlind Birkle et al (Hg.), Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin: Reimer 1993, S. 258–285. Kathrin Hoffmann-Curtius: »Feminisierung des Faschismus«, in: Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag, Antifaschismus: Geschichte und Neubewertung, Berlin: Aufbau Verlag 1996, S.45–69. Silke Wenk: »Rhetoriken der Pornografisierung. Rahmungen des Blicks auf die NS-Verbrechen«, in: Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit, Silke Wenk (Hg.), Gedächtnis und Geschlecht, Frankfurt/ Main/New York 2002: Campus, S. 269-294. 39 Bereits Heinrich Mann verglich in Der große Mann 1933 den Reden haltenden Adolf Hitler mit einem nackten Urwesen, einer Venus, die den Schlammfluten entsteigt; s. Hoffmann-Curtius: Feminisierung, S. 56. 40 Berkeley: The Print Mint 1970. 41 Arcade. The Comic’s Revue, Winter 1975, Vol. 1, No. 4, s. Abbildung in: Langbein/Theweleit: Bruch® 1981, o. S. (S. 25), vgl. auch Estren: A History, S. 133.

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Re-rezipierte Erinnerung Tzetniks House of Dolls42 kannte, zumal er mit dem Titel des Comics Prisoner on the Hell Planet dessen vielfach rezipiertes Konzept von Auschwitz als other planet variierte. Dem lesehungrigen Spiegelman können auch die Sex-and-Crime-Hefte über die KZs, die Stalag-Hefte,43 in die Hände gekommen sein. In den sechziger Jahren waren in Israel diese Hefte mit einem illustrierten Umschlag, auf dem die NS-Täter in weiblicher Gestalt vorgestellt werden, höchst populär, wohl auch, weil die „guten“, von außen eingreifenden Soldaten die bedrohlichen Frauen in den Lagern besiegten. Zwar greift Spiegelman mit der beleibten Figur der Wirtin den des öfteren dargestellten Versuch auf, mit der Exposition des Obszönen die Abgrenzung zu dem NS als dem Anderen, hier dem weiblichen Monster mit dem überdimensionierten koscheren Phallus, zu erreichen.44 Zu fragen ist jedoch, inwieweit diese Differenzkonstruktion gelingt, gelingen soll. Im Unterschied zu den meisten anderen weiblichen Figuren, die den NS repräsentieren, stellt die Wirtin, das Übel, den Widerstand der Juden des Warschauer Ghettos ausspeiend oder ejakulierend, ein bedrohliches Bild der Verführung dar. Sie ist mit der polnischen Wurst – normalerweise ein Gegenbild zu koscherer Nahrung – als Spiegelmans phantasmatische Vorstellung der Onanie zu sehen gegeben. Zugleich ist die gefährliche, mit Kastration drohende Frau aber schon im Besitz Polens und/oder des koscheren Phallus, sodass dem Träumer sexuelle Wunscherfüllungen mehrfach verstellt sind. Entsprechend Freuds Analyse der dritten Klasse der Träume, in der die „ungenügende Verhüllung“ von „Angst begleitet“ wird, „welche den Traum unterbricht“,45 endet auch Spiegelmans Traum von der phallischen Frau mit der von Angst besetzten Reflexion seiner Teilhabe an der Faszination.

42 Omer Bartov: »Kitsch and Sadism in Ka-Tzetnik’s Other Planet: Israeli Youth Imagine the Holocaust«, in: Jewish Social Studies, Vol. 3, No. 2, Winter 1997, S. 42–76; hier S. 44, 50f., S. 55–57; Insa Eschebach: »SexZwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Geschichte, Deutungen und Repräsentationen«, in: L’Homme 2010, S. 65-73. 43 Tal Sterngast: »Schultzes Hündin«, in: die Tageszeitung, 6.8.2007, S. 15; Bartov: Kitsch, S. 49; Eschebach: Sex-Zwangsarbeit. 44 Silke Wenk, »Expositionen des Obszönen. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in der visuellen Kultur«, in: Insa Eschebach und Regina Mühlhäuser, Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und SexZwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 3, Berlin: Metropol 2008, S. 279–295. 45 S. Freud, Traum, S. 75.

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Kathrin Hoffmann-Curtius Spiegelmans Repräsentation des NS als weibliches Monster gibt die Figur – und das ist singulär im Vergleich mit anderen weiblichen Allegorien des NS – als Phantasma aus der Traumarbeit des Mannes zu erkennen. Er ermöglicht keine heldenhafte Überwindung der gefährlichen Weiblichkeit durch die ihr einstmals unterworfenen Opfer wie in Binky Brown oder eine Auflösung der Gewalt im allgemeinen Liebesakt wie in Coochy Cooty, vielmehr steht am Ende der Seite eine weitere Zuschreibung von Macht an die Täter. Zugespitzt wird diese Lesart dadurch, dass Spiegelmans plötzliche Ähnlichkeit mit Hitler und sein Bekenntnis zu eigener Schuld in unmittelbarer Nähe zum NS und dem Judenmord stehen, obwohl er an anderer Stelle den Ausruf „We must never forget the 6 Million“ als „eine dieser komischen Bitten um Sympathie“46 recht distanziert beurteilt. Schon hier setzt sich der Autor von apodiktischen Grenzziehungen gegenüber der NSGewaltherrschaft ab, genauso wie im Vorspann von 2008 seine provokante Identifikation mit dem generationenübergreifenden Schreckbild Hitlers im Kopf der Schlange des Springteufels zu sehen gegeben wird. Gegen die damalige, angebliche sexuelle Revolution, die vielen Sexszenen und die Feminisierung des NS in Underground Comics wird in der „Shpiegelmannschen“ Traumdeutung das gängige Muster der Pornografisierung des Faschismus gleichsam umgekehrt und das sexuelle Begehren von der NS-Geschichte überschrieben. Der Sohn der Überlebenden signalisiert in verstörender Absicht eine Assimilation des Täters47, im unheimlichen SpiegelBild ist auch das Kind der Verfolgten mit von der Partie. In Deutschland, dem Land der Täter, initiierte unter den bildenden Künstlern dieser Zeit nur Anselm Kiefer 1969 mit seinen Besetzungen und Heroischen Sinnbildern eine Identifikation mit Hitler.48 Auch „Doctor Shpiegelmann’s Dream Interpretation“ enthält einen heroischen Part, der jedoch nicht das NS-Pathos aufnimmt, 46 Langbein/Theweleit: Bruch® 1981, o. S. (S. 13). 47 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München/Zürich: Piper1967, schreiben in Anlehnung an G. H. Pollock, eine produktive Trauerarbeit sei nur möglich, „wenn das verlorene Objekt nicht nur introjiziert, sondern vom Ich assimiliert werden kann. Das würde also in unserem Fall bedeuten, daß wir auch Hitler in uns selbst assimilieren, d.h. fortschreitend überwinden können“, S. 60. 48 Ausst.-Kat.: Anselm Kiefer, Heroische Sinnbilder. Heroic Symbols. Katalog zur Ausstellung Berlin-Mitte, hrsg. von Heiner Bastian, München: Schirmer/Mosel 2008.

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Re-rezipierte Erinnerung sondern the abject, das Verworfene in der kleinsten, dafür jedoch der monumentalsten Komposition der ganzen Seite. Sie ist ins Protokoll neben Globocnik gesetzt und wiederholt im Ausschnitt die Ansicht der speienden Wirtin mit der koscheren Wurst. „The ‚revolting‘ display“ soll den tragischen Warschauer GhettoAufstand symbolisieren. Nun sind in den Strom des Auswurfes Davidsterne eingezeichnet und das Erbrochene erscheint wie ein Sternenschweif. Durch die religiöse und kosmische Kennzeichnung wird aus dem Unverdauten und Verachteten ein ehrendes Andenken an das widerständige Judentum in Polen. Klaus Theweleit und Martin Langbein kommentierten in der ausführlichen Einleitung zu der deutschen Ausgabe von Breakdowns 1981 fast alle strips einzeln und gaben viele kreative Erläuterungen zu den Comics, deren Geschichte und deren spezifischer Medialität, nur dieser Traum blieb, vielleicht weil Scham das ansonsten inspirierte Schreiben stocken ließ, ausgeklammert. Volker Reiche zitiert in seiner Rezension diesen Traum ausführlich, vermutet jedoch, anders als Spiegelman, Freud weiter folgend, dass Spiegelman keine Verschiebung analysiere, sondern die Interpretation die eigentliche Verschiebung sei: „Nie sah ich ein deutlicheres Pimmel-Symbol! Aber der junge Mr. Spiegelman will es uns als Karte des besetzten Polens verkaufen!“ Während für Reiche die sexuelle Wirkmächtigkeit der Bilder im Sinne Freuds erhalten bleibt, werden sie bei Spiegelman von den Bildern der Ermordung der Juden überschrieben. Reiche vermag Dank Freud seine Erinnerung aufzuarbeiten, Spiegelmans Freudsche Analyse wird durch das Nicht-Vergessen-Dürfen gebrochen. Reiches Vergleich von Spiegelmans Breakdowns von 1977 mit seinem ersten Comicbuch Liebe49 von 1976, eine für die Zeit ungewöhnlich selbstkritische Beobachtung der Männerrolle in der herkömmlichen Geschlechterdifferenz der revoltierenden Szene in der BRD50 (Abb. 4), zeigt nun den Kontrast der angeblichen „Kunstcomicdiagramme mit sehr zurückhaltender Schwanz49 Volker Reiche: Liebe. Ein Männer-Emanzo-Comic (??!), Linden: Volksverlag 19792. 50 Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München: Siedler 2005, schildert zwar die westdeutschen Debatten über Sexualität, kommt aber zu dem umstrittenen Schluss, dass sich diese Bewegung weniger mit dem mörderischen System des NS auseinandergesetzt, als vielmehr von dessen vermeintlich repressiver Sexualmoral abgegrenzt habe. Sie folgert, dass damit zugleich der Generationenkonflikt um die Täterschaft der Eltern ausgetragen und vermieden wurde (S. 220).

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Kathrin Hoffmann-Curtius

Abbildung 4: Volker Reiche, Über Breakdowns, FAZ 2.12. 2008, Nr. 282, S. 33.

einwaage“ Spiegelmans zu seiner vorgeblich eigenen, jedoch hier im Stile von Robert Crumb51 karikierten Sexbesessenheit. Im Vor und Zurück seiner Gedanken zu Spiegelmans Einstellung fixiert Reiche aber dessen Verknüpfung von Sexualität und Schuld nicht und lässt offen, was nicht gesühnt bzw. nicht zu sühnen ist „War nicht sein Ding, die Sexualität… Nein – falsch! Gekoppelt mit Schuld & Sühne – Nein – Falsch! Nie gesühnt! – War sie wichtig! Ziemlich…“ Obwohl beide Autoren die Arbeiten Robert Crumbs schätzen, wird nur in Reiches gezeichneter Positionierung von sich selbst die sexuelle Gier zum Fakt. Die anthropomorphe Maus oder Ratte als Comicfigur Günter, eine Auseinandersetzung mit Crumb, zitiert aus der Panelserie Eines Tages bei Chris in der Küche aus

51 Zu dem amerikanischen Comiczeichner, dessen Arbeiten das Zentrum der Produktion von Underground Comix an der amerikanischen Westküste bildeten und Reiches Zeichenstil in Liebe prägte, siehe Ausst.-Kat. Crumb, Köln 2004.

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Re-rezipierte Erinnerung dem Band Liebe, zeigt demonstrativ seinen erigierten Penis. Der beigefügte Kommentar „bei mir kam auch ’ne Maus vor … oder Ratte … weiss nicht mehr … aber ohne KZ … das hat mich zu der Zeit nicht beschäftigt …“, schreibt unumwunden das Fehlen der damals von Reiche übergangenen deutschen NS-Geschichte auf, die Spiegelmans Schuldgefühle hingegen dermaßen prägte, dass sie das sexuelle Begehren des Traumes damit überlagerten, während jetzt wiederum Reiches Atelier-Schubladen im panel daneben ausschließlich durch Politik gekennzeichnet sind: „Politik, Noch mehr Politik, Finanzkrise“.52 In den anschließenden Zeilen zu seiner Jugend macht Reiche klar, dass sein damaliges Desinteresse nicht auf Unkenntnis der KZs beruhte. Er stellt seinen Bruder und sich als lesende Kinder in Lederhosen dar, die selber Kogon53 „aufgetrieben“ hatten. Zwar führt er in seiner vorletzten Sprechblase „beide [Eltern, Zusatz KHC] als stramme Nazis Unterstützer des Mordsystems“ an, jedoch wird nur an der Mutter das Verschweigen der Eltern abgehandelt. Im Unterschied zu der Erzählung in Breakdowns, gab es keine Aufklärung. Die Mutter bekommt nur oberflächliche und verharmlosende Sprüche über den NS in den Mund gelegt, obwohl/weil sie „BDM…Gauleiterin von Sachsen“ gewesen sein soll. Trotz der genauen Verfolgung der Prozesse der Frauenemanzipation seit den 1970er Jahren argumentiert auch er nur mit der Täterin und feminisiert einmal mehr den NS. Beim ersten Anschauen von Spiegelmans 3. Traum lässt Reiche seinen Ich-Erzähler eine heftige Diskussion zwischen seinem Kater „Herr Paul“ über die Verwendung von Katz- und Mausfiguren in Spiegelmans berühmtem Hauptwerk Maus beginnen, die der Autor als leicht bezweifelten Tagtraum unentschieden abbricht, um zuletzt den Träumen Spiegelmans mit „einem wahren Traum! Von mir! Und echt wahr ich schwöre!“ zu antworten. Die von Reiche ausgeführte Wiederholung und der Inhalt des Trau52 Im Kommentieren der Lektüre wertet Reiche seine eigenen Arbeiten zunehmend ab: Seine Mecki-Arbeit wird im 2. Panel des ersten Blocks im Innern der Zeitung durch den Zusatz „Drecki“ politisiert, ansonsten ist die Möblierung mit der Version auf dem Cover der FAZ identisch. Entpolitisiert wird hingegen Günter aus der satirischen Inszenierung bei Chris in der Küche im Band Liebe durch die Reduktion der Auseinandersetzung mit der beginnenden neuen Frauenbewegung auf seine sexuelle Begierde. 53 Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Erstveröffentlichungen 1946 in Frankfurt/Main, München und Düsseldorf.

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Kathrin Hoffmann-Curtius mes lassen keinen Zweifel daran, dass er einen Angsttraum aufzeichnet, den er „als Kind, als Jugendlicher und sogar noch als junger Mann träumte“. Der Autor platziert sich im karierten Hemd seiner heutigen Kleidung in das Traumszenario seiner Jugend, einen dunklen Keller mit einem tiefschwarzen Kohlenhaufen. Er gibt zu sehen, dass ihm jetzt, im inneren Disput mit Spiegelman, die Haare zu Berge stehen. In Sprechblase und Kommentar ächzt er sein Bekenntnis, das aus Trauminhalt und Deutung, sichtbarem Geschehen und unsichtbaren Halluzinationen besteht: „Ich soll Kohlen holen. Ich betrete den Keller und sehe den großen schwarzen Kohlenhaufen. Und weiß sofort, dass darunter tote Menschen liegen, blutig, zerrissen, zermanscht, ein grässlicher Brei. Und weiß mit Gewissheit, dass das meine Leichen sind. Namenloses Entsetzen und überwältigendes Schuldbewusstsein lähmen mich…“

Selbstverständlich kennt auch Reiche den Umgang der Traumarbeit mit Metaphern.54 Er weiß daher den Leserinnen und Lesern des Comics schon in der bildlichen Andeutung des Kellers den seit Fontane bekannten Ausspruch der Leiche im Keller55 für den latenten Traumgedanken der verborgenen Schuld nahezubringen. Die Schilderung der blutig zerrissenen Leichen erinnert an manche aufgeschriebene Träume kurz vor und während des NS, die Barbara Hahn als Versuche versteht, die noch nicht da gewesenen, ungeheuerlichen Erfahrungen in Sprachbildern zu vermitteln: „When the real world turns into a nightmare, dreams provide the means of coming to terms with the absurdities of everyday life.“56 Mehr als sechzig Jahre danach schreibt Reiche in seinem Traum Bilder politischen Inhalts auf, die sich in den „Bilderatlas zur geheimen Geschichte des NS“ einfügen ließen, in welchem Walter Benjamin die politischen Inhalte seiner eigenen Träume zusammenstellen wollte.57

54 S. Freud: Traum, S. 60f. 55 Seit Fontanes Roman Unter dem Birnbaum von 1885 wurde Die Leiche im Keller eine deutsche Redewendung für verborgene Schuld. Rolf Bernhard Essig: Wie die Kuh aufs Eis kam, Berlin: Kiepenheuer/Aufbau 2007, S. 108. 56 Barbara Hahn: »A Century of Dreams? Dreaming After Freud«, in: dies. und Meike Werner, The Art of Dreams: Literature. Philosophy. Dance. Theatre, Amsterdam: Rodopi 2010 (in Vorbereitung). 57 Walter Benjamin, Briefe IV, S. 357–9, zit. nach Hahn: A Century.

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Abbildung 5: Volker Reiche, Über Breakdowns, FAZ 2.12.2008, Nr. 282, S. 36.

Anders als der jüdische Philosoph, der in Träumen „geheime“ Einsichten in die NS-Wirklichkeit imaginierte, um die Schikanen im NS zu überstehen, reflektiert Reiche die in der Gegenwart wirkende unmittelbare Vergangenheit und macht das Negieren und Verschwinden der Schreckensbilder im Nachkriegsdeutschland publik. Seine Halluzinationen beruhen jetzt auf tatsächlich stattgefundenen und in Bildern dokumentierten Ermordungen. Reiche gibt die Leichen im Keller nicht zu sehen, sie, die zu Rauch wurden, sich expressis verbis in Luft auflösten58, bleiben aber als nicht dargestellte und manifeste Zeichen für die Schuld der Deutschen in der Textur des panels anwesend. Der sichtbare „schwarze Kohlenhaufen“ kann an das Verbrennen im schwarz gezeichneten Comic Maus erinnern, aber auch als das Schwärzen bekannter Bilder von Leichenhaufen gelesen werden und im Besonderen als das Verbergen der Schuld. Reiche bemerkt, dass ihn „[Na]menloses Entsetzen und überwältigendes Schuldbewusstsein lähmen“, und stellt auf diese Weise gegen Ende des Comics (Abb. 5) eine Verbindung zu Spiegelmans geträumten Schuldgefühlen her. Sie führen Reiche dazu, das eigene geträumte Wissen – „dass es meine Leichen sind“ – zu deuten: „Ich halt’s für möglich, dass sich meine Kellerangst füllte mit unverstandener HolocaustLektüre und dem Schweigen meiner Eltern.“ Reiche kann sich an eigene – vergangene – Ängste erinnern und das Verdrängen der Erinnerung an die Ermordung der Juden aufzeichnen, ohne seine aus der FAZ vertraute Strizznarration aufzugeben.

58 Zu der Metapher der Luftmenschen, die keine blieb: Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

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Kathrin Hoffmann-Curtius Spiegelman bearbeitet in verstörenden, immer wieder neuen Figurationen, in Einschnitten und Überblendungen diese Erinnerung, er kann und darf nicht vergessen. In Spiegelmans Interpretation des dritten real dream hat die Vernichtung der 6 Millionen Juden Freuds phalluszentrierte Traumdeutung außer Kraft gesetzt.

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Re-rezipierte Erinnerung

A BBILDUNGEN Abbildung 1 : Art Spiegelman, Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@ *!, 2008. Abbildung 2 : Art Spiegelman, Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@ *!, 2008. Abbildung 3: Art Spiegelman, Breakdowns. From Maus to Now. An Anthology of Strips, 1977, wieder abgedruckt in Breakdowns 2008. Abbildung 4 : Volker Reiche, Über Breakdowns, FAZ 2.12. 2008, Nr. 282, S. 33. Abbildung 5 : Volker Reiche, Über Breakdowns, FAZ 2.12. 2008, Nr. 282, S. 36.

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Das Nachleben der Schulfotos MARIANNE HIRSCH UND LEO SPITZER

1. Klasse 1C der Deutschen Schule, Bukarest 1956

Abbildung 1: Klasse I. C. Deutsche Schule, Bukarest, Rumänien, 1956.

Im Klassenfoto meiner ersten Klasse spiele ich die Rolle des braven Mädchens: In der Mitte der ersten Reihe sitzend, lächle ich lieb in die Kamera. Der Assistent des Fotografen, der links von der Kamera steht, muss versucht haben, uns zum Lachen zu bringen, denn selbst unsere Lehrerin, Frau Singer, hat ein heiteres, wenn auch etwas befangenes Lächeln aufgesetzt. Ich trage zwar nicht die Schuluniform wie einige der anderen Mädchen – ein graues Tweedkleid mit weißem, aufgeknöpftem Kragen und eine schwarze

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer Schürze –, aber ich lache über dieselben Witze wie alle anderen und scheine in meiner Klasse integriert zu sein, der 1C der Deutschen Schule in Bukarest im Jahre 1956. Dennoch erkennt man im Bild eine deutliche Geste der Unterscheidung: Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die sich auf die Tische lehnen oder ihre Arme einfach seitlich herunterhängen lassen, habe ich die Arme mit dem Mädchen neben mir verschränkt; beide haben wir den gleichen Gesichtsausdruck. Wenn ich heute andere Klassenfotos genauer ansehe, aus dem Kindergarten oder der zweiten und dritten Klasse, merke ich, dass ich es mir zur Gewohnheit gemacht hatte, eine ‚beste Freundin‘ an den Händen zu halten oder die Arme mit ihr zu verschränken. Auf dem Foto der ersten Klasse sind meine Freundin und ich jedoch nicht die Einzigen, die sich an den Händen halten: Die Jungen hinter uns haben auch die Arme verschränkt, in einer Geste der Vertrautheit und Kameradschaft. Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an das Mädchen neben mir in diesem Foto. Meine beste Freundin aus der ersten Klasse, Gaby Langada, ist nicht mit im Bild, weil sie in der Parallelklasse war. Aber ich erkenne und erinnere mich an einige der anderen Mädchen und ich erkenne auch einige der Jungen wieder, vor allem die ungezogenen Störenfriede, die uns terrorisierten. Aber wer ist das kleine Mädchen, dessen Arme ich so vertrauensvoll halte? Und warum unterbrechen wir die Regelmäßigkeit des Bildes mit unserer spontanen und zweifellos unbewussten Geste der Freundschaft, die uns als Zweiergruppe hervorhebt? Ist diese Geste bloßer Ausdruck unserer Unsicherheit? Oder reflektiert sie eine Neigung, jeglicher Uniformität zu widerstehen und sich von dem Kollektiv der Klasse zu differenzieren? Obwohl ich mich nicht mehr an die Namen meiner Klassenkameraden erinnere, erinnere ich mich an die ärmeren Kinder, die ungezogenen Kinder, die fügsamen Jungen und Mädchen, die jüdischen und die deutschen Kinder, die schon Deutsch sprachen, und die rumänischen Kinder, die es noch lernen mussten und denen es sehr schwer fiel. Keiner dieser Unterschiede ist im Klassenfoto sichtbar.

2. Warum Schulfotos? Das Foto aus der ersten Klasse C in der Deutschen Schule in Bukarest ist typisch für viele der Eigenschaften, die Klassenfotos teilen, und sie ermöglichen dadurch eine nähere Analyse dieser alltäglichen fotografischen Gattung. Schulfotos zeigen Klassenfotos

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Das Nachleben der Schulfotos als Vermittler der Erinnerung, aber sie bringen auch die Verletzbarkeit der Kindheit, den Verlust und den sozialen und psychologischen Prozess der Gruppenidentität hervor. Klassenfotos werden gewöhnlich von Berufsfotografen nach immergleichem Rezept und mit wenigen oder gar keinen ästhetischen Ansprüchen gemacht. Sie haben alle die gleichen oder sehr ähnliche Merkmale. Eine Gruppe von Schülern steht oder sitzt auf Bänken (oder aufgereiht vor dem Schulgebäude) und alle schauen den Fotografen an. Oder sie schauen einen Assistenten an, der sie zum Lachen animiert. Die Gruppe wird gewöhnlich von vorne und mit einem Weitwinkelobjektiv fotografiert. Die meisten Klassenfotos unterscheiden sich von anderen Gruppenbildern durch die zentrale Position eines Lehrers, um den die Schüler gruppiert sind. Die Anwesenheit des Lehrers oder der Lehrerin, wie auch die des Fotografen als Ordnung schaffende Instanz, veranlasst die Kinder, Haltungen und Gesichtsausdrücke anzunehmen, die ihr Einfügen in eine Gruppenidentität demonstrieren, die ihnen durch die Mitgliedschaft in der Klasse auferlegt wird. Die Schule ist nicht nur die Institution, in der Kinder Lesen und Schreiben lernen und in der ihnen die nationale Kultur, Wissenschaft und Geschichte nahegebracht wird. Sie ist auch der Ort, an dem Verhaltensregeln, Moral, Verantwortung und Respekt vor der Autorität und der etablierten Ordnung vermittelt wird. Während sie in dieser Aufgabe von anderen Institutionen unterstützt wird – wie zum Beispiel durch die Familie, das Gesetz, die Kunst und die Medien – ist sie hauptsächlich für die Gestaltung und das Einprägen der Werte, Ansichten und Mythen verantwortlich, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft ausmachen. Sogar religiöse Schulen oder Schulen von sprachlichen Minderheiten, wie die Deutsche Schule in Bukarest in Rumänien in den 1950er Jahren, passen sich dieser generellen ideologischen Ausrichtung an, solange sie staatlich anerkannt sind. In dieser Hinsicht können Klassenfotos, wie Diplome, als eine Art Zertifizierung gesehen werden, eine Bestätigung der Stellung in der Klasse und der Beteiligung an einem gewissen Ablauf der Sozialisation, der Bürgerschaft und Nationalzugehörigkeit definiert. Jedes dieser Bilder ist sichtbarer Beweis für die Gemeinsamkeiten der fotografierten Kinder, die oft noch durch Uniformen und andere Mittel der Angleichung hervorgehoben werden. Der Vereinheitlichungseffekt der Klassenfotos minimalisiert die Möglichkeiten der Subversion beim Fotografieren – die Kinder mögen zwar versuchen, herumzualbern, aber die Bilder, die von

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer der Schulzeit erhalten bleiben, sind ohne Zweifel diejenigen, in denen die Gesichter am einheitlichsten erscheinen. Wenn wir unsere eigenen Klassenfotos ansehen, dann sehen wir uns selbst als die Subjekte einer Institution und deren Ideologie, aber uns wird auch klar, dass in diesen Fotos nicht nur die ideologische Formierung verzeichnet wird, sondern dass die Fotos selbst die Macht der Institution anzeigen, indem sie das Individuum in eine transindividuelle generationsbedingte Gruppenidentität und Altersklasse einfügen. Und sie zertifizieren diese Einfügung. Die Kamera ist daher eine der Technologien der Sozialisation, die Kinder in ein dominantes Weltbild integrieren helfen: Sie produziert und reproduziert diese Erzeugung von Konsens. Während Porträts nach Hans Georg Gadamer einen „Seinszuwachs“1 produzieren, einen Überschuss, der die Einzigartigkeit des dargestellten, bürgerlichen Individuums verfestigt, negieren Klassenfotos gerade diese Einzigartigkeit und werden somit in gewissem Sinne AntiPorträts. Klassenfotos bescheinigen die Unterordnung der Individualität und die Zugehörigkeit zu einer generationsbedingten Altersklasse, sie bescheinigen auch die Aufnahme, unbehaglich oder nicht, in eine trans-individuelle gesellschaftliche Gruppierung und auch den Widerstand dagegen. Wie jedes Foto zeigen Klassenfotos auch die Widersprüche oder heben die gegensätzlichen Bedeutungen hervor, die das, was der Fotograf festhalten wollte, weit überschreiten. Sie zeigen den Prozess der Interpellation und sein Scheitern, indem sie sich gegen die Einfügung in die dominante Ideologie sträuben. Deshalb vielleicht rufen Klassenfotos komplexe Gefühle hervor: vom zärtlichen Erinnern der kindlichen Verletzlichkeit bis hin zum Widerwillen, körperlich und psychisch, den die Räumlichkeiten des Klassenzimmers, die in den Bildern zu sehen sind, noch immer auslösen. Somit können wir vielleicht erklären, dass diese Fotos trotz ihrer Gleichheit und des institutionellen und konventionellen Blickes, der sie schafft, allgegenwärtige Werkzeuge persönlicher und gemeinschaftlicher Erinnerung sind: dass sie in Gedenkbüchern und auf Internetseiten, bei Klassentreffen, in der Geschichtsschreibung einer Gemeinde erscheinen. Klassenfotos sind also

1

Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke, Bd. 1: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 6. durchgesehene Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck 1990, S. 153. Vgl. Ernst van Alphens Diskussion über Gadamer und das Portrait, »The Portrait’s Dispersal«, in: Art in Mind, Chicago: University of Chicago Press 2005, S. 21–47.

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Das Nachleben der Schulfotos Archive komplexer und widersprüchlicher Gefühle – Gefühle der Zugehörigkeit und des Widerstands. Wenn wir Klassenfotos als eine Kategorie von Gruppenbildern betrachten, z. B. Bilder von Jugendgruppen, Gilden, Klubs oder Gewerkschaften, dann können wir Vermutungen anstellen über die Assoziationen, die sie hervorrufen. Im Sinne von Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne können wir sie als Formen sehen, die Gefühle über lange Zeiten vermitteln und somit ein visuelles Repertoire der Erinnerung schaffen, mit dem wir uns identifizieren können.2 Schulfotos hätten dadurch ein emotionelles Leben, das durch diese Assoziationen weitgehend vermittelbar wäre.3 Sie erinnern an die Unterordnung des Einzelnen in der Gruppe und drücken den ambivalenten Wunsch aus, einerseits zur Gruppe zu gehören, andererseits aber auch der Macht der Gruppe, die die Einzelnen unterordnet, zu widerstehen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Anonymität ist charakteristisch für das emotionelle Leben der Klassenfotos. Gerade dadurch werden sie zu einem so wirkungsvollen Medium für diejenigen, die verschwundenen Generationen nachtrauern und ihrer gedenken möchten. Sie sind Maß der Veränderung, die das Vergehen der Zeit mit sich bringt, und sie helfen uns beim Erinnern an vergangene Ereignisse. Sie sind jedoch nicht nur wirkungsvolle Helfer unserer eigenen Erinnerung: Sie erinnern uns auch an Gleichaltrige, die aus unserer Gemeinschaft verschwunden sind und so sind sie ein wichtiges politisches Instrument gegen das Vergessen. Sie sind Beweise einer Existenz und einer verschwundenen Gegenwart. Von der Allgegenwart und den Erinnerungsmöglichkeiten der Klassenfotos inspiriert, haben so verschiedene Künstler wie Christian Boltanski in Frankreich und Marcelo Brodsky in Argentinien auf solche Fotos zurückgegriffen, um sie als Basis für ihre Installationen der späten 1980er und 1990er Jahre zu verwenden. Obwohl diese beiden Künstler in sehr unterschiedlichen geografischen, politischen und historischen Kontexten arbeiten und obwohl sie Klassenfotos auf unterschiedliche Weise nutzen, werden bei beiden sowohl das emotionelle Leben der Klassenfotos als auch ihre Beweiskraft zu zentralen ethischen und ästhetischen

2

3

Vgl. Aby Warburg: »Einleitung zum Mnemosyne-Atlas«, in: Ilsebill Barta Fliedl/Christoph Geissmar (Hg): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg/Wien: 1992, S. 171–173. Vgl. Jill Bennett: Practical Aesthetics: Events, Affects and Art After 9/11 (im Erscheinen).

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer Erinnerungselementen. Ein Vergleich der Werke dieser beiden Künstler kann die Fragilität von Erinnerung nach der Katastrophe ebenso verdeutlichen wie auch der Vergleich der verschiedenen ästhetischen Mittel, die zu ihrer Darstellung eingesetzt werden.

3. Schulfotos als Archive des Verlusts Bekanntlich hat Christian Boltanski bei einigen seiner GedenkInstallationen mit gefundenen Gruppen- oder Klassenfotos gearbeitet und somit eine ausdrucksstarke Erinnerungsästhetik geschaffen.4 Obwohl diese Bilder aus verschiedenen Quellen stammen – von einer jüdischen Schule im Zweiten Wiener Bezirk (in den 1930er Jahren weitgehend jüdisch), einer jüdischen Schule in der Berliner Großen Hamburgerstraße aus den 1930er Jahren, einem Purimfest in einer jüdischen Schule in Paris im Jahr 1939 und einer französischen Schule in Dijon in den 1970er Jahren – sind die Installationen, in die sie eingebettet sind, einander sehr ähnlich. Sie alle bestehen aus einzelnen Gesichtern, die aus Gruppenbildern ausgeschnitten und vergrößert wurden, bis sie ganz unscharf sind und sich beinahe auflösen. Diese Fotos von verschwommenen Gesichtern werden dann in neuen Gruppierungen an den Wänden installiert, auf Biskuitschachteln montiert oder auf weiße Leinwand gedruckt. Boltanskis beeindruckende Installationen haben suggestive Titel wie Archive, Monumente, Rekonstitutionen, Lektionen der Dunkelheit, Reserven, Reliquienschreine, Altäre oder sie sind spezifischer betitelt mit Das Lycée Chases oder Die Kinder von Dijon. Sie sind in vielen verschiedenen Räumen installiert worden, in Galerien, Museen, Kirchen, Kappellen und sogar auf Bahnhöfen. Alle Installationen benutzen Lampen, um die Gesichter auf eine zum Teil recht aggressive Weise zu beleuchten – einfache Schreibtischlampen, die an Verhörlampen erinnern, deren Kabel auffällig um die Bilder herum gelegt sind und nach unten hängen.

4

Vgl. Lynn Gumpert: Christian Boltanski, Paris: Flammarion 2001.

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Das Nachleben der Schulfotos

Abbildung 2: Christian Boltanski (1987), Autel Chases, detail.

In ihrer Vergrößerung und Undeutlichkeit haben die Gesichter ihre direkte Verbindung zum Originalbild verloren, aus dem sie ausgeschnitten wurden, und genauso auch die Verbindung zu den Individuen, die in diesen Klassenfotos dargestellt sind. Zum Beispiel gibt es keinen Unterschied zwischen den verschwommenen Gesichtern der Kinder aus Dijon in den 1970er Jahren und denen der jüdischen Schüler aus Wien oder Berlin in den 1930er Jahren. Boltanski wird als Anti-Historiker betrachtet: Seine Installationen stehen im Zeichen von Verlust und Trauer, aber sie haben nur vage und oft irreführende Bezüge zu historischen Ereignissen wie zum Beispiel dem Holocaust. Boltanski selbst schreibt, dass seine Kunst nicht über den Holocaust ist, sondern nach ihm. In diesem Danach provozieren und evozieren bestimmte künstlerische Stilmittel ein eher unbestimmtes, ikonisches und nicht indexikales Gefühl der Trauer. Indem er Klassenfotos benutzt, betont Boltanski die dem Genre anhaftende Anonymität und das Aufgehen des Individuums in der Gruppe, gleichzeitig bestreitet er diese Anonymität durch die

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer elegische Struktur, in die er die Bilder einbindet. Klassenbilder sind, laut Boltanski, an sich traurig. Wir schauen sie an und wissen, dass einer gescheitert ist, ein anderer gestorben und eine Dritte ihr Potenzial nicht genutzt hat. Durch spezifische Bezeichnungen wie Wien, Berlin und mit Hilfe der Jahreszahlen wird die den Werken inhärente Trauer und Schmerzlichkeit durch unser historisches Wissen und unsere Schlussfolgerungen begründet und verstärkt. Die einzelnen vergrößerten Gesichter, denen die Glühbirnen direkt in die Augen leuchten, dienen als Repräsentanten eines traumatischen kollektiven Schicksals, das der Künstler nur andeutet. Die besonderen ästhetischen Elemente der Installationen könnten tatsächlich an das Schicksal jüdischer Kinder während des Holocausts erinnern. Doch indem der Künstler ihre Geschichten nicht erzählt und sie auch nicht als Opfer individualisiert, ist dieser bestimmte Bezug nur einer von vielen möglichen Bezügen. Ihre Anonymität verstärkt das geisterhafte Wesen der Kindergesichter. Als Geister suchen sie nicht nur die ArchivFotografien heim, von denen sie ausgeschnitten wurden, sondern auch uns, die wir diese Bilder nicht unschuldig ansehen können. Selbst wenn die Personen auf den Bildern überlebt haben, sind sie als Tote dargestellt oder von einem Tod gezeichnet, von dem es kein Entkommen gab. Was sind die Bedingungen dieses Tötens? Laut Ernst van Alphen produzieren Boltanskis Darstellungsstrategien durch das gefährliche Wiederholen oder gar Nachstellen der Verfolgungsund Foltermethoden der Nazis – Licht, Kabel, Schachteln und andere Gesten der Klassifizierung – einen Holocaust-Effekt.5 Entgegen dieser Einschätzung lassen sich Boltanskis Strategien unserer Ansicht nach eher als Protest und Bloßstellung deuten. Die Tatsache, dass es Kindergesichter sind, die aus dem spezifischen Zusammenhang der Klassenfotos herausgenommen wurden, verleiht diesen Installationen eine vielschichtige Ironie. Wie wir bereits gezeigt haben, sind Klassenfotos Mittel und Zeugnis von Assimilation und Integration. Indem er sich auf die Gesichter der Kinder konzentriert, kann der Künstler ein Regime anklagen, das Kinder verfolgte anstatt sie zu beschützen, das seine Bürger assimilierte und die Bürger, die Juden waren, deportierte und ermordete. In Boltanskis Arbeiten haftet der für Klassenfotos charakteristische institutionelle Blick den Bildern auch weiterhin an,

5

Vgl. Ernst van Alphen: Caught by History. Holocaust Effects in Contemporary Art, Literature, and Theory, Stanford: Stanford University Press 1997, S. 93–122.

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Das Nachleben der Schulfotos obwohl sie in einem gänzlich neuen Rahmen präsentiert werden. Auf einem Klassenfoto einer jüdischen Schule abgebildet zu sein, wäre ein unbestreitbarer Beweis der jüdischen Identität gewesen, was ein mögliches Verstecken oder Entkommen umso schwerer gemacht hätte. Boltanskis Installationen wiederholen diese Bloßstellung der Kinder auf eindrucksvolle Weise. Während die Titel der Arbeiten diese Gefahr verdeutlichen, betonen ihre visuellen und ästhetischen Aspekte die Anonymität und Allgemeinheit und unterminieren somit jegliche historische Spezifizität und genaue Herkunft.

Abbildung 3: Siebente Klasse des Chajes-Gymnasiums, 1931.

Lycée Chases ist Boltanskis erste Installation, die auf einem Klassenfoto basiert. Die Wahl dieses spezifischen Fotos verdeutlicht die Spannung zwischen Abstraktion und historischer Spezifität in seinem Oeuvre. Boltanski hat das Foto in dem Buch Die Mazzesinsel gefunden, das mit vielen Fotos und schriftlichen Beiträgen die Geschichte des Zweiten Wiener Bezirks von 1918 bis 1938 erzählt.6 Unter diesen alltäglichen Bildern fällt das Klassenfoto vom Chajes-Gymnasium besonders auf. Es ist außergewöhnlich, weil die abgebildeten Jugendlichen ganz und gar nicht angepasst oder anonym wirken. Die auffälligen Späße, die in diesem Bild zu sehen sind, unterscheiden es von den vielen anderen Klassenfotos,

6

Ruth Beckermann: Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt, 1918–1938, Wien: Locker 1984.

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer in denen Individualität und Verschiedenheit durch die fotografische Vervielfältigung der verflachenden Effekte von Schulausbildung und ideologischer Einfügung unterdrückt werden. Indem Boltanski dieses Bild für seine Installation auswählt, gesteht er die Einschränkungen seiner eigenen Anonymisierungs- und Abstraktionsstrategien ein und bestreitet sie zugleich, indem er auf einen anderen Aspekt von Klassenfotos hinweist: die Reklamation von einzelnen individuellen Gesichtern und Geschichten. Die unscharfen geisterhaften Gesichter aus Lycée Chases unterscheiden sich durch unterschiedliche Gesichtsausdrücke: Das Gesicht des Jungen in der Mitte zieht die Aufmerksamkeit des Betrachters durch einen aufsässigen Blick besonders auf sich. Ironie, Humor und Schauspielern sind Strategien der Individualisierung, die nicht einmal die konsequenteste Ästhetik des Geisterhaften auslöschen kann. Obwohl Boltanski die Menschen in seinen Werken zu Geistern macht und sie somit einander angleicht, lässt er dennoch individuellen Unterschieden einen gewissen Spielraum, die als Spuren einzelner Lebensgeschichten affektiv auf die Betrachter wirken.

4. Klassenfotos als Archive der Verbindung Diese Widersprüche treten umso deutlicher zutage, wenn wir Boltanskis Gedenk-Installationen mit denen des argentinischen Künstlers Marcelo Brodsky vergleichen. Bei einem solchen Vergleich fällt die unterschiedliche Art und Weise auf, in der die beiden Künstler die den Klassenfotos eigene Spannung zwischen Individualität und Anonymität beschwören und gleichzeitig abstreiten. Obwohl die Erinnerungsarbeiten beider Künstler beinahe zeitgleich entstanden sind (Boltanskis Installationen sind aus den 1980er Jahren, während Brodskys aus den frühen 1990ern stammen), folgen sie sehr unterschiedlichen Chronologien. Boltanski betont immer wieder die Tatsache, dass seine Arbeiten in Bezug auf den Holocaust eine ererbte Erinnerung darstellen. Brodsky dagegen beginnt seine Arbeit über den sogenannten schmutzigen Krieg (1976–1983) sofort nach seiner Rückkehr nach Argentinien aus dem Exil in Barcelona Ende der 1980er Jahre, nur ein paar Jahre nach dem Ende der Diktatur, während der sein Bruder und viele seiner Zeitgenossen verschwunden, gefoltert und ermordet worden waren. Man fragt sich, ob der Grund dafür, dass dieses Werk in bedeutend kürzerem Zeitabstand zum Krieg entstanden ist, die Tatsache ist, dass die Erinnerung an den Holocaust be-

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Das Nachleben der Schulfotos reits einen Bezugspunkt gesetzt hatte und die ästhetischen, ethischen und psychologischen Aspekte der Trauer schon erforscht waren. Man ist versucht, eine solche Schlussfolgerung zu ziehen, aber es ist nicht ratsam, dies zu schnell zu tun.

Abbildung 4: Marcello Brodsky, Gigantografía Intervenida, Colegio Nacional de Buenos Aires, 1er Año, 6ta Division, 1967 (1997)

Wenn lateinamerikanische Künstler wie Brodsky die Symbole und Mittel der europäischen Erinnerungskultur zitieren, die sich nach dem Holocaust entwickelt haben, wollen sie einerseits das Trauma und die Erinnerung der neueren Diktaturen mit den Nachwirkungen des Holocaust in Beziehung setzen, und andererseits die zeitlichen, psychischen und politischen Unterschiede ihrer eigenen lokalen Situation betonen. Es ist zum Beispiel von Bedeutung, dass Brodsky Andreas Huyssen, der für seine Texte zum Thema der Erinnerung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges bekannt ist, bat, die Einführung für den Katalog zu seinen Memory Works zu schreiben. Huyssen schreibt über Brodskys Ausstellung Buena Memoria, die er bei seiner ersten Reise nach Argentinien Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal sah: „Brodskys Arbeit hat mich direkt angesprochen, weil ich sie sowohl mit meiner eigenen früheren Arbeit über die deutsche Kultur nach Auschwitz und dem Dritten Reich in Verbindung bringen konnte, als auch mit einem früheren globalen Diskurs über historische Erinnerung. Mir ist sofort aufgefallen, dass der Holocaustdiskurs seinen Schatten über die Debatten über die desapa-

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer ricidos (Verschwundenen) in Lateinamerika zu werfen schien […] es war die produktive Inskription von bestimmten Bildern und moralischen Wertungen, durch die der Holocaustdiskurs heute als internationales Prisma fungiert, das lokale Diskurse über desaparicidos, über Genozid oder über Apartheit sowohl auf Recht als auch auf Erinnerung antreibt.“7 Die Ausstellung, die Huyssen im Kulturzentrum Recoleta in Buenos Aires gesehen hat, erinnert sicherlich an die Arbeiten von Christian Boltanski und anderen Künstlern. Es wäre jedoch irreführend, Brodskys ästhetische Entscheidungen einfach auf den europäischen Einfluss zurückzuführen. Indem er Porträts von Individuen oder Gruppen verwendet, geht er auf die monumentale fotografische Ikonografie der lokalen Erinnerungspraktiken der Madres de la Plaza de Mayo ein, die individuelle Fotos, meistens Pass- oder Ausweisfotos ihrer Kinder, für ihre Protestaktionen benutzten. Die Passfotos wurden zu wichtigen Beweismitteln, denn bei den Entführungen zerstörte das Militärregime auf systematische Weise alle Dokumente und vor allem die Fotos der Opfer, um deren Existenz zu leugnen. Bis heute binden sich die Madres jeden Donnerstag um 12 Uhr mittags vergrößerte Kopien der Passfotos um und gehen zur Plaza de Mayo, um dort, in Diana Taylors Worten, eine Form des Trauma-getriebenen Performance Protests zu veranstalten. Laut Taylor verwandeln die Madres ihre Körper in Anschlagtafeln oder Erinnerungsträger, die die vermissten Personen identifizieren und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie nicht vergessen werden.8 Seit dem Beginn dieser wöchentlichen Demonstrationen sind dieselben Fotos der Verschwundenen auf unterschiedliche Weise in anderen Zusammenhängen benutzt worden. Sie sind zum Beispiel in dem großen neuen Park der Erinnerung in Buenos Aires nur mit Namen und Datum beschriftet aufgestellt gewesen, um die Einzigartigkeit des Individuums und das Ausmaß des Verlustes für die Gemeinschaft zu signalisieren. Kürzlich sind die Fotos bei Demonstrationen der H.I.J.O.S., der Organisation der Kinder der Verschwundenen, mitgetragen worden. Getragen wurden sie 7

8

Andreas Huyssen: »The Mnemonic Art of Marcelo Brodsky«, in: Marcelo Brodsky, Memory Works, Salamanca/Valladolid: Universidad von Salamanca und Valladolid 2003, S. 7–11, hier: S. 8f. Vgl. Diana Taylor: The Archive and the Repertoire. Performing Cultural Memory in the Americas, Durham: Duke University Press 2003, S. 170 und dies.: Disappearing Acts. Spectacles of Gender and Nationalism in Argentina’s ‚Dirty War‘, Durham: Duke University Press 1997, S.183– 207.

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Das Nachleben der Schulfotos sowohl von Kindern, die vor der Entführung ihrer Eltern geboren und von ihren Großeltern aufgezogen wurden, als auch von Kindern, die in Gefängnissen und Konzentrationslagern geboren und von den Militärs oder Militärsympathisanten aufgezogen wurden. Taylor macht darauf aufmerksam, dass es den H.I.J.O.S. weniger um Identifikation geht, sondern eher um die Kontinuität der Erinnerung und des Verlusts; die Fotos dienen ihnen als Platzhalter für ihre Eltern, die sie, so schwören sie, nie vergessen werden.9 Es gibt jedoch auch Beispiele, in denen die Fotos noch immer als Identifikationsmittel benutzt werden. Die Fotoausstellung Memoria Grafica de Abuelas de Plaza de Mayo, die im Jahr 2001 in Buenos Aires stattfand, besteht aus Vergrößerungen der Passfotos junger Paare, die ein Kind erwarteten, als sie von den Militärs festgenommen wurden. Die Reihe der an den Galeriewänden angeordneten Bilder ist unterbrochen von Spiegeln, die die Besucher einer bestimmten Altersgruppe einladen und provozieren sollen, ihre verschwundenen Eltern unter den Abgebildeten zu erkennen. Sehen sie den Menschen in den Fotos irgendwie ähnlich? Die Besucher werden Teil eines in der Ausstellung aufgebauten Stammbaumes.10 Im Gegensatz zu diesen Identitätsfotos haben Schulfotos, wie sie Brodsky verwendet, andere Erinnerungsmöglichkeiten. Brodskys Buena Memoria (Gute Erinnerung) ist in der Auseinandersetzung mit einem Klassenfoto entstanden.11 Aber es ist nicht, wie bei Boltanski, ein gefundenes Foto, sondern sein eigenes Klassenfoto der sechsten Abteilung der ersten Klasse des Colegio Nacional Buenos Aires. Das Originalbild erscheint ziemlich konventionell: Die Kinder sind in vier Reihen aufgestellt und der Lehrer ist nicht mit im Bild. Ein Mädchen in der vordersten Reihe hält ein Schild mit dem Namen der Schule, der Klasse und des Jahrgangs hoch: Es ist das Jahr 1967. Obwohl das Bild in einem institutionellen Rahmen entstanden ist, lässt es ein hohes Maß an individuellen Variationen erkennen und die Stimmung im Bild ist innerhalb des Genres recht zwanglos. In der Installation ist das Bild zwar intakt geblieben, aber es ist zu riesigen Proportionen vergrößert worden 9 D. Taylor: The Archive and the Repertoire, S. 187. 10 Laurel Reuter: Los Desaparecidos. The Disappeared, Grand Forks, N. D.: North Dakota Museum of Art and Charta, Milan, preface by Lawrence Weschler, 2006. 11 Marcelo Brodsky: Buena memoria-Good Memory: Publikation zur Ausstellung Sprengel Museum Hannover, 7.5.–31.8., 2003, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2003, o. S.

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer (Brodsky nennt es Gigantograph). Der Körper jedes Kindes ist mit einem Text beschrieben, manche Gesichter sind eingekreist, andere eingekreist und durchgestrichen. Der Text ist einfach und kurz gehalten: „Silvia ist wie immer sehr groß. Sie ist Physiotherapeutin“, „Carlo ist Grafiker“, „Claudio starb in einem Zusammenstoß mit dem Militär im Dezember 1975“. In der Galerie-Installation der Buena Memoria sowie im Ausstellungskatalog zeigt Brodsky einzelne Porträts der erwachsenen Mitschüler, die jeweils das Klassenfoto in der Hand halten oder neben ihm stehen. Diese Fotos sind mit längeren Texten, die die Lebensgeschichten der Mitschüler erzählen, und von Ausschnitten einzelner Gesichter aus dem Klassenfoto ergänzt. Die verschiedenen Ebenen der Installation betonen sowohl das Vorübergehen der Zeit, d.h. den Eindruck einer Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart – für diejenigen, die in Buenos Aires überlebt haben oder nach dem schmutzigen Krieg dorthin zurückgekehrt sind. Die einzelnen Geschichten dieser Überlebenden und die Gegenüberstellung der Erwachsenenfotos mit denen ihrer Kindergesichter heben besonders den schmerzhaften Verlust derer hervor, die verschwunden sind. Indem er seine Installation um diese Fotos herum konstruiert, reiht sich Brodsky ein in einen Prozess des Gedenkens und des Protests, der der Zeit während und nach dem schmutzigen Krieg zu eigen ist. Er zitiert nicht nur die Fotos, die in den Protestaktionen der Madres, der Abuelas und H.I.J.O.S. eine Rolle spielen, sondern führt auch neue und andere Formen des Gedenkens und der Kontinuität ein, indem er ein Klassenfoto bearbeitet. Wie die Passfotos, die die argentinische Erinnerungslandschaft dominiert haben, liefern auch Klassenfotos eine Form des Beweises – und zudem eine, die aufgrund ihrer Verbreitung auf einzigartige Weise immun ist gegen die Zerstörungen der Verfolger. Die verschwundenen Klassenkameraden leben in der Erinnerung der Altersgenossen weiter und die Fotos dienen als eine Art Zertifikation ihrer Existenz sowie als Ermahnung an das Leben, das gewaltsam unterbrochen wurde. Für die Madres, Abuelas und H.I.J.O.S. ist Erinnerung genealogisch und familiär, sie ist Teil einer vertikalen Kette der Überlieferung. In Brodskys Installation wird Erinnerung Teil des Netzwerks einer Gemeinschaft und einer Generation. Buena Memoria ist in der Tradition der Madres und H.I.J.O.S. eine Form des Protests. Einerseits erinnert das gewaltsame Zeichen des Ausstreichens auf der Oberfläche des Fotos an die Gewalttätigkeit, mit der Einzelne aus der Gemeinschaft herausgerissen wurden, um sie und ihr Andenken auszulöschen. Andererseits

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Das Nachleben der Schulfotos zeigen die Fotos auch einen zärtlichen Akt des Festhaltens und der Kontinuität. Die Mitschüler in Brodskys Installation werden, wie die Madres, zu verkörperten Archiven des Verlusts. Die Geste des Festhaltens des Klassenfotos und die Tatsache, dass es die Mitschüler umgibt und sie es in und an sich tragen, verwandelt es in ein gänzlich anderes Erinnerungsdokument, das auf vielfältige Art sinnlich begriffen werden kann. Das Sehen vereint sich mit dem Berühren, die Betrachter berühren das Foto und sind, in metaphorischem Sinne von ihm und den Gefühlen, die es auslöst, berührt. Der haptische Bezug zu dem Foto geht aus vom Mütterlichen und Familiären und erstreckt sich bis hin zum Gemeinschaftlichen und Kollegialen. In seiner ersten Ausstellung im Jahr 1996 war Buena Memoria für ein ganz spezifisches Publikum bestimmt, nämlich für die damaligen Schüler des Colegio Nacional Buenos Aires. Die Arbeit hing in den Gängen des Colegio als Teil einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der verschwundenen Schüler der Schule mit dem Titel Puente de la Memoria (Brücke der Erinnerung). Brodsky fotografierte die damaligen Schüler, wie sie sich im Glas des großen Klassenfotos spiegelten, während sie die dargestellten Gesichter betrachteten. Andres schreibt: „Ich denke, wenn man ein Bild von einem dieser Kinder sieht, kann man nicht bestreiten, dass es sich um einen der eigenen Klassenkameraden handeln könnte.“ Frederico sagt: „Als ich das Bild dieser Schüler sah, die für ihr Foto posieren, habe ich mich sofort mit ihnen identifiziert.“12 Boltanskis Installationen erschweren einen solchen identifikatorischen Blick. Die Gesichter der Kinder, die auf gestapelten Schachteln aufgebracht oder auf Tücher gedruckt sind, sind Geisterbilder aus einer anderen Welt. Sie sind heimsuchende Mahnungen einer fernen, gewaltsamen Vergangenheit. Brodskys Installationen reflektieren dagegen die andauernde Präsenz des schmutzigen Krieges und seiner Opfer im heutigen Argentinien: Die Madres demonstrieren bis heute, die Verbrechen sind nicht aufgeklärt, die Täter noch nicht verurteilt worden. Jegliche Gedenk-Installation, die dieser Dringlichkeit gerecht werden will, dürfte nicht von der Vergangenheit handeln, sondern müsste zeigen, wie die Vergangenheit in einer ungebrochenen Erinnerungskette in der Gegenwart weiterlebt. Sie müsste die Anwesenheit der spurlos Verschwundenen in deren Familien und Gemeinden sichtbar machen, um die gewaltsame Auslöschung ihrer Individualität rückgängig zu machen. Im Gegensatz dazu betont Boltanski mit 12 Vgl. ebd.

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Marianne Hirsch und Leo Spitzer seiner Post-Holocaust-Erinnerungsästhetik die Ungeheuerlichkeit des Verlusts, die unvorstellbare Anzahl der Getöteten, die Tatsache, dass auch Kinder ermordet wurden. Und doch lässt Boltanski, wie wir gezeigt haben, gleichzeitig Spielraum für den schmerzhaften Verlust des Einzelnen, der nicht durch Namen gekennzeichnet ist, sondern durch Gesichtsausdruck, Geste, Haltung. Schulfotos eignen sich für die ästhetischen und politischen Strategien beider Künstler. Boltanski nutzt sie, um den Betrachter dazu zu bringen, in seinem Leben Platz zu machen für die Toten, sich von ihnen heimsuchen, überschatten und einnehmen zu lassen – um die Trennlinie zwischen den Toten und den Lebenden zu verwischen. Brodsky dagegen benutzt sie, um die Toten festzuhalten und sie wieder zum Leben zu erwecken, indem er den Platz, den sie im Leben der Überlebenden einnehmen, für sie offen hält und aufzeigt. Um dies zu tun, muss er jedoch über das Gruppenfoto hinausgehen zu anderen Fotos und Dokumenten, die aus anderen Archiven stammen. In diesem Zusammenhang ist das Bild von Brodskys bestem Schulfreund Martín Bercovich, der am 13. Mai 1976 gekidnappt wurde und immer noch vermisst wird, von besonderer Bedeutung. In der Installation zeigt Brodsky die aus einem Schulheft herausgerissene linierte und gelochte Seite, auf die ein unscharfes Foto eines Jungen in kariertem Hemd mit einer Kamera in der Hand geklebt ist. Neben dem Bild lesen wir in Kinderhandschrift: „Martín fotografiert mich mit seiner Kodak Fiesta, die genau gleich ist wie meine. Chascomus (Lagune) im Hintergrund“. Das Bild des erwachsenen Martín wird in der Installation vermisst: „Martín war der beste Freund, den ich im Leben hatte“, schreibt Brodsky, „ich träume noch oft von ihm, obwohl es schon 20 Jahre her ist, dass das Militär ihn geholt hat.“13 Indem er den Schnappschuss von Martín als Junge mit einer Kamera in die Installation einbezieht, zeigt ihn Brodsky als Subjekt und Schöpfer von Bildern und nicht nur als das Objekt institutioneller Repräsentation. Der Schnappschuss, die Handschrift, das herausgerissene Blatt aus dem Schulheft – alle diese Dinge verkörpern, beleben und kontextualisieren dieses Bild und mit ihm die Erinnerung an Martín. Martíns persönliches Bild enthüllt den institutionellen Blick, der den Klassenfotos auch dann anhaftet, wenn sie in anderen Zusammenhängen und verschiedenen ästhetischen Formen benutzt werden. Boltanski betont diesen Blick mit Hilfe von Lam13 Vgl. ebd.

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Das Nachleben der Schulfotos pen, Kabel, Schachteln und anderen auf Institutionen verweisenden Elementen. Brodsky betont ihn, indem er die Schulfotos in den Kontext Schule zurückbringt, die selbst in Krieg, in Folter und Mord eine kontinuierliche Präsenz bleibt. Trotz dieser Gemeinsamkeiten antworten Boltanskis und Brodskys Installationen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse zweier verschiedener Erinnerungskulturen: Brodskys Werke sind fest in eine identifikatorische und haptische Ästhetik eingebunden, Boltanskis in eine distanziertere und geisterhafte. In beiden Fällen jedoch intervenieren die Schulfotos als Mahngegenstände. Im Augenblick nach der Katastrophe oder dem Verbrechen wollen Gruppen und Nationen gewöhnlich einen Normalzustand wiederfinden und vermindern so oft die Erinnerung an das Verbrechen und an seine Opfer. Indem Boltanski und Brodsky Schulfotos einsetzen, also gerade die Gegenstände benutzen, die die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zertifizieren, die Einzelne auf grausame Weise aber auch ausgeschlossen hat, ermahnen sie uns zur Erinnerung an die Toten und bekämpfen das Vergessen. Als Erinnerungsmittel können uns Schulfotos auf einer ästhetischen, emotionalen und ethischen Ebene berühren. Somit unterbrechen sie den Kurs des Vergessens und stören jedwede Hoffnung auf eine zu leichte Versöhnung mit der Vergangenheit. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Susanne Knittel

A BBILDUNGEN Abbildung 1: Privatbesitz Marianne Hirsch Abbildung 2: In: Lynn Gumpert: Christian Boltanski, Paris: Flammarion 2001. Abbildung 3: In: Ruth Beckermann: Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt, 1918–1938, Wien: Locker 1984. Abbildung 4: In: Marcelo Brodsky: Buena memoria-Good Memory: Publikation zur Ausstellung Sprengel Museum Hannover 7.5.–31.8.2003, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz Verlag, 2003.

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… und Schulfotografien heute? Kommentar zu Marianne Hirsch und Leo Spitzer: Das Nachleben der Schulfotos

NICOLE MEHRING

Bilder von Schulklassen begleiten mich täglich. Immer, wenn ich durch lange Schulkorridore gehe, blicken mich Gesichter ehemaliger AbiturientInnen an. Jahrgang um Jahrgang zieht an mir vorbei und halte ich dann vor den Bildern inne, weiß ich nicht, ob es mich beunruhigt oder beruhigt, dass sich auf den ersten Blick scheinbar nicht sehr viel an diesem fotografischen Ritual verändert hat. Stillstand? Dieser Gedanke ließ mich stutzen. Angeregt durch Marianne Hirschs1 Gedanken zur Rolle von Schulfotografien im Prozess des Erinnerns interessierte es mich verstärkt, wie sich die Praxis der Schulfotografie an heutigen Schulen in Deutschland verhält. Fortan bekamen Klassenfotografien eine neue Bedeutung für mich. War ich an anderen Schulen unterwegs, betrachtete ich aufmerksam die dort exponierten Bilder, im Internet klickte ich mich durch die aktuellen Onlinegalerien niedersächsischer Schulen. Immer wieder blieb mein Blick an Bildern von Schulklassen kleben: Sie überraschten, sie irritierten mich, sie forderten mich heraus, sie ließen mich ratlos zurück. In jedem Fall ließen sie mich nicht mehr los.2 Für mich funktionieren die Schulfotografien nicht nur als Erinnerungsmedien innerhalb ihrer Institution, sondern anknüpfend an Marianne Hirschs und Leo Spitzers Text frage ich mich als in der Schule tätige Lehrerin auch, wie über diese fotografischen Rituale bestimmte Mythen reproduziert oder gebrochen werden: 1 2

Vgl. in diesem Band: Marianne Hirsch, Leo Spitzer: Das Nachleben der Schulfotografien. Vgl. dazu Linda Hentschel in diesem Band.

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Nicole Mehring „Die Schule ist nicht nur die Institution, in der Kinder Lesen und Schreiben lernen, und in der ihnen die nationale Kultur, Wissenschaft und Geschichte nahegebracht wird. Sie ist auch der Ort, an dem Verhaltensregeln, Moral, Verantwortung und Respekt vor der Autorität und der etablierten Ordnung vermittelt wird. Während sie in dieser Aufgabe von anderen Institutionen unterstützt wird – wie zum Beispiel durch die Familie, das Gesetz, die Kunst und die Medien – ist sie hauptsächlich für die Gestaltung und das Einprägen der Werte, Ansichten und Mythen verantwortlich, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft ausmachen.“3

Inwiefern bestimmte Ansichten und Haltungen auch über die Art und Weise der Selbstdarstellungen in den Fotografien formuliert werden, wie ich selbst als Person dieser Institution in die Bildproduktion und in das Zeigen von Bildern verwickelt bin, dazu bleibt im Alltag keine Zeit für Reflexion. Ausgehend von den Überlegungen Hirschs und Spitzers nehme ich mir nun die Zeit, Fragen zu zeitgenössischen Schulfotografien zu entwickeln. Ausgewählt habe ich Bilder, in deren Produktion ich hier nicht involviert bin, die aber aufgrund ihrer Gestaltung meine Aufmerksamkeit und Neugier auf sich zogen.4 Mehrmals schaute ich mir die Bilder an und mal gefielen sie mir, mal verärgerten sie mich. Was sah ich da überhaupt? Das Aufbrechen von Abbildungstraditionen und/oder das Abbilden von Klischees in der Inszenierung von tradierten Geschlechtervorstellungen? Mein eigener Blick auf diese Fotografien wird gerahmt durch meine Schulpraxis, meine Auseinandersetzung mit feministischer Repräsentationskritik und ihrer Frage, wie patriarchale Bildtraditionen und die darin reproduzierten geschlechtlichen Subjektpositionen umgearbeitet werden können. Diese Fragen stellten sich mir im Zusammenhang mit meiner Forschung zu Erinnerungen an den Nationalsozialismus und hier stattfindenden Mechanismen der Verdrängung. In meiner Dissertation untersuche ich Funktionen von Weiblichkeits- und Männlichkeitsinszenierungen in Ausstellungsdisplays verschiedener Erinne3 4

Marianne Hirsch und Leo Spitzer in diesem Band. Die Fotografien aus dem Schuljahr 2007/2008 finden sich auf der Homepage der Lutherschule http://lutherschule.macbay.de/luther3/ sowie direkt über den Link in der Bildgalerie: http://pl15385.macbay.de/ coppermine/index. php? cat=17, letzter Zugriff: 12.10.2010. Die ausgewählten Bilder entstanden zudem im Rahmen eines Wettbewerbs für das ‚beste’ Klassen- bzw. Kursfoto, der von der Schule ausgerichtet und mit Geld dotiert wurde. Die meisten Fotos sind eher ohne Einmischung der Lehrkräfte entstanden. Für diese Informationen danke ich Stephan Malaka.

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… und Schulfotografien heute? rungsdiskurse im Kontext von NS- und Kriegsvergangenheit. Meine Dissertation, der Text von Marianne Hirsch und die Schulfotografien setzten eine Suchbewegung in Gang: Auf welche Spuren und Verweisstrukturen treffe ich hier, was passiert in diesen Fotografien? Obwohl die Schulfotografien einen für mich neuen Bilddiskurs eröffnen, wirft dies für mich die Frage auf, wie sich Weiblichkeits- und Männlichkeitsinszenierungen auch hier einschreiben und spezifische Leseweisen generieren: Welches Begehren von Subjekten, sich in tradierte Bildkonventionen einzuschreiben, findet sich in den fotografischen Gruppenporträts? Hierbei zeigt sich das Sichtbarwerden nicht unproblematisch, da dieses Einpassen auch Darstellungsparameter wiederholt, Machtstrukturen bestätigt und stützt.5 Mit all diesen Fragen blicke ich nun auf die Schulfotografien heute – was machen denn da nun die SchülerInnen und wie kann ich diese Bildund Bedeutungsproduktion fassen?

Abbildung 1: Dancer, Klasse 9b, Gruppenbild, Lutherschule, Hannover, Schuljahr 2007/2008.

Ein Bild einer neunten Klasse zum Beispiel aus dem Schuljahr 2007/2008 (Abb.1): Diese Klasse präsentiert sich aufgeteilt in Mädchen und Jungen mit unterschiedlichem Dress-Code. Viele der Mädchen tragen rosa bzw. leuchtende Kleidungsstücke und 5

Vgl. hierzu Sigrid Schade/Silke Wenk: »Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumot Bußmann/ Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 340–407, Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991 und Harald Welzer: »Das soziale Gedächtnis«, in: ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis: Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 9–21.

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Nicole Mehring toupierte Haare, sie sind deutlich geschminkt. Ihre Posen, Miniröcke und Overkneestiefel und -strümpfe betonen zum Teil kokett das Knie. Zum einen wirkt die Darstellung sehr sexy, zum anderen aber auch wie ein stark überzeichnetes Zeichenspiel. Eine übersteigerte Künstlichkeit wird durch stereotype, kokette Gesten erzeugt, die Mädchen scheinen mit dem erotischen Posen und der Kleidung zu spielen. In der rechten Bildhälfte stehen lässig die männlichen Krawattenträger. Nur eine Person trägt ein Jackett und das Hemd in der Hose: der Lehrer. Eine Schülerin im Spagat verklammert visuell die beiden Gruppen, dennoch bleibt die Trennung nach Jungen und Mädchen offensichtlich. Der Spagat, den die Schülerin vorführt, erinnert an Aerobic und die Kleidung an Filme der 1980er Jahre.6 Dieses Bild ist für mich nicht eindeutig fassbar. Das Inszenierte bleibt ambivalent. Werden hier nicht einmal mehr tradierte Machtstrukturen, Geschlechtermodelle und Hierarchien reproduziert? Was soll diese biedere Kleidung, bestehend aus Anzug und rosa Kleidchen? Auf welches Bildvokabular berufen sich die SchülerInnen hier? Was bedeutet es, wenn Zitate der populären Kultur, Inszenierungsweisen von Bühnenperformances oder künstlerische Inszenierungsstrategien im Genre der ernsthaften, „authentischen“ Klassenfotografie Einzug erhalten? Wenn Marianne Hirsch und Leo Spitzer zeigen, wie Ironie, Humor und Schauspielern als Strategien der Individualisierung funktionieren können, dann stellt sich die Frage, wie Ironie und Schauspiel funktionieren, wenn sie zur dominanten ästhetischen Inszenierungsstrategie des Klassenfotos werden? Werden damit Macht- und Hierarchieverhältnisse der Institution Schule kritisiert und parodiert? Oder müssen sie als Effekt neoliberaler Forderungen der Selbstgestaltung interpretiert werden, die gegenwärtige Machtund Herrschaftsverhältnisse eher affirmieren? Gibt es vielleicht einen Kontext, der diesem Bild eingeschrieben ist, eine Schulveranstaltung, ein vorher verabredetes Motto? Warum erscheint gerade diese Form der Inszenierung den SchülerInnen begehrensund abbildungswert? Wer initiierte diese Art der Aneignung? Ist das die Idee einzelner, der gesamten Gruppe oder der Lehrperson? Fragen, die an dieser Stelle offen bleiben …

6

Die US-amerikanische Abbildungstradition von Cheerleadermotiven und Aerobictraditionen wird immer wieder in Filmen, Musikclips etc. neu inszeniert, vgl. z. B. den Film American Beauty (R: Sam Mendes, 1999, USA).

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… und Schulfotografien heute? Eine weitere visuelle Umarbeitung, eine weitere Irritation. Eine zehnte Klasse präsentiert sich in der Adaption eines Familienporträts (Abb. 2). Willkommen in der Familie – Dieser im Bild platzierte Schriftzug unterstützt den hier angelegten Bedeutungsstrang: Das Bild macht mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann!7 Es weckt Assoziationen an ein „mafiöses“ Setting, in dem visuelle Codes und Posen von Coolness, Macht und Erotik im Bild eingelassen sind. SchülerInnen und Lehrperson schlüpfen hier zusammen in einen selbstgewählten narrativen Rahmen, wobei das „Oberhaupt“ der Familie vorne mittig auf einem Stuhl sitzt, wahrscheinlich die Lehrperson, während die Schüler in Reihen dahinter aufgebaut sind. Visuell verbunden werden alle durch die Kleidung: Anzüge, Krawatte, das „kleine schwarze“ Cocktailkleid und Sonnenbrillen bestimmen die Szene; Schwarz und Weiß dominieren das Bild.

Abbildung 2: Mafioso, Klasse 10a, Gruppenbild, Lutherschule, Hannover Schuljahr 2007/2008.

Eine blonde Frau im Minikleid scheint dabei ebenso zur Familie zu gehören wie eine junge Frau mit Kopftuch. Aber auch der Eindruck von Entschlossenheit wird erweckt durch die Körperhaltungen der Jungen: Während einige mit ihren teils verschränkten Händen und in ihren Anzügen die Körperhaltungen von SecurityPersonen im Personenschutz zitieren, spielen andere zugleich mit einem typischen Symbol phallischer Macht: der Zigarre. Die SchülerInnen spielen unterschiedliche Rollen in einer fiktiven, in-

7

Vgl. Don Corleones Ausspruch im Film „Der Pate“ ( Teil 1), (Original: The Godfather, R: Francis Ford Coppola, USA 1972).

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Nicole Mehring szenierten Familiensaga. Das fotografische Zitat des Familienfotos ermöglicht den Schülern, visuelle Konventionen wiederherzustellen und umzuschreiben, indem die Aneignung und Imagination einer machtvollen, mit Narrationspotenzial angereicherten Familiensaga für eigene Repräsentationszwecke genutzt wird. Dies setzt ein (bewusstes oder unbewusstes) Bildwissen voraus. Ein Wissen darum, dass die gewählte Inszenierung Wirksamkeit besitzt, allgemein verständlich ist, aber auch für eigene Darstellungszwecke umgearbeitet werden kann. Die Mafiafamilie, die in Deutschland ein Klischee für patriarchale und kriminelle Familienverbünde ist – wird sie hier zum Ideal erhoben, umgearbeitet, was macht sie so faszinierend? Und wie gestalten sich die familiären Machtbeziehungen in dem Foto, von dem nicht klar ist, ob die Lehrperson im Anzug und mit Schnurrbart oder die Jungs mit den weißen Schals die ‚Macht‘ besitzen? Oder dominiert hier gar die blonde Macht der Erotik? Reproduzieren die SchülerInnen damit eine Familienkonstruktion, die wir/ich als überwunden glaubte/n? Und wer sind sie eigentlich? Wieder muss ich die Parameter meines Blickes befragen: Ist das immer noch die weiße bürgerliche Mittelschicht, die noch zu meiner Schulzeit das Gymnasium dominierte und mit deren Schulfotografien ich dieses Foto abgleiche? Welche Geschichten, biografisch unterschiedlich und vielleicht mit Migrationshintergründen zusammenhängend, durchkreuzen hier westlich-europäische Bildkonventionen und verstören die damit zusammenhängenden Blicke und die zur Gewohnheit gewordenen Schulfotografien? Und wie verhalten sich solche Inszenierungen zum gegenwärtigen Kriminalisierungs- und Abschiebungsdiskurs?8 Ein drittes Beispiel: Eine andere Lerngruppe imaginiert, karikiert und präsentiert sich als Künstlerfamilie (Abb. 3). Die Gruppe lichtet sich als ein Zusammenschluss der werkschaffenden, bildproduzierenden Künstler ab. Aber was hat es mit den hier in Szene gesetzten Attributen des „Künstlerdaseins“ auf sich? Pinsel, Farbpalette, Strohhüte, Baskenmütze, Schnurbärte und nicht zuletzt das auf der weißen Leinwand im Entstehen begriffene Bild – verweisen sie auf ein spezifisches, althergebrachtes Verständnis 8

Vgl. z. B. den Diskurs um die Reform des „Bleibe- und Zugangsrecht“ und den „Verzicht auf Abschiebung bei guten Schulnoten“, gleichnamiger Artikel hier auf FAZ.net, vom 14.11.2010: http://www.faz.net/s/ Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~EAEC23C313B364A4 598A8B07E0587A0E3~ATpl~Ecommon~Scontent.html, letzter Zugriff: 18.1.2011.

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… und Schulfotografien heute? vom Bild des Künstlers als jemanden, der auf der weißen Leinwand etwas Neues kreiert? Werden damit gängige Mythen des Künstlers als bildschaffenden „Schöpfer“ neu in Szene gesetzt9 und unkritisch reproduziert? Und doch ist es nicht die weiße Leinwand, sondern der Windows-Desktop-Hintergrund, vor dem sich die SchülerInnen abbilden! Künstlermythos oder digitaler Global Payer? Und wie sehr ist diese Selbstdarstellung noch an den Mann geknüpft, wenn selbst die Mädchen im Bild den Schnurrbart besitzen? Macht diese Inszenierung als eine Art Karikatur deutlich, dass hier absichtlich ein längst überwundenes Künstlerbild von einem weißen Mann mit Hut und Malerpalette in der Hand aufgegriffen und in karikierender Form angeeignet und transformiert wird? Und was malen die SchülerInnen überhaupt? Malen sie ihre Schule und werden so zu aktiven Beteiligten, die diese mitkonstruieren, erschaffen?

Abbildung 3: Kunst LK, Kunst 13, Gruppenbild Lutherschule, Hannover Schuljahr 2007/2008.

Währenddessen liegt der Lehrer, verkleidet als Engel und ausgestattet mit einem Heiligenschein, oben auf einer Wolke. Wird damit die Stellung des Kunstlehrers als jenseits des Irdischen der Künstlerfamilie hervorgehoben und seine exponierte Position gegenüber den SchülerInnen in dem verspielten Bild erneut manifestiert? Oder unterstützen gerade dieser exponierte Platz und der grinsende Gesichtsausdruck eine parodistische Wirkung der Lehrerolle? Fungiert der Lehrer als Botschafter göttlicher Ratschläge

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Vgl. dazu Sigrid Schade/Silke Wenk, wie Anm. 5.

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Nicole Mehring oder gar als ein Engel „Aloisius“10, der sich gegen die göttliche Autorität auflehnt? Führt diese Inszenierung damit nicht auch eine Vorstellung von gottgleichen Autoritäten spielerisch vor und werden so Wissensformen, die auf etwas Absolutes abheben, ins Lächerliche gezogen? Für mich bleiben die Fragen an dieser Stelle offen; auf erneutes Betrachten folgen neue Fragen. Vielleicht sind die Fragen zu diesem Zeitpunkt nicht immer präzise formuliert, nicht immer zu Ende gedacht. Aber sie erscheinen mir dennoch wichtig. Die spannenden und irritierenden Bilder stoßen meine Gedanken an und markieren eine offene Stelle in der Forschung zwischen Erinnerungs- und Gedächtnisdebatten im Kontext eines feministischpoststrukturalistischen Zugriffs auf Bilder. Und sie stoßen Fragen an nach Institutionen und Autoritäten und darin eingelagerten Machtstrukturen und wie wir damit umgehen. Alleine ließ sich der Zugriff auf diese Bilder für mich auch gar nicht in eine schriftliche Form bringen. Mein eigener Blick, der nicht von den Bildern loskommt, befragt sich während des Schauens kaum selbst, nimmt erneut Zuschreibungen vor, entwirft neue Klischees, um die Irritationen der Bilder zu fassen. Erst eine Auseinandersetzung über die Bilder ermöglichte einen Zugriff, und deshalb hat sich in diesem Text auch die Redaktionsgruppe des vorliegenden Bandes ganz direkt eingeschrieben, nicht zuletzt, indem Fragen der Redaktionsgruppe in diesen Text montiert wurden.

A BBILDUNGEN Abbildung 1-3: http://lutherschule.macbay.de/luther3/ sowie direkt über den Link in der Bildgalerie: http://pl15385. macbay.de/coppermine/index. php? cat=17, letzter Zugriff: 12.10.2010.

10 In der 1911 veröffentlichen Satire von Ludwig Thoma „Ein Münchner im Himmel“ gibt es den Engel Aloisius, der sich gegen die göttlichen Autoritäten auflehnt. Interessant ist, dass sich Parallelen zwischen der filmischen Adaption dieser Geschichte und der Engelsinszenierung im obigen Foto aufzeigen lassen (Statue, Kleidung, Mimik …). Vgl. dazu den Zeichentrickfilm (Filmneufassung) von Walter und Traudl Reiner, 1962.

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Gasping at violence: der Klang des Subjektiven/ der Atem des Körpers in Berninis Daphne und Apollon GRISELDA POLLOCK

I GASPED. Mir stockte der Atem. Ein unmerklicher Laut entfuhr meiner Kehle – unerwartet und unkontrolliert. Der Mund öffnet sich. Die Kehle weitet sich. Das Zwerchfell kontrahiert. Einströmende Luft wird flüchtig über Stimmbänder geschliffen; ihren Eintritt begleitet ein primitiver Laut. Es ist der Laut des Subjektiven.1 Er begleitet eine visuelle oder sensorische Begegnung, die von einer Plötzlichkeit gezeichnet ist, die schockiert und unerwartet affektiv nahegeht. Dieser Laut ist Zeuge eines kaum wahrnehmbaren Ereignisses: Er erfasst den Moment, da der Schutzschild des Bewusstseins durchstoßen wird. Der Laut signalisiert ein Trauma. Der Körper agiert es aus. Wie traumatisiert holte ich kurz Luft, als ich auf eine schockierende Skulptur traf – eine Skulptur, die stillste und schweigsamste unter den bildenden Künsten. Die Skulptur teilt sich den realen Raum mit ihren Betrachter_innen. Sie fordert die Betrachter_innen gleichsam auf, auf der Suche nach Bedeutung ihre Gestalt mit Blicken abzutasten. Nicht selten entfacht sie ein verbo-

1

Klang, Stimme und Akustik wurden von der psychoanalytischen Theorie nicht in dem Maße untersucht wie etwa das Feld des Sichtbaren, des Auges, des Blicks und der Bilder. Siehe dazu Nicholas Chare/Griselda Pollock (Hg.): The Sounds of Subjectivity, London: Routledge (in Vorbereitung).

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Griselda Pollock tenes Verlangen, sie zu berühren. In einer Fotografie von CHIM sehen wir beispielsweise den bejahrten Bernard Berenson, Kunstkenner par excellence, in rein optischer Betrachtung von Canovas Paolina Borghese Bonaparte als Venus Victrix in der Galleria Borghese in Rom.2 Im Juni 2007 fuhr ich selbst nach Rom in die Galleria Borghese, um eben jene Canova-Skulptur genauer in Augenschein zu nehmen. Mein Forschungsanliegen war, zu verstehen, was die zeitgenössische amerikanische Künstlerin Christine Taylor Patten (geboren 1944) als eines ihrer künstlerischen Schlüsselerlebnisse betrachtet. Es hatte in der Galleria Borghese vor eben dieser Statue stattgefunden, als sie als achtjähriges Mädchen mit ihren Eltern die ewige Stadt besuchte.3 Anschließend betrat ich den zweiten Ausstellungsraum der Galleria Borghese. Genau dort entfuhr meiner Kehle besagter Laut des Entsetzens. Ich stand Daphne gegenüber, wie sie von Bernini aus Marmor gemeißelt worden war: Daphne auf der Flucht vor Apollon – für die Ewigkeit bewahrt, just in jenem Moment, als die Borke des Baumes, in den sie sich später verwandeln wird, sie zu umschließen beginnt und bereits ihre unteren Gliedmaßen ergriffen hat. Ihre Zehen verwandeln sich in Wurzelgeflecht, ihre Finger werden zu Laub und eine hölzerne Tödlichkeit beginnt von ihrem lebendigen Körper Besitz zu nehmen. Da ich den Raum unvorbereitet betrat, fühlte ich mich wie in einen Schlund hineingesogen – wie Freud es in seinem berühmten Traum der Kehle Irmas beschreibt.4 Ich glaubte also, einen überraschend schwarzen Tunnel hinuntergezogen zu werden, der in den massiven Steinblock zugleich hineingehauen und aus ihm herausgehoben worden war (Abb. 1, 2 und 3). Die Leere, die dadurch entsteht, bildet den formalen Bedeutungsträger für einen vokalen Effekt. Der Laut öffnet diesen Körper und impliziert einen 2

3

4

David Seymour (CHIM), Bernard Berenson, Borghese Gallery, Rome, Italy, 1955, Fotografie, abgedruckt in: Tom Beck: David Seymour (CHIM), London/New York: Phaidon Press 2005. Zu Christine Taylor Patten siehe Griselda Pollock: »The Time of Drawing«, in: dies., Encounters in the Virtual Feminist Museum: Time, Space and the Archive, London: Routledge 2007, S. 209–233. Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900], Gesammelte Werke, Bd. II, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 110–126 et passim. Zur Analyse dieses Traums siehe auch Shoshana Felman: »Competing Pregnancies: The Dream from which Psychoanalysis Proceeds«, in: dies., What does a Woman Want: Reading and Sexual Difference, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1993, S. 68–120.

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Gasping at violence Innenraum. Visuell evoziert er entweder das hörbare Einatmen oder sein Gegenteil: einen Schrei, wenn der Körper mit Nachdruck Luft ausstößt und in einem Moment ursprünglichen, wortlosen Anflehens einen Anderen anruft. Beide sind die unartikulierten Laute extremer Gefühlslagen. Ich atmete hörbar hysterisch ein, d. h., ich registrierte in meinem eigenen, auf die Statue affektiv reagierenden Körper, was sich in diesem aus Marmor gemeißelten Körper scheinbar vollzog – was dieser Daphne geschah. Wie sonst sollten wir diese Höhle des geöffneten Mundes einer flüchtenden, sich verwandelnden Frau, Daphne, lesen, die gefangen ist zwischen zwei ähnlich tödlichen Schicksalen? Ließe sich dieser offene Mund als die aufwärts gerichtete, unbewusste Verschiebung deuten – wie etwa bei Dora, Freuds berüchtigter Hysterikerin, deren irritierte Kehle Freud als hysterische Verschiebung einer verdrängten sexuellen Erregung interpretierte?5 Oder bezeichnet der geöffnete Mund auf bildliche Weise ein heterosexuelles Unbewusstes, das sich hinter der klassischen Geschichte eines antiken Mythos verbirgt, der sich letztendlich mit dem Vergewaltiger identifiziert? Oder ist dies das visuelle Zeichen eines intensiven Pathos/einer Passion – das Leiden der Frau, die in Ovids Geschichte vor die schicksalshafte Alternative gestellt wird, entweder vergewaltigt zu werden oder zu ‚sterben‘? Oder ist der geöffnete Mund der verschobene Ort sexueller Gewalt? Ist diese Öffnung, die ich in meiner Lautäußerung auf identifikatorische Weise nachvollzog, ein Ort subjektiv situierten Pathos? Das außergewöhnlich klaffende Loch, mit dem ich durch Berninis Skulptur auf so schockierende Weise konfrontiert wurde, ist ihr punctum.6 Der Bildhauer muss tief in den Marmor eindringen,

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Sigmund Freud: »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« (‚Dora‘) [1905], Gesammelte Werke, Bd. V, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 162–286. Freud interpretierte die Essstörungen der jungen Frau, ihren anhaltenden Husten und ihren Stimmverlust als hysterisierte Empfindungen des Drucks eines erigierten Penis gegen ihren Bauch während einer sexuellen Umarmung, auf den die vierzehnjährige ‚Dora‘ [Ida Bauer] mit hysterischem Ekel reagierte. Obwohl die Wiederverortung der Empfindung als Abwehr fungierte, war sie auch mit der Hysterisierung einer potenziell erotischen Erfahrung verknüpft. Punctum (lat.) bedeutet ‚gestochene Wunde‘, vergleichbar mit dem gr. Trauma, aber auch verknüpft mit punctuation, wurde von Roland Barthes vom Begriff Studium unterschieden, welches das allgemeine, bei einer Interpretation angewandte Wissen beschreibt. Sein Begriff des Punctum bezeichnet das akzidentielle Hervortreten eines Details oder Elements eines Bildes, das die Betrachter_in auf idiosynkratische und subjektive

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Griselda Pollock um die Mundhöhle – jenen Raum des imaginären Lautes, der sowohl physische als auch psychologische Innerlichkeit für diese Figur suggerieren könnte – herauszukerben und den visuellen Raum für den ungehörten Laut ihrer Subjektivität zu kreieren. Wenn wir auf Freuds Theorien aufbauen und zugleich die Identifikationsebene von der weiblichen Skulptur zur imaginierten Betrachter_in verschieben, die sich mit dem nachstellenden Apollon identifiziert, dann repräsentiert diese Öffnung einen verschobenen sexuellen Raum und öffnet einen potenziellen Eingang in ihren gefangenen Körper. Zwei Lesarten kollidieren für mich im schockierenden Anblick des geöffneten Skulpturkörpers einer in höchste Not geratenen Frau: erstens das Bild von Frau als eroberter sexueller Raum für ein männliches Anderes und zweitens das Bild von Frau als ‚Ort eigener Handlungsmöglichkeiten‘ („the site of her own proceedings“), um die bekannte feministische Künstlerin Mary Kelly zu zitieren.7 Der Handlungsspielraum für Daphne ist begrenzt und drückt sich im Ver-laut-baren ihrer eigenen Subjektivität unter traumatischem Zwang aus. Sie ruft ihre eigene Kultur an, die sie um ein anderes Schicksal als das ihre bittet. Meine Fragen können im Rahmen des konventionellen Gebrauchs kunsthistorischen Wissens nicht beantwortet werden. Ich nehme mir jedoch die Freiheit, Begegnungen und Einschreibungen traumatischer Erfahrungen aus feministischer Perspektive in meinem Virtuellen Feministischen Museum zu choreografieren. Mein Zugang ist inspiriert von Aby Warburgs und Sigmund Freuds Arbeiten zu Bild und Erinnerung, die ich gebrochen durch Julia Kristevas und Bracha Ettingers feministisch-psychoanalytische Theorien zu Zeit und Trauma lese.8

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Weise überwältigt. Roland Barthes: La Chambre Claire: notes sur la photographie, Paris: Editions de Seuil 1980; Kapitel 10 und 19. Paul Smith: »Mother as Site of Her Proceedings: Mary Kelly’s Post-Partum Document«, in: Parachute 26 (1982), S. 29–30. Das Virtual Feminist Museum ist kein ‚Cybermuseum‘; seine Virtualität ist philosophisch. Dies bedeutet, dass sich Feminismus im Werden befindet, Feministisch-Werden als ‚work in progress‘. Das Modell von Aby Warburgs anti-formalistischem Mnemosyne-Atlas wird dabei zum notwendigen Nicht-Grund des Werdens feministischer Bedeutung. Die theoretische Grundlage dieses Konzepts erkläre ich in meinem Buch Encounters in the Virtual Feminist Museum: Time, Space and the Archive, London: Routledge 2007.

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Griselda Pollock Ich begann also, eine neue Seite in meinem virtuellen feministischen Mnemosyne-Atlas aufzuschlagen. Er enthält bereits das Bild einer anderen, maskulinen Ausgabe einer laut-en Statue: Lacoon, der trojanische Priester, der nach Vergil von Schmerz erfasst laut aufheult; in der berühmten klassischen Statue aber nur noch anstandshalber – seine Qual stoisch ertragend – stöhnt. Ein weiteres, naheliegenderes Beispiel affektiver Lautäußerung in der bildenden Kunst ist Caravaggios bemerkenswerte Bearbeitung des abgeschlagenen Hauptes der Medusa auf dem Schild der Athene (Abb. 4). Die Figur des versteinerten Hauptes, das die Gesichtszüge des Künstlers trägt, muss selbst Ovids Geschichten heimsuchen. Medusa ist eine weitere metamorphisierte Frau, die für ihre Schönheit bestraft wird. Mieke Bal regt an, den Schrei von Caravaggios Medusa als Protest gegen ihre Ermordung durch das Patriarchat zu lesen.9 Die Begegnung mit Berninis Daphne ruft auch Picassos monumentale post-kubistische Repräsentation des Schreckens von 1937 ins Gedächtnis. In seiner schockierten Reaktion auf das Bombardement der baskischen Stadt Guernica finden wir fünf Darstellungen von Frauen mit offenen Mündern als Ausdruck diverser Formen der Angst und Pein. Diese Bilder extremer Leiderfahrung tauchen noch stärker verzerrt und horrifiziert in den Werken von Francis Bacon auf – Picassos aufmerksamer und für sein Queering bekannter Student.10 Aber welchen anderen Spuren Daphnes ließe sich noch folgen? In der Fotografie einer Performance der in Kuba geborenen und in den USA ausgebildeten Künstlerin Ana Mendieta (1948– 1985), Imagen de Yagul (1973, permanente Farbfotografie), scheint blühendes Blattwerk aus dem nackten Körper der Künstlerin zu sprießen oder zumindest auf ihm zu liegen (Abb. 5).11 Auf

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Mieke Bal: »Reading Art?«, in: Griselda Pollock, Generations and Geographies in the Visual Arts: Feminist Readings, London: Routledge 1996, S. 25–41. 10 Ich denke etwa an Francis Bacon, Study after Velasquez’ Portrait of Innocent X, 1953, Des Moines Art Center, Iowa. Die zuvor genannten Malereien und Skulpturen sind Agesanda, Athenodoros and Polyclitus (zugeschrieben), Laocoon und seine Söhne, Rom, Vatikanisches Museum (160–20 v. Chr., ausgegraben in Rom 1506); Caravaggio, Medusa, 1597, Florenz, Uffizien; Pablo Picasso, Guernica, 1937, Madrid, Museo Reina Sofia. 11 Ich bin der Arbeit der französischen Kunsthistorikerin Anne Creissels über feministische Kunst und Mythologie verpflichtet, sowie insb. ihrer innovativen Lektüre von Ana Mendieta in Bezug auf die Figur der Daph-

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Gasping at violence intime Weise werden so organische Vegetation und menschliches Dasein verknüpft. Der weibliche Körper liegt ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände dicht an beiden Seiten, die Beine langgestreckt und zusammen, in einer formellen Pose – einem Ritual gleich. Es ist die Pose des Todes. Die Performance-Künstlerin liegt in der Höhle eines – so könnte man sagen – Steingrabes. Die gleiche Szene ließe sich auch dahingehend deuten, dass die steinige Erde den Körper empfängt und wieder aufnimmt. Obgleich seine Reglosigkeit den ausgestreckten Körper eher mit Tod und Begräbnis verbindet, deutet das frisch sprießende Blattwerk, das den farblich noch lebendig wirkenden Körper leicht bedeckt, andererseits auf Erneuerung, Widerherstellung und Verjüngung hin. Diese Spielarten des Regenerativen auf der Bedeutungsebene könnten uns dazu veranlassen, Mendietas Performance/ Fotografie einmal quer durch das imaginäre Bildermuseum mit einem vorhergehenden Performance-Stück zu vergleichen: das der Schweizer Surrealistin Meret Oppenheim mit dem Titel Spring Banquet, das 1959 in Bern – und dann noch einmal in Paris – aufgeführt wurde. Anlässlich dieses Events lag ein mit Goldlack besprühtes nacktes Model auf einem Tisch; sie war mit frischen Früchten und Gemüsen bedeckt. Drei Gedecke waren aufgelegt, und drei Gäste wurden eingeladen, von diesem fruchtigen Frauenbankett zu speisen. In zwei anderen Performances von Mendieta werden ähnliche Abläufe thematisiert. Wieder nimmt die Künstlerin auf intime, körperlich transformierte Weise Tuchfühlung mit einem Objekt der Natur auf, das zugleich ein mythisch – potenziell heiliges – Anderes darstellt: der Baum: Tree of Life (1976, 35mm Farbdiapositiv, Abb. 6). Die Pose wiederholt, was traditionellerweise mit den antiken Göttinnen des Mittelmeers in der vorklassischen Welt, z. B. in der Minoerkultur, assoziiert wurde. In dieser Serie von Bildern wird der weibliche Körper auf zweifache Weise beschworen: das eine Mal durch den Gebrauch geknickter, wieder gegen Stein platzierter Zweige, das andere Mal durch blühende Kletterpflanzen, die eine gegen einen Baum gelehnte weibliche Form schemenhaft nachzeichnen. Das Grünende des Schauplatzes steht dabei für das Grün wiederkehrenden Lebens (Untitled, Silueta Series, Mexico, 1976).

ne. Siehe Anne Creissels: »From Leda to Daphne: Sacrifice and Virginity in the Work of Ana Mendieta«, in: Griselda Pollock/Victoria Turvey Sauron, The Sacred and the Feminine: Imagination and Sexual Difference, London: I. B.Tauris 2007, S. 178–188.

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Griselda Pollock Ketzerisch abweichend von einem systematisch-chronologischen Verständnis von Kunstgeschichte, vertrete ich hier ein feministisch orientiertes ikonologisches Projekt, das mir erlaubt, Ana Mendietas postmoderne Werke Sandro Botticellis Primavera (1482, Florenz, Uffizien) gegenüberzustellen. Primavera ist das Werk, das Aby Warburg die „Herrschaft der Venus“ genannt hat.12 Venus ist im Zodiakus das Zeichen für den Frühling, und die Göttin wird daher im astrologischen Imaginären mit dem Tod sowie der Wiedergeburt assoziiert.13 Weit entfernt davon, seine Gelehrsamkeit zu nutzen, um eine Verbindung zwischen dem mehrschichtigen Symbolismus des Gemäldes und der geistigen Wiederbelebung heidnischer Antike in einer christlichen Kultur herzustellen, identifizierte Warburg die tatsächliche Arbeit des Gemäldes als das, was Freud mit dem Begriff der Trauerarbeit theoretisierte: „In dem Bilde der Frühlingsgöttin, die die Venus begleitet und damit die Erde zu neuem Leben wiedererweckt, dem tröstlichen Symbol des sich erneuernden Lebens, mögen – das sei hier hypothetisch ausgesprochen – Lorenzo und seine Freunde die Erinnerung an die ‚Bella Simonetta‘ bewahrt haben.“14

Warburg versuchte, die Affektivität im Bild als kulturellen Träger körperlich-kodierter Erinnerung traumatischer Intensitäten zu fassen. Er entwarf daher eine ‚Ikonologie des Zwischenraums‘ als Methode, all jenem nachzuspüren, das in der Kunst jenseits semiotischer Spezifizierung im Bild geschieht. Das Affektive hat sich jedoch in der Unruhe, der scheinbar unlogischen Bewegtheit und Bewegung der Beiwerke (wie Haare oder Faltenwürfe) eingeschrieben. Affekt visualisiert sich in der Bewegung der (nicht zentralen) Dinge – daher Warburgs Begriff der ‚bewegten Beiwerke‘. Ana Mendietas Werk wird gewöhnlich erklärt, indem man sich auf ihre persönliche Exilerfahrung fern ihres Heimatlandes beruft. Andere Interpretationen legen nahe, dass sie jener feministischen

12 Aby Warburg: »Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘« (1893), in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Europäischen Renaissance, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 1–60. 13 Sigmund Freud: Das Motiv der Kästchenwahl [1913], Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 23–38. 14 A. Warburg: »Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘« (1893), in: ders., Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Europäischen Renaissance, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 51.

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Gasping at violence Tendenz anhängt, die antike Kulte des Erdreichs oder der Muttergöttin nostalgisch wieder aufleben lässt. Indem ich die von der kubanisch-amerikanischen Künstlerin Mendieta Mitte der 1970er Jahre entstandene Serie in einen Dialog mit einem für den Florentiner Botticelli eher untypischen Gemälde gebracht habe, bin ich wie Warburg vorgegangen. Was Mendieta und Botticelli verbindet, ist eine besondere Vorstellung von Arbeit, oder besser: Durcharbeit, zu der in Freuds Terminologie die Traumarbeit und Trauerarbeit gehören. Gemeinsame Grundlage für die Künstler_innen ist das Beschwören einer mythischen Dimension: einer kulturellen Form, die bereits Urängste kodiert, und einer symbolischen Interpretation, die im Zuge wiederholter, erneuter Interpretationen immer ausgefeilteren Formen poetischer Übersetzung und Zirkulierung ausgesetzt ist. Auf Bildtafel 39 aus Warburgs Mnemosyne Atlas ist ein Element aus Botticellis Gemälde mit der Erinnerung an das Motiv der Reanimation aus Ovids Metamorphosen verknüpft. Es handelt sich dabei um das Zitat eines Gemäldes von Antonio Pollaiulo, auf dem Apollon die Nymphe Daphne verfolgt (1470–80, London, National Gallery).15 Aus diesem Grunde ist Botticellis Bild einer toten jungen Frau als heidnische Personifikation des neu erwachten Lebens unter dem strengen Antlitz der Figur der Muttergöttin – bei Botticelli der Venus, die im Zodiakus auch die Göttin des Frühlings ist – auch ein Bild sexueller Gewalt: Vergewaltigung, das schizophrene andere Gesicht männlicher Leidenschaft, das sich eher zwischen Besitzen und Verlieren als im Neben- und Miteinanderleben ansiedelt. In einer ihrer frühesten Performances wendete sich Mendieta in zutiefst anti-mythischer Weise dieser grauenvollen Thematik zu. Sie lud ihre Besucher_innen zu sich in ihr Apartment, wo sie sie mit ihrem nackten, blutverschmierten Körper konfrontierte, der sie als Opfer einer analen Vergewaltigung positionierte. Indem sie ihren Körper derart vorführte, schuf sie für ihre Betrachter_innen eine traumatisierende Begegnungssituation, mit deren Hilfe die Tatsache einer Vergewaltigung möglichst lebendig und schockierend erfahren werden sollte. Hierin kommt die andere Seite ihrer Daphne-Assoziationen explizit zum Ausdruck.16

15 Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin: Akademie Verlag 2003, Pl. 39, S. 68–69. 16 Eine Performance für die Intermedia-Klasse der Künstlerin; dokumentiert als Untitled (Rape Scene) 1973, permanent Farbfotografie, Besitz der Ana Mendieta Collection. Originaldokumentation, 35-mm-Diapositiv.

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Gasping at violence Mein Nachdenken über Mendieta und das Mythische ist den brillanten Thesen der französischen Kunsthistorikerin Anne Creissels geschuldet, aus deren Werk ich ein Kapitel übersetzt und in meinen kürzlich publizierten Band, The Sacred and the Feminine: Imagination and Sexual Difference, aufgenommen habe.17 Für Creissels ist das Mythische im Werk zahlreicher zeitgenössischer Künstlerinnen gegenwärtig. Im Fall von Mendietas Werk zeichnet sie eine Entwicklung nach, die sich von Themen des Missbrauchs und Opfer-Seins bis hin zur relativen Sicherheit des Jungfräulichen und der Verwandlung in ein pflanzliches Dasein erstreckt. Ersteres ist zu sehen etwa in einem von Mendietas frühen Werken, wenn es um Vergewaltigung und Animalisierungsprozesse im Mythos von Leda und dem Schwan geht, Letzteres im Kontext des Apollon- und Daphne-Mythos. Diese Thematik liegt der gesamten Siluetas/Silhouettes-Serie zugrunde, die ich hier diskutiert habe. Ich spüre der Präsenz von Mythos in der Arbeit von Künstlerinnen nach. Dabei unterscheide ich Geschichten über Gewalt gegen Frauen von Momenten der weiblichen Identifikation mit der Natur. Daphne verwandelt sich in einen Baum, um ihrem phallischen Vergewaltiger zu entkommen; bei Mendieta geht der weibliche Körper auf sehr viel friedlichere Weise in der Natur auf. Eine subtil unscharfe fotografische Abbildung von 1911 konfrontiert uns mit der intimen Nebeneinanderstellung eines weiblichem Körpers und eines gesprengten Baumes. Der verletzliche Körper der nackten Frau schmiegt sich in die dynamisch aufstrebenden Linien und ausgestreckten Äste des Baumes ein und verschmilzt dabei – dank piktorialistischer Manipulation bei der Bildentwicklung – gleichsam mit seinen verwundenen Formen. Ich spreche hier über eine Fotografie der amerikanischen Fotografin Anne Brigman (1869–1950) mit dem Titel Via Dolorosa (1911, Überarbeitung des älteren Silbergelatin-Abzugs ca. 1940, Abb. 7). Brigman war zu Lebzeiten Mitglied der elitären Gruppe PhotoSecession, die von Alfred Stieglitz im frühen 20. Jahrhundert in New York gegründet worden war, um ein Verständnis von Fotografie als Kunst zu befördern. Brigmans Arbeiten wurden in seinem einflussreichen Journal Camerawork reproduziert. Auch andere Bilder, die von Brigman in der kalifornischen Wüste aufge17 Anne Creissels: »From Leda to Daphne: Sacrifice and Virginity in the work of Ana Mendieta«, in: Griselda Pollock/Victoria Turvey Sauron (Hg.), The Sacred and the Feminine: Imagination and Sexual Difference, London: I. B.Tauris 2008, S. 178–188. Vgl. auch ihr Buch über Mythen in der zeitgenössischen Kunst von Frauen: Anne Creissels: Prêter son corps au mythe: Le féminin et l’art contemporain, Paris: Editions du Félin 2009.

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Griselda Pollock nommen wurden, wiederholen diese Positionierung des eigenen Körpers gegen Bäume. Die Fotografien erinnern uns nicht nur an die Kraft der Figur des Baums in der modernen poetischen und visuellen Imagination, sondern rufen auch die Verknüpfung von Baum und weiblicher Form in der Antike ins Gedächtnis. Diese assoziative Verbindung wird durch derart drastische Metamorphosen befördert, wie wir ihnen in der Geschichte von Daphne und Apollon begegnen. Weibliche Nacktheit, weiche Haut, die sich über knochige Baumarchitektur elastisch streckt, formt diese nach, bildet aber auch einen Kontrast zur festen, skelettförmigen Vertikalität des Baums als Urfigur und zur Rauheit seiner ihn umschließenden Borke. Dieser Gegensatz begründet den imaginativen Kern des Mythos von Daphnes dualer Identität als weiches, begehrtes und lebendiges Fleisch und sicher ummantelter Hölzernheit. Diese Dualität wird hier bei Brigman in Abwesenheit der gewaltvollen Bedrohung durch die männliche Lust erkundet, als kunstvolle Ausschmückung einer singulären und weiblichen Vorstellung von der Beziehung zur Natur als zugleich other und ‚m/other‘. Nun also, mit dem erweiterten Wissen um veränderliche Identifikationen mit den mythischen Materialien Daphne/Baum und Frau/Leben möchte ich zu meiner eigenen Begegnung mit Berninis Skulptur von Daphne und Apollon zurückkehren. Meine unbedarfte Lautäußerung war das Registrieren eines Affekts, der dadurch hervorgerufen wurde, dass ich Berninis Skulptur aus einem spezifischen Blickwinkel begegnete. Die tief eingeschnittene Öffnung des Marmorblocks – Daphnes Mund und Rachen – befand sich direkt in meiner Blicklinie. In ihrer ursprünglichen Installation von 1625 war die Perspektive auf die Skulptur eindeutiger. Sie wurde ehemals nicht in der Mitte des Raums platziert – dort, wo sie jetzt frei steht –, sondern gegen die Wand gestellt. Der Besucher wendete sich der Gruppe auf eine Art zu, die es ihm am besten ermöglichte, die dramatische Inbesitznahme der komplexen narrativen Sequenz durch die Skulptur auf einmal zu erfassen (Abb. 8). In der folgenden Passage führt Rudolf Wittkower differenziert aus, welche Implikationen die ursprüngliche Positionierung der Statue im Kontext von Berninis Neuerungen in der bildhauerischen Praxis hatte: „Während die Werke heutzutage fälschlicherweise freistehend in den Räumen der Galleria Borghese präsentiert werden, wurden sie zu Scipione Borgheses Zeiten gegen die Wand gestellt, so dass ihre Hauptansicht jedem sofort er-

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Gasping at violence sichtlich war. Hierin folgte Bernini dem Vorbild der Renaissance, für die sich der Höhepunkt einer Handlung nur von einem Hauptblickwinkel allein offenbarte. In anderer Hinsicht jedoch wich er von der Tradition der Renaissance ab. […] Die neue Freiheit, in der eine tiefgreifende geistige Veränderung zum Ausdruck kam, führte auch zu Mehrfachansichten in der Bildhauerei. […] Indem er die Einfachansicht der Renaissance mit der im Manierismus erlangten Freiheit kombinierte, legte Bernini das Fundament für ein neues Konzept von Skulptur, in dem alle Elemente komplementär zueinander sind: die Einfachansicht und die aktive Handlung; die Wahl des Übergangsmomentes; das Auflösen der Begrenzungen, wie sie der Block auferlegte; die Aufhebung verschiedener Sphären für Statue und Betrachter, und der starke Realismus und die subtile Differenzierung der Oberflächenstruktur. Dies waren die Mittel, mit denen Bernini den Betrachter zum emotionalen Teilnehmer des Spektakels machte, das sich vor seinen Augen entfaltete.“18

Aus der ursprünglichen Position hätte die Betrachter_in die Skulptur so erfahren, als wäre sie Apollon gefolgt, der sich nach vorn streckt und die Verwandlung Daphnes in dem Moment bemerkt, als seine Hand den Leib umschließenden Keuschheitsgürtel der Borke berührt und darunter das noch pochende, lebendige Herz spürt. Daphne wird gezeigt im plötzlichen Einhalt ihrer vorwärtsgerichteten Bewegung, dabei zurückschauend – von Schrecken ergriffen, wie Wittkower bemerkt. In meiner Begegnung mit der frei stehenden Skulptur fand ich mich direkt vor und leicht unterhalb der Figur der Daphne wieder, die mir in vorgestreckter, obgleich eingehaltener Fluchtbewegung entgegenkam. Fängt man die unterschiedlichen Perspektiven mit der Kamera ein, so lässt 18 „Nowadays wrongly shown free-standing in the rooms of the Galleria Borghese, the works for Scipione Borghese were originally set against walls, so that their principal view was clearly displayed, In this respect Bernini followed the Renaissance precedent, for the climax of an action can be fully revealed from one main aspect alone. In other respects, however, he departed from Renaissance tradition. […] This new freedom, expressive of a deep spiritual change, led also to multiple viewpoints in sculpture. […] By combining the single viewpoint with of the Renaissance with the freedom achieved by the Mannerists, Bernini laid the foundation for a new conception of sculpture in which all elements are complementary: the single viewpoint and energetic action, the choice of a transitory moment, the breaking down of the restrictions imposed by the block, the elimination of different spheres for statue and spectator, and intense realism and subtle differentiation of texture. These were the means by which Bernini made the beholder an emotional participant in the spectacle before his eyes.“ Rudolf Wittkower/Gian Lorenzo Bernini: The Sculptor of the Roman Baroque, Oxford: Phaidon 1981, S. 7. (Dt. Übers. B. H.)

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Griselda Pollock sich in dieser fotografischen Virtualität längs wechselnder, instabiler Möglichkeiten reisen, die die dynamische Komposition der Skulptur erlaubt. Jede verdient ihre eigene, gründliche Analyse, wofür mir im Rahmen dieses Textes die Zeit fehlt. Jede dieser Momentaufnahmen führt uns jedoch die immerwährende Anwesenheit männlicher Gewalt und Identifikation mit entweder dem männlichen oder dem weiblichen Subjekt vor Augen. Für Scipione Borghese schuf Bernini noch eine weitere Skulptur klassischer Vergewaltigung: Plutos Raub der Proserpina (oder Persephone, 1621–1622), die ebenfalls Gewalt und Schrecken gegenüberstellt. Die eine kommt in der Kraft des männlichen Körpers und seiner Hände zum Vorschein, die sich in das weiche Fleisch der gefangenen Frau drücken, der andere zeigt sich im gewaltvollen Druck ihrer Hand gegen seinen herankommenden Kopf und an den Tränen, die ihr entsetztes und tragisches Gesicht zeichnen. Verglichen mit Proserpinas Betrübnis ist Daphnes Gesicht sehr viel lebendiger und energiegeladener. Yves Giraud ordnet den Mythos von Apollon und Daphne den 22 Episoden pflanzlicher Metamorphosen bei Ovid zu, von denen die meisten aufs Engste mit den antiken Urmythen und archaischen Ursprüngen bzw. Urformen religiöser Riten verknüpft sind.19 Auch der Baum ist in diesen altertümlichen Denkformen von großer Bedeutung. Der Baum ist eine weibliche Figuration, die mit den späteren Nymphen verbunden ist, die in den Wäldern hausen. Darüber hinaus ist Daphne in sprachwissenschaftlicher Hinsicht mit Sonnenkulten verbunden. Ihr Name kommt aus dem Sanskrit und ist mit Worten verknüpft, die Brennen und Morgenröte konnotieren. So ließe sich die Geschichte auch folgendermaßen interpretieren: Aurora/Daphne wird vom Sonnengott Apollon verbrannt. Insofern könnte der Mythos die Dramatisierung einer Verschiebung darstellen – nämlich von den älteren chthonischen, weiblichkeitszentrierten Kulten hin zum Sonnenkult des Apollon; von den Erde-Mutter-Göttinen-Kulten hin zum Kult des HimmelVater-Gottes. Diese Interpretation wird in der arkadischen Fassung des Mythos am deutlichsten. Wie im Fall von Diana erinnert auch Daphnes Abscheu, sich zu vermählen, an Geschichten jungfräulicher Jägerinnen wie beispielsweise Atlanta, Callisto oder Arethusa. Sie alle bilden Figuren weiblichen Widerstands gegen ein spä-

19 Yves Giraud: La Fable de Daphné: Essai sur un type de métamorphose végétale dans la littérature et dans les arts jusqu’à la fin du XVIIe siècle, Genf: Droz 1968.

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Gasping at violence ter besitzergreifendes Patriarchiat. In dieser Fassung ruft Daphne ihre Mutter an, sie zu retten, und Gaia öffnet einen Spalt in der Erde, durch den Daphne verschwindet und an deren Stelle zum Zeichen ein Lorbeerbaum wächst. Dieser Handlungsstrang erinnert an Mendietas Inszenierungen von Rückkehr, Begräbnis und Akten des Substituierens. Ladon (Daphnes Vater) ist an anderer Stelle auch unter dem Namen Okeanus bekannt, und so erscheint Daphne als das Urkind der kosmischen Verbindung von Wasser und Erde. Ovids thessalische Fassung entfernt jede Spur einer Mutter und macht Daphne zur Tochter des Peneus, eines Flussgottes, dessen Strom durch das Tempetal nahe Delphi fließt. Die Geschichte zentriert sich daher komplett auf Apollon, wie er frisch von seinem Sieg über den Python zurückkehrt. Der Python ist die Schlange, die aus dem nachsintflutlichen Schlamm kriecht – eine symbolgeladene Kreatur, der Warburg später fasziniert in seiner Vorlesung zum Schlangenritual nachspürt.20 Der Python ist die Schlange, die uns in so vielen Weltkulturen zu Fragen von Leben und Tod, Auferstehung und Transformation zurückführt. So lässt die Wahl spezifischer antiker Elemente eine Entfernung von der ursprünglichen Verehrung der Mutter Gaia in Delphi und dem chthonischen Sendboten, dem Python, dessen Totenstein der Omphalos ist, erkennen. Die späteren Alexandriner und die anakreontische Dichtung teilen mit Ovid die gleiche Verschiebung hin zum Bereich der Liebe und sexuellen Differenz auf intersubjektiver und geschlechterspezifischer Ebene.21 Konflikte um Liebe, Sexualität und Inbesitznahme werden zum klassischen Territorium der Dichtung, Malerei und in der Tat auch der Musik: Die erste Oper der Moderne ist nicht Eurydike oder Orpheus, sondern Daphne von Jacopo Peri aus dem Jahr 1598.

20 Aby Warburg: »Images from the Region of the Pueblo Indians of North America« (dt. »Das Schlangenritual«), Vortrag vom 21. April 1923 in Ludwig Binswangers Klinik in Kreuzlingen. Erstveröffentlichung in englischer Übersetzung unter dem Titel »A lecture on Serpent Ritual«, in: The Journal of the Warburg Institute 2 (1938–39), S. 277–292. Der vollständige deutsche Text erschien in der Herausgabe von Ulrich Raulff: Aby Warburg: Das Schlangenritual: Eine Reisebericht, Berlin: Klaus Wagenbach 1988. Siehe auch die Analyse von Michael Steinberg in dem von ihm herausgegebenen Band: Michael Steinberg: »Aby Warburg’s Kreuzlingen Lecture: A Reading«, in: Aby Warburg: Images from the Region of the Pueblo Indians of North America, Ithaca: Cornell Univeristy Press 1995, S. 59–114. 21 Victoria Rimmel: Ovid’s Lovers: Desire, Difference and the Poetic Imagination, Cambridge: Cambridge University Press 2006.

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Griselda Pollock Ovid radiert die Daphne, die mit archaischen Assoziationen von Leben, Tod und Regeneration beladen ist, in seiner Narration völlig aus. Sie wird ersetzt durch den Lorbeerbaum und einen Bedeutungsträger: ihren Namen, der die Gattung des Baums bezeichnet. Leben und Bewegung gehen verloren. Sie wird zwar nicht einverleibt, aber in anderer Hinsicht dem patriarchalen Symbolsystem eingegliedert. Das ist der Grund, warum Vergewaltigung Mord ist. Von der Positionierung der Skulptur Berninis als ganze bis hin zur Repräsentation seines Gesichtes als Moment des Rückschlags, der Reflexion und Transformation seiner Gefühle ist Apollon der Gegenstand von Berninis Skulptur – wenn sie denn Ovids Geschichte tatsächlich erzählte. Aber wegen ihrer Bildaussagen und der Möglichkeit, die Skulptur auf komplexe und facettenreiche Weise zu rezipieren, kann Daphne hier meiner Meinung nach eine Gegen-Subjektivität zugeschrieben werden. Diese counter-subjectivity kommt aber nicht in der Beschwörung des Gesichts, das wechselnde Gefühle durchläuft, zum Tragen. Ihre Subjektivität klingt. Weit entfernt davon, Laute des Entsetzens auszustoßen, scheint sie mir, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, jemanden anzurufen. Im Lichte jener ersten Oper, für die Ottavio Rinuccini (1562–1621) das Libretto und Jacopo Peri die Musik schrieb, ließe sich vielleicht schließen, dass Berninis Daphne in Wahrheit singt. Die Oper als Gattung entstand zu Beginn der modernen Kultur. Sie zeichnet sich wesentlich durch das aus, was meine Tochter, als sie noch sehr jung war, sofort intuitiv verstand: In der Oper sterben Menschen und singen darüber. Der Tod selbst ist durch Stille gekennzeichnet.22 Nachdem das Werk in einen erweiterten feministischen Bilderatlas visueller Erinnerung und innovativer literarischer Bearbeitungen gestellt wurde, möchte ich abschließend die Differenz betonen, die zwischen Berninis reichem und mehrdeutigem Werk und Ana Mendietas und Anne Brigmans den Baum des Lebens zelebrierenden affirmativen Performances bzw. Fotografien besteht (Abb. 9 und 10). Bei Bernini erleben wir den Tod einer Frau mit, bei dem sie in einen Baum verwandelt wird – ein Ereignis, auf das ich als Betrachterin in Identifikation mit dem Trauma der Frau hörbar luftholend reagierte. Bei Mendieta und Brigman ist der lebensspendende Baum eine Quelle robuster Zerfurchtheit

22 Zu einer anderen Form der Erforschung der Theatralik von Berninis Skulptur siehe Genevieve Warwick: »Speaking Statues: Bernini’s Apollo and Daphne at the Villa Borghese«, in: Art History 27:3 (2004), S. 353–381.

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Gasping at violence oder Unerschütterlichkeit – voll der faszinierenden Formen, Symbol schützender Kraft und eingebettet in einen Zyklus von Leben und Tod. Um schließlich zu Daphne in der Galleria Borghese zurückzukehren: Ich reagierte mit einem Laut des Entsetzens auf eine Skulptur, die beim ersten Anblick selbst laut um Luft zu ringen schien. Zunächst hatte ich das Gefühl, als öffnete sich der angestrengte Körper in Angst und Schrecken. Aber dann schien die Skulptur auf der narrativen Ebene eher eine Frau zu entwerfen, die entweder ihre Mutter anruft, um wieder von der Erde aufgenommen zu werden, oder ihren Vater um Hilfe anfleht, sie vor den Nachstellungen ihres Verfolgers in Holz einzuschließen und so zur Ruhe kommen zu lassen. Doch auch in dieser Lesart könnte man meinen, schreit Daphne noch im Terror der Bedrohung unmittelbar bevorstehender Schändung. Vielleicht ringt sie aber auch nur um Luft angesichts der plötzlichen, schockierenden und in Windeseile sich vollziehenden Metamorphose ihres lebendigen Körpers in eine pflanzliche Form. Welches Ereignis die Skulptur auch immer suggeriert, es dringt in den Körper ein oder aus ihm heraus. Ein solches Ereignis lädt uns ein – noch während wir von ihm Kenntnis nehmen –, dem Subjektiven Ausdruck zu verleihen und insofern den Raum zu erfahren, den diese Skulptur für eine spezifisch weibliche Subjektivität öffnet.23 Weiblichkeit ist hier in Form extremer Verletzlichkeit gegenüber männlichem Übergriff kodiert. Weiblichkeit hat sich auch im trotzigen, wenn auch tragischen Akt des Auf-bäumens zur Bewahrung körperlicher Integrität eingeschrieben. Ist der Preis die Verwandlung in einen Baum und infolgedessen der Affekt im Anb-

23 Indem ich diese Serie von Lektüren anbiete, versuche ich das umzusetzen, was Eve Kosofsky Sedgwick eine ‚reparative‘ anstelle einer ‚paranoiden‘ Lektüre nannte. Sedgwick kritisiert die akademische Paranoia, die stets versucht im Voraus zu wissen und daher stets auf das Schlimmste gefasst ist, anstatt der Leser_in zu erlauben, sich von der Möglichkeit und dem Begehren nach Gegenlektüren und kreativen Leseweisen überraschen zu lassen, und die sowohl die Markierungen patriarchaler und anderer Unterdrückungsregime trägt als auch jene des Widerstands: ‚Queering‘ durch die Verwendung einer ‚schwachen Theorie‘ und der Aufmerksamkeit des Affekts. Ich danke Carmen Mörsch für ihre Empfehlung von Sedgewick als eine Möglichkeit, mein Vorgehen zu erklären. Eve Kosofsky Sedgwick: »Paranoid Reading and Reparative Reading; or, You’re so Paranoid You Probably Think this Essay is About You«, in: Dies., Touching, Feeling: Affect, Performativity and Pedgagogy, Durham, N. C.: Duke University Press 2003, S. 123–51.

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Griselda Pollock lick menschlichen Todes, dessen Zeuge wir sind? Was aber ist der Preis für diese Verwandlung in einen Baum, und wie können wir den Affekt fassen, der durch den Anblick des menschlichen Todes ausgelöst wird, zu dessen Zeug_innen wir durch Berninis Skulptur werden? Übersetzung: Brenda Hollweg

A BBILDUNGEN Abbildung 1: Gianlorenzo Bernini (1598–1680), Daphne und Apollon (Detail), 1622–25, Marmor, 243 cm, Rom: Galleria Borghese, Foto: Archiv der Künstlerin. Abbildung 2: Gianlorenzo Bernini (1598–1680), Daphne und Apollon (Detail), 1622–25, Marmor, 243 cm, Rom: Galleria Borghese, Foto: Scala, Ministero Beni e Att. Culturali, Florenz. Abbildung 3: Gianlorenzo Bernini (1598–1680), Daphne und Apollon (Detail), 1622–25, Marmor, 243cm, Rom: Galleria Borghese, Foto: Archiv der Künstlerin. Abbildung 4: Caravaggio (Michelangelo da Merisi, 1571–1610), Medusa, 1596, Öl auf Leinwand, aufgezogen auf Holz, 60 × 55 cm, Florenz: Galleria degli Uffizi, Foto: Scala, Ministero Beni e Att. Culturali, Florenz. Abbildung 5: Ana Mendieta (1948–1985), Imagen de Yagul, 1973, permanente Farbfotografie, © Ana Mendieta Collection, Courtesy Lelong Gallery, New York. Abbildung 6: Ana Mendieta (1948–1985), Tree of Life, 1976, 35 mm Farbdiapositiv, © Ana Mendieta Collection, Courtesy Lelong Gallery, New York. Abbildung 7: Anne Brigman (1869–1950), Via Dolorosa, 1911/ca. 1940, überarbeiteter Silbergelatin-Abzug, 12,2 × 9,4 cm, Courtesy George Eastman House, International Museum of Photography and Film, Rochester. Abbildung 8: Gianlorenzo Bernini (1598–1680), Daphne and Apollon, Rückansicht, 1622–25, Marmor, 243 cm, Rom: Galleria Borghese, Foto: Scala, Ministero Beni e Att. Culturali, Florenz. Abbildung 9: Ana Mendieta (1948–1985), Untitled (Silueta Series, Mexico), 1976, Farbfotografie, © Ana Mendieta Collection, Courtesy Lelong Gallery, New York. Abbildung 10: Anne Brigman (1869–1950), The Soul Of The Blasted Pine, 1908, Silbergelatin-Abzug, 19,6 × 24,5 cm, George Eastman House, International Museum of Photography and Film, Rochester.

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Zwischen Einfühlung und Analyse. Zur Tradierung von Affektgestaltung und einigen Motiven in der aktuellen Warburg-Rezeption1 SIGRID SCHADE

Emotional Turn – ein Paradigmenwechsel? Das Thema Affekte in Kunst und visueller Kultur hat Konjunktur – um einen von Warburg häufig gebrauchten, in die Ökonomie abgewanderten Begriff der Astrologie zu verwenden. Die Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer spricht von einem „Begehren nach dem Affekt“2, wobei aus der Formulierung des Titels ihre These herauszulesen ist, dass dieses Begehren weniger der Analyse des Affektiven und seiner Effekte gilt als einem mit ihm verbundenen Authentizitäts- und Wahrheitsversprechen, das ihm in den Kultur- und anderen Wissenschaften neuerdings verstärkt zugesprochen werde. Darin lässt sich auch ein Begehren nach Unmittelbarkeit des Zugangs zu Bildern festmachen, nach einer Unmittelbarkeit, für die Affekte – als unkontrollierbare und spon1

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Dieser Text stellt eine überarbeitete Fassung von Passagen aus meinem Vortrag Visuelle Politiken und Tradierung der Affektgestaltung – Zu einigen Motiven in der aktuellen Warburg-Rezeption während des Ersten Kongresses der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz in Bern im September 2010 dar. Er stand im Kontext der Sektion Affekt in bildender Kunst und visueller Kultur, die ich zusammen mit Sigrid Adorf und Sabine Gebhardt Fink verantwortet habe. Ihnen danke ich hiermit für die Diskussionen und gemeinsamen Lektüren zur Vorbereitung der Sektion. Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Berlin: Diaphanes 2007.

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Sigrid Schade tane körperliche Reaktionen gedacht – so etwas wie Gradmesser oder Garanten zu sein versprechen.3 Angerer beschreibt das neue Interesse an diesem Thema als ein Krisen-Symptom, in dem der Wunsch nach unmittelbaren, affektiven Erlebnissen in einem allgemein als rational begriffenen Diskurs seinen Ausdruck findet, also – um es verkürzt zu sagen – als die Wiederkehr eines Verdrängten in einem wissenschaftlichkulturanalytischen Feld. Sie bezieht sich vor allem auf Kontexte und Untersuchungen der alten und neuen Massenmedien sowie der Kunst und spricht geradezu von einem Emotional Turn.4 Bei einer solchen auf sehr heterogene Phänomene bezogenen Diagnose ist es nicht leicht, zu dem Thema beizutragen, ohne selbst in die Gefahr zu geraten, nachträglich als zum Symptom dazugehörend betrachtet zu werden. Ich will im Folgenden zwei Aspekte zu bedenken geben: In Textsorten wie Coffee-Table-Books und Ausstellungs-Katalogen etc. hat dieses Begehren im Kontext ungebrochener Künstlermythen eine lange Tradition. Die Einfühlungsästhetik, die sich neuerdings u. a. in unterschiedlichen Feldern der Wissenschaft und der (Medien-)Kunst bemerkbar macht, ist der Kontinuität eines kunstgeschichtlichen Narrativs zu verdanken, das sich als besonders resistent erweist, weil es immer schon narzisstische Gratifikationen, Spiegelungseffekte versprach. Diese imaginäre Bindung des Rezipienten sichern sich nun auch andere Wissenschaften, die sich neuerdings mit Bildern auseinandersetzen. Eine in kulturanalytischer Reflexion aufgehobene Kunstwissenschaft sollte jedoch in der Lage sein, selbstreflexiv Vorschläge für die Analyse auch aktueller kultureller Phänomene zu machen. Dies schließt von vorneherein aus, diese – und seien sie noch

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Ich verweise hier auf Angerers Aufzählung von Ausstellungen, Symposien und Publikationen der letzten zehn Jahre, vgl. ebd. S. 17. Diese können ergänzt werden: u. a. durch die Publikationen des Graduiertenkollegs Psychische Energien Bildender Kunst, von denen ich an dieser Stelle diejenige hervorheben möchte, die Bezüge zu Aby Warburg aufweist: Klaus Herding/Antje Krause-Wahl (Hg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht, Taunusstein: Dr. H. H. Driesen GmbH 2008. Nach den bereits proklamierten Turns (pictorial, performative, medial, spatial, cultural, practical, anthropological etc.) der letzten Jahrzehnte wird es immer schwieriger, neue Turns zu (er)finden. (Vgl. Sigrid Schade/Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011, Kap. II, S. 2–4.)

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Zur Tradierung von Affektgestaltung so zeitgenössisch – als unmittelbar verständlich zu konzipieren.5 Man kann jedoch am Beispiel einiger AutorInnen nachweisen, dass sie anlässlich der Beschäftigung mit Affekt(theorien) auch in diesem transdisziplinären Feld häufig Unmittelbarkeit voraussetzen – zum Teil ohne dass ihnen der immanente Wunsch danach bewusst ist.

Künstlermythen und Einfühlung Zu traditionellen Künstlermythen existiert mittlerweile ein umfangreicher Korpus an Forschungen.6 Sie umfassen christologische, martyriologische und/oder heldische Konzepte, in denen dem Künstler besondere Sensibilitäten oder affektive Zustände zugesprochen werden, welche ihm stellvertretend für den NormalSterblichen ermöglichen, Erlebtes und Erfahrenes intensiver zu erleiden und dies – ausgezeichnet durch besondere Begabungen – zum Ausdruck zu bringen. Dies kann oder soll – so der Mythos – anderen dazu verhelfen, zu fühlen, was zuvor nur der Künstler gefühlt hat. Mit der Einfühlung partizipieren wir am Genie. Die zugrundeliegende Rezeptionsform könnte man empathisch oder auch projektiv nennen. Es handelt sich hier um ein bekanntes historisches Muster des Geniekultes, verbunden mit einem Diskurs der Einfühlungsästhetik, der das Kunsterleben für alle, also für Laien, propagierte.7

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S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, Kap. I, vgl. dazu auch Sigrid Schade: »Jenny Holzer und Barbara Kruger. Kunst, Politik und Öffentlichkeit in den USA der achtziger Jahre«, in: Peter K. Klein/Regina Prange (Hg.): Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann zum 60. Geburtstag, Berlin: Reimer Verlag 1998, S. 387 und Sigrid Adorf/Sabine Gebhardt Fink/Sigrid Schade/Steffen Schmidt (Hg.): Is it now? – Gegenwart in den Künsten. Zürcher Jahrbuch der Künste, Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich 2007. Einen umfangreichen Überblick über Literatur und Forschungsstand wird es geben in: Sabine Fastert/Alexis Joachimides/Verena Krieger (Hg.): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2011. Über die Konzepte der Einfühlungsästhetik und deren volkspädagogischen Einsatz um 1900 arbeitet derzeit Josef Imorde. Vgl. Joseph Imorde: »‚Einfühlung‘ in der Kunstgeschichte«, in: Robin Curtis/Gertrud Koch (Hg.): Einfühlung. Zur Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München: Wilhelm Fink 2009, S. 127–141 und Frederic

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Sigrid Schade Solche Muster sind nach wie vor im überwiegenden Teil der Texte zu finden, die über KünstlerInnen veröffentlicht werden. Zuweilen scheint es auch, als gelte dies besonders für zeitgenössische Kunst, die für einige KunstwissenschaftlerInnen offenbar mit einer Lizenz verbunden ist, das erworbene Instrumentarium analytischer Reflexion auszusetzen, zumal wenn man sich an ein Publikum adressiert, dessen Aufmerksamkeit parallel von den Massenmedien abgelenkt oder absorbiert wird. Was in der Kunstund Kulturgeschichte inzwischen mehrheitlich Konsens zu sein scheint, nämlich die Historizität der Entstehungs- und Wahrnehmungsbedingungen und die Historizität der Form, der Rezeption sowie der jeweils zeitgeschichtlichen Interpretation von Bildern und nicht zuletzt auch der Historizität von Gefühlen und Affekten und der darin wirkenden oder durch sie bewirkten kulturellen, sozialen und Geschlechter-Differenzen, all dies wird im Kunstschrifttum über zeitgenössische Kunst häufig suspendiert – vielleicht weil die eigene Zeitgenossenschaft nicht als historisch gewordene gesehen wird und gegenüber zeitgenössischen kulturellen Produktionen eine Distanzierung unnötig erscheint.8 Und dies ist keine neue Erscheinung. Ein spontaner Fund, den ich hier vorstelle, bestätigt meine These. Es geht mir nicht um die Denunzierung der jeweiligen AutorInnen, sondern um den Nachweis der Resistenz der sogenannten Einfühlungsästhetik als einem offenbar nach wie vor attraktiven Interpretationsmodell. So liest man im Katalog der Ausstellung Ego Documents9 über den Videofilm Measures of Distance der aus Beirut stammenden Künstlerin Mona Hatoum, in welchem sie als Überblendungen Fotografien zeigt, die sie bei einem Aufenthalt in Beirut von ihrer Mutter unter der Dusche gemacht hatte, u. a. Folgendes: „Die aneinandergereihten Nahaufnahmen des üppigen Leibs verraten die ständige präsente schmerzlich erfahrene Sehnsucht nach der Mutter, welche im entfernten Beirut im Bürgerkrieg ausharren muss, während die Tochter eher zufällig in London gestrandet ist.“10

Und weiter: J. Schwartz: »Die Angemessenheit der Einfühlung. Probleme eines kunsthistorischen Konzepts«, in: ebd. S. 143–158. 8 Vgl. S. Schade: »Jenny Holzer und Barbara Kruger«, wie Anm. 5. 9 Katalog der Ausstellung: EGO DOCUMENTS, Kunstmuseum Bern, Heidelberg: Kehrer 2010. 10 Ebd., S. 114.

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Zur Tradierung von Affektgestaltung „Die vielfältigen medialen Verschachtelungen dieses Werks spiegeln die emotionalen Verflechtungen seiner Protagonisten: Während der Vater eifersüchtig auf die freizügige Nacktheit seiner Ehefrau reagiert, sind die Bilder davon die einzige Form der Nähe, welche seiner Tochter vergönnt sind“11 (Hervorhebungen S.S.).

Ich stelle nun nicht infrage, dass die Trennung der Familie durch Krieg und dadurch ausgelöste Gefühle das Thema der Arbeit sind, was ich aber infrage stelle, ist, dass diese sich scheinbar für alle selbstverständlich in einer gewissermaßen natürlichen Form visualisieren – was auch ein Begriff wie der des Ausdrucks nahe legt, dass die Nahaufnahmen des Leibs der Mutter unmittelbar und natürlich die Sehnsucht der Tochter repräsentieren und dass BetrachterInnen in einem westlichen Kunstkontext oder sonst irgendwo in der Welt dies sofort verstehen oder gar nachempfinden könnten. Mit Roland Barthes würde man diese Mitteilungsarchitektur als Naturalisierungsvorgang bezeichnen. Ich könnte Bilder des mütterlichen Leibs nennen, die das Gegenteil, nämlich Abscheu und Wunsch nach Trennung von der Mutter, verkörpern sollen, die als Zeichen von Ekel eingesetzt werden.12 Die scheinbar selbstverständliche Deutung wird im Katalogbeitrag mitgeliefert, soweit es nötig ist. Für Personen, die mit Mona Hatoums Arbeiten und deren Selbsterläuterungen vertraut sind, stellen diese eine bekannte Trope dar. Ich lasse an dieser Stelle offen, was es heißt oder wie man es bewerten soll, dass der/die KünstlerIn oder auch der/die KuratorIn solche scheinbar privaten Dokumente in Kunstwerken integriert und im Raum von Kunstmuseen öffentlich zu sehen gibt, in einer Institution, zu deren historischer Konstituierung die Tradition des weiblichen, erotisierten Aktbildes gehört, die immer schon an spezifische voyeuristische Blicke adres11 Ebd. 12 Julia Kristeva: Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York: Columbia University Press 1982, Simon Taylor: »The Phobic Object. Abjection in Contemporary Art«, in: Katalog der Ausstellung: Abject Art. Repulsion and Desire in American Art, Whitney Museum of American Art 1993, S. 59ff., bes. S. 61, vgl. dazu auch: Anja Zimmermann: Skandalöse Bilder. Skandalöse Körper. Abject Art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin: Reimer 2001, bes. S. 162ff. Ein anderer Fall wäre z. B. das Post Partum Document der Künstlerin Mary Kelly, in dem sie die Erfahrungen des nach und nach selbstständiger werden Babys aus Perspektive der Mutter mit einer Reflexion der gesellschaftlichen Konventionen in der Repräsentation von Mutter und Kind verbindet. Vgl. d. Katalog der Ausstellung Mary Kelly: Post-Partum Dokument, München/Wien: Generali Foundation, Verlag Silke Schreiber 1998.

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Sigrid Schade siert war. Soweit zur Resistenz der Einfühlungsästhetik und zur Aktualität der Frage nach dem Verhältnis von Affekt, Repräsentation und Tradierungspolitiken.

Zu einigen Motiven der aktuellen Warburg-Rezeption Aby Warburgs Beitrag zu einer Theorie der Tradierung von Affektgestaltung in historisch diskontinuierlichen Rezeptionsschüben ist mittlerweile nicht nur in der Kunstgeschichte, sondern auch anderen Kulturwissenschaften gewürdigt worden. In den letzten zehn Jahren ist geradezu eine Explosion der Warburg-Rezeption zu beobachten, die im deutschsprachigen Raum im Wettbewerb verschiedener Disziplinen um die Deutungshoheit über das Bild steht.13 Aus den jüngeren deutschsprachigen Veröffentlichungen hervorzuheben ist die Publikation der Werke Aby Warburgs in einem Band14, der sowohl veröffentlichte wie bislang nur schwer zugängliche unveröffentlichte Arbeiten, historische Textfassungen und Lektürehilfen enthält, da die griechischen und lateinischen Zitate in seinen Texten ins Deutsche übersetzt wurden. Zugleich werden die Texte nach Themen und Motiven eingeführt und kommentiert. Das Hauptanliegen ist, Aby Warburg als grenzüberschreitenden Denker zwischen den Fronten verschiedener Disziplinen zu situieren. Welche Bedeutung er in der deutschsprachig-en feministischen Kunstwissenschaft hatte, wird nicht erwähnt.15 Hilfreich als erster Überblick für Warburg-Novizen ist die Einführung von Perdita Rösch.16

13 Zumeist im Kontext einer Debatte um einen vermeintlichen Pictorial Turn, vgl. S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur 2001, Kap. II, S. 2, was sich auch in der Gründung neuer Disziplinen wie der Bildwissenschaft niederschlägt. Ebd. Kap. II, 4. Für die letztere wird Warburg denn auch als Stichwortgeber reklamiert, vgl. Thomas Hensel: »Magie der Technik. Aby Warburg (1886–1929)«, in: Jörg Probst/Jost Philipp Klenner (Hg.): Ideengeschichte der Bildwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 360–376. 14 Aby Warburg: Werke in einem Band, hg. u. komm. v. Martin Treml/Sigrid Weigel/Perdita Ladwig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. 15 Vgl. u. a. Silvia Baumgart u. a. (Hg.): Denkräume. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin: Reimer 1993. 16 Perdita Rösch: Aby Warburg, Paderborn: Wilhelm Fink 2010. Rösch glaubt, zwischen einer Darstellung von Warburg entlang seiner Texte und den von jeweiligen Interessen gefärbten Darstellungen in der Se-

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Zur Tradierung von Affektgestaltung Auch international gesehen hat sich sowohl im französischwie im englischsprachigen Raum die Warburg-Rezeption vervielfacht17, was sich nicht zuletzt der ersten Veröffentlichung der Übersetzung seiner Texte in englischer Sprache 1999 verdankt.18 Zuvor war Warburg in der englischsprachigen Kunstwissenschaft fast ausschließlich in den Deutungen seiner Schüler und Kollegen, den deutschen Emigranten Erwin Panofsky, Edgar Wind, Fritz Saxl und Gertrud Bing und in den meisten Fällen wohl über die intellektuelle Biographie von E.H. Gombrich präsent.19 Die Mehrheit der Warburg-Rezeption versteht Warburgs Konzept der Affektgestaltung als Inhalt, der nicht unmittelbar, sondern aus

kundärliteratur über Warburg trennen zu können. Dies ist natürlich nicht möglich, zumal sie in fast allen zentralen Punkten der inzwischen problematisierten Biografie E.H. Gombrichs folgt. Die kommentierte Auswahlbibliografie der Sekundärliteratur ist dagegen aufgrund der Knappheit der Kommentare praktisch nicht brauchbar, vgl. ebd. S. 140ff. Sie bestehen meist nur aus zwei Sätzen, die man häufig als gänzlich nichtssagend bezeichnen muss. 17 Darunter das Wichtigste: Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. 18 Aby Warburg: The Renewal of Pagan Antiquity: Contributions to the Cultural History of the European Renaissance (Texts & Documents), J P Getty Trust 1999. Mittlerweile sind weitere Texte Warburgs ins Englische übersetzt worden. Diese Verspätung wurde mir zuerst in der von Griselda Pollock veranstalteten Sektion Aby Warburg and the Contemporary Studies of Culture and Image an der AAH Conference in Leeds 2006 in seiner ganzen Tragweite bewusst, in der nachgezeichnet wurde, warum Aby Warburg weder in der New Art History noch in der feministischen Kunstwissenschaft in der angloamerikanischen Community eine Rolle gespielt hatte – mit Ausnahme von Margaret Iverson. (Soweit mir bekannt, sind die Vorträge dieser Sektion bislang nicht veröffentlicht.) So erklärte sich nachträglich, dass ich bei einem Aufenthalt im WarburgInstitute London 1978/79 mit Ausnahme von D.P. Walker eine ausgesprochen traditionelle und an Warburg’schen Themen und Fragestellungen völlig desinteressierte Kollegenschaft vorfand, sodass sich der Gewinn für die Forschung (zu Hexendarstellungen der frühen Neuzeit) seinerzeit fast ausschließlich aus der Nutzung der hervorragenden Bibliothek ergab. 19 Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London: The Warburg Institute, University of London 1970. In deutscher Übersetzung 1981 erschienen. Warburg hatte darüber gleichwohl Spuren in den Arbeiten von Michael Baxandall u. a hinterlassen. Vgl. Michael Baxandall: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Athenäum 1987, vgl. dazu S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur 2011, Kap. II, S. 5.

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Sigrid Schade der Analyse der spezifischen Kombination von Affekten, Motiven, Formen und Kontexten erst historisch zu entschlüsseln wäre. Im Folgenden möchte ich einige Motive der neueren WarburgRezeption zusammenfassen, in denen sich allerdings Gefahren erkennen lassen, dem Begehren nach Unmittelbarkeit des Zugangs zu Affekten oder Emotionen nachzugeben oder es zumindest partiell zu bedienen.

Zur Bedeutung von Affektgestaltung: Energie und/oder Form und/oder Inhalt Der Affekt-Begriff ist auch bei Freud nicht eindeutig. Diesem zufolge ist der „Affekt die qualitative Äußerungsform der Quantität an Triebenergie und ihrer Variation“20 (Hervorhebungen S.S.), d.h. Vorstellungen können, müssen aber nicht mit Affekten verknüpft sein. Er kann auch ein eigenes Schicksal haben, z. B. das der Affektumwandlung (Verwandlung, Verschiebung, Vertauschung). Affekt ist in der Psychoanalyse also immer schon Übersetzung wie Affektbetrag.21 Was aber wäre der Inhalt oder die Bedeutung bildlicher Formen, die einen Affekt darstellen oder erzeugen sollen? Ist es der reine Affekt, der als (historisch nicht zu bestimmender) Betrag durch die Geschichte transportiert wird? Oder als anthropologische Konstante in einer ein für allemal fixierten Form? Oder ist er als Form bereits eine Deutung und erfährt er in der Tradierung aus der Affektlage der Rezeption weitere historische (Um-) Deutungen? In dieser Spannbreite etwa hat sich auch Warburg in einer lebenslangen Suchbewegung nach jeweils angemesseneren Formulierungen und Konzepten bewegt. Die Energie der affektiven Übertragung spürt er zunächst in bewegtem Faltenwerk von Gewändern, entdeckt sie wieder in dem, was er mit den Begriffen der Pathosformel oder später des Engramms fasst, und beschreibt ihre Formulierungen oder Formgebungen im Laufe seines Lebens immer komplexer als „Volkslatein pathetischer Gebärdensprache“22 bis hin zu vom Künstler oder den Rezipienten zu leistende Antworten auf spezifische (Angst-)Reize als eine „Urkundensammlung

20 J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Erster Band, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1984, S. 37. 21 Ebd. S. 39. 22 A. Warburg: Werke in einem Band, S. 181.

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Zur Tradierung von Affektgestaltung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde“23. Wenn Bilder grundlegend als Inszenierungen, als etwas Zu-SehenGegebenes zu verstehen sind – und das gilt nicht nur für künstlerische Bilder –, dann folgt, dass die Bedeutung aus einem Verhältnis von Repräsentationen zu anderen Repräsentationen verstanden werden muss.24 Wenn einer Repräsentation des Affekts oder affektiv aufgeladenen Repräsentation ein Sonderstatus unter den Repräsentationen zugewiesen wird, wie es einige RezipientInnen tun, wird zugleich unterstellt, dass es Repräsentationen gebe, die von Affekt gewissermaßen frei wären. Eine weitere Problematik besteht im Identifizieren der affektiven Bewegung in bewegten Formen oder sogar in bewegten Bildern.

Zur Isolierung des Begriffs der Pathosformel Das abgekürzte Rezipieren und Isolieren von Begriffen trägt seinen Teil dazu bei, dass sich RezipientInnen im Werk Warburgs wie in einem Steinbruch bedienen (können). Die Attraktivität seiner Schlagbilder – wie Warburg besonders aufgeladene Bildformulierungen bezeichnete, die im Kontext von Bilderpolitiken polemisch und strategisch eingesetzt wurden25 – verführt gewissermaßen dazu, diese als Konzeptersatz selbst auszudeuten, ohne zu sehen, dass es sich zumeist um temporäre Zuspitzungen von Konzepten handelt, die Zeit seines Lebens im Fluss waren und die durchaus auch wechselseitig in Widerspruch geraten konnten. Damit geht eine grundsätzliche Enthistorisierung einher, die eine Aktualisierung und Identifizierung mit Warburg als Zeitgenosse von heute im Sinne universaler Werte und Sinnbezüge fördert. Dies geschieht, wenn Warburgs Begriff der Pathosformel als Inhalt aufgefasst wird, der mit einer Form identisch wäre, was der Interpretation der Pathosformel als Archetyp entsprechen würde: Damit wäre er universal verständlich und würde unmittelbar tradiert und ausagiert werden können. Der Archetyp ist demnach auch als biologisches Konzept zu verstehen. Ein solches Missverständnis findet sich z. B. bei Rösch, die davon spricht, dass War23 Ebd., S. 682. 24 S. Schade/S. Wenk: Studien zur visuellen Kultur, Kap.II, S 5. Ich danke auch den Anregungen von Martina Sauer und ihrem Vortrag in der Sektion Affekt in bildender Kunst und visueller Kultur auf dem Ersten Kongress der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz in Bern im September 2010. 25 A. Warburg: Werke in einem Band, S. 456 u. 466.

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Sigrid Schade burg zeigen könne, dass „gewisse Einflüsse und Einflusslinien überzeitlich gültig sind“26 und dass die Engramme in dem Sinne, dass sie in historischen Sprüngen immer wieder reaktualisiert werden könnten, den Jung’schen Archetypen ähneln.27 Letztlich ist es vor allem auch eine Frage der Vorstellung von der Medialität der Erinnerung, wie Herstellung, Lagerung und Abrufbarkeit sowie Tradierung des Archivs, des kollektiven Zeichenreservoirs – als kollektives Unbewusstes oder als soziales Gedächtnis – gedacht werden, also ob man sich ein Trägergen, das solche vererbt, vorstellt oder eine kulturelle Konstruktion, an der alle Beteiligten je nach Partizipation an Definitionsmacht und Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie mitwirken.

Warburg als Medientheoretiker avant la lettre Im Kontext der Aktualisierung von Warburg, insbesondere mit Bezug auf sein Mnemosyne-Projekt, den Bilderatlas, als Medientheoretiker avant la lettre scheint zuweilen ebenfalls etwas auf, was in einer verkürzten Argumentation den Zugang zum Realen, d. h. auch zum Affekt, unmittelbar zu ermöglichen scheint.28 In diesen Fällen werden die Reflexionen von E.H. Gombrich, Kurt Forster, Werner Hofmann, Martin Warnke, Michael Diers u. a. fortgeschrieben, die bereits Parallelen der Anordnung von BildFragmenten und Unterschriften als sich gegenseitig kommentierende Montagen, Collagen sowohl mit künstlerischen wie massenmedialen Produktionen und politischen Bezügen aufgezeigt hatten. Philippe-Alain Michaud bezieht Warburgs Montageverfahren und die dabei belassenen Zwischenräume auf die Entwicklung der Chronofotografie von Marey und Muybridge. Karl Sierek geht darüber hinaus und findet Vorläufer oder Parallelen für den experimentellen Film und schließlich das flüssige oder verflüssigte Bild.29 26 P. Rösch: Aby Warburg, S. 35. 27 Ebd. S. 51. Darin zeigt sich die Dominanz von E. H. Gombrichs Biografie in Röschs Rezeption, die durch eine Lektüre von Georges DidiHubermans Das Nachleben der Bilder hätte relativiert werden können, welche offensichtlich nicht stattgefunden hat. 28 Philipe-Alain Michaud: Aby Warburg et l’ image en mouvement, Paris: Editions Macula 1998; Karl Sierek: Foto, Kino und Computer. Aby Warburg als Medientheoretiker, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2007. 29 Vgl. T. Hensel: »Magie der Technik«, der Warburg auch mit dem Fernsehen in Verbindung bringt.

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Zur Tradierung von Affektgestaltung Ohne Zweifel geht es Warburg um das bewegte und bewegende Bild, und technische Verfahren der Bewegungsdarstellung haben oder hätten ihn interessiert. Zugleich gibt es Grenzen der Übertragbarkeit und Erklärbarkeit der Methode und der Fragestellung Warburgs, insofern sein Hauptinteresse der psychischen Bewegung galt, die nicht notwendigerweise durch Bewegung im Bild repräsentiert wird. Selbstverständlich spielt der Zwischenraum zwischen den aneinandergereihten Bildern eine Rolle, aber es steht meinem Erachten nach eine genaue Untersuchung des gelenkten Blicks und der gelenkten Assoziation durch die von Warburg montierten Bilder im Bilderatlas als exemplarische noch aus, wenn man nicht einer Automatismuskonzeption aufsitzen will, die jede unreflektierte Rede von Assoziationsketten mit sich bringt. Einen weiteren Anker für eigene Anknüpfungen findet die Medienwissenschaft in den technischen Metaphern, die Warburg verwendet. Diese sind jedoch nicht selbsterklärend. Wie schon im Fall Freuds finden sich die avanciertesten Technikmodelle, insbesondere solche, die mit der industriellen Nutzung der Energie von Elektrizität und deren Erscheinungen sowie mit den neuesten optischen Apparaten der Fotografie und anderer analoger Aufzeichnungsapparate zu tun haben (Engramm, Dynamogramm; Fotogramm, Seismograf etc.).30 Wer diese selbst allerdings mit einer unmittelbaren Erklärung für die Konzeption der Affektübertragung verwechselt und übersieht, dass es sich um Metaphern handelt und Affektübertragung wohl kaum allein als Reaktion auf einen Stromstoß erklärt werden kann, der wird dem Kurzschluss von der Technik oder den Medien zum Realen im Sinne Friedrich Kittlers nicht entgehen.31 Zudem ist das Missverständnis des Mnemosyne-Atlas als einer Kunstgeschichte ohne Text weiterhin im Umlauf – z.B. in Philippe Alain Michauds Text Zwischenreich oder die subjektlose Ex-

30 Vgl. G. Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder 2010, in dem u. a. die Bezüge zu Mareys und Charcot thematisiert werden, vgl. Sigrid Schade: »Zur Metapher vom Künstler als Seismograph«, in: S. Fastert/A. Joachimides/V.Krieger (Hg.): Die Wiederkehr des Künstlers, 2011 und S. Schade: »Charcot and the Spectacle of the Hysterical Body. The ‚Pathos Formula‘ as aesthetic staging of psychiatric discourse«, in: Art History, No. 3, 1995, S. 499–517. 31 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme, 1800/1900, München: Fink 1985, der die analogen Medien des 19. Jahrhunderts benennt. Vgl. dazu Goerg Christoph Tholen, »Metaphorologie der Medien« in: ders.: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 19–60.

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Sigrid Schade pressivität32, ein Missverständnis, auf das bereits Konrad Hoffmann in einer Rezension von Bäuerles Arbeit Gespenstergeschichte für ganz Erwachsene33 in den 1980er Jahren hingewiesen hat, was in neueren Publikationen und Editionsprojekten bestätigt wurde. Es waren zwei Textbände mit Erläuterungen geplant.34 In dem genannten Text schreibt Michaud: „Unter dem Aspekt nicht seiner Anordnung, sondern der abgebildeten Gestalten stellt der Atlas eine Ansammlung von Pathosformeln dar, die sich in der Kunst entfalten, als eine stumme, von den Zwängen der Diskursivität befreite Sprache.“35 Eine solche emphatische Leugnung des semiologischen Verbundes Text und Bild in der Sprache und eine Unkenntnis der Absichten des Bilderatlas führt zu jeder Menge von Intuitions-, Unmittelbarkeits- und Selbstverständlichkeits-Topoi: Michaud führt aus, dass Warburgs „Suche nach den reinen Verkettungen von Bildern, die an die Stelle des Diskurses treten, den Kunsthistoriker seinerseits in einen tanzenden Philosophen verwandeln würde“36 (Hervorhebungen S.S.). Hier ist also das Begehren nach dem unmittelbaren Zugang zum Affekt unverstellt am Werk und verleitet zur Konzeption von „Mnemosyne“ als einer „Kunstgeschichte ohne Text“,37 in der die Affektübertragung so direkt vorgestellt wird, dass der sich damit befassende Kunsthistoriker unmittelbar in Bewegung versetzt werde und zu tanzen beginne. Man sollte sich von solchen Unmittelbarkeitsvertretern in der Warburg-Rezeption nicht auf der diskursanalytischen Nase herumtanzen lassen und mit Warburg entgegenhalten:

32 Philippe-Alain Michaud: »Zwischenreich. Mnemosyne, ou l’expressivité sans sujet«, in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne, No. 70, Hiver 1999–2000, S. 42–61, der in einer von Kornelia Zumbusch übersetzen Fassung in der Online-Zeitschrift „Trivium. Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes und Sozialwissenschaften“ (1–2008) im Internet zu finden ist (http://trivium.revues.org/index373.html, letzter Zugriff Dezember 2010). 33 Konrad Hoffmann: »Zu Aby Warburgs ‚Gedächtnis‘. Bemerkungen anlässlich von Dorothee Bäuerle: Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Ein Kommentar zu Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne 1988«, in: kritische berichte, Bd. 16, H. 4, 1988, S. 87–79. 34 Martin Treml/Sigrid Weigel in: A. Warburg: Werke in einem Band, S. 14 u. S. 603ff. 35 P.-A. Michaud: Zwischenreich. 36 Ebd. 37 Ebd., die er auch noch biologisch begründet.

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Zur Tradierung von Affektgestaltung „Das mythische und das symbolische Denken schaffen im Kampf um die vergeistigte Verknüpfung zwischen Mensch und Umwelt den Raum als Andachtsraum oder Denkraum, den die elektrische Augenblicksverbindung raubt, falls nicht eine disciplinierte Humanität die Hemmung des Gewissens wieder einstellt.“38

38 A. Warburg: Werke in einem Band, S. 561.

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From here I saw what happened … Fotografische Evidenz, Rahmen-Spiele und Ent/Fixierungen bei Carrie Mae Weems1 KERSTIN BRANDES

Die 33-teilige Foto-Text-Reihe From here I saw what happened and I cried der afrikanisch-amerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems besteht aus abfotografierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen afrikanischer Amerikaner/innen, appropriierte Bilder, die formal vereinheitlicht wurden: auf ein für Porträtgemälde übliches Format vergrößert, in sattem Rot eingefärbt und in runde Passepartouts gesetzt, die wiederum von Holzrahmen eingefasst sind. Die Texte bestehen aus einzelnen Wörtern oder Satzfragmenten. Sie sind mit Sandstrahltechnik in die aufgelegten Glasscheiben eingraviert und benennen soziale Rollen oder Funktionen, die Schwarzen innerhalb einer weißen US-amerikanischen Dominanzgesellschaft zugewiesen wurden, und auf sie gerichtete phantasmatische Projektionen.2 From here I saw what happened … entstand 1995–96 auf Einladung des J. Paul Getty Museums, Malibu, Kalifornien, und war dort auch zuerst zu sehen. Damals präsentiert unter dem Titel Carrie Mae Weems Reacts to ‚Hidden Witness‘, sollte die Arbeit einen künstlerischen Kommentar zu der zeitgleich stattfindenden fotohistorischen Ausstellung Hidden Witness: African-Americans in Early Photography darstellen, die Bilder von afrikanischen Amerikaner/innen aus den 1840er bis 1860er Jahren versammel-

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Der Text basiert auf Auszügen aus meinem Buch, Kerstin Brandes: Fotografie und »Identität« – Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld: transcript 2010. http://carriemaeweems.net/galleries/from-here.html (vom 01. Oktober 2010). Allerdings sind hier nicht 33, sondern nur 29 Bilder zu sehen.

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Kerstin Brandes te – einer nicht nur medienhistorisch, sondern für die USA auch nationalhistorisch höchst bedeutsamen Phase: die Zeit vor, während und nach dem Bürgerkrieg, „a time span that includes both years of slavery and emancipation.“3 Diesem künstlerischen Kommentar, dem Kommentierenden von From Here I saw what happened and I cried möchte ich mit diesem Beitrag genauer nachgehen. Kommentieren sei dabei als eine Praxis verstanden, die dem zu Kommentierenden nicht absolut äußerlich oder von diesem getrennt, sondern immer schon Teil dessen ist, worüber sie spricht, und die sich auch anders als in Sprache äußern kann.4

… what happened … Carrie Mae Weems gilt als eine der gegenwärtig erfolgreichsten Künstler/innen der USA. Ihre fotografischen Projekte kreisen vielfach um Geschlechterkonstruktionen und Familienbeziehungen, Rassismus und Sexismus in ihren aktuellen und historischen Dimensionen sowie um Fragen von Identität, Politik und visueller Repräsentation. Dabei inszeniert Weems ihre Auseinandersetzung mit diesen Thematiken auch als eine Frage danach, wie die Fotografie – in ihrer spezifischen Medialität, ihren Verwendungsweisen und diskursiven Zuschreibungen – darin involviert war und ist. Dies geschieht, indem sie ihre Arbeiten als Serien, Reihen oder Installationen konzipiert, Montage-Verfahren, Bild-Text-Kombinationen, Farb- und Form-Manipulationen einsetzt und mit Rückgriffen auf ein kulturelles Bildrepertoire sowie der Zitation tradierter Genres wie dem Porträt, der ethnografischen Fotografie, dem Pressefoto, der Interieur- oder Landschaftsaufnahme verschränkt.

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Thomas Piché, Jr.: »Reading Carrie Mae Weems«, in: Carrie Mae Weems: Recent Work, 1992–1998, Ausst.-Kat., Everson Museum of Art, New York 1998, S. 9–27. Vgl. dazu Sigrid Schade: »Die Kunst des Kommentars«, in: Kunstforum international, Nr. 100, April/Mai (1989), S. 370–376. Vgl. auch: Kunst als Kommentar. Aus den achtziger Jahren in Deutschland. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Neues Museum Nürnberg, Nürnberg 2006. Gegen einen kunsthistorischen Diskurs, der noch immer durch einen romantischen Geniebegriff geprägt sei, wurde thematisiert, wie gerade die Kunst der 1980er Jahre Verfahren des Kommentierens und der indirekten Rede entwickelt hat, die keine Reduktion auf eine ‚innerste Haltung‘ des Künstlers zulassen.

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From here I saw what happened …

Abbildung 1: Carrie Mae Weems: „From here I saw …“. Aus: From here I saw what happened and I cried, 1995-96. Abbildung 2: Carrie Mae Weems: „And I cried.“ Aus: From here I saw what happened and I cried, 1995-96.

From here … beginnt mit dem anthropologisch-ethnografisch5 codierten Profilfoto einer westafrikanischen ‚Stammesfrau‘ und endet mit dessen spiegelverkehrter Wiederholung (Abb. 1, 2). Im Unterschied zu den übrigen Bildern der Reihe sind diese beiden Aufnahmen blau eingefärbt und lediglich in einen viereckigen Rahmen gesetzt. Mit dem auf das erste Profilfoto gravierten Text „FROM HERE I SAW WHAT HAPPENED“ wird die fotografierte Person als Augenzeugin markiert, die auf ein in der Vergangenheit situiertes Geschehen schaut, welches die nachfolgenden 31 Formate, auf die sie blickt, verbildlichen und insofern sichtbar machen. Zugleich verweist die Aufnahme darauf, dass die anthropologischethnografische Fotografie selbst Teil eines „what happened“ ist – nämlich als Visualisierungspraxis der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Disziplin der Anthropologie bzw. Ethnografie, deren Konstituierung mit einer zunehmenden Verwissenschaftlichung

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Ich benutze den doppelten Begriff, um möglichst das gesamte Bedeutungsspektrum erfassen zu können. Zu den Begrifflichkeiten vgl. Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S.13.

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Kerstin Brandes rassistischer Theorien, sog. Rassentheorien, einherging und die aufs Engste mit der Erfindung der Fotografie verknüpft war.6 Die ‚Stammesfrau‘, die durch das fotografische Bild repräsentiert ist, bezeugt – durch ihren Blick und den ihr zugeschriebenen Text – in der Gegenwart, welche die der Betrachtung ihres Bildes ist, ein vergangenes Ereignis. Zugleich ist sie als Bild, welches durch das spezifische Zu-Sehen-Geben im Profil ‚wissenschaftlich‘ definiert ist, selbst das Zeugnis einer Vergangenheit, in welcher das Bild von ihr den Beweis vermeintlich spezifischer körperlicher und wesenhafter Charakteristika lieferte, welche die Einordnung in ein hierarchisches System ‚menschlicher Rassen‘ begründen sollte. Das Bild, das ‚sie‘ historisch bekommen hat, ist zu ‚ihrem‘ Bild geworden, dessen Objekt sie zugleich ist. Die Profilfotografie zeugt insofern auch von einem Bildwerdungsprozess innerhalb eines von Macht- und Gewaltstrukturen durchzogenen Repräsentationssystems, welches das Schwarze/Afrikanische Subjekt in einem Status-als-Bild fixiert – als Spiegel, Projektionsfläche und Abgrenzungsfigur, über die sich ein hegemoniales Subjekt konstituiert.7 In diesem ersten Foto-Text-Format sind Figurationen des Doppelten, Ambivalenten und Paradoxen angesprochen, mit denen die Fotografie selbst immer wieder beschrieben wird und welche sie ihrer indexikalischen Verfasstheit verdankt: Jede Fotografie ist ein Bild von etwas und zugleich ein gemachtes Bild. Mit diesem doppelten Status steht vor allem die dem Medium zugeschriebene Evidenz zur Debatte. Evidenz meint Sichtbarkeit, den Vorgang des Sichtbarmachens – hier in der quasi-selbsttätigen chemisch-physikalischen Aufzeichnung, verbunden mit einer bestimmten Weise des In-den-Rahmen-Setzens: die Schaffung eines Bildes, das zeigt und mit diesem Zeigen beweist und bezeugt; ein Bild, das nicht weiter erklärt oder begründet werden muss, weil es für sich zu sprechen scheint – eben evident ist. Diese fotografische Evidenz wiederum richtet sich zum einen auf das Objekt; sie konstituiert sich innerhalb eines Netzwerks einander wechselseitig bestätigender Diskurse, Praktiken und Institutionen und ist 6

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Für eine kritische Reflexion des Verhältnisses von Anthropologie und Fotografie vgl. Elizabeth Edwards (Hg.), Photography and Anthropology, 1860–1920, New Haven/London: Yale UP 1992. Innerhalb eines feministischen Diskurses wurde der Status-als-Bild vor allem hinsichtlich der Frau bzw. des Weiblichen thematisiert. Vgl. zusammenfassend Silvia Eiblmayr: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 1993. Die Kategorie des Ethnischen blieb hier unthematisiert.

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From here I saw what happened … insofern grundlegend historisch bestimmt.8 Zum anderen geht sie von der Einmaligkeit des fotografischen Augenblicks aus und ist auf die Zeit bezogen. Die Fotografie suggeriert die Anwesenheit des Objekts, indem sie dessen Abwesenheit zu sehen gibt, und sie gibt Zeit zu sehen – das Bild eines vergangenen Moments –, durch die Verstellung von Zeit in der Gegenwärtigkeit der Betrachtung. Objekt-Evidenz und Zeit-Evidenz, wie ich sie pragmatisch nenne, wirken stets zusammen, doch sind sie je nach kategorialer Zuordnung und kontextueller Einbindung der konkreten Fotografie(n) unterschiedlich expliziert und gewichtet. Innerhalb des gegenwärtigen fotografischen Diskurses scheint es allerdings geradezu eine Gleichschaltung zu geben zwischen bestimmten fotografischen Bild-Kategorien, Bild-Typen oder Bildformen und deren Thematisierung hinsichtlich jeweils nur einer Evidenz, ohne dass dies expliziert würde. So werden z.B. institutionalisierte fotografische Praktiken, die auf die Identifizierung und Klassifizierung eines ‚sozialen Anderen‘ ausgerichtet sind – sei es in der Anthropologie/Ethnografie oder der Kriminologie/Kriminalistik, der Psychiatrie oder Medizin – hinsichtlich einer Evidenz des Objekts verstanden. Für den privaten Schnappschuss, das Porträt oder das Familienfoto hingegen wird die Fotografie als Erinnerungsbild, die Evidenz von Zeit thematisiert.9 Im nachfolgenden Vergleich mit Hidden Witness möchte ich zeigen, wie From here … ein historiografisches Projekt vorstellt, das in seiner medienreflexiven Problematisierung von Evidenz(en) ein Angebot im Sinne einer emanzipatorischen visuellen Politik macht. Indem es die Ordnung des fotografischen Diskurses durcheinanderbringt, wird eine Option eröffnet, wie marginalisierte/minorisierte Subjekte ein Bild bekommen können, ohne zugleich in einem Status-als-Bild neu festgeschrieben zu werden.

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Vgl. John Tagg: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Houndmills/London: Macmillan 1993; Allan Sekula: »Der Körper und das Archiv«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 269–334. Für eine ausführliche Darlegung vgl. K. Brandes: Fotografie und „Identität“, S. 49–99.

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Kerstin Brandes

Hidden Witness: Sichtbarmachung und historische Zeugenschaft Die Ausstellung Hidden Witness: African-Americans in Early Photography diente einer zweifachen Sichtbarmachung: der Repräsentation von Subjekten, die in der frühen US-amerikanischen Fotografie weitestgehend unsichtbar geblieben waren, und der Präsentation von historischen Dokumenten, die als Artefakte eine Rarität darstellen. Die gezeigten Daguerreotypien, Ambrotypien und Zinnotypien stammten aus der Privatsammlung des Detroiter Anwalts Jackie Napolean Wilson, dessen Großvater noch als Sklave geboren worden war, sowie aus dem Besitz des Getty, unter dessen ungefähr 1500 fotografischen Bildern sich gerade 30 befanden, auf denen Schwarze zu sehen sind.10 Die Aufnahmen, die namentlich zumeist unbekannte Fotografen von namentlich zumeist unbekannten sog. freien Schwarzen und auch Sklaven gefertigt haben, folgen zeitgenössischen Porträtkonventionen (Abb. 3). Es sind Fotografien, die dem Privaten zugeordnet würden – als Erinnerung, für das Familienalbum, mehrheitlich Atelieraufnahmen, die in ihren mit Samt ausgeschlagenen metallenen und vergoldeten Schmuckrahmen als Wertobjekte zu sehen gegeben werden: Einzel-, Doppel- und Gruppenporträts – Männer in Anzug oder Uniform, einige als Musiker oder Handwerker erkennbar, Frauen, gut gekleidet oder mit Arbeitskopftuch, einige mit einem weißen Kind im Arm als mammy zu identifizieren, auch Kinderporträts, Paar- und Familienbilder. Die nobilitierende Bedeutung dieser Aufnahmen wird neben der dekorativen Rahmung auch dadurch unterstrichen, dass viele teilkoloriert sind oder Retuschespuren aufweisen. Dazu kommen Aufnahmen von Südstaatenfarmhäusern mit idyllischem Garten, von Stadt- und Lagerhäusern, bevölkert mit weißen Herrschaften und schwarzen Bediensteten, höchstwahrscheinlich Sklaven, in friedvoll erscheinenden Settings. Die Fotografien, die Hidden Witness hier in die Funktion historischer Zeugenschaft stellt, sind andere Bilder als die, die im

10 Vgl. Weston Naef: »Foreword«, in: Hidden Witness. African-American Images from the Dawn of Photography to the Civil War, New York 1999, S. vi-vii, hier: vii. Zudem haben einige der Bilder auch motivischen Seltenheitswert, wie etwa das einer allem Anschein nach schwangeren Frau oder jenes, das schwarze Sklaven und weiße Tagelöhner nebeneinander zeigt und damit auf eine historisch verbürgte, aber kaum thematisierte Realität der Plantagenarbeit verweist.

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From here I saw what happened … westlich-weißen kulturellen Bildrepertoire dominant bereitstehen und direkt auf ein gewaltsames rassistisches System verweisen. Sie zeigen weder misshandelte oder unmenschliche Schwerstarbeit verrichtende Sklaven noch jubelnde befreite ‚Neger‘.11 Stattdessen stellen die Porträts eher Einschreibungen in ein anderes Bild vor – das des bürgerlichen weißen Subjekts –, aus welchem die Fotografierten qua ‚rassischer‘ Stigmatisierung und Hautfarbe (eigentlich) ausgeschlossen waren. Eingepasst in Codierungen und Posen ‚weißer Bürgerlichkeit‘, beweisen die Fotografien eine ‚Subjektfähigkeit‘ der Abgebildeten; als Zeit-Bilder bezeugen sie ihre eigene Historizität und das Da-Gewesensein der fotografierten Subjekte. In dieser Überlagerung und verstärkt durch das musealisierende Arrangement geben die Fotografien insofern eine andere Geschichte zu sehen. Fotografische Evidenz steht hier (auch) im Zeichen einer Wunschvorstellung, die Vergangenheit möge so gewesen sein, wie sie im Bild erscheint; das Begehren nach einer ‚heilen‘ Geschichte gleichberechtigter Existenz. Damit ist zugleich aber auch die Grenze des Sichtbarmachens markiert; unsichtbar und unthematisiert bleiben die Gewaltstrukturen des dominanten visuellen Repräsentationsregimes selbst. Hier setzt From here I saw what happened … an und spielt inszenatorisch aus, was bei Hidden Witness stillschweigend ineinanderwirkt.

Evidenz-Artikulationen zwischen Objekt und Zeit Die in From here … verwendeten Fotografien stammen hauptsächlich aus dem 19. Jahrhundert, den 1930er Jahren und der Zeit der Bürgerrechtsbewegung; Zeiträume also, die in den USA eine historisch und historiografisch herausragende Bedeutung für eine Konstituierung Schwarzer Identität hatten und haben. Allerdings wirken die Bilder weder systematisch ausgewählt noch folgen sie unbedingt streng chronologisch aufeinander. Der Blick, den Weems auf das Historische anbietet, bezieht sich weniger auf die Inhalte der Bilder – die dargestellten Subjekte –, sondern diese werden vielmehr als ganz bestimmte Produkte ganz bestimmter fotografischer Praktiken sichtbar. Es ist diese Ebene der fotografischen Praktiken, ihrer Konventionen wie auch ihrer historischen und diskursiven Einbindungen, auf der Weems’ Projekt ansetzt

11 Vgl. zu Letzterem beispielsweise die von Josiah Wedgwood entworfene Abolitionisten-Medaille Am I Not a Man and a Brother, ca. 1787.

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Kerstin Brandes das Wie fotografischen Zu-Sehen-Gebens, dessen Bedingungen und Wirkungen.

Abbildung 3: Unbekannter Fotograf: Portrait of a Black Man Wearing a Bow Tie, ca. 1856. Abbildung 4: Carrie Mae Weems: „Uncle Tom“. Aus: From here I saw what happened and I cried, 1995-96.

Weems zitiert und bringt Bilder zusammen, die unterschiedlichen fotografischen Kategorien angehören, und obwohl sie z.T. ausschnitthaft oder unzentriert abfotografiert wurden, scheint eine Zuordbarkeit bzw. Herkunft immer noch erkennbar. So sind die meisten Aufnahmen Porträts, vor allem Einzelporträts und Familienfotos. Einige davon entstammen Hidden Witness, wie das Portrait of a Black Man Wearing a Bow Tie (ca. 1856; Abb. 4), das Portrait of a Nurse and Young Child (ca. 1850) oder das Portrait of a Father, Daughters, and Nurse (ca. 1850) von Thomas Martin Easterly (Abb. 7).12 Dazu gibt es Gruppenaufnahmen, die der Presse entnommen zu sein scheinen. D ie Reihe beginnt mit vie r anthropologisch-ethnografischen Aufnahmen, die zu einer von Joseph T. Zealy 1850 angefertigten Daguerreotypien-Serie afrikanischer Sklavinnen und Sklaven gehören. Sie waren Teil eines Projekts, das die ‚rassische Minderwertigkeit‘ von Schwarzen zu beweisen suchte (Abb. 5, 6).13 Pornografische Fotografie ist mit der unter

12 Aus Hidden Witness entlehnt sind außerdem: DRIVERS, RIDERS & MEN OF LETTERS, YOU BECAME A WHISPER, KITCHEN. 13 Vgl. Deborah Willis/Carla Williams: The Black Female Body. A Photographic History, Philadelphia: Temple UP 2002, S. 21f. Zealy arbeitete,

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From here I saw what happened … dem Titel Nude Study of a Black Woman (ca. 1850) bekannten Daguerreotypie einer Schwarzen Frau vertreten. Robert Mapplethorpes Man in Polyester Suit (1980) wird der Kunstfotografie zugerechnet, und die Rückenansicht eines ausgepeitschten Sklaven – Peter, Whipped Slave, Baton Rouge, Louisiana (1863), die einzige Aufnahme, die auf direkte körperliche Gewalt verweist – erscheint als Dokumentarfotografie. Die formale Vereinheitlichung verdichtet diese nicht unabhängig voneinander, aber doch verstreut existierenden Bilder des ‚Schwarzen Anderen‘ zu einer syntagmatisch strukturierten Folge, die eine Erzählung des Bild-Seins ist.

Abbildung 5: Carrie Mae Weems: „A negroid type“. Aus: From here I saw what happened and I cried, 1995-96. Abbildung 6: Joseph T. Zealy: Renty, Congo. On Plantation of B.F. Taylor. Columbia, South Carolina, 1850.

Das wird noch durch die eingravierten Texte forciert, die als versatzstückartige Aufzählungen gelesen werden können. Sie korrespondieren mit den Bildern als Bestätigung, Verstärkung, Vereindeutigung oder auch Widerspruch. So heißt es z.B. in der Abfolge der anthropologischen Fotografien und den daran anschließenden Einzelporträts: „YOU BECAME A SCIENTIFIC PROFILE – A NEGROID TYPE – AN ANTHROPO– & A PHOTOGRAPHIC SUBJECT – YOU BECAME MAM-

LOGICAL DEBATE

im Auftrag des seinerzeit bekannten Paläontologen und Plantagenbesitzers Robert W. Gibbes, für den Naturwissenschaftler und Zoologen Louis Agassiz.

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Kerstin Brandes MIE, MAMA, MOTHER

& AND THEN, YES, CONFIDANT-HA – DESCENDING & COOK – HOUSE – YARD – FIELD – KITCHEN […]“.

THE THRONE YOU BECAME FOOT SOLDIER

Die Texte verweisen auf Erfahrungen von Unterdrückung und Diskriminierung, auf Überlebensstrategien und Momente des Widerstands, und es wird Bezug auf historische, literarische oder biblische Figuren genommen, die für ein Schwarzes (Selbst-)Bild prägend (gewesen) sind: z.B. [Duke] „ELLINGTON“, „BILLIE“ [Holiday], „UNCLE TOM“, „DANIEL“. Dabei entstehen auch Gegen-Erzählungen, indem z.B. BildText-Kombinationen als subversive Wiederholungen verstehbar werden – etwa dort, wo die lakonische Kommentierung der Nude Study: „YOU BECAME PLAYMATE TO THE PATRIARCH“ mehr oder weniger offensichtliche Bildbedeutungen als historische Tatsachen in ihren rassistischen und sexistischen Strukturierungen noch einmal auf den Punkt bringt. Zusammen mit der nachfolgenden Aufnahme Nurse and Young Child und der Textfortsetzung „AND THEIR DAUGHTER“ wird dann drastisch auf die mehrfache sexuelle Ausbeutung Schwarzer Frauen/Sklavinnen verwiesen. Bisweilen werden Bedeutungsverschiebungen provoziert, die den harmonisch gefügten fotografischen Arrangements subtile Risse versetzen. So macht der Textzusatz „YOUR RESISTANCE WAS FOUND IN THE FOOD YOU PLACED ON THE MASTER’S TABLE – HA“, den Easterlys Familienporträt bei Weems trägt, aus der Schwarzen Sklavin, die im Foto zur Familie gehört, zumal sie an Stelle der fehlenden Mutter eingereiht ist, nachträglich ein subversives Element. Plötzlich ist sie nicht länger die allsorgende und duldsame, omnipräsente und doch unsichtbare mammy, sondern ein Stachel, der auf die Gewaltsamkeit des vermeintlichen Familienidylls weist (Abb. 8). From here I saw … (re-)inszeniert Schwarze Geschichte, indem das, was eigentlich bekannt ist, neu gebündelt und zu einem Gesamtbild zusammengefügt wird, welches über den Rahmen jedes einzelnen Formats der Reihe hinausgeht. Dieses Bild ist jedoch ein mehrfaches, insofern es simultan mehrere gleichwertige Lektüren herausfordert. So funktioniert die Reihe, ähnlich einem Familienalbum, als eine Art Zeit-Reise, die die Fotografien – seien es nun Porträts oder die anthropologischen Fotos – zu Erinnerungsbildern macht; dies wird noch einmal intensiviert durch die Einfärbung, womit sie verfremdet werden, etwas Surreales bekommen und auch Traumbilder bezeichnen könnten. Ebenso könnte man die Bildfolge als eine Dokumentation betrachten, die eine ausgewählte Vielfalt aus dem Archiv der fotografischen Kon-

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From here I saw what happened … struktionen Schwarzer Identität bzw. des Schwarzen Subjekts versammelt. Mit diesen Lesarten, die unterschiedliche Momente des fotografischen Diskurses aufrufen, wird die ‚kategoriale Zugehörigkeit‘ der Einzelbilder relativiert und destabilisiert, aber nicht eingeebnet. Statt dessen werden z.B. die anthropologische oder die pornografische Fotografie zugleich (auch) als Erinnerungsbild, Mapplethorpes Man zugleich (auch) als Dokumentarfoto oder jedes Einzelporträt zugleich (auch) als ein subversives Bildgebungsverfahren lesbar.

Abbildung 7: Willis/Williams 2002, S. 133. Abbildung 8: Weems: Recent Work 1992-1998. New York 1998, Plate 48.

Das besondere Spannungsverhältnis, das auf diese Weise zwischen den einzelnen Bild-Text-Formaten und der Gesamtfolge entsteht, ist noch nicht allein damit erklärt, dass die einzelnen Fotografien verschiedene Kategorien und unterschiedlich situierte fotografische Praktiken bezeichnen, die entlang der möglichen Lektüren verunsichert und neu/anders eingesetzt werden. Vielmehr kommen die damit tradierterweise jeweils verknüpften Evidenzen in wechselseitiger Überlagerung und Durchdringung zum Tragen – und zwar in ihrer Loslösung von den je konkreten einzelnen Fotografien bzw. Bild-Text-Formaten. Es sind sich beständig umformierende Artikulationen fotografischer Evidenz – Spiele zwischen Objekt und Zeit –, die im Gesamtbild des künstlerischen Zu-Sehen-Gebens nachwirken. Artikulation verweist hier auf das Gewordensein und beständige Neu-Werden von Evidenz(en) innerhalb des fotografischen Diskurses als veränderliche und veränderbare, nicht völlig determi-

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Kerstin Brandes nierte und determinierbare Formationen.14 Objekt-Evidenz und Zeit-Evidenz – sei es nun bezogen auf die ethnografische Fotografie, das Porträt oder den Schnappschuss – wirken in paradoxaler Verschränkung zusammen. So basiert die fotografische Sichtbarkeit des Objekts (des Subjekts) auf Strukturen, die ihm vorausgehen, und zugleich in der Ausrichtung auf ein Zukünftiges.15 Maßgebliche Instanzen für sein (Wieder-)Erkennen, die Anerkennung von Ähnlichkeit ebenso wie die Wahrnehmung von Entstellung, sind das kulturelle Bildrepertoire und die Konzeption des Unbewussten im Feld des Sehens, die Jacques Lacan den Blick des Anderen genannt hat.16 Entscheidend ist hier, dass Ähnlichkeit und Entstellung keine Gegensätze bilden, sondern in einem nichtoppositionellen Verhältnis stehen, das aus den je spezifischen Evidenz-Artikulationen resultiert. So wie die Wahrnehmung von Entstellung – die Differenz zwischen dem erwarteten und dem tatsächlich zu sehen gegebenen Bild – auf der fotografischen Besonderheit beruht, dass sie Erinnerungsbilder einerseits speichert und andererseits immer auch verstellt,17 ist auch Ähnlichkeit an ein Prinzip paradoxaler Zeitlichkeit gekoppelt. Dieses Prinzip wiederum trifft für die verschiedenen Momente von Fotografie – das Betrachten von Fotografien, das Fotografieren und das Fotogra-

14 Den Begriff der Artikulation übernehme ich von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie – Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen 1991, S. 155: Er bezeichnet jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Übereinstimmung „als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird“. 15 Vgl. Sigrid Schade: »Posen der Ähnlichkeit. Zur wiederholten Entstellung der Fotografie«, in: Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hg.): Mimesis. Bild und Schrift, Köln: Böhlau 1996, S. 65–81. 16 Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, hg. v. Norbert Haas. Freiburg i.Br.: Walter 1978, S. 113: „[…] – auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/tableau. Dies ist die Funktion, mit der sich die Institution des Subjekts im Sichtbaren zuinnerst erfassen läßt. Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument darstellt, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich […] photo-graphiert.“ 17 Zum Begriff der Entstellung, vgl. Sigmund Freud: »Die Verneinung«, in: ders.: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2000b, S. 371–377, hier: 375f.

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From here I saw what happened … fiert-Werden – zu und ist ebenso in den unterschiedlichen fotografischen Gebrauchsweisen virulent. Beim Fotografiert-Werden geschieht das (Sich-)Zu-SehenGeben des Subjekts, wie Theorien der Pose gezeigt haben, als eine prä-fotografische Bild-Werdung, die auf das zukünftige, gewünschte Bild ausgerichtet ist.18 Dieses Im-Voraus-zum-BildWerden hat Sigrid Schade als das Sichtbarwerden des Blicks des Anderen plausibel gemacht, auf den hin sich das Subjekt zu entwerfen sucht oder auch, so muss man hinzufügen, entworfen wird.19 In dem Zusammenwirken dieses allgegenwärtig imaginierten und unsichtbaren Blicks des Anderen und eines präexistenten Bildarchivs, welches die Möglichkeiten, die Parameter des Betrachtens, des Bildermachens und des Sich-Entwerfens mit bestimmt, wird Ähnlichkeit, so Schade, „von einem Medienverbund garantiert“, für den u.a. die Kunstgeschichte, das Theater, der Film und die Werbung „die Muster liefern.“20 Für das Betrachten von Fotografien entspricht das Sichtbarwerden des Blicks des Anderen in der „Nachträglichkeit angehaltener Zeit, die die Photographie darstellt“21, dem, was Roland Barthes das punctum genannt hat. Barthes hat für die Fotografie als einem besonderen Medium der Zeitwahrnehmung vor allem ein strukturelles Paradox hervorgehoben, welches die Rezeptionsbedingungen fotografischer Bilder grundlegend darin bestimmt, dass sich eine codierte Botschaft auf der Grundlage einer Botschaft ohne Code entfaltet, die selbst unfassbar bleibt.22 Die Wirkungsweise dieser doppelten Botschaft ist am nachhaltigsten in den Konzepten von studium und punctum ausgearbeitet: das Signifikantennetz – also die semiologischen, technischen und soziokulturellen Codes – und zugleich immer auch das, was mit diesen nicht erfassbar ist, was entgleitet, ohne völlig abgetrennt zu sein, und durch das Geflecht der Signifikanten hindurchblitzt.23 Dieses strukturale Paradox der Fotografie tritt vor allem auf der Ebene 18 19 20 21

Vgl. S. Schade: »Posen der Ähnlichkeit«, S. 75. Ebd. Ebd. Sigrid Schade: »Der Schnappschuß als Familiengrab. Entstellte Erinnerung im Zeitstil der Photographie«, in Georg Christoph Tholen u.a. (Hg.): Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel. Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1993, S. 287–300, hier: S. 298. 22 Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S.15, 31f. 23 Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.

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Kerstin Brandes des Begehrens auf – wenn das punctum das studium unverhofft durchbricht und den Betrachter trifft. Das punctum meint in diesem Sinn die Erfüllung des Wunsches, das fotografierte Subjekt/Objekt möge sich im Moment des Fotografiert-Werdens auf den zukünftigen Blick hin entworfen haben, welcher der der gegenwärtigen Betrachtung ist. From here I saw what happened … entwirft eine Sichtbarkeit, die das kulturelle Bildrepertoire, das Bildarchiv, zeigt. Das zitierende Zusammenfügen, das Weems vornimmt, spricht von der Evidenz des Objekts, welches das Schwarze Subjekt ist, in Positur und Pose gesetzt – sei es für die ‚wissenschaftliche‘ Aufnahme, das pornografische Bild, das Porträt oder das Gruppenfoto. Die Evidenz von Zeit erscheint in diesen fotografisch reproduzierten und neu ausgestellten Bildern erstarrter Gegenwart, welche im Augenblick des Betrachtens Vergangenheit ist und im Moment der Aufnahme bereits als Bild entworfen war, nachträglich als die Zurichtung des Objekts für den Blick des Anderen. Dieser Blick kann im Prozess des Betrachtens der Reihe ebenfalls als ein vergangener imaginiert werden, weil die verwendeten Fotografien historisch sind, und er wird immer wieder gegenwärtig. So, wie das Gesamtbild, welches From here … anbietet, ein mehrfaches ist, gestaltet sich auch dieser Blick in seiner Verkörperung durch den Betrachter/die Betrachterin als ein vervielfältigter: kontrollierend und überwachend, solidarisch, voyeuristisch, verwundert, ausbeuterisch, empathisch, pädagogisch, verschwörerisch, sachlich … Vor allem inszeniert Weems darüber – und hier spielen auch das halluzinatorisch wirkende Rot und die direkte Anrede des Textes eine wesentliche Rolle – den Betrachtungsprozess als die heimliche Suche nach einem punctum. Zwischen Ähnlichkeit und Entstellung spielt sie mit einem Begehren, getroffen zu werden, sich in der Geschichte der Bilder wiederzufinden.

Mises-en-abîme und die Grenzen des Rahmens Das Gesamtbild, das From here … evoziert, entsteht nicht nur dadurch, dass die Bild-Rahmen überschritten und Evidenzen artikuliert, verwickelt und verschoben werden. Ebenso entsteht es dadurch, dass die formalen Vereinheitlichungen, die Weems an den Fotografien schwarzer Amerikaner/innen vorgenommen hat, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn Rahmungen bilden, die den Rezeptionsprozess in einer bestimmten Weise mit steuern. Nach Jacques Derrida ist der Rahmen ein machtvoller Ort der

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From here I saw what happened … Grenzziehung und Differenzproduktion, der als unbenannte und unsichtbare Voraussetzung den gesamten abendländischen philosophischen Diskurs über Kunst und Bedeutung organisiert hat. Der Rahmen behauptet eine Trennung zwischen Eigentlichem und Umgebendem, Wertem und Unwertem, Innerem und Äußerem, Kunstwerk und Museumswand, die er zugleich fortwährend verunsichert.24 Weems inszeniert diese Ver/Un/Sicherung als Spiel einer vervielfachten mise en abîme – als einander überlagernde Rahmen, die wieder neue Rahmungen bilden, indem sie verschiedene Aspekte der ineinandergreifenden Felder herausschneiden oder einfassen, die sich durchkreuzen und wechselseitig verschieben. So wird durch die Passepartouts jedes Motiv singulär fokussiert, wobei diese Neu-Rahmung noch insoweit betont ist, als bei einigen Porträtaufnahmen der Rand des Schmuckrahmens sichtbar bleibt, aus dem sie abfotografiert wurden. Aber der runde Passepartout-Ausschnitt mag auch auf das nicht-kadrierte FotoObjektiv verweisen, durch welches das Objekt ‚ins Visier‘ genommen wurde. Die intensive Kolorierung lässt ebenso Blut assoziieren wie das Rotlicht der Dunkelkammer. Jenseits ihrer verbindenden narrativen Funktion bilden auch die Texte einen Rahmen: Sie sind im wörtlichen Sinn auf die Fotografien gelegt und trennen die einzelnen Bildräume gleichsam einer theatralen vierten Wand vom Raum der Betrachter/innen. Das wird – paradoxerweise – gerade dort besonders deutlich, wo vereinzelt der direkte Blick der Fotografierten diese Trennung durchbricht. Die besondere Wirkung, die beim Abschreiten der Reihe entsteht und der man sich schwer entziehen kann, generiert sich aus dem spezifischen Zusammenwirken dieser Rahmungen, den vielschichtigen Bild-Text-Beziehungen und der Nähe/Distanz, die sich aus dem Verhältnis von Bildformat und Ausstellungsraum ergibt. Sie wird noch einmal gebündelt und verstärkt durch das sich im Text wiederholende „YOU“, das gleichermaßen die Abgebildeten auf den Fotografien adressiert und die Betrachter/innen anspricht. Das „YOU“ ist, wie der fotografische Index, ein Shifter – ein deiktisches Zeichen, das erst im je aktuellen Bezugsrahmen 24 Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 1992, S. 65. Derridas Argumentation richtete sich gegen Kants Definition des Parergon als Zierrat, Beiwerk oder Zutat, also etwas, das einem Gegenstand oder dessen Vorstellung eben nicht innerlich sei und wozu Kant u.a. „Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude“ (zit. n. ebd., S. 73) gezählt hatte.

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Kerstin Brandes seine Bedeutung bekommt.25 Es wirkt in beide Richtungen und legt hier die Doppel-Bewegung der Identifikation offen – zwischen der Inkorporation eines externen Bildes und dessen Abspaltung, Introjektion und Projektion, Identisch-Sein und Different-Sein – und zwar, indem es sie verlangsamt. Das „YOU“ bewirkt in dem syntagmatischen Text-Fluss eine Art Pause und markiert den Text-Rahmen, die vierte Wand, als eine Übergangszone, durch die hindurch der betrachtende Blick in die imaginäre Tiefe des ZuSehen-Gegebenen gelenkt wird. Das geschieht von Bild zu Bild immer wieder neu, immer wieder anders, in einem Prozess kontinuierlichen Wiederholens. Die Rahm(ung)en, die Weems inszeniert, zitieren die Bilder als Bilder und setzen sie zugleich neu. Sie dekonstruieren (paradoxerweise), indem durch Verfremdungstechniken die identifikatorische Wirkung nicht etwa aufgehoben, sondern ausgedehnt, auseinandergezogen und damit auch intensiviert wird. Die doppelte Profilaufnahme der westafrikanischen ‚Stammesfrau‘ gibt der Reihe insgesamt einen Rahmen. Auf Bild- wie auf Text-Ebene wird ein ‚Anfang‘ und ein ‚Ende‘ der (Foto-)Geschichte behauptet, an deren Rändern ‚sie‘ ambivalent positioniert erscheint. Das „I“ – „I SAW“, „I CRIED“ – bezeichnet ihre Sprecherposition und stellt die Figur dem betrachtenden Blick als identifikatorische Vermittlungsinstanz und Projektionsfläche zur Verfügung. Zugleich ist ‚sie‘ woanders verortet – nämlich „FROM HERE“, in der Ferne Afrikas. Die Reaktion auf eine leid- und gewaltvolle USamerikanische Schwarze Geschichte ist visuell ausgelagert auf die Afrikanische Schwarze, auf ein Bild afrikanischer Weiblichkeit, zu sehen gegeben in der Zitierung des anthropologischen Profilbildes machtvoller/gewaltsamer weißer/kolonialer Einschreibung, welches als Dokument in seinem historischen ‚wissenschaftlichen‘ Kontext gleichsam eine Ahistorizität der Abgebildeten implizierte. Im melancholischen Ewigkeitsblau erscheint die Zu-SehenGegebene nunmehr als generische schwarze Frau jenseits von 25 Krauss bezeichnete das Foto/den Index auch als Shifter: „Shifter (oder Verschieber) ist Jakobsons Begriff für die Kategorie sprachlicher Zeichen, die nur deswegen ‚mit Bedeutung gefüllt‘ werden können, weil sie ‚leer‘ sind. […] Die Personalpronomen ‚ich‘ und ‚du‘ sind […] Shifter. Wenn wir mit jemandem sprechen, und beide von uns ‚Ich‘ und ‚Du‘ verwenden, dann besetzen die Referenten dieser Wörter im Raum unserer Konversation wechselnde Plätze. Ich bin nur der Referent von ‚Ich‘, wenn ich gerade am Sprechen bin. Sprichst du gerade, bist du es.“ (Rosalind E. Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Dresden: Verlag der Kunst 2000, S. 250).

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From here I saw what happened … Raum und Zeit: eine ‚Mama Afrika‘, Zeugnis mythischer Ursprünglichkeit, vielleicht sogar Erinnerung an ein Paradies, dessen Verlust die Reihe anzeigt.26 Sie verkörpert die Trauer, auf die ihr Handlungsvermögen am Ende beschränkt bleibt, und fällt aus der anfänglichen Augenzeugenschaft gewissermaßen in ihr anthropologisches Herkunftsbild zurück. Im wiederholten Bild der ‚Stammesfrau‘ endet die Bewegung – der Betrachter/innen ebenso wie der Bedeutungsspiele –, indem sie sich momentweise in einer tradierten Formation festsetzt. Zugleich sind damit Wendepunkte markiert, die dem Betrachtungsprozess die Richtung weisen. ‚Sie‘ lenkt den betrachtenden, die Reihe abschreitenden Blick einmal hin und einmal her – vom Schauen zum Weinen und wieder zurück –, in beliebiger Wiederholung, die die Option für immer wieder neue, andere Bedeutungsfacetten eröffnet. Wenn Derrida schrieb, dass das, was den Rahmen hervorgebracht hat, alles daran setzt, „die Rahmenwirkung zum Verschwinden zu bringen“27, dann erfüllt das Bild der ‚Stammesfrau‘ eine solche doppelte Funktion. Es zeigt, wie auch Bilder Rahmen setzen/sein können und wie ein solcher Rahmen in eine Unsichtbarkeit – oder vielleicht besser: Nicht-Sehbarkeit – verschwinden kann.

Weems’ Kunst des Kommentars From here I saw … eröffnet eine ‚Bildmöglichkeit‘ anderer Subjekte, indem sie einsetzt, was ich Strategien des Ent/Fixierens nennen möchte. Denn es geht nicht darum, einen Bild-Status des Schwarzen Subjekts einfach aufzuheben, sondern ihn im Blick zu behalten. Der Begriff des Ent/Fixierens will beschreibbar machen, wie auf und zwischen verschiedenen Ebenen der Bedeutungsproduktion zwischen Bild und Blick fortwährend gleichzeitig Verknüpfungen und Ablösungen stattfinden, die eine spezifische Beweglichkeit dieses Bild-Status inszenieren. Bei From here I saw … 26 Freud definierte Trauer als die ganz normale und zeitlich begrenzte „Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ im Gegensatz zur pathologisch klassifizierten Melancholie, bei der sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt hat bzw. als Ichverlust zum Tragen kommt (Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: ders.: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M.: Fischer 2000a, S. 193–212, hier: 197). 27 J. Derrida: Wahrheit, S. 94.

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Kerstin Brandes geschieht dies, indem die appropriierten Fotografien, ihre formalkategorischen Einordnungen und tradierten Bedeutungen sowie die Weise ihres Zu-Sehen-Gebens und dessen Wirkung in Hinsicht auf drei ineinandergreifende Aspekte gleichermaßen mitund gegeneinander verschoben werden: die Artikulation fotografischer Evidenz zwischen Objekt und Zeit, die Ver/Un/sicherung des Rahmens und die Prozesshaftigkeit der Rezeption. Die Fotografien, die die Ausstellung Hidden Witness gezeigt hat, bewegen vor allem, weil sie unbekannt sind, d.h. nicht so sehr in einem kollektiven Bildgedächtnis verankert. Ihre Präsentation fixiert ein voyeuristisches Bild-Blick-Verhältnis. From here … hingegen legt das Hergestellte, Dynamische und Instabile von Bild-Blick-Verhältnissen offen, indem Subjektpositionen angeboten und zugleich verschoben werden – so etwa in der Gleichzeitigkeit fokussierender Passepartouts und fortlaufendem Text. Und so kommt es weniger auf die ganz konkreten Fotografien an, die From here … einsetzt, sondern auf eine Art und Weise des Adressierens, die den Betrachtungsprozess selbst reflektiert. Der Kommentar, den Carrie Mae Weems anbietet, insistiert auf ein aktives Lesen und treibt es zugleich an seine Grenzen. Das Zu-SehenGeben von Geschichte artikuliert sich als medialer Spielraum, in dem Ökonomien des Paradoxalen, Doppelten und Ambivalenten offensiv miteinander und gegeneinander changieren dürfen.

A BBILDUNGEN Abbildung 1: Weems: Recent Work 1992-1998. Plate 24. Abbildung 2: Weems: Recent Work 1992-1998. Plate 56. Abbildung 3: Hidden Witness. New York 1999, S. Abbildung 4: Weems: Recent Work 1992-1998. Plate 35. Abbildung 5: Weems: Recent Work 1992-1998. Plate 26. Abbildung 6: Police Pictures 1997, S. 52. Abbildung 7: Willis/Williams 2002, S. 133. Abbildung 8: Weems: Recent Work 1992-1998. Plate 48.

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New York 1998, New York 1998, 59. New York 1998, New York 1998,

New York 1998,

Repräsentationskritik als ein Zeigen auf das Zeigende Beobachtungen zur Darstellung von Kunstvermittlung STEPHAN FÜRSTENBERG UND JENNIFER JOHN

Sichtbarkeiten des Zeigenden Die Themen Bildung und Vermittlung haben Konjunktur – insbesondere im Feld der Gegenwartskunst. Dem lange Zeit abgewerteten Tätigkeitsbereich von Kunstvermittlung als kulturell-ästhetischer Bildungsarbeit1 wird auf Seiten der Kulturpolitik sowie der Kunst-, Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften sukzessive mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit eingeräumt. Vermittlung wird als neue Dimension der Kulturförderung bspw. im Rahmen des sich zurzeit in der Zulassung befindenden Kulturfördergesetzes der Schweiz diskutiert. Auf den Homepages von Kunstmuseen werden kunstvermittelnde Abteilungen und deren Programme zunehmend als selbstverständlicher Teil der Selbstpräsentation der

1

Sprechen wir in der Folge von Kunstvermittlung, bezeichnen wir damit ‚pädagogisch konnotierte‘ Bildungsarbeit (im musealen bzw. Gegenwartskunst-Kontext), wo die Aushandlung der Beziehung zwischen Kunst und Pädagogik (über Formen der Zusammenarbeit, der Kommunikation, der Organisation von Wissensproduktion und Gestaltungsprozessen sowie Ausformungen von pädagogischen Verhältnissen) im Rahmen der Vermittlungsarbeit eine signifikante Rolle spielt. In diesem Zusammenhang können auch Praktiken von Künstler_innen/Vermittler_innen spezifiziert werden, welche Bildungsansprüche bzw. pädagogische Prozesse explizit zum Gegenstand ihrer künstlerischen Arbeit machen, was bspw. mit partizipatorisch-edukativer oder Vermittlungskunst, aber auch mit künstlerischer Kunstvermittlung gelabelt wird.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John Kulturinstitutionen präsentiert.2 Viele vormals ‚museumspädagogische‘ Abteilungen werden umbenannt entlang von Begriffen wie ‚Bildung‘, ‚Vermittlung‘ oder ‚Kommunikation‘. Internationale kuratorische Großevents, wie die documenta 12 (2007), aktuelle Ausstellungsprojekte und Symposien an der Schnittstelle zwischen Kunst und Pädagogik greifen explizit Bildungsfragen auf.3 Das Bild einer omnipräsenten Auseinandersetzung mit Bildung und Vermittlung in unterschiedlichen Kontexten wird im Bereich des Kuratierens durch die Konstatierung von „educational turns affecting cultural practices around us“4 von der Kunsttheoretikerin Irit Rogoff mitgezeichnet. Im Kontext dieser Neupositionierung von Vermittlungsarbeit entwickelt die Frage nach den (Hinter-)Gründen und Effekten dieses vermehrten Gezeigtwerdens eine Brisanz. Denn mehr Sichtbarkeit geht nicht zwangsläufig mit mehr (politischer) Handlungsfähigkeit einher und muss – in Anschluss an Johanna Schaffer – als spezifisches Ereignis gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse verstanden werden, welche sowohl in Herrschaftsverhältnisse eingelassen sind als auch diese artikulieren.5 Die gesteigerte Sichtbarkeit von Vermittlungsarbeit kann deshalb zwar als Zeichen eines strukturellen Wandels des Kunstfeldes gelesen werden, muss aber hinsichtlich ihrer Bedingtheit und ihres transformativen Potenzials überprüft werden. Exemplarisch verdeutlicht dies ein Blick auf die Ausrichtung von Aufmerksamkeit in dem selbst postulierten Bildungsund Vermittlungsauftrag der Kunstmesse Frieze Art Fair und dem durch die Deutsche Bank finanzierten Frieze-Education-Programm.6 Das Projekt steht im Kontext der veränderten Formen 2

3

4 5 6

Laut einer Studie des Instituts für Museumsforschung 2008 geben 23,4 % aller deutschen Museen auf ihren Homepages Hinweise auf ihre Vermittlungsangebote. Vgl. Institut für Museumsforschung Heft 63 (2008), S. 48f. Wie bspw. die Ausstellung Utopie und Alltäglichkeit. Zwischen Kunst und Pädagogik (2009–10) am Centre d’Art Contemporain in Genf und dem Kunstmuseum Thun. Irit Rogoff: »Turning«, in: e-flux 11 (2008), o. S. (http://www.e-flux.com/ journal/view/18 vom 08.03.2010). Vgl. Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: Transcript 2008. Das Programm wird von ReachOutRCA des Royal College of Art/London gestaltet. Vgl. auch den Internetauftritt der Frieze Foundation http: //www.friezefoundation.org/education/ und ‚This Is Yours – Frieze Education Programm 2009‘ unter http://www.Howdowegettohereblog.com, wo jeweils die abgebildete Fotografie zu finden ist.

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Zeigen auf das Zeigende und Strategien der institutionellen Einbindung von Vermittlungsarbeit, die zu einer größeren Sichtbarkeit von Kunstvermittlung führt. Die sukzessive auch im deutschsprachigen Raum durchgesetzten kulturpolitischen Ansprüche gegenüber kulturellen Institutionen – nämlich ihre (soziale wie ökonomische) Effizienz und Nützlichkeit zu steigern – veranlasste viele Einrichtungen, ihre Strukturen und Programme entsprechend umzuarbeiten. Die Ausrichtung auf Besucher_innenzahlen und die Ansprache eines breiten, heterogenen Publikums als Maßstab für Erfolg und Qualität von kultureller Arbeit forcierte bspw. die Gründung von PRAbteilungen zur Selbstvermarktung der Museen – denen nicht selten auch die Vermittlungsabteilung und der museumspädagogische Dienst zugeordnet sind. Kulturpolitische Prämissen von Effizienz und Nützlichkeit tangieren dabei auch den Bereich der Sichtbarmachung der Institutionen, denn „[w]as nicht dem visibility-Mantra gehorcht, wird schnell als bedeutungslos und damit nicht förderungswürdig abgetan“.7 Kunstvermittlung wird in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Aspekt der Herstellung und Darstellung von Museen mit dem branding ‚engagierte, zeitgemäße Kulturinstitutionen‘. Aus dieser Perspektive wird das Frieze-Education-Programm ebenfalls zum produktiven Element der eigenen institutionellen Narrationen. Dass ein Sich-Investieren in Vermittlungsarbeit existiert bzw. gängige Praxis wird, ist nicht als selbstverständlich zu erachten, sondern kann als Effekt einer Neuformierung der Rationalitäten um Kunst, Bildung und Ökonomie gelesen werden, welche auch Institutionen jenseits eines etablierten Bildungssektors um Schule, Hochschule und Museum tangiert. So ist im Deutsche Bank ArtMag zu lesen: „Die Verbindung von Kunst, Bildung und sozialen Themen ist zentral für das Engagement der Deutschen Bank auf der Frieze. Dazu Pierre de Weck, Mitglied des Group Executive Committee und Global Head of Private Wealth Management Deutsche Bank: ‚Wir freuen uns, unser Engagement für die Gegenwartskunst durch das kontinuierliche Sponsoring der Frieze Art Fair zeigen zu können. Vor sieben Jahren erkannten die Organisatoren der Frieze die Notwendigkeit eine Messe ins Leben zu rufen, die den neuen, internationalen Geist in der Gegenwartskunst stärkt. Die Frieze hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt, jungen Künstlern aus der ganzen Welt zu einem internationalen Ruf zu verhelfen. Die Frieze bietet nicht nur einen der spannendsten

7

Therese Kaufmann: Jenseits des visibility-Mantras. Transnationale Kulturpolitiken, 2009, o. S., vgl. http://eipcp.net/policies/kaufmann1/de vom 08.03.2010.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John Marktplätze, sondern glaubt auch an Kunst und Bildung – ein Anliegen, für das wir uns auf der Messe mit dem Education Space sehr engagieren.‘“8

Wie das oben genannte Zitat sowie die im Internet veröffentlichte Fotografie unterstreichen, ist das Sich-Investieren in Bildungsarbeit und dessen (visuelle) Darstellung selbst ein wichtiger und strategischer Teil der Selbstentwürfe von Institutionen – auch über einen musealen Kontext hinaus – und dabei ein relevanter Aspekt bei der Erlangung von ökonomischem und symbolischem Kapital. Konjunktur und Relevanz gewinnt ‚Bildung‘ nicht zuletzt durch den Diskurs um eine sogenannte Wissensgesellschaft, welcher Wissensproduktion und lebenslanges Lernen – um einige Stichworte zu nennen – als gesamtgesellschaftliche Entwicklungsfaktoren entwirft. Dabei wird Engagement für Bildung eingefordert und dieser Einsatz zugleich mit Anerkennung und Profiten belegt.9 Vor dem Hintergrund, dass das autorisierte Sichtbarmachen von Bildungsarbeit – wie im Fall der Visualisierung des DB education space – Evidenz produzierende Effekte besitzt, ist die Frage nach den Praktiken und Formen dieses ‚Zu-sehenGebens‘10 nach den Rahmenbedingungen und Effekten der Indienstnahme von Vermittlungsarbeit notwendig und produktiv. Dafür, dass trotz der Dringlichkeit repräsentationskritischen Nachfragens Forschung zur Sichtbarmachung von Kunstvermittlung bis jetzt international eine Leerstelle bildet, sind die Bedingungen des Feldes von Kunstvermittlung verantwortlich. Im folgenden Text werden sie entlang von informell geführten Interviews mit Verantwortlichen aus der institutionell verankerten Vermittlungsarbeit skizziert. Die Interviews wurden im Rahmen der Re-

8

http://www.db-artmag.com/de/57/news/frieze-art-fair-in-london/ vom 29.10.2010. 9 So ist bspw. in der Zusammenfassung zur McKinsey-Studie Zukunftsvermögen Bildung (2008) zu lesen „Bildung ist unser wichtigstes Zukunftskapital“ und der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler postulierte 2005: „Ein Land der Ideen habe ich es genannt – andere nennen es Wissensgesellschaft: Nur mit ständig erneuertem Wissen, das wir schnell in Entwicklung und Produktion umsetzen, werden wir uns in der Welt der Globalisierung behaupten.“ Horst Köhler vgl. http://www. bundespraesident.de/-,2.622835/Rede-von-Bundespraesident-Hors.htm. 10 Vgl. Sigrid Schade/Silke Wenk: »Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz«, in: Hadumod Bußmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart: Kröner, 1995, S. 341–407.

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Zeigen auf das Zeigende cherche des derze eit laufenden IAE/ICS11-Forschungsproje ekts Vermittlungsarbeit im m Museum und Repräsentationskritik gefüh hrt.

Abbildung 1: Auf der d Homepage der Frieze Foundation, http p:// www.friezefounda ation.org/education/

Be edingte Unsichtbarkeiten „Man kann daraus fo olgern, daß jede historische Formation all das sieht und sichtbar macht, was sie gemäß ihrer Bedingungen der Sichtbarkeit zu sehen vermag … Es gibt niemals ein Geheimnis, obgleich nichts unmittelbar sichtbar oder direkt lesbar ist.“12

Die Ignoranz gege enüber Bildungs- und Vermittlungsarbe eit muss als signifikante Auslassung A in der Auseinandersetzung um die museale Produktiion von Wissen und Wahrheit sowie um die Schaffung von Öfffentlichkeit und der Institution Museum m gelesen werden. Die Arbe eit von Pädagogischen Diensten wird weder w als konstitutiver Teil der Institution Museum und dessen ob bjektivierenden Gesten des Zeigens einbezogen, noch gibt es bis jetzt Forschungsansätze, welche aus Perspektive der Kunstverrmittlung e analysieren. Diese Ignoranz schreibt da abei Promuseale Narrative zesse der Margin nalisierung pädagogisch konnotierter KunstverK mittlung auf wissenschaftlicher Ebene fort und zeigt dam mit auch auf die tradierte en Hierarchisierungsdynamiken innerh halb der symbolischen Ord dnung des Kunstfeldes. Spezifische Fo ormen der Abhängigkeit und Unterordn nung von Kunstvermittlung im musealen Kontext können in Ansch hluss an e Pen Dalton unter dem Stichwort the feminization of art education

11 Das Institute forr Art Education (IAE, http://iae.zhdk.ch/) und das Institute for Cultural Studies in the Arts (ICS, http://ics.zhdk.ch/) sind Forschungsinstitute der Zürcher Hochschule der Künste. 12 Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 85 5.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John gefasst werden.13 Als feminisiert wird dabei ein Arbeitsfeld verstanden, welches als ‚kontingent‘ – also ungewiss und abhängig – aufgrund flexibilisierter und deregulierter Arbeitsverhältnisse und -zeiten beschrieben werden muss. Dies trifft nicht nur hinsichtlich der Vielzahl freiberuflicher, auf Projekt- und Honorarbasis angestellter Mitarbeiter_innen im Bereich der Vermittlungsarbeit zu, sondern zeigt sich auch darin, dass viele Vermittlungsabteilungen nicht über eigenständige Budgets verfügen, welche ihnen ein autonomeres Agieren und mehr Planungssicherheit möglich machen würde. Oft sind Absprachen und Aushandlungen hinsichtlich der Mittel aus dem Topf der Ausstellungsabteilungen notwendig bzw. eine aufwendige Drittmittelakquise ist erforderlich, wie aus Gesprächen mit Leiter_innen von Vermittlungsabteilungen hervorgegangen ist. Dass ein Mindestmaß finanzieller Autonomie notwendig ist, um Möglichkeiten des Repräsentierens zu schaffen, konturieren die Ausführungen einer Abteilungsleiterin. Sie musste zur Anschaffung einer digitalen Fotokamera (um damit ihre Arbeit dokumentieren zu können) eine aufwendige Suche nach Sponsor_innen starten. Gerade im Bereich der Kunstvermittlung sind zudem feminisierte Fertigkeiten – wie ‚caring and sharing‘ oder Kommunizieren14 – gefragt, welche vornehmlich im Aufgabenbereich rund um Haus- bzw. Reproduktionsarbeit sowie dem Dienstleistungs-Sektor wiederzufinden sind. Diese gehen dabei – wie nicht nur feministisch orientierte soziale Bewegungen und Gesellschaftswissenschaften herausstellen und skandalisieren – mit Unterbezahlung, Dequalifizierung und einem niedrigen sozialen Status einher und werden überdurchschnittlich oft von Frauen ausgeführt.15 Dass Femininisierung ein aktiver, hierarchisierender Aushandlungsprozess ist, welcher den prekarisierten Status von Kunstvermittlung mittels materieller Verhältnisse und symbolischer Praktiken stetig neu hervorbringt, konturiert die folgende Aussage eindringlich:

13 Vgl. Pen Dalton: The Gendering of Art Education. Modernity, Identity and Critical Feminism, Buckingham: Open University Press 2001. 14 Dalton beschreibt Kunstvermittler_innen als ‚feminized service workers‘: „Good humour, listening skills, smiling and affection are part of the progressive teacher’s practice as a service worker.“ P. Dalton: The Gendering of Art Education, S. 123. 15 Für den musealen Kontext vgl. bspw. Gabriele Rath: Museen für BesucherInnen. Eine Studie, Wien: WUV-Universitätsverlag 1998.

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Zeigen auf das Zeigende „Da die Produktionsbedingungen für museumspädagogische Arbeit und für Vermittlung von Gegenwartskunst miserabel sind, ist sie an vielen Stellen weder qualitätsvoll noch innovativ. Voreingenommenheiten werden bestätigt und liefern Argumente, den Status quo zu erhalten. Den KünstlerInnen, die sich dennoch für diese Arbeit interessieren, wird von institutioneller Seite oft mit dem Hinweis auf mangelnde kunstwissenschaftliche Fachkenntnisse die Kompetenz abgesprochen.“16

Im Umkehrschluss ist es nicht verwunderlich, dass – wie aus den Gesprächen mit den Vermittler_innen hervorging – gerade in den Häusern der Kunst die Expertise als KunsthistorikerIn einen hilfreichen Rückhalt schafft, um bspw. eigene Ansprüche zu formulieren bzw. Neuerungen im Bereich der Vermittlungsarbeit durchzusetzen. Die Produktionsbedingungen für Repräsentationen sind jedoch auch in diesen Fällen miserabel. Ins Gewicht fallen dabei auch die fehlende Wertschätzung und das mangelnde Interesse seitens der Institutionen selbst an einer internen Aufarbeitung, öffentlichen Präsentation und Überlieferung dieses Materials, was ambivalenterweise parallel zu Prozessen der Integration von Kunstvermittlung passiert. So ist festzuhalten, dass entstandenes Dokumentationsmaterial, statt gezeigt zu werden, oft in die privaten Archive der verantwortlichen Abteilungen oder freiberuflichen VermittlerInnen gewandert ist. Diese Nicht-Präsenz bzw. Zerstreuung von Wissensbeständen erschwert(e) einen Wissensaustausch zwischen KunstvermittlerInnen und nahm/nimmt erheblichen Einfluss auf Möglichkeiten der Professionalisierung und Autonomisierung des Arbeitsfeldes. Auch die Möglichkeiten, kontinuierlichen Zugang für interessierte Dritte zu schaffen und Teil kollektiv-kultureller Erinnerungsarbeit zu werden, sind beschnitten. Aufgabenprofile, Arbeitsschwerpunkte oder schlicht Überlastung der AkteurInnen lassen die Arbeit an Repräsentationen systematisch in den Hintergrund treten. Als Gegenbeispiel kann das Bemühen Claudia Ehgartners genannt werden, welche sich während ihrer Arbeit in der Kunsthalle in Wien dafür einsetzte, dass die Konzepte, die im Laufe eines Jahres von ihrem Vermittlungsteam für einzelne Ausstellungen und Veranstaltungen erarbeitet wurden, in Buchform publiziert und somit publik wurden. Es ist ein Beispiel der Sichtbarmachung von Vermittlungsarbeit, dessen besonderer Fokus innerhalb der Institution für Aufmerksamkeit und Diskussionen sorgte. 16 Carmen Mörsch: »Enttäuschte Erwartungen, bestätigte Befürchtungen. Kunstcoop© in der ‚Ordnung der Diskurse‘«, in: NGBK Berlin (Hg.), Kunstcoop©, Berlin: Vice Versa 2002, S. 76.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John Sichtbarkeit erlangt Vermittlungsarbeit jedoch hauptsächlich – mit Blick auf die quantitative Verteilung des Print-Materials – durch Informationsfolder und Flyer, welche meist zusammen mit den Marketing-Abteilungen und Haus-Grafiker_innen entwickelt werden und im Duktus einer Programmübersicht gestaltet sind. Die Dokumentation dieser damit angekündigten Aktivitäten fällt jedoch meist dürftig aus, denn diese Art des Repräsentierens ist stark vom Engagement von Einzelpersonen abhängig und in den wenigsten Fällen eine etablierte und institutionalisierte Praxis. Weiter stellte sich in den Gesprächen heraus, dass für Drittmittel-Projekte meist wenig bis keine Kapazitäten bzgl. einer Dokumentation und Publikation eingeplant sind, ganz zu schweigen bei routinemäßigen Programmen der Vermittlungsabteilungen ohne Fremdförderung. Formate wie Führungen oder Drop-inVeranstaltungen, die sich gerade durch ihre Flüchtigkeit, Kürze und Unverbindlichkeit auszeichnen, bleiben nahezu undokumentiert. Signifikant auf der anderen Seite ist, dass innerhalb des existierenden Materials hochwertiges Publikationsmaterial hinsichtlich Umfang, Gestaltung und Auflage, wie Kataloge und Magazine, nahezu ausschließlich im Rahmen großer Kooperationsprogramme (bspw. aus EU-/Bundes-Mittel finanzierte Projekte) entstanden ist.

Formatierungen der Sichtbarmachungen Als Muster der Integration von Vermittlungsarbeit in institutionelle Repräsentationen zeichnet sich das Zeigen des Besonderen und die nach wie vor erzwungene Vernachlässigung des Restes ab. Die Marginalisierung und Abhängigkeiten von Kunstvermittlung – so kann festgehalten werden – schreiben sich nachhaltig in die Repräsentationspraxis von Kunstvermittlung ein. Zum einen ließen die oben skizzierten Rahmenbedingungen Kunstvermittlung in der Vergangenheit wenig Möglichkeiten, den Spagat zwischen dem Initiieren einer anspruchsvollen Vermittlungsarbeit und der gleichzeitigen Entwicklung einer hochwertigen Dokumentation bzw. Präsentation dieser Arbeit zu meistern. Dies hat zur Folge, dass – wenn Projekte überhaupt dokumentiert wurden – oftmals auf die Minimallösung einer fotografisch-dokumentarischen Abbildung (von Körpern) zurückgegriffen wurde

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Zeigen auf das Zeigende und weiterhin wird17. Des Weiteren haben sich im Kontext von Projektpartnerschaften (adressatengebundene) Formen des Zeigens von Kunstvermittlung herausgebildet. Carmen Mörsch weist auf diese hin, wenn sie von der ökonomisch existentiellen Notwendigkeit für Kunstvermittlung spricht, Dokumentationen herzustellen, deren Sprache von staatlichen und privaten Förderern verstanden wird.18 Nora Sternfeld problematisiert in diesem Zusammenhang, dass bei diesen Selbstdarstellungen seitens der Vermittler_innen oft das von Autoritäten – wie Geld- oder Arbeitgeber_innen – bevorzugte Vokabular verwendet wird, um so die eigene Arbeit zu qualifizieren und zu legitimieren.19 Kunstvermittlung orientiert sich dort in vielen Fällen an den richtungsleitenden Normen, Zielen und Idealen dieser Autoritäten und greift dabei auf deren Vokabular zur Beschreibung der eigenen Arbeit zurück. In Korrespondenzen mit (potenziellen) Geldgeber_innen zirkulieren häufig die aktuellen Begriffe und Figuren des Bildungsdiskurses – wie ‚bildungsferne‘ Gruppen, ‚Migrationshintergrund‘, ‚Kreativität‘ oder ‚lebenslanges Lernen‘ – oft unhinterfragt mitsamt ihren machtvollen Zuschreibungen und Evidenz produzierenden Effekten. Jedoch scheint es nicht überraschend, dass in einem solch herrschaftlichen Verhältnis wenig Impulse für innovativexperimentelle Ansätze der Repräsentation von Vermittlungsarbeit ausgehen (können), da bspw. durch formale Vorgaben bzgl. der Dokumentationsformen bereits der Gestaltungsspielraum verengt wird. Hinsichtlich des Zu-sehen-Gebens von Vermittlungsarbeit konturiert sich deutlich das Ineinandergreifen von Prozessen der Verunmöglichung von Repräsentation auf der einen Seite und der Formatierung von Sichtbarmachungen auf der anderen. Wolfgang Zacharias’ Ausführungen in Bezug auf Museumspädagogik können in diesem Zusammenhang als Einspruch gegen eine weitergeführte (Selbst-)Optimierung dieser Art von Mittlerinnen-Arbeit gelesen werden, welche im Rahmen des hegemonialen ‚Spiels‘ die marginalisierte Position von Kunstvermittlung selbst 17 Vgl. Carmen Mörsch: »Application: Proposal for a youth project dealing with forms of youth visibility in galleries«, in: Anna Harding (Hg.), Magic Moments. Collaborations between Artists and Young People, London: Black Dog 2005, S. 203f. 18 Vgl. C. Mörsch: Application, S. 198–205. 19 Vgl. Nora Sternfeld: »Der Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung«, in: Schnittpunkt (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia und Kant 2005, S. 15f.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John reproduziert. Er fordert eine Emanzipation der Kunstvermittlung in Form einer Umarbeitung ihrer ‚untergeordnet-schicksalhaften Dienstleistungstätigkeit‘ hin zu einer eigenständigen Positionierung, wenn er schreibt: „Museumspädagogische Vermittlung steht dazwischen, sie ist weder allein Agent des Museums noch der Außenwelt der Adressaten. Sie ist auch nicht allein Agent der sich scheinbar objektiv präsentierenden Museumsinhalte und -inszenierungen, ebenso wenig wie sie allein Agent des lernenden, sich unterhaltenden und sich ‚bildenden‘ Subjekts im Museum ist.“ 20

Ergänzt werden kann in diesem Zusammenhang die Beziehung zu externen Geldgeber_innen und deren Interessen, die ebenfalls eingebunden werden sollten bzw. sich als Akteur_innen von Vermittlungsarbeit dazu positionieren sollten. Die von vielen der Befragten geäußerten Wünsche nach mehr Sichtbarkeit (bspw. in institutionellen Publikationen oder Räumen) und mehr Mitteln für die eigene Repräsentationsarbeit können als ein möglicher Weg der Selbstpositionierung gelesen werden. Sie verdeutlichen zugleich, dass die Umverteilung von Sichtbarkeitsverhältnissen eben nicht mit Umverteilungen der Möglichkeiten zur eigenen Sichtbarmachung einhergeht oder Teilhabe, Selbstbestimmung und mehr Handlungsmöglichkeiten selbstverständlich impliziert. Auf die Frage an Vermittler_innen, was sich in Zukunft verändern sollte, wird auch der Wunsch artikuliert, Dokumentationsprozesse als Reflexionsmöglichkeit der eigenen Arbeit weiter ausbauen zu können, was das Potenzial zur Veränderung derselben birgt. Und ein Bewusstsein auszubilden hilft, dass Repräsentation als Teil von Vermittlungsarbeit nicht nur Zugang für Dritte schaffen kann, sondern auch ein produktives Artikulationsinstrument auf dem Weg zu einer eigenständigen Positionierung darstellt. Gerade das von vielen Vermittler_innen als Chance und Bereicherung erwähnte Medium Internet scheint Möglichkeiten zu bieten, die eigene Arbeit mit einem verstärktem Ausbau von Webarchiven sichtbar zu machen, wo unter Einsatz weniger Ressourcen eine Öffentlichkeit geschaffen werden kann. So könnte ein Gestaltungsraum geschaffen werden, an dem eine Darstellung der Vermittlungsarbeit aus eigener Perspektive, mit eigenem ‚Vokabular‘ 20 Wolfgang Zacharias: »Orte, Ereignisse, Effekte der Museumspädagogik. Horizonte des musealen Bildungsauftrags und Spekulationen zur Topographie kultureller Erfahrung«, in: Kirstin Fast (Hg.), Handbuch museumspädagogischer Ansätze, Leverkusen: Leske+Budrich 1995, S. 74.

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Zeigen auf das Zeigende und Adressierungsformen möglich wird – ein Freiraum, welchen Projektpublikationen scheinbar im Moment nicht bieten. Jedoch löst die Wahl dieses Medium noch nicht die Frage nach der Angemessenheit von Formen und Praktiken des Dokumentierens und Präsentierens. Die Fragen, wie Aktivitäten mit ihren unterschiedlichen Qualitäten, ihrer Prozesshaftigkeit und ihren performativen Elementen adäquat aufgezeichnet bzw. in dieses Medium übersetzt werden können und welchen Anteil die Projektbeteiligten dabei haben (können/sollen) – also wer sich als AutorIn einschreibt –, behalten ihre Relevanz und Brisanz.

Forschendes Zeigen von/auf Kunstvermittlung Die Bedingungen für Praktiken einer repräsentationskritischen Kunstvermittlung sind nicht allein mit einer Umverteilung von Sichtbarkeitsverhältnissen geschaffen – wie sie aktuell auf unterschiedlichen Ebenen vonstatten geht –, sondern es bedarf auch eines Zugeständnisses von symbolischem und ökonomischem Kapital, Partizipations- und Handlungsmöglichkeiten, von Mitbestimmungsrechten. Repräsentationskritik als ein Zeigen auf das Zeigende verweist auf die Bedingungen und die Effekte des Zusehen-Gebens. In diesem Zusammenhang verstehen wir im Besonderen Forschung als einen wichtigen Teil von repräsentationskritischer Kunstvermittlung und als einen möglichen Ort der Distanznahme zu gängigen Repräsentationspraktiken sowie -formen in ihrer (strukturellen, institutionellen, politischen) Bedingtheit. Forschung ist somit als eine Praxis von Kunstvermittlung zu verstehen, welche bestenfalls Alternativen aufzeigt, die sonst von hegemonialen Rahmenbedingungen behindert und ausgeschlossen werden. Sie muss dabei vom Recht und der Fähigkeit, Autoritäten in Frage zu stellen, Gebrauch machen (können)21, um bspw. Wege aufzuzeigen, wie das Repertoire des Vorgesehenen von Kunstvermittlung und die Mentalitäten des Zeigens transformiert werden können. Konfliktreich und verantwortungsvoll erscheint diese Aufgabe gerade vor dem Hintergrund der prekären Lage von Kunstvermittlung selbst. Das macht das forschende Zeigen von/auf Kunstvermittlung auch zur politischen Praxis, wo die Forschenden in die Aushandlung und Gestaltung der Verhältnis21 Vgl. Sabine Hark: »Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute«, in: Feministische Studien 1 (2009), S. 22f.

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Stephan Fürstenberg und Jennifer John se des Feldes mit involviert sind. Gerade in Zeiten knapper Kassen, Konkurrenzen und einer Ökonomisierung sowie Standardisierung von Bildung und Kultur müssen die Bedingungen für eine repräsentationskritische Kunstvermittlung mehr denn je durch inner- und außerinstitutionelle Allianzenbildung und zugleich durch eine sich und andere riskierende Widerständigkeit erstritten bzw. verteidigt werden.22 Aus unseren derzeitigen Positionen als Forschende möchten wir abschließend in diesem Aufsatz einen Fragenkatalog für eine repräsentationskritische Befragung von Kunstvermittlung skizzieren: Welche Repräsentationsmuster gibt es und welche Abweichungen lassen sich dazu finden? Welche Erzählungen sind in die Darstellungen von Vermittlungsarbeit eingeschrieben? Welche Wissenskategorien bedienen diese Erzählungen? Welche Repräsentationen zirkulieren in welchen Kontexten? Wann gewinnen welches Vokabular und welche visuellen Grammatiken Legitimität und produzieren Wahrheitseffekte? Welche Darstellungen von Vermittlungsarbeit gelten in diesen Kontexten als unbrauchbar, illegitim? Auf welcher Basis etabliert sich die institutionelle Anerkennung von Vermittlungsarbeit? Welche Rolle und welchen Einfluss haben dabei bspw. kultur-, bildungs- oder finanzpolitische Aspekte? Welche Freiräume und Handlungsmöglichkeiten schafft diese Anerkennung für die Kunstvermittlung? In welchem Verhältnis stehen diese zu neuen Aufgaben und Erwartungen gegenüber Vermittlungsarbeit? An welchen Stellen geht mehr Sichtbarkeit von Vermittlungsarbeit mit mehr Möglichkeiten der Mitgestaltung und Selbstbestimmung einher?

22 Eine Widerständigkeit, die auch Tendenzen einer derartigen Einbindung von Vermittlungsarbeit entgegentritt, sodass hegemoniale Verhältnisse letztlich bewahrt bleiben. Vgl. am Beispiel des Umbaus des Bildungswesens: Andreas Merkens: »Neoliberalismus, passive Revolution und Umbau des Bildungswesens«, in: Jutta Meyer-Siebert u. a. (Hg.), Die Unruhe des Denkens nutzen. Emanzipatorische Standpunkte im Neoliberalismus, Hamburg: Argument Verlag 2002, S. 171–182.

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XXY oder: Die Kunst, Theorien zu durchque(e)ren BARBARA PAUL

I. Die drei Buchstaben XXY auf dem Plakat zum gleichnamigen Spielfilm von Lucía Puenzo (Argentinien 2007, 87 Min.; Abb. 1) besitzen einen typografisch und vor allem politisch wichtigen Anteil an Offenheit.1 Sie können unmittelbar als XXY gelesen werden, zugleich erscheint das Y jedoch in ein nicht vollendetes X überzugehen oder aber eine Zwischenposition zwischen X und Y einzunehmen. Die Eindeutigkeit der beiden ersten Buchstaben gerät ebenfalls ins Wanken, da im X ein verstecktes Y erkennbar ist. Diese Lesart wird durch die oben und unten abgerundeten Diagonalen noch visuell verstärkt, die in der Überkreuzung das X formen. Mit dem Filmtitel wird augenscheinlich auf eine Chromosomenkonstellation angespielt, ohne eine gemeinhin übliche, normativ dichotomische Einordnung zu wählen, der zufolge mit XX ein weibliches Geschlecht und mit XY ein männliches Geschlecht bezeichnet wird. Vielmehr operiert das „mehrdeutig zwischen den Geschlechtern schwankende[] Buchstaben-Trio“2 in

1

2

Vgl. http://www.xxy-film.de/ (14.06.2009). Der Film XXY kam 2008 hierzulande in die Kinos, nachdem er zuvor auf den Filmfestspielen von Cannes sowie 2008 zur Eröffnung auf dem Frauenfilmfestival Köln und zum Abschluss auf dem Melbourne Queer Film Festival gezeigt worden war. – Beim vorliegenden Text handelt es sich um die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung vom 24. Juni 2009 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät III Sprach- und Kulturwissenschaften, Kulturwissenschaftliches Institut. http://www.xxy-film.de/06_background.html (14.06.2009). Nicht gemeint ist das Klinefelter- bzw. so genannte XXY-Syndrom, das Männer

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Barbara Paul seiner Überlagerung, Verwebung und Verunklärung von X und Y mit einer metaphorischen Charakterisierung für Intersex.3

Abbildung 1: Plakat des Spielfilms XXY, Argentinien 2007, Regie: Lucía Puenzo, 87 Min.

Der Film, der von der_dem 15-jährigen intersexuellen Alex handelt, fächert das komplexe Thema Intersex anhand verschiedener Erzählstränge auf. Gemäß der vermeintlich wahren, biomedizinischen Regulierung wird zunächst das sogenannte Adrenogenitale Syndrom (AGS) narrativiert. Diese Stoffwechselkrankheit führt bei Mädchen zu Körpermodifikationen, die als Vermännlichung eingestuft werden. In der Regel wird mit einem medikamentösen Hormonausgleich reagiert, während eine Operation nicht erforderlich ist. In einem weiteren Schritt wählt die Regisseurin Lucía Puenzo auf der narrativen wie visuellen Ebene immer wieder nicht ganz unproblematische Verknüpfungen zwischen der Biologie von Tieren, die im Film oft allzu verkürzend als naturalisiert erscheint, und der kulturell bedingten Geschlechterordnung der Menschen. Diese hergestellten Verbindungen fungieren jedoch als Mittel, um Objektivierungsprozesse kritisch in Frage zu stellen. So wird die_der Protagonist_in Alex etwa zuhause mit einem Aquarium voller sogenannter Clownfische, temporärer Hermaphroditen, gezeigt. Der Vater von Alex kümmert sich als Meeresbiologe um verwundete Tiere, vornehmlich Meeresschild-

3

mit einem zusätzlichen X-Chromosom beschreibt und dies als Funktionsstörung klassifiziert. Ich verwende hier den Begriff Intersex und nicht Intersexualität, da es mir nicht primär um die sexuelle Orientierung geht, die sich bei Intersex_Personen ebenso vielfältig wie bei anderen Menschen gestaltet.

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XXY oder kröten, die zweigeschlechtlich klassifiziert werden. Die Mutter von Alex lädt einen befreundeten Chirurgen ein, um Möglichkeiten einer sogenannten geschlechtsvereindeutigenden Operation zu besprechen, denn Alex ist nach ihrer_seiner Geburt nicht operiert worden. Der Vater von Alex lehnt eine solche Operation jedoch strikt ab. Zu seiner argumentativen Unterstützung wird im Film als Subnarration ein Gespräch des Vaters mit einem Mann eingebaut, der intersexuell geboren, dann operiert wurde und nun von seinen negativen Erfahrungen mit Hormoneinnahmen, Erziehungsmaßnahmen und Operationen berichtet. Der Film XXY endet mit einem offenen Schluss, denn Alex soll fortan ihre_seine Entscheidungen über den eigenen Körper selbst fällen. Dieses explizit formulierte Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit verweist auf die politische Dringlichkeit, menschenrechtsverletzende Praxen zu revisionieren. Die Diskussionen über Geschlechtergrenzen „zwischen biologischer Determination und kultureller Konstruktion“4, wie sie von der Queer Theory und queeren Aktivist_innen betrieben werden, sind weiter zu fokussieren auf Fragen wie jenen nach der nicht länger notwendigen Vereindeutigung von Geschlecht und der oft behaupteten Unveränderbarkeit von Geschlecht, ferner auf Fragen bezüglich der Definitionshoheit von Biologie und Medizin anhand von Körperlichkeiten und speziell von Genitalien. Aufgrund der offensichtlichen Bedeutung auch von Visualität müssen sich meines Erachtens Kunst- und Kulturwissenschaften unbedingt verstärkt einmischen, damit Intersex_Personen nicht weiterhin namentlich seitens der Medizin als psychosoziale Notfälle pathologisiert und entsprechend sozio-kulturell konstruierter Geschlechternormen ‚passgerecht‘ behandelt werden. Eine schwierige Gratwanderung ist dabei gemeinsam zu bewerkstelligen, da in unserer gegenwärtigen Alltagspraxis in der Tat nicht alle Geschlechter praktikabel lebbar sind. Herkömmlich kategorisierte Geschlechtszuordnungen werden zum Beispiel bei Intersex-Kindern verständlicherweise gewählt, weil, wie Judith Butler jüngst argumentiert, „[...] Kinder sie durchaus brauchen können, um sozial zu funktionieren, [...]“ und sie „[...] nicht die Last auf sich nehmen müssen, Helden einer Bewegung [das sind Queer Theory und Queer-

4

Sigrid Schmitz: »Geschlechtergrenzen. Geschlechtsentwicklung, Intersex und Transsex im Spannungsfeld zwischen biologischer Determination und kultureller Konstruktion«, in: Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden: VS-Verlag 2006, S. 33–56.

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Barbara Paul Aktivismus, B. P.] zu sein, ohne zu einer solchen Rolle ihre Zustimmung als Mündige geben zu können.“5 Die hier eingeforderte politische Notwendigkeit der Einmischung seitens der (Kunst-)Wissenschaft wird zudem durch Beispiele untermauert, in denen die mediale Berichterstattung aktiv in den Prozess der Geschlechtsvereindeutigung und deren oft hartnäckige Verteidigung verstrickt ist. Ich denke hierbei insbesondere an die Welt des Sports, der weithin ungebrochen als eine Hochburg von Fixiertheit, Exaktheit und insofern (Schein-) Wahrheit angesehen wird, und jüngst an die Mittelstreckenläuferin Caster Semenya, deren weibliches Geschlecht im Kontext ihres 800-Meter-WM-Erfolgs 2009 in Frage gestellt wurde.6 Die transdisziplinär ausgerichteten Queer Studies positionieren sich deshalb kritisch gegenüber gegenwärtigen und auch historischen normalisierenden Verknüpfungen von biologischem Geschlecht (sex), soziokulturellem Geschlecht (gender) und sexuellem Begehren (desire). Die gemeinsamen Anstrengungen zielen auf eine Anti-Normalisierungspolitik, die sich gegen eine Übermacht etwa der chromosomensatzlastigen, aber auch kulturellen und juristischen Bedeutungszuweisungen von Geschlecht wendet. In diesem Zusammenhang spielen Kunst und visuelle Kultur sowie die textuelle, auditive und performative Kultur insgesamt aufgrund ihres Transformationspotenzials als politische Praxis eine wichtige Rolle. Um weitere queere Profilierungen in Anknüpfung an die vorliegenden Ergebnisse der (kunstwissenschaftlichen) Queer Studies zu gewinnen, sind meines Erachtens Argumentationen in Kunst- und Theorieproduktionen zu durchqueren und, so meine These, im Gebrauch entsprechend queerer Ermöglichungen und Positionalitäten zu modellieren. Insofern kann diese je spezifische Machtkonstellationen diskursivierende Art und Weise des Durchquerens als ein Durchqueeren bezeichnet werden und von daher als Kunst bzw. im allgemeinen Wortsinn auch als Kunstfertigkeit.7 Zu diesem Projekt, das auf einen „Mehr(wert) queer“ abzielt 5

6 7

Judith Butler: »Einleitung: Gemeinsam handeln«, in: dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 9–33, hier S. 19. Vgl. u. a. http://de.wikipedia.org/wiki/Caster_Semenya (10.10.2010). Renate Lorenz operiert mit dem Konzept der „Durchquerung sozialer Plätze“ (nicht jedoch der Durchqueerung), nennt dieses Vorgehen auch (sexuelle) Arbeit und analysiert „sowohl entmächtigende als auch ermächtigende Effekte“ (Aufwändige Durchquerungen. Subjektivität als sexuelle Arbeit, Bielefeld: transcript 2009, S. 25, ferner S. 12, 187 u. a.).

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XXY oder und somit einerseits „mehr queer postuliert“, andererseits die „grundlegende Matrix auch von Kultur und damit die Verwobenheit wirtschaftlicher und symbolischer Verhältnisse“ betont,8 möchte ich hier ein paar Bausteine hinzufügen. Unter der Prämisse, nicht-normative Geschlechter und Sexualitäten anhand visueller Repräsentationen zu favorisieren, werden vornehmlich „[...] die Zwänge der Vereindeutigung und Unveränderbarkeit problematisiert und die Überkreuzungen und gegenseitigen Modellierungen verschiedenster Herrschaftsachsen untersucht.“9 Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich Kunst und Theorie, Wissenschaft und Praxis nicht nur als prinzipiell gleichberechtigte und -wertige Aussageformationen, sondern auch als argumentativ ineinander verwobene ansehe und von daher beide Herangehensweisen zusammengenommen und miteinander verzahnt durchque(e)rend diskutieren werde. Lediglich aus Gründen der Strukturierung untergliedere ich meine Ausführungen in zwei Abschnitte; auf einige theoretische Überlegungen folgt die Kommentierung ausgewählter Beispiele der Kunst und visuellen Kultur. Mein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie Durchque(e)rungen im Einzelnen zu realisieren sind und welche Strategien dabei innerhalb der symbolischen Ordnung, aber auch als Sozial- und Kulturtechnik verfolgt werden. Es geht immer wieder um das Neu-Zusammenfügen von Zeichen, denn, wie Jacques Derrida schreibt, „[i]m Augenblick, wo ein Zeichen entsteht, beginnt es damit, sich zu wiederholen. Sonst wäre es nicht, was es ist, das heißt dieser Mangel an Selbstidentität, der regelmäßig auf dasselbe verweist. Das heißt auf ein anderes Zeichen [...].“10 In den Prozessen des Ausdifferenzierens der intertextuellen Verfahren und aufgrund veränderbarer und veränderter Korrespondenzen lassen sich Bedeutungen im Sinne von Im Unterschied verschieben, wie Marianne Schuller eines ihrer Bücher betitelt.11 Das zugehörige Einleitungskapitel ist konsequenterweise mit dem Motto „Weiter im Text“ überschrie8

Barbara Paul und Johanna Schaffer: »Einleitung: Queer als visuelle politische Praxis/Introduction: Queer as a Visual Political Practice«, in: dies. (Hg.), Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und GenderPolitiken/Queer Added (Value). Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld: transcript 2009, S. 7–19 und S. 20–33, hier S. 8. 9 Ebd., S. 8. 10 Jacques Derrida: »Ellipse« (1967), in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, 4. Aufl. 1989, S. 443–450, hier S. 446. 11 Marianne Schuller: Im Unterschied. Lesen/Korrespondieren/Adressieren, Frankfurt/Main: neue kritik 1990.

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Barbara Paul ben,12 den es entsprechend queerer Politiken zu füllen gilt. In Hinblick auf visuelle Zeichen und Codes ließe sich auch von InterVisualität sprechen und/oder sogar von einer Art des visuellen Passings, stünde letzterem Vorschlag nicht zu sehr die Macht der Zweigeschlechterordnung als zwar verständliche, aber eben auch widrige Folie entgegen.

II. Es ist ein besonderes Verdienst feministischer Wissenschaft (neben vielen anderen), im Kontext der Wirkungsmacht von Wissensordnungen Verfahren wie die kritische Selbstreflexivität und somit die kontinuierliche, transformierende Prozessualität als grundlegende, inzwischen oft selbstverständliche Praxis mit etabliert zu haben. Mit historisch-analytischem Blick spricht deshalb Sabine Hark in ihrer Diskursgeschichte des Feminismus auch von einer „dissidenten Partizipation“.13 Als Motor und Motivation wissenschaftlichen Arbeitens ist solch eine „dissidente Wissenspraxis“ lebendig zu halten, zumal gender nicht mehr länger allein als Struktur-, sondern vermehrt auch als Wissenskategorie operationalisiert wird.14 Kontinuierliche Transformationsprozesse sind nicht nur in der Theorie zu praktizieren, sondern auch ein elementarer Faktor in der Kunstpraxis und den dort anzutreffenden paradigmatischen Formatwechseln. Mit dem operativen Terminus Formatwechsel wird, wie ich in meinem Buch FormatWechsel. Kunst, populäre Medien und Gender-Politiken 2008 dargelegt habe, sowohl die systematisierende Perspektive als auch der produktive Prozesscharakter markiert.15 Dieses programmatische InBewegung-Halten ist ein konstitutiver Bestandteil queerfeministischer und queerer Diskurse. Seit Anfang der 1990er Jahre war es bekanntlich vor allem Judith Butler mit ihrem Konzept der Performativität von Geschlechtsidentitäten, mit dem sie dominante heteronormative Effekte des Geschlechterdiskurses kritisiert und die Instabilität jeder und somit auch heterosexuellen Identitätskonstruktion her12 Ebd., S. 7. 13 Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 67 und öfter. 14 Ebd., S. 390 und S. 16. 15 Barbara Paul: FormatWechsel. Kunst, populäre Medien und GenderPolitiken/FormatChange. Art, Popular Media and Gender Politics, Wien: Sonderzahl 2008.

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XXY oder vorhebt: „Wenn die Heterosexualität gezwungen wird, sich zu wiederholen, um die Illusion ihrer Kohärenz und Identität herbeizuführen, so ist diese Identität ständig gefährdet – denn was passiert, wenn diese Wiederholung nicht funktioniert.“ Und: „Die Tatsache, daß es überhaupt eine Notwendigkeit zur Wiederholung gibt, ist schon ein Indiz dafür, daß Identität nicht mit sich selbst identisch ist.“16 Der kontinuierliche, nicht eindeutige Wiederholungsprozess eröffnet Möglichkeiten, das Konzept von Heteronormativität ins Wanken zu bringen und queere Argumentationen weiter zu stärken. Unter dem Begriff „queer belongings“, den vor allem Elspeth Probyn in den 1990er Jahren geprägt hat, werden Fragen und vor allem die Bandbreite zwischen Zugehörigkeiten und NichtZugehörigkeiten diskutiert. Probyn benutzt „[...] den Ausdruck belonging (Zugehörigkeit) lieber als identity (Identität), weil es [ihr] dadurch möglich ist, nicht in Standorten denken zu müssen, sondern [sich] an all den kleinen Linien der Sehnsucht zu orientieren.“17 Die Konzeption des belonging wird über geschlechtliche und/oder sexuelle Perspektivierungen hinausgehend angewandt, sodass Begehren nicht länger nur als „Metapher“, sondern in der Queer Theory auch als „Methode“ eingesetzt werden kann.18 Somit können Prozesse des Begehrens für ein Durchqueren, Transformieren und Durchqueeren produktiv gemacht werden, wobei der Körper lediglich als „Durchgangsort“ fungiert. Das angestrebte und zumindest punktuell praktizierte Begehren als Bewegung wird „außerhalb jeden normativen Urteils“ realisiert.19 Eine Verortung von Normativität hat insbesondere Jürgen Link seit den 1990er Jahren in Verbindung mit Kollektivsymboli16 Judith Butler: »Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität« (1991), in: Andreas Kraß (Hg.), Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 144–168, hier S. 161. 17 Elspeth Probyn: »Queer Belongings. Eine Politik des Aufbruchs« in: Marie-Luise Angerer (Hg.), The Body of Gender. Körper/Geschlechter/ Identitäten, Wien: Passagen 1995, S. 53–68, hier S. 53. 18 Ebd., S. 55 und 58. 19 Ebd. S. 60 und 66. Ihre Überlegungen profiliert Elspeth Probyn weiter in ihrem Buch: Outside Belongings, New York, London: Routledge 1996. Antke Engel, die mit „Bildlektüren“ „queere kulturelle Politiken“ entwerfen möchte, schlägt in Anknüpfung an Probyn das Konzept der „projektiven Integration“ vor und meint, dass es entsprechenden Bildern gelingt, „[...] ein mögliches Selbst zu kreieren, um sich ins Verhältnis zur Differenz zu setzen und Allianzen zu bilden [...]“ (Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus, Bielefeld: transcript 2009, S. 65 und S. 61, Hervorh. B. P.).

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Barbara Paul ken vorgenommen. Er plädiert für eine Unterscheidung zwischen Normativitäten und Normalitäten, denn Normativität ist dem Handeln stets „präexistent“, Normalität dem Handeln jedoch „postexistent“.20 Dabei arbeitet Link heraus, dass in der Regel diejenigen Normen dem Handeln „präexistent“ sind, die mit Sanktionen gekoppelt sind. Auf diese Weise wird die besagte Norm aufrechterhalten und zudem noch in ihrer Wirkung intensiviert. Normalität wird hingegen in einem konkreten Kontext etabliert und kann deshalb günstigstenfalls auch verändert werden. Gegen eine vordergründige Klassifizierung von ‚normal‘ und seinem dichotomischen Pendant ‚nicht-normal‘ hat sich innerhalb der Queer Theory seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vor allem Eve Kosofky Sedgwick gewandt. In ihren Untersuchungen zur Epistemologie des Verstecks analysiert sie detailliert die Geschichte von Homophobien und die vielfältigen, mit homophoben Denkund Handlungsmustern verwobenen Prozessualitäten.21 Dabei richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die widersprüchlichen Implikationen performativer Aussageformationen, fügt diesen die Perspektive der oft fälschlich angenommenen nicht-performativen hinzu, um die ganze Palette normativer und auch normalisierender Effekte analysieren zu können. Mit dieser dekonstruktiven Arbeit trägt sie zur Erweiterung eines queer zu nennenden Feldes bei, wobei Prozesse von Rückaneignungen eine wichtige Rolle spielen. Erst diese und weitere Kontextualisierungen machten es möglich, dass 2005 David L. Eng, Judith Halberstam und José Esteban Muñoz fragen konnten: „What’s Queer about Queer Studies Now?“22 Diese Frage, die auf den ersten Blick eine Krisensituation zu charakterisieren scheint, markiert im Sinne von queer als einer, wie wir heute sagen können, Anti-Normalisierungspolitik einen gewollten konstitutiven Faktor. Der Begriff queer lässt sich

20 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (1997), 4., erg., überarb. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009 und ders.: »Normal/Normalität/Normalismus«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 4, Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 538–562, hier S. 539. 21 Eve Kosofky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley: University of California 1990. 22 David L. Eng/Judith Halberstam/Jose Esteban Muñoz: »Introduction: What’s Queer about Queer Studies Now?«, in: Social Text, Special Issue: What’s Queer about Queer Studies Now?, hg. von dens., S. 84–85 fall/ winter (2005), S. 1–16.

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XXY oder nicht und soll sich auch nicht in seiner Bedeutung fixieren lassen. Dies stärkt ihn und seine inhaltliche Konzeption für weitere analytische, individuelle und kulturell-politische Zwecke, sodass queer bzw. queerness als „politische Metapher“ fungieren kann (und nicht als „Marketing-Instrument“).23

Abbildung 2: Hannah Höch, Ohne Titel, aus der Serie Aus einem ethnographischen Museum, 1929, Fotomontage, 49 x 32,5 cm, Bonn, Kunstsammlung der Bundesrepublik Deutschland

III. In der Kunst und Medienkultur gibt es eine Reihe spannender Produktionen, die sich dem queeren Projekt des prozessual trans23 Vgl. dazu Susanne Lummerding: »Mehr-Genießen: Von nichts kommt etwas. Das Reale, das Politische und die Produktionsbedingungen – zur Produktivität einer Unmöglichkeit«, in: Paul/Schaffer (Hg.) 2009, S. 199– 210, hier S. 205–206.

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Barbara Paul formierenden Durchquerens/Durchqueerens von Konzeptionen, Theorien und schließlich auch Politiken im Sinne von Machtverhältnissen zurechnen lassen. Einige Beispiele seien im Folgenden vorgestellt, um die Un-/Möglichkeiten von „queer als visuelle[r] politische[r] Praxis“ zu diskutieren, wie Johanna Schaffer und ich in Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken formuliert haben.24 Um auch ein historisches Beispiel zu kommentieren, beginne ich mit Hannah Höch und ihrer 20-teiligen Serie Aus einem ethnographischen Museum (1924–30), in dem Bildfragmente aus vorgefundenen Fotografien neu kombiniert und Körper als Schauplatz von geschlechterbedingten und ethnisch begründeten Diskussionen operationalisiert werden.25 Dabei geht es der Künstlerin nicht nur um die Betonung des ‚Anderen‘, sei es anhand fremdartiger, Faszination auslösender Objekte, sei es anhand veränderter Vorstellungen von ‚Frau-Sein‘ bzw. ‚Mann-Sein‘. Vielmehr präsentiert sie Konstruktionen neuer Identitäten, die intentional eine hohe Ambivalenz beinhalten und keine wie auch immer modellierten neuen Normalitäten markieren. Diese Position vertritt sie beispielsweise in dem Blatt Ohne Titel (1929, Bonn, Kunstsammlung der Bundesrepublik Deutschland; Abb. 2) mit den konzeptionell sichtbar gemachten Mitteln der Montage und des Ausstellens. Vor einem gelben Hintergrund sehen wir eine aus heterogenen Einzelteilen zusammengefügte Figur auf einem trapezförmigen, schwarzen Sockel, der auch an einen Damenrock denken lässt. Die an ein Korsett erinnernde Teilbekleidung des Frauenkörpers ist ornamentalisierend gestaltet, der als Kopf wahrge24 Paul/Schaffer 2009, S. 7. – Mit Blick auf die visuelle Kultur sei ferner genannt: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Juni 2008, Heft 45: „Kunst, Sichtbarkeit, Queer Theory“, hg. von Sigrid Adorf/Kerstin Brandes, die nach den „politischen Möglichkeiten ästhetischer Arbeit“ fragen (S. 9). 25 In der Kunstwissenschaft haben sich bislang feministisch begründete Lesarten im Kontext Neue Frau und Weimarer Republik durchgesetzt. Demgegenüber schlägt kürzlich Viktoria Schmidt-Linsenhoff vor, dass Hannah Höch „[...] den Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg künstlerisch bearbeitet“ und die Blätter insofern „die Latenz des kolonialen Traumas“ artikulieren (Ästhetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. 15 Fallstudien, 2 Bde., Marburg: Jonas 2010, Bd. 1, S. 224 und kurzer Forschungsbericht S. 200). Diese zu Unrecht lange Zeit vernachlässigte Perspektive arbeitet sie überzeugend heraus, allerdings negiert sie zugleich den emanzipatorischen Anspruch. Gegen dieses Entweder-Oder wendet sich meine hier formulierte Lesart.

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XXY oder nommene obere Abschluss des Torsos entstammt einer Fotografie von einem außereuropäischen Kultobjekt (Neu-Guinea). Das Geschlecht der Figur ist (überwiegend) weiblich codiert, zugleich wird es absichtlich veruneindeutigt, da die Semantisierung stets zwischen Sockel und Rock oszilliert. Die versatzstückartig eingesetzte, als ‚fremd‘ wahrgenommene Kultur lässt sich nicht exakt identifizieren, die Alteritäten in puncto Geschlecht und Ethnizität zielen auf die Unmöglichkeit, Identitäten zu fixieren. Auch die weiteren Blätter der Serie mit ebenfalls mehrdeutig konnotierten Räumen sind an ein anti-normativ eingestelltes Publikum adressiert, sodass sich mit Julia Kristeva sagen lässt: „Fremde sind wir uns selbst“,26 insofern als zunächst bei sich selbst Verfremdungen zu realisieren sind, um anschließend neue flexible Konstruktionen vorzuschlagen. In den 1970er Jahren wurden zahlreiche Kunstwerke zum Thema Geschlechter, Sexualitäten und Begehren entwickelt. Aus dieser Zeit stammt auch die aus 25 kleinformatigen SchwarzweißFotografien bestehende Arbeit Untitled von Cindy Sherman (Abb. 3). Diese, dem selten gezeigten Frühwerk zugehörige transformation-Arbeit27 thematisiert simultan und sukzessiv Verwandlungsmöglichkeiten. Entsprechend zeittypischer Kodierungsgewohnheiten und der für uns üblichen Leserichtung nehmen wir teil an einer Geschlechtstransformation von einer männlichen hin zu einer weiblichen Person. Bei dieser Rezeptionspraxis müssen sich die Betrachtenden nicht festlegen, bei welchem Foto genau das Geschlecht zu wechseln scheint. Vielmehr changieren die Bedeutungszuweisungen je nach narrativer Schlussfolgerung. Auch die verwendeten Accessoires wie Schirmmütze, Zigarre oder Schminke besitzen selbst einen Interpretationsspielraum. Die künstlerisch eingesetzte Maskerade unterläuft hegemoniale geschlechtervereindeutigende Codes und markiert statt dessen eine konzeptionelle Diversität. „Brauchen wir“, so fragt Michel Foucault 1980 in seinem Buch Über Hermaphrodismus, „wirklich ein wahres Geschlecht? Mit einer Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben

26 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, (1988) Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, bes. S. 208ff. 27 Erstmals gezeigt 2004 in der Ausstellung „The Unseen Cindy Sherman: Early Transformations 1975/76“, Montclair Art Museum, organisiert von Gail Stavitsky, entwickelt gegen Ende ihrer Kunstausbildung an der State University of New York in Buffalo, also bevor die Künstlerin mit Fotografieserien wie Untitled Film Stills (1977–80) bekannt wurde.

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Barbara Paul die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht.“28 Hinzuzufügen ist: vergeblich, denn nicht zuletzt im Feld der Kunst wird diesem „Starrsinn“ widersprochen. Neben Cindy Sherman ließen sich weitere entsprechende Beispiele anführen, so etwa die BabetteFotografien von Man Ray aus den frühen 1920er Jahren, die Construct-Fotografien von Lyle Ashton Harris (1989)29 oder die Fotografieserie Ticket To The Other Side von Zwelethu Mthethwa (2003).30

Abbildung 3: Cindy Sherman, Untitled, 1975, Privatsammlung Dorothy Foster, bestehend aus 25 handkolorierten Schwarz-WeißFotographien, insgesamt 61 x 48 cm 28 Michel Foucault: »Das wahre Geschlecht« (1980), in: ders., Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin, hg. von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 7–18, hier S. 7, Hervorh. im Orig. 29 Zu diesen und weiteren Beispielen vgl. Ausst.-Kat. Rrose is a Rrose is a Rrose. Gender Performance in Photography, organisiert von Jennifer Blessing, Guggenheim Museum, New York 1997, S. 30, S. 147 u. a. 30 Vgl. Barbara Paul: »Nach dem Kanon ist vor dem Kanon? Aktuelle queerfeministische Debatten in Kunst und Wissenschaft«, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Dezember 2009, Heft 48: „Kanones?“, S. 14–25, hier S. 19–21.

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XXY oder Dass es keinen privilegierten Diskurs der Geschlechtszuweisung geben soll und kann, wird seit den 1990er Jahren im Feld der visuellen Kultur auch durch die neuen technisch-ästhetischen Verfahren der nahtlos darstellbaren Veränder- und Modellierbarkeit von Körpern und Physiognomien wesentlich begünstigt. Digitale Aufnahme- und Nachbearbeitungsverfahren ermöglichen die Visualisierung fluider Körper, sodass vor den Augen der Betrachtenden ein sich wandelndes Bild in Werbung, im Spielfilm und Musikvideoclip sichtbar wird.31 Computer Generated Images (CGI) und speziell das Morphing, das auf der Berechnung der Übergänge zwischen zwei differenten Bildern beruht, verwendete unter anderem auch Michael Jackson in dem vom Regisseur John Landis realisierten und äußerst populär gewordenen Musikvideoclip Black or White (1991).32 Diese Arbeit rekurriert auf den umstrittenen American Dream des Melting Pot und plädiert in Hinblick auf unterschiedliche ethnische Indizierungen sowie Nation und Nationalstaatlichkeit für ein integratives Konzept.33 Auf der auditiven Ebene wird vor allem im Refrain verkündet, dass die jeweilige Hautfarbe für das Zusammenleben unwichtig sei: „it don’t matter if you’re black or white“. Auf der visuellen Ebene wird diese proklamierte Irrelevanz der Hautfarbe durch eine mittels Morphing erzielte Überführung unterschiedlicher Ethnien augenfällig intensiviert, denn im Unterschied zur dichotomisch strukturierten, verbalen Argumentation, Black or White, werden auch Asian People, Hispanics, Frauen, Männer, Kinder und alte Menschen im fließenden Wechsel gezeigt (5:28 - 6:18 Min.).

31 Jutta Weber spricht in diesem Kontext auch von „‚Queerness‘“ in: »Performing Post/Trans/Techno/Queer: Pluralisierung als Selbst- und Machttechnologie«, in: Therese Frey Steffen/Regina Becker-Schmidt (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 111–121, hier S. 116, Hervorh. im Orig. 32 http://www.youtube.com/watch?v=bBAiZcNWecw (10.06.2009) und vgl. u. a. Henry Keazor/Thorsten Wübbena: Video thrills the Radio Star. Musikvideos. Geschichte, Themen, Analysen, Bielefeld: transcript 2006, S. 226–232. Die verschiedenen Versionen des Clips können hier nicht behandelt werden. 33 Die im Clip artikulierte Überheblichkeit des weltumspannenden hegemonialen Anspruchs ist zu kritisieren, der durch die Verknüpfung der USA mit der Welt, etwa über die eingeblendete Freiheitsstatue in New York oder die Erdkugel, herzustellen versucht wird.

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Barbara Paul

Abbildung 4: Ken, 1990

Im Feld der Populär- und Produktkultur sind ebenfalls Transformationen zu beobachten. Ein klassisch zu nennendes Beispiel ist etwa die Puppe Barbie, die durch den Wechsel von Kleidung, Accessoires und kulturell kodiertem Lifestyle fortwährend verändert werden kann. Diesem performativen Anliegen des Spielens trägt die Firma Mattel durch eine umfangreiche Produktpalette Rechnung. Auch der Freund von Barbie namens Ken besitzt eine gewisse Bandbreite an Verwandlungsmöglichkeiten. Als im Jahre 1990 sogar ein transvestischer Ken (Abb. 4) offenbar auf den Markt kam, war das Interesse der Medien vorprogrammiert.34 Auf der Verpackung von Ken wurde wie immer versprochen „He’s a handsome prince“, „So easy to dress“. Bald stellte sich jedoch he34 Vgl. u. a. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 10–11.

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XXY oder raus, dass ein Verkäufer eines großen Spielwarenhauses diesen Ken eigenhändig an- und umgezogen hatte, also die Kleidung gewechselt, ihn mit einem Rock versehen und dann die Verpackung wieder perfekt ‚wie Original verpackt‘ verschlossen hatte. Es handelte sich bei diesem Ken demnach um ein Unikat, war doch der transvestische Aspekt von Performativität für Mattel 1990 und auch noch heute kein Thema der Produktgestaltung. Dies verwundert nicht, da mit entsprechenden Maskeraden entweder hegemoniale Männlichkeitscodes und deren Universalitätsanspruch in Frage gestellt werden oder aber Defizite der dualistischen Geschlechterordnung aus strategischen Gründen sublimiert werden.35 Das in der Produkt- und speziell Puppenkultur eingesetzte Baukastenprinzip operiert vor allem mit Kleidungsstücken, um Zuordnungen zu profilieren. Diese Praxis wird von der Kunst nicht nur aufgegriffen, sondern auch kommentierend konterkariert. So bezieht sich die Künstler_innengruppe CASUAL, bestehend aus Christina Della Giustina und Sabina Baumann36, bereits in ihrem Namen CASUAL auf einen im Feld der Mode üblichen Begriff des Informellen, Gelegentlichen und Zwanglosen. Zudem nennen sie ihre Kunstprojekte ebenfalls Casual und nummerieren diese fortlaufend wie ein Periodikum. Ihre Werke zielen darauf ab, sich auch im eigenen Geschlecht casual, jenseits einer beengenden Ordnung ungezwungen zu fühlen. In ihrer Arbeit Casual Vol. 3 (2002) beispielsweise modifizieren und parodieren sie kulturell vorgebildete Piktogramme. Die auf einem Bogen als abziehbare Aufkleber zusammengefassten Piktogramme operieren mit umgearbeiteten figurativen Formen, Genitalien, Frisuren, Kürzestlogos usw., sodass ein vielfältiges, konzeptionell unendlich fortzuführendes Set an Bilderzeichen entsteht.37 In einer weiteren, diesmal installativen Arbeit Casual Vol. 2 (2002; Abb. 5) versah die Künstler_innengruppe CASUAL die Decke eines Ausstellungsraums mit einer „Wortewolke“. Aus verschiedenen Sprachen und Sprachkulturen, Englisch und Italienisch, Slang und der sogenannten Hochsprache, wird eine Wortsammlung zum Themenfeld Geschlecht, Geschlechtszugehörigkeit, sexuelle Orientierungen und Sexualitäten zusammengetragen und an die

35 Vgl. dazu grundlegend ebd. 36 Vgl. Christina Della Giustina und Sabina Baumann: »Casual. Das Konzept«, in: Olympe. Feministische Arbeitshefte für Politik, Heft 19/Dez. 2003: „Dispersion. Kunstpraktiken und ihre Vernetzungen“, S. 30–33. 37 Abb. ebd., S. 33.

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Barbara Paul Decke gemalt. Auf Kissen liegend konnte diese in verschiedenen Blautönen gestaltete „Wortewolke“ als neues Universum am bzw. wie im (siebten) Himmel betrachtet werden. In der alphabetischen Liste aller Begriffe findet sich an vorvorletzter Stelle auch das Buchstaben-Trio XXY.

Abbildung 5: Künstler_innengruppe CASUAL (Christina Della Giustina und Sabina Bauman), Casual Vol. 2, 2002, Installation, Ausstellungsansicht Cittadellarte der Fondazione Pistoletto, Biella/Italien (2002) und Auszug aus alphabetischer Liste aller Begriffe

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XXY oder

IV. Die Berliner NGBK-Ausstellung 1-0-1 [one ’o one] intersex mit dem programmatischen Untertitel Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung thematisierte 2005 „den gesellschaftlichen Umgang mit Intersexualität“38 und problematisierte aus dieser Perspektive normative Körperkonzepte mittels widerständiger Visualitäten und politischer Aktionen. Das Kollektiv SubRosa operiert in ihrer dort präsentierten, als „performative Installation“ bezeichneten Arbeit Yes Species (2005, zusammen mit James BeiMun Tsang) mit der Vorstellung des „unbrauchbaren Geschlechts (useless gender)“.39 Sie widersprechen dem heteronormativ begründeten „Bio-Geschlecht“ und befürworten stattdessen das „nutzlose Geschlecht“ und den „widerständigen Körper“,40 denn es gilt: „so vielfältig so schön“.41 Diese Aussage kann in Verbindung mit der Unbrauchbarkeit des heteronormativ diskursiv wirksamen Geschlechts als Motto des politischen Projekts des queering angesehen werden.42 Hinzu kommt eine grundsätzliche Identitätskritik, welche die hegemonialen sex-gender-Strukturen und deren Definitions- und Profilierungsmacht nicht länger reproduziert, sondern neu mitzugestalten beabsichtigt. Hierbei geht es wesentlich um politische Teilhabe und die damit verbundenen strukturellen Voraussetzungen, die selbst zur Disposition stehen müssen.43 Kunst und visuelle Kultur können beim Prozess des Durchquerens/Durchqueerens als politische (Teil-)Praxen fungieren, da sie auf je spezifische Art und Weise, wie die behandelten Beispiele mit Rekurs auf symbolische Ordnungen und sozio-kulturelle

38 Ausst.-Kat. 1-0-1 [one ’o one] intersex. Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung, konzipiert von der AG 1-0-1 intersex, bestehend aus Ulrike Klöppel u. a., hg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2005 und Statt einer Einleitung, S. 8–11, hier S. 9, Hervorhebung im Orig. 39 SubRosa: »Unbrauchbares Geschlecht: Ein bescheidener Vorschlag für radikale Gerechtigkeit«, in: ebd., S. 74 und S. 72. 40 James Bei-Mun Tsang: »Vokalisierung in einer ethischen Matrix«, in: ebd., S. 75–81, hier S. 78. 41 Text auf Banner in der Arbeit Yes Species, Abb. in: Dokumentation zur Ausstellung 1-0-1 [one ’o one] intersex, Berlin 2005, S. 23. 42 Vgl. grundlegend quaestio [Nico Beger/Sabine Hark/Antke Engel/Corinna Gentschel/Eva Schäfer] (Hg.): Queering Demokratie [sexuelle politiken], Berlin: Querverlag 2000. 43 Vgl. auch Paul/Schaffer 2009, S. 9.

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Barbara Paul Techniken verdeutlichen, sexuelle und vergeschlechtlichte Diskurse und deren Normalitäts- und Normativitätsregime kritisieren, verschieben, umarbeiten und in Bewegung halten. Die gewählten visuellen Argumentationen zielen strategisch auf die Umarbeitung politischer Konzeptionen und Ordnungen, nicht ohne zugleich sowohl die eigene Verstricktheit als auch das eigene Engagement innerhalb des Spannungsverhältnisses von RegiertWerden und Sich-selbst-Regieren zu thematisieren. Praktiken des doing queer sind stets prozessual, auch kontingent und dialogisch zu gestalten und zudem kritisch zu reflektieren, zumal sich unerwünschte Aneignungsstrategien und Fremdverwertungen oft schneller als gedacht beobachten lassen.

A BBILDUNGEN Abbildung 1: http://campus.usal.es/~revistamedicinacine/Vol_4 /4.4/esp.htlm/fotogramas/xxy.jpg. Abbildung 2: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 8: Vom Expressionismus bis heute, hg. von Barbara Lange, München: Prestel 2006, S. 7. Abbildung 3: Ausst.-Kat. „The Unseen Cindy Sherman: Early Transformations 1975/76“, organisiert von Gail Stavitsky, Montclair Art Museum 2004, S. 25. Abbildung 4: Marjorie Garber, Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main: Fischer 1993, nach S. 320. Abbildung 5: Olympe. Feministische Arbeitshefte für Politik, Heft 19/Dez. 2003, S. 31/32.

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Autor_innen Angelika Bartl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen. Sie promovierte über den Begriff des Politischen in der Rezeption dokumentarischer Gegenwartskunst an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: moderne und zeitgenössische Kunst, politische Theorie, Medientheorien (insb. des Dokumentarischen), kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung und Postcolonial Studies. Publikationen u.a.: »Das reflexive Lachen der Anderen. Feministische Kunstkritik, dokumentarische Videokunst und die Frage des Politischen«, in: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 48 („Kanones?“), 2009, S. 60–72; »Aufteilen der Räume. Perspektiven auf und mit einem Dokumentarvideo in der Kunst«, in: Bildwelten des Wissens, Bd. 5, 1 („Systemische Räume“), 2007, S. 28–38. Kerstin Brandes lehrt Kunst- und Medienwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte der Fotografie, kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Postcolonial Studies, Queer Visual Studies, Bildzirkulationen zwischen Mediengeschichte und Transkulturalität. Sie ist Mitherausgeberin von: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Letzte Veröffentlichungen: »Irgendwann nimmt man nicht mehr irgendwas (hin) – Exotismus, Elitismus und die Grenzen des Erträglichen. Oder: das kräftige Augenzwinkern der Werbebilder«, in: Hanne Loreck/Katrin Mayer (Hg.), Visuelle Lektüren – Lektüren des Visuellen, Hamburg: Textem 2009, S. 207–226; Fotografie und „Identität“. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld: transcript 2010. Stephan Fürstenberg ist Kunst-/Medienwissenschaftler (MA) sowie Kunstvermittler und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Art Education der Züricher Hochschule der Künste.

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Sehen – Macht – Wissen Außerdem beteiligt am Begleitforschungsprojekt zur d12Kunstvermittlung (2007) sowie am Kolleg Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien an der Universität Oldenburg (2008-2010). Vermittlungsprojekte: »micro-fiction** – Ist Demokratie gerecht?‘«; »Die Welt bewegt sich!« (beide ZKM Karlsruhe 2009). Publikation u.a.: »KUNSTVERMITTLUNG MIT ABSPRACHEN oder die Schaffung von ‚GefahrenKörpern‘«, zusammen mit Henrike Plegge, in: Carmen Mörsch u.a. (Hg.), KUNSTVERMITTLUNG 2 – Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin: diaphanes, 2009, S. 297–308. Sabine Hark, Soziologin, Professorin für Interdisziplinäre Frauenund Geschlechterforschung an der TU Berlin und dort Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG). Publikationen u.a.: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005; Transformationen von Wissen, Mensch, Geschlecht. Transdisziplinäre Interventionen, Königstein: Ulrike Helmer Verlag 2007 (Herausgeberin mit Irene Dölling u.a.). Linda Hentschel ist Professorin für Kulturwissenschaften und Gender an der Universität der Künste Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der optischen Medien und der visuellen Wahrnehmung, Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Foto- und Filmtheorie, Medien und Gewalt, Raumwissenschaften, Geschichte der Pornografie, kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung. Aktuelles Buchprojekt: Bilder als Regierungstechnologien. Krieg, Gewalt und visuelle Kultur. Publikationen u.a.: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag 2001; Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin: b_books 2008 (Herausgeberin).  Marianne Hirsch ist Professorin am Institut für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft und am Institut für Gender Studies an der Columbia University in New York. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Nacherinnerung von vererbten, individuellen Erinnerungen an den Holocaust. Publikationen u.a.: Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory, Cambridge, Massachusetts/London, England: Harvard University Press 1997; zusammen mit Leo Spitzer: Ghosts of Home. The Afterlife of Czer-

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Autor_innen nowitz in Jewish Memory, Berkeley: University of California Press 2010. (Eine Familien- und Lokalgeschichte über die Stadt Czernowitz, in der die Eltern von Marianne Hirsch aufwuchsen und den Holocaust überlebten.) In Vorbereitung: The Generation of Postmemory. Visual Cultures After the Holocaust, 2011. Josch Hoenes ist Kultur- und Kunstwissenschaftler und lehrt an der HfK Bremen sowie an der Universität Bremen. Dissertation zum Thema „Nicht Frosch. Nicht Laborratte. Transmännlichkeiten im Bild.“ an der CvO Universität Oldenburg. Schwerpunkte der Forschung und Lehre: queere/trans* Geschlechterforschung, Kulturgeschichte, visuelle Kultur. Publikationen u.a.: »"Du bist das Beste von beiden Welten" – "Du gehörst hier nicht hin". Loren Camerons Zerrbilder gegen heteronormative Zweigeschlechtlichkeit«, in: B. Paul/J. Schaffer (Hg.), Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken, Bielefeld: transcript 2009, S. 43-58; »Queer/Trans: Geschlecht und Sexualität im Spannungsfeld von urbanen Zentren und Peripherien. Eine exemplarische Analyse von Boys don't Cry«, in: Elke Krasny/Irene Nierhaus (Hg.), Urbanografien. Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2008, S. 93-104. Kathrin Hoffmann-Curtius lebt als freiberufliche Kunsthistorikerin in Berlin und arbeitet sowohl über (nationale) Bilderpolitik, Mythen zu Künstlerinnen und Künstlern, Kunst in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus als auch über die Anfänge der Rezeption des Mordes an den Juden in der deutschen Kunst nach 1945. Sie publizierte u.a. »Hannah Höchs DenkmalMontage: Ein monumentaner Bildwitz«, in: Barbara Duden u.a. (Hg.), Geschichte in Geschichten, Frankfurt/Main: Campus 2003, S. 149–160; »Constructing The Femme fatale: A Dialogue between Sexology and The Visual Arts around 1900«, in: Helen Fronius u.a. (Hg.), Women and Death I. Rochester, NY: Camden House 2008, S. 157–185; »Deutsche Denkmalpolitiken nach 1945«, in: Maja Figge u.a. (Hg.), Scham und Schuld, Bielefeld: transcript 2010, S. 121–146. Jennifer John ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Cultural Studies an der Zürcher Hochschule der Künste. In ihrer Promotion analysierte sie Konstruktionen von Kunstgeschichte und Geschlecht in den Sammlungs- und Ausstellungspraktiken der Hamburger Kunsthalle zwischen 1960 und der Gegenwart. Sie forscht zu Kunstgeschichte/-wissenschaft und Museums- und

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Sehen – Macht – Wissen Ausstellungspraktiken mit Schwerpunkt im 20. Jh. und der Gegenwartskunst, mit Bezug auf Cultural Analysis, Diskursanalyse und Semiologie. Publikationen u.a.: zusammen mit Dorothee Richter, Sigrid Schade (Hg.), Re-Visionen des Displays. Ausstellungs-Szenarien, ihre Lektüren und ihr Publikum, Zürich: jpr|ringier 2009; »Der Künstler ist ein Künstler ist ein Künstler. Museale Inszenierungen fortwährender Genies«, in: Ute Frietsch u.a. (Hg.), Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, Bielefeld: transcript 2008, S. 79–98. Nicole Mehring ist Studienrätin am Hölty-Gymnasium Wunstorf. Dissertationsprojekt über Bunkerarchitekturen und die Funktion von Geschlechterbildern in Erinnerungsprozessen (an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). Letzte Veröffentlichungen: »“Geheimnisvolle und verbotene“ Welten – Bunkerarchitekturen und Expeditionen des Vereins Berliner Unterwelten e.V.«, in: Marc Buggeln/Inge Marszolek (Hg.), Bunker: Kriegsort, Zuflucht, Erinnerungsraum, Frankfurt/Main: Campus 2008, S. 261–276; zusammen mit Angela Beuerle und Carsten Wergin: »Die Haut als organische, symbolische und diskursive Fläche«, in: Villigster Werkstatt Interdisziplinarität (Hg.), Haut – Zwischen Innen und Außen. Organ – Fläche – Diskurs, Münster: LIT Verlag 2009, S. IX-XVI. Nicholas Mirzoeff ist Professor und Direktor des Visual CultureProgramms an der Steinhardt School of Culture, Education and Human Development der New York University. Seine Arbeiten haben die Entstehung der visuellen Kultur als Forschungsansatz in entscheidender Weise geprägt. Aktuelle Publikationen u.a.: The Right to Look: A Counter-History of Visuality, Durham: Duke University Press, im Erscheinen; An Introduction to Visual Culture, London/New York: Routledge 1999, zweite gänzlich überarbeitete Auflage 2009; Watching Babylon: the War in Iraq and Global Visual Culture, London/New York: Routledge 2005. Patricia Mühr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Materielle Kultur der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie promoviert über [trans]nationale Geschlechterkonstruktionen im aktuellen Kriegsfilm. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kriegsfilme, Geschlechterforschung und Film- und Medientheorie. Publikationen u.a.: »Black Hawk Down – ’Global Player’ im freien Flug? Von der Konstruktion filmischer Helden in Zeiten Neuer Kriege«, in: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 41, 2006, S. 11–26;

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Autor_innen »Effects of Victimisation and Remasculinisation in War Films«, in: Katharina Hoffmann/Herbert Mehrtens/Silke Wenk (Hg.), Myths, Gender and the Military Conquest of Air and Sea, Bis-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Frühjahr 2011). Irene Nierhaus, Professorin für Kunstwissenschaft und ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Forschung in medientransversalen Ansätzen zur visuellen und räumlichen Kultur (Wohn- und Stadtraum in Architektur, Kunst, technischen Medien) des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, Geschlechterforschung und Theorie zum Verhältnis Bild-RaumSubjekt. Publikationen u.a.: Arch6: Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999; RÄUMEN: Baupläne zwischen Raum, Geschlecht, Visualität und Architektur, Wien: Selene 2002 (Herausgeberin zusammen mit Felicitas Konecny); Urbanografien: Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, Berlin: Reimer 2008 (Herausgeberin zusammen mit Elke Krasny); »Denkmäler im Subjekt. Öffentlichkeit, Moderne, Stadtraum und Geschlecht«, in: Hintergrund 42, Themenschwerpunkt „Denkmal“, Architekturzentrum Wien, 2009, S.16–23. Barbara Paul, Professorin für Kunstgeschichte, mit dem Schwerpunkt Moderne und Gender am Kulturwissenschaftlichen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, zuvor 2003-2008 Professorin für Kunstgeschichte und Kunsttheorie/Gender Studies an der Kunstuniversität Linz/A. Arbeitsschwerpunkte: Kunst, Kunsttheorie und Kunstbetrieb des 18.-21. Jahrhunderts; Geschichte und Theorie der Kunstgeschichte; kunstwissenschaftliche Gender, Postcolonial und Queer Studies. Veröffentlichungen zuletzt u.a.: FormatWechsel. Kunst, populäre Medien und Gender-Politiken / FormatChange. Art, Popular Media and Gender Politics, Wien: Sonderzahl 2008; Mehr(wert) queer. Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken / Queer Added (Value). Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld: transcript 2009 (Herausgeberin zusammen mit Johanna Schaffer). Griselda Pollock ist Professorin für Social and Critical Histories of Art und Direktorin des Centre for Cultural Analysis, Theory & History (CATH) an der Universität Leeds/GB. Zur Zeit forscht sie über Trauma und psychoanalytische Ästhetik. Publikationen u.a.: Encounters in the Virtual Feminist Museum: Time, Space and the Archive, London/New York: Routledge 2007; Digital and Other Virtualities: Renegotiating the Image, London/New York: I. B.

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Sehen – Macht – Wissen Tauris 2010 (Herausgeberin zusammen mit Antony Bryant); Bluebeard's Legacy: Death and Secrets from Bartok to Hitchcock, London/New York: I. B. Tauris 2009 (Herausgeberin zusammen mit Victoria Anderson); The Sacred and the Feminine: Imagination and Sexual Difference, London/New York: I. B. Tauris 2008 (Herausgeberin zusammen mit Victoria Turvey Sauron); Buchprojekte in Vorbereitung: The Theatre of Memory in the work of Charlotte Salomon; After-Image/After Affect: Trauma and Aesthetic Inscription. Sigrid Schade ist Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaften und Leiterin des Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Forschungsschwerpunkte: Körperkonzepte in der bildenden Kunst und visuellen Kultur des 16.-21. Jahrhunderts; Gender Studies, historische Prozesse des Kulturtransfers und Kulturaustauschs. Zusammen mit Silke Wenk ist sie Herausgeberin der Reihe „Studien zur visuellen Kultur“ im transcript Verlag, Bielefeld. Letzte Veröffentlichungen: »Der Leichnam lebt. Bildtradition und Geschlechterkonstruktion in den Totentanz-Serien von Birgit Jürgenssen«, in: Gabriele Schor/Abigail Solomon-Godeau (Hg.), Birgit Jürgenssen, Ostfildern: Hatje Cantz 2009; zusammen mit Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011 (im Druck). Leo Spitzer ist emeritierter Professor für Geschichte am Dartmouth College, Hanover, New Hampshire und Gastprofessor an der Columbia University, NY. Er arbeitet zu Flucht und Vertreibung, Widerstand und der Rolle von individuellem und kulturellem Gedächtnis. Publikationen u.a.: Hotel Bolivia. Auf den Spuren der Erinnerung an eine Zuflucht vor dem Nationalsozialismus, Wien: Picus Verlag 2003; zusammen mit Mieke Bal und Jonathan Crewe: Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover: University Press of New England 1999; zusammen mit Marianne Hirsch: Ghosts of Home: The Afterlife of Czernowitz in Jewish Memory, Berkeley: University of California Press 2010. (Eine Familien- und Lokalgeschichte über die Stadt Czernowitz, in der die Eltern von Marianne Hirsch aufwuchsen und den Holocaust überlebten.) Kea Wienand ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kunst, Kunstgeschichte und Kunstpädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte

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Autor_innen sind zeitgenössische Kunst, kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Postkoloniale Studien. Sie promoviert über künstlerische Verhandlungen von kultureller Differenz in der Bundesrepublik Deutschland. Publikationen u.a.: »Was darf ich denn überhaupt noch sagen? Überlegungen zu einer nicht normierenden und rassisierenden Kunstvermittlungspraxis«, in: Carmen Mörsch (Hg.), Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12, Zürich/Berlin: diaphanes 2009, S. 125–143; »Neu-Guinea – Eine zivilisationskritische Projektion«, in: Petra Lange-Berndt/Dietmar Rübel (Hg.), Sigmar Polke. Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, Köln: Walther König 2009, S. 146–153.

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Studien zur visuellen Kultur Kerstin Brandes Fotografie und »Identität« Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre 2010, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1586-9

Antke Engel Bilder von Sexualität und Ökonomie Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-915-2

Claudia Mareis Design als Wissenskultur Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960 März 2011, 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1588-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Studien zur visuellen Kultur Sigrid Schade, Silke Wenk Studien zur visuellen Kultur Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld August 2011, ca. 228 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-89942-990-9

Philipp Weiss Körper in Form Bildwelten moderner Körperkunst 2010, 274 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1550-0

Anja Zimmermann Ästhetik der Objektivität Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-860-5

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Studien zur visuellen Kultur Sigrid Adorf Operation Video Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre 2008, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-797-4

Silke Büttner Die Körper verweben Sinnproduktion in der französischen Bildhauerei des 12. Jahrhunderts 2010, 374 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1544-9

Marion Hövelmeyer Pandoras Büchse Konfigurationen von Körper und Kreativität. Dekonstruktionsanalysen zur Art-Brut-Künstlerin Ursula Schultze-Bluhm 2007, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-633-5

Jennifer John, Sigrid Schade (Hg.) Grenzgänge zwischen den Künsten Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-967-1

Renate Lorenz Aufwändige Durchquerungen Subjektivität als sexuelle Arbeit

Tanja Maier Gender und Fernsehen Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft 2007, 280 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-689-2

Barbara Paul, Johanna Schaffer (Hg.) Mehr(wert) queer – Queer Added (Value) Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken – Visual Culture, Art, and Gender Politics 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1057-4

Johanna Schaffer Ambivalenzen der Sichtbarkeit Über die visuellen Strukturen der Anerkennung 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-993-0

Corinna Tomberger Das Gegendenkmal Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur 2007, 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-774-5

Yvonne Volkart Fluide Subjekte Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst 2006, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-585-7

2009, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1196-0

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