Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«: Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik [1. Aufl.] 9783839417560

In modernen Demokratien gilt der Mensch als »Unternehmer seiner selbst«. Doch ist dieses Prinzip liberaler Gesellschafte

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Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«: Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik [1. Aufl.]
 9783839417560

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Biopolitik, Bioökonomie, Bio-Poetik im Zeichen der Krisis. Über die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«
BIOÖKONOMIE ODER DIE ARTEN DES REGIERENS IM ZEITALTER DER KAPITALISIERUNG DES LEBENS EINZELNER MENSCHEN
Bioökonomie und Biokapitalismus
Die Gespenster der Bioökonomie und das Phantasma der Krise
Sozial, politisch, biopolitisch. Die soziale Marktwirtschaft und die Krise
BIOPOLITIK UND BIOÖKONOMIE: EINE ZWISCHEN BIOMACHT UND GOUVERNEMENTALITÄT GESPANNTE ART DES REGIERENS
Bioökonomie und Neurokapitalismus nach der Geburt der Biopolitik
Kunst, Wissen und biopolitische Subsumtion im Zeitalter des kognitiven Kapitalismus
Schöne neue Welt? Slave City: eine Modellstadt des niederländischen Künstlerkollektivs Atelier van Lieshout
Biopolitik und Stadtgestaltung in der DDR von Brigitte Reimann
Macht und Sexualität. Überlegungen zur feministischen Debatte über die Prostitution
BIOPOLITIK UND BIO-POETIK: DER ANDERE BLICK AUF DIE KUNST DES REGIERENS
Die notwendige Literatur. Skizze einer Biopoetik
Pasolinis Salò. Eine biopolitische Betrachtung
Monströse Monstranz. Zur Politik des Ästhetischen bei Ciprì und Maresco
Disziplin und Wahnsinn. Die Regierung des hysterischen Körpers im zeitgenössischen Theater
Ästhetik der Sichtbarmachung der Techniken souveräner Macht. Das Verwirrspiel von Jules Quichers alias Loriano Macchiavellis Romanen Funerale dopo Ustica und Strage
Biopolitik am Computerbildschirm
BIOPOLITIK DER MIGRATION – BIO-POETIK DER BEWEGUNG
Biopolitik der Migration. Politische Techniken und literarische Taktiken im Rahmen der italienischen Auswanderung nach Deutschland
Biomacht und Mobilität. Migrationen, Nomadismus, Territorium
Subalternität und Subjektivierungsprozesse. Der Fall der Beta Israel
Autorinnen und Autoren

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Vittoria Borsò, Michele Cometa (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften«

Vittoria Borsò, Michele Cometa (Hg.)

Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Sainab Sandra Omar und Aurora Rodonò)

Der Druck dieser Publikation wurde gefördert von: • Deutscher Akademischer Austauschdienst • Freunde und Förderer der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf • Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: mentaldisorder / photocase.com Lektorat & Redaktion: Maren Ahlzweig, Sieglinde Borvitz, Sainab Sandra Omar, Aurora Rodonò Korrektorat: Sieglinde Borvitz, Julia Fürwitt, Sainab Sandra Omar, Kristina van Raay, Aurora Rodonò Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1756-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Biopolitik, Bioökonomie, Bio-Poetik im Zeichen der Krisis Über die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Vittoria Borsò | 13

B IOÖKONOMIE ODER DIE A RTEN DES R EGIERENS IM Z EITALTER DER K APITALISIERUNG DES L EBENS EINZELNER M ENSCHEN Bioökonomie und Biokapitalismus Christian Marazzi | 39

Die Gespenster der Bioökonomie und das Phantasma der Krise Laura Bazzicalupo | 53

Sozial, politisch, biopolitisch Die soziale Marktwirtschaft und die Krise Thomas Bedorf | 69

B IOPOLITIK UND B IOÖKONOMIE : EINE ZWISCHEN B IOMACHT UND G OUVERNEMENTALITÄT GESPANNTE A RT DES R EGIERENS Bioökonomie und Neurokapitalismus nach der Geburt der Biopolitik Jörg Bernardy | 85

Kunst, Wissen und biopolitische Subsumtion im Zeitalter des kognitiven Kapitalismus Danilo Mariscalco | 99

Schöne neue Welt? Slave City: eine Modellstadt des niederländischen Künstlerkollektivs Atelier van Lieshout Angela Weber | 115

Biopolitik und Stadtgestaltung in der DDR von Brigitte Reimann Tiziana Urbano | 131

Macht und Sexualität Überlegungen zur feministischen Debatte über die Prostitution Giorgia Serughetti | 151

B IOPOLITIK UND B IO -P OETIK : D ER ANDERE B LICK AUF DIE K UNST DES R EGIERENS Die notwendige Literatur Skizze einer Biopoetik Michele Cometa | 171

Pasolinis Salò Eine biopolitische Betrachtung Manfredi Bernardini | 195

Monströse Monstranz Zur Politik des Ästhetischen bei Ciprì und Maresco Sieglinde Borvitz | 205

Disziplin und Wahnsinn Die Regierung des hysterischen Körpers im zeitgenössischen Theater Roberto Giambrone | 225

Ästhetik der Sichtbarmachung der Techniken souveräner Macht Das Verwirrspiel von Jules Quichers alias Loriano Macchiavellis Romanen Funerale dopo Ustica und Strage Nicole Welgen | 233

Biopolitik am Computerbildschirm Valentina Mignano | 251

B IOPOLITIK DER M IGRATION – B IO -P OETIK DER B EWEGUNG Biopolitik der Migration Politische Techniken und literarische Taktiken im Rahmen der italienischen Auswanderung nach Deutschland Federica Marzi | 273

Biomacht und Mobilität Migrationen, Nomadismus, Territorium Giorgio Sciabica | 293

Subalternität und Subjektivierungsprozesse Der Fall der Beta Israel Serena Marcenò | 311

Autorinnen und Autoren | 329

Vorwort

Das vorliegende Buch ist der erste Teil einer zweibändigen Publikation, die einen internationalen Diskurs zu Themenkreisen der ›Gouvernementalität‹ und ›Biopolitik‹ anregen möchte. Dies sind Themen, die in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Rezeption von Michel Foucaults spätem Werk so intensiv behandelt wurden, dass sich das Bild der Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges aufdrängt: Wie die Bibliothek, erscheint das Thema der Biopolitik allmählich unbegrenzt; durch Kombinatorik und periodische Wiederholungen gibt es vor, alles denkbare Wissen zu umfassen. Aber die Bibliothek von Babel ermutigt eigentlich nicht zu neuen Publikationen. Diese Erzählung ist vielmehr eine Parabel, die Utopien von Originalität und Proliferation von Wissen aufs Spiel setzt und ironisch dekonstruiert. Denn auf der einen Seite werden die Wissenschaftler, die sich mit ihr beschäftigen, alt, ohne je eine Antwort auf ihre Fragen gefunden zu haben, und auf der anderen Seite findet man darin für das praktische Leben kaum sinnvolle Sätze. Warum also noch zwei Bände zu diesem Thema? Unter den Gründen, die eben doch zu einer Publikation motivieren, ist einmal die Notwendigkeit zu nennen, über die globale Systemkrise einer immer instabiler werdenden ›Kunst des Regierens‹ zu reflektieren. Der internationale und interdisziplinäre Rahmen dieser Publikationen erscheint geeignet, diesbezüglich einen neuen Akzent zu setzen. Mehr als die Hälfte der Beiträge stammen von italienischen, spanischsprachigen und US-amerikanischen Autoren, die unterschiedliche Disziplinen vertreten: Politische Philosophie, Soziologie, romanistische und anglistische Literaturwissenschaft, Komparatistik, Bildwissenschaft und Medienästhetik. Im ersten Band, den ich zusammen mit Michele Cometa, dem Sprecher der Graduiertenschule in Palermo, herausgebe, sind die Vorlesungen von Michel Foucault am Collège de France aus den Jahren 1978 und 1979 sowie auch Deleuzes und Guattaris Tausend Plateaus der gemeinsame Referenzrahmen unterschiedlicher Fragestellungen, die aus verschiedenen Blickwinkeln die zunehmende Durchdringung des Lebens durch die finanzwirtschaftliche Ökonomie und durch die Medien thematisieren. ›Bioökonomie‹ – eine spezielle Richtung der italienischen Politischen Philosophie – steht deshalb im Zentrum dieses ersten Bandes, hat doch die Finanzwirtschaft zusammen mit den Medien

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die Politik in der Regierung des Lebens abgelöst. Strategien der Ästhetik reflektieren derartige Prozesse kritisch, und es zeigt sich, dass die Thematisierung des Spannungsfelds von Politik, Ökonomie und Ästhetik die Paradoxien und die unter den Bedingungen globaler Finanz- und Medientechnologien zunehmende Komplexität besser greifbar macht. Der Titel dieses Bands Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« betont die Tatsache, dass eine Vielzahl der Aufsätze Formen, Techniken und Künste des Regierens untersucht, die das Leben unter finanzwirtschaftlichen Machtverhältnissen bestimmen. Die Beiträge des zweiten Bands mit dem Titel Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik lassen sich kompromisslos auf die These ein, das Leben des Menschen als zoon politikon sei in der Ordnung des Wissens – von der Ökonomie bis hin zur Medizin – gefangen. Es wird dabei nach Modellen gesucht, die das leisten, was Georges Canguilhem gefordert hatte, nämlich sich dem Leben in dessen Autonomie und Vitalität anzunähern. Die Politische Philosophie von Roberto Esposito, der am deutlichsten diese Frage aufnimmt und eine Verschiebung der abendländischen Grundkonzepte anstrebt, die das Leben definieren, spielt deshalb im zweiten Band eine zentrale Rolle. Dennoch räumt auch dieser zweite Band der literarischen und visuellen Ästhetik einen besonderen Stellenwert ein. Denn sie macht ein anderes Wissen verfügbar, nämlich ein Erfahrungswissen, in dem sich die Vitalität des Lebens in unterschiedlichen Facetten entbergen kann. So wird mit Heideggers Ontologie ein Akzent gesetzt, der sich insbesondere im Essay von Hans Ulrich Gumbrecht in diesem Band und in dessen Begriff der ›Präsenzkultur‹ präzisiert. Beide Bände sind Dokumente intensiver Erfahrungen und Begegnungen. Das Publikationsprojekt entstand im Zusammenhang mit der ersten Jahrestagung »Biopolitik, Bioökonomie, Biopoetik im Zeichen der Krisis« (20. bis 23. Januar 2010) im Rahmen des gemeinsamen, interdisziplinären Promotionsprogramms »Europäische Kulturstudien« der Universitäten Düsseldorf und Palermo. An der Tagung nahmen jeweils elf italienische und deutsche Doktorandinnen und Doktoranden teil, deren Beiträge und inzwischen abgeschlossene Dissertationen die Produktivität der gemeinsamen internationalen Graduiertenarbeit dokumentieren. Darauf folgten Summer schools in Palermo und Kompaktseminare von Roberto Esposito und Hans Ulrich Gumbrecht in Düsseldorf sowie ein Workshop zum Thema Vitality in Stanford. Sie waren die Inspiration für einen zweiten Band, der durch die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Biopolitik auch die Chance eröffnen soll, mit Foucault über Foucault hinauszugehen. Gemeint ist die Suche nach Denkfiguren und Methoden, die die Ordnung des zoon politikon, also die Bedingungen politischer, sozialer, ökonomischer, medizinischer Ordnungen des Lebenden entgrenzen, um so gewissermaßen das Lebendige am Leben des Einzelnen freizulegen. Die hier präsentierten internationalen Perspektiven, die das Verhältnis von Kunst des Regierens und des Lebens betreffen, gehören in das Feld der italieni-

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schen Politischen Philosophie, die in den USA als The Italian Difference behandelt wird, weil sie die Impulse von Michel Foucaults Spätwerk und Gilles Deleuzes Immanenz-Denken mit kongenialen Traditionen italienischer Philosophie verbindet. Auch enthalten sind Beiträge aus der spanischsprachigen Philosophie, einschließlich des transatlantischen Kontextes (José Luis Villacañas, Madrid; Alberto Moreiras, College Station, USA). Sie vermitteln dezentrierte Blicke und eröffnen Fluchtlinien im Rahmen des deutschsprachigen Diskurses zu Gouvernementalität und Biopolitik. Gerade diese Dezentrierung, die vielleicht das Besondere dieser neuen Publikationen zu einem intensiv untersuchten Thema darstellt, wäre ohne die diffizile und unermüdliche translatorische Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer1 der zahlreichen Aufsätze in italienischer, spanischer und englischer Sprache nicht möglich gewesen. Die vorliegenden Bände sind also auch und vor allem Dokumente des Willens zur Vermittlung und zur »Sorge um das Fremde« – eine Geste, die vielleicht in der Kombinatorik der Bibliothek von Gouvernementalität und Biopolitik wenn nicht neue, doch andere Akzente zu setzen vermag. Den zahlreichen Übersetzern sei deshalb zuallererst gedankt. Weil sie aus dem wissenschaftlichen Umfeld der Düsseldorfer Italianistik und Anglistik stammen, dokumentieren sie die Lebendigkeit dieses Kontextes. In Personalunion mit der Aufgabe des Übersetzens waren viele von ihnen auch an der Redaktion der Manuskripte beteiligt. Namentlich gebührt vor allem Julia Fürwitt und Kristina van Raay ein besonderer Dank. Ihnen und den Wissenschaftlerinnen, die die Tagung und die Redaktion der Akten inhaltlich betreut und die Übersetzungen koordiniert haben, verdanken wir, dass das Publikationsprojekt nun Wirklichkeit geworden ist: Sieglinde Borvitz, Sainab Sandra Omar und Aurora Rodonò. Ferner gilt mein Dank Maren Ahlzweig, Laura Lumpe, Nina Restemeier, Elisabeth Schmalen und Jenny Wirth, die das Redaktionsteam tatkräftig unterstützt haben. Für die großzügige Förderung der Tagung und der Publikationen danke ich der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität, der van Meeteren-Stiftung, der Anton-Betz-Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie dem Industrie-Club Düsseldorf, in dem am 22. Januar 2010 die von Reiner Burger (FAZ) moderierte Podiumsdiskussion »Die Kunst, das Leben zu bewirtschaften« unter Beteiligung von Hans-Ulrich Gumbrecht, Justus Haucap, Roberto Fedi und mir stattfand. Vittoria Borsò, Düsseldorf im September 2012

1 | In der Folge und in beiden Bänden wird nur die männliche Funktionsbezeichnung genannt, die die weibliche Form miteinschließt, sofern nicht anders gekennzeichnet.

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Biopolitik, Bioökonomie, Bio-Poetik im Zeichen der Krisis Über die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Vittoria Borsò

Am Agenda Setting der Medien erkennt man täglich, dass die ›Ökonomie‹ mittels der Probleme von Wirtschaft und Finanzen den weltweiten Banken-, Finanz- und Wirtschaftssektor von Krise zu Krise führt, die Politiker in die Krise mit hineinreißt und mehr oder weniger ohnmächtig macht. Einem Tsunami ähnlich hatte die 2007 geplatzte Blase am Immobilienmarkt der USA nicht nur Rückwirkungen bei US-amerikanischen Unternehmen wie General Motors, sondern auch einen direkten Einfluss auf die aufgeblähten Immobilienmärkte europäischer Länder, mit ersten Auswirkungen auf Spanien. Ende 2008 betrug der Credit Default Swap1 62 Billionen US-Dollar und war höher als das Bruttosozialprodukt aller Länder der Welt mit nur 54 Billionen US-Dollar. Dabei überstieg das Globalvolumen der Derivate 600 Billionen US-Dollar und war damit vierzehnmal höher als das gesamte Bruttosozialprodukt des Planeten (vgl. Toppi 2009: 8f.). Dem Internationalen Währungsfond (IWF) zufolge stiegen im April 2009 die Wertpapierverluste auf vier Billionen US-Dollar. Im Oktober 2009 begann schließlich auch im Euroraum die Krise der Staatsschulden, als nämlich Griechenland zur Vermeidung der Staatsinsolvenz Hilfspakete von IWF und EU erbat. Die US-amerikanische Krise von 2008, die von The Economist als »The biggest bubble in history« (Marazzi 2009: 25) bezeichnet wurde, und die folgenden Krisen der westlichen Wirtschaft und Finanzen, die nun im Jahre 2012 den gesamten europäischen Raum beschäftigen, sind eine System-Krise, die radikale Änderungen verlangt. Denn weltweit sind nun auch jene Kräfte zerstört, die zuvor den Zuwachs der Ökonomie ermöglicht hatten. Anders als

1 | Mit dem Anwachsen der Credit Default Swaps (CDS) haben die US-amerikanischen Banken das Risiko weltweit gestreut. Ein CDS ist ein Kreditderivat, mit welchem Kreditrisiken verhandelt und verschoben werden können.

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im Japan der 1990er Jahre hat die Finanzkrise also auch die Grundlagen für mögliche Maßnahmen zur Regenerierung der Wirtschaft außer Kraft gesetzt.2 Im Jahr 2009 stellte Christian Marazzi die fundamentale Frage nach der Rationalität eines Systems, das Wirtschaft und Finanzen zu derartigen Verwerfungen führt. Das unwidersprochene, absolute Prinzip eines solchen Systems ist ein unbegrenztes Wachstum, für dessen Bestehen eine ständige Steigerung des Konsums und des Profits unabdingbar sind. Der Konsum wird aber von einem Wertvermögen gespeist, das nicht auf Lohn basiert und sich auf Kosten von hochverschuldeten Arbeitnehmern vermehrt (Marazzi 2009: 51). Marazzi prophezeit in seiner Studie zur Krise von 2007-2008, dass sich daraus Überproduktion, nicht verkaufte Waren, blockierte Aktivitäten und schließlich die Rückkehr zum Zwangssparen ergeben würden. Die damalige Prophezeiung mutet heute als exakte Beschreibung der aktuellen Situation vieler europäischer Länder an, wobei die noch verhältnismäßig guten wirtschaftlichen Ergebnisse des deutschen Mittelstandes in Europa ebenso einzigartig wie kurz- bzw. mittelfristig gefährdet sind. Ökonomen und Politiker übersehen oder negieren die sichtbaren Risiken, verstärkt durch eine unter Laborbedingungen »empirisch« nachgewiesene Rationalität des freien Wettbewerbs oder der gesellschaftlichen Vernunft sozialer Marktwirtschaft. Die Frage ist nun, ob sich die Pathologie einer solchen Systemkrise mit neoliberaler – oder mit der scheinbar gegenteiligen Rationalität der sozialen Marktwirtschaft – analysieren, geschweige denn korrigieren lässt. Mittlerweile haben Ökonomen auch in Deutschland das Scheitern eines Wirtschafts- und Finanzsystems erkannt, das sich auf abstrakte Theorien und Modelle gestützt hat. Im Juli 2012 wirbelte ein Ökonomen-Streit das Netz auf: Blog-Einträge und Twitter-Gespräche drehten sich um den offenen Brief von 160 deutschen Wirtschaftswissenschaftlern gegen die Euro-Beschlüsse, von denen mittlerweile keine Rettung mehr erwartet wird.3 Zunehmend gesteht man sich zudem ein, dass die Wirtschaftswissenschaften mit anderen Disziplinen kooperieren müssen. Robert Johnson, Direktor des Institute for New Economic Thinking (INET) mit Hauptsitz in New York und Außenposten in verschiedenen Ländern, betont, dass durch neue Denkansätze auch neue Paradigmen jenseits des Marktfundamentalismus eingeleitet werden sollten. Ökono-

2 | Marazzi bezieht sich auf die Studie The Aftermath of Financial Crises, die von Carmen Reinhardt (Maryland University) und Kenneth Rogoff (Harvard) durchgeführt und im Dezember 2008 veröffentlicht wurde: www.economics.harvard.edu/faculty/rogoff/ files/Aftermath.pdf (Stand 23.07.2012). Vgl. Marazzi (2009: 26). 3 | Den Anfang unternahm der Ökonom Gustav Horn von der Hans-Böckler-Stiftung, der den Entwurf des Aufrufs auf seiner Facebook-Seite gepostet hatte (vgl. Blogschau: »Ökonomen-Streit wirbelt das Netz auf« unter: www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ blogschau-oekonomen-streit-wirbelt-das-netz-auf/6848650.html (Stand 23.07.12).

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mie und Politik müssten dabei zusammengedacht werden, denn Macht gehöre zum Kern der Wirtschaftswissenschaften, so Johnson4 . Schon in seiner Studie von 2009 analysiert der Ökonom und Kulturtheoretiker Christian Marazzi nicht nur die Risiken, sondern vor allem die Genealogie der Krise. Er tut dies jenseits allzu leichter Ansätze, wie sie zum Beispiel in der Dämonisierung der Finanzökonomie zugunsten der sogenannten Realökonomie – eine Trennung, die in der postindustriellen Ära nicht mehr einzuhalten ist (Marazzi 2009: 44) – oder im Heraufbeschwören des Keynesianismus zur Lösung der Krise zu finden sind.5 Es ist vielmehr notwendig, den Schlüssel für die Transformationen zu identifizieren, welcher die temporären Krisen zu einer Systemkrise avancieren ließ. Diesen Schlüssel findet Marazzi in der von Giovanni Arrighi denunzierten Logik einer grenzenlosen Steigerung von Rentabilisierung und Gewinn (Marazzi 2009: 44) – eine Logik, die zunehmend umgesetzt wird und sich immer mehr Expansionsräume einverleibt hat.6 In letzter Instanz werden Maßnahmen nicht mehr ausgeschlossen, die sich auf das »nackte Leben« der Menschen direkt auswirken – etwa die Katastrophe der Subprime-Kredite, jener zweitklassigen, mit hohem Insolvenzrisiko behafteten Immobilien-Anleihen (Marazzi 2009: 56, 58), die zum Platzen der Blase in den USA führten. Zur Steigerung des Börsenwerts des Kapitals wird das Anwachsen des Schuldenbergs von Unternehmen und Menschen schlichtweg in Kauf genommen. Ein Leben als Rentier hat den von verschuldeten Arbeitnehmern getätigten Konsum als Korrelat (Marazzi 2009: 51). Marazzi geht nun auf den Zusammenhang von Finanziarisierung und der Produktion von Werten ein. Dabei definiert er Finanziarisierung nicht im Sinne verschärfter Profit- und Verwertungszwänge, sondern pointiert biopolitisch als zunehmende Durchdringung des Lebens durch Finanzmechanismen. Im Gegensatz zum Begriff der ›Finanzialisierung‹, der den zunehmenden Anteil der Unternehmensgewinne aus finanziellen Aktivitäten beschreibt, handelt es sich bei der ›Finanziarisierung‹ um einen kritischen Begriff. Wenn Marazzi nun den Zusammenhang von Finanziarisierung und Produktion von Werten als Grundlage der Krise analysiert, so wendet er eine Methodologie an, die sich im italienischen Sprachraum als ›Bioökonomie‹ etabliert hat und welche das Ziel verfolgt, die Aporien der Ökonomie im Verhältnis zum konkreten Leben 4 | »Politik statt Mathematik«. WebTV-Interview mit Robert Johnson: www.stifterver band.info/wuw/21 (Stand 23.07.12). 5 | Infolge der tiefen Verwicklung von Finanz- und Industrierenditen sei der heutige, postindustrielle Kapitalismus nicht mit dem historischen, industriellen Kapitalismus zu verwechseln, so Marazzi mit Bezug auf Giovanni Arrighis Adam Smith a Pechino. Genealogie del ventunesimo secolo (vgl. Marazzi 2009: 50). 6 | Zu den konkreten Maßnahmen, die zur Entwicklung und Verschärfung der Krise führten, vgl. das Kapitel »Über das Renditewerden des Profits« von Marazzi (2009: 64f.).

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der Menschen zu analysieren. Eine dieser Aporien, welche von der Wachstumsgesellschaft ignoriert werden, ist das augenfällige Missverhältnis von grenzenlosem Zuwachs von Wirtschaft und Finanzen einerseits und der Endlichkeit von Mensch, Natur und Umwelt andererseits. Die Bioökonomie, die eine störende Realität zeigt (vgl. Toppi 2009: 14), wäre ein notwendiger, interdisziplinärer Weg zwischen Ökonomie, Politik und Kulturwissenschaft. Aber was ist eigentlich konkret unter Bioökonomie zu verstehen?

B IOÖKONOMIE : D IE VERSCHIEDENEN A RTEN DES R EGIERENS IM Z EITALTER DER K APITALISIERUNG DES L EBENS EINZELNER M ENSCHEN Die Bioökonomie fokussiert ein besonderes Moment bei der Geburt und Entwicklung der Biopolitik (vgl. Foucault 2004a). Die Biopolitik ist jenes fragmentarisch gebliebene Paradigma, das Michel Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France formuliert hat. Jene begannen 1978 mit der Genealogie der Gouvernementalität, mündeten in seine letzte Vorlesung zu Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (vgl. Foucault 1994) und wurden schließlich im Jahre 1979 mit der Analyse ihrer ökonomischen Veränderung durch den Liberalismus und Neoliberalismus fortgesetzt. Biopolitik ist also mitnichten Biomacht, sondern bezeichnet vielmehr die Genealogie und Transformationen der Kunst des Regierens (Gouvernementalität). Die Gouvernementalität demontiert den Staat als unabhängige Instanz, weil sie die Rationalität der Ordnungsprinzipien sichtbar macht, dank derer das Regieren der Bevölkerung möglich wird – im doppelten Sinne der Ermöglichung und der Selbstlegitimierung. Hinter dem Staat, der die Bevölkerung verwaltet, verbergen sich nämlich Techniken des Regierens, welche nicht allein im Feld des Politischen, sondern auch in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen einschließlich Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Bildungsinstitutionen etc. operieren. Diese Techniken des Regierens etablieren sich im 18. Jahrhundert, beim Übergang von der souveränen Macht zu neuen Regierungsformen, die mit dem Contrat social von Jean Jacques Rousseau darauf gründen, dass das Individuum sein individuelles Leben als Teil des sozialen Körpers sieht oder es gar für das Gemeine opfert. Rousseau habe mit der Familie, so Foucault, das Modell für die Vermittlung gefunden, nämlich die Ökonomie als Verwaltung von Individuen und Gütern, die sich am Modell der Hausverwaltung als »sage gouvernement de la maison pour le bien commun de toute la famille« (Foucault 1994, III: 642) orientiert. Aber schon im Contrat social wird das Problem der Gouvernementalität deutlich formuliert, nämlich, wie Einzel- und Gemeinwillen zu vereinbaren sind, wie die Kunst des Regierens eines Familienvaters mutatis mutandis auf die Diskontinuitäten einer »gestion générale de l’État« (Foucault 1994, III: 642) übertragen werden kann.

B IOPOLITIK , B IOÖKONOMIE , B IO -P OETIK IM Z EICHEN DER K RISIS

Wie können Schutz und Überwachung des Verhaltens von jedem Einzelnen, des Privatbesitzes, des Territoriums organisiert werden? Dies ist die Frage der Gouvernementalität (Foucault 1994, III: 642). Es geht also um das Kernproblem der Artikulation von Regieren und Selbstregieren. Die Paradoxie des gouvernementalen Verhältnisses vom Individualismus einzelner Subjekte und einer totalisierenden Regierung zeigt sich besonders gut an der Emergenz der politischen Ökonomie des Liberalismus und dessen Prinzip ›Regieren durch weniger Regieren‹, so Foucault in den Vorlesungen von 1979, weshalb die Analysen vom Liberalismus für die Biopolitik als paradigmatisch gelten.7 Das gouvernementale Paradoxon manifestiert sich in Naissance de la biopolitique in verschiedenen Formationen. Es ist schon der Tatsache inhärent, dass der Liberalismus nicht mehr juristische, sondern ökonomische Prinzipien statuiert, die sich zunächst am Laisser faire des freien Markts orientieren (Foucault 2004a: 105f.). Es ergeben sich Veränderungen auf zwei Ebenen, nämlich in Bezug auf das Verhältnis von Markt und Staat und in Bezug auf das Subjekt. Das Prinzip des freien Markts verlangt eine Selbstbegrenzung des Staates, um die Freiheiten des Systems zu garantieren, zu steigern und zu multiplizieren. Auf dieses Paradoxon verweist Foucault, wenn er in der Vorlesung vom 4. April 1979 die Genealogie des homo oeconomicus im Liberalismus und Neoliberalismus beschreibt. Es etabliert sich »un gouvernement omniprésent […], qui tout en respect[ant] la spécificité de l’économie« [doit] »gér[er] la société, […] gérer le social« (Foucault 2004a: 300; vgl. Senellart 2004: 336). Das Subjekt versteht sich nicht mehr in Bezug auf das Gesetz; vielmehr kommt ein ökonomisches Subjekt auf, ein sujet d’intérêt, welches sich vom allgemeinen juristischen Gesetz dissoziiert. Die Selbstbezogenheit von allein auf das eigene Interesse orientierten ökonomischen Subjekten (sujets d’intérêt) und die totalisierende Einheit der juristischen Souveränität sind miteinander inkompatibel (vgl. Foucault 2004a: 286). Die Paradoxie des Regierens radikalisiert sich mit dem Neoliberalismus im 20. Jahrhundert. Dessen Prinzip des reinen Wettbewerbs verlangt politische Regelungen, welche die formalen Bedingungen des freien Wettbewerbs sichern sollen. So konstituiert sich der Neoliberalismus unter dem Zeichen einer Überwachung, einer permanenten Intervention (vgl. Foucault 2004a: 137). In seiner Einführung zur Vorlesung vom 14. Februar 1979, die dem deutschen Neoliberalismus gewidmet ist, nennt Foucault diese Intervention umso schwerfälliger und heimtückischer, weil sie sich unter dem Schleier des reinen Wettbewerbs des Neoliberalismus verbirgt (vgl. Foucault 2004a: 136). Die Selbstbegrenzung des Staates, die den freien Wettbewerb sicherstellen soll, führt letztendlich zu einer »Marktökonomie ohne laissez-faire« (vgl. Foucault 2004a: 137), d.h. zu

7 | »Etudier le libéralisme comme cadre général de la biopolitique« – so beschreibt Foucault das Ziel der Vorlesungen von 1979 (Foucault 2004a: 24).

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einer aktiven, nicht dirigistischen Politik8 , die heute Hand in Hand mit dem Regieren von Ökonomen in Banken und dem Finanzsektor einhergeht. Die Paradoxien in der Ausübung der Freiheit des einzelnen Lebens sind also dem homo oeconomicus inhärent, denn der Anspruch des Einzelnen auf Freiheit und Schutz hat als Pendant die Notwendigkeit von Kontrolldispositiven und staatlichen Interventionsformen. Genau dieses Grundmoment steht am Ursprung der Krisen der Gouvernementalität.9 Die italienische Politische Philosophie fasst mit dem Begriff der Bioökonomie genau dieses Grundmoment der Gouvernementalität und ihrer Entwicklungen in der aktuellen Systemkrise. Durch eine Analyse der Finanziarisierung, d.h. der zunehmenden Durchdringung des Lebens durch Finanzmechanismen, zeigt auch der hiesige Beitrag von Christian Marazzi, inwiefern aktuell das Wesen der gouvernementalen Biopolitik eine erneute, dramatische Transformation erfahren hat: vom Dispositiv der politischen Verwaltung des Lebens (Gouvernementalität) hin zum Dispositiv der Produktivität des Lebens durch die Verwaltung des Kapitals. Die Art, in der er sich den Zuwachs sichert, lässt ihn den finanziellen Biokapitalismus als imperial erscheinen: Er unterwirft jede Lebensform dem Arbeitsprozess und integriert sie in die Mechanismen der Wertschöpfung, um sie aber in der Krise wieder abzuspalten und verschuldetes Leben vom Schutz auszuschließen. Wenn Foucault im Liberalismus das Paradigma der Biopolitik erkannt hatte, so ist die Finanzkrise der Moment, in welchem das Dispositiv der Gouvernementalität seine Macht enthüllt, so die Quintessenz des Beitrags von Christian Marazzi in diesem Band. Aber auch genealogisch lautet die These: Das analytische Schema der ›Biopolitik‹ ist deshalb schon im Kern eine Bioökonomie, weil an die Stelle der souveränen Macht die Produktivität von Menschenleben gesetzt wird. Das Leben des Einzelnen wird zu einer Ressource für ein als souverän geltendes Wachstum. Bereits im 16. Jahrhundert beginnt sich die Macht in Ökonomie zu transformieren und wird zunächst im Sinne des griechischen Etymons oikonomía, also der ›Einrichtung, Ordnung, (Haus-)Verwaltung‹, verstanden; Machiavellis De Principatibus (1513) ist nur einer der bekanntesten Gründungstexte. Bezeichnet also Ökonomie den Modus der Vergesellschaftung, so entspricht die politische Organisation des Lebens zunehmend einer Logik, derzufolge der Lebensverlauf nach einem spezifischen Wert organisiert werden muss, welcher wiederum 8 | Vgl. Foucault »Une économie de marché sans laissez-faire, c’està-dire une politique active sans dirigisme. Le néolibéralisme ne va se placer sous le signe du laissez-faire, mais, au contraire, d’une vigilance, d’une activité, d’une intervention permanente.« (Foucault 2004a: 137) 9 | »Liberté et sécurité: ce sont les procedures de contrôle et les forms d’intervention étatique requises par cette double exigence qui constituent le paradoxe du libéralisme et sont à l’origine des crises de gouvernementalité.« (Foucault 2004a: 70)

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die Möglichkeiten und Chancen der Lebensplanung regiert. Die Physiokraten sowie die französischen und englischen Ökonomen des 18. Jahrhunderts haben schon den Merkantilismus und den Kameralismus der Staatsraison hinter sich gelassen und kritisieren bereits die Zentralisierung der Macht, das »Zuviel-Regieren« (Foucault 2004a: 326, 79). Dies wird im 19. Jahrhundert mit der Emergenz einer liberalen Ökonomie zum Hauptprinzip. Das vielzitierte gouvernementale Prinzip, nämlich »der Mensch ist Unternehmer seiner selbst« (Foucault 2004: 314; vgl. auch Bröckling 2007)10, ist an sich bioökonomisch: Nicht mehr die Politik, sondern der Markt regiert den Menschen. Die Ökonomie stiftet somit nicht nur Ordnung im Haushalt des Lebens, sondern auch Werte: Das Leben muss rentabel sein, braucht Vermögenszuwachs, steht in der Schuld von jemandem, hat Sollwerte; die Qualität des Lebens misst sich an der Produktivität für die Gemeinschaft; der Wert des Lebens steht in direkter Beziehung zu seinen Kosten. Die Ökonomie avanciert zu einem Ordnungsprinzip, wobei das Subjekt die Produktivität seines Lebens gestaltet und imaginiert.11 Die Biopolitik verwandelt sich in Bioökonomie, in ein buchstäbliches Finanzkalkül, welches das Leben in heteronymer Funktion valorisiert. Mit der liberalen Ökonomie im 19. Jahrhundert beginnt ein Prozess, der in die aktuelle Situation mündet, in der die konkrete Wirtschafts- und Finanzökonomie in eine Art souveräne Macht zurückverfallen ist. Verbarg sich hinter dem gouvernementalen Staat nach dem Wegfall der Herrschaft des Souveräns eine Multiplikation der Instanzen des Regierens12 , so stellen wir heute eine Vervielfältigung von Finanz-Vermittlern fest, die infolge der Deregulierung und Liberalisierung der Ökonomie ins Grenzenlose wachsen (Marazzi 2009: 46)13 . Die Bioökonomie ist also die Transformation der Biopolitik durch die finanzwirtschaftliche Gouvernementalisierung des Lebens. All diese Fragen zeigen, dass es sich lohnt, die 10 | Richard Sennett analysiert das unternehmerische Selbst »als flexiblen Menschen des Kapitalismus« in einer selbst-unternehmerischen Verantwortung, sieht aber darin hegemoniale Formen von Subjektivierung als Folge des globalen Kapitalismus (vgl. Sennett 2002). 11 | Joseph Vogl rekonstruiert derartige Veränderungen in der Ökonomie des 18. Jahrhunderts und zeigt, dass die Ökonomie politische, anthropologische, sozialphilosophische und ästhetische Dimensionen umfasst. Literatur und Ökonomie gehören fortan zu derselben Diskursordnung (vgl. Vogl 2002). 12 | Der Herrschaftsanspruch, der zuvor das Leben Einzelner ausschließlich als zu überwindende Grenze der sich entfaltenden souveränen Macht interpretierte, wird dezentralisiert, aber auf diese Weise auch unendlich vervielfacht (vgl. Foucault 1987). 13 | Obwohl die Streuung der Macht theoretisch produktiv ist, hat dies zu einer »Globosklerosis«, d.h. zur Unfähigkeit, Probleme zu lösen, und schließlich zur Krise der Governance geführt, so Marazzi mit Bezug auf entsprechende Äußerungen von David Brooks in The Herald Tribune vom 2. August 2008 (Marazzi 2009: 116).

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genealogische Analyse der Gegenwart im Hinblick auf ihre Verstrickung mit der Ökonomie in den Blick zu nehmen. Deshalb räumt dieses Buch dem analytischen Schema der Bioökonomie einen wichtigen Platz ein, zumal in Deutschland diese Dimension der Biopolitik und die ökonomischen Transformationen der Gouvernementalisierung nur punktuell, wenn auch gewichtig, Gegenstand der Forschung geworden ist14 , ohne ein Paradigma ausgerufen zu haben. Dass es eines solchen, interdisziplinären Paradigmas im Jahr 2012 durchaus bedarf, belegt die Suche nach einer neuen, interdisziplinären Orientierung von Seiten der Wirtschaftswissenschaften selbst. Es ist sicher nicht zufällig, dass die italienische und italienischsprachige Politische Philosophie mit dem Verhältnis von bíos und oikonomía das Augenmerk auf die in heteronymer Funktion erfolgende Valorisierung des Lebens richtet. Zum einen steht dies in der Tradition der italienischen linksintellektuellen Kapitalismuskritik (operaismo), etwa bei Christian Marazzi; zum anderen werden Bezüge zum französischen Poststrukturalismus und der Psychoanalyse hergestellt, wie im Falle von Laura Bazzicalupo, die in Anlehnung an Derridas Analyse der Marx’schen Gespenster (1993) die hantise, d.h. die Bedrohung der die Finanzwirtschaft bewohnenden Phantasmen mit den Kategorien der Lacan’schen Libido-Analyse beleuchtet.15 Im Zuge der Analyse unserer Gegenwart wird deutlich, über welch enorme Durchschlagskraft das Paradigma der Biopolitik und der Gouvernementalität verfügt, wenn man dieses in die Nähe der Bioökonomie stellt. Insofern zeichnen sich für die politische Philosophie spezielle Aufgaben ab, sodass in Italien eigens verschiedene Zentren gegründet wurden, wie das von Laura Bazzicalupo geleitete Zentrum für Bioökonomie und Subjektivierungsprozesse an der Universität von Salerno.16 Somit versteht die italienische Philosophie unter Bioökonomie genau das Gegenteil dessen, was in Deutschland damit assoziiert wird. Hierzulande haben die Zentren für Bioökonomie die Funktion, die maximale ökonomische Nutzung technologischer Innovation zu sichern; so rief z.B. die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) den Berliner »Forschungs- und Technologiebeirat Bioökono14 | Neben Vogl (2002), Vogl (2010) verweise ich auf Bröckling/Krasmann/Lemke (2000) und mit Bezug auf Foucaults Analyse des Neoliberalismus auf Plehwe/Walpen (2006). 15 | Ebenfalls Derrida folgend, für den der Geist des Marxismus im gegenwärtigen säkularen »Krieg der messianischen Ideologien« als eine Kulturform des »Messianischen ohne Messianismus« zu einem Agens werden konnte, analysiert Vogl das Unerledigte an der kapitalistischen Welt als ein Zeugnis für das Unerledigte der Marx-Erbschaft (Vogl 2010: 99). 16 | Zum Spannungsverhältnis von Biopolitik und Bioökonomie im Hinblick auf die Subjektivierungsprozesse vgl. Amendola/Bazzicalupo/Chicchi/Tucci (2009). Vgl. auch Bazzicalupo (2004), Bazzicalupo (2010).

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mie« ins Leben. Biopolitische Argumente hinsichtlich der Kontrolle, Steuerung und Erhaltung des ›biologisch wertvollen Lebens‹ dürften wohl eher das Beiwerk von Bioethik-Kommissionen und Nachhaltigkeitsdiskussionen sein, oder wenn es darum geht, Folgen technischer Entwicklungen abzuschätzen. Die Bioökonomie zielt auf die im Neoliberalismus noch radikaler gewordene Paradoxie ab, welche das Verhältnis zwischen dem Leben des Einzelnen und der Makroökonomie kennzeichnet. Einerseits greift die Ökonomie in die Prozesse der Subjektivierung ein: Das Leben jedes Einzelnen wird zum Kapital. Ein prekäres Kapital, das jederzeit riskiert, sich in sein Gegenteil zu verkehren, ins wertlose, »nackte Leben«. Andererseits durchdringt die (psychophysische, psychoanalytische, sinnliche) Komplexität von Subjekten den scheinbar mathematisierten Raum des Ökonomischen. Das Pikante dieser These ist, dass die Bedingungen der Freiheit des Menschen dem Markt und der Markt seinerseits den Subjektivierungsprozessen unterstellt sind. Die Bioökonomie fokussiert deshalb den Artikulationsraum der Gouvernementalität, der einerseits die ökonomischen Unterwerfungstechniken von Subjekten unter heteronomen Bedingungen umfasst und andererseits die sich autorisierenden oder dieser Heteronomie in besonderer Weise widerstehenden Subjekte ermöglicht. In diesem Artikulationsraum wird es nämlich möglich, die Ökonomie vom Begehren her kritisch zu analysieren. So beleuchtet beispielsweise Laura Bazzicalupo in diesem Band den strukturellen Knotenpunkt im gesellschaftlichen und partikulären Imaginären, auf dem die liberale bioökonomische Gouvernementalität gründet: die Konstruktion von Subjektivität und die Verschiebungen in der symbolischen Ordnung. Die Kosten der Unterordnung von subjektivem Leben unter die zuwachsorientierte Ökonomie werden dabei sichtbar. Schon hier wird klar, dass die Analyse der Gegenwart durch die Bioökonomie und die damit verbundenen Subjektivierungsprozesse die These der Freiheit des Menschen als Unternehmer seiner selbst auf den Kopf stellt. Indem die Beiträge zum Thema der Bioökonomie darauf eingehen, eröffnen sie überaus spannende Perspektiven, von der Analyse des Phantasmatischen am immateriellen Kapitalismus (Laura Bazzicalupo) über das Aufzeigen der Unfreiheit der Subjekte im Spinnennetz einer Agency, deren Logik nicht die des partikulären, im materiellen Leben situierten Subjekts ist (Christian Marazzi), bis hin zur Entmythisierung der Opposition von Neoliberalismus und sozialer Marktwirtschaft, die nur die deutsche Variante der Durchsetzung vom Liberalismus ist (Thomas Bedorf). Letzterer zeigt mit Foucaults Genealogie der Gouvernementalität, dass die neoliberale Gouvernementalität das Legitimierungsverhältnis von Staat und Markt umkehrt, Risiken privatisiert und Verantwortungen individualisiert. In der politischen Ökonomie des Liberalismus ist der Markt nicht mehr der Ort des Rechts, der Regulierung und der Gerechtigkeit. Vielmehr wird der Markt zum Regulativ, weil sich dessen natürliche Mechanismen zu Wahrheitsstandards transformieren. Infolge der neoliberalen Dezentralisierung regiere dann

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der Staat durch »Überlassung«, so Bedorf. Die Regierung der Bevölkerung als Population hat dabei ihr Pendant in der Aktivierung der einzelnen Spieler am Markt, so die zweidimensionale Antwort der heute regierenden neoliberalen Gouvernementalität. Der Neoliberalismus mutiert somit zur wirtschaftspolitischen Entsprechung, zum biopolitischen Sicherheitsdispositiv. Die ›bioökonomische‹ Frage nach der Potenz des einzelnen Menschen im Artikulationsraum zwischen Regiertwerden und Selbstregieren schließt hier an: Welche Arten der Kunst des Selbstregierens gibt es?

B IOPOLITIK UND B IOÖKONOMIE : A RTEN DES R EGIERENS Z WISCHEN B IOMACHT UND G OUVERNEMENTALITÄT Die in Naissance de la biopolitique vollzogene Historisierung der Transformation der Biomacht im Liberalismus des 19. Jahrhunderts hatte die Rationalität des Staates dekonstruiert und die Ökonomie der Macht gezeigt. Aber schon in Surveiller et punir – la naissance de la prison (vgl. Foucault 1975) wurden die Grundlagen des sich im 18. Jahrhundert ereignenden Übergangs zur Produktivität des sozialen Körpers beschrieben. Die Ökonomie der Geburt des Gefängnisses ist die Produktivmachung devianten Lebens.17 Infolge von Individualisierungsund Kollektivierungsprozessen geht der einzelne Körper im sozialen Körper auf (er verschwindet gar in ihm), durch dessen Schutz sich allmählich der Staat legitimiert. Beim Zusammenspiel von Individualisierung und Kollektivierung entsteht ein Artikulationsraum zwischen Regieren und Selbstregieren. Dies lässt zwar die Biomacht – die souveräne Macht der Politik über das Leben – hinter sich, gestaltet aber die Ausübung der Macht weitaus ausgeklügelter und vielfältiger. Verschiedene Dimensionen stehen im Fokus von Foucaults Analyse. Diese umfassen a) Institutionen, Prozesse, Kalküle und Taktiken, die als Konglomerat ein vorrangig auf die Bevölkerung ausgerichtetes Regieren erlauben; b) Wissensformen, die zunächst den Merkantilismus, dann ab dem 17. und 18. Jahrhundert eine auf die Physiokratie und Ökonomie gestützte politische Ökonomie etablieren; c) Technische Instrumente, wie die Sicherheitsdispositive (Polizei) und die Überwachung der Gesundheit des sozialen Körpers (Medizin). 17 | Als Modus der Vergesellschaftung impliziert die Ökonomie Dimensionen der Disziplinierung, der Normalisierung und der Sexualisierung. Während sie zunächst Machtbeziehungen und eine rationale Machtausübung beschreibt, schließt sie im Rahmen von Foucaults »Genealogie der Machtbeziehungen« die Analyse der politischen Ökonomie des Körpers, der Bevölkerung und der Wahrheit mit ein. In der von mir betreuten Magisterarbeit fragt Thomas Krämer nach dem Verhältnis zwischen dem Aufkommen der kapitalistischen Ökonomie und der ihr inhärenten und disziplinierenden Körperpolitik (vgl. Krämer 2011).

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Die sich im Abendland zunehmend als Kunst des Regierens etablierende Macht wird genealogisch analysiert (vgl. Foucault 1994: 655). Das ›Regieren‹ beginnt in der politischen Theorie um 1500. Ein Verwaltungsstaat etabliert sich, welcher sukzessiv Techniken der Gouvernementalisierung, nämlich der Regierung von Bevölkerung, entwickelt. Nicht mehr das Territorium, wie beim souveränen Staat, sondern die Bevölkerung wird zur Quelle staatlichen Reichtums. Während der Staat die Einheit der Bevölkerung im Visier hat und damit biopolitisch agiert, erfolgt das Regieren in der paradoxalen Form von Techniken des Selbstregierens, welche durch die Multiplikation der Kontrollinstanzen – oder neoliberal ausgedrückt, der Mediatoren – mit Prozessen der Kollektivierung zu rechnen haben. Die Spannung zwischen Subjektivierung und Kollektivierung ist das Feld der Gouvernementalitätsanalyse, deren Komplexität mit der Steigerung der Technologien und dem damit verbundenen Zuwachs an Macht exponentiell wächst (vgl. Foucault 1994a: 576). Das Spektrum der Möglichkeiten in diesem Artikulationsraum – den Jean Jacques Rousseau mit dem Agon zwischen Einzel- und Gemeinwillen, der Kernfrage des Contrat social, eröffnet hatte – ist sehr groß,18 die Dynamik der Artikulationen inzwischen jedoch prekär. Diese Dynamik umfasst, wie wir bereits gesehen haben, Phänomene wie das Wiedereinsetzen der Biomacht durch die Finanziarisierung des Lebens oder durch die Gewalt als nómos der Moderne (Giorgio Agamben), eine Gewalt, die sich jedenfalls konkret in den politischen Praktiken im Umgang mit Migration äußert. Im Gegenteil dazu zeigt sich auch ein Vertrauen in die Agency von Subjekten, die sich als »Unternehmer ihrer selbst« organisieren. So ist bei der Interpretation von Naissance de la biopolitique der Bogen zwischen zwei Extremen gespannt: auf der einen Seite die zerstörerische Biomacht und auf der anderen Seite die Interventionsräume von in Netzwerken organisierten Subjekten. Zur Diskontinuität der Rezeption hat auch die begriffliche Unschärfe von biopolitique und gouvernementalité beigetragen, eine Foucault’sche Schöpfung, deren Bedeutung konträr debattiert wurde.19 Aber 18 | Mit Rousseaus Contrat social eröffnet sich dieser Artikulationsraum, der indes zu internen Abspaltungen führt, die bis heute andauern. Zur Wirkung in Lateinamerika, nämlich sowohl im Sinne der langen Latenz der Abspaltungen als auch im Sinne »BioPoetik der Literatur« (vgl. Borsò vorauss. 2014). 19 | Selbst in Bezug auf die Herkunft der Bezeichnung »gouvernementalité« herrscht kein Konsens. Während Bröckling et al. (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 8) das Wort als semantische Verbindung von ›Regieren‹ (»gouverner«) und ›Denkweise‹ (»mentalité«) interpretieren und es mit Regierungsmentalität übersetzen, benutzt es Foucault eindeutig, um a) die Praktiken, b) diesen im Abendland tendenziell überwiegenden Typus des Regierens und c) das Resultat der Prozesse zu fassen, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert mit einem verwaltenden und später gouvernementalisierten Staat begannen (Foucault 1994: 655).

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nicht nur die Begriffe, sondern auch die Phänomene sind nicht definitiv zu bestimmen. So steht Biopolitik für die Analyse verschiedener Formen der Unterwerfung des Lebens unter die Rationalität des Regierens. Diese umfasst unterschiedliche Ausprägungsgrade der Produktion von Macht bis hin zur Gewalt: Bíos sei in der Polis ein Effekt der intimen Liaison von politischer Rationalität und Gewalt, so die Grundlage von Homo sacer (vgl. Agamben 2002), der Trilogie von Giorgio Agamben, ausgehend von Walter Benjamins »Kritik der Gewalt« (vgl. Borsò 2006) und der Radikalisierung von Hannah Arendts Begriff des »nackten Lebens« (vgl. Borsò 2010a). Mit dem Souveränitätsparadigma von Carl Schmitt lässt Agamben indes die Historizität der Biomacht, das Hauptmoment von Naissance de la biopolitique, beiseite. Auch die Verstrickung von Politik und Ökonomie wird von Agamben zwar genealogisch, jedoch mit einem theologischen Axiom analysiert (vgl. Agamben 2007). Als dekonstruktive Analyse dient die Biopolitik wiederum bei Roberto Esposito zum Aufzeigen der Leere im Zentrum von Grundkonzepten der politischen Rationalität und Ethik, wie z.B. das Konzept der Person (vgl. Esposito 2007, 2010). Die Frage, ob mit Biopolitik nicht nur eine Kritik an der politischen und epistemischen Heteronomie des Lebens durchgeführt, sondern auch der Raum für eine »affirmative Politik« des Lebens geöffnet werden kann, ist ernst zu nehmen. Sie ist Thema des zweiten Bandes mit Essays von und über Roberto Esposito (Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik). Die Gouvernementalität, die im Zentrum des hiesigen Bandes stehende Kunst des Regierens, umfasst so unterschiedliche Dimensionen, Formen, Felder und Praktiken des Regierens und Selbstregierens von Individuen und Kollektiven, dass die Richtung und die Ansätze der davon inspirierten Analysen stark divergieren. Die Veränderung der Regierungstechniken in liberalen und neoliberalen Gesellschaften hat zum sozialwissenschaftlichen Paradigma der Gouvernementalität geführt, infolgedessen seit mehr als zehn Jahren eine unschätzbare Rezeptionsarbeit der letzten Schriften Foucaults in Deutschland geleistet wird.20 So ist die institutionelle Rationalität des Regierens der Bevölkerung Thema unzähliger Publikationen, die verschiedene Felder und Techniken der Gouvernementalität behandeln, ausgehend von Fragen der Erziehung bis hin zu Sozialarbeit. Zunehmend wird auch nach der Transformation des Sozialen durch technologische Netzwerke gefragt, die Subjektivierungsprozesse und Formen des Selbstregierens ermöglichen sollen. Die Analyse ihrer Dynamik reicht bis hin zum Gesundheitssektor, insbesondere unter der Federführung von Paul Rabinow und Nicolas Rose. Es wird die Selbstorganisation von Biosozietäten untersucht und gezeigt, dass virtuelle Netzwerke von Patienten regelrechte biocommunities etablieren, welche als Regulatoren eigener Gesund20 | In Deutschland waren für dieses Paradigma u.a. maßgeblich Lemke (1997) und Pieper/Gutiérrez Rodríguez (2003).

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heitspolitiken ein Gegengewicht zur institutionellen Gesundheitsverwaltung darstellen (vgl. Rose 2000: 77, 2006; Rose/Miller 2008). Damit wird das gesamte Spektrum von Patienten- und Bürgerethik sowie Fragen der Gesundheitsmündigkeit, präventiver Optionen und diagnostischer Möglichkeiten erfasst. Das Subjekt sei heute ein Unternehmer von Gemeinschaften, deren Organisationsformen abhängig sind vom Habitus, von der Ethnie, von ökonomischen oder virtuellen Räumen, von etwaigen Gruppeninteressen oder beispielsweise transgender. Die individuelle Abwägung des Risikoschutzes ergäbe sich nicht mehr aus dem moralischen Rahmen eines contrat social, vielmehr werde die Sicherheit durch die von Subjekten betriebenen Netzwerke garantiert. Umgekehrt steht dabei auch die Transformation von Gesellschaft durch ihre Biologisierung auf dem Prüfstand. Die zeitgenössische Anthropologie von Paul Rabinow untersucht die Neukonfiguration der sozialen Verhältnisse mittels biologischer Kategorien (vgl. Rabinow 2004), und auch Nikolas Rose geht es um eine Kartierung der Gouvernementalität der Gegenwart (vgl. Rose 2006). Indes gilt, dass das für diese neuen Konzepte des Sozialen grundlegende Vertrauen in die subversive Dynamik von Subjektivierungspraktiken und Netzwerken biopolitisch beziehungsweise bioökonomisch dekonstruiert werden müsste, will man nicht ins Utopische abdriften. Aus bioökonomischer Sicht wäre etwa zu fragen, inwieweit die Potenz des Subjektes, auf die sich das neoliberale System gründet, als transversaler Widerstand gegen die ökonomische und politische Macht über das Leben eigentlich noch Bestand hat. Überdies muss klargestellt werden, dass auch bei der Selbstorganisation von Subjekten neue Arten von Marginalisierung entstehen; dies betrifft insbesondere diejenigen, die über die Technologien des Selbst nicht verfügen. Deshalb muss auch die Dimension des medialen Regierens in Augenschein genommen werden. Wie sehr die Hypostasierung der Agency von Subjekten ins Utopische abgleiten kann, wenn die mediale Vermittlung nicht bedacht wird, zeigt u.a. der hiesige Beitrag von Jörg Bernardy. Anhand von Agambens Feststellung der ›Entsubjektivierung‹ durch Medienkonsum behandelt Bernardy das Phänomen des Mentalen Kapitalismus beziehungsweise des Medialen Neurokapitalismus oder auch des Kognitiven Kapitalismus, verfügen doch Massenmedien, Großbanken und Großunternehmer über Aufmerksamkeit und gesellschaftliche Anerkennung. Insbesondere Medien sind zum Verwalter dieser Ressource geworden. Infolge der Zentralität der Aufmerksamkeit haben sich neue Kapitalismustheorien entwickelt, und es sind neue Felder wie Neurophilosophie, Experimentelle Philosophie, Neuropsychologie, Neurobiologie etc. entstanden, die, so Bernardy, durch das Sammeln empirischer Daten zu Agenten dieser neuen Ressource werden. Auch Danilo Mariscalco geht von der Annahme aus, dass im kognitiven Kapitalismus die Arbeit den Akkumulationsgesetzen der Ökonomie unterworfen ist und fragt, inwieweit sogar kritische und transgressive Tendenzen von Kunst kommerzialisiert werden, sind sie doch wesentlich für ein Wirtschaftssystem,

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das durch Transgression eine kontinuierliche Erneuerung der kulturellen Codes garantiert und so die Ware aufwertet. Derartige Transformationen des Antagonismus von Kunst und Kommerz überprüft Mariscalco anhand der kulturellen Produktion der italienischen 77er-Bewegung. Seit der Aufklärung reguliert die Verwicklung von Politik, Ökonomie und Ästhetik in diskontinuierlichen Konfigurationen das Leben. Diese Verwicklung ist eine Quelle von Produktionsprozessen, deren Paradoxien oder Ambivalenzen in diesem Band aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Dabei gilt die Tatsache, dass die Rationalität ökonomischer Prinzipien das Leben regiert, nicht nur für »kapitalistische« Systeme. Dies zeigt Tiziana Urbano mit ihrer Analyse von Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand und anhand des Briefwechsels der Autorin mit Hermann Henselmann, dem Chef-

architekten von Ost-Berlin. Aus beiden Textsorten erarbeitet Urbano eine biopolitische Analyse sozialistischer Stadtgestaltung, die auf den Prüfstand der Bioökonomie gestellt wird. Die Lebensferne einer der Rentabilität und der Menge verpflichteten Architektur wie die Plattenbauweise der ehemaligen DDR wird im Roman und in der Korrespondenz von Brigitte Reimann, selbst Kritikerin dieser Architektur und Verfechterin einer der Lebensqualität gerechten Bauweise, besonders deutlich. Schließlich zeigt sich, dass unter den Bedingungen der Kunst die extremen Konsequenzen des Produktivitäts- und Zuwachsprinzips in verstörender Weise sichtbar werden können. Dies ist der Fall im Modell einer ›Stadt der Sklaven‹ des niederländischen Künstlerkollektivs van Lieshout. In ihrem virtuellen Durchgang durch die Ausstellung zeigt Angela Weber, wie biologische Daten des menschlichen Körpers zum Verwertungsmaterial gemacht und sich global abzeichnende gesellschaftliche Entwicklungen – wie Zwangsarbeit, Lager und Prostitution – zu einer monströsen Gesellschaftsidee verdichtet werden, in der Profitmaximierung, absolute Machtausübung und Kalkulierbarkeit von Leben zu den obersten Prinzipien des Staates werden. Die Verwertung des Menschen ist in van Lieshouts Modellstadt mechanisiert und technologisiert, ohne dass Räume für die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Verwertungspraktiken noch bestünden. Ästhetische Experimente bringen die Frage nach der Ökonomisierung und der Verwaltung des Lebens auf eine ebenso konkrete wie elementare Dimension: »Was ist Leben für wen?« Wie komplex indes diese Frage ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Behandlung des Verhältnisses von Macht, Geld und Sexualität bei der Debatte über die Prostitution. Giorgia Serughetti behandelt dieses Problem anhand der feministischen Forderung nach Agency und Selbstdefinition von Frauen im Bereich der Sexualität und zeigt, dass die nach Michel Foucault und Judith Butler paradoxale Ökonomie des Subjektes einseitige Antworten nicht zulässt, denn – so das Prinzip der Subjektivität und der Gouvernementalität – Unterwerfung und Agency sind zwei Seiten einer biopolitischen Medaille.

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B IOPOLITIK UND B IO -P OE TIK : D ER ANDERE B LICK AUF DIE K UNST DES R EGIERENS Auch die Kunst ist Teil von Regierungspraktiken. Macht und Ästhetik stehen in keinem akzidentiellen, sondern in einem notwendigen Verhältnis zueinander. Schon deshalb ist Kunst bei der Untersuchung von Chancen und Gefahren des Regierens des Lebens unverzichtbar. Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass Subjekte in ästhetischen Inszenierungen verkörpert und konkret situiert werden. Der Artikulationsraum zwischen Regieren und Selbstregieren aktualisiert sich in der Verkörperung; die Materialität des Mediums transformiert sich damit zu einer regelrechten Bühne der Verhandlung zwischen konkretem Leben und kollektiven Lebensformen. Schon hier mag klar geworden sein, dass es bei der Relation von Biopolitik und Ästhetik nicht um das evolutionsbiologistische Verständnis von Biopoetics gehen kann, wie es der US-amerikanischen Forschung seit den 1990er Jahren zugrunde liegt (vgl. Cooke/Turner 1999). Der Bindestrich in Bio-Poetik betont vielmehr die Differenz von Leben, Lebenswissenschaften und Poetik21, während im Sinne von Biopoetics Literatur und Kunst anhand von evolutionswissenschaftlichen und chaostheoretischen Theoremen untersucht werden – eine Gefahr, die bereits in der begrifflichen Synthese der ›Lebens- und Literaturwissenschaften‹ lauert. Letztere haben dabei die Deutungshoheit für die kausale und experimentelle Untersuchung literarischer oder poetologischer Phänomene. Auf diese Art und Weise wird der Raum der ästhetischen Bühne eben gerade nicht sichtbar, über den man aber Zugang zu den Artikulationen oder Spannungen der Produktion von Lebenswissen und der Aktualisierung von Lebensformen gewinnt. Dennoch muss man sich, wie es Michele Cometa in seinem Aufsatz tut, mit dem US-amerikanischen Paradigma der Biopoetics konfrontieren, um sich mit den »unangenehmen Verwandten« auseinanderzusetzen, will man ihre phantasmatische Wiederkehr »durcharbeiten«. Derartige Revenants können, um nur einige zu nennen, der Reduktionismus der Evolutionspsychologie, der Kryptorassismus und die Metaphysik der Ursprünge des literarischen Darwinismus sowie die Homophobie der sexuellen (und natürlichen) Selektion sein. Ausgehend von einer historischen Semantik behandelt Cometa den Zusammenhang zwischen den Begriffen ›Kompensation‹ und ›Anpassung‹ und zeigt tiefe gemeinsame Wurzeln auf, selbst wenn sich die Geistes- und Naturwissenschaften in der kritischen Tradition des 20. Jahrhunderts voneinander entfernt haben. Wenn wir mit der ›Bio-Poetik‹ den biocultural turn der Literaturwissenschaft einläuten und uns der Herausforderung der Grenzen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aussetzen, erfolgt dies aus dem Wunsch heraus, den Kulturalismus des 20. Jahrhunderts zu verlassen – eine Notwendigkeit, für die es 21 | Zur Programmatik der »Bio-Poetik« vgl. Borsò (2010).

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derzeit verschiedene Symptome gibt (vgl. Borsò 2012b). Das Programm eines biocultural turn der Literaturwissenschaft könnte mit der Rekonstruktion einer in Literaturtheorie wie auch in den Lebenswissenschaften operablen, gemeinsamen Sprache starten, die gewiss den unterschiedlichen Kontextualisierungen und Materialisierungen von Wissen Rechnung tragen muss. Gemeinsame Begriffe könnten sein: Universalien, Genuss, Spiel, Empathie, Replikation/Imitation, Iteration, Entlastung, Katharsis u.a.m. Ästhetische Prozesse könnten Beiträge zur Epigenetik, jenem zwar keineswegs unbestrittenen, jedoch letztlich nicht zu leugnenden Bereich leisten, den die Biosciences als Problem ermittelt haben, ohne hierfür alleinig Lösungen anbieten zu können. Hierunter zählen beispielsweise auch die noch offen gebliebenen Prozesse, welche die Lebensqualität bestimmen und mit bis zu vierzig Prozent Einfluss auf die Entscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit sowie auf die Alterungsprozesse haben können. Hier gilt es im Gespräch mit den Biosciences auch ungewöhnliche Perspektiven und Handlungsoptionen zu suchen, welche das Leben als Ressource auch jenseits verbürgter Konzepte von qualitativem Leben verstehen. Band II Wissen und Leben – Wissen für das Leben will mit der Thematisierung des Verhältnisses von Epistemologie und Leben philosophische, ästhetische und methodologische Beiträge dazu liefern. Welche Methodologie verbirgt sich hinter dem Begriff der ›Bio-Poetik‹? Seit Aristoteles obliegt der Poetik die Untersuchung von Repräsentation, Affekt, Form und Materie, ein spezielles Wissen also, dessen autopoetische Kräfte (vgl. Maturana 1985) sich in der Darstellung von Produktionsprozessen politischer und ökonomischer Lebensformen materialisieren. In diesen sind abzulesen: erstens die Rationalität der Ökonomie bei der Organisation von Leben, zweitens die Darstellungsweisen, welche die Wissensproduktion überhaupt erst ermöglichen und drittens die supplementäre Dimension der Darstellung, die auch Widerstände oder Alternativen enthält.22 In Kunst und Literatur fallen Produktionsverfahren in die Domäne der Ästhetik, welche nicht allein jene der prozessualen Wissensproduktion im Bezug auf das Subjekt und die Gemeinschaft umfassen, sondern auch unterschiedliche Darstellungsweisen und die damit verbundenen Arten der Wahrnehmung. Aisthesis verstehen wir also im Sinne von Aisthesis materialis (vgl. Dotzler/Müller 1995), was sowohl das konkrete Aufsuchen der Materialität der Darstellung als auch die Beschäftigung mit Prozessen beinhaltet, die seit der späten Phänomenologie (vgl. Merleau-Ponty 1945, 1964; Waldenfels 1999) nicht allein dem System der Künste vorbehalten sind. 22 | Erstes und Zweites hat Joseph Vogl für das 18. und 19. Jahrhundert analysiert. So hat die Konjunktur von ›Literatur‹ und ›Ökonomie‹ in seiner Studie das Ziel, »das Wissenssubstrat poetischer Gattungen und die poetische Durchdringung von Wissensformen aufeinander zu beziehen und beide damit im Milieu ihrer Geschichtlichkeit festzuhalten« (Vogl 2008: 14).

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Mit der Formulierung »Poetik des Lebens« wird hier eine Darstellungsform des Lebens angesprochen, die durch den supplementären Charakter ästhetischer Repräsentationen (vgl. Derrida 1967; Deleuze 1993)23 Raum für Widerstände, Entgrenzungen, Transgressionen und alternative Ordnungen schafft. ›Bio-Poetik‹ meint also die methodische Konzentration auf die durch Überschüsse, Unterbrechungen oder Leerstellen in der Materialisierung von Lebenswissen entstehende Selbstreflexivität der Darstellung, die als Verkörperungseffekt auch andere Formen der Wahrnehmung ermöglicht. Diese ›andere‹ Optik macht eine Analyse der Kosten des Lebens möglich, die sich aus der jeweiligen Unterordnung unter die ökonomische Rationalisierung, Macht oder Gewalt ergeben. Zu fragen ist deshalb, inwieweit ›Bio-Poetik‹ in dem hier gemeinten Sinn von aisthesis nicht auch eine Politik des Ästhetischen impliziert, die Friktionen in die Tauschlogik der Verwaltungstechniken einzuschreiben vermag, zu einer anderen Aufteilung des Sinnlichen (vgl. Rancière 2000) führen kann oder der Potenz des Materiellen als Erfahrung von Präsenz (vgl. Nancy 1993; Gumbrecht 2004) jenseits von Teilung und Kommunikation Raum lässt und schließlich zu einer Ethik des Angesprochenwerdens durch den Anderen kommen kann.24 Pier Paolo Pasolini erachtete tatsächlich die Funktion des Ästhetischen als politisch. Kunst sollte die Poetizität des Lebens wiedergeben und Friktionen in die Tauschlogik der Verwaltungstechniken einschreiben. Die Poetik des Lebens und des cinema di poesia gelangt in Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975) ans Ende.25 Denn dieser Film ist ein Theater, welches Biomacht und Produktion von nacktem Leben inszeniert – so Manfredi Bernardini in seinem Aufsatz mit Bezug auf Agambens These, im letzten Film Pasolinis werde die Sexualität zum bloßen physiologischen Leben reduziert, dessen Sinn einzig und allein politisch sei. Menschliche Körper und sexuelle Beziehungen sind bloßes Material für ein dem Konsum gewidmetes System. Mit der Zertrümmerung der Subjekte im grausamen, totalitären Raum von Pasolinis Salò ist auch der Artikulationsraum der Macht abgeschafft; Macht ist zur puren Gewalt geworden.26 Genau dies wird in dem in gewisser Weise postpasolinianischen Kino der palermitanischen 23 | Zur Programmatik vgl. zuletzt Borsò (2012a). 24 | Judith Butler teilt Levinas’ Konzept der Anrufung zwar nicht, entfaltet jedoch die Bedeutsamkeit der »Materie des Körpers« als Verletzlichkeit und Offenheit zur Exteriorität des Anderen (vgl. Levinas 1987) und als Grundlage einer Analyse der ethischen Verantwortung angesichts der Totalität von Gewalt. Anrufung kann gewaltsam sein; Verletzlichkeit bleibt eine Ansprache in der Gewalt (vgl. Butler 2004, Butler 2007). 25 | Zu Pasolini und dem Ende des cinema di poesia im Sinne des Endes des Willens zum Leben vgl. Borsò/Borvitz (2013). 26 | Ich beziehe mich auf Foucaults Essay Subjekt und Macht. Während die Macht vom Ort der transversalen Kämpfe aus analysiert wird (Foucault 1987: 245), und zwar als sich im Beziehungsverhältnis ereignende bidirektionale Kraft, die einen unterwirft und

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Experimental-Regisseure Ciprì und Maresco radikalisiert. Es führt eine Welt vor Augen, die im Zeichen der Krise steht: der Sprache, der Kommunikation, der Ikonographie selbst. Eine Krise, die zur Auflösung der menschlichen Kulturund Wertegemeinschaft führt. Sieglinde Borvitz zeigt, dass diese Kinoautoren programmatisch Friktionen schaffen, die der herkömmlichen Tauschlogik von Macht und Repräsentanz abträglich sind. In Pasolinis späten Filmen und im postpasolinianischen Kino definiert sich die Beziehung zwischen Politik und Leben stets unter dem Gesichtspunkt der Unterlegenheit des Lebens. Es zeigt sich, dass gerade die Bedingungen der Gouvernementalität, welche ohne die souveräne Androhung des Todes auskommt und zugunsten der Produktivität »Leben machen« will, durchaus extrem bedroht werden können. Roberto Giambrone behandelt die intime Verwicklung von Theater und Wahnsinn. Diese Verwicklung gehört zur Gründungsszene der Psychotherapie, etwa im Falle der Hysterie, die in Charcots ›Sprechzimmer-Theater‹ an der Salpêtrière klare Züge einer Inszenierung aufwies und die Patienten zu Komplizen werden lies. Umgekehrt fällt die Zunahme von Symptomen im expressiven Tanz (Ausdruckstanz und Tanztheater) auf. Je mehr man versucht, die unterdrückte Energie und das unterdrückte Unbewusste zu befreien, umso mehr muss der neurotische Überschuss, sprich die motorische Übererregung beschränkt und diszipliniert werden. Alle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, obschon revolutionär und libertär, scheinen dies zu bestätigen. Umgekehrt zeigt die gewollte Vermischung von Fakten und Fiktion in Strage (1990), dem unter dem Pseudonym Jules Quicher zehn Jahre nach dem Attentat von Bologna publizierten Roman, den Wahnsinn einer Gesellschaft – wie Italien und Deutschland der 1970er Jahre –, die unter dem Bann des Terrorismus steht, durch den alle Bürger zu potenziellen homines sacri werden können, so die Analyse von Nicole Welgen. Inwieweit Macht- und Blickdispositive die im Kontext der Hypervisualität des Bildschirms nötige Transformation von Subjektivierung als Mediatisierung des Selbst unter den Bedingungen einer social tele-proximity möglich machen, ist die Frage, der Valentina Mignano anhand des Chiasmus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit (Merleau-Ponty) sowie von Visualität und Macht (Foucault und Mirzoeff) nachgeht.

B IOPOLITIK DER M IGR ATION : Z UR B IO -P OE TIK DER B E WEGUNG ALS ANTHROPOLOGISCHE F IGUR Wie sehr die biopolitische Analyse auch Handlungsoptionen für den Umgang mit konkreten Lebensformen zur Verfügung stellt, zeigt sich nicht zuletzt an»zu jemandes Subjekt macht« (Foucault 1987: 246f.), ist Gewalt die Vernichtung des Widerstandssubjekts durch Einwirkung auf seinen Körper.

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hand der Grauzone struktureller Fremdheiten, angesichts derer die Exklusions- und Inklusionsmatrix aktiv wird, welche persönliche und politische Entscheidungen bestimmt – von der Begegnung des »Ausländers« im Alltag bis hin zur Ausgrenzung und Auslöschung der politisch, kulturell, (krypto-)rassistisch ausgeschlossenen Anderen. Derartige Ausgrenzungen nisten mitten in unseren Metropolen (vgl. Borsò 2012) und in den Nicht-Orten des Transits wie Flüchtlingslagern, Container-Dörfern, Flughäfen usw. oder implodieren in Diktaturen und Fundamentalismen an den sogenannten Rändern und in den Lücken globaler Demokratien. Eine Reihe von Beiträgen widmet sich dieser Frage, ohne sich jedoch im Zuge der Analyse allein auf Kritik zu beschränken. Vielmehr werden mit bio-poetischem Blick auch der Widerstand des Lebens und die Transformationskraft von Lebensformen offen gelegt, zu deren Bildung »die Freiheit des Migranten« befähigt (vgl. Flusser 2000). So zeigt Federica Marzi anhand der Rolle Italiens als »Ausfuhrland von Arbeitskräften«, wie Literatur die Verwaltungstechniken »legaler« Arbeitsmigration im Hinblick auf das biologische und politische Leben reflektiert. Hierbei wird die in den gouvernementalen Verfahren latente Biomacht sichtbar: Dirigismus, rationelle und zielgerichtete Verwaltung durch Kommissionen, staatlich bilateral vereinbarte Rekrutierungen am Herkunftsort sowie die Errichtung eines bürokratischen und propagandistischen Apparats durch ein ganzes transnationales Netz von ad hoc geschaffenen Einrichtungen und institutionellen Orten. Eine bio-poetische Analyse ergibt auch, dass die Literatur in eine Reihe fester, blockierter und allgemeiner Bilder eingreift, um andere, mobile und vielfältigere Darstellungen hervorzubringen. Giorgio Sciabica geht explizit auf die Konzepte Biomacht und Mobilität ein, um die unsichtbare, todbringende Verwicklung von souveräner Macht und Migration zu beleuchten. Waren, Informationen, Begehren beeinflussen tief die Taktiken und Strategien von ›legalen‹ wie ›illegalen‹ Migranten. Wenn man, wie Sciabica, diese mittels der materiellen Effekte der Biomacht beschreibt, werden die ambivalenten Grauzonen globaler Netzwerke deutlich, die imaginierte und begehrte Vehikel zur Freiheit und zugleich Dispositive der Ausnutzung menschlichen Lebens sind, etwa durch illegale Schlepperorganisationen. Die aporetische Struktur der Formation moderner Subjekte als Träger von Freiheit und Unterdrückung wird besonders im Beitrag von Serena Marcenò anhand der israelitischen Migrationspraktiken von Beta Israel sichtbar, der Gemeinschaft der zwischen 1984 und 1991 nach Israel umgesiedelten äthiopischen Juden. Am Beispiel der Praktiken des israelischen Staates zeigt sich, dass der moderne Staat die Fähigkeit des Subjektes zum politischen Handeln nur im Sinne eines Rechtsubjektes zulässt und mit der Negation der Selbstautorisierung Subalternität produziert. Die paradoxalen Techniken der Eingliederung durch den Staat produzieren eine Aufspaltung, wodurch die Relation zwischen der Aufnahmegemeinschaft und der Migrantengruppe hegemonial bleibt, obwohl sie zugleich einen juristischen Emanzipationsprozess darstellt.

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Gerade durch die Migrationspraktiken werden die internen Aporien der biopolitischen Regierungstechniken westlicher Kulturen eklatant sichtbar: Prozesse der Kollektivierung implizieren Abspaltungen einzelner Personen oder Gruppen, die in der Mediation zwischen den einzelnen Körpern der Nation und dem einheitlichen Körper der Nation27 – in letzterem als Abjekte – eingeschlossen sind. Das Gemeinwesen ist neutral und entkörperlicht (vgl. Borsò 2014). Die konkreten, einzelnen Menschen haben die eigene politische Handlungsfähigkeit durch den Mechanismus der modernen, politischen Repräsentanz abgetreten. Dennoch hat der Gemeinwillen als Korrelat den Einzelwillen zum Leben.28 Die Symptome seiner Einzigartigkeit, seiner konkreten Körperbezogenheit, seiner materiellen Sinnlichkeit und seines Begehrens schreiben sich in die Buchstaben von Literatur, in die ästhetischen Prozesse visueller Medien ein. Genau dies will das Paradigma der Bio-Poetik systematisch erforschen und historisch restituieren.

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27 | Zur Transformation von Kantorowicz‹ Zweikörpertheorie des Staates in einen dichotomischen Körper mit verschiedenen Ereignistypen und Interventionsformeln vgl. Vogl (2002: 17). 28 | Hierauf gehe ich mit Bezug auf Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger in Band II Wissen und Leben – Wissen für das Leben ein.

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Bioökonomie oder die Arten des Regierens im Zeitalter der Kapitalisierung des Lebens einzelner Menschen

Bioökonomie und Biokapitalismus Christian Marazzi Das Schreckliche an der Suche nach der Wahrheit ist, dass man sie findet. (Victor Serge)

TERMINOLOGISCHE P R ÄMISSE Bevor wir uns der Genese und der konkreten Entwicklung der Bioökonomie in den letzten Jahrzehnten widmen, kann es nützlich sein, eine Reihe von Fragen in Bezug auf den Gebrauch von Begriffen wie ›Biomacht‹, ›Biopolitik‹, ›Bioökonomie‹ und ›Biokapitalismus‹ zu klären. Unter Biomacht versteht man normalerweise das systematische Handeln einer politischen und gouvernementalen Größe, welche über die Institutionen auf direkte oder indirekte Weise in das Leben der Menschen bzw. in deren Gesundheit, Hygiene, Ernährung, Sexualität, Geburtenrate usw. disziplinierend eingreift. Sie stellen verschiedene Formen von ›lokaler Biomacht‹ mit totalitärem Anspruch dar. So wird Macht auf das Leben des Einzelnen und aller die Bevölkerung bildenden Menschen ausgeübt. Wird hingegen von Biopolitik gesprochen, so ist man mit einem Deutungsproblem konfrontiert, auch wenn Foucault diesen Begriff oft als Synonym für Biomacht benutzt. Zunächst scheint Biopolitik in der Tat dem zu entsprechen, was die Deutschen im 18. Jh. Polizeiwissenschaft nannten, das heißt die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Disziplin durch die wachsende Macht des Staates. Dann jedoch scheint der Begriff Biopolitik eben jenen Moment zu bezeichnen, an dem die traditionelle Dichotomie von Staat und Gesellschaft zu Gunsten einer politischen Ökonomie des Lebens im Allgemeinen abgelöst wird. Diese zweite Auslegung des Begriffs, dass die Macht in das Leben investiert hat, impliziert auch, dass das Leben eine Macht ist, ein Ort, an dem eine andere Macht hervortritt. Dieser Ort ist ein Ort, an dem Subjektivität produziert wird, die sich in Form von Subjektivierung und der Befreiung aus der Unterwerfung äußert. Anstatt auf die Ausübung von Macht auf das Leben verweist das Thema Biopolitik in diesem zweiten Fall vielmehr auf die Praktiken der Gegenmacht des Lebens. Es weist auf die Schaffung von Ereignissen hin, die von der Macht

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befreien, und auf alternative Lebensformen, die im Gegensatz zu denen stehen, die von der Macht erzeugt und diszipliniert worden sind. Die Bioökonomie stellt die Ausbreitung von Formen sozialer Kontrolle dar, deren Ziel es ist, die wirtschaftliche Aufwertung des Lebens selbst, das heißt die durchdringende Macht der Kapitalhäufung über das Leben der Menschen günstig zu beeinflussen. In der Bioökonomie ist der Markt das Dispositiv, das den Körper eines jeden Einzelnen und den Körper der gesamten Bevölkerung diszipliniert. Wie im Fall der Biopolitik so ist auch hier der Begriff ambivalent oder mehrdeutig: Wenn die Marktwirtschaft und ihre Produktionsstrategien in das Leben der Menschen (letztere verstanden als Arbeitskraft) investieren, folgt daraus auch, dass das Leben der Menschen ein Ort der ›Gegenmacht‹ und einer Subjektivierung ist bzw. sein kann, die eine Alternative zu einem ganz der Arbeit unterworfenen Leben und dessen ökonomischer Verwertbarkeit darstellt. Der Biokapitalismus schließlich ist eben jene historische Form des Kapitalismus, die durch die zunehmende Verflechtung mit dem Leben der Menschen gekennzeichnet ist. Erfolgte die Produktion von Wert im Kapitalismus früher vorrangig durch die Verarbeitung von Rohstoffen, die von Maschinen und körperlich von den Arbeitern durchgeführt wurde, so entsteht im Biokapitalismus Wert, indem er losgelöst vom arbeitenden Körper (der Körper wird hier als materielles Arbeitsinstrument verstanden) und darüber hinaus vom Körper in seiner globalen Bedeutung produziert wird. Vielmehr wirkt der Biokapitalismus auf den Organismus, den Geist, die Beziehungen und die Gefühle der Menschen ein. Er stellt eine historisch bedingte Form der Bioökonomie dar, weil Letztere theoretisch in jedwedem Wirtschaftssystem vorhanden ist, auch, wenn nicht sogar vorwiegend, im Sozialismus. Mit dem Biokapitalismus nimmt die Bioökonomie aber eine besondere Form an: Sie subsumiert die kognitiven, sprachlichen, relationalen und affektiven Fähigkeiten der Arbeitskraft unter die Produktion von Wert bis hin zu dem Punkt, an dem, wie wir sehen werden, sich der Konsument in den Produzenten eben jener Güter und Dienstleistungen verwandelt, die er selbst konsumiert. Darüber hinaus äußert sich die Bioökonomie in Form der Finanzialisierung. Hier wird sie zum Dispositiv, das den Staat selbst unterwirft, und zur finanziellen Biomacht, welche die Unterscheidung von öffentlich und privat außer Kraft setzt und in juristischer, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht neue Fragen zu Tage treten lässt.

D IE U RSPRÜNGE DER B IOÖKONOMIE Nach dieser begrifflichen Prämisse sehen wir nun, wie der Biokapitalismus in den letzten Jahrzehnten konkret Form angenommen hat, so insbesondere seit der Krise der fordistischen Industriegesellschaft im Lauf der 1970er Jahre. Dies-

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bezüglich muss sogleich die Ambivalenz der Krise des fordistischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturmodells unterstrichen werden. Dieses Produktionsund Gesellschaftsmodell entstand mit der Serienfertigung in der Fabrik von Henry Ford und dem entsprechenden Aufkommen des Massenkonsums zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer makroökonomischen und gouvernementalen Strategie zu avancieren. In wirtschaftlicher Hinsicht resultiert die Krise des Fordismus aus einem Haufen von konkreten systemischen Widersprüchen: der Ölkrise von 1973, der Inkonvertibilität des Dollars und des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems, den durch die Politik nicht kontrollierbaren Lohnänderungen, der Hyperinflation und der Saturation der Märkte durch Konsumgüter wie das Auto. Zu Beginn artikuliert sich die Krise des Fordismus als klassische Krise der Überproduktion, als Unfähigkeit des Kapitals, den Mehrwert weiterhin auf der Grundlage einer bestimmten Beziehung zwischen festem Kapital (Maschinen) und veränderbarem Kapital (Arbeitslöhne) abzuschöpfen. Die Krise erklärt sich angesichts der zahlreichen Arbeiterkämpfe, die ab Mitte der 1970er Jahre in allen führenden kapitalistischen Industrienationen auftreten. In politisch-kultureller Hinsicht ist die Krise des Fordismus die Krise eines gesamten Gesellschaftsmodells und aller Werte, auf denen dieses gründet. Hervorgerufen wurde die Krise durch das Aufkommen einer Reihe von soziokulturellen Belangen von außerordentlicher Sprengkraft. Was die vom Fordismus generierte Lebensweise betrifft, so steht praktisch alles zur Diskussion: von der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung bis hin zur hierarchischen Aufteilung von Arbeitsplanung und deren Ausführung, vom Zwang zur unbefristeten Lohnarbeit bis hin zum umweltzerstörenden industriellen Größenwahn. Im Nachhinein betrachtet ist die politisch-kulturelle Dimension der fordistischen Krise entscheidender gewesen als der wirtschaftliche Aspekt, da das Ende der Krise ab jenem Zeitpunkt nur noch in absolut neuen Begriffen gedacht werden kann. Ein Leitartikel der Financial Times titelte Mitte der 1970er Jahre »Die Revolution muss kapitalisiert werden«. Hiermit meinte man, dass, ausgehend vom Bestreben das Leben zu verändern sowie von den Wünschen und den sozioökonomischen Forderungen der gesellschaftlichen Bewegungen der 1970er Jahre, ein neues Akkumulationsregime und eine neue Art gesellschaftlicher Wertschöpfung geschaffen werden sollten. Mit dem Postfordismus, der ab diesem Zeitpunkt nach und nach Form annimmt, verändert sich die Forderung nach dem Ende des Abhängigkeitsverhältnisses vom Kapital hin zur Selbstständigkeit. Die Forderung nach flexibler Arbeit wandelt sich in vertragliche Destandardisierung mit individuellen Verträgen und prekären Beschäftigungsformen. Der Kampf gegen den fordistischen industriellen Größenwahn (konform zur Bewegung »Small is beautiful« der ersten Umweltschützer) avanciert zu minimalistischen Produktionseinheiten und zu virtuellen Unternehmen. Der Lohnkampf des fordistischen Arbeiters

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führt zum Outsourcing von Unternehmen hin in künftige Schwellenländer. Die Kritik am Massenkonsum verkehrt sich in neue Formen der symbolischen Unterwerfung des Konsumenten. Die Forderung nach Redefreiheit und Mitbestimmung leitet die linguistische Wende der Wirtschaft ein, oder anders gesagt: Die kommunikativen und relationalen Fähigkeiten der Arbeitskraft werden nun direkt dem Arbeits- und Wertschöpfungsprozess unterworfen. Die dem Postfordismus innewohnende Ambivalenz rührt aus der Kapitalisierung der gesellschaftlichen Wünsche und Forderungen, die in neue Formen der betrieblichen Organisation, neue Konsummodelle, neue Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit, neue Beziehungen zwischen lokaler und globaler Ökonomie verwandelt werden. Auch wenn der Postfordismus aus dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Fordismus heraus entsteht, so übernimmt er doch dessen innovative Züge und wandelt diese in eine bestimmte Art und Weise von Produktion und Konsum um. Diese kapitalistische Revolution, die im politischen Programm der Liberalen aufgeht, lässt dadurch, dass in ihr sowohl der von den Gesellschaftsbewegungen artikulierte Wunsch nach Unabhängigkeit als auch die Rationalität des Kapitals gleichzeitig präsent sind, fast alle früheren Formen der politischen Repräsentation in die Krise geraten. Sie verändern das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat, indem es neue politische und parteiliche Gruppierungen entstehen lässt.

D IE G EBURT DER B IOPOLITIK VON F OUCAULT Genau in dieser Zeit hält Michel Foucault seine Cours au Collège de France ab, insbesondere die Vorlesungsreihe von 1978 bis 1979, die später unter dem Titel Naissance de la biopolitique (Die Geburt der Biopolitik) veröffentlicht wird. Hierin nimmt sich Foucault vor, den Liberalismus als allgemeinen Rahmen der Biopolitik zu untersuchen. Es handelt sich um eine grundlegende Überlegung zu den Veränderungen, die in den 1970er Jahren im Gange waren. Zunächst legt Foucault dar, wie die politische Ökonomie im 18. Jahrhundert zum Aufkommen einer neuen raison gouvernamentale führt: Weniger Regieren, um die wirtschaftliche Effizienz des Marktes zu maximieren. Auf den Spuren des fordistischen Modells des 20. Jahrhunderts analysiert er dann die neue liberistische (oder neoliberale) Gouvernementalität. Welche Krise der Regierbarkeit kennzeichnet die aktuelle Gesellschaft und zu welchen neuen Formen liberaler Regierungskunst führt dies? Foucault antwortet auf diese Fragen, indem er die beiden großen neoliberalen Schulen des 20. Jahrhunderts untersucht – den deutschen Ordoliberalismus und den Neoliberalismus der Chicagoer Schule – und deren Hauptmerkmale herausstellt. Seine Analyse hebt die paradoxale Rolle hervor, die die Zivilgesellschaft angesichts der aufkommenden liberistischen Regierung spielt. Die Gesellschaft ist

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das Prinzip, in dessen Namen die Regierung ihre Macht selbst beschneidet. Zugleich ist die Gesellschaft aber auch Zielscheibe eines fortwährenden gouvernementalen Eingriffs, um die für den Wirtschaftsliberalismus nötigen Freiheiten zu schaffen, zu vermehren und zu garantieren. Foucaults theoretisch-politische Überlegungen zum aufkommenden Neoliberalismus sind entscheidend, um die Geburt der Bioökonomie und des Biokapitalismus zu verstehen. Denn er enthüllt das neoliberale Ziel, die wirtschaftliche Vernunft auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen. Dem Neoliberalismus liegt eine andere Vorstellung des homo oeconomicus zu Grunde: Im Gegensatz zur klassischen Vorstellung des homo oeconomicus, der sich durch den Tausch von Waren auszeichnet, ist der neoliberale homo oeconomicus ein produzierendes Subjekt. Er ist ein Unternehmer seiner selbst, der sich wie ein Einzelunternehmen verhält, Risiken trägt, indem er Investitionsentscheidungen trifft und Gewinn-Verlust-Rechnungen für den Einsatz seiner Ressourcen vornimmt. Er ist, mit anderen Worten, ein Subjekt, das wie der Markt zur Selbstbestimmung fähig ist. So gesehen trägt das neoliberale Wirtschaftssubjekt die gesamte Gesellschaft in sich. Es braucht die Gesellschaft nicht (»die Gesellschaft existiert nicht«, wird Frau Thatcher später sagen) und somit braucht es auch den Austausch mit anderen Subjekten nicht, um seinen Lebensraum zu definieren, sondern nur um sein individuelles Kapital zu erzielen. Ausgehend von dieser Geisteshaltung vermag der Neoliberalismus, sich als Kunst des Regierens in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften durchzusetzen. Die Hauptachsen der neoliberalen Strategie sind die Liberalisierung der Märkte, aller Märkte, vom Arbeits- bis zum Kapitalmarkt, und die auf ein Minimum reduzierte Rolle des Staates durch die Privatisierung von grundlegenden Bereichen des öffentlichen Dienstes. Die neoliberale Regierungstechnologie kreist um die zentrale Rolle des Marktes und um seine Fähigkeit zur Selbstregulation, die auf einer individuellen Mikroökonomie basieren, in der die Werte nicht mehr jene ›kalten und abstrakten‹ Werte der klassischen politischen Ökonomie sind, sondern die ›warmen und konkreten‹ Werte des neoliberalen Subjekts. Das neoliberale Denken bedient sich dabei folgender Alternativen: Zum einen ›weniger Staat, mehr Markt‹ und ›weniger Regierung‹ als Prinzipien, die zwischen den vielfältigen, sich gegenüberstehenden Interessen vermitteln bzw. diese aushandeln sollen; zum anderem ›mehr Macht‹ der individuellen Vielfalt dank der exklusiven Logik der Marktwirtschaft. Es handelt sich um ein Regierungsprogramm, um ein Programm, das sich erst noch der Veränderung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, der gesellschaftlichen und politischen Steifheit, die sich während der ganzen fordistischen Ära aufgestaut hat, stellen muss. Es ist das Programm der bioökonomischen Wende der Gesellschaft, der wirtschaftlichen Subsumtion der Zivilgesellschaft, der ökonomischen Vereinnahmung des einzelnen Menschenlebens und der menschlichen Gemeinschaft durch den Wertschöpfungsprozess.

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D IE LINGUISTISCHE W ENDE DER Ö KONOMIE Die Krise des Fordismus lässt das Kapital verwaist, dass heißt ohne Produktionsmodelle, zurück: sowohl auf Unternehmensebene (Mikroökonomie) als auch in Bezug auf die Regulierung durch die Regierung (Makroökonomie). Auf Unternehmensebene ist es das japanische, ab den 1940er Jahren in den Toyota-Werken entwickelte Produktionsmodell, das sich als das geeignetste Modell entpuppt, um die kapitalistische Produktion wieder anzukurbeln. Der Toyotismus entfaltete sich entlang einiger Hauptachsen. So krempelt die toyotistische Organisation der postfordistischen Fabrik zunächst alle für die fordistische Organisation typischen Produktionsfaktoren um (»wie einen Handschuh«, wird der Ingenieur Ohno, Taylors japanisches Gegenstück, später sagen). Die Fabrik muss schlank (lean production) und flexibel sein, um mit dem Markt ›Schritt halten‹, das heißt in Echtzeit (production just in time) auf kleinste Schwankungen der Nachfrage reagieren zu können. Das Ziel der verschlankten Produktion ist es, die Produktionskosten auf ein Minimum zu reduzieren – sowohl die Arbeitslöhne als auch die Rohstoffkosten – und den Produktionsfluss so zu organisieren, dass die Lager möglichst leer sind (Strategie des zero stock). Im Vergleich zum Fordismus kehrt das toyotistische Modell das Verhältnis von Angebot und Nachfrage um: Ausgehend von der am Markt beobachteten Warennachfrage muss die postfordistische (toyotistische) Fabrik in der Lage sein, ihre Produktion zu organisieren. Der Markt, und mit ihm der Konsument, avanciert zum ›Souverän‹. Er betritt sozusagen die Fabrik. Indem er seine Wünsche äußert (von den Optionals bis hin zur Farbe des Autos), beeinflusst er die Arbeitsweise und Arbeitszeiten der Produktionskette. Die Produktivität besteht in der Fähigkeit, die im Unternehmen vorhandenen Ressourcen bestmöglich zu mobilisieren (Arbeit, Rohstoffe, Zusammenarbeit, Innovation, implizites Wissen), um in Echtzeit auf die vom Markt ausgehenden Impulse reagieren zu können. Basierend auf der Umkehr des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage wird die Fabrik flexibel und somit genau das Gegenteil der für den Fordismus typischen, nicht anpassungsfähigen Fabrik mit ihren Fließbändern (und dem enormen physischen, daran gebundenen Festkapital) und mit ihrer festen, mittel- und langfristig produzierenden Belegschaft (die fordistischen »Fünfjahrespläne«). Die Flexibilität betrifft insbesondere die Arbeits- und Produktionsweise mit ihren vielseitigen und flexibel einsetzbaren Arbeitskräften, die in der Lage sind, sich von einem Gerät (oder einem Sektor) zu einem anderen zu begeben, ohne den Produktionsfluss zu unterbrechen, und die auch im Hinblick auf die Arbeitszeiten – geschweige denn die Arbeitsverträge – flexibel sind. Die flexible, schlanke und leichte Fabrik revolutioniert das Verhältnis von Kapital und Arbeit in dem Sinne, dass auch die Arbeitskraft ›Schritt halten‹ muss mit der Produktion, mit ihren Höhen und Tiefen, ihren konjunkturellen Schwankungen.

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Einerseits wird die Zahl der Arbeitskräfte proportional zu den Produktionserfordernissen des core business, des Kerngeschäfts des Unternehmens, verringert; andererseits werden ganze Produktionseinheiten ausgelagert (Outsourcing), um die ›periphären‹ Produktionskosten minimal zu halten. Gerade damit trägt die postfordistische Fabrik dazu bei, einen flexiblen Arbeitsmarkt zu schaffen, auf dem eine Vielzahl von Berufsbildern existiert, so insbesondere unabhängige, fremdgesteuerte Arbeiter, ehemalige Unternehmensangestellte und Arbeiter von Zeitarbeitsfirmen, deren vorübergehende oder wechselnde Beschäftigung von den makroökonomischen Nachfrageschwankungen abhängt. Das für das fordistische Arbeitsmarktmodell typische unbefristete Beschäftigungsverhältnis verliert an Gewicht, während befristete und unabhängige Arbeitsverhältnisse zunehmen. Die Fabrik entwickelt sich über sich selbst hinaus. Sie greift auf externe Ressourcen zu und nutzt diese punktuell, wenn sie diese benötigt. Aber um dies zu tun, braucht sie just in time einen Pool an Fach- bzw. Arbeitskräften, die bereit stehen, um vom Unternehmen genutzt zu werden. Gerade deshalb besteht die Produktionszeit sowohl aus der punktuellen, konkreten Arbeitszeit als auch aus der Wartezeit, der Nichtarbeitszeit, also der Zeit, in der die Arbeitskräfte nicht direkt aktiv sind, sondern in der die Kompetenzen reifen (zuallererst die Fähigkeit flexibel zu sein), die für das Unternehmen nötig sind, um schnell agieren zu können. In einem gewissen Sinn ähnelt die Arbeit im postfordistischen Akkumulationsregime der traditionellen Landarbeit, in der zur punktuellen Arbeitszeit des Bauern, so die konkrete Arbeitszeit für das Aussäen, die Zeit des Wartens hinzukommt, währenddessen die Erde etwas produziert. Die totale Produktionszeit umfasst damit sowohl die punktuell ausgeführte Arbeit als auch die Arbeit des Wartens. Das Verhältnis von ›innen‹ und ›außen‹ wandelt sich folglich radikal, in dem Sinne, dass die Unterscheidung zwischen Kompetenzen, die für die Verrichtung der Arbeit notwendig sind (die berufliche Qualifizierung) und anderen, nicht beruflichen Kompetenzen zu Gunsten einer ›globalen Kompetenz‹ zu verschwinden droht. Letztere umfasst sowohl für spezifische Arbeitsaufgaben als auch außerhalb des Arbeitsbereichs entwickelte partikuläre Kompetenzen, wie die Fähigkeit, auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können, fürsorglich zu sein und Zuneigung auszudrücken, zu kooperieren und sich weiterbilden zu können. Die in diesem Sinne spezifische postfordistische Arbeit hat sich »feminisiert«, gerade weil sie außerberufliche Kompetenzen aufwertet, die grundlegend für die Entwicklungs- und Wachstumsstrategie des neuen kapitalistischen Unternehmens sind. Die ab den 1970er Jahren einsetzende Feminisierung der Arbeitswelt betrifft also nicht nur den Anstieg weiblicher Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch und vor allem die Verinnerlichung von außerhalb der Fabrik entwickelter Arbeits-, Gefühls- und Verhaltenskompetenzen in die Re-Produktionssphäre.

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Das, was wir als ›linguistische Wende‹ der Ökonomie bezeichnet haben, hat also eine doppelte Bedeutung. Dies betrifft in erster Linie die Umkehr des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage, von Fabrik und Markt, in dem Sinne, dass sich das (statische und sich nur in eine Richtung bewegende) fordistische Fließband im Postfordismus in eine linguistische Kette verwandelt (später als value supply chain bezeichnet). Das heißt, sie überträgt Informationen vom Markt in den Produktionsprozess hinein; als Reaktion auf die Konsumentennachfrage werden die Arbeits- und Produktionsabläufe innerhalb des Unternehmens entsprechend organisiert. Im toyotistisch-postfordistischen Modell ist der Informationsfluss entscheidend. Kommunikation ist hier, ähnlich den Rohstoffen im Fordismus, von strategischer ökonomischer Wichtigkeit. Indem es das Wesen der Arbeit selbst verändert, prägt das linguistische Fließband seinerseits wiederum auch die Arbeitsverhältnisse, die in seinem Inneren bestehen. Im Postfordimus wird gearbeitet, indem kommuniziert wird. Waren im Fordismus Ausführung und Kommunikation noch getrennt – auf der einen Seite der ausführende Arbeiter, auf der anderen Seite der planende Ingenieur –, fallen sie im postfordistischen Unternehmen zusammen; sie überlagern sich. Teamarbeit, zielgerichtete Produktion und ein aktives, kreatives und innovatives Einbringen der Arbeitskräfte (auch der geringer qualifizierten) – all dies impliziert in der Tat, dass dabei sprachlich-kommunikative und relationale Kompetenzen ausgeübt werden, Kompetenzen, die einst, im Fordismus, (auch räumlich) von den ausführenden Arbeiten getrennt waren. Die linguistische Wende der postfordistischen Wirtschaft und der direkte Eintritt der Kommunikation in den Arbeitsprozess machen die Sprache zu einem pragmatisch-performativen Akt. »Dinge mit Worten zu tun« und die »Sprechakte« von John Austin lassen die Gegenüberstellung von Sagen und Tun obsolet werden. Grundlegend verändern sie das Verhältnis von Festkapital in Form von Maschinen (verstanden als Form vorgängigen Wissens, das sich in der Maschine selbst manifestiert) und von veränderlichem Kapital (wie die vom Kapital bestimmte lebendige Arbeitskraft). Dies ist ein Beispiel für die kapitalistische Aneignung der gesellschaftlichen Forderung nach Meinungsfreiheit, wie sie die politischen Kämpfe der 1970er Jahre äußerten! Ganz nach dem Muster des ›Toyota-Modells‹ wurde die erste Phase des Outsourcings von Unternehmensaufgaben (Unterverträge mit externen Zulieferern und Beratern) ab den 1980er Jahren durch das Aufkommen atypischer Arbeitsformen und selbstständiger Arbeit in zweiter Generation begleitet (free lance, Unternehmer ihrer selbst, ehemalige Angestellte, die sich selbstständig gemacht haben). Dabei ist die kapitalistische Kolonisierung des Kapitalumlaufs pausenlos vorangeschritten, bis dass der Kunde selbst zu einem regelrechten Produzenten ökonomischen Werts wurde. Die Koproduktion, bei der das Subjekt zum Mitproduzenten dessen wird, was es konsumiert, ist nun die Kernstrategie der öffentlichen und privaten Unternehmen. Sie binden den Konsumenten in

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die verschiedenen Phasen der Wertschöpfung mit ein. Dabei trägt der Konsument dazu bei, den Markt zu schaffen, Leistungen zu erbringen, auf Schäden und unvorhersehbare Zwischenfälle zu reagieren, den Abfall zu trennen, die Anlagevermögen der Zulieferer zu optimieren und sogar Verwaltungsarbeiten zu verrichten. Diese Mitarbeit des Verbrauchers betrifft alle Massenleistungen und insbesondere die Dienstleistungen: Vertrieb, Bank, Transportwesen, Freizeit, Verpflegung, Medien, Bildung, Gesundheit. Beispiele für das Outsourcing der Wertproduktion und für ihre Ausdehnung bis in die soziale Reproduktionssphäre hinein sind heute überaus zahlreich. Auch wenn man Gefahr läuft, die Analyse zu vereinfachen, so ist es dennoch nützlich, über einige Paradebeispiele nachzudenken. Man denke an Ikea. Nachdem das Möbelhaus bereits eine ganze Reihe von Aufgaben an den Kunden weitergegeben hat (das Herausfinden des Codes für den gewünschten Artikel, die Suche nach dem Gegenstand, seine Entnahme aus dem Lagerregal und die Verladung ins Auto usw.), hat es auch das Montieren des Billy-Regals outgesourct. Es hat also maßgebliche Festkosten weitergegeben, die vom Konsumenten dank eines äußerst geringen Preisnachlasses getragen werden, die aber für die Firma große Kosteneinsparungen bedeuten. Man kann auch andere Beispiele nennen: Die Softwarefirmen, beginnen wir bei Microsoft oder Google, lassen üblicherweise ihre neuen Programmversionen von Kunden testen. Aber auch zur so genannten open source software gehörende Programme resultieren aus jener Arbeit, die der Verbesserung der Programme dient und die von einer Heerschar an ›produktiven Konsumenten‹ durchgeführt wird. Diese neuen Aufwertungsprozesse des Kapitals wirken sich wie folgt aus: Der durch die neuen Dispostive der Wertabschöpfung erzeugte Mehrwert ist enorm. Diese Wertabschöpfung basiert darauf, dass der direkte und der indirekte Arbeitslohn (Renten, soziale Abfederung, Rendite aus privaten und gesellschaftlichen Ersparnissen) reduziert werden. Sie basiert aber auch darauf, dass der gesellschaftlich notwendige Stellenabbau durch flexible und vernetzte Unternehmensstrukturen (Prekariat, wechselnde Beschäftigung) abgefangen wird und dass ein immer größerer Pool an unbezahlten Arbeitskräften zur Verfügung steht (die »freie Arbeit« in den Sphären von Konsum und Kapitalumlauf sowie im sozialen Raum, die durch eine Zunahme von geistiger Arbeit begleitet wird). Dieser Mehrwert, oder anders gesagt, die nicht vergütete Arbeit, liegt also dem Gewinnzuwachs zu Grunde, der nicht in den Produktionsbereich reinvestiert wird. Dieser Gewinnzuwachs zieht also keinen Zuwachs fester Arbeitsplätze nach sich, ebenso wenig wie Gehaltserhöhungen.

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D AS F INANZ WESEN ALS BIOPOLITISCHES D ISPOSITIV Ausgehend von den Hauptmerkmalen der bioökonomischen Produktionsprozesse muss das Verhältnis von Kapitalanhäufung, Profit und Finanzialisiernug der letzten dreißig Jahre neu interpretiert werden. Der Gewinnzuwachs, der die Grundlage für die Finanzialisierung bildet, ist möglich gewesen, weil sich mit dem Biokapitalismus das Konzept der Kapitalakkumulation selbst verändert hat. Die Anhäufung des Kapitals besteht nicht mehr ausschließlich, wie einst im Fordismus, aus Investitionen in Festkapital (Maschinen) und veränderliches Kapital (Arbeitslöhne), sondern auch, und das zunehmend, aus Investitionen in Dispositive zur Schaffung und Abschöpfung von Wert, der außerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses erzeugt wird. Die Techniken des Crowdsourcing, die, Vampiren ähnlich, aus vielen lebenden Menschen die Ressourcen wie Blut heraussaugen, stellen die neue organische Zusammensetzung des Kapitals dar. Mit anderen Worten: Auch das Verhältnis zwischen dem in der Gesellschaft vorhandenen Festkapital und dem veränderlichen Kapital wird deterritorialisiert, enträumlicht, und löst sich auf im sozialen Raum, im Konsum, in den verschiedenen Formen des Lebens sowie im individuellen und kollektiven Immaginären. Im Gegensatz zum für den Fordismus typischen System von (materiellen und statischen) Maschinen besteht das neue Festkapital im Biokapitalismus, neben den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), aus einem Ensemble von immateriellen Organisationssystemen. Letztere führen zu Mehrarbeit, indem sie die Arbeiter in allen Momenten ihres Lebens verfolgen, mit dem Ergebnis, dass der Arbeitstag länger und intensiver wird. Dass die der Arbeit gewidmete Lebenszeit immer mehr wird, zeigt nicht nur, dass die strategischen Produktionsmittel (Kenntnisse, Wissen, Kooperation) in den lebendigen Körper der Arbeitskraft hinein verlagert werden. Es erklärt auch die Tendenz, dass die klassischen Produktionsmittel zunehmend an ökonomischem Wert verlieren. Man kann vom Aufkommen eines anthropogenetischen Modells der ›Produktion des Menschen durch den Menschen‹ sprechen. Es ist also kein Wunder, wenn der ab den 1980er Jahren zu verzeichnende, zunehmende Rückgriff auf die Börsenmärkte keine zielgerichteten Investitionen ins Festkapital nach sich gezogen hat und somit auch zu keinem unmittelbaren Anstieg der Beschäftigungszahlen und Löhne führte, sich wohl aber in Form eines reinen und einfachen Anstiegs des Aktienwerts niederschlug. Die Finanzialisierung der Wirtschaft diente dazu, um nach einem temporären Rückgang der Gewinnsätze die Kapitalrentabilität wiederzuerlangen. Es handelt sich also um ein Mittel, um die Rentabilität des Kapitals extern und nicht mittels der direkten Produktionsprozesse zu steigern. Gerade dies jedoch hat dazu geführt, dass die Unternehmen auf »unverantwortliche« Weise das Paradigma des Shareholder value verinnerlicht haben, d.h. dass die Aktienwerte Priorität haben gegenüber den zahlreichen natürlichen »Interessenvertretern«, dem sog.

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Stakeholder value (Beschäftigte, Konsumenten, Zulieferer, Umwelt, künftige Generationen). Die bioökonomische Prägung des Finanzkapitalismus ist also dadurch gekennzeichnet, dass die Lohnanteile schrumpfen, die Arbeit prekärer wird und die Investitionen ins Kapital stagnieren. Das Problem der Gewinnrealisierung (beziehungsweise des Verkaufs des produzierten Mehrwerts) verweist dabei auf die Rolle des Konsums, der durch Einkünfte getätigt wird, die nicht aus Lohnzahlungen stammen. Die Vermehrung des Kapitals (mit der es kennzeichnenden extrem starken Polarisierung des Reichtums) erfolgt teils durch den steigenden Konsum der Privatiers sowie teils durch den auf Verschuldung basierenden Konsum der Lohnempfänger. Die Finanzialisierung hat, wenn auch in äußerst ungleicher und prekärer Art und Weise (man denke an die vorrangig aus Beiträgen erzielten Renditen der privaten Zusatzrentenversicherungen), die finanziellen Renditen in der doppelten Form von Grundstücks- und Immobilienrenditen auch an Lohnempfänger umverteilt. Was jedoch die biokapitalistische Finanzialisierung von der klassischen Finanzialisierung des 20. Jahrhunderts unterscheidet, ist, dass dem Anstieg der auf den Finanzmärkten erzielten finanziellen Renditen ebenso ein Anstieg eben jenes Mehrwerts entspricht, der in der Reproduktionssphäre und durch den Tausch von Waren und Dienstleistungen geschaffen wird. Bei der klassischen Finanzialisierung hingegen war die Finanzrendite schädlich. Sie spiegelte eine unproduktive Macht wider, die Macht des Privatiers, der in seiner Geldgier das Kapital von seinem industriellen Nutzen entfremdete und in die Sphäre überleitete, in der »Geld Geld produziert«, d.h. in den Bereich des fiktiven Kapitals. Im Biokapitalismus wird dagegen das Finanzwesen zu einem ganz und gar produktiven Dispositiv, das das Verhältnis von Kapital und Arbeit ständig verändert. Diese Veränderung folgt einer Logik, die die traditionelle Beziehung von Wirtschaft und staatlicher Regierung übersteigt. Die aktuelle Finanzialisierung hat in der Tat die Umverteilungsrolle des Staates auf ein Minimum reduziert und hat unterdessen die (disziplinierende) Regulierung der Machtbeziehungen zwischen den Gesellschaftsklassen in den Bereich der Finanzmärkte verschoben. Im finanziellen Biokapitalismus ähnelt die Beziehung von Markt und Gesellschaft dem imperialistischen Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Der imperialistische Akkumulationskreislauf war durch ein konkretes Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Fortschritt und Rückständigkeit gekennzeichnet. Da die Löhne nicht ausreichten, um im Inland eine entsprechende Nachfrage zu erzeugen, exportierte das Zentrum nicht verkaufte Überschüsse in die vor-kapitalistischen Länder der Peripherie. Die Erzeugung von externer Nachfrage basierte auf der ›Kreditfalle‹, die den armen Ländern erlaubte, in den Genuss der kapitalistischen Waren zu kommen. Die für den Verkauf der Überschüsse nötige Nachfrage schufen die Banken des Nordens erst dank der Kredite, die die Verschuldung der Importländer ermöglichten. Dieser Mecha-

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nismus zwang die Länder der Peripherie einerseits dazu, ihre natürliche lokale Wirtschaft – und die Formen des Lebens, die dieser zu Grunde lagen – zu zerstören, ganz zum Vorteil der eingeführten kapitalistischen Waren, und andererseits dazu, möglichst viele Rohstoffe zu den von den kapitalistischen Märkten festgesetzten Preisen zu exportieren, um der Schuldenlast entgegenzuwirken. Die Destrukturierung der Gemeingüter – oder anders gesagt die strukturelle Auflösung der natürlichen vor-kapitalistischen Wirtschaftssysteme, die für die kapitalistische Entwicklung der nördlichen Industrienationen von strategischer Bedeutung waren – musste jedoch ohne eine Umstrukturierung der lokalen Wirtschaft vonstatten gehen. Die armen Länder hatten also keine Möglichkeit, sich aus der Armut und aus der Abhängigkeit der reichen Länder des Nordens zu emanzipieren und zu befreien. Hier spiegelt sich das Problem der Überschussverkäufe schmerzlich in einem weit größeren Rahmen wider. Heute, im Zeitalter des Empire, ist das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ganz und gar verinnerlicht worden. Jedes ›Außen‹ befindet sich zugleich ›innerhalb‹ des globalen Akkumulationsmechanismus. Aber die Suche nach ›jungfräulichen Gebieten‹, nach neuen Commons, die ausgenutzt werden können, um das Kapital wachsen zu lassen, besteht nach wie vor. Die Subprime-Krise ist der klarste Beweis hierfür, ebenso wie auch die Krise der ›Kreditfallen‹. Diese erlaubten armen Bevölkerungsgruppen in den Genuss von symbolischem Eigentum zu gelangen (z.B. von Gütern wie Häusern). Aber der gleiche Mechanismus erstreckt sich auch auf die kapitalistische Aneignung von immateriellen Gemeingütern (wie Wissen, Beziehungsnetzwerken, Kooperationsfähigkeit und Gefühlen), die alle – und zudem kostenlos – benutzt werden, um die Lohnarmut durch Formen privater Verschuldung auszugleichen. Dieser Mechanismus von Entstrukturierung-ohne-Umstrukturierung und von Einschluss-ohne-Selbstbestimmung ruft Armut, Isolation und Ausschluss hervor, so dass die Macht des Kapitals über die Gesellschaft weiterhin wächst. Die Finanzialisierung ist die kapitalistische Form der Bioökonomie. Bei ihrer Entwicklung spielt die Krise eine maßgebliche Rolle, da erst durch die Krise (die Finanzblasen) das, was in der Bioökonomie unbestimmt ist, systematisch den Regeln des kapitalistischen Systems untergeordnet wird. In der Bioökonomie bezieht sich die Unbestimmtheit auf die von der Gesellschaft geschaffene Wertmenge, auf ein Maß an Reichtum, das zwar den Mehrwert, aber auch den gesellschaftlichen und den Beziehungswert, den Wert von Zusammenarbeit und von Gefühlen beinhaltet. Die ›Kreditfallen‹ und die (zyklischen, der finanzwirtschaftlichen Wachstumslogik innewohnenden) Krisen, die das System charakterisieren, sind beides Momente, in denen sich die Wirtschaft gegen die Gesellschaft durchsetzt. Krisen sind der Zeitpunkt, an dem beispielsweise die kapitalisierten Rentenrendite auf den Börsenmärkten beschnitten, oder mit anderen Worten auf ein rechtes, mit dem Gewinnzuwachs kompatibles Maß gestutzt werden. So wie die aktuelle Krise des verschuldeten Souveräns

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beziehungsweise der verschuldeten europäischen Staaten, sind Krisen insgesamt der Augenblick, in dem das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatem zu Gunsten der öffentlichen Finanz(markt)regulierung bestimmt wird. In diesem Sinne ist die Finanzialisierung das Ergebnis der Entwicklung der Bioökonomie. Aus dem Italienischen von Sieglinde Borvitz

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Die Gespenster der Bioökonomie und das Phantasma der Krise Laura Bazzicalupo

Wir können die Bioökonomie als komplexes biopolitisches Dispositiv verstehen, welches das Leben entsprechend der ökonomischen Logik regiert und das innerhalb des Dispositivs selbst Subjektivierungen hervorbringt, die jedoch über eine überschüssige Ambiguität verfügen. Meine nachfolgenden Überlegungen gehen von der Hypothese aus, dass die Lacanschen Kategorien des Symbolischen, Imaginären und Realen genutzt werden können, um jenen strukturellen Knoten effizient zu beleuchten, der die liberale bioökonomische Gouvernementalität bei der Konstruktion von Subjektivität, in den Verschiebungen der symbolischen (naturalisierten/performativen) Ordnung, im gesellschaftlichen und individuellen Imaginären charakterisiert. Vor diesem Hintergrund erweist sich die gespenstische Seite des Realen im Kapitalismus als der unausgesprochene Rest der gesellschaftlichen Konstruktion. Die Zweckmäßigkeit, sich dieser psychoanalytischen Kategorien zu bedienen, was ja für die politische Philosophie recht ungewöhnlich ist, ergibt sich zum einen aus der Zentralität der Subjektivierungsprozesse. Denn die postfordistische Wende hin zu einem immateriellen Kapitalismus erfordert eine Art Konsens, eine Art freier und spontaner Partizipation, die der alten fordistischen, dichotomischen und ausführenden Produktivität fremd war. Zum anderen ist die irreduzible Komplexität der Subjektivierungsprozesse zu nennen, welche nicht auf die traditionelle ideologisch-marxistische Kausalitätsbeziehung zurückgeführt werden können. Das psychoanalytische Paradigma (hier im philosophischen Gewand) erweitert den ontologischen Horizont, weil damit die Beziehung von imaginärer Identifikation, symbolischer Rolle und dem Phantasma in die Analyse mit einbezogen werden kann. Präziser erfassen lassen sich so die Umkehrung, die Dynamik von Aufschub und Opferung ebenso wie ihr Einfluss auf die Wirtschaft, das Beharren auf Unterwerfung und nicht zuletzt der Todestrieb, der in der narzisstischen Aufforderung zum Genuss und zur Selbstverwirklichung impliziert ist. All diese Elemente werden von der versöhnlich utilitaristischen,

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allein auf das Lustprinzip ausgerichteten Weltsicht ausgeblendet, welche dem liberalen Wirtschaftsgeschehen zu Grunde liegt. Tatsächlich gründet dieser Rückgriff auf psychoanalytische Begriffe (nicht auf die Psychoanalyse in ihrer therapeutischen und häufig metaphysischen Gesamtheit) auf der Annahme, dass Investitionen in den Markt libidinöser Natur sind, wenn man diesen – wie hier – als soziale Bindung und als Ort von Beziehungen versteht, dessen Sinn die Wirtschaft selbst jedoch übersteigt. Die Wirtschaftswissenschaft beschreibt diesen Markt eher als Ort der Ent-Bindung und als Schuldensaldo. Auf diese Weise sterilisiert bzw. neutralisiert sie den Tauschakt, um sich vor der libidinösen und emotionalen Dichte zu schützen, welche die soziale Bindung bedroht. Jede Ökonomie ist gerade deshalb eine politische Ökonomie, da sie (wie auch der Markt) eine soziale Bindung ist, welche – wie alle Bindungen – libidinös ist. Libidinöse Bindungen unterliegen der ungewollten, unbewussten Dynamik zwischen der symbolischen Ordnung, der imaginären Investition und dem Realen. Hierbei kehrt das Reale – die nicht symbolisierbare Umkehrung jedweder Symbolisierung und die geheime Stütze der Investition ins Imaginäre – als Gespenst, als Phantasma zurück.

E INE VERSCHWIEGENE E RZ ÄHLUNG Spricht man heute von Bioökonomie, so muss man mit der Erzählung der Krise, des großen Finanzcrashs beginnen, der die Realwirtschaft mitgerissen hat und jetzt die Arbeit, die Beschäftigungsverhältnisse und das immer prekärer werdende Leben vieler Menschen erfasst. Der kritische Moment, wenn die Hauswände erschüttert werden und ins Wanken geraten, ist der Augenblick, wenn aus den Mauerrissen Geister heraustreten: Nicht greifbar scheinen sie sich zu verflüchtigen, doch die Gespenster, seit jeher heimliche Bewohner dieses Hauses, spuken weiter umher. Deshalb ist die von mir erzählte Geschichte eine Gespenstergeschichte. Die Krise ist Anlass für folgende Fragen: Welche Faktoren treten in den Vordergrund, wenn wir darüber sprechen? Welcher traumatische Kern bleibt unausgesprochen – da obszön, gefährlich, nicht dazugehörend – oder wird nur teilweise und abgeschwächt gesagt, ganz so als wollte man das uns terrorisierende Gespenst, das Angst erzeugende und sich unserer bemächtigende Phantasma neutralisieren? Gewiss hat all dies Auswirkung auf das kollektive neoliberale Imaginäre, das seit den 1980er Jahren den unangefochtenen Rahmen der sozialen und politischen Dispositive darstellt. Diese scheinen verheerend zu sein, so dass man sie gar als Trauma bezeichnen kann und als ein Ereignis, welches das ursprüngliche Trauma der politischen Ökonomie des Kapitalismus erneut aktivieren

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und das verbannte, verjagte oder verdrängte Phantasma materialisieren könnte. Aber ist dem wirklich so? Lassen Sie uns zunächst die Interpretationswerkzeuge noch einmal ordnen. Das kollektive Imaginäre strukturiert und legitimiert das Verhalten, die Rollen und Entscheidungen. Wenn auch nicht unabhängig davon, so geschieht dies dennoch auch über die symbolisch-sozialen Identifizierungen hinaus (z.B. unser Status als Angestellter, die uns garantierte Rente, der Besitz von Kapital, von Wohnraum). Was bedeutet es also, dass dies nicht mit der symbolischen Ordnung zusammenfällt und zugleich aber von dieser abhängig ist? Es bedeutet, dass es das Ergebnis einer phantasmatischen, imaginären Investition ist, welche das Begehren und die Subjektivität fördert und das ihnen zu Grunde liegende Gefühl der Leere bzw. der Nicht-Entsprechung, das durch die gesellschaftliche Identifikation selbst hervorgebracht wird, auf konkrete Objekte ausrichtet: Das Imaginäre hat eine enorme Funktion bei der Ausrichtung des Begehrens. Es ist nicht die einfache, halluzinatorische Verwirklichung eines Wunsches, sondern eben jene Phantasie, die dem Begehren seine transzendentalen Koordinaten liefert und uns lehrt, wie wir wünschen sollen (vgl. Žižek 1997: 19; kursiv d.Ü.). Sie liefert also das Schema, gemäß dem einige konkrete Dinge als Objekte des Begehrens fungieren und füllt die von der symbolischen Struktur geöffneten Lücken. Auf der Ebene dieses sozialen Imaginären treffen meine Überlegungen auf das komplexe Dispositiv der Bioökonomie. Das soziale Imaginäre nimmt die Organisation des Kapitalmarktes als natürlich an. Es bildet den Rahmen der Denkbarkeit, Sichtbarkeit und der Wahlmöglichkeiten, zugleich aber verdunkelt, verdrängt oder schließt es das Reale aus. Es handelt sich um einen Antagonismus, um eine Reibung, die gleichwohl die Stütze und die Bedingung dieser Repräsentation ist.

G ESPENSTER Dass die ökonomische Bindung gespenstischer Art sei und dass der Markt über eine symbolische und imaginäre Dichte verfüge, war Marx’ Intuition im Hinblick auf den Warenfetischismus, auch wenn diese Intuition noch in einen ontologischen und kausalen Horizont eingebunden war. Marx war der Erste, der gezeigt hat, dass diese Geschichte der Materialität, der Herrschaft und der Ausbeutung, aber auch der außerordentlichen Fähigkeit zur metaphorischen Übertragung, eine Gespenstergeschichte ist (vgl. Derrida 1993). Obwohl Marx weder über eine Theorie des Symbolischen noch der Psychoanalyse verfügte, verwies er auf den doppelten, imaginativen/imaginären Boden der kapitalistischen Ökonomie. Bereits der Titel des vierten Kapitels im ersten Buch von Das Kapital »Der Fetisch-Charakter der Ware und ihr Rätsel«

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(vgl. Marx 1962) beschwört die imaginäre, phantasmatische Seite herauf, die den zwischenmenschlichen Beziehungen zu Grunde liegt; sie ist kein Zusatz oder Überbau. Diese Beziehungen äußern sich als Verhältnis zwischen sichtbaren, erkennbaren, konkreten Dingen und den durch den Wertsteigerungsprozess hervorgebrachten Phantasmen und Gespenstern des Unterwerfungsverhältnisses. Fetisch ist der symbolisch aufgeladene Gegenstand, er steht für etwas anderes. Die symbolische Bedeutung unterstützt eine semantische Verschiebung, die den Sinn und den gemeinen Wert des Gegenstands verklärt (nach Marx, seinen Gebrauch), um ihm eine zugleich individuelle und kollektive Bedeutung zuzuschreiben (vgl. Marx 1962 § 3). Ein Gegenstand wird Träger eines absoluten Werts und verkörpert materiell gesellschaftliche Beziehungen. Aus psychoanalytischer Sicht ist es jedoch unumgänglich, ihn auch als das Objekt zu verstehen, das den Platz des geliebten Objekts einnimmt. Ebenso unumgänglich ist der Hinweis auf die Unruhe und Impotenz, die dem Konzept des Fetischismus innewohnen. Das was uns jedoch hier interessiert, ist, dass der Fetischismus die Objekte nicht sakralisiert. Er neutralisiert vielmehr ihr konkretes Wesen, um das Phantasma des Tauschwertes umherschweifen zu lassen. Je mehr das System wächst, desto mehr steigert sich die Faszination, da das Objekt zwangsläufig nur über diesen Kunstgriff oder über die Fiktion zugänglich ist. Dabei sind es weder die Gegenstände noch die sie zu Geistern stilisierenden Menschen, die sprechen. Vielmehr ist es der ökonomische Code, der die Dinge und Menschen beschreibt, da er sich in ihnen allen manifestiert. Marx beschwört somit das Gespenst, den Ausschluss des Realen, herauf. Letzteres steht für die Mühe, die Arbeit und den lebenden Menschen. So führt er uns den Entkonkretisierungsprozess vor Augen, der die Dinge ebenso wie ihren ständigen Sinnverlust selbst erfasst, so dass diese zum bloßen Zeichen des ökonomischen Wertes avancieren. In seinem visionären Pariser Passagen-Werk (vgl. Benjamin 1982) erkennt Walter Benjamin dann in der Metapher das gespenstische, phantasmagorische Wesen der Ware und die libidinöse Investition eines im Halbschlaf befindlichen kollektiven Unbewussten, das Bilder hervorbringt, die dem semiotischen Netz entgehen. Im immer gleichen Neuen macht er den Tod als den ständigen, gespenstischen Bewohner dieser Passagen aus. Benjamin erkennt also, dass der repetitive, autistische und einsame Dinggenuss den Todestrieb nach sich zieht. Guy Debord erfasst darüber hinaus die Einheitssprache, welche die passive Seite der jouissance und Spektakularität mit der aktiven, frenetischen, kalten und berechnenden Seite der Produktion verbindet. So projiziert sich die alte Figur des Fetischs auf die heute aktuell gewordene Zukunft des Kapitalismus (vgl. Debord 1992).

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E IN UNMÖGLICHER A USWEG Lassen sich Gespenster fangen und besitzen? Oder ist nicht vielmehr das Gegenteil, dass man von ihnen gefangen genommen und besessen wird? Wahrlich, das Phantasma lässt sich nicht auslöschen, um die Wirklichkeit zu erschauen. Der marxistische Fetischismus bezog sich auf die Utopie transparenter sozialer Verhältnisse. Aber Beziehungen zwischen Menschen sind nie transparent. Über Marx hinausgehend ließe sich sagen, dass die Verschiebung strukturell und konstitutiv ist, da es keine unmittelbare, selbstbewusste Subjektivierung gibt, die nicht den in den Dingen verkörperten Glauben auf sich nimmt, um dann enteignet zu werden (vgl. Žižek 1997: 154). Unser Zugang zu dieser Realität wird schon immer durch den symbolischen Prozess vermittelt (vgl. Žižek 1997: 143), so Žižek auf der Basis von Lacan. Sobald es Produktion für einen Markt gibt, existieren auch Fetischismus, Idealisierung, Autonomisierung, Entmaterialisierung und gespenstische Einverleibung. Es ist nicht möglich, zur authentischen Präsenz oder zur wahren Zeit zurückzukehren und diese gegen die Zeit des Simulakrums auszutauschen. Die Matrix in Žižeks ironischem Kommentar ist die symbolische Matrix, der große Lacansche Andere bzw. der uns strukturierende Diskurs, und damit das, was die Frankfurter Schule, die ›soziale Substanz‹ nennt, nämlich der Kapitalismus in seiner aktuellsten, digitalen und immateriellen New Economy-Version (vgl. Žižek 2002). Wir befinden uns mitten drin. Durch Bioökonomie als System der Subjektivierungen, der Produktion von Begehren und von virtuellen Lebensformen, befinden wir uns im Netz der extremen Transformation des Symbolischen. Aufgrund der Ungewissheit des Systems angesichts der Krisis müssen wir uns fragen, ob der Umstand, uns im Innern des Systems zu befinden, es trotzdem möglich macht, Distanz zu schaffen und dagegen zu sein. Diesbezüglich kommen uns erneut der Fetischismus und das gespenstische Geschehen zu Hilfe. Das Gespenst ist auch in der virtuellen Produktion gegenwärtig, im imaginierten und imaginären Spektakel. Es dominiert die Lebenserfahrung desjenigen, der es erlebt und produziert hat: Das vom kollektiven Imaginären verschleierte und dennoch stets wiederkehrende Phantasma ist die obszöne Tatsache, dass das Lebende und die Kreativität enteignet werden. Das Imaginäre und das Phantasma stellen somit das Reale dar, welches Distanz und Nichtübereinstimmung einräumt. In der heutigen Phase des immateriellen Kapitalismus, der sich auf die Produktivität der Imagination, des Wissens und der Relationalität stützt, entspricht das Imaginäre dem Diskurs über Humankapital, Unternehmertum, Kreativität und über die anarchische Organisation des eigenen Lebens als Kapital: Ein ›führungsloses‹ Imaginäres, das selbst von Gegnern der kapitalistischen Arbeitsorganisation partiell geteilt und daher naturalisiert und der Politik entzogen wird (vgl. Miller/Rose 1990). Dieses produktivitätsbezogene und kreative

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Imaginäre fällt zudem mit der fortschreitenden Entleerung der Symbolkraft des Imaginären/der Ware zusammen. Marx bezeichnete sie als Entkonkretisierung, Benjamin nahm sie im allegorischen Wesen einer um sich selbst kreisenden Ware vorweg: Tod und Immanenz. Heute wird diese Entleerung als lähmender, passiver, dinghafter Konsumgenuss erlebt – ohne Bezüge und geheime Gespenster. Diese beiden produktiven Merkmale des Imaginären müssen problematisiert werden: Zum einen, indem man auf die zweideutige Rolle der Imagination als Ort eines Subjekts zurückgeht, das nicht mehr zu sich selbst finden kann und das daher nie in der symbolischen Wirklichkeit aufgehen kann; zum anderen, indem man nicht in einer utopischen Flucht die Bühne verlässt, die uns strukturiert und deren Teil wir sind, sondern indem wir das Phantasma festhalten, also eben jenes Gespenst, das sich sowieso in den Falten des dingund projekthaften Imaginären reproduziert. Nur so kann die Wirtschaft wieder politisiert werden. Aber alles der Reihe nach.

B IOÖKONOMIE Wir haben die aktuelle Gesellschaft genau deswegen als bioökonomisch bezeichnet, weil das ökonomische Vokabular die Subjektivierungen, das Leben und generell auch den Zugang zu sozialen Bindungen direkt bestimmt. Dieser Code stützt sich auf die zentrale Bedeutung des Konsums und auf den Impuls, subjektives Begehren unmittelbar befriedigen zu wollen: Es handelt sich um eine singularisierte, post-ödipale Gesellschaft, in welcher das dominante Imaginäre die Selbstverwirklichung ist. Während die narzisstische Komponente durch die Deregulierung und die Aufwertung der individuellen expressiven Kreativität verherrlicht wird, lenkt die Selbstverwirklichung das Begehren vom anthropogenen und symbolisierenden Verbot auf die unmittelbare Befriedigung um und folgt so der Aufforderung des Über-Ichs nach Genuss. In der Bioökonomie ist dieser Mix aus narzisstischer Investition und Dinggenuss ein politischer Faktor (vgl. Žižek 2002). Das Begehren nicht zu verschieben und zu sublimieren (hieraus resultieren die ödipalen, disziplinären Subjektivierungen), sondern auf unmittelbare Befriedigung auszurichten, führt zu einer Spirale unbegrenzten Wachstums (vgl. Bazzicalupo 2008). Eine solche Geste – wie auch die Anlage der zukünftigen Rente in hohe Rendite versprechenden Aktien, was die gesellschaftliche Rolle desjenigen destabilisiert, der investiert, der vom Angestellten zum Kapitalisten und Börsenspekulanten wird, der im Handumdrehen und mühelos an Aktien verdient und somit in deren spekulativen Glück miteinbezogen ist – ist nur möglich, wenn sie von einem Imaginären getragen wird, das uns alle als direkte Manager unseres Lebensplans betrachtet und uns zugleich aber auch auferlegt, dieses Leben jetzt sofort zu genießen (vgl. Marazzi

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1999). Dies ist nur mittels des gesunden Menschenverstands möglich, der narzisstische Entscheidungen, Genuss und Selbstverwirklichung legitimiert. Aber die Funktion des Imaginären besteht nicht nur darin, die Anpassung an das Leben und an die gesellschaftliche Ordnung durch emotionale Investition zu fördern, sondern auch Antagonismus und Reibung zu vermindern: Die gespenstische Erzählung hat die Aufgabe, einige ursprüngliche tote Punkte zu verstecken, indem sie den strukturellen, gesellschaftsdurchquerenden Antagonismus verdeckt und Risse in jeder von ihm abhängigen Form der Subjektivität aufreißt. Stellen wir uns nun eine komplexe, aber relativ kohärente Darstellung des Gesellschaftssystems wie die des Neoliberalismus vor. Diese erzählt von subjektiven, unabhängigen Akteuren (poteri soggettivi, d.Ü.), die sich frei zu einem System von Austauschbeziehungen verknüpfen, die im wirtschaftlichen Interesse aller auf die subjektive und unmittelbare Befriedigung ausgerichtet sind. Während wir uns im Namen des sozialen Kapitals auf das Leben in einer nicht aneigenbaren Gemeinschaft, auf den general intellect beziehen – Sprache, Geschmack, Ausdrucksformen, soziale Kreativität –, das im offenen, realen und virtuellen Raum der Stadt fluktuiert und das aus Sicht des Einzelnen sein Leben nährt und ihm Form gibt, sind wir alle Träger von Humankapital. Das Humankapital ist der Ausdruck, der in der Ära des postfordistischen Kapitalismus die produktive und kreative Kraft eines jeden im Zeichen der Arbeit stehenden Lebens bezeichnet (vgl. Lazzarato 1997; Boltansky/Chiappello 1999). Als krönender Schlussstein des einstigen fordistischen Imaginären wird die Arbeit nun als freie agency neu gedacht, als produktiv oder kommunikativ, organisatorisch und relational, als eine agency, die aufs Spiel gesetzt und im eigenen Interesse aufgewertet wird. Wie man ahnen kann, handelt es sich hierbei um ein radikales Neudenken des ökonomischen Dispositivs, das im 20. Jahrhundert das gesellschaftliche Leben aufrechterhalten hat: mit sehr starken Auswirkungen auf die Subjektivierungsprozesse und auf die menschliche und gesellschaftliche Sphäre. Der alte von Fordismus und Wohlfahrt geprägte Sinnrahmen – der sehr relevante biopolitische Züge aufweist – ist mehrmals in dieser Krise heraufbeschworen worden, wie man einen Geist heraufbeschwört, der von einer moderneren Wirklichkeit beiseitegeschoben wurde, aber in der Tragödie dann als steinerner Gast wiederkehrt. Meiner Meinung nach ist dieser Geist nicht der neoliberale Sinnrahmen: Zweifelsohne verdunkelt und beseitigt er heute erneut zu Tage tretende Notwendigkeiten, vor allem die gesellschaftliche Solidarität, aber er hat nicht die Aufgabe, durch sein Verschwinden die Darstellung dessen aufrecht zu erhalten, was ausgeschlossen ist. Er hat nicht die Dichte des (marxistischen) Gespenstes, das durch die Welt geistert und den gesamten Rahmen an Wahrheit und Denkbarkeit in Frage stellt.

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D AS G ESPENST DER W OHLFAHRT UND DES L IBER ALISMUS Warum? Was sind die Merkmale, welche die neue neoliberalistische Ordnung im Wesentlichen nie verleugnet hat und die somit den alten Rahmen des Welfare daran hindern, wirklich das Unausgesprochene und das Ungedachte des aktuellen Kapitalismus zu sein, das es lediglich neu zu beleben gelte, um dem Albtraum der Krise zu entkommen? Das fordistische Imaginäre beruht auf der zentralen Idee von Produktion. Aber die Überschneidung von sozialen, staatlich verteilten Dienstleistungen (welche die Entlohnung von Arbeit beinhalten) mit der Produktivwirtschaft – Staat und Markt – formt die Subjektivierungsprozesse, die geheimen Ränder des Lebens, verkettet Begehren und Fürsorge mit Planbarkeit und Verteilungsmanagement. Die vier Jahrzehnte, die vom amerikanischen New Deal zur deutschen Großen Koalition der Sechziger Jahre reichen, dürfen gewiss als Schlüsselmoment für einen großen Sozialpakt betrachtet werden, bei dem die Politik einer Wirtschaft, die deren Leitfunktion anerkennt, den Sinn der gesellschaftlichen Bindungen liefert. Aber denjenigen, die es vermögen, diesbezüglich anthropologische und biopolitische Veränderungen wahrzunehmen (vgl. Bauman 1982; Offe 1993), entgeht ebenso wenig das Schreckgespenst, das bereits zu diesem Zeitpunkt, das sozialdemokratische Lager des Sozialstaates quält: die fast komplette Subsumtion der grundlegenden menschlichen Beziehungen unter die bürokratische und wirtschaftliche Logik des Welfare. Pflege, Gesundheit, Betreuung von Kindern und Alten, auf gegenseitiger Hilfe gründende Beziehungen, Ausbildungs- und Erziehungsprozesse, der Umgang mit Freizeit, die räumliche Verteilung, die Sicherheit der Zukunft: Die Reproduktion des Lebens unterliegt in ihrer Gesamtheit der ökonomischen Produktionslogik. Das Unausgesprochene dieses gigantischen wohlfahrtsorientierten biopolitischen Dispositivs – das im Hinblick auf Wachstum, Fortschritt und auf die Steigerung des Lebens überzeugend ist –, das verdrängte Gespenst ist das Ende der Selbstverständlichkeit dieser grundlegenden Beziehungen, ihre Kommerzialisierung und ihr Übergang in die Sphäre der organisierten Arbeit. Eine Kommerzialisierung, die – als ebenso verdrängter Zusatz – die Ungleichheit, die Nichtebenbürtigkeit und den gesellschaftlichen Konflikt verdunkelt und verdrängt, indem sie den antagonistischen Kampf auf die Frage nach einer gerechten Verteilung des Überschusses verschiebt. Die antagonistische Getrenntheit der Körper, welche die Situation vor Einführung des Wohlfahrtsstaates charakterisierte – die Körper, derer die mehr besaßen und mehr genossen im Gegensatz zu denjenigen, die die Kontrolle über den eigenen Körper und die eigene Arbeitskraft abgaben –, ergießt sich in Verhandlungen zur Umverteilung und in einem generellen Zugang zum Konsum. Die doppelte gesellschaftliche Beziehungsebene wird somit zum Gespenst: zum einen die auf Gegenseitigkeit beruhenden Verhältnisse, die im Schatten von kalkulierbaren und unpersönlichen Vertragsbeziehungen stehen, und

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zum anderen die eigenständige Sphäre des politischen Widerstands, die sich in Verhandlungen eines Verhältnisses von Konsum und Dienstleistungen auflöst, das die gesellschaftlichen Rechte der Arbeiter verkörpern soll. Diese Beobachtungen, welche die ohnehin schwierige Bewertung der Wohlfahrt sicher nicht einfacher machen, helfen uns zu verstehen, dass es angesichts der gigantischen postfordistischen Veränderungen keine Kontinuitätslösung gibt. Dies gilt insbesondere für jene zu Gespenstern stilisierten und von der allseits geteilten Selbstdarstellung ausgeschlossenen Wesensarten. All das, was bislang nicht gedacht und dargestellt worden ist, bleibt ungedacht und unterstützt so das neue liberale und postfordistische Imaginäre, jedoch mit einem derart ausschlaggebenden Überschuss, dass die Vergespensterung radikalisiert wird. Die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen wird von einem anthropologischen Imaginären gefördert, das die mögliche fortschreitende Unabhängigkeit verherrlicht, eine Autonomie, die sich auf die Verantwortlichkeit für das eigene Leben stützt und die Vorstellungskraft aufwertet. Viele Aspekte, die das alte System charakterisierten, sind zerstört worden (die Jobgarantie, die Garantie von Dienstleistungen, die offene Perspektive für Lohnerhöhungen). Andere, weniger augenfällige und gespenstischere Aspekte bestehen hingegen weiter fort. Es kann auch gar nicht anders sein, denn nur eine bewusste Auseinandersetzung damit, sozusagen das Durchqueren des Phantasmas, könnte zu neuen Einstellungen führen, welche die Koordinaten des Diskurses radikal erneuern. Die destabilisierenden Effekte liegen klar auf der Hand: die Deregulierung der gesellschaftlichen Beziehungen, die unterwürfigen Arbeitsbeziehungen, der spasmodische Kampf um Arbeitsplätze, die fortschreitende Entsozialisierung und Individualisierung. Diese Effekte werden von der Krise doch nur noch nachdrücklich hervorgehoben. Und dennoch scheint die Destabilisierung über ein ambivalentes Befreiungspotential zu verfügen, das sich auf die Befreiung von der Verantwortung für das eigene Leben stützt: freiheitsfeindlich und freiheitsfördernd, hätte Foucault gesagt (vgl. Foucault 2004). Selbst auf dem sogenannten antagonistischen Gebiet scheint die Immaterialität eine mögliche palingenetische, psychologische und gesellschaftliche Umkehr der Wertsteigerung selbst (vgl. Negri/Hardt 2004: 84) näher rücken und greifbar werden zu lassen (warum eigentlich nicht, als es sich um Schwerindustrie und Festkapital handelte): Genuss und Kreativität (von entgegengesetzten Logiken gestützt) sind im bioökonomischen Imaginären zwei Seiten der gleichen Medaille. Dieses Imaginäre verspricht Befreiung: Entbürokratisierung, Antizentralismus, Enthierarchisierung und Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen, Ablehnung der Planungslogik und Kooptation heterogener Kräfte in der Governance. Es dekonstruiert den industriellen Gigantismus und mythisiert die kleinen Garagen, in denen das kreative Genie in Turnschuhen Ideen hervorbringt, die die Welt verändern. Letzteres verfügt über Organisationstalent, ist flexibel

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und hat Spaß an der Arbeit. Die Veränderung des gesunden Menschenverstands hin zu einem privatistischen und dereglementierten Konzept ist tiefgreifend und ausschlaggebend. Diese Vorstellungen sind extrem überzeugend: Sie bewirken, dass der Unterschied als Wert und als äußerste Form der modernen Subjektivierung wahrgenommen wird. Sie bewirken, dass wir der konformistischen Heteronomie der staatlichen Verwaltung müde werden. Sie beziehen den Einzelnen, omnes ut singuli, in das ungleiche Spiel der potentiellen Bereicherung mit ein – und die Geschichte der Subprime-Kredite bezeugt dies klar –, in ein Spiel, das nur wir allein am Laufen halten. Nicht zuletzt führen sie auch zum Drang nach Genuss, zur Entindividualisierung, die ja der Todestrieb ist, wenn man sich in den Dingen und in den Bildern der Gesellschaft des Spektakels verliert. All dies spitzt jedoch das fetischistische und gespenstische Wesen des Kapitalismus zu. Mit dem Zuwachs der leuchtenden Leitbilder – Agency, Unternehmungsgeist, Profit – wächst auch die dunkle Seite, die Zahl der Gespenster. Die gespenstische Kehrseite, die bereits in der Ära des Wohlfahrtsstaates auf den Weg gebracht wurde, ist die Kommerzialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die wie ein angsterregender Schatten unseren Lebensalltag bestimmt und die zu einem Autonomieverlust zu Gunsten des wirtschaftlichen Aushandelns führt. Dies ist das Unausgespochene der privatistischen Revolution, die Leistung und Selbstverwirklichung verherrlicht. Natürlich kann man die eigene Freiheit als Humankapital und die eigenen Handelsbeziehungen zu anderen auch positiv erleben, man kann die Vergangenheit und die Zukunft an der Börse aufs Spiel setzen, Dinge, die ihrerseits von einem angsterregenden und beunruhigenden Schatten verfolgt und auch angeregt werden. Solange es nur nicht zur Krise kommt. Dann müsste alles, nämlich beide Aspekte, ans Licht kommen: Denn man allein verliert alles und weiß dann nicht, wie Beziehungen, Dienst- und Hilfsleistungen, die nur ökonomisch ausgehandelt werden, bezahlt werden sollen. Es gibt keine spontanen, freundschaftlichen Auffangnetze mehr: Man ist mutterseelenallein.

E NTKONKRE TISIERUNG UND I MAGINATION Aber im Rahmen eben dieser Aufforderung zum Genuss (und somit des Wegfalls des antropogenen und subjektivierenden Begehrensverbotes, das der ordnenden Dynamik des Symbols Raum gab) spukt noch ein weiteres Gespenst umher. Gleiches gilt auch für einen dunklen Schatten, der die Vermehrung in einem immanenten und verweislosen Imaginären beeinträchtigt. Dieses Gespenst ist die Entkonkretisierung der Dinge, die zu reinen Zeichen und zu Abbildungen des wirtschaftlichen Werts werden, welche ihrerseits von der einzigen, diesen Wert bestimmenden Leistung aufgesogen werden: dem Geld und der Tauschbeziehung. Aber waren die Dinge – heute Bilder, Kulturaufführungen, Pflege und

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Dienstleistungen – früher nicht die Schreckgespenster der Menschen, der Lebenden? Der lange Schatten der Entkonkretisierung breitet sich von den Waren auf die Produzenten aus, auf die Lebenden, die Androiden, die Austauschbaren und die Entwerteten. Die verdrängten Geister kehren plötzlich zurück. Das Imaginäre verschließt genau diese ursprünglich toten Punkte. Dabei wird eine ganze Reihe von Phantasmen, die dieses Szenarium aufrecht erhalten, von der Darstellung ausgeschlossen: die Entfremdung und die Kommerzialisierung der menschlichen Beziehungen; der Verlust eines externen, antagonistischen Standpunkts, den man außerhalb des Marktschemas denkt und wünscht; das Schreckgespenst der sozialen Ungleichheit, der ungleichen Verteilung der Kräfteverhältnisse, der Auswirkungen von Gewalt und von materiellem Entzug, durch die sich die soziale Ungleichheit reproduziert und schließlich die Entwertung des Menschen selbst, eben jenes so verherrlichten Lebens, das von austauschbaren Erfahrungen und Erfindungen aufgesogen und im Vakuum eines im Genuss erloschenen Begehrens ausgelöscht wird. All diejenigen, die diese Erfahrung am eigenen Leib machen, sehen in der Krise das Ereignis und die Offenbarung dieser Gespenster: Sie müssten also Sichtbarkeit fordern und ihrerseits sehen. Die Erkenntnis, dass die Grenze zwischen Innen und Außen flexibel ist, dürfte den Eingeschlossenen die Hinfälligkeit ihrer eigenen Klagen und ihres eigenen Protests qualvoll vor Augen führen. Aber dies geschieht nicht oder es geschieht nur am Rande, während im Zentrum des Ereignisses eher eine falsche Bewegung erstarkt (vgl. Bazzicalupo 2011). Es ist ein bisschen wie bei dem Anschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Dieser hat nicht dazu geführt, dass das System wirklich überdacht wurde, sondern nur dazu, dass die Darstellung an das gouvernementale Prinzip des Risikomanagements angepasst wurde. Um auf die Darstellung der Krise zurückzukommen: Im Zentrum der Darstellung steht nach wie vor die Idee, dass die Wirtschaft unabhängig sei. Das System wird als ein selbstnormativer Organismus dargestellt, der über ein zwanghaftes und kumulatives Wesen verfügt, welches die Aufforderung zu Konsum und Genuss widerspiegle und von dieser auch widergespiegelt werde. Auch wenn eine Unzahl von ökologischen und vor allem menschlichen Trümmern diese Art, die Wirtschaft darzustellen, begleiten, so hält diese dennoch an der Überzeugung fest, dass die Wirtschaft ihre Korrektive in sich trage und dass die von ihr selbst hervorgebrachten Krisen und Katastrophen lediglich nach technischen Lösungen bzw. nach einer technischen Politik verlangten. Den jungen Menschen, die in ihren Lebensplänen durch ein Prekariat blockiert werden, das jeden ideologischen Anstrich verloren hat, steht die Angst, die Abhängigkeit und die strukturelle Ungewissheit ins Gesicht geschrieben; die Ersten, denen man als unbequemer Konkurrenz durch rassistische Intoleranz und Ausweisung begegnet, sind die Einwanderer, welche die Produktion lange gestützt haben; die massive Hungernot, die die schwächsten Zonen der

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Welt überwältigt; die Fabriken, die ihre Tore geschlossen haben; die durch die Angst vor Arbeitslosigkeit losgetretenen Demonstrationen; der Eindruck, dass das System weder auf die Bedürfnisse noch auf die – so verherrlichten und als Recht wahrgenommenen– Wünsche des Großteils der Bevölkerung eingeht. All dies dürfte jetzt sichtbar sein: Die Ungleichheit, das Unterworfensein, das existentielle Unbehagen sind sichtbar. Wenn das kollektive Imaginäre Formen von Subjektivität hervorbringt, indem sie diese in einer absurden und selbstreferentiellen Blase verortet, so ist die traumatische Härte der Wirklichkeit – Hunger, Sorgen, Ungewissheit, Angst – ein Ereignis, das die Verbindung zu dem verdrängten Phantom wiederherstellt: Es dürfte uns zwingen, ihm in die Augen zu schauen. Dennoch ist es heute recht kompliziert, das Phantasma zu sehen: Wir haben bereits beobachten können, wie die Parabel in Bezug auf die Entleerung des Symbols und die Fähigkeit der Dinge, auf die Wahrheit der zwischenmenschlichen Beziehungen zu verweisen (selbst wenn diese gespenstisch geworden sind), nach und nach zunehmend selbstreferentiell und buchstäblich wird. Es greift das Imaginäre der Simulakren um sich, welches sich zeitlich lediglich auf die Gegenwart beschränkt. Die Bilder und das Spektakel, die uns vereinnahmen und zu deren Produktion wir paradoxerweise beitragen, verweisen weder auf den großen Anderen noch auf ein absolutes Jenseits: Sie vollenden die Entleerung der symbolischen Eigenschaft von Imaginärem/Ware, die Marx als einen prozessualen Verlust an Konkretheit verstand und die Benjamin in der Allegorie einer um sich selbst kreisenden Ware darlegte. Heute erleben wir sie, wie bereits erwähnt, in Begriffen des konsumgeprägten Dinggenusses, bar jedweder Bedeutung und Verweise, ohne heimliche Gespenster. Im besten Falle bringen diese Bilder, so wenn sie sich als Kunst bezeichnen lassen, das Reale durcheinander, zeigen den blinden Fleck, das schwarze Loch des gespenstischen Realen und unserer Seinskondition als beschnittene und unvollendete, d.h. als zur Imagination fähige Subjekte. Der zentrale Punkt ist: die Imagination. Die psychoanalytischen Kategorien bewahren uns vor zu euphorischen, dionysischen Lesarten, die dieses Vorstellungsvermögen transparent werden lassen. Die Bedeutung der Imagination scheint eher verdrängend, Unordnung schaffend und zersetzend als romantisch kreativ zu sein. Sie verweist eher darauf, dass Subjekte nicht reduziert werden können und auf die performativen Subjektivierungen des Systems. Kurz, sie verweist auf den Rest an Unordnung und an Nichtübereinstimmung, welcher nach der Unterwerfung unter die Tauschlogik übrig bleibt und welcher Reibung und Unbehagen erzeugt. Das strukturelle Scheitern der sozialen und imaginären Subjektivierung ist also das wahre Schreckgespenst, das allein uns retten kann. Gespenstisch und kostbar ist das Unbehagen, das Nichtübereinstimmen, der Überschuss, der Rest und der blinde Fleck in der Flut einer all inclusive-Kommunikation. Genau dies muss bewahrt, geschützt und angehört werden.

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G EISTER HER AUFBESCHWÖREN An diesem Punkt kann die Krise also als eine Abweichung vom Entwicklungsverlauf und von der Steigerung verstanden werden, als eine zu heilende Abweichung und als ein durch biopolitische Normalisierungstechniken zu verwaltendes Risiko. Aber die Krise kann hingegen auch als ein Wiederaufblühen des Realen interpretiert werden, eben jenes gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses, das von der Ordnung des Marktes weder abgebildet wurde noch abgebildet werden konnte, aber nichtsdestoweniger ihm außerhalb der Bühne (des Obszönen) zu Grunde lag. Oder kann die Krise – noch radikaler – als das Wiederaufkommen jenes Unbehagens, jenes Symptoms und jenes Unwohlseins betrachtet werden, das der – perverse und hysterische – Spion der Lücken im System ist? In diesem Sinne verweist das Wort ›Krise‹ nicht mehr auf ein medizinisches, sondern auf ein psychoanalytisches Vokabular: Die Krise ist nicht als ein zu heilendes Symptom zu verstehen. Sie muss vielmehr akzeptiert werden und die Spaltung der Gesellschaft, die diese heimlich durchquert und bildet, anerkennen. Diese Spaltung darf durch eine neue Lawine an Konsum, Gegenständen und Dienstleistungen weder verdeckt, noch überwunden, noch zusammen genäht werden, sondern muss als gespenstische Kehrseite des ökonomischen kapitalistischen und neoliberalen Subjektivierungsprozesses gebilligt, praktiziert und aufrecht erhalten werden. Dieser Prozess hat einen jeden von uns geformt, indem er den Riss, die Unordnung verschleiert und in ökonomische Begriffe übersetzt hat, so nicht nur im Äußeren, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch in unserem Innern im Hinblick auf das nicht kreative, sondern Unordnung schaffende Vorstellungsvermögen: ein Riss, der sich im Symptom – Anpassung und zugleich Unbehagen – als Äußerung eines Seins außerhalb der Norm erweist, out of joint, als eine Nichtübereinstimmung mit der Identifikation im mächtigen Imaginären des Humankapitals. Der Zugangsschlüssel ist der die Ordnung verunsichernde Aspekt der Imagination, ihre Rauheit. Dies bedeutet, sich der politischen Dimension der Wirtschaft bewusst zu werden, die gesellschaftliche Bindung des Marktes anzuerkennen und in ihm – in seinem ideologischen Doppel – ein gespenstisches Element, das die Politik des Risikomanagements weiterhin nicht sehen will: das Elend der Gegenwart und seine damit einhergehende Akzeptanz als nicht veränderbar, fast natürlich, aber auch unser Unbehagen und die Unordnung der Imagination. Die Wahrheit einer Situation tritt nur durch den Antagonismus zu Tage, der sie aus dem Gleichgewicht bringt. In der Krise zeigt die gespenstische Wirklichkeit des Kapitalismus das ihr zu Grunde liegende Geheimnis und verschleiert es. Vielleicht nimmt das Wort ›Krise‹ nun die Bedeutung an, die es auch bei Thukydides hatte, nämlich die eines entscheidenden Entschlusses, der aus einem kontingenten menschlichen Verhalten resultiert: Sie wird zum Urteil,

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wird Politik. Die sequenzielle Zeitlichkeit zerbricht ebenso wie auch der unbewegliche Tanz; vielleicht können wir uns nun wirklich bewegen. Aus dem Italienischen von Vittoria Borsò und Sieglinde Borvitz

L ITER ATUR Baudrillard, Jean (2005): Violenza del virtuale e realtà integrale, Florenz: Le Monnier. Bauman, Zygmunt (1982): Memories of Class: The Pre-History and After-Life of Class, London: Routledge & Kegan. Bazzicalupo, Laura (2008): »Soggetti al lavoro«, in: Lelio Demichelis/Giovanni Leghissa (Hg.): Biopolitiche del lavoro, Mailand: Mimesis, S. 57-72. Bazzicalupo, Laura (2011): »Political imagination and the linguistic turn of cognitive capitalism: The market as an economic-symbolic machine«, in: Chiara Bottici/Benoît Challand (Hg.): Imagination and Politics, London: Taylor and Francis, S. 86-108. Benjamin, Walter (1982): Gesammelte Schriften, Bde. V/1, V/2 Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Boltansky, Luc/Chiappello, Eve (1999): Le nouvel esprit du capitalisme, Paris: Gallimard. Debord, Guy (1992): La société du spectacle, Paris: Gallimard. Derrida, Jacques (1993): Spectres de Marx, Paris: Galilée. Foucault, Michel (2004): Naissance de la biopolitique. Cours au Collège de France 1978-79, Paris: Gallimard, Seuil. Lazzarato, Maurizio (1997): Lavoro immateriale. Forme di vita e produzione di soggettività, Verona: Ombre corte. Marazzi, Christian (1999): Il posto dei calzini. La svolta linguistica dell’economia e i suoi effetti sulla politica, Turin: Bollati Boringhieri. Marx, Karl (1962): »Der Produktionsprozeß des Kapitals«, in: Friedrich Engels/ Karl Marx, Werke, Bd. 23.1, 1. Aufl., Berlin: Dietz Verlag. Miller, Peter/Rose, Nikolas (1990): »Governing economic life«, in: Economy & Society 1, S. 1-31. Negri, Antonio/Hardt, Michael (2004): Moltitudine. Guerra e democrazia nel nuovo ordine imperiale, Mailand: Rizzoli. Offe, Klaus (1993) (Hg.): Contradictions of the Welfare State, Cambridge/Massachusetts: Mit Press. Žižek, Slavoj (1997): The Plague of Fantasies, London: Verso. Žižek, Slavoj (2002): For They Know Not What They Do: Enjoyment As a Political Factor, London: Verso.

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Sozial, politisch, biopolitisch Die soziale Marktwirtschaft und die Krise Thomas Bedorf

Die Krise ist Geschichte. Dieser Eindruck wird jedenfalls beim Beobachter erweckt. Es scheint, als habe die Finanzmarktkrise, die – man weiß nicht genau wie sehr – die reale Wirtschaft angesteckt hat, ihr Erregungspotential erschöpft. Diese Krise hatte, wie wir uns vielleicht erinnern, in den verschiedenen Staaten und Staatsverbünden nicht völlig entgegengesetzte, aber doch in ihrer Reichweite unterschiedlich starke Wirkungen ausgelöst. Hierzulande ist von den Verfechtern des deutschen Modells einer ›sozialen Marktwirtschaft‹ zu hören, es habe sich angesichts der Krise als besonders widerstandsfähig erwiesen, weil es den Lockungen eines allzu liberalen Freihandels erfolgreich widerstanden und die Krise entsprechend weniger auf Wirtschaftskraft und Arbeitsmarkt durchgeschlagen habe. Nun mache sich die stärkere soziale Einhegung des Kapitals in einer Situation bezahlt, in der der Neoliberalismus sich selbst den Boden entzöge. Die Soziale Marktwirtschaft, deren 60. Geburtstag erst vor wenigen Jahren begangen wurde, gilt als ein deutsches Erfolgsmodell; so erfolgreich, dass man es – wie alles, was das Siegel Made in Germany trägt – exportiert; zum Beispiel nach Frankreich, wie zumindest Michel Foucault feststellt. In seinen Vorlesungen vom Ende der 1970er Jahre hatte Foucault dargelegt, inwieweit im neoliberalen Umbau der französischen Wirtschafts- und Sozialpolitik das deutsche Vorbild wirksam ist. Aber was heißt hier neo-liberal? Dient diese Vokabel nicht im Allgemeinen dazu, ein Gegenbild des Sozialen mit Bezug auf die Soziale Marktwirtschaft zu entwerfen, also als Bezeichnung jenes Rückbaus der Errungenschaften vergangener sozialpolitischer Kämpfe, die in Frankreich die aquis sociaux heißen? Die Soziale Marktwirtschaft ist im öffentlichen Diskurs – so scheint es – ebenso wie der Neoliberalismus zu einem leeren Signifikanten geworden, den man beliebig einsetzen kann. Die Dinge liegen bei Foucault anders, weil er einen historischen und strukturellen Zusammenhang zwischen beiden Ordnungsmustern darlegt, der in die These vom Individuum als »Unternehmer

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seiner selbst« (Foucault 2004a: 314) mündet. Den Zusammenhang zwischen Generalisierung des unternehmerischen Diskurses, Genese der Sozialen Marktwirtschaft und Foucaults These von der biopolitischen Regierungsform will ich im Folgenden skizzenhaft darstellen. Dass aus diesem Zusammenhang aber keineswegs im selben Zug klar werden kann, was unter dem Begriff der Bioökonomie zu verstehen ist, ist meine Vermutung, die sich bewähren soll. Den anhand von Foucaults Werk angestellten Überlegungen stelle ich ausschnitthaft die Skizze einer spezifisch deutschen Reaktion auf die jüngste Finanzkrise voran, die weniger beansprucht, eine methodisch gesicherte Darstellung zu liefern als eine Stichprobe auf einen derzeit vernehmbaren Diskurs.

D IE M OR ALISIERUNG DER S OZIALEN M ARK T WIRTSCHAF T Die Verwerfungen, welche die Finanzkrise 2007/2008 mit sich gebracht hat, haben einem wirklich Angst machen können. Als Laie hat man die Erschütterungen der unbekannten Welt der Finanzmärkte und ihrer Akteure mit einem gewissen erschauderndem Amüsement beobachtet. Wenn die sogenannten subprime loans und die Verbriefung solcher riskanter Schuldpapiere zur Herabstufung der gebündelten Wertpapiere in den entscheidenden Ratings führt, werden Vertrauensbeziehungen zwischen Finanzmarktakteuren unterspült, die sich auf solche, das individuelle Risiko objektivierende Kriterien wie Ratings stützen. Es wurde gewissermaßen am lebenden Objekt vorgeführt, was schon seit längerem in der sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Diskussion eine gängige Einsicht ist: nämlich, dass auch der homo oeconomicus ohne Vertrauen, und sei es nur ›systemisches Vertrauen‹, wie es Niklas Luhmann nannte (vgl. Luhmann 1973), seinem Tagewerk gar nicht nachgehen kann. Das Vertrauen systemrelevant zu nennen, bedeutet dabei, es nicht als ein normatives, gar moralisches Erfordernis, sondern als eine notwendige funktionale Voraussetzung des ökonomischen Systems selbst anzusehen. Vertrauen kann man weder kaufen noch verkaufen, aber ohne es lässt sich gar nicht handeln. Wo das Vertrauen geschwunden ist, muss es wiederhergestellt werden, damit das System nicht vollends kollabiert.1 Wenn die Ökonomie sich selbst nicht helfen kann, ist also die Politik zum Handeln aufgerufen. Die Reaktionen auf die verfasste Politik waren besorgt, aber auf diffuse Weise auch euphorisch. Endlich war die Politik wieder gefragt, war nicht mehr als bloße Erfüllungsgehilfin dessen geduldet, was in den ökonomischen Interaktionen sowieso bereits entschieden war; endlich schien wieder Platz zu sein für eine politische Funktion 1 | Falls das gelingt, denn ein naheliegender Einwand lautet, dass Vertrauen wesentlich schwieriger (wieder-)herzustellen als zu zerstören ist (vgl. Röttgers 2004).

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der Politik und nicht bloß jene, die Lücken zu füllen, welche die Ökonomie gelassen hatte. Die Reaktionen der politischen Akteure waren sich dabei über das Ziel, aber durchaus nicht über die Mittel, wie dieses zu erreichen wäre, einig. Dass die Euphorie über die Rolle der Politik für die Steuerung ökonomischer Prozesse verflogen ist, hat verschiedene Gründe. Festhalten wird man können, dass jenseits der diversen freigiebig verabschiedeten Konjunkturpakete und Rettungsfinanzierungen, die nur die kurzfristige Stabilisierung, nicht aber eine langfristige Krisenprävention zum Ziel hatten, von den Regulierungen der Finanzmärkte, die auf den beiden G-20-Gipfeln im den Jahren 2008/9 vereinbart wurden, nicht mehr viel die Rede ist.2 Man darf so oder so davon ausgehen, dass diejenigen, die Finanzprodukte zu verkaufen haben, kreativ genug sind, um Produkte zu erfinden, die unter den jeweiligen rechtlichen Bedingungen hinreichend profitabel sind. In diesem Sinne kommt die nächste Krise bestimmt. Mich interessiert jedoch weniger die Frage, ob – und wenn ja – warum die Politik an der Herrschaft des Ökonomischen tatsächlich scheitert oder gescheitert ist. Mir kommt es hingegen auf die Beobachtung an, dass man sich besonders in Deutschland weniger durch die Krise bedroht, als vielmehr bestätigt sah. Es ließ sich an den Aussagen von Kommentatoren und handelnden Politikern wiederholt ablesen, wie froh man war, dass man nicht zu den marktradikalen Predigern gehört hatte. Denn sonst stünde man jetzt ziemlich einsam auf der falschen Seite. Vielleicht war man (so im konservativen Spektrum) auch ganz froh, dass man mangels politischer Mehrheiten manchen Liberalisierungsschub (wie ihn etwa die CDU noch auf dem Leipziger Parteitag 2003 in Aussicht gestellt hatte) nicht hatte durchsetzen können. So aber konnte man den Briten und den Amerikanern die effektivere, weil konservativere sozio-ökonomische Ordnung in Form der Sozialen Marktwirtschaft entgegenhalten. Als ein Beispiel unter vielen sei die Neujahrsansprache 2009 der Bundeskanzlerin zitiert: »Denn die weltweite Krise berührt auch Deutschland. Finanzielle Exzesse ohne soziales Verantwortungsbewusstsein, das Verlieren von Maß und Mitte mancher Banker und Manager – wahrlich nicht aller, aber mancher – das hat die Welt in diese Krise geführt. Die Welt hat über ihre Verhältnisse gelebt. Nur wenn wir diese Ursachen benennen, können wir die Welt aus dieser Krise führen. Dazu brauchen wir klare Grundsätze: Der Staat ist der Hüter der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Der Wettbewerb braucht Augenmaß und soziale Verantwortung. Das sind die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Sie gelten bei uns, aber das reicht nicht. 2 | Ganz abgesehen davon, dass selbst diese Konferenzen, die an einer dauerhaften Prävention vergleichbarer Krisen orientiert waren, an einer prinzipiellen Einäugigkeit leiden, weil sie die von den G20-Staaten zu unterscheidenden Belange der Schwellenund Drittweltländer kaum berücksichtigen (vgl. Neuber 2009).

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T HOMAS B EDORF Diese Prinzipien müssen weltweit beachtet werden. Erst das wird die Welt aus dieser Krise führen. Die Welt ist dabei, diese Lektion zu lernen. Und das ist die Chance, die in dieser Krise steckt, die Chance für internationale Regeln, die sich an den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft orientieren.« (Merkel 2009)

Was aber ist Soziale Marktwirtschaft? Um die Frage zu beantworten, interessiert mich zunächst nicht die Herkunft des Ausdrucks (davon wird mit Foucault noch zu reden sein), sondern die Funktion, die er in Äußerungen von Politikern angesichts der Krise spielt. Dabei scheint es, als würde er als das Gegenbild eines schrankenlosen, deregulierten Strebens nach Profitmaximierung fungieren. Das ökonomische Handeln, das zur Finanz- und Wirtschaftskrise geführt hat, erscheint in diesen Äußerungen als ein mehr oder minder normativ allein gelassenes Handeln. Allein die ökonomische Rationalität leitet die Transaktionen. Notwendige und sinnvolle Beschränkungen sind in diesem Szenario nur möglich durch eine Politik, die als Wächterin auftritt. Der Hobbes’sche Nutzenmaximierer bedarf eines zähmenden Leviathans, mit dem Unterschied, dass der Leviathan der Sozialen Marktwirtschaft kein absoluter Souverän ist, sondern eine demokratische Regierung. Allerdings hat sich die ersehnte Rückkehr der Politik schließlich weniger als ein machtvolles politisches Ungeheuer erwiesen, denn als zahnloser Tiger. Da die Stellschrauben der Wirtschaft – von denen so häufig die Rede ist, als ob es sich beim ökonomischen System um einen maschinellen Mechanismus und nicht um eine letztlich undurchschaute Wechselwirkung komplexer Abhängigkeiten handelte – gerade nicht so leicht anzuziehen sind bzw. sie immer öfter klemmen, muss der Eingriff von außen ergänzt werden durch eine interne Selbstregulierung. Dabei kann es den Politikern offensichtlich nicht um die vielberufenen Selbstheilungskräfte des Marktes gehen. Diese haben sich ja gerade offensichtlich blamiert oder gar als gänzlich inexistent erwiesen. Appelliert wird vielmehr an eine öde Ökonomie, externe normative Selbststeuerung der ökonomischen Akteure, d.h. an die Moral der Handelnden. Die Breite der Appelle reicht vom moralischen Aufruf an die Gemeinwohlorientierung der Eliten (oder die Klage über deren Verlust), über die Wiederbelebung des mittelalterlich-neuzeitlichen Leitbilds des ›ehrbaren Kaufmanns‹ bis zur sachlich und rhetorisch fehlgeleiteten Neid-Diskussion um die Boni der Banker, die auch immer mal wieder ihren juridischen Niederschlag findet. Oder, um noch einmal die Kanzlerin zu zitieren (aus ihrer Ansprache zur Festveranstaltung 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft im Juni 2008): »Liebe Vertreter der Wirtschaft, achten Sie darauf, dass auch an der Spitze die Spielregeln des Gemeinwesens eingehalten werden. Achten Sie untereinander streng darauf. Sehen Sie sich auf die Finger. Jeder verantwortungslose Kollege aus Ihren Kreisen gefährdet die Grundlage unseres freiheitlichen Gemeinwesens.« (Merkel 2008)

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Nun, es mag ja sein, dass sich das einzelne Individuum von moralischen Regeln leiten lässt, wenn er nicht als verantwortungsloser Kollege erscheinen will. Das liegt aber doch offenbar in seinem persönlichen Belieben oder im wandelbaren Moralhaushalt seiner peer group, ist aber nicht systemweit auf Dauer zu stellen. Denn da es ja hier um systemisches Versagen geht, muss die Antwort auch eine systemische Lösung sein. Die systemische Antwort und der moralische Appell fallen jedoch auseinander. Die Hintergrundnormen der Sozialen Marktwirtschaft sind zur Karikatur einer moralischen Kategorie geworden. Wo gelebte Systemfunktionalität und moralische Normativität nicht mehr in Deckung zu bringen sind, wird der Ruf nach den Werten, die »die Voraussetzung dafür [sind], dass die Marktwirtschaft uns Menschen auch wirklich gerecht wird« (Merkel 2008), zum schalen Appell. Damit korrespondiert – aber nur am Rande – eine Bereitschaft zur moralischen Skandalisierung in der Öffentlichkeit. Denken Sie nur daran, dass uns statt eines Wahlkampfes drei so genannte Skandale im Sommer 2009 in Atem hielten: der gestohlene Dienstwagen der einen Ministerin, die von britischen Anwaltskanzleien zu horrenden Kosten extern entworfenen Gesetzesvorlagen des anderen sowie der von der Kanzlerin ausgerichtete Geburtstag eines Bankers. In allen Fällen war das Skandalpotential beträchtlich, obwohl es vorschriftsmäßige bzw. systemübliche Handlungen betraf oder Lappalien. Das Auseinandertreten von Systemfunktionalität und Moral zeigt sich daran, um ein letztes kleines Beispiel anzuführen, dass der herrschende Diskurs die Moral auch wieder ganz anders wenden kann. Wenn es die Umstände verlangen, wird aus moralischen Gründen erwartet, dass manche Finanzakteure dasselbe tun wie zuvor, nämlich billiges Geld spekulativ auf den riskanten Markt werfen. Es geht um die sogenannte Kreditklemme. Eine enge Kreditvergabe muss doch gerade dem zuvor noch wortreich in Anspruch genommenen Prinzip des ›ehrbaren Kaufmanns‹ entsprechen, weil die Risiken eines Kredits nun höher bewertet werden als das zuvor üblich war. So muss selbst einem Laien wie mir klar werden, dass es weniger Kredite, d.h. weniger Investitionen geben wird. Die Verlangsamung des Wachstums ist eine logische Konsequenz aus dem Wunsch nach Regulierung der Finanztransaktionen. Da dies aber nicht hingenommen wird, entsteht eine Diskrepanz in der herrschenden Rhetorik. Dass man dann ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschließt, ist zwar Unsinn, aber eben konsequenter Unsinn. Was ist also – um die Frage nochmals zu stellen – Soziale Marktwirtschaft? Würde die Antwort, wie es scheint, lauten müssen: eine Moralisierung des Ökonomischen, irrt sie sich nicht nur im Adressaten, sondern hat vor allem kaum Aussichten, erfolgreich zu sein. Michel Foucaults Genealogie der liberalen Gouvernementalität beantwortet diese Frage dann auch ganz anders.

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D ER VERBORGENE L IBER ALISMUS DER S OZIALEN M ARK T WIRTSCHAF T Zu Zeiten ihrer Erfindung durch die Freiburger Schule der Ordoliberalen und der Begriffsprägung durch Müller-Arnack, den Staatssekretär des Wirtschaftsministers Ludwig Erhard, war die Soziale Marktwirtschaft in keiner Weise eine moralische Veranstaltung. Sie war auf der einen Seite vielmehr der Versuch eines dritten Weges zwischen einer Zentralverwaltungswirtschaft sozialistischen oder faschistischen Typs und auf der anderen Seite einer klassisch-liberalen Wettbewerbswirtschaft des Laissez-faire. Dass die Autoren ihre Konzeption ausdrücklich als Variante des Neoliberalismus verstehen, darf angesichts der heute üblichen Dichotomisierung von Sozialer Marktwirtschaft als eingehegtem kontinentalen Modell einerseits und neoliberalistischer Entfesselung angelsächsischer Prägung andererseits überraschen. Diese Genealogie ist es, die Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France von 1978/79 nachzeichnet und die mich im Folgenden interessiert. Anders als man ihm vorgeworfen hat, ignoriert die Machtanalyse Foucaults keineswegs die Funktion und die Institutionen des Staates. Die Rede von den »Maschen der Macht« (Foucault 2005) konnte ja suggerieren, dass der Staat eine verzichtbare Größe der Machtanalyse sei. Doch in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität nimmt sich Foucault gerade vor, den Staat als »Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten« (Foucault 2004a: 115) zu erfassen. In dieser Perspektive demonstriert er, wie im Falle der Sozialen Marktwirtschaft die ökonomische Ordnung geradezu den Staat und die Anordnung seiner institutionellen Regelungen erschafft. Für die Nachkriegsordnung des besiegten Deutschland, das zunächst keinen Staat hat, erzeugt die Wirtschaft eine Legitimität, die der Staat lediglich garantiert. Um diese These zu belegen, zeichnet Foucault die Genese des Gedankens einer Sozialen Marktwirtschaft nach. Demnach ist sie gewiss nicht das Ergebnis der Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wie man es nach dem Krieg zu propagandistischen Zwecken vielfach behauptet hatte. Vielmehr bezieht das neue Modell seine Legitimität aus einer innerökonomischen Verschiebung: Die gelenkte Wirtschaft, welche die Ordoliberalen sowohl in den Politiken der britischen Labour-Partei und der Weimarer Republik, als auch in der darauf folgenden nationalsozialistischen und stalinistischen Politik am Werk sahen, muss abgelöst werden durch eine Wettbewerbspolitik, weil – kurz gesagt – die Geschichte aller interventionistischen Politik von der Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts bis zum Faschismus eine Geschichte des zunehmenden Etatismus sei, die schließlich in die Katastrophe führte. Nun muss der Markt als Regulativ des Staates fungieren, weil sich zuvor der Staat als Regulativ des Marktes als verhängnisvoll erwiesen hat: »Es soll sich vielmehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln, als um einen Markt unter

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der Aufsicht des Staats.« (Foucault 2004a: 168) Da aber nun der freie Wettbewerb keineswegs naturwüchsig entsteht, wie noch die klassischen Liberalen des Laissez-faire-Prinzips glaubten, müssen die Bedingungen des Wettbewerbs künstlich hergestellt und dauerhaft garantiert werden. Indem der Staat genau diese und nur diese Funktion zu erfüllen hat – nämlich das Funktionieren der Wettbewerbsökonomie zu gewährleisten – lässt sich verstehen, inwiefern der Staat ein Effekt ist. Die Künstlichkeit des Marktes verdankt sich – wie der Freiburger Ordoliberale Walter Eucken es mit Husserl formuliert – dem eidos des Wettbewerbs, das erst durch Abstraktion gewonnen werden muß.3 Mit Husserl den Wettbewerb als ein zuallererst durch politische Rahmenbedingungen herzustellendes Wesen zu verstehen, dient als Kritik der naturalistischen Naivität des klassischen Liberalismus und seiner Annahme des natürlichen Spiels der Kräfte im Markt. Die Praxis des Regierens gewinnt damit ein Kriterium, woran sie sich ausrichten kann, nämlich an der Realisierung der künstlichen Freiheit der Wettbewerbsmärkte. Daraus folgen sodann leicht die wesentlichen Maßnahmen, die für die Wirtschafts- und Finanzpolitik charakteristisch sind: Freigabe der Preise, Kartellpolitik zur Vermeidung von Monopolen, ausgeglichene Zahlungsbilanz etc. Die Soziale Marktwirtschaft, so wie sie Foucault aus den Texten der Freiburger Ordoliberalen und einiger Bonner Politiker rekonstruiert, ist also keineswegs eine Alternative zum Neoliberalismus, wie man bis heute wiederholt meint (zuletzt im Gewand ihrer Moralisierung), sondern sie ist der Neoliberalismus selbst. Allerdings muss man dabei beachten, dass dieser sich gerade in seinen räumlichen Ansprüchen vom klassischen Liberalismus unterscheidet. Während letzterer den Markt als einen abgetrennten Raum des Tausches einrichtet, in den dann nicht weiter eingegriffen werden darf, um das freie Spiel der Marktkräfte nicht zu behindern, verlangt der Neoliberalismus die permanente Intervention. Gerade weil der Wettbewerb künstlich ist (und nicht, wie im klassischen Liberalismus angenommen: eine natürliche Entwicklung), muss er durch fortwährende Aktivität und Wachsamkeit am Leben erhalten werden (vgl. Foucault 2004a: 172, 188).4 Nur dann kann er seine regulierende Kraft für die Gesellschaft entfalten.

3 | Foucault dürfte der Erste gewesen sein, der auf die Verbindung der Ordoliberalen mit Husserls Phänomenologie hingewiesen hat (Foucault 2004a: 173, vgl. neuerdings Gander/Goldschmidt/Dathe 2009). 4 | Vgl. etwa August von Hayek (Hayek 1971: 66): »Es dreht sich also nicht darum, ob, sondern wie wir am besten planen. Die Frage lautet: ist es für diesen Zweck nicht besser, wenn der Träger der Staatsgewalt sich im allgemeinen darauf beschränkt, die Bedingungen zu schaffen, die dem Wissen und der Initiative der einzelnen den größten Spielraum gewähren, so dass diese mit bestem Erfolg selber planen können?« Es geht sehr wohl

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Doch wenn die Soziale Marktwirtschaft eine neoliberale Praxis ist, wo bleibt dann das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft? Nun, es gibt dies nur, insofern es von den Erfolgen des Marktes selbst bereitgestellt wird. Denn die sozialpolitische Komponente besteht einzig in der Beteiligung am Wachstum; egalitaristische Konzeptionen von Umverteilung sind damit ganz ausgeschlossen. Am sozialen Wohlstand hat teil, wer sich in der Konkurrenz durchsetzt. Ob sich jemand durchsetzt, ist vom Staat nicht zu beeinflussen. »Die Ungleichheit ist die gleiche für alle« (Foucault 2004a: 203), so zitiert Foucault einen der Protagonisten. Die Rahmenbedingungen müssen für alle gleich sein (daher die Betonung der Bildung), und die Bedürftigsten müssen qua sozialer Unterstützung im Spiel gehalten werden. Das Soziale besteht – wie Foucault formuliert – in einer einzigen Regel: »nämlich dass es unmöglich sein soll, dass einer der Partner des Wirtschaftsspiels alles verliert und aufgrund dessen nicht mehr weiterspielen kann« (Foucault 2004a: 282). So operiert die Sozialpolitik der liberalen Ordnung »auf der Schwelle zwischen Inklusion und Exklusion« (Balke 2006: 281), insofern vielfältige Hilfen bereitgestellt werden, um ein bestimmtes als notwendig erachtetes Niveau des Konsums aufrechtzuerhalten, ohne zugleich die Prekarität gänzlich zu beseitigen, da andernfalls der Anreiz fehlte, überhaupt wieder aktiv am Spiel teilzunehmen. Denn das freie Spiel der Marktkräfte überlässt es der individuellen Verantwortung, aus diesen Bedingungen etwas zu machen. Die Vollbeschäftigung ist anders als in der gesteuerten Wirtschaftsordnung nicht mehr ein zu verwirklichendes Ziel; der Arbeitslose ist kein soziales Opfer, sondern ein Arbeiter en transition, einer, »der von einer unrentablen zu einer rentablen Arbeit« (Foucault 2004a: 198) wechselt. Damit ist Foucault an dem entscheidenden analytischen Punkt seiner Untersuchungen angelangt. Es zeichnet die Sozialpolitik aus, dass sie nicht mehr als dirigistische ausgleichende Verteilung des Reichtums konzipiert, sondern privatisiert wird, indem sie die Gesellschaft wie eine Ansammlung von Kleinunternehmern betrachtet.5 Nicht mehr der homo oeconomicus als Tauschpartner steht im Mittepunkt, sondern als sein eigener Produzent. Die Rede vom Menschen als dem »Unternehmer seiner selbst« (vgl. Bröckling 2007) ist seitdem zum Schlagwort der an Foucault anschließenden sozialwissenschaftlichen Gouvernementalitäts-Studien geworden, das sich ebenso gut auf Management-Regeln wie auf Ich-AGs und die soft skill- und employability-Orientierung des Bacheum das freie Spiel der Akteure, aber dafür, dass sie spielen können, müssen die Bedingungen allererst geschaffen werden. 5 | Neben der ordoliberalen Begründung der ökonomischen Ordnung ließe sich auch der von der christlichen Sozialethik inspirierte »ökonomische Humanismus« näher betrachten. Doch auch wenn die Reichweite der Sozialpolitik divergiert, so kommen Ordoliberale und Humanisten doch in ihren strukturellen Grundannahmen über die Selbstverantwortung der Arbeitnehmer überein (vgl. Kersten 2009).

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lor-Studiums anwenden ließ.6 Die »neoliberale Gouvernementalität« (Foucault 2004a: 269) zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie das Legitimierungsverhältnis von Staat und Markt umkehrt und demzufolge Risiken privatisiert und Verantwortungen individualisiert. Mit Foucaults Rekonstruktion der Idee der Sozialen Marktwirtschaft wäre bislang allerdings nur gezeigt, dass sie keineswegs eine Alternative zum Neoliberalismus darstellt und nie dargestellt hat, sondern im Gegenteil nur die deutsche Variante seiner Durchsetzung ist. Die Agenda 2010 mit ihrer plakativen Formulierung vom aktivierenden Staat wäre dann kein Abbau der Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft, sondern die Erneuerung ihrer ursprünglichen antidirigistischen Intention. Damit haben wir jedoch noch keinen Hinweis gewonnen, inwiefern die Biopolitik oder gar eine Bioökonomie hierin eine Rolle spielt. Abschließend will ich das nachholen, erneut mit Foucault; schließlich hat er dem Begriff eine genealogische Kontur gegeben.

D IE K OMPLEMENTARITÄT VON S OZIALER M ARK T WIRTSCHAF T UND B IOPOLITIK Die Geschichte des Neoliberalismus, als deren einen Hauptzweig Foucault die deutsche Variante ansieht, ist Teil einer größeren Untersuchung zum Verhältnis von Staat und Regierungsformen, die Foucault in seinen Vorlesungen unter dem Titel Geschichte der Gouvernementalität 1978/79 am Collège de France hält. Unter Gouvernementalität versteht er: »die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat« (Foucault 2004: 162).

Die spezifische Machtform der Gouvernementalität reiht sich also ein in die großen Analysen jener Machttypen, die Foucault die souveräne Macht und die Disziplinargesellschaft nennt.

6 | Schon in der ökonomischen Lehre ist »Unternehmer« kein Subjekt, sondern eine Funktion (Schumpeter). So ist auch das unternehmerische Selbst eine Bezeichnung für den normativen Entwurf einer Lebensführung und weniger die eines konkreten sozialen Akteurs. Umfassender zur Problematik des Begriffs unter Bedingungen der »Risikogesellschaft« (vgl. Immerthal 2007).

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Zunächst sei in der Begriffsbestimmung die Umstellung der Adressaten der Machtdispositive hervorgehoben. Es sind nicht mehr die Körper,7 die in den Kasernen, Schulen und Zuchthäusern diszipliniert, dressiert und kontrolliert werden, sondern die Bevölkerung, die mithilfe der Gesundheitspolitik, der Steuerung der Geburten- und Sterblichkeitsrate und generell der Hebung der Lebensdauer Gegenstand regulierender Kontrollen wird. Biopolitik heißt also jenes Arsenal an Steuerungsmechanismen, die vom Körper auf die Gattung, oder besser: vom individuellen Körper und seiner Disziplinierung, Dressierung und Vernutzung auf den Gattungskörper und die Optimierung seiner bio-hygienischen Zukunft umzustellen. Das Leben (bíos) und die Lebensfähigkeit der Population steigern zu wollen, hat zur Folge, dass das Leben keine Gnade mehr ist, die das Recht gewährt (wie im Zeitalter der Souveränität), sondern eine Aufgabe, die zu erfüllen ist, oder in Foucaults bündiger Formulierung aus der vorangegangenen Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft: »Jetzt [liegt] […] die Macht weniger und weniger in dem Recht, sterben zu machen, und immer mehr in dem Recht […], zugunsten des Lebens zu intervenieren und auf die Art des Lebens und das ›Wie‹ des Lebens einzuwirken« (Foucault 2001: 292)8. Zusammengefasst ist die Politik, die auf den bíos zielt, die Biopolitik eben, jene Form, welche die Politik in einer spezifischen historischen Konfiguration der Macht einnimmt.9 Der Neoliberalismus nun wird genau deswegen von Foucault in diesem Zusammenhang behandelt, weil er die Antwort auf folgende Frage geben soll: »Wie kann dieses Phänomen der ›Population‹ mit seinen spezifischen Wirkungen und Problemen in einem System Berücksichtigung finden, das auf die Respektierung des Rechtssubjekts und der Entscheidungsfreiheit bedacht ist?« 7 | »Nicht mehr« ist natürlich eine ungenaue Formulierung. Denn so wie Foucault einerseits die historischen Umbrüche betont, weist er auch wiederholt darauf hin, dass es ihm keineswegs um eine geschichtliche Chronologie von aufeinander folgenden und unvermittelten Machttypen geht. Vielmehr verschränken sich Souveränität, Disziplin und Biopolitik in den verschiedenen Epochen mit je unterschiedlicher »Dominante« (vgl. Foucault 2004a: 23). Die Gouvernementalität ihrerseits ist keine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts, in dem Foucault sie sich durchsetzen sieht, sondern nimmt ihren Ausgang bei der christlichen Pastoral und gelangt über die Policey der guten Sitten zur Selbststeuerung moderner flexibler Arbeitskraftunternehmer. In dieser Perspektive wird Gouvernementalität zu einer durchgehenden »Kraftlinie« (Foucault 2004a: 162) und entkoppelt sich ganz vom Begriff der Biopolitik. 8 | Vgl. auch Foucault (1983: 165): »das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.« 9 | Die Konfigurationen der Macht als einander ablösend zu betrachten statt als Parallelitäten, ist nicht unwidersprochen geblieben (vgl. Nancy 2003: 117ff.). Die These als solche diskutiere ich hier nicht (vgl. dazu Gehring 2006, Lemke 2007).

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(Foucault 2004b: 435). Mit anderen Worten: Wie lässt sich eine Politik des Lebens, die über statistikgestützte Regulierungen das Ganze einer Population ins Visier nimmt, mit der praktischen Tätigkeit freier Bürger und autonomer ökonomischer Akteure überein bringen? Eine Antwort gibt Foucault nicht direkt. Sie bietet sich aber an, wenn man erneut auf die Entwicklung der Regierungsformen zurückblickt. Denn Foucault hatte die Spezifik der neoliberalen Gouvernementalität daran festgemacht, dass es in ihr darum geht, »nicht zu viel zu regieren« (Foucault 2004a: 29). Regieren ist hier verbal als ein Ensemble von Techniken der Steuerung zu verstehen, nicht aber als die politische Institution Regierung, welche die Amtsgeschäfte einer Exekutive ausübt. Regieren heißt weit allgemeiner, »das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren« (Foucault 2005a: 287). Gerade weil Regieren nicht impliziert, dass da jemand (z.B. eine Regierung) Verordnungen erlässt, entspricht der politischen Umstellung eine ökonomische: Es geht nicht mehr darum, qua souveränem Gesetz die Macht über die Individuen zu praktizieren, sondern durch biopolitische Eingriffe das Leben selbst zu stärken. Die politische Ökonomie des Liberalismus verlangt analog, nicht mehr den Markt als den Ort des Rechts, der Regulierung und der Gerechtigkeit (wie im feudalen Ständestaat mit seinem Gilden und Handelsbünden, den Zoll- und Getreidetarifen, die als Ausübung feudaler Rechte galten [vgl. Foucault 2004a: 37]) zu konstruieren, sondern ihn als Regulativ fungieren zu lassen oder, wie es Foucault etwas vage sagt: die natürlichen Mechanismen des Marktes als einen »Wahrheitsstandard« (Foucault 2004a: 55) aufzufassen. Die Regierung besteht nicht darin, Regeln zu setzen und durchzusetzen, sondern darin, den Markt seine Arbeit machen zu lassen und nur gerade diese Funktion zu ermöglichen. Im Neoliberalismus der Sozialen Marktwirtschaft schließlich wird der leere Raum des Laissez-faire, den man den Marktteilnehmern zugesteht, zu einem Raum, der eingerichtet werden muss und dessen Prinzipien dem Staat zuallererst seine Legitimität verschaffen.10 In der Tat kann man an manchen zeitgenössischen Umstellungen ablesen, wie die »Techniken der Individualisierung« (des Neoliberalismus) mit den »to10 | Indem Foucault den Blick auf Regierungspraktiken und -techniken richtet, setzt er sich von der linken »Staatsphobie« ab (Foucault 2004: 163, Foucault 2004a: 262), die stets überall den Faschismus wittert. Ist der Staat aber ein Effekt von Techniken, so ist die Lage komplizierter (wenn auch politisch nicht »freier«). Umgekehrt lässt sich aus dieser methodischen Neuorientierung Foucaults auch ein Beitrag zu der (innerhalb der liberalistischen Strömungen diskutierten) Frage gewinnen, inwiefern es sich bei der Freiburger Schule um Röpke, Rüstow und Eucken nicht doch letztlich um autoritäre Interventionisten handelt (vgl. Hesse/Vogelmann 2009). Foucaults Analyse böte die Möglichkeit einer Deutung jenseits der Alternative ›staatshörige Interventionisten vs. staatsferne (richtige) Liberalisten‹.

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talisierenden Verfahren« (Foucault 2005a: 277) (der Biopolitik) Hand in Hand gehen. Denken wir etwa an die mehr oder minder erfolgreichen Versuche, das Gesundheitssystem umzubauen. Das Individuum ist aufgerufen, sein gesundheitliches »Humankapital« (Foucault 2004a: 316) präventiv zu pflegen, um den Kassen nicht zur Last zu fallen und zugleich dient die Versicherungsmathematik dazu, Risikofälle auszusondern. Auch bildungspolitisch sollen wir unternehmerisch tätig werden: Vom Kindergarten bis zum Studium (bzw. »lebenslang«) sind wir aufgerufen, »Bildungsinvestition[en]« (Foucault 2004a: 319)11 zu tätigen, um uns selbst, wie Foucault es bereits Ende der 1970er Jahre formuliert, zu einer »Kompetenzmaschine« (Foucault 2004a: 319) zu entwickeln und zugleich orientiert sich ein anderer Teil des universitären Steuerungsdiskurses an Eingangszahlen und Absolventenoutput. ›Unternehmer seiner selbst‹ sein zu müssen, ist das Erfordernis der Zeit und zugleich die Bedingung der Möglichkeit, frei handeln zu können. Der Rückzug des Staates im Neoliberalismus, der durch Überlassung regiert, ist somit die wirtschaftspolitische Entsprechung zum biopolitischen Sicherheitsdispositiv. Die Regierung der Population als Population hat ihr Pendant in der Aktivierung der einzelnen Spieler am Markt. Der Neoliberalismus wäre also keine Konsequenz aus der Biopolitik, sondern wir hätten es mit einer zweidimensionalen Antwort auf die zeitgenössische Gouvernementalität zu tun, deren Wurzeln Foucault freizulegen versucht. Neoliberalismus und Biopolitik sind zwei Strategien, die in der Gouvernementalität liberaler Gesellschaften ihren Dienst tun. Sie mögen sich gegenseitig bestärken, überkreuzen oder auch stören, aber sie lassen sich nicht miteinander verrechnen. Geht man dergestalt von Foucaults Gebrauch des Begriffs der Biopolitik aus, kann klar werden, warum sich auf dieser Grundlage kein Begriff der ›Bioökonomie‹ entwickeln lässt.12 Denn wenn es stimmt, dass der Neoliberalismus die Freiheiten aktiviert, um der Wahrheit des Marktes zur regulativen Geltung zu verhelfen, dann steht gerade nicht das Leben der Population infrage, sondern das Überleben des Einzelnen. Die Ökonomie der Selbstaktivierung und Selbststeuerung komplettiert die Techniken der Biopolitik, sie ersetzt sie nicht. Die Organisation des Ökonomischen wäre in diesem Sinne eine Technik der situierten Freiheit, während die Biopolitik gerade die statistische Einheit der Population 11 | Vgl. auch die Beiträge in Berliner Debatte Initial 20 (2009), Nr. 3. 12 | Dabei kann man davon absehen, dass er selbst einen solchen Begriff nicht verwendet. Es gibt zwar »Biomacht«, »Biopolitik«, »Bio-Regulierung« (Foucault 2001: 295) und »Biogeschichte« (Foucault 1983: 70), aber keine »Bioökonomie«. Anstatt den Begriff der Biopolitik – wie Foucault – zur Kennzeichnung eines historischen Umbruchs zu gebrauchen, kann man ihn auch zur Bezeichnung eines Gegenstandsbereichs der Politik verwenden (vgl. etwa Geyer 2001). Ein entsprechender Gegenstandsbereich ließe sich dann auch für die Ökonomie umreißen, was aber ein anderes Thema wäre.

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im Visier hat. Foucaults Analysen der Biomacht machen einen eigenen Begriff der Bioökonomie verzichtbar, gerade weil Foucault an dem Nachweis gelegen ist, dass die Politisierung des Lebens mit der Ökonomisierung der Machtpraktiken einhergeht. Wie das Verhältnis zwischen Biopolitik und Liberalismus zu konkretisieren wäre, darüber schweigt sich Foucault aus. Er belässt es bei der Skizze eines Arbeitsprogramms, deren Aktualisierung noch aussteht (vgl. auch Lemke 2007: 65ff.).

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Biopolitik und Bioökonomie: eine zwischen Biomacht und Gouvernementalität gespannte Art des Regierens

Bioökonomie und Neurokapitalismus 1 nach der Geburt der Biopolitik Jörg Bernardy

M ASSENMEDIEN UND Ö KONOMIE DER A UFMERKSAMKEIT IN F OUCAULTS P AR ADIGMA DER NEOLIBER ALEN G OUVERNEMENTALITÄT Stellen die Neurowissenschaften die Leitwissenschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts dar? Was versteckt sich hinter dem Schlagwort Neurokapitalismus und was bedeutet es, wenn das Gehirn, die Kommandozentrale des modernen Menschen, ein immer greifbareres Ziel von humanwissenschaftlicher Forschung und kapitalistischer Verwertung wird? In welchem Verhältnis steht diese Entwicklung zu Foucaults Analyse der Biopolitik und der Gouvernementalität des Liberalismus? Welche Gouvernementalitätstechniken und Möglichkeiten sind mit einem vermeintlichen Neurokapitalismus verbunden? Welche gesellschaftlichen Funktionen haben die Massenmedien innerhalb einer Laissez-faire-Politik des Liberalismus bzw. des Neoliberalismus? In seiner Vorlesung Die Geburt der Biopolitik am Collège de France von 1979 untersucht Foucault vor allem den Entwicklungszusammenhang zwischen Biopolitik und liberalen Regierungsformen, deren Entstehung auf die Diskursformation der Politischen Ökonomie im 18. Jahrhundert zurückzuführen ist. Der Liberalismus wird somit von Foucault als allgemeiner Rahmen der Biopolitik begriffen, in welchem die zu regierenden Individuen sowohl als Rechtssubjekte als auch als biologische Lebewesen aufgefasst werden. Nach Thomas Lemke stellt die Einführung des Begriffs der Regierung eine Erweiterung von Foucaults Fragestellung dar, »da er [Foucault] die Aufmerksamkeit für physischbiologische Seinsformen mit der Untersuchung von Subjektivierungsprozessen und moralisch-politischen Existenzweisen verknüpft« (Lemke 2007: 65f.). Folgt man diesem Gedankengang, so mag man behaupten, dass Foucault an der 1 | Der Begriff ›Neurokapitalismus‹ ist einem gleichnamigen Aufsatz von Hennric Jokkeit und Ewa Hess entnommen (vgl. Jockeit/Hess 2003).

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Identität des Individuums und deren spezifischen Formierungen sowie Konstitutionen interessiert war. Ausgehend von dem Schlagwort des Neurokapitalismus soll dieser Beitrag dessen zeitdiagnostische Bedeutung und theoretischen Gehalt im Kontext von Gouvernementalität und Massenmedien näher beleuchten. Dabei sollen mögliche Übergänge und theoretische Anknüpfungspunkte zwischen Foucaults Vorhaben und neueren Kapitalismustheorien gezeigt werden. Im Allgemeinen lassen sich in Bezug auf das Schlagwort Neurokapitalismus zwei Bedeutungsebenen ausmachen: eine realökonomische sowie realpolitische und eine zeitdiagnostische Ebene. Die erste Dimension verweist auf eine realökonomische Verknüpfung von Wissenschaft, Pharmaindustrie und Kapitalismus, d.h. auf den »schon in den dreißiger Jahren auch von Freud prognostizierte[n] Siegeszug der Neuropharmakologie« (Jockeit/Hess 2009: 542). Ein solcher Siegeszug wird von dem britischen Soziologen Nikolas Rose bestätigt und in medizinischer Hinsicht zugleich kritisiert, da die Marketingstrategien der Firmen mehr versprechen, als die aktuale Wirkung der Medikamente tatsächlich einzulösen vermag (vgl. Rose 2004). Diese erste Dimension ist eingebettet in eine Krankheitsgeschichte, welche in direktem Verhältnis zu den verschiedenen Stadien des Liberalismus und somit ebenso zu den verschiedenen Phasen des Kapitalismus steht. Unter der zweiten Dimension wird eine regelrechte Ökonomie des Mentalen bzw. Kognitiven verstanden. In ihrem Zentrum stehen mentale Ressourcen wie Emotionen und Aufmerksamkeit, wie etwa in den neueren Kapitalismustheorien von Georg Franck (Mentaler Kapitalismus) und Eva Illouz (Gefühle in Zeiten des Kapitalismus). Bezeichnend für beide Ebenen ist, dass eine Verflechtung von Ökonomie, Wissenschaft, Kapitalismus und neuen Medien gegeben ist.

N EUROK APITALISMUS ALS RE ALÖKONOMISCHE Z EITDIAGNOSE UND SEINE PATHOLOGISCHEN E RSCHEINUNGSFORMEN Der Neuropsychologe Hennric Jockeit und die Germanistin Ewa Hess skizzieren drei Phasen des Kapitalismus, die jeweils mit bestimmten psychopathologischen Symptomen und Krankheitserscheinungen korrelieren sollen. 1. »So war der repressive Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit seinen ausbeuterischen Verboten, Geboten und Ungerechtigkeiten ein Nährboden für die im angehenden 20. Jahrhundert von den Forschern als seelische Volksseuche diagnostizierte Neurose.« (Jockeit/Hess 2009: 541) 2. »Der libertäre Wohlstandskapitalismus löste den im 19. Jahrhundert geprägten repressiven Kapitalismus ab. Gefügigkeit, Disziplin und Schuld wichen

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einem neuen Imperativ der Selbstverwirklichung. […] Die Depression aber war die erste seelische Volkskrankheit, gegen die die moderne Naturwissenschaft prompt ein Mittel gefunden hatte. Depressionen und Angst wurden jetzt im synaptischen Spalt zwischen Neuronen verortet und genau dort behandelt.« (Jockeit/Hess 2009: 542) 3. Die aktuelle Phase des Kapitalismus soll den Autoren zufolge vor allem mit bestimmten Störungen der Aufmerksamkeit einhergehen, denn »so wie die Repression in vergangenen Jahrhunderten das stumm-dramatische Panoptikum der neurotischen Symptome hervorbrachte, so wie das scheinbar unbegrenzte Überangebot der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem wunschlosen Unglück der Depression einen geeigneten Nährboden bot, so könnte die Erhebung der berechnend vorselegierenden Aufmerksamkeit und emotionaler Intelligenz zu den entscheidenden Wettbewerbsvorteilen diese [die Aufmerksamkeit und emotionale Intelligenz] gerade beschädigen, nämlich im Falle des Scheiterns: Hilfloses Zappeln zwischen Zuviel und Zuwenig an verwertbaren Reizen, Unfähigkeit, sich einer allfälligen Signalüberflutung zu entziehen, Beschädigung der Entspannungsmechanismen und die damit einhergehende Verrohung des emotionalen Erlebens – das alles sind Symptome, die schon heute unter dem Sammelbegriff ADHS im kollektiven Bewusstsein wahrgenommen werden« (Jockeit/Hess 2009: 545). Die angesprochenen Symptome und medizinischen Pathologien sind natürlich in ihrem krisenhaften und vermehrten Auftreten unumstritten, allerdings muss man das Katastrophenszenario, das hier aufgebaut wird, nicht teilen oder als einzige Zukunftsvision annehmen. Ebenso ist die einfache Ursache-Wirkungs-Relation und Korrelation von Phasen des Kapitalismus mit bestimmten neurologischen Krankheiten mit Vorsicht zu genießen. Es gibt insgesamt (wie immer) zwei Lager (oder mehrere) in Bezug auf ein solches Katastrophenszenario: Die einen erblicken die systematische Zerstörung der individuellen sowie gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsorgane und -funktionen (vgl. Stiegler 2008), die anderen wiederum bezweifeln eine solche Zerstörung der gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeit und vertreten die Meinung, dass die neueren neurowissenschaftlichen Debatten – hier sind insbesondere die Diskussionen um die Willensfreiheit und das Neuro-Enhancement zu nennen – eher ein aufmerksamkeitsökonomisches Phänomen der Massenmedien sind als reale Symptome für ernsthafte gesellschaftliche Veränderungen.2 Und während Philo2 | Vgl. etwa die Autoren Armin Nassehi und Katharina Seßler, die Folgendes schreiben: »Der Ort des hier so genannten Neuro-Pop sind in erster Linie die Feuilletons der Massenmedien, und im Dickicht der vielen neurowissenschaftlich eingefärbten Artikel sind es besonders zwei Themen, die dominieren: ›Die Willensfreiheit und die pharmazeutisch unterstützte Steigerung der Intelligenzleistung‹.« (Nassehi/Seßler 2009: 35)

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sophen wie Peter Janich das Aufkommen eines neuen Menschenbildes durch die Neurowissenschaften schlichtweg bestreiten (vgl. Janich 2009), ordnen die Autoren Gerhard Roth und Klaus-Jürgen Grün die Neurowissenschaften in eine Folge von Revolutionen des menschlichen Selbstbewusstseins ein und diagnostizieren einen Kulturkampf zwischen Philosophie und Neurowissenschaften, bei welchem sich vor allem die Philosophie des Geistes gegen neue Erkenntnisse sträube (vgl. Roth/Grün 2009). Ernst zu nehmen an der Diagnose des Neurokapitalismus ist in soziologischer sowie in philosophisch-zeitdiagnostischer Hinsicht allerdings das Wechselverhältnis von Mangelerscheinung, Überfluss und Leistungsdruck. Das Problem ist Folgendes: Aufmerksamkeitsstörungen, verlangsamtes Erleben und depressive Verstimmungen werden durch das Erleben von Mangelgefühl und Angst vor Exklusion verstärkt. Zumindest behauptet dies der Soziologe Hartmut Rosa in seiner auf empirischen Daten beruhenden Theorie der Beschleunigung (vgl. Rosa 2005: 484f.). Rosa zufolge wird die regelrechte Tretmühle von Stress und Beschleunigung u.a. von einer inneren Angst vor Exklusion angetrieben: »Tatsächlich lässt sich an diesem Punkt die von Honneth vorgeschlagene Kritik der Anerkennungsverhältnisse mit der von mir intendierten Kritik der Zeitverhältnisse verknüpfen: Wenn soziale Exklusion als Erfahrung von Missachtung zu subjektivem Leiden führt, dann lässt sich für die moderne Gesellschaft eine progressive Dynamisierung des Leidens an Exklusion konstatieren, die ohne Zweifel auf Seiten der nicht (oder noch nicht) exkludierten Angst erzeugt und deshalb die Handlungsorientierungen der Subjekte entscheidend prägt.« (Rosa 2005: 482)

Gerade in Bezug auf die sich schnell verändernden Bedingungen moderner Arbeitsverhältnisse in globalisierten Gesellschaften erzeuge die »Möglichkeit des Ausgeschlossen-Werdens in Gestalt eines ›Abgehängt-Werdens‹« (Rosa 2005: 482) Angst und Stress. Laut Hartmut Rosa geraten mit dieser Entwicklung immer mehr Formen sozialer Anerkennung unter Kontingenzverdacht mit zeitlicher Ungewissheit.

N EUROK APITALISMUS , G OUVERNEMENTALITÄT UND F OUCAULTS A NALYSE DES NEOLIBER ALEN M ARK TES In der Geburt der Biopolitik analysiert Foucault die Logik des Marktes, wobei er in der gegenwärtigen Form des Neoliberalismus (er nennt diesen auch Ordoliberalismus) keineswegs eine Wiederbelebung von alten Formen liberaler Wirtschaft sieht. Für ihn stellt sich dabei vor allem die folgende Frage: »Kann der Markt wirklich die Kraft der Formalisierung sowohl für den Staat als auch für die Gesellschaft sein?« (Foucault 2006: 169) Letztlich geht es ihm darum, »zu

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erkennen, bis wohin sich die politische und soziale Informationsgewalt der Marktwirtschaft erstrecken kann« (Foucault 2006: 169) und ob der Markt dementsprechend die transformative Kraft besitzt, Gesellschaft und Staat zu reformieren und informieren. Dies ist ihm zufolge der »Einsatz«, der auf dem Spiel steht. Foucault glaubt, dass sich der Ordo- bzw. Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts von der Politik des Laissez-faire abwendet, da sich die Einsicht breitmacht, dass jede Form von freiem oder gar reinem Wettbewerb einen kontrollierten Rahmen braucht. Foucault diagnostiziert eine Verschiebung vom Tauschprinzip zum Wettbewerbsprinzip, die sich mit dem Übergang vom traditionellen Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts zum Ordoliberalismus (von Foucault auch Neoliberalismus genannt) eingestellt habe: »Da genau wie für Husserl eine formale Struktur sich nicht ohne eine Reihe von Bedingungen in der Anschauung darstellt, so erscheint und bringt der Wettbewerb seine Wirkungen als wesentliche Logik der Wirtschaft nur unter einer Reihe von Bedingungen hervor, die sorgfältig und künstlich hergestellt werden müssen. Das bedeutet, dass der reine Wettbewerb also keine elementare Gegebenheit ist. Er kann nur das Ergebnis einer langen Bemühung sein, und eigentlich wird der reine Wettbewerb niemals erreicht. Der reine Wettbewerb soll und kann nur ein Ziel sein, ein Ziel, das folglich eine äußerst aktive Politik verlangt.« (Foucault 2006: 173)

Nach Foucault regiert der Staat so für die Marktwirtschaft, indem er diese als »allgemeine Anzeige« anerkennt, an der er seine Handlungen und Regeln ausrichtet – ohne dabei jedoch zu vergessen, dass die Bedingungen des Marktes erst durch die Regierung hergestellt und somit auch begrenzt werden. »Der Neoliberalismus stellt sich also nicht unter das Zeichen des Laissez-faire, sondern im Gegenteil unter das Zeichen einer Wachsamkeit, einer Aktivität, einer permanenten Intervention.« (Foucault 2006: 188) Die wirtschaftspolitische Praxis des Neoliberalismus wird Foucault zufolge zu einer Rahmenpolitik. Ebenso stellen die Massenmedien mit ihrer Distributions- und Verteilungslogik die äußeren Rahmen und Bedingungen für eine Ökonomie der Aufmerksamkeit dar, die freilich auf der Knappheit der Ressource Aufmerksamkeit einerseits sowie auf dem Überfluss der Informationen andererseits fußt. Ich möchte hier die These vertreten und vorstellen, dass die Massenmedien eine wichtige Funktion für die Durch- und Instandsetzung einer Rahmenpolitik einnehmen und zugleich eine zweite Dimension des Wettbewerbs herstellen, nämlich die der Ökonomie der Aufmerksamkeit (sofern sich diese beiden Formen überhaupt trennen lassen, sei hier von einer Ökonomie des Geldes und einer Ökonomie der Aufmerksamkeit die Rede, welche wichtige Rahmenbedingungen innerhalb des Wettbewerbs im neoliberalen Wirtschaftssystem darstellen). Des Weiteren stellen die Massenmedien mit ihrer inneren Anerkennungslogik

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ein wesentliches Subjektivierungsdispositiv und Instrument des Neoliberalismus dar, welches Foucault in seinem biopolitischen Diskurs, der sich mehr auf die juridisch-ökonomischen Zusammenhänge konzentriert, nicht ins Auge gefasst hat. Wenn Foucault zufolge das »regulative Prinzip« der neoliberalen Gesellschaft »nicht so sehr im Austausch von Waren« besteht, sondern in »Mechanismen des Wettbewerbs«, und wenn er von der gegenwärtigen Gesellschaft behauptet, nicht der »Dynamik des Wareneffekt[s]« zu unterliegen, sondern der »Dynamik des Wettbewerbs« (Foucault 2006: 208), dann ist hier zunächst die Verallgemeinerung des homo oeconomicus auf sämtliche Bereiche und Verhaltensformen der Gesellschaft gemeint. Dann ist die gegenwärtige Gesellschaft keine »Gesellschaft von Supermärkten, sondern eine Unternehmensgesellschaft« (Foucault 2006: 208), die auf dem unternehmerischen sowie produktiven Selbst beruht.3 Und gerade in diesem Zusammenhang mutet es doch merkwürdig an, dass Foucault die Rolle der Massenmedien sowie die Eigenlogik der Ökonomie der Aufmerksamkeit nicht reflektiert und zur Gouvernementalität zählt – zumal er selbst anmerkt, dass Meinung und Presse eine von drei wichtigen Säulen in der Organisation der Transaktionsverfahren des Liberalismus darstellen (vgl. Foucault 2006: 40). Ist der Erfolg eines Unternehmens im Rahmen eines freien Wettbewerbs nicht an ein gutes Image gebunden? Und wird nicht die Produktivität eines Unternehmens mit den Messinstrumenten der Massenmedien gemessen und ist somit in die Eigenlogik derselben eingebunden? Muss sich nicht jedes Unternehmen im Rahmen einer Ökonomie der Aufmerksamkeit behaupten, und gehorcht diese Ökonomie nicht wiederum eigenen Regeln, innerhalb derer sich das Unternehmen bewähren muss? Und schlägt diese Eigenlogik der massenmedialen Aufmerksamkeitsmärkte nicht auf die Gesellschaft zurück und verschiebt die Verteilungsbedingungen und Distributionsrahmen sozialer Anerkennung? Neben den von Foucault genannten Wirtschaftsexperten, die im Liberalismus auftreten und die »Aufgabe haben, einer Regierung wahrheitsgemäß zu sagen, was die natürlichen Mechanismen dessen sind, was sie manipuliert« (Foucault 2006: 36), sind im Neoliberalismus des späten 20. Jahrhunderts Image- und PR-Berater, Meinungs- und Trendforscher von zentraler Bedeutung, die wirtschaftliche ebenso wie politische Unternehmen und Persönlichkeiten in ihren Karrieren beraten und durch die manchmal krummen Wege und Mechanismen der massenmedialen Aufmerksamkeitsverteilung begleiten. Wenn auch hier Diskurse der Medien- und Kommunikationswissenschaften berührt werden (mitunter auch philosophische Diskurse wie etwa der Begriff der 3 | »Der homo oeconomicus, den man wiederherstellen will, ist nicht der Mensch des Tauschs, nicht der Mensch des Konsums, sondern der Mensch des Unternehmens und der Produktion.« (Foucault 2006: 208)

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Kulturindustrie), so kann mit Foucault gefragt werden, inwiefern die Massenmedien mit ihren verschiedenen Formaten und Dispositiven als Disziplinarmacht begriffen werden können (und müssen). Ebenso ist zu klären, welche entscheidenden Funktionen und Rollen sie innerhalb der Regierungstechnologien einer Foucault’schen Gouvernementalität einnehmen. So ist doch anzuerkennen, dass die Massenmedien einen eigenen Rahmen für das regulative Prinzip des Wettbewerbs darstellen und die Ökonomie der Aufmerksamkeit die Verteilung von Anerkennung in der Gesellschaft strukturiert, ordnet und reglementiert. Sie sind also mehr als nur einfache Medien, Datenträger und Transfermittel für das Politische und Ökonomische; sie sind selbst eine Ökonomie, die einer eigenen Struktur und Ordnung folgen und damit auch ihre Ordnung auf andere Bereiche übertragen. Es ist vor allem Giorgio Agamben, der die Frage nach dem Foucault’schen Regierungs- und Dispositivbegriff aufgreift und auf die Instanz der Medienmacht aufmerksam macht. Ein Kritikpunkt Agambens an Foucaults Gouvernementalitätsbegriff lautet, dass es »angesichts von Phänomenen wie der Medien-Spektakel-Macht, die heute überall den politischen Raum verwandelt«, nicht mehr legitim oder möglich sei, »subjektive Technologien und politische Techniken auseinander zu halten« (Agamben 2002: 16). Agamben, der seine Analyse des Ökonomischen am Ursprung der christlichen Theologie beginnen lässt, spricht neben Subjektivierungsprozessen auch von Entsubjektivierung. Er bringt somit eine kultur- und medienkritische Dimension in den Diskurs der Bioökonomie und Biopolitik und verweist auf eine Krise der Subjektbildung, an der die Entwicklungen der neuen Medien maßgeblich beteiligt seien. Agambens Kritik wiederum betrifft vor allem die Entsubjektivierungsprozesse, die u.a. vom Umgang mit technischen Geräten wie Handys und Fernsehen ausgehen: Das Subjekt, das mit einer Mobiltelefonnummer ausgestattet wird, erfahre eine Entsubjektivierung, mit welcher keine reale Erweiterung der Identität, also kein Subjektivierungsprozess einhergehe (vgl. Agamben 2007: 44f.). In dieser Entwicklung von zunehmenden Entsubjektivierungsprozessen sieht Agamben den Zusammenbruch der Politik und zugleich den Sieg der Ökonomie, die einzig und allein die eigene Reproduktion zum Ziel habe (vgl. Agamben 2007: 46). Vor dem Hintergrund des Begriffs der Medien-Spektakel-Macht soll jeweils ein prägnantes Beispiel aus der philosophischen Medienästhetik und Literatur vorgestellt werden, welches die von Agamben gemeinte Macht zum Gegenstand hat. Besprochen wird zum einen die Theorie des mentalen Kapitalismus von dem Volkswirt, Architekturprofessor und Philosophen Georg Franck sowie zum anderen der Roman Als ich ein Kunstwerk war von Eric Emannuel Schmitt. Anhand dieser beiden Beispiele lassen sich Formen, Funktionsweise und Auswirkungen des medialen Neurokapitalismus plastisch darstellen.

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Ö KONOMIE DER A UFMERKSAMKEIT UND M ENTALER K APITALISMUS BEI G EORG F R ANCK Der mentale Kapitalismus ist eine Form von biopolitischer Medien-SpektakelMacht, in welcher das Bedürfnis nach Anerkennung und Aufmerksamkeit ökonomisiert und innerhalb einer Ökonomie der Aufmerksamkeit geschäftsmäßig rationalisiert wird. In der Wissens- und Informationsgesellschaft begreift Georg Franck Aufmerksamkeit als knappe Ressource, die zugleich eine begehrte Form des Einkommens darstellt (vgl. Franck 1998). Dabei gibt es verschiedene Kriterien und Bedingungen, unter welchen eine Vereinnahmung von Körper und Psyche der Subjekte geschieht. Ein verbindendes Kriterium ist etwa das allgemeine Postulat von Attraktivität, das die betreffenden Subjekte einerseits in einem physischen Sinne verkörpern und andererseits auf einer geistigen Ebene auch ausstrahlen müssen. Die eigenen und fremden Ideale in Bezug auf gesellschaftliches Ansehen und Prestige werden tief verinnerlicht und durchdringen wie ein produktives Netz, analog zu Foucaults Machtphänomenen, die sozialen Körper, die auf diese Weise zur Attraktivität erzogen werden (vgl. Foucault 1978). Es gibt insbesondere zwei Punkte, an denen sich Foucaults Analyse mit dem Projekt des mentalen Kapitalismus direkt überschneidet. Zunächst ist der von Foucault in Überwachen und Strafen entwickelte Begriff der Disziplin zu betrachten. Die Massenmedien sind insofern als Disziplinen anzusehen, als dass sie die Individuen und Dinge nach ihrem Wert in Relation zur Gesamtapparatur differenzieren und klassifizieren. Ebenso wimmelt es in den Medien nur so von wertmessenden Rankings, ein Phänomen, das auch längst die Wissenschaften ergriffen hat. So könnte man in den Medien von Überwachen und Anerkennen (anstelle von Überwachen und Strafen) sprechen, bei welchen es aber nicht nur um Prozesse des Auffallens und Anerkennens geht, sondern ebenso um die Ermittlung und Erfassung eines ökonomischen Werts (Kapitalisierung). So schreibt Foucault: »Die Fähigkeiten, das Niveau, die ›Natur‹ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert.« (Foucault 1994: 236) Dies beschreibt einen Prozess, der auch eine normierende und normalisierende Wirkung hat, aber eben nicht nur. Während Franck positive Kategorien in Form von verschiedenen Kapitalarten (Prestige, Reputation, Prominenz, Ruhm) unterscheidet, ist Foucaults werterfassende und normalisierende Disziplinarmacht weitestgehend negativ bestimmt.4 Beide Ansätze ergänzen sich aber somit zu einem ganzheitlichen Mechanismus der Bewertung und hierarchischen Wertermittlung.

4 | Ich danke Prof. Simone Dietz für den Hinweis auf die Unterschiede bei Foucault und Franck in Bezug auf die positive und negative Wertbestimmung in ihren Ansätzen.

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Der zweite Ansatzpunkt, mit welchem man von Foucault aus eine theoretische Brücke zur Ökonomie der Aufmerksamkeit wagen kann, ist der bereits genannte Zusammenhang von Meinung, Presse und Liberalismus. Während das allgemein-menschliche Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung für Georg Franck eine anthropologische Konstante darstellt, müssen die vielfältigen und verschiedenen Formen und Ausprägungen als historisch und somit auch als manchmal kontingent aufgefasst werden. Welche Ideale der Attraktivität der mentale Kapitalismus beinhaltet, kann also von Zeit zu Zeit und von Gesellschaft zu Gesellschaft, ja von Peer-Group zu Peer-Group unterschiedliche Gestalt annehmen. Die Theorie des mentalen Kapitalismus beruft sich in ihrem Kern auf eine Markt- und Wettbewerbslogik, welche in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit zusammengefasst werden kann. Indem die Massenmedien als Großbanken und Großunternehmer von Aufmerksamkeit und gesellschaftlicher Anerkennung in Erscheinung treten, werden sie zu Verwaltern dieser knappen mentalen Ressource. Durch Kapitalisierung von Aufmerksamkeit, Ökonomisierung des Bedürfnisses nach Anerkennung und unter Rückgriff auf die emotionalen Bedürfnisse und Lebensformen der Subjekte beeinflussen sie die Identitätssuche derselben. Francks Diagnose des mentalen Kapitalismus trifft in dieser Hinsicht zu und lässt sich als eine Abwandlung des Foucault’schen ›Selbstunternehmers‹ auffassen: »Der mentale Kapitalismus macht es möglich, die Mehrung des Selbstwerts im Sinne freien Unternehmertums in die Hand zu nehmen. Was früher ein Ausdruck von Größenwahn gewesen wäre, wird nun zum business plan. Zwei Geschäftswege stehen dem Ehrgeiz der Selbstliebe offen. Man kann sich an die Selbstvermarktung machen oder um die Produktion von Finanzdienstleistungen kümmern. […] Der Aufstieg der Medienprominenz ist sagenhaft. Das Geschäftsmodell der Finanzdienstleistung in Sachen Aufmerksamkeit wurde zum historischen Erfolg.« (Franck 2005: 154f.)

Problematisch an dieser Vorstellung ist, dass die erfolgreiche Vermarktung einer Person in den Massenmedien nicht unbedingt auch eine Selbstwertmaximierung zur Folge haben muss. Vielmehr kann von dem gesellschaftlichen und öffentlichen Ansehen in den Massenmedien nicht auf Glück, Selbstwertgefühl und Maximierung des Selbstwerts geschlossen werden. Dass hier Überschneidungen und durchaus Wechselwirkungen bestehen, bleibt unbestritten. Gerade der negative Fall, dass nämlich die einzelne Selbstdarstellung und Prominenz auch zu öffentlicher Blamage und persönlichem Unglück führen kann, soll am Roman Als ich ein Kunstwerk war von E. E. Schmitt gezeigt werden (Schmitt 2009).

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D IE NEUROK APITALISTISCHE D IMENSION IN E. E. S CHMIT TS R OMAN A LS ICH EIN K UNSTWERK WAR In dem angeführten Roman geht es um einen jungen, nicht sehr hübschen Mann, der seinen Körper zu einem Kunstwerk umfunktionieren lässt und auf diese Weise zu einem umworbenen Star der Kunstszene wird. Schmitt beschreibt anhand des jungen Protagonisten eindrucksvoll, wie dieser seinen Körper und damit auch nach und nach sein gesamtes Selbst der öffentlichen Anerkennung verschreibt. Als er sich am Anfang der Geschichte umbringen will, um damit der empfundenen Bedeutungslosigkeit seines Lebens ein Ende zu setzen, wird er von dem diabolischen Verführer Peter Zeus zum Verkauf seiner Seele angestiftet. Damit aber nicht genug. Er lässt sich zu einer ganzheitlichen Schönheitsoperation überreden und nimmt Medikamente zur Verbesserung seiner psychischen sowie physischen Gesundheit ein. So verwandelt er sich in ein einzigartiges Kunstwerk, das auf dem internationalen Kunstmarkt zu einem bahnbrechenden Erfolg wird. Wie der Philosophieprofessor Michel Meyer anmerkt, ist Schmitts Roman ein Buch, das seinesgleichen in der Literaturgeschichte sucht, selbst wenn es ein zeitgenössischer Roman über die Gegenwart, über den Zeitgeist, ist (vgl. Meyer 2004: 113). In diesem Sinne des Zeitgenössischen ist eine Akzentverschiebung hin zur Attraktion von massenweise akkumulierter Aufmerksamkeit zu beobachten. Es geht nicht um Ideale wie vermeintliche ewige Schönheit oder ewige Jugend (wie etwa in Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray), sondern das Erlangen von Aufmerksamkeit steht im Vordergrund. Der Protagonist möchte bewundert werden, Anerkennung und Aufmerksamkeit von vielen bekommen, er möchte ein umworbener Star sein. In der Geschichte wird er zu einem Kunstwerk, eine Metapher Schmitts, die wiederum einen realen Trend in der Kunst darstellt: Kunst ist zum Massenmarkt geworden und Museumsbesucher zu Massenpilgern.5 Interessant ist auch die Artikulationsform des Romans, der in seiner Anlage und seiner Form eher wie ein Drehbuch geschrieben ist und weniger wie eine klassische Erzählung. Schmitt verwendet meist eine einfache Sprache mit relativ kurzen Sätzen. Insgesamt besteht der Text über weite Strecken aus Dialogen, die ohne Umwege als ein Filmszenario inszeniert werden könnten. Und so sind die beschreibenden Passagen erstens kurz gehalten und führen zweitens mit oftmals starker Bildhaftigkeit in die Gesprächssituation ein, ohne sich in der Beschreibung von erzählerischen Details zu verlieren. Das inhaltliche Thema des Romans spiegelt sich dieser Lesart zufolge in der äußeren Form des Textes wider; die Form des Textes verweist auf die Beziehung zwischen Kunstmarkt 5 | Vgl. beispielsweise den jüngsten Hype um die Ausstellung Pop-Life und darin ausgestellte Künstler wie Damian Hirst oder Jeff Koons in der Tate Gallery of Modern Art in London.

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und Massenmedien, und indem er sich wie ein Filmskript präsentiert, könnte er nach der Logik der Massenmedien ohne große Umarbeitung (ggf. nach ein paar Kürzungen) weiterverwertet und als Film inszeniert werden. Dies lässt sich sagen, ohne die dazu nötige Kunst der sprachlichen Leichtigkeit und Einfachheit des Autors zu nivellieren.

Z USAMMENFASSUNG UND A USBLICK Es sollte im Rahmen dieses Beitrages gezeigt werden, dass Foucaults Gouvernementalitäts- und Machtanalyse auch im Kontext von Massenmedien6 bzw. Medien interessant und relevant ist. Eine andere, frühere Foucault’sche Perspektive betrifft die Frage nach Wissenschaft, Wahrheit und Diskursordnung. Eine wichtige Konsequenz des Neurokapitalismus, auf die ich in diesem Schlusswort wenigstens hinweisen möchte, betrifft die Diskursordnung der Philosophie und der Wissenschaften im Allgemeinen. Aufmerksamkeit als produktiver und transformativer Kapitalfaktor wird immer wichtiger und muss bei den Regeln des Diskurses mehr und mehr mit berücksichtigt werden. Die von Foucault beschriebenen diskursregelnden Mechanismen der Verknappung und Beschränkung (Foucault 2007) müssen somit durch den Aspekt der Aufmerksamkeit ergänzt werden. So sind an eine Professur eine bestimmte Anzahl an Veröffentlichungen und spezifische Publikationsaktivitäten gebunden. Die Veröffentlichungen wiederum sind aber nicht beliebig zu gestalten, sondern sie unterliegen einem exakt festgelegten Ranking und Prestigesystem, in welchem beispielsweise die Zeitschriften nach bestimmten Kriterien in A-, B- und C-Kategorien eingeteilt sind. Die Bewertungskriterien richten sich nach Auflagenhöhe, Internationalität und Reichweite der jeweiligen Zeitschrift auf der Basis eines internationalen Zitationsindex.7 Ausgehend von dem Gesagten müsste man auch hier fragen: Welche Rolle spielt Aufmerksamkeit in der Wissenschaft und haben die Massenmedien auch hier eine transformative Ausstrahlung? Wie verändern die Aufmerksamkeitsmärkte der Massenmedien die Wissenschaft und vor allem die Philosophie?

6 | Zwar spricht man im aktuellen Diskurs nicht mehr von den Massenmedien als einem zusammenhängenden System, jedoch wird der Begriff hier im Sinne der Primär- und Sekundärliteraturen beibehalten, auch wenn kein geschlossenes System damit gemeint ist. 7 | Zur allgemeinen Funktion des Zitats in den Wissenschaften und zum Science Citation Index vgl. Franck 1998: 187 und Franck 2005: 61-65. Zum Problem der aktuellen Evaluation von Philosophiezeitschriften vergleiche den Bericht in der Zeitschrift Information Philosophie, Heft 5, 2009, S. 121-125.

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Eine solche Dimension der in diesem Artikel skizzierten Phänomene des Neurokapitalismus, Mentalen Kapitalismus oder Kognitiven Kapitalismus spiegelt sich nicht nur in Bezug auf die Diskursordnung wider, sondern auch in den Methoden und Verfahrensweisen der Philosophie: Es bilden sich nicht nur neue Kapitalismustheorien heraus, sondern es entstehen neue Felder wie Neurophilosophie, Experimentelle Philosophie, Neuropsychologie, Neurobiologie etc., bei welchen vor allem das empirische Wissen im Vordergrund steht. Schaut man sich beispielsweise die Programmatik der sozialwissenschaftlich orientierten, experimentellen Philosophie sowie Psychologie an, so lässt sich feststellen, dass es hierbei primär um das Verstehen von kognitiven Meinungs- und Überzeugungsbildungsprozessen geht. Hierin lässt sich ein direkter Bezug zum wissenschaftlichen sowie kommerziellen Feld des Neuromarketing herstellen, da sich an dieser Stelle neurokapitalistische Interessen und Ziele in der Forschungsausrichtung beider Disziplinen treffen und überschneiden. Worauf zielt aber das Verstehen dessen, wie sich Bilder, Meinungen und Überzeugungen in der menschlichen Kognition entwickeln, durchsetzen, verfestigen und verändern? Ist nicht das Gehirn das letzte Stück Natur, das es zu beherrschen gilt, damit der Mensch als maître und possesseur de la nature in die Geschichte eingeht? Und birgt das Interesse an diesem Wissen nicht auch die Gefahr, dass es stetig kapitalisiert und zu Manipulationszwecken verwendet wird? Liegt hinter allem Forschungs- und Vermarktungsdrang vielleicht ein allgemeines Sehnen nach einem neuen, besseren Menschen? Massenmedien und Medien waren und sind ein Teil der liberalen Regierungstechniken, indem sie den politischen und ökonomischen Regierungsapparaten zuarbeiten und wichtige Funktionen für die Prozesse der Subjektivierung sowie Entsubjektivierung übernehmen. Massenmedien sind somit komplementär zu den politischen sowie ökonomischen Dispositiven zu verstehen. Ihr Verhältnis ist so zu bestimmen, dass die Zwänge, Mechanismen und Rahmenbedingungen für die soziale und gesellschaftliche Identität den Spielraum ausfüllen, den die Laissez-faire-Politik des Neoliberalismus den Individuen in einer Gesellschaft zugesteht. Wo die Politik sozusagen keine Vorschriften mehr macht oder keine Strukturierung mehr vorgibt (etwa im Bereich der Ethik und Religion, also ,allgemeiner gesagt, im Bereich der Lebensführung und damit auch der Lebensstile und Lebensgestaltung), strukturieren die Massenmedien die Verteilung der sozialen Anerkennung mit ihrer eigenen Logik der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ihr struktureller Inhalt umfasst Imperative, suggestive Vorschläge, Visionen und Schablonen von verschiedenen Arten der Lebensführung, -gestaltung und -einstellungen. In diesem Sinne können die Strukturen der Ökonomie der Aufmerksamkeit als eine Fortsetzung des christlichen Pastorats mit dem zentralen Motiv des Geständnisses in der Öffentlichkeit angesehen werden, die allerdings im Namen und Ordnungsrahmen des

B IOÖKONOMIE UND N EUROKAPITALISMUS

Liberalismus bzw. Neoliberalismus funktionieren.8 Auf dem Identitätsmarkt hat Foucault selbst für sich als Autor folgende nominalistische Devise eingefordert: »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« (Foucault 1981: 30) Mit Bemerkungen dieser Art ist Foucault nicht zuletzt zum Popstar der Philosophieszene avanciert und so könnte der Refrain seines Aufrufs zum Widerstand in etwa so klingen: Lass dich niemals gegen deinen Willen ›subjektivieren‹! Sei Unternehmer deiner Identität und freier Verwalter deiner ›Subjektivierungsformen‹!

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Kunst, Wissen und biopolitische Subsumtion im Zeitalter des kognitiven Kapitalismus Danilo Mariscalco

Die Untersuchung der wechselseitigen Beziehung von als künstlerisch definierter Tätigkeit und dem postfordistischen Akkumulationsregime verfolgt das Ziel, die Rolle des Wissens und der Kenntnisse zu ermitteln, die insbesondere den künstlerischen Bereich betreffen. Hierbei liegt die Annahme zu Grunde, dass im sogenannten ›kognitiven Kapitalismus‹ die Arbeit den Akkumulationsgesetzen des Kapitals biopolitisch unterworfen wird. Ein dem Gegenstand entsprechender, theoretisch und methodologisch schlüssiger Rahmen ist die materialistische Auffassung von Kunst, wie sie in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels zu finden ist. Mithilfe der Prinzipien des historischen Materialismus soll deshalb im Folgenden das kulturelle Phänomen von Kunst umrissen werden. Ausgehend von den Arbeiten Antonio Gramscis und Walter Benjamins sollen das Verhältnis Basis-Überbau und die historische Funktion der ideologischen Formen betrachtet werden. Daran schließt sich die Untersuchung des Paradigmas des ›kognitiven Kapitalismus‹ an, welches, wie wir sehen werden, dem Wissen und selbst den kritischen ideologischen Elementen im produktiven System Bedeutung zuzusprechen scheint. Abschließend widme ich mich den Praktiken einer Gegenbewegung, die in den Siebziger Jahren in Italien auftrat und die ausgehend von einer materialistischen Perspektive nach den Wegen fragt, die künstlerische Aktivitäten beschreiten können, um die herrschenden Produktionsverhältnisse zu verändern. Laut der Hypothese des Historischen Materialismus ist die Kunst in einer Klassengesellschaft eine ideologische Form, die zum ›kulturellen Überbau‹ gehört, in letzter Instanz von der ökonomischen Grundlage bestimmt und von einer spezifischen Tradition beeinflusst ist. Marx und Engels beschreiben die Formen der ideologischen Konditionierung in Die deutsche Ideologie von 1845-1846: »[Hierbei sind] die Gedanken der herrschenden Klassen [….] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion inne hat, disponiert damit zu-

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gleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.« (Marx/Engels 1959 III: 46) So wie es in dieser Schrift dargestellt wird, nimmt der Begriff Ideologie bekanntlich eine negative Bedeutung an. In seiner Eigenschaft als partieller Blick auf die Wirklichkeit ist dieser Begriff einer Klasse eigen und nach ihren Bedürfnissen und Bestrebungen ausgerichtet, jedoch im Falle der herrschenden Klasse als universelle Wahrheit vorgeschlagen und aufgezwungen: Dieses Konzept würde die Kunst, zumindest bei den großen historischen Erzählungen als Ausdruck der herrschenden Gedanken und somit als »ideellen Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse« (Marx/Engels 1959 III: 46) definieren. Bei einer Veränderung der ›ökonomischen Basis‹ müsste der durch die vorangehende Basis bestimmte, ›kulturelle Überbau‹ erschüttert werden, aber dieser in letzter Instanz unvermeidbare Prozess findet Widerstand in den Konstanten der Tradition, welche die verschiedenen ideologischen Formen charakterisieren. In einem Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890 schreibt Engels in Bezug auf die Philosophie, dass diese in »jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung [hat], das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden [ist] und wovon sie ausgeht« (Engels 1967 XXXVII: 493). Der Einfluss, den der ›Überbau‹ (und somit auch die Gesamtheit der ihn konstituierenden ideologischen Formen) auf die ›ökonomische Basis‹ ausübt, ist mehrmals von der marxistischen Kritik festgestellt worden. Auf dieser Tatsache basiert jeglicher Widerstand gegen die mechanistischen Anwendungen des vulgären Historischen Materialismus. Schon Marx erklärt im Vorwort von 1859 in Zur Kritik der politischen Ökonomie, in der er konzis die Thesen seiner materialistischen Geschichtsauffassung darlegt, dass in revolutionären Zeiten, die durch das Auseinanderklaffen der ›Produktivkräfte‹ der Gesellschaft und den bestehenden ›Produktionsverhältnissen‹ geprägt sind, die »juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen« es den Menschen erlauben, sich »dieses Konflikts bewusst zu werden und ihn auszufechten« (Marx 1961 XIII: 9). Damit stellt Marx die Wichtigkeit von Elementen des ›Überbaus‹ im Klassenkampf und damit auch im geschichtlichen Prozess fest, der vom Klassenkampf vorangetrieben wird.1 Dies stellte später einen Kernpunkt von Gramscis Theoriebildung und der konzeptuellen Ausarbeitung durch Walter Benjamin dar. Während der Jahre seiner Inhaftierung in den faschistischen Gefängnissen beschrieb Antonio Gramsci in seinen Tagebüchern die aktive Natur der Ideologien. Er warf dem mechanischen Historischen Materialismus »primitiven In1 | Nach Auffassung des französischen Marxisten Louis Althusser ist die Geschichte ein Prozess ohne Subjekt, ohne Ende und ohne Ziel, der vom Klassenkampf angetrieben wird (vgl. Althusser 1973).

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fantilismus« (Gramsci 1992, IV/7 §24: 878) vor, da dieser vorgab, im ›Überbau‹ das unmittelbare Spiegelbild der realen Basis zu erkennen: Tatsächlich können Ideologien, wenn sie historisch organisch sind, für Gramsci »das Terrain [bilden], auf dem die Menschen […] Bewusstsein von ihrer Stellung erwerben [und] kämpfen« (Gramsci 1992, §19: 876). Indem er sich besonders auf die Philosophie bezieht, behauptet Gramsci, dass ihr historischer Wert in ihrer Fähigkeit bestehe, in die Gesellschaft einzugreifen, und in den Effekten, die dieser Eingriff bewirke (Gramsci 1992, §45: 899). Ebenjene Effekte wären somit diejenigen Elemente, die in Bezug auf die Ideologie im Nachhinein erlauben, die Philosophie als »geschichtliche Tatsache« von den individuellen und willkürlichen »Tüfteleien« zu unterscheiden (Gramsci 1992, §45: 899), die nicht in der Lage sind, auf die Gesellschaft zu reagieren. Gramsci zufolge ist die Philosophie eine Ideologie, welche die Realität verändern kann, wenn sie nicht von der Praxis entkoppelt wird, und die in der theoretisch-praktischen Einheit – wie schon Marx in seinen Thesen über Feuerbach von 1845 (vgl. Marx 1959: 5-7) aufgezeigt hat – ihren revolutionären Charakter, ihr Wesen finden kann: Sie muss tatsächlich »Politik werden, um sich zu bewahrheiten, um weiterhin Philosophie zu sein« (Gramsci 1994, VI/11 §49: 1460). Im selben Zeitraum und aus einer ähnlichen Perspektive untersuchte Walter Benjamin das revolutionäre Potenzial der massenhaften Verbreitung des technisch reproduzierten Kunstwerkes. Er widmete sich den Möglichkeiten des Eingriffs in die Gesellschaft, die sich der Kunst in der Epoche der technischen Reproduzierbarkeit eröffneten. In seinem 1936 veröffentlichten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt er eine Reihe zusammenhängender Kategorien für das Studium der ideologischen Natur der kulturellen Produktion. Bei seinen Überlegungen, deren Gültigkeit später durch die Analyse von aktuelleren Phänomenen belegt werden soll, macht er von eben jenen Konzepten Gebrauch. Diese erweisen sich als nützliche Instrumente: Sei es für die Untersuchung des Wechselverhältnisses von Produktionsweise, Gegenbewegungen, Instrumenten der Massenkommunikation und Kunst, oder sei es, wie Benjamin erklärt, für die Transformation der bestehenden Verhältnisse, wobei der ›Überbau‹ nicht vernachlässigt werden dürfe und ebenjene Konzepte »zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kulturpolitik brauchbar« (Benjamin 2006: 8) sind. Getragen von der Absicht, die Prämisse einer materialistischen Kunsttheorie zu formulieren2 , schlägt Benjamin in diesem Aufsatz eine These vor, die so dargestellt werden kann: Die damaligen Produktionsbedingungen, die aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks die Aura des einzigartigen Objekts entwerteten und dieses den Massen zugänglich machte, führten zu einer Problematisierung idealistischer Begriffe wie Kreativität, Genialität und ewiger 2 | Diese Absicht äußert Benjamin explizit in seinem Brief an Horkheimer vom 16. Oktober 1935 (vgl. Benjamin 1966).

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Wert. Dies bot sich als mögliches Transformationsinstrument in den Händen der revolutionären Bewegung an. Wie auch bei Gramsci, so ist auch in der Theorie von Benjamin der Übergang politischer Natur. Dieser Übergang befreit die ideologische Form von der Passivität bzw. leitet er – aus der revolutionären Perspektive betrachtet – das Ende der bestehenden Gesellschaftsordnung ein.3 Angesichts der Ästhetisierung der vom Faschismus betriebenen Politik antwortet die kommunistische Bewegung, laut Benjamin, mit der Politisierung der Kunst (vgl. Benjamin 2006: 48). Die Kunst und die Philosophie sowie die Ideologien im Allgemeinen, die sich auf solche oder andere Weise konkretisieren, können sich aus der materialistischen Perspektive heraus in der revolutionären Praxis vollenden. Sie werden umso authentischer, desto mehr sie sich der Darstellung der reellen Situation annähern.4 Dementsprechend bedarf es mehr Menschen, die objektive Interpretationen materieller Existenzbedingungen liefern. So beschreibt es Kosík in Die Dialektik des Konkreten: »In der großen Kunst öffnet sich für den Menschen die Wirklichkeit. Die Kunst ist im wahren Sinne des Wortes gleichzeitig entmystifizierend und revolutionär, denn sie führt den Menschen aus den Vorstellungen und Vorurteilen über die Wirklichkeit in die Wirklichkeit und ihre Wahrheit selbst. In der wirklichen Kunst und wirklichen Philosophie wird die Wahrheit der Geschichte enthüllt: die Menschheit wird vor ihre eigene Wirklichkeit gestellt.« (Kosík 1967: 125f.)

Damit die Kunst ein Transformationsinstrument sein kann, muss sie sich nach den Prinzipien des Historischen Materialismus von jener Darstellungsfunktion lossagen, die nicht von der Wirklichkeit verzerrt wird (vgl. Salinari 1967: 18). Sich einfach als revolutionär auszugeben, garantiert nicht die soziale Wirksamkeit der Kunst; so riskiert sie im Gegenteil als Nachahmung der »Geister der Vergangen3 | Arnold Hauser erklärt in seinem 1958 erschienenen Werk Philosophie der Kunstgeschichte, dass die Kultur dazu diene, die Gesellschaft zu schützen und dass Religion, Philosophie, die Wissenschaft und die Kunst eine Funktion im Kampf um den Erhalt der Gesellschaft einnehmen (vgl. Hauser 1958). Zum selben Schluss scheint auch Nicos Hadjinicolau zu kommen, auch wenn er das marxistische Paradigma anders auslegt (vgl. Hadjinicolau 1978: 22). 4 | Die folgende Analyse des Phänomens der weiten Verbreitung der avantgardistischen Sprache im Italien der siebziger Jahre dürfte die Missverständnisse, die eine solche Aussage bewirken kann, aus dem Weg räumen. Unter Realismus wird in der vorliegenden Arbeit die Darstellung der konkreten Situation verstanden und nicht zwangsläufig eine Darstellung, die auf den stilistischen Prinzipien traditioneller Strömungen oder des sozialistischen Realismus basiert. Letztere wird übrigens mit einer historisch bestimmten kulturellen Tendenz gleichgesetzt.

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heit« (Marx 1960 VIII: 115) zu gelten. Marx zufolge kommen die Menschen im Laufe der Geschichte zu dieser Überzeugung, wenn ihnen die mögliche Veränderung der Wirklichkeit bewusst wird »und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen« (Marx 1960 VIII: 115). Laut der These, die Marx in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1851-52) darlegt, würde solch eine Wandlung die repetitive Kunst und die entsprechenden Künstler als Farce darstellen, alle Ereignisse und große Persönlichkeiten der Weltgeschichte mit eingeschlossen. »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« (Marx 1960 VIII: 115)5 Fahren wir mit Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktionsweise fort. Um die Erklärung der materialistischen Konzeption der Kunst, die in seinen Schriften zu finden ist, zu vervollständigen, müssen einige Passagen aus seinen Theorien über den Mehrwert, dem vierten Band von Das Kapital von 1862-63, in Betracht gezogen werden. Darin untersucht er die Subsumtion der künstlerischen Aktivität unter das Kapital. Hier behauptet Marx, dass der Künstler, vor allem der Schriftsteller, produktiv ist, nicht weil er Ideen produziert, sondern weil er den Herausgeber seiner Schriften bereichert (vgl. Marx 1967a). Er spricht damit den künstlerischen Aktivitäten und Produktionen einen ökonomischen Wert zu. Zugleich aber scheint er den mangelnden Einfluss der Kunst im Prozess der Wertsteigerung des Kapitals festzustellen. Laut Marx ist die kapitalistische Produktion einigen Branchen der intellektuellen Produktion feindlich gesinnt, wie zum Beispiel die der Kunst und der Dichtung (vgl. Marx 1967a). Der soziale Wandel im Postfordismus scheint jedoch diese Beziehung zwischen Kunst und Kapital zu problematisieren. Laut der These des ›kognitiven Kapitalismus‹ basiere das aktuelle Wirtschaftssystem auf einer ausgerichteten und den Akkumulationsgesetzen des Kapitals untergeordneten Kenntnis (vgl. Vercellone 2006: 39)6. Um die

5 | Diese Überlegungen scheinen auch die Äußerungen zu stützen, die Sandro Fe’ D’Ostiani 1949 in einem Artikel veröffentlicht: Das künstlerische Engagement dürfe sich nicht auf die äußere Darstellung des Klassenkampfes beschränken, sondern müsse in der theoretisch-praktischen Aktivität seine Vollendung finden: »Es reicht nicht, dass die Kunstmaler das Leben der Menschen betrachten und es äußerlich darstellen. Es ist vielmehr notwendig, dass sie selbst daran teilhaben.« (Fe’ D’Ostiani 1949: 44; dt. d. Ü.) 6 | Nach Meinung von Carlo Vercellone und der Theoretiker des kognitiven Kapitalismus, und im Allgemeinen der Marx-Forscher, die das postfordistische Regime untersuchen, kann man die bedeutendsten Merkmale der kapitalistischen Neugestaltung im Marx’schen Konzept des General Intellect in Grundrisse (vgl. Marx 1983) wiederfinden (vgl. z.B. Marx 1976: 716-719).

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Modi dieser Subsumtion7 zu verstehen, ist es notwendig, die besonderen Merkmale des aktuellen Produktionssystems in Bezug auf die vorangehenden Phasen des Kapitalismus und die historischen und sozialen Bedingungen darzustellen, in denen er sich entwickelt hat. Das neue Produktionsmodell, das schon in den fünfziger Jahren in Japan (vgl. Marazzi 1999: 18ff.) aufkam, setzt sich in den siebziger Jahren weltweit durch, als sich die fordistische Gesellschaft in einer strukturellen Krise befand. Der von Massenprodukten gesättigte Markt, die Internationalisierung und die damit einhergehende erhöhte Konkurrenz, die Instabilität der geopolitischen Kräfteverhältnisse (vgl. Chicchi 2003: 31-43) und der erhöhte Protest sowie die Kritik am System – all dies zeugt davon, dass es dem fordistischen System strukturell nicht möglich war, bei der wirtschaftlichen Entwicklung weiterhin auf die bewährte Logik zu setzen (vgl. Chicchi 2003: 32), obgleich das Entwicklungspotential ideologisch für unerschöpflich gehalten worden war. Die Besonderheit des postfordistischen Systems, das auf die Überwindung dieser Gegensätze abzielt, liegt in der Flexibilität (vgl. Chicchi 2003: 33-42), die den neuen »technologischen Kern« (vgl. Chicchi 2003: 33) und die Formen der untergeordneten Arbeit charakterisiert und die es den Unternehmen erlaubt, sich den wechselnden Bedürfnissen des Marktes anzupassen. In diesem Zusammenhang kommt ein immaterieller Produktionstyp auf: Im neuen Produktionssystem hat der Hauptwert der Ware einen ästhetischen und symbolischen Charakter (vgl. Carmagnola 2005: 31-42; Gorz 2003: 24-57). Dies ist das Ergebnis des Verhältnisses von Nachfrage und Angebot, das in dieser Phase des Kapitalismus mit großer Evidenz seinen dialektischen Charakter zeigt. Tatsächlich scheint sich die Distanz, die Produzenten und Konsumenten voneinander trennt, in dem neuen Akkumulationsregime zu verringern und tendenziell zu verschwinden (vgl. Codeluppi 2008: 27-36). Das soziale Wissen, in dem schon Marx die notwendige Produktivkraft für die folgenden Entwicklungen des Kapitalismus sah (vgl. Marx 1983), wird zu einer wesentlichen, produktiven Ressource (vgl. Chicchi 2003: 45), wenn es den Modi der Akkumulation des Kapitals untergeordnet wird.8 Analysiert man einen seiner paradigmatischen Aspekte, so lässt sich Folgendes sagen: Dieser Prozess vollzieht sich auch durch die Anwendung und die gesellschaftliche Verbreitung von spezifisch technologischen Instrumenten, die als ›Instrumente der Subsumtion‹ definiert werden. Diese Instrumente bemächtigen sich aller Formen, auch der künstlerischen, positiven und kritischen Formen des Imaginären, und lassen sich in einem Netz 7 | Das Konzept der Subsumtion definiert in der marxistischen Theorie, die Formen der Unterordnung der Arbeit unter das Kapital (vgl. Vercellone 2006: 40). 8 | Federico Chicchi erklärt, dass die Wandlung des Sozialen hin zur Ware, also ihre ökonomische Aufwertung, immer noch innerhalb der Fabriken stattfindet. Er stellt damit ihre aktuelle Bedeutung, selbst unter neuen den Formen im postfordistischen Regime, heraus (vgl. Chicchi 2003: 51ff.).

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von Dispositiven9 verorten. Die Attraktivität der benutzten und vom postfordistischen Unternehmen zur Verfügung gestellten Mittel wird durch die soziale Verbreitung der künstlerischen Praxen garantiert, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Elektro- und Informatiktechnologien und den Kommunikationsmedien aufgekommen ist. Die spontane Beteiligung an der äußerlichen Gestaltung von Autos durch frei nutzbare Software im Internet10 oder an der Produktion eines Werbespots für eine bestimmte Zielgruppe eines Fernsehsenders11 macht aus dem teilnehmenden Konsumenten einen freiwilligen, nicht bezahlten, paradoxerweise motivierten Produzenten.12 Erklärt werden kann dieses Paradox auch durch das zunehmende Bedürfnis, die eigene Identität zu bestätigen, was in den sozialen Netzwerken seinen deutlichsten Ausdruck findet (vgl. Codeluppi 2008: 37-43)13 . Nach Vanni Codeluppi wird der Konsument zum Produzenten, sofern er »kontinuierlich jenes Allgemeinwissen produziert, das sich vom gegenseitigen Austausch zwischen den Personen speist und das wesentlich für die Entwicklung des Wirtschaftssystems ist« (Codeluppi 2008: 28; dt. d. Ü.). Er nimmt teil an der Produktion des kollektiven Imaginären, eben jenes kulturellen und expressiven Rohstoffs, dessen sich die Unternehmen notwendigerweise bedienen müssen, um die spezifischen kommunikativen Welten ihrer Produkte und Marken aufzubauen und mit Inhalten zu füllen (vgl. Codeluppi 2008: 29; dt. d. Ü.). Somit verrichtet der Konsument einen Teil der Arbeit, der früher vom Unternehmen für ihn verrichtet wurde (vgl. Codeluppi 2008: 30). 9 | Giorgio Agamben klärt in Was ist ein Dispositiv? den netzartigen Charakter der Dispositive, die von Foucault bestimmt wurden und schlägt eine Begriffsdefinition vor: »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.« (Agamben 2008: 26) 10 | Ein konkretes Beispiel lieferte kürzlich die Teilnahme von Besuchern der FiatWebseite an der Umsetzung des Designs des neuen Fiat 500 anhand eines Grafikverarbeitungsprogramms (vgl. Codeluppi 2008: 32). 11 | Ein Beispiel hierfür ist die Teilnahme der Fernsehzuschauer an der Kampagne zur Produktion von Spots des Senders Italia 1. 12 | Die Freiwilligenarbeit scheint die Wirksamkeit der ›Biomacht‹ zu bezeugen, »die das Soziale aus dem Inneren heraus reguliert, in dem sie es verfolgt, interpretiert, aufsaugt, absorbiert und neu artikuliert. Die Macht kann eine effektive Führung auf das gesamte Leben der Bevölkerung nur in dem Moment aufzwingen, in dem es zu einer lebenswichtigen und vollständigen Funktion wird, die jedes Individuum in sich versteht und freiwillig reaktiviert.« (Hardt/Negri 2007: 39; dt. d. Ü.). 13 | Um auf die Analyse der Modi der ›biopolitischen Subsumtion‹ in Bezug auf das Kapital zurückzukommen: Die sozialen Netzwerke regulieren die Versendung von Werbetexten, indem sie sich auf Informationen stützen, die sie aus einer Profilmaschine der Mitglieder erhalten und die den Kulturkonsum der eigenen Nutzer betreffen.

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Die Unternehmen greifen die künstlerischen Tätigkeiten und Produkte des Einzelnen und der kulturellen Avantgarde auf, »um ihre eigenen Produkte und ihre eigene Sprache zu kreieren und zu erneuern, also einen ökonomischen Wert herzustellen« (Codeluppi 2008: 29)14 . Dies geschieht im Rahmen jenes Prozesses, der das gesamte menschliche Handeln in Wirklichkeit dem Ziel der Akkumulation unterwirft (vgl. Fumagalli 2006: 232), worin Andrea Fumagalli eine Form von Bioökonomie gesehen hat: »Wenn die Arbeit über die Fabrikgrenzen auf das Leben übergreift und dieses selbst den Produktionsmechanismen unterworfen ist, wird es immer schwieriger […] die Produktionszeit von der Reproduktionszeit und die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen. […] die gesamte Masse ist wohl oder übel produktiv.« (Fumagalli 2006: 234f.; dt. d. Ü.) Auf die Phasen der ›formalen Subsumtion‹ der Arbeit unter das Kapital, die sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ereignet hat, und der ›realen Subsumtion‹, die von der industriellen Revolution eingeleitet wurde (vgl. Vercellone 2006: 39-49), folge nun, so Chicchi, das Zeitalter der ›biopolitischen Subsumtion‹ (vgl. Chicchi 2003: 44f.). Diese sei alldurchdringend und beziehe auch die Kritik am System mit ein, die in kulturellen und politischen Formen ihren Ausdruck findet. Der Prozess der Kommerzialisierung der kritischen und transgressiven Tendenzen ist für Federico Chicchi hingegen sogar wesentlich für ein Wirtschaftssystem, das auf diese Art und Weise die Formen des Protests schwächt (vgl. Chicchi 2003: 51) und so eine kontinuierliche Erneuerung der kulturellen Codes garantiert, was wiederum nützlich zur Aufwertung der Ware ist.15 Eine Analyse der antagonistischen Kulturen16, die sich in den letzten Jahrzehnten in den kapitalistischen Ländern bzw. mit dem Aufkommen des postfordistischen Regimes herausgebildet haben, könnte helfen, die Beziehung zwischen Kunst und Kapital zu klären (vgl. Baravalle 2009). Dies würde erlauben, die programmatisch revolutionäre Tätigkeit zu betrachten, ihr Verhältnis zum herrschenden Produktionsmodus und ihre eventuellen realen Auswirkungen. 14 | Für Maurizio Lazzarato ist die künstlerische Aktivität in der Informationswirtschaft kompletter Bestandteil der kapitalistischen Aufwertung (vgl. Lazzarato 1997: 109). 15 | Zu den Beispielen für die Subsumtion von Formen des Protests zählt nach Federico Chicchi auch die Vermarktung der Hip-Hop-Kultur (vgl. Chicchi 2003: 51). Vanni Codeluppi erinnert hingegen an die Werbestrategien von Coca Cola, Pepsi, Apple, Virgin, Reebok, Levi’s, Nike, Ben & Jerry’s, Algida und Piaggio, die allesamt bewusst auf die Themen von gesellschaftlichen Bewegungen und des jugendlichen Protests anspielen (vgl. Codeluppi 2008: 77ff.). Ein weiteres Beispiel liefern in Italien einige Fernsehsender, wie MTV, welche die Sprache antagonistischer und avantgardistischer Gruppen aufgreifen. 16 | Die Bedeutung des Begriffs »antagonistisch« ist in der vorliegenden Studie im Rahmen des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit einzuordnen.

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Hierzu sollen nun einige Betrachtungen dargelegt werden, die einer noch nicht abgeschlossenen Studie zur kulturellen Produktion der italienischen 1977er- Bewegung entstammen.17 In seinen Schriften zum zeitgenössischen künstlerischen Schaffen hat Maurizio Calvesi, die politische und kulturelle Bewegung des Jahres 1977 in Italien als avanguaria di massa definiert (vgl. Calvesi 1978). Mit dieser Definition wies der Kunsthistoriker auf eine politische Gegenbewegung hin. Als politische Opposition zum kapitalistischen System propagierte sie in jenen Jahren eine Sprache und ein Verhalten, die scheinbar unter Bezug auf die historischen Avantgarden verwandelt und über die Instrumente der Massenkommunikation verbreitet wurden. Calvesi stellte Bezüge zur Sprache der Avantgarde in der literarischen Produktion der Bewegung fest: »Angesichts des ideologischen Nexus von Stadtindianern, Autonomen und Terroristen […] fungiert der ›verringernde‹ Verweis auf die Kultur der Avantgarde, die eher die ersten und den bürgerlichen Flügel der »Bewegung« betrifft, weder absolut strafmildernd noch spricht er jemanden von seiner Schuld frei […]. Im Hinblick auf das zu allgemeine und zu weite Thema der Gewalt ist die Verbindung von Gewalt und Avantgarde nicht so sehr greifbar wie es auf sprachlicher Ebene der Fall ist, insbesondere in kreativen Phasen […]. Die Presse und die Hektographien, die von der ›Bewegung‹ ab März produziert wurde, liefern hierfür, wie auch die Graffiti, eine konkreten Beweis.« (Calvesi 1978: 57ff.; dt. d. Ü.) Nach Meinung von Calvesi fand diese Sprache, dank des Einsatzes der inzwischen vielzähligen und verbreiteten Medien, eine präzise Erwiderung bei den Massen (vgl. Calvesi 1978: 71). Bereits in einem Artikel vom April 1977 konstatiert Umberto Eco das Phänomen der Massenverbreitung der AvantgardeSprache: »Die neuen Generationen sprechen und leben die Sprache (bzw. eine Vielzahl von Sprachen) in ihrer avantgardistischen Alltagspraktik.« (Eco 1997: 610; dt. d. Ü.) Die Grenze der historischen Avantgarde schien überschritten. Folgt man Mario Perniolas Analyse des Dadaismus, so kann in der Tat behauptet werden, dass die historische Avantgarde mit ihrem Ziel der sozialen Transformation fehlgeschlagen ist, weil die Kritik an der Bewegung aus dem Inneren der kulturellen Werkstätten und Kreise rührte:

17 | Es folgt also keine Untersuchung aufkommender antagonistischer Tendenzen, wie z.B. das Internet. Diese Entscheidung ist durch den beispielhaften Charakter der italienischen Bewegung von 1977 begründet. Letztere, so erklärt Negri 1978 in Bezug auf die Figur des sozialen Arbeiters, befürwortete entsprechende Verhaltensweisen, die diese im Gegensatz zu der vom Kapital bewirkten Umstrukturierung gar vorwegnahmen (vgl. Negri 2007: 23).

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D ANILO M ARISCALCO »Der Umstand, dass die dadaistische Kunstkritik aus dem Inneren der Kunstbewegung rührt, ist der Grund sowohl für ihre Stärke als auch für ihre Schwäche: für ihre Kraft, weil sie das notwendige Wesen dieser Kritik zeigt, die dem originellsten und tiefsten Schaffensimpuls selbst entspringt […]; für ihre Schwäche, weil sie eine künstlerische bleibt anstatt in einer positive gesellschaftliche Kreativität überzugehen, die auf die Erfindung bedeutender Lebenssituationen abzielt.« (Perniola 1971: 193f.; dt. d. Ü.)

Eine Schwäche, die nach Perniola den definitiven Übergang vom Künstler und Poeten hin zum Revolutionär erschwert (vgl. Perniola 1971: 194). Die Ausdrucksweisen der Avantgarde manifestierten sich in Italien erneut im Zuge der 68erRevolten (vgl. Calvesi 1970), aber auf programmatische Weise beeinflussten sie die Praktiken der Gegenbewegungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.18 Die Massenmedien begünstigten die Verbreitung der Avantgarde-Sprache in ihrer erneuerten und politisierten Form: Radio Alice, Comics, Zeitschriften – sie alle vermittelten den antagonistischen Diskurs und garantierten eine weite Verbreitung. In jenen Jahren schien sich damit Benjamins Wunsch nach einer politisierten und reproduzierbaren Kunst, welche die Massen erreichen konnte, zu verwirklichen: Die von Cesare Cases zu Tage geförderten ›Missverständnisse‹ in Benjamins Schrift können als »Prognose« betrachtet werden (vgl. Cases 1991). Denn als Cases seinen Aufsatz 1966 verfasste, fehlte es zur Verwirklichung von Benjamins Vision an den materiellen Voraussetzungen. Einen weiteren Grund für den Erfolg und die Politisierung des avantgardistischen Diskurses am Ende der siebziger Jahre – und in anderer Form im Jahr 1968 – stellt die allgemeine Schulpflicht dar. Ein sich abzeichnender Bedarf an Schulbildung nahm in diesen Jahren die Form einer politischen Forderung ein, die für Christian Marazzi zusammen mit der strukturellen Krise des Fordismus zutage trat und gar die kapitalistische Neuordnung auf kultureller Ebene vorbereitete: »In den westlichen Ländern war das fordistische Modell in seiner Eigenschaft als ›Kulturmodell‹ jedoch schon zuvor, mit dem 1968 begonnenen Kampfzyklus in eine Krise geraten, einem Kampfzyklus, indem die umfassende Kritik der Ausbeutung der vermassten Arbeit ganz zentral war, und indem es eine starke Nachfrage nach Schul- und Ausbildung als Grundstock zu einer Alternative zum Zuchthäuslerdasein in der Fabrik gegeben hatte. Die Produktions- und Organisationsmodelle, aber auch jene der Gesellschaft und Kultur, die dem Fordismus zugrunde lagen, verloren während der Krise von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik der 70er Jahre mithin an Wirksamkeit. Es sollten vielmehr nach und nach […] die ›technologische Sparsamkeit‹ der ersten ökologischen Bewegung, das ›Small-is-beautiful‹ der zweiten Hälfte der 70er Jahre, die Organisation 18 | Das Aufkommen einer als maoistisch-dadaistisch definierten politischen und kulturellen Bewegung scheint in jener Zeit besonders relevant zu sein (vgl. Balestrini/Moroni 1997: 602-608).

K UNST , W ISSEN UND BIOPOLITISCHE S UBSUMTION einer Arbeit mit höherem intellektuellen Gehalt und die ›Flucht‹ aus der lebenslangen Lohnarbeit zusammenwirken.« (Marazzi 1998: 18)

Dass sich vorrangig Studenten der Geisteswissenschaften und in Bologna der Theaterwissenschaften und der Akademie der Schönen Künste innerhalb der 77er- Bewegung engagierten, ist kein Zufall (vgl. Calvesi 1978: 72)19, waren sie doch verantwortlich für die Verbreitung der Hochkultur in der Bevölkerung. Wenn gemäß der These des ›kognitiven Kapitalismus‹ das soziale Wissen, die Erkenntnis, die Kunst, Philosophie, nämlich die verschiedene Weltbilder (vgl. Codeluppi 2008: 23) konstituierenden Elemente – kurz: die Ideologien und ihre entsprechenden Formen – die wichtigsten Produktivkräfte darstellen, so »geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft«, wie bereits Marx im zitierten Vorwort von 1859 aufzeigte, »in Widerspruch mit den vorhandenen Produktivverhältnissen […]. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.« (Marx 1961 XIII: 8) Kombiniert mit einer kulturellen und politischen revolutionären Aktivität, trugen wahrscheinlich sowohl die Bildung der Massen als auch die soziale Verbreitung des Wissens, gemeinsam mit anderen Umweltfaktoren (vgl. Chicchi 2003: 31ff.), zur strukturellen Neugestaltung der ›herrschenden Produktionsverhältnisse‹ bei. Diese Veränderung garantierte weiterhin die Dominanz der bürgerlichen Klasse, doch zugleich stellt sie, laut Carlo Vercellone, auch die Voraussetzungen für eine Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen und -ziele dar (vgl. Vercellone 2006: 14) und bietet so aus marxistischer Perspektive die Möglichkeit eines direkten Übergangs zum Kommunismus (vgl. Vercellone 2006: 2). Diese Möglichkeit würde letztlich durch die Widersprüche bestimmt, die in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus aufkommen und die bereits von Marx ermittelt und von ihm in einer Passage der Grundrisse erörtert wurden: »Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der 19 | Der italienische Forscher ermittelte die eigentümlichen Merkmale der Bewegung in Bezug auf die »Arbeitslosigkeit von Intellektuellen« und auf die Unproduktivität ihrer Protagonisten und berücksichtigte damit nicht die sich vollziehenden strukturellen Tendenzen und das Aufkommen neuer Produktionsformen (vgl. Calvesi 1978: 55ff., 82-94). Zur Analyse der ausschlaggebenden Bedingungen im Hinblick auf die zentrale Rolle der Studenten während der sozialen Unruhen der letzten vierzig Jahren, stellen Maurizio Lazzarato und Antonio Negri die Hypothese auf, dass sich gerade bei Studierenden ein neues Klassenbewusstsein und eine Form des Massenintellekts herausbilde, da sie von den Machtstrukturen noch nicht kontaminiert worden seien und noch nicht in bezahlter Arbeit stünden (vgl. Lazzarato/Negri 1997: 29-30).

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D ANILO M ARISCALCO Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. […]Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen, […]Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht. Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch […]. Es vermindert die Arbeitszeit daher in der Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung – question de vie et de mort – für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten. Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.« (Marx 1983: 619f.)20

Möchte man dies anhand der Marx’schen Theorie und der spezifischen Wirksamkeit (vgl. Althusser 1972: 92) der Elemente des ›Überbaus‹ im historischen Prozess überprüfen, so kann im Hinblick darauf behauptet werden, dass Klassen oder Gruppen zur Aufrechterhaltung der ›herrschenden Produktionsverhältnisse‹ neigen, solange ihre Ideologien (auch in Formen, die später als künstlerisch definiert werden) der positive und bestmögliche Ausdruck der ›herrschenden materiellen Verhältnisse‹ sein werden. Sie tragen folglich also funktionell zur generellen Aufrechterhaltung der herrschenden Formen der Klassengesellschaft bei. Wenn sie jedoch Darstellungen fördern, die nicht von der Realität oder ihren Widersprüchlichkeiten abgeändert werden, und wenn sie sich politisch für eine Veränderung einsetzen, dann könnten die aufkommenden gegensätzlichen Bewegungen in einigen Situationen an der sozialen Neugestaltung teilhaben, die ja ein strukturelles Merkmal des kapitalistischen bürgerlichen Systems ist. Dies könnte jedoch zur revolutionären Transformation der gesamten Gesellschaft führen, wie Marx und Engels im Manifest ausführen (vgl. Marx/Engels 1959 IV: 459-493). 20 | Solch ein Widerspruch manifestiere sich ebenfalls, wenn gegensätzliche Verbreitungsstendenzen und die Privatisierung von Wissen auftauchen, behaupten Lebert und Vercellone. Dies könne nämlich dazu führen, dass die aktuelle Regelung des kognitiven Kapitalismus zum einem möglichen Wachstumshemmnis für eine auf Wissen basierende Ökonomie wird (vgl. Lebert/Vercellone 2006: 37).

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Entsprechende Hypothesen ergeben sich für die Netztechnologien. Wenn es nämlich wahr ist, dass das Internet ein Ort der ›biopolitischen Subsumtion‹ ist und darüber hinaus Instrument und Substanz der Darstellung oder gar deren mögliche Organisation (vgl. Fumagalli 2009: 218)21, und dass die künstlerische Produktion, wegen der ihr traditionell und allgemein beigemessenen symbolischen Besonderheit in einigen Fällen unter den bestehenden Bedingungen als mögliches alternatives Modell dargeboten wird, dann scheint die sich in Bewegung befindliche Multitude22 im Zeitalter des ›kognitiven Kapitalismus‹ das Internet zu ihrem bevorzugten Terrain für politisches Handeln und die künstlerische Produktion zu einer der sie charakterisierenden Tätigkeiten auserkoren zu haben (vgl. Fumagalli 2009: 217-226): »Im kognitiven Kapitalismus manifestiert sich die Existenz alternativer Modelle eher in der Art des Endprodukts und seiner symbolischen Bedeutung als in den Organisationsmodalitäten. Ziel wird […] die Produktion von Bedeutungen, die nicht von traditionellen Stereotypen übernommen werden können, also von jenen Stereotypen, die das herrschende Imaginäre bestimmen. Somit ermöglicht insbesondere die kulturelle und künstlerische Produktion alternativ einzugreifen.« (Fumagalli 2009: 223)

Aus dem Italienischen von Luigi Lo Grasso

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21 | Nach Meinung von Negri und Hardt kann die Multitude »als ein offenes und breit angelegtes Netzwerk [aufgefasst werden], das es zulässt, jegliche Differenz frei und gleich auszudrücken, ein Netzwerk, das die Mittel der Begegnung bereit stellt, um gemeinsam arbeiten und leben zu können« (Hardt/Negri 2004: 9). 22 | Negri und Hardt zufolge ist es möglich in der Multitude das neue Proletariat zu erkennen, dieses umfasst all diejenigen, deren Arbeit vom Kapital ausgenutzt wird (vgl. Hardt/Negri 2007: 372). Diese These könnte die Reflexion über die politischen Kategorien der Tradition und über ihre Gültigkeit in der Gegenwart anstoßen. Hierbei findet sich die Besonderheit des Proletariats und seiner revolutionären Aktivitäten allgemein in den Formen der Vielfalt. Diese wurde bereits von Marx und Engels identifiziert und in Die deutsche Ideologie unter Forderung der Abschaffung der Klassengesellschaft dargelegt (vgl. Marx/Engels 1958: 68).

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Schöne neue Welt? Slave City: eine Modellstadt des niederländischen Künstlerkollektivs Atelier van Lieshout Angela Weber

Die Modellstadt »Stadt der Sklaven« des niederländischen Künstlerkollektivs van Lieshout erscheint als monströse Form der Vollendung einer sich in ihren Grundzügen global bereits deutlich abzeichnenden Politik, die Michel Foucault und in dessen Folge Giorgio Agamben als ›Biopolitik‹ beschrieben haben. Zunächst werde ich die Präsentation der Modellstadt, wie sie im Jahr 2008 im Museum Folkwang in Essen gezeigt wurde, in ihren Grundzügen vorstellen, um dann im zweiten Teil des Aufsatzes nach der Verbindung zwischen dem Kunstprojekt und Giorgio Agambens radikaler Kritik an der Machtpolitik moderner Rechtsstaaten zu fragen. Die Nähe zum Denken Agambens dient dabei als Anlass, einige zentrale Thesen des Philosophen vor dem Hintergrund einer Ästhetik des Schreckens neu zu diskutieren. Das als umfangreiche Präsentation von Plänen, Zeichnungen, Skulpturen, Modellen und Installationen angelegte Projekt Slave City zeigt die pervertierte Version einer hochmodernen Leistungsgesellschaft. Gegenwärtige, auf breiter Basis geführte Debatten über zukunftsrelevante Themen wie Klimaschutz, Ernährung, Organisation und Markt fließen in die beklemmende Vision einer autarken Stadt ein, in welcher der einzelne Mensch zu einem Rädchen eines auf Effektivität getrimmten, sich selbst erhaltenden totalitären Systems reduziert wird (Abb. 1, s. Seite 116). Van Lieshouts »Stadt der Sklaven« folgt der Idee eines in sich geschlossenen Energiekreislaufs. Sie kommt ohne den Import von Energie und Nahrungsmitteln aus, ist auf Selbstversorgung ausgerichtet und basiert auf dem Prinzip der Profitmaximierung. Dies gilt auch für die Sklavenarbeiter der Stadt – Teilnehmer genannt –, deren Körper aus ökonomischen und ökologischen Zwecken wiederverwertet werden.

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Abbildung 1: Stadt der Sklaven – Stadtplan, 2005, 232 x 560 cm, Tinte auf Hahnemühle-Papier auf Leinwand

© Diederik den Dikkenboer – Atelier van Lieshout

Der Gedanke der Wiederverwertbarkeit sämtlicher Rohstoffe – einschließlich des menschlichen Körpers – stellt einen sarkastischen Kommentar zu all jenen Formen nachhaltigen Wirtschaftens dar, die gemeinhin unter dem im Alltagsbewusstsein tief verankerten Begriff ›Umweltschutz‹ zusammengefasst werden. Erhalt der Umwelt um den Preis der gezielten Tötung des Menschen – so lautet die erschreckende Logik dieser »grünen« Stadt. Im Zentrum der Sklavenstadt steht die Idee der Kalkulierbarkeit von Leben. Die nackten Zahlen dieser numerisch ausgerichteten, monströsen Gesellschaftsidee lauten wie folgt: Nach Berechnungen sind nur sechs Prozent der Teilnehmer für die Arbeit geeignet. Die Übrigen können auf verschiedene Weise wiederverwertet werden. So dienen ihre Körper beispielsweise als Rohmaterial zur Erzeugung von nutzbarem Biogas. Die arbeitenden Teilnehmer erweisen sich circa drei Jahre lang als wirtschaftlich produktiv. Dann werden auch sie recycelt. »Jeder menschliche Körper beinhaltet im Durchschnitt ungefähr sechs Liter Blut, 26 Organe, die transplantiert werden könnten, und 35 Kilo Fleisch, das den anderen Bewohnern zum Verzehr zur Verfügung steht.« (Schmidt 2008: 48) Auf diese Weise wird in der »grünen« Stadt kein Abfall produziert und kein Rohstoff verschwendet. Die Teilnehmer von Slave City sind in so genannten »CallCenter-Einheiten« untergebracht, wo sie zugleich arbeiten, ›wohnen‹ und schlafen. Eine CallCenter-Einheit kann genau 72 Teilnehmer aufnehmen. Die Ausstattung der CallCenter könnte einfacher nicht sein. Im Gegensatz zur modernistisch anmutenden Hülle der Gebäudekomplexe gleichen die Innenräume schnell errichteten Baracken. Sie bestehen aus einer schlichten Holz- und Metallkonstruktion. Schmale Holzpritschen dienen den Teilnehmern als Schlafstätten. Außerdem werden Tischflächen für Computerarbeitsplätze und Waschräume zur Verfügung gestellt. Die Toiletten gleichen einfachen Plumpsklos und sind vom Schlaf- und Arbeitsbereich nicht weiter abgetrennt. Eine Privatsphäre gibt es demnach nicht.

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Für die Ausstellung in Essen wurde eine CallCenter-Einheit 1:1 nachgebaut und war für die Ausstellungsbesucher begehbar. Der Vergleich mit einem Konzentrationslager drängte sich dem Besucher beim Durchschreiten dieses Raumes förmlich auf (Abb. 2). Abbildung 2: CallCenter Units, Arbeits- und Schlafeinheiten, 2008, Gesamtinstallation

© Achim Kukulies – Atelier van Lieshout

Im Rahmen des künstlerischen Projektes, dessen Kopf Joep van Lieshout – von Hause aus Architekt – ist, entstehen Modelle für realisierbare Einheiten in menschlichen Proportionen. Diese sind individuell gestaltet und sollen – so eine Leitidee des Kollektivs – in Eigenregie nachzubauen sein. Die im Museum Folkwang realisierte Installation CallCenter zählt zu den größten bislang geschaffenen Installationen des Ateliers. Das abgründige Spiel mit den verschiedenen Proportionen der Modelle – von puppenstubenartig anmutenden kleinen Modellen bis zu lebensgroßen, begehbaren »realen« Räumen – dient als Strategie, um den Besucher mit der Möglichkeit einer solchen Stadt zu konfrontieren. Diese Kunst ereignet sich im realen Raum: Man kann ihr begegnen. Dies jedenfalls suggerieren die lebensgroßen Installationen. Im Ausstellungskatalog beschreibt die Kuratorin Sabine Maria Schmidt den Raum zwischen diesen Dimensionen – den verkleinerten und den lebensgroßen – treffend als »Imaginationsraum des Betrachters und Tatort seiner Ängste, Phantasien und erinnerten Bilder« (Schmidt 2008: 50). Der Tagesablauf der Teilnehmer von Slave City verläuft nach einem genau festgelegten Stundenplan. Hierin ist die frei verfügbare Zeit der Teilnehmer

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auf drei Stunden reduziert. Diese soll vornehmlich der Entspannung und der Fortpflanzung dienen. Die Arbeitszeit beträgt vierzehn Stunden und ist in zwei Schichten unterteilt, die in den CallCentern oder in der Landwirtschaft und im Bereich der Dienstleistung absolviert werden. Die verbleibenden sieben Stunden sind für den Schlaf reserviert. Denkt man sich 32 dieser CallCenter-Einheiten auf einem Geschoss in einem insgesamt neunstöckigen Gebäude, ergibt sich eine Unterbringungsmöglichkeit für 20.736 Bewohner. Jeder Block ist von landwirtschaftlich nutzbaren Flächen umgeben, die zum Anbau von Nahrungsmitteln genutzt werden. Das Atelier van Lieshout rechnete so viele Einheiten, dass sich Raum für 248.832 Einwohner ergibt. Die Infrastruktur der Sklavenstadt entspricht dem Vorbild einer mitteleuropäischen Kleinstadt. So gibt es direkt neben den abgetrennten und überwachten Zonen der Call-Center einen öffentlichen Sektor, in dem sich ein großes Einkaufszentrum, ein Museum, Bordelle, ein Krankenhaus für Transfusionen und Transplantationen, ein Sportzentrum und ein Flughafen befinden. Die gesamte Stadt ist in der Lage, sich selbst mit Energie, Nahrung und Wasser zu versorgen. Die Hauptquelle der Energie bildet das Biogas, das vorrangig aus Exkrementen und anderen Abfällen der Teilnehmer gewonnen wird: gerechnet wird 0,4 kg pro Einwohner und Tag. Das Wasser stammt aus natürlichen Quellen und zirkuliert in geschlossenen Kreisläufen. Die Stadt benötigt eine Grundfläche von 49,37 km2. Eine solche Fläche könnte für 331.301.070 Euro erworben werden. Stellt man der Grundinvestition von 1.540.000.000 Euro die zu erwartenden Einnahmen gegenüber, so ist bald ein Gewinn von 7.500.000.000 Euro pro Jahr zu erwirtschaften. In Zeiten des wirtschaftlichen Kollapses und gähnend leerer Staatskassen muten diese Zahlen verheißungsvoll an und lassen einem angesichts des hier beschriebenen Gesellschaftsmodells gleichzeitig das Blut in den Adern gefrieren. Zur Bewachung, Pflege, Organisation und Tötung ist ein Überwachungsteam von 5.437 Personen eingeplant. Diese sind wiederum in verschiedenen Wohnsitzen untergebracht, deren Typus vom Rang der Person abhängt und deren Größe zwischen 70 und 350 m2 variiert. Die machthabende Elite versammelt sich regelmäßig an einer großen Speisetafel, die im Maßstab 1:1 im Museum Folkwang besichtigt werden konnte. Auf dem hierfür eigens gestalteten Keramikgeschirr befinden sich Zeichnungen, welche die Machttechniken dieses Stadtstaates auf sehr direkte und makabere Weise illustrieren (Abb. 3, s. Seite 119). Die Zeichnungen suggerieren absolute Transparenz der ansonsten eher verdeckten finsteren Seite biopolitischen Machtstrebens. Für jeden Teilnehmer sichtbar sind die grausamen und zutiefst menschenfeindlichen Handlungsweisen eines Systems, das die Kalkulierbarkeit von Leben zur obersten Maxime der Politik erhoben hat.

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Abbildung 3: Schlachtabteilung, 2006

© Diederik den Dikkenboer – Atelier van Lieshout

Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der grausamen und ganz offen ausgeführten Machtpraktiken stellt sich in diesem System einfach nicht mehr. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist aufgehoben. Die schonungslose Verwertung des Menschen in all ihren Facetten ist mechanisiert und technologisiert. Sie »ist nicht mehr das Ergebnis eines skrupellosen Täters oder Diktators, sondern das eines verselbstständigten, ja logischen Systems« (Schmidt 2008: 50). Die anonymen Machthaber schauen auf eine Weltkugel, die am Ende der Tafel von der Decke herabhängt. Der Globus verweist darauf, dass Biopolitik zwar von einzelnen Staaten praktiziert wird, aber global wirkt. Auch der Bereich der Ausbildung und Weiterbildung ist in der Stadt der Sklaven abgedeckt, und – dem Prinzip der Profitmaximierung folgend – streng nach Geschlechtern getrennt. So gibt es eine Frauen- und eine Männeruniversität. In beiden Lehranstalten sitzen die Studenten auf harten Holzpritschen, was zugleich den inneren Beckenboden stärkt und die Konzentration fördert. Auch hier steht die futuristische Architektur im strikten Gegensatz zu der kargen und vorindustriell anmutenden Ausstattung der Gebäude (Abb. 4, s. Seite 120). Mit der ständig anwachsenden Werkgruppe von Modellen, Entwürfen, Gemälden, Zeichnungen, Installationen und Objekten markiert die Stadt der Sklaven eine konsequente Weiterentwicklung des bisherigen künstlerischen Schaffens des Atelier van Lieshout. Die für die Arbeitsweise des niederländischen Künstlerkollektivs charakteristische Verflechtung verschiedener Werkkomplexe beschreibt die Kuratorin der Essener Ausstellung, Sabine Maria Schmidt, als eine übergreifende Saga, in der alle bisherigen Projekte und Ideen miteinander verwoben sind.

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Abbildung 4: Universität für Sklavinnen, 2006, 520 x 450 x 150 cm, Karton, Polyester, Holz, Stoff

© Diederik den Dikkenboer – Atelier van Lieshout

Die Modelle und Skulpturen werden aus so verschiedenen Materialien wie Holz, Polyurethan, Stahl, Gips und Keramik gefertigt. Entscheidend innerhalb der konzeptionellen Arbeit ist der Gedanke, dass alle Modelle im großen Maßstab realisierbar sind. Dieser Gedanke leitet über zu der provokativen Behauptung Joep van Lieshouts, wonach es möglich sei, die »Stadt der Sklaven« tatsächlich zu bauen. So geht der Künstler davon aus, dass es noch etwa zehn Jahre dauern wird, bis alle moralischen, politischen und ethischen Bedenken gegenüber einer solchen Stadt ausgeräumt werden können. In einem Interview antwortete van Lieshout auf die Frage, wer denn in dieser Stadt wohnen werde, dass es schon heute genug Menschen gäbe, die unter dermaßen katastrophalen Umständen lebten, dass Slave City eine wirkliche Alternative zu ihrem bisherigen Leben darstelle. An dieser Stelle drängen sich verschiedene Fragen auf: Woraus speist sich dieser Zynismus, diese beißende Ironie, dieser abgrundtief schwarze Humor, der dafür sorgt, dass einem das Lachen augenblicklich im Halse stecken bleibt? Was bezweckt das Atelier van Lieshout mit seinen symbolischen Tabubrüchen und Grenzverletzungen? Ist – wie Schmidt im Ausstellungskatalog zu Recht fragt – der unter dem Gewand der Wiederverwertung technologisch perfektionierte Kannibalismus, der die Grundlage des gesamten Systems bildet, »dann aber noch Kritik oder lediglich ein sarkastisches Statement auf unsere conditio humana?« (Schmidt 2008: 49). Was will van Lieshout mit seiner Ästhetik des Schreckens bewirken? Eine Antwort auf diese Fragen ist schwierig und leitet in direkter Weise zum Denken des italienischen Philosophen Giorgio Agamben über. So nimmt die

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»Stadt der Sklaven« einerseits Bezug auf historische Formen extremer und absoluter Versklavung, Ausbeutung und Vernichtung wie die europäischen Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg. Anderseits thematisiert die Modellstadt indirekt Herrschaftspraktiken moderner Rechtsstaaten, die sich in der Realität gegenwärtig existierender Lager manifestieren: so in den europäischen Flüchtlingslagern, in den Räumen für Flüchtlinge auf unseren Flughäfen oder in dem auf Kuba gelegenen Gefangenenlager Guantanamo Bay. Die verstörende Frage, wie diese rechtsfreien Räume mit den hehren Prinzipien der Demokratie – einer freien und gerechten Gesellschaft – vereinbar sind, berührt diese Letztgenannte in ihrem Innersten. So ist die Stadt der Sklaven eben keine finstere Vision einer fernen Zukunft. Sabine Maria Schmidt betont, dass die sich vor dem Betrachter in den Objekten und Modellen ausbreitende Gedankenwelt keine Dystopie darstellt, deren Entwicklung zwangsläufig und unvermeidbar wäre, »sondern ein tabulos durchdachtes Profitmaximierungsmodell, das realisierbar ist und vielerorts, zwar nicht als Ganzes, aber in einzelnen Facetten, bereits Wirklichkeit geworden ist: Zwangsarbeit, Lager, Prostitution oder neue Formen der Sklaverei gehören zu den horrenden Ausmaßen der weltweit praktizierten Menschenrechtsverletzungen, die aus ökonomischen Interessen geduldet werden.« (Schmidt 2008: 50)1

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die folgende Äußerung Joep van Lieshouts verstehen, der die Arbeit des Künstlers mit einem Schwamm vergleicht, der aktuelle Entwicklungen aufnimmt, um diese dann innerhalb eines künstlerischen Gesamtkonzeptes weiterzuverarbeiten: »Kunst ist Kommunikation, aber sie kommuniziert nicht in direkter Rede. Man kann den Künstler am besten mit einem Schwamm vergleichen, der alle Eindrücke und Informationen aus der Umgebung und der Welt, von Menschen und Gegenständen absorbiert und dadurch seine Inspirationen findet. Information verarbeitet er eher auf eine irrationale Art: An einem bestimmten Moment wird das Ganze wieder ausgeschieden und plötzlich entsteht eine neue Arbeit. Formen, Farben, Massen, Volumen, Referenzen, Atmosphäre, Mysterien, all das wird aufgefangen, ohne dass dieses ein kontrollierbarer oder rationaler, geschweige denn ein nachvollziehbarer Prozess wäre. Dadurch beinhaltet Kunst aber immer auch eine schnellere Kommunikationsmöglichkeit, zielt sie direkt auf die Eingeweide, das Herz, den Kopf oder das Nebenhirn.« (van Lieshout 2008: 72)

1 | Selbst keine Dystopie, finden sich in der Stadt der Sklaven dennoch vielfältige Anspielungen auf die Klassiker dieses Genres – so auf Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, Aldous Huxleys Brave New World und Gorge Orwells 1984.

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Van Lieshout beschreibt die künstlerische Arbeit des Ateliers als eine Form der Kommunikation, die direkt auf den Körper des Rezipienten zielt. Und in der Tat ist der Körper in dieser Kunst allgegenwärtig. Die Symbolsprache der Modelle vergegenwärtigt die besondere Bedeutung des Körpers. Innerhalb der künstlerischen Gesamtkonzeption der »Stadt der Sklaven« fungiert der Körper als Modell für das gesellschaftliche System. Die Stadt funktioniert nach seinem Vorbild. Sie gleicht einem gigantischen, sich selbst regulierenden menschenverschlingenden Verdauungssystem. Die symbolische Darstellung der Entstehung des Lebens und des Todes in den Skulpturen Ei, Phallus und Totenschädel versinnbildlicht eine politische Praxis, die – in Slave City perfektioniert – zunehmend das Handeln moderner Staaten kennzeichnet und global gesehen mit schweren Menschenrechtsverletzungen einhergeht. Gemeint ist die sensible und prekäre Grenzziehung zwischen wertvollem, schützenswertem Leben und dem bloßen oder nackten Leben. Die in der Ausstellung ebenfalls gezeigte Skulptur Der Ausgemergelte erscheint als Sinnbild des nackten Lebens. Dieser ausgezehrte Körper wird zum Inbegriff der Brutalität eines Staates, der die Materialität des Körpers – den Körper als Rohstoff – zur Hauptmaxime des staatlichen Handelns erhoben hat (Abb. 5). Abbildung 5: Der Ausmergelte, 2006, 200 x 57 x 127 cm, Schaumstoff, Fiberglas

© Achim Kukulies – Atelier van Lieshout

Es ist das Verdienst des Philosophen Giorgio Agamben, dass er in der Trennung von bíos und zoé die dunkle Seite von biopolitischem Handeln offengelegt hat. Agamben leitet diese Denkfigur, auf die sich die Macht des modernen Staates gründet, aus der Geschichte ab. Der Trennung folgt die Freisetzung des

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Lebens und das schließt seine Erhaltung und biopolitische Verwaltung ebenso wie die Möglichkeit seiner Vernichtung ein. So entstehen inmitten von Demokratien jene gefährlichen Zonen der Unentscheidbarkeit, die sich gegenwärtig in der erschreckenden Realität der Lager manifestieren. Bezug nehmend auf Agamben beschreibt Vittoria Borsò die historische Wende, die das biopolitische Handeln der sogenannten Rechtsstaaten bis zum heutigen Tag kennzeichnet, treffend wie folgt: »Die totale Unterwerfung des Lebens, die sich im römischen Recht und im Prinzip der Souveränität bis zur Moderne auf den Aspekt seiner Tötbarkeit [des Menschen, A.W.] konzentriert, verlegt im 18. Jahrhundert den Schwerpunkt auf die Wissenschaft vom Menschen, also auf die Kontrolle, Steuerung und Erhaltung des biologisch wertvollen Lebens, des medikalisierten, medizinisch reglementierten Lebens.« (Borsò 2010: 39)

Die künstlerische Arbeit des Kollektivs van Lieshout besteht darin, diese sich global bereits deutlich abzeichnende, alarmierende Entwicklung weiterzudenken. Dies geschieht mit der Präsentation eines Stadtstaates, eines aus rein ökonomischen Zwecken existierenden menschenfeindlichen Systems, in dem die Frage der Menschenwürde nicht mehr vorkommt. Die Modellstadt Slave City erscheint dabei als eine radikale Form der Umsetzung dessen, was Michel Foucault als Biopolitik beschrieben hat, und zwar im folgenden, von Reinhold Görling umschriebenen Sinne: »Das Leben wird, so [Foucaults, A.W.] Analyse in Sexualität und Wahrheit, all seiner kulturellen Bedeutung entblößt und zum Gegenstand eines es als Materie und Rohstoff konzipierenden Handelns.« (Görling 2003: 35) Bloßes Leben wird zum Objekt eingreifender, es verändernder, als Rohstoff behandelnder staatlicher Politik. Hier knüpft Agamben an und zeigt, dass die Machthaber seit der Antike nicht nur die Kontrolle der Individuen anstreben, sondern auch die Vereinnahmung ihres biologischen Lebens. Christian Marazzi stellt in diesem Zusammenhang die wichtige Frage, inwieweit die seit Ende der 1970er Jahre zu beobachtende Durchdringung des Lebens durch Finanzmechanismen auch das Wesen der Biomacht verändert hat, und konstatiert diesbezüglich eine Wende vom Dispositiv der politischen Verwaltung des Lebens, die Foucault unter dem Begriff Gouvernementalität zusammengefasst hat, zum Dispositiv der Produktion des Lebens durch die Verwaltung des Kapitals (vgl. Marazzi 2010). Im Finanzkapitalismus geht die Sphäre der Reproduktion des bíos direkt im Kapital auf. Leben wird zum reinen Wirtschaftsfaktor. Die hiermit verbundene Gefahr einer vollständigen Aufhebung der Grenzen von Leben und Kapital ist in der »Stadt der Sklaven« mit dem Vorgang der Kalkulierung und Wiederverwertung des Lebens der Teilnehmer bereits künstlerische Realität geworden. Die Menschen im Sklavenstaat stehen

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unter dem Verdikt der reinen Körperlichkeit als Folge der vollständigen Kapitalisierung der Gesellschaft. Die Vereinnahmung des biologischen Lebens der Teilnehmer erscheint in der »Stadt der Sklaven« als eine schlichte Tatsache, als Basisannahme des Systems. So entsteht das Modell einer Stadt, in der die Menschen auf ihr nacktes Leben reduziert werden, und zwar generell, nicht als Ausnahme. Slave City erscheint als das erschreckende zukunftsweisende Modell, in der die Rechts- und Eigenschaftslosigkeit, in die der homo sacer versetzt wird, auf die ganze Gesellschaft übertragen wird. In dieser Stadt ist der Mensch seines Status als Individuum beraubt. Sein bloßes Leben wird von anonymen Machthabern verwaltet, die mit »todsicherem« Kalkül über den Wert eines Menschenlebens entscheiden. Der Mensch ist in diesem System seines Menschseins beraubt oder – zynisch formuliert – davon befreit. Die Gleichschaltung und Entrechtung drückt sich bereits in dem nüchternen Terminus »Teilnehmer« aus. Mehr noch handelt es sich um eine Pervertierung des Rechts. Auf die heimliche Allianz von Gewalt und Recht als Kehrseite von Biopolitik hat Agamben in seinem zentralen Werk Homo sacer auf eindrucksvolle Weise hingewiesen (vgl. Agamben 2002). Diese enge Verknüpfung tritt in der Modellstadt Slave City offen zutage. Die Radikalität von Agambens Denkansatz besteht darin, dass die Existenz der Lager für ihn nicht etwa aus der Verkehrung des Rechtsstaats resultiert, sondern bereits im System angelegt ist. Der Ausnahmezustand wird nach dem Zeitalter der Kriege zwischen souveränen Staaten zu einem neuen Regulator. Er wird neben Staat, Territorium und Nation zum vierten Element der politischen Ordnung. Agamben erkennt im Lager das biopolitische Paradigma der Moderne. In Slave City ist der Einzelne Teil einer anonymen Masse, einer biopolitischen Maschine. Er ist Teil der Masse Mensch, die verwaltet und – hierin besteht die Radikalität dieses künstlerischen Projektes – verwertet bzw. wiederverwertet wird. Die mit großer Liebe zum Detail angefertigten Architekturmodelle dienen dazu, die Ordnung, die sich nicht zuletzt in der Architektur selbst manifestiert, für den Betrachter sichtbar werden zu lassen. So steckt der Teufel bei Lieshout ganz konkret im Detail. Die Verkleinerung des Maßstabs in den puppenstubenartigen Modellen geht zwar unweigerlich mit einer gewissen Verniedlichung einher, schmälert aber den Schrecken des hier gezeigten monströsen Gesellschaftsentwurfs nur scheinbar. Im Gegenteil, die Modelle rücken den Schrecken dieser den Menschen als Rohstoff oder Ware behandelnden Ordnung in die Vorstellungswelt des Betrachters. Die Architekturmodelle verraten einerseits eine Liebe zum Detail und zeigen uns andererseits den streng logischen inneren Aufbau der Gebäudekomplexe. In den gerüstähnlichen Modellen tritt die Ordnung selbst in ihrer Uniformität, Statik und unendlichen Erweiterbarkeit in Erscheinung. Die Wohneinheiten, deren Bewohner nur als numerische Tatsache vorkommen, sind beliebig er-

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weiterbar. Diese Architektur ist angelegt auf die Masse Mensch und steht unter dem Verdikt von Funktionalität und Ökonomie. Das von Atelier van Lieshout ersonnene Städtebaukonzept liest sich somit auch als ironischer Kommentar auf die zum Teil größenwahnsinnigen Konzepte jener namhaften Architekten und Städteplaner der Moderne, deren sozialutopische Ideen zwar unsere Vorstellung vom Leben und Wohnen in den Städten revolutioniert haben, dies aber nicht unbedingt nur – wie fälschlicherweise häufig angenommen wird – unter der Maßgabe eines besseren und sozialeren Zusammenlebens ihrer Bewohner: »Cities are now valued, without question, as being sites of social activity par excellence. Therefore an urban planner proposing to make antisocial cities is an idea so alien to contemporary habits of thought that we must dismiss someone like Le Corbusier as either negligent or mad. But however odd it seems, antisocial thinking about cities has been the dominant strain of urban discourse throughout most of its two and a half millennia history.« (Richards 2007: 53) 2

Insofern sensibilisiert Slave City auch für die schon in der Tradition angelegte antisoziale Dimension der großen Utopien des Städtebaus, die in der trostlosen Realität heutiger Trabantenstädte ihren eindrücklichen Beweis findet. Innerhalb der Ordnung, die uns in den Modellen der Sklavenstadt gegenübertritt, ist der Mensch ent-seelt, ent-individualisiert und ent-rechtet, auf seinen reinen Körper reduziert. Er wird zur lebenden Leiche. Falsch wäre es daher auch, in den Zeichnungen Karikaturen zu vermuten. Die leeren und stumpf anmutenden Gesichter zeigen vielmehr eine neue Spezies Mensch. Es sind Vertreter einer neuen rechtlosen Klasse, für die die Menschenrechte keinerlei Geltung mehr haben. Die Frage, wie eine solche Pervertierung des Rechts mit den Prinzipien westlicher Demokratien vereinbar ist, beantwortet Agamben messerscharf aus der Logik des Systems heraus, das den Ausnahmezustand zum Regulator der politischen Ordnung erhoben hat. Es wird deutlich, dass dem Bereich der Architektur innerhalb der Herrschaftspolitik des Sklavenstaates eine ganz zentrale Bedeutung zukommt. Städtebau funktioniert als Technologie der auf das Leben gerichteten Machtausübung und stellt damit eine weitere Variante von Biopolitik dar. So täuscht das modernistische Aussehen der Gebäude in Slave City nicht darüber hinweg, 2 | Le Corbusier beispielsweise plante in seinem Plan Voisin (1925), das gewachsene Zentrum von Paris durch die rektanguläre Anordnung von futuristisch anmutenden Hochhaustürmen in einer Parklandschaft zu ersetzen. Neidvoll blickte er nach Deutschland, deren Großstädten nach den verheerenden Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg die Chance eines solch radikalen Neuanfangs gegeben sei. Die »Stadt der Sklaven« kommt Le Corbusiers Entwurf einer rechtwinklig vorgenommenen Gruppierung von freistehenden Gebäuden, die von Grünzonen eingerahmt werden, dabei überraschend nahe.

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dass es sich bei diesen Entwürfen um eine Pervertierung von Wohnen handelt. Die Menschen werden schlicht untergebracht. Die CallCenter-Einheiten erinnern an Massentierhaltung. Es handelt sich nicht um Wohnstätten, sondern um Wohnställe. Die Grenzziehung zwischen Tier und Mensch ist ein zentrales Thema des Kunstprojektes. Die in der Massentierhaltung und industriellen Gewinnung von Tierfleisch angewandten Praktiken werden in der Sklavenstadt auf den Menschen übertragen. Abgehangene Menschenkörper rotieren an Fleischerhaken. Die Zeichnungen zeigen dies auf sehr direkte und makabere Weise (Abb. 6). Abbildung 6: Minimal Stahlmodell mit roten Lichtern, 2006, 107 x 107 x 205, Stahl, Beleuchtung

© Diederik den Dikkenboer – Atelier van Lieshout

Dabei ist es nicht etwa so, dass die Menschen wie Tiere behandelt würden. Die Aussetzung der Grenze ist radikaler zu denken. So wird die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier schlichtweg nicht mehr gemacht. Die »Stadt der Sklaven« überführt diese Grenze in eine »Unbestimmtheitszone« und ermöglicht damit jene Fragen, die in der bislang um das Haben und Können, den Besitz der Vernunft kreisenden Rede der Humanisten kein Gehör gefunden haben. In den Containern der Viehtransporte und hinter den Gittern der zoologischen Versuchsstationen hat der Humanismus ein neues Feld entdeckt. Jacques Derrida spricht diesbezüglich von einem in der Geschichte der Menschheit nie da gewesenen Ausmaß der Unterwerfung des Tieres (vgl. Derrida 1999). Auch Agamben widmet sich diesem Thema. In seiner Schrift Das Offene. Der Mensch und das Tier nimmt er eine Relektüre der in der Geschichte des Humanismus

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so komplexen Konfiguration der Beziehung zwischen Mensch und Tier vor (vgl. Agamben 2003). Und in der Tat führt der gegenwärtig praktizierte Umgang mit Tieren auch das humanistische Denken an eine Grenze, an der die alte Frage nach dem Unterschied zwischen Tier und Mensch insbesondere auch angesichts der unendlichen Gewalt, die dem Tier zugefügt wird, ins Leere zu laufen scheint: »Wer bist du, und wer bin ich? Von Aristoteles über Descartes bis Heidegger schien der Weg zum Menschen über die Abgrenzung vom Tier zu führen.« (Raulff 2006: 137) Dieser Abgrenzungswunsch oder auch -akt ist an sich schon hoch problematisch. In der Aufwertung des Menschen zugunsten der Abwertung und Unterwerfung der Kreatur manifestiert sich die dunkle Seite des Humanismus. Das Atelier van Lieshout zwingt uns, diese dunkle Seite anzusehen, indem das Kunstprojekt die in der Massenproduktion von Tierfleisch angewandten Produktionsvorgänge eins zu eins auf den Menschen überträgt. Zugleich wird hiermit an die in der Geschichte der Menschheit größte humanitäre Katastrophe erinnert: die massenhafte Ermordung von Menschen jüdischer Herkunft im Dritten Reich.3 Die Allgegenwart dieser Geschichte in der »Stadt der Sklaven« ist sowohl als Mahnung als auch als offene Frage gedacht. In dieser Frage zeigt sich wiederum die Nähe zum Denken Giorgio Agambens: Wie nämlich ist die gegenwärtige Existenz von Lagern mit dem Wertesystem demokratischer westlicher Staaten vereinbar?4 Das Atelier van Lieshout gibt hierauf keine Antwort. So viel jedenfalls ist angesichts der Häufung der im 19. und 20. Jahrhundert praktizierten Völkermorde und krassen Menschenrechtsverletzungen sicher. Der in der Geschichte des Abendlandes beschrittene Weg zum Menschen als Abgrenzung vom Tier muss auch von dieser Warte aus als gescheitert angesehen werden. Dieser basiert – auch das macht das Kunstprojekt deutlich – auf der Abwertung und Ausbeutung der Kreatur und richtet sich immer auch gegen den Menschen, abgesehen von wenigen Privilegierten. Das Kunstprojekt vermittelt dem Besucher diese aus nationaler Sicht erfolgreich verdrängte, in globaler Hinsicht aber nicht zu leugnende Einsicht in besonders eindrücklicher Weise und verknüpft diese zudem mit der Forderung, sich unserer aus »humanitärer« Sicht katastrophalen Gegenwart zu stellen.5 3 | Die von den Amerikanern entwickelten Schlachthöfe dienten den Nationalsozialisten als Vorbild für ihre Tötungsmaschinen. Diese erstmals von Isaac Bashevis Singer geäußerte These wird in dem Buch Eternal Treblinka. Our treatment of animals and the Holocaust von Charles Patterson wiederaufgenommen (vgl. Patterson 2002). 4 | Wie Ulrich Raulff betont, markiert der Nationalsozialismus für Agamben nicht etwa einen Endpunkt, sondern den Vorlauf für die biopolitischen Experimente des 21. Jahrhunderts (vgl. Raulff 2006: 139). 5 | Fabrizio Gatti, der sich zu Recherchezwecken selbst in die Situation eines Flüchtlings begab, vergleicht seine Flucht in dem Buch Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa

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Das Atelier van Lieshout entwirft in seinen Plänen, Modellen und Zeichnungen eine ›Architektur des Todes‹, ein riesenhaftes Lager, das eher der Tötung seiner Bewohner als deren Schutz dient. Im Unterschied zur Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten ist die Tötung des Menschen allerdings nicht mehr ideologisch begründet, sondern rein wirtschaftlich. Das Lager bildet das Herzstück der »Stadt der Sklaven« – einer Gesellschaft, in welcher der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist. Die künstlerische Arbeit des niederländischen Kollektivs Atelier van Lieshout bringt uns ebenso wie die radikale Gesellschaftskritik des Philosophen Giorgio Agamben dazu, nach den Praktiken zu fragen, die in modernen Demokratien Orte der souveränen Gewalt entstehen lassen. Beide beschreiben mit den ihnen zur Verfügung stehenden unterschiedlichen Mitteln eine westliche Welt, deren Ordnung auf Ausschluss bzw. Verwertung von nacktem Leben basiert. Sie beziehen sich dabei auf eine Reihe aktueller politischer Phänomene, wie Gefangenenlager, Folter, Flüchtlinge oder biometrische Überwachung des Menschen. So zeigt das auf einen Zeitraum von mehreren Jahren angelegte Projekt Slave City die pervertierte Version einer hochmodernen Leistungsgesellschaft. Dieser Zerrspiegel von sich in der Gegenwart bereits abzeichnenden gesellschaftlichen Entwicklungen fordert zu einem kritischen Nachdenken hinsichtlich der ethischen Dimension der Gestaltung der Zukunft heraus. Die entscheidende Provokation dieser Sichtbarmachung einer bereits existierenden Realität liegt in der Behauptung van Lieshouts, die »Stadt der Sklaven« tatsächlich bauen zu können. Mit dieser Äußerung lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Gefahren der Gegenwart, die sich aus den vorherrschenden Strukturen der Gesellschaft ergeben. Angesichts dieser alarmierenden Gegenwart scheint uns nur noch das alles erlösende »Halt« retten zu können, »das den erbarmungslosen Kreislauf unterbricht, dessen Gesetz suspendiert« (Liska 2007: 75). Das Atelier van Lieshout zeigt den erbarmungslosen Kreislauf in seiner letzten Konsequenz – der gezielten Tötung des Menschen, die nicht mehr als tragischer Nebeneffekt erscheint oder schlicht in Kauf genommen wird, sondern Teil des Systems ist, indem die Biomasse Mensch eine notwendige und unverzichtbare Ressource darstellt. So läuft die makabere Verdichtung gegenwärtig existierender gesellschaftlicher Missstände unweigerlich auf die Frage hinaus, wie es möglich ist, Widerstand zu leisten. Der erste Schritt – auch dies macht die bis ins Detail geplante »Stadt mit dem Überleben eines Flugzeugabsturzes. Ziel des Vergleichs ist es, das Leiden der Flüchtlinge in unseren Wahrnehmungshorizont zu rücken. Zugleich vergegenwärtigt der Vergleich unseren privilegierten und distanzierten Standpunkt, von dem aus wir auf das unermessliche Leid schauen. Dieses Leiden der vielen namenlosen Flüchtlinge lässt die im Asylrecht vorgesehenen politischen Praktiken als höchst unmenschlich erscheinen (vgl. Gatti 2010).

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der Sklaven« deutlich – liegt in der schonungslosen Analyse der vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen, die die Aussetzung von Menschenrechten bewusst in Kauf nehmen, diese sogar gesetzlich verankern,6 sowie der Analyse der auf globaler Ebene existierenden Ausbeutungsverhältnisse.7 Das künstlerische Projekt ist demnach als eine radikale Kulturkritik zu verstehen, als Form eines Appells, wobei sowohl das ambivalente biopolitische Handeln moderner Rechtsstaaten in den Fokus gerät als auch dem traurigen Umstand Rechnung getragen werden muss, dass die Menschenrechte auf unserem Planeten längst nicht für jeden Menschen gelten. Dabei erscheint Atelier van Lieshouts düstere Vision einer nahe bevorstehenden Zukunft, in der der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist, als einzigartige künstlerische Manifestation des Denkens Giorgio Agambens, der das Lager als das biopolitische Paradigma der Moderne erkannt hat.

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2003): Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Borsò, Vittoria (2010): »Benjamin-Agamben – Biopolitik und Gesten des Lebens«, in: Vittoria Borsò/Vivian Liska/Claus Morgenroth/Bernd Witte (Hg), Benjamin – Agamben. Politics, Messianism and Kabbalah, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 35-48. 6 | Das Recht auf Asyl für politisch verfolgte Menschen ist im deutschen Grundgesetz verankert. Unter der konservativ-liberalen Regierung Helmut Kohls wurde dieses Grundrecht im Jahr 1993 durch eine Grundgesetzänderung und Ergänzung des Artikels 16 de facto eingeschränkt. Ein Bundesgesetz spezifiziert seither die Bedingungen für die Einreise nach Deutschland. In der sogenannten Drittstaatenregelung wird festgehalten, dass Flüchtlinge aus einem sicheren Herkunftsland prinzipiell kein Recht auf politisches Asyl in Deutschland besitzen. Darüber hinaus wird Flüchtlingen, die über einen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen, ebenfalls kein Recht auf Asyl gewährt. Da ausnahmslos alle Nachbarländer Deutschlands als sichere Drittstaaten einzuordnen sind, führt diese Regelung faktisch dazu, dass lediglich Flüchtlinge, die mit dem Flugzeug nach Deutschland gelangen, antragsberechtigt sind. 7 | Die Stadt der Sklaven präsentiert sich als totaler Ausnahmezustand. Vielleicht ist die hierin formulierte Gesellschaftskritik daher noch radikaler zu denken – im Sinne von Agambens Messianismus als Umschlag, »der nicht auf ein spezifisches anderes Sein gerichtet ist, sondern das Bestehende aus einer inneren Spannung heraus auf sich selbst zurückfaltet« (Liska 2007: 76).

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Derrida, Jacques (1999): L’Animal que donc je suis, Paris: Galilée. Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gatti, Fabrizio (2010): Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, München: Kunstmann. Görling, Reinhold (2003): »Unbestimmtheitszonen. Für eine Kulturwissenschaft des 21. Jahrhunderts«, in: kultuRRevolution 45/46, S. 32-38. Liska, Vivian (2007): »Als ob nicht. Messianismus in Giorgio Agambens KafkaLektüren«, in: Janine Bröckelmann/Frank Meier (Hg.), Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster: Unrast, S. 58-89. Patterson, Charles (2002): Eternal Treblinka. Our Treatment of Animals and the Holocaust, New York: Lantern Books. Raulff, Ulrich (2006): »Mensch Tier. Derrida, Agamben, Coetzee und die unerwartete Rückkehr der Kreatur«, in: Texte zur Kunst 12 (50), S. 136-139. Richards, Simon (2007): »The Antisocial Urbanism of le Corbusier«, in: Common Knowledge (CommonK) 13 (1), S. 50-66. Schmidt, Sabine Maria (2008): »Es ist Menschenfleisch! Zum filmischen und literarischen Kontext der Stadt der Sklaven«, in: Atelier van Lieshout: Stadt der Sklaven, Köln: Museum Folkwang, S. 48-53. Van Lieshout (2008): »Die Stadt der Sklaven – ein Kommentar«, in: Atelier van Lieshout: Stadt der Sklaven, Köln: Museum Folkwang, S. 72-75.

Biopolitik und Stadtgestaltung in der DDR von Brigitte Reimann Tiziana Urbano »Die Stadt ist eine Schrift; jemand, der sich in der Stadt bewegt, das heißt der Benutzer der Stadt […] ist ein Art Leser, der je nach seinen Verpflichtungen und seinen Fortbewegungen Fragmente der Äußerung entnimmt, die sie insgeheim aktualisiert.« (Barthes 1988: 202)

Brigitte Reimanns unvollendeter Roman Franziska Linkerhand erscheint 1974 posthum beim Verlag Neues Leben. Hauptschauplatz des in der DDR der Nachkriegszeit situierten Romans ist das Industriegebiet von Neustadt, einer in der Lausitz gelegenen Siedlung. Hierher kommt die junge, talentierte Franziska Linkerhand, die auf eine Stelle als Architektin in der Stadt verzichtet hat und nun versuchen will, sich als Urbanistin eine berufliche Existenz in der Provinz aufzubauen. Franziska zieht nach Neustadt, wo für das Braunkohlekombinat eine Wohnsiedlung für die Werktätigen errichtet werden soll. Als architektonisches Vorbild für die neue Siedlung dient die Stadt Hoyerswerda mit dem ihr angeschlossenen Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe, die als zweite DDRProvinzstadt nach den Prinzipien des sozialistischen Städtebaus errichtet worden war.1 Hoyerswerda ist auch der Bezugspunkt für die Stadtbeschreibungen in Reimanns Roman. Der Name Neustadt ist nämlich eine Art Oberbegriff, der

1 | Wie Neustadt im Roman liegt auch die Stadt Hoyerswerda in der Lausitz, und zwar in der nördlichen Oberlausitz. Zwei Jahre nach dem Baubeginn der Stadt steigt der Bedarf an Wohnungen 1955 derart an, dass Wohnraum erstmals in Großblock- und Plattenbauweise geschaffen wird. Es entsteht also eine sozialistische Stadt mit insgesamt zehn Wohnkomplexen und mehreren zehntausend Wohnungen.

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die neuen, an einem Kombinat oft unmittelbar angeschlossenen Wohnkomplexe bezeichnet, die in der DDR die Wohnungsfrage lösen sollten.2 Meine Analyse stützt sich auf zwei städtebauliche Konzepte, die jeweils biopolitische Gestaltungselemente aufweisen. Zum einen widme ich mich den Wohnungsbaukombinaten (WBK), d.h. den an die Fabriken angeschlossenen Industriestädten. Da sie sowohl die Reproduktion der Bevölkerung als auch die Reproduktion des Arbeitsvermögens garantieren sollen, werden hier Familie und sozialistische Arbeitsgesellschaft funktional aufeinander bezogen. Zum anderen gehe ich auf den Bau von symbolisch-ideologischen Prunk- und Prachtbauten ein, die zur demonstrativen Funktion der Staatsmacht beitragen. Dabei fokussiert meine Analyse in besonderem Maße den umstrittenen Bau des Palastes der Republik in Ost-Berlin sowie seine Entstehungsgeschichte und seine symbolische und biopolitische Funktion. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es also, sowohl anhand der Wohnungsbaukombinate als auch anhand der Gestaltung des Zentrums der Hauptstadt Ost-Berlin die biopolitische Umsetzung von Baukonzepten zu untersuchen und kritisch zu beobachten.

F UNK TIONALISTISCHE D ENKRICHTUNGEN . N EUSTADT UND H OYERSWERDA Mit ihrem Buch Ankunft im Alltag von 1961 legt Brigitte Reimann den Grundstein für die so genannte Ankunftsliteratur, eine literarische Strömung, die den Instanzen des Subjekts wieder Aufmerksamkeit widmet. Nach der ersten Herfelder Konferenz 1959 waren nämlich die Autoren aufgefordert worden, in die Betriebe zu gehen, um das ›echte Leben‹ kennen zu lernen und über den real existierenden Sozialismus zu schreiben. Diese Autoren – wie auch ihre Figuren – engagierten sich mit persönlichem Einsatz für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Sie identifizierten sich weitgehend mit dem jungen Staat

2 | »Ich dachte an Neustadt«, sagt Franziska ihrem Chef, dem Architekt Reger, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilt, sich in die Provinz zu begeben. »Originell. Und welches unter den dreihundertfünfzig Nestern dieses Namens hast du gewählt?«, antwortet Reger etwas sarkastisch (Reimann 2004: 102). Anhand eines Vergleichs von Typo- und Manuskripten werden 1996 fehlende Passagen in den DDR-Veröffentlichungen entdeckt, die vor allem Tabuthemen berühren. Daraufhin erscheint 1998 eine neue revidierte Ausgabe, die dem Typoskript folgt. Zitiert wird im Folgenden aus deren 7. Auflage von 2004.

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und seinen antifaschistisch-sozialistischen Gründungsmythen, so auch mit der Annäherung von Arbeiterklasse und Intelligenz im Arbeitsprozess.3 Im Zuge dieses sozialistischen Annäherungsbestrebens von Intelligenz und Arbeiterschaft zieht Brigitte Reimann 1960 nach Hoyerswerda, wo sie bis 1968 wohnt. Dies erlaubt ihr, die Umsetzung des im Jahr 1950 erlassenen Aufbaugesetzes und der 16 Grundsätze des Städtebaus direkt mitzuerleben. Aufgrund der von der Regierung damit beschlossenen Rationalisierung und Industrialisierung des Wohnungsbaus gilt Hoyerswerda, nach Eisenhüttenstadt, als die zweite Stadt der DDR, die nicht stalinistisch, sondern typisch sozialistisch ist.4 In Hoyerswerda arbeitet Brigitte Reimann ab 1963 zehn Jahre lang an ihrem größten Roman Franziska Linkerhand.5 In dieser Zeit sucht sie wiederholt das Gespräch mit Architekten – wovon u.a. Tagebuchaufzeichnungen zeugen – liest Fachschriften und die wissenschaftlichen Studien von Alexander Mitscherlich

3 | Nach dem Motto »Kumpel, greift zur Feder!« sollen übrigens im Geiste der gegenseitigen Annäherung von Intellektuellen und Werktätigen auch die Arbeiter und Bauern der DDR einen Schritt auf die Literatur zugehen. 4 | Von 1929 bis 1935 bestimmt in der Sowjetunion der heftige Streit um den Bau einer besseren Stadt die Abkehr von modernen Stadtvisionen und die Neubewertung der alten Städte. In diesem Spannungsfeld entsteht ein Städtebau im Schatten Stalins, und es zeichnet sich ein neobarockes Paradigma ab, das eine herausragende Ära kennzeichnen soll. Während sich in der Sowjetunion dieses städtebauliche Vorbild durchsetzt, beschränkt sich dessen Einfluss in der DDR auf die frühen 1950er Jahre. Im Dezember 1954 findet in der Sowjetunion die Unionskonferenz der sowjetischen Bauschaffenden statt, die die Einführung industrieller Methoden und die Steigerung der Wohnungsproduktion beschließt. Die Industrialisierung des Bauwesens und die Typisierung im Wohnungsbau ziehen also eine Abkehr vom stalinistischen Zuckerbäckerstil mit seinen vielen Verzierungen nach sich. So wird ein schnellerer Wohnungsbau gewährleistet. Dieser städtebauliche Wandel wird nun als sozialistisch etikettiert. Hierzu Manfred Nutz: »In der DDR vollzog sich Mitte der 50er Jahre […] ein Wandel in der Architektur und im Städtebau. […]. Gerade […] zwangen politische Vorgaben, wirtschaftliche Zwänge und das nach wie vor große Wohnraumdefizit zu einer neuen Marschroute […]. Hier sollte die Industrialisierung des Bauwesens Abhilfe schaffen. Die Typisierung des Bauens führte tatsächlich zur Steigerung der Wohnbauproduktion.« (Nutz 1998: 184) 5 | Nach Rita Morrien wirkt Franziska gar wie »eine Planungs- und Leitungspersönlichkeit«, womit Reimann den im Rahmen des NÖSPL-Programms ausgegebenen Direktiven an die Schriftsteller zumindest äußerlich entspricht (Morrien 2009: 3). Neben der Modernisierung und Dezentralisierung des Wirtschaftssystems fordert das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) auch eine linientreue Literatur, die zur Steigerung der Arbeitsproduktivität beitragen soll.

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und Lewis Mumford6. Vor allem aber pflegt sie eine intensive Korrespondenz mit Hermann Henselmann, dem Chefarchitekten Ost-Berlins, dem Erbauer der Stalinallee und des Hochhauses an der Weberwiese. Der Schwerpunkt ihres Interesses liegt nicht bloß auf der literarischen Ebene. Was Brigitte Reimann vielmehr zu interessieren scheint, zeigt sich in ihren Bemerkungen über die Beziehung zwischen der Stadt und ihren Einwohnern. Sie stellt die Frage, ob und inwiefern sich die Bebauung bzw. die Erneuerung der Stadt, ihre Entwicklung und Gestaltung auf das Verhalten der Bewohner, deren Lebens- und Zugehörigkeitsgefühl bzw. deren Heimweh auswirkt. Reimanns Roman und ihr Briefwechsel mit Henselmann ermöglichen es, die sozialistische Stadtgestaltung und den Städtebau in der DDR von einer biopolitischen Perspektive aus zu beleuchten. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern die Architektur und der Städtebau in der DDR als politisches und ideologisches Vehikel gelten, d.h. als Mittel der biopolitischen Überwachung, der Prägung des Gesellschaftslebens und der Gestaltung der Freizeit. Was zeichnet also Hoyerswerda und ihre literarische Schwester Neustadt aus? Im Juli 1950 werden vom Ministerrat der DDR die 16 Grundsätze des Städtebaus verabschiedet, die eine Umgestaltung des Bauwesens nach einem funktionalistischen Prinzip vorsehen. Darüber hinaus dient die neue Direktive dem Staat als Medium der politischen Propaganda gegenüber dem Westen: Dank des Städtebaus soll eine neue Gesellschaftsordnung gestaltet werden, die im Kontrast zu den Lebensverhältnissen im Kapitalismus steht. Gemäß diesen Grundsätzen muss die sozialistische Architektur, »dem Inhalt nach demokratisch und der Form nach national sein« (zit.n. Peters 1997: 20). Mit dem im Jahr 1957 funktionalistisch errichteten Hoyerswerda wird erstmals ein gesamtes Wohnungsbauprogramm einer neuen Stadt mit industriellen Baumethoden und nach dem Modell der Plattenbauweise realisiert. Durch Serienproduktion werden gut ausgestattete Wohnungen in mehrgeschossigen Gebäuden mit geringen Kosten und für geringe Miete geschaffen: symmetrische Kompositionen, ein gleichförmiges Stadtbild, kein Bahnhof, keine Freizeiteinrichtungen. Die Siedlung wird zur Wohnstadt, die ausschließlich als Arbeitsstätte konzipiert ist. Nach dem sowjetischen Urbanisierungsverständnis und angesichts der Notwendigkeit, die Industrialisierung eines rückständigen Landes in die Wege zu leiten, ist die Stadt nur durch das Vorhandensein von Industrie gerechtfertigt: »Städte ›an sich‹ entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden in bedeutendem Umfang von der Industrie für die Indust6 | Es handelt sich dabei um Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unsere Städte. Anstiftung zum Unfrieden (1965), ein Klassiker der Stadtsoziologie, und um Lewis Mumfords Die Stadt. Geschichte und Ausblick (1963). Beide werden im Roman Franziska Linkerhand namentlich erwähnt.

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rie gebaut« (Peters 1997: 20), so Punkt 3 der städtebaulichen Grundsätze. Dies zwingt die Städtebauer, das Stadtwachstum der Zweckmäßigkeit und der Präsenz von Industrie unterzuordnen. Dieser Funktionalismus schlägt sich in der gestalterischen Monotonie solcher normierten Wohnkomplexe nieder.7 Wohnsiedlungen unmittelbar an Kombinate anzuschließen impliziert zudem eine grundlegende Bestimmung des sozialen Raumes: Städtebau fungiert somit als Instrument der Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens und wirkt sich dadurch verstärkt auf das Sozialleben der Bewohner aus. Der Mangel an Freizeiteinrichtungen enthüllt, dass Freizeit von den Städteplanern grundsätzlich als Zeit nach der Arbeit verstanden und somit ausschließlich aus dem Arbeitsverständnis abgeleitet wird. Dies beweist auch die geringe Entfernung zwischen den Wohn- und Arbeitsstätten: der städtebauliche Beitrag zu einer Zeitersparnis und einer optimierten ›Ökonomie der Zeit‹, die, im Unterschied zu den Städten des kapitalistischen Westens, keine Trennung mehr zwischen Arbeit und Freizeit erkennen lässt. In solchen Wohnsiedlungen verwirklicht sich eine Idee der Arbeit, die »zum Bestandteil einer sozialräumlichen Bezeichnung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit und zu einem grundlegenden Element des Lebens sowie der kompositorischen Gestaltung in der sozialistischen Stadt« avanciert (Raschke 2005: 71). Eine solche Wahrnehmung einer Kombinatsstadt findet sich auch im Reimanns Roman. In einer Neustädter Bar lernt Franziska den Kipperfahrer Ben Trojanowicz kennen, mit dem sie über die zeitgenössische sozialistische Architektur ins Gespräch kommt und in den sie sich später auch verliebt.8 Trojanowicz bezeichnet Neustadt als »eine Wohnstadt [...] mit höhnischer Betonung der ersten Silbe. [...] Ein entlarvendes Wort: der so bezeichneten Stadt wird nur eine Funktion zugebilligt; sie bietet Wohnung, Schlafstätte, eine Tür, die man hinter sich abschließen kann, das alte Spiel Familienleben zwischen Tisch und Bett, nicht mehr.« (Reimann 2004: 359)

Ganz ähnlich sind auch Franziskas Beschreibungen dieser ›ersten‹ Stadt, die ausschließlich aus vorgefertigten Elementen und mithilfe der modernsten Technik gebaut wurde: »Zwischen zwei Blöcken erblickte man eine kurze gerade Straße und die gleichen Wohnsilos wie am Anger, die gleichen Fassaden, Türen und Dachfirste unter den im diesigen 7 | Das Konzept des Wohnkomplexes, das zur Auflösung der Stadt führen soll, wird aus dem sowjetischen Planungsverfahren in die Städtebaugrundsätze der DDR eingeführt. 8 | Später im Buch stellt sich heraus, dass sich die Figur von Trojanowicz mit der von Ben überschneidet, an den der Roman in der Form eines langen Abschiedsbriefes gerichtet ist.

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T IZIANA U RBANO Himmel segelnden Antennen. Kein erleuchtetes Fenster schmückte die stummen Häuserfronten. [...] Schlafkammern aus Beton.« (Reimann 2004: 156)

Sowohl Hoyerswerda als auch seine literarische Schwester Neustadt haben weder ein richtiges Stadtzentrum noch Straßen, die zum Flanieren einladen. Eine Stadt, die ihren Bewohnern keinen Raum für Kommunikation, Begegnung und gesellschaftliches Leben bietet, versagt also ihre primäre Funktion als Ort des Soziallebens. Insofern vermag sie es nicht, die Gesellschaft nach den Prinzipien der Kollektivierung der arbeitsfreien Zeit neu zu gestalten. In seinem Beitrag über die Rolle des Architekten im Sozialismus schreibt Hermann Henselmann dem Raum eine wesentliche Rolle in der Gestaltung der städtischen Ökologie zu: »Die Verantwortung des Architekten beginnt mit der Einsicht, dass zwischen den gesellschaftlichen Bewegungen und seinem städtebaulich-architektonischen Schaffen eine direkte Beziehung besteht« (Henselmann 1982: 245). Dies sei in der sozialistischen Gesellschaft besonders auffallend: »Mit der Oktoberrevolution [...] [ergriff] der leidenschaftliche Wille zur Veränderung der bestehenden Welt [...] also auch die Architekten« (Henselmann 1982: 246). Der sozialistischen Architektur wohnt in der Tat, so auch Henselmann, eine biopolitische Dimension inne: »Wenn von der materiell-technischen Basis der Architektur eine hohe Reaktionsfähigkeit auf die wachsenden Bedürfnisse der Werktätigen erwartet werden muss, so gilt das mindestens in gleichem Maße für jene Reaktionsfähigkeit, die der Architekt aufzubringen hat im Blick auf die Veränderungen des einzelnen Menschen und der Gesellschaft im Ganzen [...]. Das gilt besonders für die Gestaltung der Städte und Ansiedlungen, also für den Städtebau.« (Henselmann 1982: 246f.)

Deshalb schließt die Tätigkeit des sozialistischen Architekten »eine tiefgreifende Veränderung der Bewusstseinsstruktur« mit ein, d.h. »die Veränderung des einzelnen Menschen und der Gesellschaft im Ganzen« (Henselmann 1982: 246f.). Im Briefwechsel mit Brigitte Reimann erkennt er jedoch auch die Grenze zwischen den sozialistischen Idealen zur Qualität der Lebensform und deren städtebaulicher Umsetzung: »Der Widerspruch, der uns – Ihnen ebenso wie mir – so viele Kopfschmerzen und Bedrückungen bereitet, besteht in dem Widerspruch zwischen dem Mangel an Perfektion dessen, was z.B. in Hoyerswerda zu sehen ist, und der Perfektion unserer Ziele.« (Reimann/Henselmann 1994: 9)

Sowohl aus architektonischer als auch aus gesellschaftlicher Perspektive sind also Kombinatsstädte wie Hoyerswerda oder Neustadt ein Debakel – so Trojanowicz im Roman –, »weil die Stadt ihre Funktion verfehlt, indem sie Kommu-

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nikationen nicht fördert, sondern verhindert, Lebensbereiche und Tätigkeiten ihrer Bewohner nicht vermischt, sondern trennt« (Reimann 2004: 359). Im Laufe des Romans kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Franziska und ihrem Chef. Der trockene Bauingenieur Schafheutlin wirft ihr Idealismus vor. Sie dagegen klagt darüber, dass seine Einstellung zum Städtebau die Gefühle der Einwohner gar nicht berücksichtige und fragt sich, wie man sich in Neustadt wohl fühlen kann, wo es weder ein Kino noch eine Tanzveranstaltung gibt. Sie selbst, stellt sie fest, habe überhaupt keinen Kontakt zu den Nachbarn. Zudem beobachtet Franziska die Auswirkung der Architektur auf die Bewohner: Schlägereien am Lohntag; so viele Betrunkene, dass sich niemand mehr nach ihnen umdreht und sich die Kinder nicht mehr erschrecken; zwei Suizide oder Suizidversuche pro Woche, meistens mit Gas, und meistens von Leuten, die nicht älter als dreißig sind; Kinderbanden, die in den Kaufhallen klauen. »Unsere Strassen sind nicht sicher«, sagt sie provozierend zu ihrem Chef Schafheutlin, »eine affektfreie Stadt…Gesund? Nein. Die Haut steril wie ein chirurgisches Instrument, aber unter der Haut ein kranker Organismus.« (Reimann 2004: 521f.) Franziska klagt über die Mischung aus Gleichgültigkeit und Aggressionslust in einer Stadt, in der ein Mann von drei Jungen verprügelt und eine Frau vergewaltigt werden, ohne dass irgendjemand einschreitet. In einem Gespräch mit Trojanowicz sagt sie gar: »Ich fühle mich krank. [...] Diese Stadt macht mich krank.« (Reimann 2004: 536)

W IDERSPRÜCHE IM SOZIALISTISCHEN S TÄDTEBAU In der Kontroverse um den sozialistischen Städtebau setzt sich Brigitte Reimann mehrmals kritisch mit der Idee eines Wohnungsbaus auseinander, bei dem Wohnungen nach dem Motto »so viele, so schnell, so billig wie möglich« (Reimann 2004: 143f.)9 gebaut werden. Auch über den Roman hinaus betont die Autorin in verschiedenen Diskussionsbeiträgen, Zeitungsartikeln und besonders in ihren Bemerkungen zu einer neuen Stadt die individuellen und sozialen Folgen eines Lebens in einer »Stadt aus dem Baukasten« (Reimann 1994b: 20f.).10 In ihren Notizen über Hoyerswerda schreibt sie:

9 | So schroff wird nämlich Franziska die Aufgabe der Architekten von Professor Schafheutlin, dem Neustädter Chefarchitekten, erklärt. »Wir haben keine Zeit für Spielereien« (Reimann 2004: 143f.), fügt er abweisend hinzu. Das industrielle Bauen nimmt seinen Ausgang mit der 1. Baukonferenz der DDR im April 1955, die unter dem am Moskauer Vorbild inspirierten Motto »Besser, schneller und billiger bauen!« steht. 10 | Ursprünglich erschienen in Lausitzer Rundschau vom 17.08.1963.

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T IZIANA U RBANO »Jede Stadt, die natürlich gewachsen ist, hat ihren eigenen Duft, ihre eigene Farbe, und ihre Architektur besitzt einen unverwechselbaren Zauber. […] Wir leben in einer Stadt aus dem Baukasten: eine schnurgerade Magistrale, eine schnurgerade Nebenstraße, standardisierte Lokale […], standardisierte Kaufhallen […].« (Reimann 1994b: 20f.)

Aus dieser Perspektive stellt ihre Frage »Kann man in Hoyerswerda küssen?« eine Aufforderung dar, über die Atmosphäre und die Intimität der Stadt nachzudenken. Die nach dem Prinzip der Ökonomie und Funktionalität errichtete Plattenbausiedlung vermag die für Reimann primäre Aufgabe der Stadt bzw. des Städtebauers nicht zu erfüllen: Sie bietet weder eine Privat- noch eine Gemeinschaftssphäre, keinen Raum für Begegnungen und soziale Interaktion. Eine so entstandene Stadt würde dann also, so überlegt Franziska im Roman, zu einer »amputierte[n] Stadt« (Reimann 2004: 359), die durch eine wachsende »Unwirtlichkeit«11 gekennzeichnet ist. Auf der Tagung des Nationalrats, zu der sie im Februar 1963 eingeladen wird, äußert sich Brigitte Reimann kritisch über die funktionalistische Stadttheorie im WBK Hoyerswerda: »Es ist eine Stadt, wie mit den Baukästen gebaut« – reflektiert sie: »Da ist Haus an Haus gesetzt. Die Häuser sehen sich alle sehr ähnlich. Die Straßen sind gradlinig. Ich frage mich manchmal: wo gehen die Liebespaare hin? [...] Manchmal hab ich das Gefühl, ich werde verrückt in der Stadt« (vgl. Reimann zit.n. Birken 2007: 306). Und im selben Jahr schreibt sie in der Lausitzer Rundschau: »Das Leben besteht nicht nur aus acht Stunden Arbeitszeit. Es gibt kein Theater, kein Kino [...], es gibt kein Tanzlokal für die jungen Leute. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass eine Stadt modern wird durch die Freude am privaten Wohnkomfort.« (Reimann/Henselmann 1994a: 21)

Ähnlich führt Franziska im Roman ihre Gedanken aus, als sie über die städtebauliche Arbeit in Neustadt und die Funktion der Architektur nachdenkt: »Wir haben sie eingemauert, in Komfortzellen gesperrt, Nachbarschaft zerschlagen statt gefördert. […] Ach, unsere Träume von einer schönen Gemeinschaft: Studententräume, die an die Wirklichkeit zerschellen. […] wir lernten, dass ein Architekt nicht nur Häuser entwirft, sondern Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung. Wir haben versagt.« (Reimann 2004: 540)

Bruno Flierl, Architekt und DDR-Bauhistoriker, reflektiert 1991 über die innerstädtische Organisation und Verflechtung des sozialen und kulturellen Lebens 11 | Zur Rezeption von Alexander Mitscherlichs Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden vgl. Morrien (2010:1ff).

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in der DDR. Seine Auffassung, dass die Stadt »die sozial-räumliche Organisation des Zusammenlebens der Menschen unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus« (Flier 1991: 57) sei, verrät deren biopolitische Dimension. Insofern scheint also das Versagen der Architektur mit dem Scheitern der sozialistischen Utopie, d.h. mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, zu koinzidieren. Auch Hermann Henselmann, welcher der Architektur eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Lebens12 zuerkennt und zu den Initiatoren der städtebaulichen Forschung in der DDR gehört, setzt sich in seinen Schriften kritisch mit der sozialistischen Architektur auseinander. Er beklagt das Fehlen einer vorausschauenden Städtebauwissenschaft und sieht in der Soziologie ein wichtiges Instrument, um die Bedürfnisse der Bevölkerung wissenschaftlich zu erforschen. So führt die von ihm geleitete Forschungsgruppe eine Bevölkerungsumfrage durch, bei der Grundbedürfnisse der Bewohner und ihre Einschätzung der Stadt- und Wohnräume im Mittelpunkt stehen.13 Henselmann erhebt den Anspruch, »im gestalteten Raum der Architektur das Leben der Menschen zu gestalten, zu behausen und zu beheimaten, und im Bild der Architektur das Bild des Menschen anzuschauen und zu formen« (Henselmann 1978: 50). Seiner Ansicht nach sind Städte nämlich »ein getreues Bild der Lebensweise ihrer Bewohner und daher auch Zeugnis für die realen Machtverhältnisse in dem Staat, dem die Bürger angehören« (Henselmann 1978: 132). Denn Architektur kann »die tragende[n] Ideen einer Gesellschaft darstellen, ihre ›Zeichen‹ können zum Medium der geistig-kulturellen Kommunikation ihrer Bürger werden« (Henselmann 1978: 132). Das Ergebnis der Stadtentwicklung und der Stadtgestaltung in der DDR scheint ebenso widersprüchlich wie die gesellschaftlichen Voraussetzungen und die Geschichte des realen Sozialismus überhaupt. Mit der im Aufbaugesetz 12 | In seinem Beitrag Wie wir wohnen wollen stellt er nämlich die Befriedigung von zugleich materiellen und geistigen Bedürfnissen in der sozialistischen Gesellschaft als eine Grundfrage der Architektur und des Städtebaus vor (vgl. Henselmann 1982: 4351). Zu seinem Lebenswerk vgl. u.a. (Heise 1982: 7-25 und Flierl 1982: 26-52). 13 | In den 1950er Jahren führte das Institut für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie gemeinsam mit dem Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED eine soziologische Enquete durch, die u.a. von einem Drang nach ›Beheimatung‹ berichtet, der »den Widerspruch gegen die Monotonie seelenloser Typen erzeugt« (Henselmann 1982: 82). Hermann Henselmann selbst sieht die Schwierigkeit des sozialistischen Städtebaus darin, dass es zwischen den Architekten und den Bewohnern keinen Plan und keinen Dialog über die Ausformung des zukünftigen Lebens gebe. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wird also die DDR-Architektur zum Forum, in dem städtebauliche Fragen mit gesellschaftlichen Themen verschmelzen (vgl. Henselmann 1957: 592).

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angestrebten Zielsetzung, nach den Prinzipien der Ökonomie und der Funktionalität dem Mangel an Wohnraum zu begegnen, werden nämlich weder die menschlichen Ansprüche auf Mobilität, Kultur, Erholung und Lebensqualität befriedigt noch das Bedürfnis nach Freizeit generell berücksichtigt. In seiner Notiz zu einer Diskussion mit den zuständigen Organen der DDR über die Gestaltung von Hoyerswerda äußert sich Henselmann kritisch über die Fehler der Planung dieser Kombinatsstadt. Er macht darauf aufmerksam, dass durch eine schematische Aneinanderreihung die Wohnkomplexe voneinander isoliert und von den anderen gesellschaftlichen Räumen praktisch abgetrennt werden: »Solche gesellschaftlichen Einrichtungen dagegen wie Schulen, Spielwiese und Kindergärten liegen am Rande des gesamten städtebaulich-räumlichen Organismus [...] und nehmen keine Beziehung zum gesamten Leben der Bewohner auf«. Wiederum zerschneidet der Autoverkehr »das gesamte Siedlungsgebiet in einzelne Teile« (Henselmann 1982: 53).14 Wenn die Architektur einer Stadt ein Instrument der Gestaltung des Lebensumfeldes ihrer Bewohner ist, so ordnet also eine lediglich für die Belegschaft des Kombinats gestaltete Siedlung die gesellschaftlichen Beziehungen einer funktionalistischen Stadttheorie unter. Dies hat durchaus negative Auswirkungen auf das Lebensgefühl der Menschen, da, so Henselmann »die Anonymität der architektonischen Leistung […] die Identifizierung der Bewohner mit ihrem Wohngebiet behindern [kann]« (Henselmann 1982: 88). Brigitte Reimann beschreibt in einem Brief an Henselmann ihr Lebensgefühl in Hoyerswerda folgendermaßen: »Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe– mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, […], mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, [...], mit Typenhäusern, Typenläden, in denen man eben nur seinen Bedarf an Brot und Kohl deckt, mit Typenlokalen, die nach Durchgangsverkehr und Igelit riechen.« (Reimann/Henselmann 1994: 7)

In Franziska Linkerhand nimmt Neustadt die gleichen Konturen an. Während sie Routinearbeiten erledigt, fragt sich die Protagonistin, welche Art von Gesellschaft damit gestaltet wird, und ob es überhaupt noch möglich wäre, »in [so] einem Bau einen Gedanken, wenigstens einen Vorschlag für das Zusammenleben von Menschen zu gestalten« (Reimann 2004: 336). Und als sie mit dem Chefarchitekten Schafheutlin über den Fruchtbarkeitsgrad in Neustadt spricht, äußert sie kritisch:

14 | Die Notiz bleibt lange unveröffentlicht und erscheint erst 1982 im Sammelband zu Henselmann.

B IOPOLITIK UND S TADTGESTALTUNG »– Neustadt hat im Republiksmaßstab den höchsten Geburtenzuwachs, das ist statistisch belegt. – Wie erklären Sie sich das? – Sehr einfach. Drei Faktoren; die altersmäßige Zusammensetzung der Bevölkerung; soziale Sicherheit, keine Wohnungsnot. – Sie haben den vierten Faktor vergessen. – Ja?, sagte er argwöhnisch. – Langeweile. Um sieben ist die Stadt tot, toter als Pompeji und Herkulanum, sagte Franziska [….]. Was soll man tun? Fernsehen oder Kinder machen […] Herr Schafheutlin, hier gibt’s kein Kino.« (Reimann 2004: 228f.)

I DEOLOGISCHE UND BIOPOLITISCHE P R ÄGUNG Der Funktionalismus in sozialistischen Bauformen spiegelt sich also in gesellschaftlicher Praxis wider. Schon in den 1960er Jahren beschreibt Henri Lefebvre Architektur als Produktion des Raumes, wobei das Konzept des Raums sowohl die Wahrnehmung gebauter Formen als auch gedankliche Vorstellungen und gesellschaftliche Praxis beinhaltet. Für Lefebvre ist Raum sowohl selbst Produkt als auch Medium: Er wird gesellschaftlich produziert, gleichzeitig ist er aber das Instrument, das gesellschaftliche Verhältnisse konzipiert, strukturiert und reproduziert. Lefebvre macht deutlich, dass jede politisch-gesellschaftliche Macht ihren spezifischen Raum erschafft. Der Architekt sei also ein »producteur d’espace«, denn »l’architecte et l’architecture ont une relation immédiate avec l’habiter comme acte social, avec la construction comme pratique (sociale)« (Lefebvre 1974: 157), »[car] on voit dans l’espace le déploiement d’une activité sociale« (Lefebvre 1974: 181). Das Verständnis von Architektur und Städtebau als soziale Praxis impliziert also, in der Raumgestaltung ein Dispositiv15 zu sehen. Erkennt man in ihr die Semantik einer Biomacht, so schreibt man der Architektur ebenso die Fähigkeit zu, Bedürfnisse und Funktionen in bestimmten Raumsystemen zu steuern, die sich als neutral und gleichgültig erweisen, in der Tat aber biopolitische Auswir15 | Foucault beschreibt ein Dispositiv als »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft ist« (Foucault 1978: 119ff.). Agamben erweitert das Konzept zu »alle[m], was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Rede der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern« (Agamben 2008: 26).

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kungen haben. Die Verbindung von Raum und Macht verweist also, wie schon Lefebvre hervorhebt, auf dessen politische und ideologische Dimension. Wenn Systemveränderungen auch durch Gestaltveränderungen ermöglicht werden, hat dann die architektonische Eintönigkeit auch soziale Folgen? Die im Sozialismus angestrebte Auflösung der traditionellen Stadtform und die Errichtung von Wohnsiedlungen und Wohnkomplexen erweisen sich in diesem Sinne als Form der sozialistischen Gesellschaftsstruktur und der Kollektivierung des Privatlebens. Außerdem wird der Stadt durch die zunehmende Errichtung von Typenbauten eben jene räumlich-funktionelle Gliederung gegeben, die Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung ist. Doch tatsächlich scheitert eine solch funktionalistische Architektur an ihrem ersten Anspruch, auf diese Art und Weise bestimmte gesellschaftliche, sozialistisch geprägte Beziehungen zu schaffen. Betrachten wir die Stadtgestaltung als ein Dispositiv, nämlich als ein Instrument zur Dressur und Normalisierung der sozialen Praxis, so gelangen wir zu bestimmten Gesellschaftsvorbildern, die die Urbanistik zum ideologischen Apparat und Träger eines spezifischen Wissens machen. Dies zwingt den Architekten in die Rolle eines Bauingenieurs: »Was Sie hier sehen […] ist die Bankrotterklärung der Architektur. Häuser werden nicht mehr gebaut, sondern produziert wie eine beliebige Ware, und an die Stelle des Architekten ist der Ingenieur getreten«, sagt der Chefarchitekt Schafheutlin zu Franziska. »Wir sind Funktionäre der Bauindustrie geworden, für die Gestaltungswille und Baugesinnung Fremdwörter sind, von Ästhetik ganz zu schweigen«. (Reimann 2004: 154) Noch 1955 wird nämlich vom Ministerrat der mit der Vorstellung von Baukunst verbundene Begriff »Architektur« durch »Bauwesen« ersetzt. Dies rückt den gestalterischen Charakter und die individuellen Entwürfe des Architekten in den Hintergrund und stellt die Grundbedingungen industriellen Bauens voran.16

16 | Dies fällt besonders auf, wenn man bedenkt, dass der Beruf in sozialistischer Denkweise als bürgerlich eingeschätzt wird. Wo das Berufliche bekämpft werden soll, ist der Bauarbeiter angesehener als der freiberufliche Architekt. Hermann Henselmann setzt sich kritisch damit auseinander: »Es genügt meiner Auffassung nach […] nicht, den Begriff Sozialistische Architektur auf die einfache Formel ›Sozialistische Produktionsverhältnisse plus Industrielles Bauen‹ zu bringen. […] denn niemand wird leugnen, dass Langweile, Monotonie und Provinzialismus nicht bei vielen Bauten, die wir bauen, zu Hause sind, und wir weigern uns, diese Architektur […] als sozialistisch zu akzeptieren. Was wir brauchen, ist Phantasie für das Ganze und für das Detail; was wir brauchen, ist ganz einfach Können, Begabung und Aufmerksamkeit für die vielen ideenreichen Köpfe, die wir unter unseren Architekten haben.« (Henselmann 1982: 203)

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D ER PAL AST DER R EPUBLIK ALS M ACHTSYMBOL UND D ISPOSITIV Wie sieht es auf der anderen Seite der sozialistischen Wirklichkeit, im Zentrum der Hauptstadt der DDR aus? In einem Brief an Henselmann aus dem Jahr 1969 denkt Brigitte Reimann in Bezug auf die Wohnsiedlung für das Kraftwerk Boxberg über den Gegensatz zwischen den repräsentativen Gebäuden und dem Hinterland nach: »Mir scheint, die Kluft zwischen oben und unten, will heißen: zwischen den architektonischen Spitzenleistungen, den schönen und durchdachten Bauten, und dem Üblichen, dem Massenartikel Wohnhaus, wird immer breiter.« (Reimann/Henselmann 1994: 86)

Im Städtebau der DDR zeigt sich solche Kluft zwischen den Massenbauten für die Bevölkerung und den symbolische Dominanz ausstrahlenden Sonderbauten, zwischen Bescheidenheit und demonstrativer Grandeur eindeutig. Ein Paradebeispiel für Letzteres ist zweifelsohne das Zentrum von Ost-Berlin, das die institutionelle Macht städtebaulich demonstriert. So soll beispielsweise die Stalinallee im Bewusstsein der Menschen die hierarchische Orientierung der Gesellschaft versinnbildlichen. Die monumentalen Hochhäuser nach Moskauer Vorbild setzen die Spezifik der sozialistischen Gesellschaft mit den Mitteln der Architektur in ein besonderes Licht. Die im November 1951 verabschiedete Planung Ost Berlins, die zudem eine Monumentalisierung für das Zentrum empfiehlt, mündet im Oktober 1958 in den von der DDR-Regierung ausgeschriebenen »Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR, Berlin«. Im Jahre 1961 wird erstmals eine Neugestaltung der Museumsinsel vorgesehen, denn nach dem Abriss des Stadtschlosses im Jahr 1950 klaffte eine brachliegende Fläche im Herzen Berlins. Doch erst 1972 werden Pläne für ein Mehrzweckgebäude konkreter, das Volk und Macht unter einem Dach vereinen soll. Heinz Graffunder leitet als führender Architekt ein Projektierungskollektiv von rund 200 Ingenieuren und Architekten (darunter auch Bruno Flierl), die das Gebäude nach dem bewährten Prinzip »Form Follows Function« planen soll. Indem Graffunder den Palast parallel zur Spree ausrichtet, setzt er ihn direkt in Beziehung zur Straße Unter den Linden. Mit dem Innenausbau wird der Aufbauleiter Erhardt Gisske beauftragt. Erst vier Jahre später wird der Palast vollendet, doch bereits während des Baus avanciert er – vor allem in der westdeutschen Presse – zum Gegenstand der Kritik. So sieht Der Spiegel in ihm eines der monströsesten Vorhaben der DDR und berichtet 1974: »Der DDR-Volksmund brachte die beargwöhnte Verschwendung schon früh in einem Witz unter: Die Sachsen, hieß es, dürften an dem Stadtschloss nicht mehr mitbauen, weil

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T IZIANA U RBANO ihr eigentümliches Idiom sie zu keiner korrekten Aussprache des Namens befähige; sie sprächen dauernd vom ›Ballast der Republik‹.« (zit.n. Holfelder 2008: 35)

Kurz vor der Eröffnung berichtet der Münchner Merkur, dass für den Palast an nichts gespart worden ist: Um die Technik auf den modernsten Stand zu bringen, hatte die DDR nämlich sehr viel aus den westlichen Ländern importiert, so dass der Bau trotz der großen Devisenknappheit circa eine Milliarde Mark gekostet hatte (vgl. Holfelder 2008). Denn nach den politischen Vorgaben des Politbüros soll mit dem Palast der Republik »ein Gebäude entstehen, das das strahlende, architektonische Symbol jener erhofften DDR werden soll, ein Haus für Heimatgefühl und für die Identifikation mit dem eigenen Staat« (Holfelder 2008: 28). Der Palast ist in erster Linie ein politischer Veranstaltungsort: Hier tagt die Volkskammer der DDR, hier organisieren SED, FDJ und die Gewerkschaften wichtige Treffen. Doch er beherbergt in seinen Veranstaltungsräumen auch kulturelle Ereignisse, wie das Festival des politischen Liedes, diverse Konzerte, Ausstellungen und Inszenierungen. Darüber hinaus verfügt der Palast über Bars, Restaurants, Cafés, einen Jugendtreff und ein Bowlingcenter. Im Palast der Republik verwirklicht sich also die Idee eines Mehrzweckgebäudes, das gleichzeitig Raum für Politik und Unterhaltung bietet. Hier werden nämlich Räume für Bildung, Kultur und Erholung an zentrale Einrichtungen der politischen Kommunikation angeschlossen und im Mittelpunkt des Stadtzentrums angeordnet.17 Auf der einen Seite soll der Palast als Herrschaftssymbol eine Machtdemonstration des sozialistischen Staats sein, auf der anderen Seite bietet er auch Räumlichkeiten zum Freizeitvergnügen. Ziel ist es, »ein Gebäude zu schaffen, das die Staatsmacht repräsentieren und darüber hinaus die Nähe der Führung zum Volk dokumentieren soll« (Holfelder 2008: 32). Dementsprechend wird der Palast programmatisch als »Haus des Volks« bezeichnet. Dass Unterhaltungsmöglichkeiten in einem solch repräsentativen und zudem stadtarchitektonisch zentralen Gebäude angeboten werden, ist natürlich kein Detail, sondern spiegelt eine klare biopolitische Absicht wider. Damit werden das Gesellschaftsleben und die Kollektivierung der Freizeit in bestimmte Richtungen gelenkt und unmittelbar an politische Aktivitäten und ideologische Identifikationsgefühle gebunden. Außerdem soll der Palast gegenüber dem Westen das Leben im Osten verkörpern. Allerdings wird hier auch eine starke Kontrolle ausgeübt:

17 | Nach Meinung von Bruno Flierl weist das Stadtzentrum der sozialistischen Städte eine Tendenz zu einer »integrativen Zentralität« auf, da es sowohl ein Ort autoritärer bzw. repräsentativer Zentralität als auch ein Ort einer auf gesellschaftliche Gemeinsamkeit orientierten räumlichen Gestaltung ist (vgl. Flierl 1991: 59-60).

B IOPOLITIK UND S TADTGESTALTUNG »Der Palast wurde verkabelt und verwanzt. Es gab Mikrofone und Kameras, Telefone konnten angezapft und große Bereiche des Hauses überwachtet werden. […] Im Palast selbst gab es zwei operative Abhörbereiche.« (Holfelder 2008: 43)

Den rund 1800 Mitarbeitern wurde die Zugehörigkeit zur SED stark ›empfohlen‹. Kontakte und Verwandtschaft im Westen mussten gemeldet und eine Sicherheitsprüfung bestanden werden. Der Palast wurde also sowohl in Bezug auf die Arbeit als auch auf die Freizeit zu einer Art Panopticon, zu einem Ort der Überwachung bzw. des Beobachtetwerdens, ohne den Beobachtenden selbst sehen zu können. Wie in Benthams architektonischer Lösung macht es hier keinen Unterschied mehr, ob der Kontrolleur noch anwesend ist, denn seine Machtausübung und seine Kontrollfunktion ist in den Strukturen des Gebäudes und in den ›Sichtbarkeiten‹ mit angelegt.

D RESSUR DURCH S TÄDTEBAU Im Jahr 1991 fasst Bruno Flierl die drei wichtigsten Prinzipien der Stadtentwicklung und Stadtgestaltung in der DDR zusammen: Zentralität, Dominanz, Ganzheitlichkeit (vgl. Flierl 1991: 49-659). Seine Analyse zeigt, dass die Stadtentwicklung und Stadtgestaltung in dieser Ära dadurch geprägt werden, dass sie sowohl den sozial-ökonomischen Grundlagen als auch den gesellschaftspolitischen Zielsetzungen untergeordnet sind. Schon mit dem Erlass der 16 Grundsätze des Städtebaus werden die biopolitischen Grundlagen der sozialistischen Architektur deutlicher: »Immer spiegelt sich […] in einem Gestaltungsanspruch, wenn er einen Anspruch auf selbstbestimmtes Handeln impliziert, auch ein Geltungsanspruch wider«, schreibt der Planungs- und Sozialwissenschaftler Frank Betker (Betker 2005: 381). Außerdem werden in den Grundsätzen Bezüge zur Gestaltung der Hauptstadt und des Stadtzentrums hergestellt. Hierbei wird sowohl auf die Verwaltungsorgane und Kulturstätten als auch auf monumentale Gebäude großer Wert gelegt. Aus einer biopolitischen Perspektive betrachtet, weisen diese Grundsätze zweierlei Zielsetzungen auf: Einerseits wollen sie im Kontext der sozialistischen Arbeitsproduktivität den Wunsch nach Arbeit, Wohnung, Kultur und Erholung der Menschen befriedigen. Andererseits betonen sie den symbolischen Wert der architektonischen Grandeur, um die Gesinnung des Individuums zu beeinflussen und daran auszurichten. Bei der neuen Stadtgestaltung in der DDR handelt es sich, so Henselmann, um »eine veränderte räumliche Organisation der Umwelt, einer Umwelt übrigens auch in jenem erweiterten Zusammenhang von Biosphäre, wissenschaftlich-technischem und gesellschaftlichem System« (Henselmann 1982: 247). Sowohl die Kombinatssiedlungen als auch der Palast der Republik unterliegen in ihrer Gestaltung zwei Foucault’schen Prinzi-

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pien von Disziplinarräumen, die Menschen vorgeschriebene Plätze zuweisen. Sie zielen auf die Minimierung der Unordnung der Körper und auf deren disziplinierende Dressur: Einerseits »le principe de la localisation élémentaire ou du quadrillage«, andererseits »la règle des emplacement fonctionnels«, indem ein Mehrzweckgebäude gleichzeitig Räume für politische Plenarsitzungen und für Disziplinierung der Arbeits- und Erholungszeit bietet (vgl. Foucault 1975: 144f.). Die beiden architektonischen Lösungen entsprechen Foucaults Verständnis der »espaces mixtes«: »Les disciplines en organisant les »cellules«, les »places« et les »ranges« fabriquent des espaces complexes: à la fois architecturaux, fonctionnels et hiérarchiques. Ce sont des espaces qui assurent la fixation et permettent la circulation; ils découpent des segments individuels et établissent des liaisons opératoires; ils marquent des places et indiquent des valeurs; ils garantissent l’obéissance des individus, mais aussi une meilleure économie du temps et des gestes. Ce sont des espaces mixtes: réels puisqu’ils régissent la disposition de bâtiments, de salles, de mobiliers, aménagement des caractérisations, des estimations, des hiérarchies.« (Foucault 1975: 149ff.)

Die Wohnsiedlungen, die dem Vorbild des Foucault’schen Militärlagers entsprechen, und ein Palast, der das Modell des Panopticons nachbildet, erweisen sich somit als Dispositive einer Machttechnologie, der kein Widerstand geleistet werden kann, da sie anonym und unsichtbar, dafür aber auch automatisiert und lückenlos ist. Auch Architektur dient in der sozialistischen Gesellschaft also offenbar der Dressur der Individuen. Wie schon Foucault in Bezug auf das Militärlager deutlich macht, übt nämlich der Städtebau eine Disziplinierungsmacht aus: »Le camp, c’est le diagramme d’un pouvoir qui agit par l’effet d’une visibilité générale. […] Toute une problématique se développe alors: celle d’une architecture qui n’est plus faite simplement pour être vue (faste des palais), ou pour surveiller l’espace extérieur (géométrie des forteresses), mais pour permettre un contrôle intérieur, articulé et détaillé – pour rendre visible ceux qui s’y trouvent ; plus généralement, celle d’une architecture qui serait un opérateur pour la transformation des individus : agir sur ceux qu’elle abrite, donner prise sur leur conduite, reconduire jusqu’à eux les effets du pouvoir, les offrir à une connaissance, les modifier.« (Foucault 1975: 174)

Wo sich Architektur und Stadtgestaltung als Ideologie und Wissen erweisen, indem sie Lebenseinstellungen bestimmen, werden sie zu einer Art diszipli-

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nierender Institutionen, welche nicht nur die Gesellschaft strukturieren, sondern auch die Normalisierung der entsprechenden Mechanismen der Biomacht durchsetzen. Wenn die Biomacht eine Machtform ist, die sich in den Lebenseinstellungen und Lebensverhältnissen reproduziert,18 dann avancieren Architektur und Städtebau zu ihren Dispositiven, d.h. zu Instrumenten der Machtausübung, der Normalisierung und der Dressur des Lebens. Die sozialistische Stadtgestaltung spiegelt sich also in der räumlichen Umweltgestaltung und Disziplinierung der sozialistischen Lebensweise wider. Die funktionellen Wohnkomplexe der Kombinatsstädte und die Tendenz, die Stadtmitte mit einer integrativen Zentralität auszustatten, verweisen auf Disziplinierungsdispositive, die die sozialen Interaktionsräume festlegen und den Rahmen des Zulässigen und des Unzulässigen bestimmen. Die Dispositive Architektur und Stadtgestaltung verweisen auf eine auf das Leben ausgerichtete Technologie der Macht, die Verbote internalisiert und die Freiheit strukturiert. Insofern wird die Normalisierung und Disziplinierung des individuellen wie auch des sozialen Körpers in der DDR auch mittels der Stadtgestaltung durchgesetzt. Sowohl im Bereich der Arbeit als auch der Freizeit ermöglichen Architektur und Städtebau folglich eine automatisierte und entindividualisierte Überwachung und Dressur und verflechten dadurch städtische Topographie und individuelle Geschichte miteinander.

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv?, Zürich: diaphanes. Barthes, Roland (1988): »Semiologie und Stadtplanung«, in: Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 199-208. Betker, Frank (2005): »›Einsicht in die Notwendigkeit‹: kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945-1994)«, München: Franz Steiner Verlag. Birken, Maria (2007): »Auf der Suche nach der erzählbaren Stadt – Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand«, in: Maria Kataryna Lasatowicz (Hg.),

18 | Foucault unterscheidet nicht systematisch zwischen Biomacht und Biopolitik und verwendet beide Begriffe weitgehend synonym. In Empire beschreibt Toni Negri Biomacht als »a form of power that regulates social life from its interior, following it, interpreting it, absorbing it, and rearticulating it. […] As Foucault says, ›Life has now become … an object of power‹. The highest function of this power is to invest life through and through, and its primary task is to administer life. Biopower thus refers to a situation in which what is directly at stake in power is the production and reproduction of life itself« (Negri/Hardt 2000: 23f.).

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Macht und Sexualität Überlegungen zur feministischen Debatte über die Prostitution Giorgia Serughetti

E INLEITUNG Welche Rolle spielt die Prostituierte in einem sozialen und kulturellen System, das von der symbolischen und materiellen Herrschaft des Mannes geprägt ist? Welche Form der Macht äußert sich im Verhältnis zwischen der Prostituierten und ihrem Kunden? Mit diesen und ähnlichen Fragen begann die zweite Generation von Feministinnen ab den 1970er Jahren die Praktiken des sexuellen Gewerbes zu hinterfragen. Auch heutzutage sind wir gehalten, uns mit diesen Fragen auseinandersetzen, so nicht nur im Hinblick auf die bestehende (und zunehmende) Prostitution in Gesellschaften, welche die ›sexuelle Revolution‹ durchlebt haben, sondern auch angesichts ihrer Verbreitung in westlichen Ländern, deren politische und kulturelle Einstellung auf die Unterdrückung des Phänomens abzielt. Dies reicht vom Verbot in fast allen Staaten der USA über die fortschreitende Einschränkung der Legalität in vielen europäischen Ländern bis hin zur Kriminalisierung des Kunden (in Schweden und Norwegen bereits Realität und in Italien Gegenstand eines jüngsten Gesetzentwurfs). Der öffentliche Diskurs über die Prostitution verbreitet Ansichten, welche die women’s studies und die cultural studies auf den Plan rufen, um die kulturellen Konstrukte zu analysieren, die den Repräsentationen der Prostituierten zugrunde liegen. Hierzu muss man sich von Gemeinplätzen zum »ältesten Gewerbe der Welt« verabschieden – zu Gunsten eines Ansatzes, der sexuelle Wünsche und Praktiken, außerhalb eines biologischen Essentialismus, als historische oder kulturelle Produkte zu interpretieren vermag. Eine Forschungsrichtung, in der sich der Verweis auf Foucault und das ›Sexualitätsdispositiv‹ als unverzichtbar erweist. Gerade anhand dieses Dispostivs de-essentialisiert der französische Philosoph den Sex und enthüllt dessen enge Verflechtung mit einem MachtWissen, das seinen »Zugriff auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen und ihre Lüste organisiert« (Foucault 1977: 149).

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Aus diesem Blickwinkel, der sowohl die theoretischen Betrachtungen des Feminismus als auch Foucaults Studien zur Biopolitik berücksichtigt, soll meine Auseinandersetzung mit dem Thema der Prostitution anhand der folgenden Schritte erfolgen. Ich werde: • die Prostitution auf ein umfassenderes kulturelles Dispositiv zur Verwaltung des Begehrens zurückführen, das dekonstruiert werden muss, um die dem sexuellen Gewerbe zugeschriebenen Bedeutungen zu verstehen; • die beiden Positionen darstellen, die den feministischen Diskurs zur Prostitution polarisiert haben, vor dem Hintergrund der sex wars, die aus der Diskussion über Sexualität entstanden; • die den jeweiligen Positionen zugehörigen vorherrschenden Bilder von der Prostituierten aufdecken und analysieren; • gestützt auf einige Schlüsselideen aus dem Werk Foucaults sowohl die Aspekte herausstellen, in denen sich die beiden Hauptansätze als unzureichend erweisen, als auch diejenigen, die zu einer neuen Sichtweise beitragen können. Auf diese Art und Weise kann die Debatte zur Prostitution zu einer privilegierten Perspektive avancieren, die erlaubt, die beiden Streitpositionen, nämlich des Feminismus und des Postfeminismus, im Hinblick auf die Problematik von Macht und Sexualität zu analysieren.1

P ROSTITUTION UND K ULTUREN DES B EGEHRENS Zuvor war die weibliche Sexualität frei und nicht negativ konnotiert. Sie wurde vielmehr als Ausdruck des ›Heiligen‹ betrachtet, denn die Vereinigung des 1 | Bei aller Vorsicht, die bei einer strengen Unterscheidung zwischen freiwilliger und Zwangsprostitution geboten ist, werde ich mich in diesem Artikel auf die ›freiwilligen‹ Formen konzentrieren und das Phänomen des Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung ausklammern, das einer eigenen Betrachtung bedürfte. Dies erlaubt mir erstens, mich auf einen Forschungsgegenstand zu konzentrieren, um dessen wesentliche Merkmale besser herauszuarbeiten und zu analysieren. Zweitens, weil die Phänomene Menschenhandel und Zwangsprostitution, obwohl sie in den Medien und der Literatur zum Thema vorherrschen, der Vielfältigkeit des Phänomens nicht gerecht werden. Denn oftmals ereignet sich die ›sexuelle Geschäftsbeziehung‹ zwischen der Prostituierten und dem Kunden ohne die Vermittlung eines ›Dritten‹, eines Ausbeuters. Drittens erlaubt ein so definierter Untersuchungsgegenstand, Figuren aus dem Bereich der Prostitution – wie Escort und Call Girls – mit einzubeziehen. Diese unterscheiden sich stark von den vergangenen und gegenwärtigen Stereotypen und haben in der jüngsten Zeit zu interessanten Darstellungen in der zeitgenössischen Literatur, Fernsehen und Kino geführt.

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Mannes mit der Frau stellte symbolisch die Vereinigung mit der Muttergöttin dar (vgl. Baldaro Verde/Todella 2007: 11f.). In den antiken nah- und fernöstlichen Kulturen boten sich die Jungfrauen des Tempels im Namen der Göttin gegen Geld und Geschenke dar: Sie waren also »heilige Prostituierte« (vgl. Osso Pircali 2004), wobei der Ausdruck Prostituierte eine ökonomische Gegenleistung für den Geschlechtsverkehr impliziert, aber frei ist von jener negativen Konnotation, die ihm heute innewohnt. Heilige Prostitution lässt sich bereits in den frühesten Kulturen nachweisen, die überliefert sind. Die älteste bekannte Darstellung einer Prostituierten findet sich im Gilgamesch-Epos aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. Prostitution als bezahlte und beruflich ausgeübte Dienstleistung entsteht zu späterer Zeit mit der Etablierung des Patriarchats und der Doppelmoral (vgl. Baldaro Verde/Todella 2007: 12) beziehungsweise eines doppelten ethischen Kodexes für die männliche Sexualität. Historische Figuren wie die griechischen Hetären oder die japanischen Geishas zeugen noch von einer gänzlich anderen Bedeutung als der heutigen, die einzig mit sexuellen Dienstleistungen verbunden wird. Doch mit der Etablierung der männlichen Macht und der Reglementierung der weiblichen Sexualität insbesondere durch das Christentum vertieft sich in der westlichen Welt die Kluft zwischen der ›sittlichen Frau‹ und ›dem Lustweib‹. So festigt sich das soziale Stigma, das die Prostitution bis heute begleitet (vgl. O’Neill 2001). Der Verkauf sexueller Dienstleistungen ist je nach Ort oder Gruppenzugehörigkeit eine höchst wandelbare kulturelle Praktik: Die Definition, was eine Prostituierte oder eine Hure sei, ist außergewöhnlich mannigfaltig und beinhaltet die unterschiedlichsten Aspekte. Es gibt kein einziges Element, keinen kleinsten gemeinsamen Nenner, der die verschiedenen kulturellen Definitionen eint. Vielmehr umfasst der Begriff alles ebenso wie dessen Gegenteil (vgl. Tabet 2007: 23). In diesem Wissen müssen der Status der Prostituierten und die Gesamtheit der gemeinsamen sozialen Repräsentationen betrachtet werden, die sie als Teil einer allgemeineren Verwaltung des Begehrens ansehen. Letzteres reglementiert die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und spiegelt die kulturell vorherrschenden Einstellungen, Werte und Gefühle wider (vgl. O’Neill 2001). Im Sex/Gender System, das Gayle Rubin als Ort der Unterdrückung der Frau im Patriarchat ausmacht, muss die Prostitution daher ausgehend von einer umfassenderen kritischen Dekonstruktion der sexistischen, auf die männliche Macht gestützten Kultur verstanden werden. Dies ist der Ausgangspunkt der feministischen Positionen zur Bedeutung der Prostitution.

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D IE E HEFR AU UND DIE P ROSTITUIERTE : D IE FEMINISTISCHE D EBAT TE Die zweite Welle des Feminismus stellt zwei unterschiedliche und entgegengesetzte Figuren heraus, um die Lage der Frauen unter patriarchalischer Vorherrschaft zu versinnbildlichen: die Ehefrau/Mutter und die Prostituierte. In ihren Analysen zur Rolle der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft und Kultur stellen einige der bedeutendsten Denkerinnen des Feminismus dem Verständnis und der politischen Bewertung des Verhältnisses der Prostituierten zum Kunden und allgemein dem Beruf der Prostituierten wichtige Überlegungen an. Insgesamt stimmen diese in der Darstellung der Prostituierten als höchste Verkörperung der männlichen Herrschaft über den weiblichen Körper überein. In ihrer Kampagne gegen Pornographie greifen Andrea Dworkin (vgl. Dworkin 1981) und Catharine MacKinnon (vgl. MacKinnon 1989) die Prostitution an und verurteilen sie. Kate Millett (vgl. Millett 1973) sieht in ihr das Paradigma der sozialen Lage einer jeden Frau verkörpert. In einer jüngeren Publikation, die sich in die gleiche Tradition stellt, negiert Kathleen Barry (vgl. Barry 1995) jegliche Unterscheidung zwischen freiwilliger und Zwangsprostitution, indem sie in der sexuellen Ausbeutung eine Verletzung der Würde sieht, die keinen Raum lässt für ein individuelles Recht, den eigenen Körper zu verkaufen. Ein emblematischer Text des radikalen amerikanischen Feminismus ist The sexual contract von Carole Pateman (vgl. Pateman 1988). Die Autorin widmet ein Kapitel ihres Buches der Frage What’s wrong with prostitution?. Ihre Analyse identifiziert eine versteckte Seite des Gesellschaftsvertrags beziehungsweise des titelgebenden Geschlechtervertrags, der einem jeden Mann das Zugangsrecht einräumt, von Frauen Besitz zu ergreifen. Die Ehe und die Prostitution zeigen auf unterschiedliche Art und Weise die durchdringende männliche Macht, welche sich hinter der Vortäuschung einer vertraglichen Freiheit verbirgt. Die Prostitution bestätigt dies jedoch in eklatanterer Weise. Beide Formen sind feste Bestandteile des patriarchalen Rechts, aber »wives are no longer put up for public auction […] but men can buy sexual access to women’s bodies in the capitalist market« (Pateman 1988: 189). Pateman lehnt also die Positionen des Kontraktualismus und des liberalen Feminismus ab. Diese verteidigen das Recht der Frau, über den eigenen Körper zu verfügen und vergleichen die Prostitution mit anderen Formen bezahlter Dienstleistungen. Pateman zufolge verkaufe die Frau bei der Prostitution nicht einfach körperliche Dienste, sondern ihren Körper, ihre Sexualität, sich selbst; so wie der Kunde direkten Zugang zu einem Körper zum sexuellen Gebrauch erwerbe. Auf diese Art und Weise »[t]he law of male sex-right is publicly affirmed and men gain public acknowledgement as women’s sexual masters – that is what is wrong with prostitution« (Pateman 1988: 208).

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Mit der Gründung der ersten Organisationen, die für die Rechte von Prostituierten und ihre theoretisch-politische Ausarbeitung eintreten, wird die feministische Debatte über die Prostitution in den 1970er und 1980er Jahren strukturiert und bereichert. Von der neuen Welt bis ins alte Europa verbreitet sich das kollektive Engagement der »Sexarbeiterinnen« (wie sich die in diesem Gewerbe Tätigen zunehmend selbst definieren): Sie verstehen sich nicht mehr als Prostituierte, die den alten Stereotypen unterliegen, sondern als Arbeiterinnen, welche die Anerkennung ihres Berufes und damit auch rechtlichen und sozialen Schutz fordern. Aus den Aussagen und Meinungen der direkt Betroffenen bildet sich so eine neue Sichtweise heraus: Ihr Verständnis der Sexarbeit steht mit dem des Feminismus der zweiten Welle in Konflikt, da es sich auf die liberalen Ideen von Wahlfreiheit und Selbstbestimmung stützt und weil es Selbstmitleid und die Anklage einer falschen Gesinnung ablehnt (vgl. Chapkis 1997). Während eine Position in der Prostitution die Spitze des Eisbergs bei der Unterwerfung aller Frauen unter den Vater/Kunden/Ehemann sieht, macht die andere die Entscheidung zur Prostitution von Seiten der Betroffenen und damit die Gültigkeit des prostitutionalen Vertrages als Frucht einer freiwilligen Entscheidung geltend. Beide Positionen erweisen sich in der im Rahmen des Feminismus geführten Debatte als strukturell unvereinbar. Auch im italienischen Pordenone entsteht 1982 eine Organisation für die Rechte von Prostituierten: il Comitato per i Diritti Civili delle Prostitute. Ihre Gründerinnen bekennen, dass die Vereinigung aus der feministischen Kultur der 1970er Jahre hervorgegangen sei. Doch ähnlich wie in den anderen westlichen Ländern erweist sich auch in Italien die Distanz zwischen Prostituierten und Nicht-Prostituierten in Bezug auf Meinungsäußerungen und politische Aktionen von Anfang an als unüberwindbar. Im Gegensatz zu den Feministinnen verfolgen die Sexarbeiterinnen konkrete Ziele wie die Revision der lex Merlin, jenes aus dem Abolitionismus hervorgegangene Gesetz, mittels dessen 1958 die Schließung der Bordelle verfügt wurde, im sexuellen Gewerbe jedoch Normen einführte, welche die Prostituierten benachteiligen und marginalisieren, indem sie ihnen zahlreiche zivile und soziale Rechte vorenthalten. Die Prostituierten verteidigen zudem die Wahl ihrer Tätigkeit und kippen so die feministische und landläufige Ansicht, dass sie in ihrer Beziehung zum Kunden einem Unterordnungsverhältnis unterlägen. Diese Position lässt sich auch deutlich auf den Seiten von Lucciola erkennen, der Zeitschrift der obigen Organisation, auch dank der Beiträge von feministischen Intellektuellen, die die Bewegung unterstützen. Neben Roberta Tatafiore, welche die Zeitung leitet und wichtige Artikel zum Thema beisteuert (vgl. Tatafiore 1997, 1998), zählt hierzu auch Michi Standerini. Letztere bezieht sich in ihren Überlegungen auch auf Foucault, um die Tendenz zu kritisieren, bestimmte Formen des sexuellen Austausches als an sich unterdrückend zu stigmatisieren (vgl. Staderini 1998).

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Viele Vertreterinnen des Feminismus stimmen dem jedoch nicht zu. 1984 entzündet sich in der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto eine heftige Debatte zwischen Rossana Rossandra und einigen Prostituierten. Die Auseinandersetzung dreht sich um die entgegengesetzten Konzepte der ›Entfremdung‹ und der ›Emanzipation‹, anhand derer die beiden Parteien den Verkauf sexueller Dienstleistungen interpretieren. Dass die beiden Positionen unvereinbar sind, zeigt sich neben den theoretischen Debatten auch in den Versuchen, gemeinsam politisch aktiv zu werden. Wie in anderen europäischen Ländern und den USA scheitern auch in Italien die Konferenzen und Initiativen zur Prostitution, welche auf die Erarbeitung einer gemeinsamen Linie und von politischen Vorschlägen abzielen, häufig an der offenen Feindseligkeit zwischen den beiden Parteien: den Prostituierten und den Nicht-Prostituierten. In den gegenseitigen Anschuldigungen stempeln die Sexarbeiterinnen die Feministinnen als klassistisch und spießig ab. Ihnen fehle die tatsächliche Erfahrung von sich prostituierenden Menschen (Frauen, ab den 1980er Jahren auch Transsexuelle); zudem würden sie Letztere aus der eigentlichen feministischen Betrachtung ausschließen. Auch heute lassen sich in einigen europäischen Ländern die gleichen theoretischen und politischen Gegensätze wiederfinden – und zwar angesichts von Gesetzen, die im Namen der Sicherheit die Prostitution erschweren sollen, sie aber in Wirklichkeit an den Rand und in den Untergrund drängen. So entstand in Frankreich im Zuge der Proteste gegen die repressiven Maßnahmen des damaligen Ministers Nicolas Sarkozy die Gruppe Les putes. Sie fordert die Anerkennung der Rechte für Prostituierte, verurteilt die für die französische Gesellschaft charakteristische Prostituiertenfeindlichkeit, lehnt die Etikettierung der Sexarbeiterinnen als ›Opfer‹ ab und polemisiert offen gegen die auf die Abschaffung der Prostitution gerichteten Bestrebungen der feministischen Abolitionisten. Dass sie insbesondere von der letzteren Kategorie nichts zu lernen hätten, erklären zwei der Wortführerinnen der Bewegung und Autorinnen des manifestartigen Buches Fiere di essere puttane (vgl. Maîtresse/Schaffauser 2009: 49). Les putes fordern die Zugehörigkeit zum feministischen Universum, denn Feminismus bedeute: über den eigenen Körper und über das Recht auf Abtreibung zu verfügen; die Nostalgie der 1970er Jahre hinter sich zu lassen, um neue Utopien der Revolution, der radikalen Veränderung der Gesellschaft, der Unterdrückung des Patriarchats zu entwickeln; sich gegen die Sakralisierung des Sex zu wenden; die eigene Sexualität jenseits von Entwürfen wie »Paar«, »Ehe« oder »Liebe« zu empfinden und ausleben zu können (vgl. Maîtresse/ Schaffauser 2009). Die Prostitution bleibt also weiterhin ein heikles Thema (vgl. Trapasso 2000), ein rutschiges Terrain für den Feminismus, das nicht nur widerstreitende Positionen hervorbringt, sondern auch entgegengesetzte Ansichten zu politischen Handlungen, derer sich der Staat annehmen könne und solle: vom

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Verbot und der Kriminalisierung des Kunden bis hin zur Neureglementierung der Bordelle (vgl. Danna 2004).

G IBT ES ÜBERHAUP T › GUTEN S E X‹? Vor dem Hintergrund dieser Polarisierung des feministischen Gedankens finden sich weitere und radikalere Diskussionen, welche die Wertschätzung des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs, der Sexualität in einem patriarchalischen, sexistischen und ›heterosexistischen‹ System betreffen. Es handelt sich dabei genauer gesagt um Diskussionen, die im angelsächsischen Raum als feminist sex wars bezeichnet werden. Auf der einen Seite finden wir das Konzept der Heterosexualität als Hauptquelle weiblicher Unterwerfung, also der Wesensgleichheit von Heterosexualität und Macht. Nach MacKinnon (vgl. MacKinnon 1982) hat die Sexualität für den Feminismus den gleichen Stellenwert wie die Arbeit für den Marxismus. Für Dworkin (vgl. Dworkin 1987) wird vermittels der Sexualität ein System der Herrschaft über die Frau aufrechterhalten; der ›normale‹ Sex ist also in einem Kontinuum von sexuellem Missbrauch, Gewalt und Vergewaltigung zu verorten. Dies ist die Auffassung des radikalen Feminismus2 . Erste Kritik an dieser Sichtweise wurde durch die Frauenbewegungen ethnischer und sexueller Minderheiten vorgebracht, insbesondere von Schwarzen und Lesben, die ihr vorwarfen, ein monolithisches Bild vom sexuellen Erleben der Frauen zu zeichnen. Doch eine offene Diskussion über die weibliche Sexualität entfachte erst die Position von Denkerinnen wie Gayle Rubin (vgl. Rubin 1984) und Carol Vance (vgl. Vance 1984), von denen jene Strömung des Feminismus ausgeht, die von ihren Anhängern als sex radical und von ihren Gegnern als sex libertarian etikettiert wird. Der Ausgangspunkt ist hier die Verteidigung und die Einforderung weiblicher sexueller Lust, der agency und der Selbstdefinition der Frauen im Bereich der Sexualität. Der Geschlechtsverkehr reduziert die Frauen nicht auf die Rolle des Opfers oder der Komplizin männlicher Macht, sondern kann, auch mittels seltenerer Sexualpraktiken wie Sadomasochismus, befreiend sein (vgl. Califia 1996). Doch auch innerhalb des radikalen Feminismus finden sich weitere Unterscheidungen zwischen »negativem, also schlechtem« und »positivem, also gutem« Sex. Ersterer ist – natürlich – derjenige, der dem männlichen Begehren entspricht und die weibliche Unterwerfung untermauert; der zweite, den Andrea Dworkin als communion und skinlessness bezeichnet (vgl. Dworkin 1987), 2 | Der amerikanische radikale Feminismus geht zurück auf die Arbeiten von Kate Millett und des Southern Women Writers’ Collective und wird überwiegend mit den Überlegungen von Catharine MacKinnon, Andrea Dworkin und Kathleen Barry assoziiert.

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ist ein Zustand der Nacktheit, der Verletzlichkeit und der Verschmelzung der Körper. Wenn für den anti-sex feminism die Herrschaft das typischste Zeichen für Sex ist, so darf für die Strömung, die als pro-positive sex bezeichnet werden kann, wohl das Gegenteil gelten. Letztere nimmt eben jene Sexualpraktiken, die auf Gegenseitigkeit und auf einem Gefühl der Liebe beruhen, selektiv aus der Verdammung des Sex als Praktik der Unterdrückung aus (vgl. Chapkis 1997). Diese Sichtweise erinnert an die im 20. Jahrhundert vorherrschende Sexualitätsauffassung (oder es gelingt ihr nicht, diese zu überwinden), für die Intimität, Gefühl und liebevolle Teilhabe den Sinn und Zweck des Geschlechtsverkehrs bilden können und sollen (vgl. Bernstein 2007). Die Intimität ersetzt das Ziel sich fortzupflanzen und die Strenge der Institution Ehe. Doch sie unterscheidet das sexuell Erlaubte vom Unerlaubten und erzeugt so zwei Frauenbilder: die ›Hure‹ und die ›Heilige‹. Während diese Zuschreibungen für das Individuum nicht weiter von Bedeutung sind, mystifizieren sie parallel dennoch den Geschlechtsakt anhand eines Rasters von kulturell anerkannten Formen. Die Stigmatisierung von Sexualpraktiken produziert also fortdauernd eine normale und eine anormale weibliche Sexualität. Hier liegt der Ursprung für die kritischen Positionen vieler feministischer Denkerinnen zur Prostitution als kultureller und sozialer Institution (vgl. Kuo 2002). Aus ihm kristallisieren sich eben jene unterschiedlichen Auffassungen der Prostituierten heraus, welche die feministische Debatte polarisiert haben.

O PFER UND F EMMES FATALES Rund um die Prostitution entstanden im Laufe der Jahrhunderte Diskurse und Darstellungen, »öffentliche Gesichter der Prostitution«, die von einem Gender-Blick gestützt werden, der fest im männlichen Blickwinkel verankert und um die Dichotomien Geist/Körper, Opfer/Täter organisiert ist (vgl. Carpenter 2000). Ab dem Ende des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wird die in der Vergangenheit tolerierte und kaum reglementierte Prostitution zum Gegenstand von Kontrollen und staatlichen Eingriffen im Kontext der von Foucault beschriebenen, entstehenden Biopolitik der Bevölkerung. Daraus entstehen in allen westlichen Ländern Vorschriften zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, einhergehend mit einer Registrierungspflicht für Prostituierte, obligatorischen Gesundheitskontrollen und einer Genehmigung für die Ausübung von Prostitution ausschließlich in Bordellen. Diesen Maßnahmen liegt das Bild von der Prostituierten als einer gefährlichen, moralisch und physiologisch normabweichenden Frau zu Grunde, wie sie Lombroso und Ferrero 1903 in La donna delinquente: la prostituta e la donna normale ausführlich beschreiben und analysieren

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(vgl. Lombroso/Ferrero 1915). Ein notwendiges Übel also, das eine positive soziale Funktion erfüllen kann (sie garantiert ein Ventil für den Überschuss männlicher sexueller Energie und schützt zudem die Institution Ehe), aber zugleich in sich ein destruktives Potential für die physische und moralische Gesundheit des sozialen Körpers beinhaltet. Die Prostituierte ist ein Fremdkörper, vom männlichen (kulturellen, politischen, wissenschaftlichen) Blick auf ein »KörperObjekt« (body-object) reduziert (vgl. O’Neill 2001). Der historische Gegenpart zu diesem Modell, der Abolitionismus3, entsteht hingegen aus einer liberalen Geisteshaltung: Prostitution wird als eine individuelle Ressource verstanden, auf die eine Frau freiwillig oder aus der Not heraus zurückgreifen kann. Sie darf nicht dem von den Reglementierungen erzeugten Regime der juristischen Ungleichheit unterstehen, sondern muss vielmehr zum Objekt von Eingriffen unter umgekehrten Vorzeichen werden, um die Prostituierte aus ihrer sozialen Ausgrenzung zu befreien, in die sie das System der Bordelle jahrzehntelang gedrängt hat. Die Prostituierte wird hier im Wesentlichen als Opfer der Not, des politischen Systems und des sozialen Stigmas verstanden. Ein Bild, das durch die Analyse der Kommerzialisierungsprozesse in der industriellen Moderne gestützt wird, wie jene, anhand derer Georg Simmel die »verhängnisvolle Analogie« zwischen Prostitution und Geld beschreibt. Für den deutschen Soziologen drückt das Verhältnis zwischen dem Kunden und der Prostituierten perfekt das Wesen des Geldes aus, »das sich mit seiner Hingabe absolut von der Persönlichkeit löst und jede Konsequenz am gründlichsten abschneidet« (Simmel 1907: 413), sodass in der modernen »Ökonomie der Mittel«, der Vorherrschaft der Mittel über die Zwecke, die Prostitution einen klaren und emblematischen Fall der Reduktion eines menschlichen Wesens zum Mittel enthüllt. Auch Walter Benjamin sieht in den Pariser Passagen Prostitution und Geld in der reinen Lust am Spiel miteinander verschmelzen. »Die Prostitution (zumal in der zynischen Form, in der sie gegen Ende des Jahrhunderts in den Pariser Passagen betrieben wurde)« sei weniger der »Gegensatz« als der »Verfall der Liebe« (Benjamin 1983: 617). Das kapitalistische System ist also die Wurzel der Reduzierung des weiblichen Körpers zur Ware mittels eines begehrenden männlichen Blickes, der im Verhältnis der Prostituierten zum Kunden seinen prägnantesten Ausdruck findet. Seit den 1970er Jahren ist in der feministischen Debatte eine Renaissance dieser doppelten Sichtweise von der Prostituierten zu verzeichnen: Für den radikalen Feminismus ist die Prostituierte das Opfer par excellence, das Symbol 3 | Die von der Engländerin Josephine Butler gegründet Abolitionismus-Bewegung hatte das Ziel, sich der staatlichen Reglementierung der Prostitution entgegenzustellen. Ihr Vorhaben war es, gegen die rechtliche und sexuelle Abhängigkeit von Frauen und gegen den Mädchenhandel zu kämpfen. Sie lehnte sich auf diese Weise bewusst an die Antisklaverei-Bewegung an.

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für die Unterdrückung der Frau im Patriarchat. Doch es besteht die Gefahr, dass sie ins Stigma der femme fatale abrutscht, wenn man eine Unterscheidung zwischen positivem und negativem Sex vornimmt: Im sexuellen Gewerbe wird nicht bloß eine Dienstleistung verkauft, sondern Intimität, Sexualität als fester Bestandteil der Identität einer Person. Aus diesem Grund sind Prostitution und Feminismus strukturell unvereinbar. Catherine MacKinnon ist der Ansicht, dass »women in prostitution are denied every imaginable civil right in every imaginable and unimaginable way, such that it makes sense to understand prostitution as consisting in the denial of women’s humanity, no matter how humanity is defined« (MacKinnon 1993: 13). Ein anderes Bild von der Prostituierten kam mit der sex-workers-Bewegung auf: Eine neue Sprache von Rechten und individueller Freiheit bereichert die öffentliche Debatte um die Darstellung von der Prostituierten als Berufstätige, als Sexarbeiterin: Sie ist weder eine lasterhafte Jägerin, noch eine fehlgeleitete ausgebeutete junge Frau (vgl. Bellassai 2006), sondern ein freies und handelndes Subjekt, das die Freiheit beansprucht, Prostitution auszuüben und dafür bessere politische und kulturelle Bedingungen fordert (vgl. Danna 2004, Kuo 2002). Es handelt sich um eine Darstellung, die in der politischen, wissenschaftlichen, künstlerisch-literarischen und medialen Kultur der letzten Jahrzehnte insgesamt eine Randerscheinung geblieben ist, und die heute jedoch offenbar neuer Aufmerksamkeit bedarf. Einen Blick auf die Welt der Escorts und Call girls oder Edelnutten haben uns zum einen die Aufsehen erregenden Pressemeldungen – wie sie 2008 den New Yorker Gouverneur Eliot Spitzer und 2009 den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi betrafen – und zum anderen die recht erfolgreichen Romane der Unterhaltungsliteratur eröffnet. Ich denke zum Beispiel an Secret Diary of a London Call Girl, erschienen unter dem Pseudonym Belle de Jour, das von einem großen britischen Fernsehsender als Fernsehserie adaptiert und auch in Italien auf dem Satellitensender Fox Life ausgestrahlt wurde. Zu nennen wäre aber auch Diario di una ninfomane von Valérie Tasso, das vom spanischen Regisseur Christian Molina verfilmt wurde,4 oder Viola. Storia di una prostituta per bene von Viola Page. In diesen und anderen als »neopornographisch« definierten Romanen (vgl. Puccini 2009) kehren die Prostituierten das Stigma um und nehmen stolz und bewusst die Rolle der gefährlichen und normabweichenden Frau ein. Es handelt sich um perverse, intelligente, anspruchsvolle, schöne und natürlich un4 | Als der Film in die Kinos kam, erregte er großes Aufsehen; vor allem wegen des Plakats, das den Unterleib einer Frau zeigt, deren Hand sich in ihren Slip schiebt. Die Zensur des Plakats, zunächst in Spanien und dann in Italien – wo an jeder Straßenecke Bilder von Frauen in Unterwäsche die Passanten überragen –, ist Ausdruck eines fortdauernden kulturellen Unbehagens angesichts einer frei artikulierten weiblichen Sexualität.

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verschämt konsumfreudige junge Frauen, die vom Funkeln des Geldes und der Waren angelockt werden. Ganz anders also als das traditionelle Bild von der Prostituierten. Auf der Suche nach ihrer Abstammung finden die Protagonistinnen ihre Mütter in den Heldinnen einiger der ersten europäischen Romane, die nicht zufällig ebenfalls als pornografisch (nach der Etymologie des Wortes Pornographie: über eine Prostituierte schreiben/sprechen) gelten: Moll Flanders und Lady Roxana von Daniel Defoe oder Fanny Hill von John Cleland. Wenig Ähnlichkeit haben sie jedoch mit den abolitionistisch motivierten Darstellungen aus dem zwanzigsten Jahrhundert wie Mamma Roma von Pier Paolo Pasolini oder Cabiria von Federico Fellini: Frauen, die die Not oder der Zynismus eines ausbeuterischen Liebhabers auf die Straße zwingt. Mit den zeitgenössischen Bildern von Prostituierten, die auf den globalen Routen der sexuellen Ausbeutung gehandelt werden und die das jahrhundertalte Bild des Opfers verkörpern, haben diese jungen Callgirls gar noch weniger gemeinsam.

P ROSTITUTION DEKONSTRUIEREN Um angesichts solch unterschiedlicher Repräsentationen und nicht miteinander zu vereinbarenden feministischen Positionen den theoretischen Knoten der Debatte lösen zu können, muss man von einer Definition von Prostitution ausgehen, welche die konstitutiven Elemente des Konzepts herausstellt. Auf diese Weise können das Konzept dekonstruiert und die kulturellen und diskursiven Aspekte identifiziert werden, die sein Wesen definieren und auf denen die jeweiligen Theorien und Repräsentationen, in unterschiedlicher Form, basieren. Einer der revolutionärsten Beiträge der zweiten Feminismus-Welle war die Fähigkeit, die Institutionen, welche die Beziehungen zwischen den Geschlechtern reglementieren, einer radikalen Kritik zu unterziehen und sie somit als nicht-natürlich, als sozio-kulturelle Konstrukte zu entlarven. Auch das ›älteste Gewerbe der Welt‹ ist, wie die anderen Formen von Beziehung und Austausch zwischen den Geschlechtern, eine kulturelle Praktik, die je nach historischem oder symbolischem Kontext variiert. Für Shannon Bell, eine feministische Sexualitäts-, Körper- und performance-Forscherin, gilt: »The flesh and blood female body engaged in some form of sexual interaction in exchange for some kind of payment has no inherent meaning and is signified differently in different discourses.« (Bell 1994: If.) Wenn wir also von einer Minimaldefinition von Prostitution ausgehen – das ausdrückliche Anbieten von Dienstleistungen sexueller Natur in gegenseitigem Einvernehmen gegen Geld oder andere materielle Güter – verweist das Adjektiv sexuell auf die vorherrschenden Diskurse über Sexualität und auf die spezifische Relevanz der sexuellen Sphäre in der symbolischen Ordnung, die die sozialen Beziehungen regelt. Dadurch wird die Prostitution stärker stig-

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matisiert als jeder andere Beruf, in dem körperliche Dienstleistungen angeboten werden. Aus einer liberalen Perspektive heraus analysiert Martha Nussbaum in einem Aufsatz die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der Prostituierten und anderen Berufen, in denen körperliche Dienstleistungen gegen Geld angeboten werden – Frisörinnen, Masseurinnen, Chiropraktikerinnen, Physiotherapeutinnen usw., bis hin zur Sängerin in einem Nachtclub und einer Dozentin für Philosophie (die gegen Geld die Intimität ihrer eigenen Gedanken, die Tiefe ihres eigenen Verstandes anbietet). Nussbaum kommt zu dem Schluss, dass, abgesehen von vielfältigen und feinen Unterschieden, das Hauptunterscheidungsmerkmal heutzutage in der weitaus stärkeren Stigmatisierung der Prostitution bestehe (vgl. Nussbaum 1999). Dieses Stigma rührt aus zwei verschiedenen Auffassungslinien: der Immoralität des Aktes und der engen Verbindung mit dem hierarchischen System der Geschlechter. Was die Prostituierte also von all den anderen genannten Anbietern von Dienstleistungen unterscheidet, ist kurzgesagt das Adjektiv sexuell.

P ROSTITUTION UND S E XUALITÄT : Z WISCHEN S TIGMA UND M YSTIFIZIERUNG Ein wesentlicher Beitrag zur Analyse der Sexualität als diskursivem Konstrukt ist Foucaults Werk zur Geschichte der Sexualität. Für den französischen Philosophen ist die Bestimmung, welche Praktiken als ›normal‹ und welche als ›pervers‹ zu betrachten sind, aber auch die Verhaltensweisen und Körperzonen, die als ›sexuell‹ gelten, das Ergebnis eines Macht-Wissen-Dispositivs. Unter diesem Blickwinkel erweisen sich viele der theoretischen Annahmen, die wir in der Debatte über die Prostitution skizziert haben, als problematisch. Vor allem die Position, die in der Prostitution den schlimmsten und eklatantesten Ausdruck patriarchalischer Herrschaft sieht, setzt sich, im Licht des Sexualitätsdispositiv betrachtet, dem Einwand aus, das Subjekt mit seinem Verhalten oder seiner sexuellen Orientierung zu identifizieren. Foucault warnt vor den Diskursen, die in der Sexualität die Wahrheit des Individuums suchen, also vor eben jenen Diskursen, die »uns im Laufe einiger Jahrhunderte dahin gebracht [haben], die Frage nach dem, was wir sind, an den Sex zu richten. Und zwar nicht so sehr an den Natur-Sex (als Element des Lebendigen, Gegenstand einer Biologie), sondern an den Geschichts-Sex, den Bedeutungs-Sex, den Diskurs-Sex« (Foucault 1977: 98). In der Moderne verkörpert eine neue Biomacht in den Subjekten ihre Sexualität, insbesondere in den Formen, die als pervers oder abweichend angesehen werden. Das geht so weit, dass sie in ihrem ganzen Verhalten vollständig von der Sexualität bestimmt werden, die sie manifestieren. Der Homosexuelle ist ein typisches Beispiel für

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diesen Prozess. Während die Sodomie in der christlichen Kultur jahrhundertelang verboten war, verkörpert der Homosexuelle, für welchen die Perversion konsubstantiell geworden ist, seit dem 19. Jahrhundert eine neue medizinische, psychologische und psychiatrische Kategorie der scientia sexualis. Deshalb stand Foucault – gerade im Bezug auf die Homosexuellenbewegung – einer auf sexueller Identität basierenden Politik immer kritisch gegenüber. In einem Interview, veröffentlicht im Jahr seines Todes, erklärt er, dass es nicht um die Bekräftigung der eigenen sexuellen Identität geht, sondern darum, die Aufforderung zur Identifikation mit der Sexualität zurückzuweisen (vgl. Foucault 2005). Die Fixierung der Identität läuft Gefahr, einen Mechanismus sexueller Normierung zu reproduzieren (vgl. Barbette 1997). Aus dieser Perspektive heraus muss auch die feministische Verurteilung bestimmter, als ›Destillat‹ der patriarchalischen Macht begriffener Sexualpraktiken als problematisch erscheinen, ebenso wie die Definition von Hierarchien zwischen unterdrückenden und befreienden Praktiken. Indem sich der radikale Feminismus auf eine authentische weibliche Sexualität beruft, die einer unterdrückenden männlichen Macht entgegensteht, läuft er Gefahr, einen Diskurs über die Sexualität als privilegierten Bereich zu bestätigen, in dem sich die Macht produziert und vermehrt. Foucault, der mit seinem Werk auch einen bedeutenden Beitrag zur Dekonstruktion des Patriarchats geleistet hat, geht mit seinen Argumentationen konsequenterweise so weit, die Notwendigkeit der Dekriminalisierung von Vergewaltigung als Sexualdelikt zu fordern, was heftige Reaktionen eben jener Feministinnen hervorrief (vgl. Cahill 2000). Vergewaltigung wegen ihrer sexuellen Natur zu bestrafen, würde nach Foucault folgendes bedeuten: »Die Sexualität als solche hat im Körper einen entscheidenden Platz, das Geschlecht, und nicht eine Hand, nicht die Haare, nicht die Nase. Man muss es folglich schützen, es umgeben, auf jeden Fall mit einer Gesetzgebung ausstatten, die nicht die sein wird, welche für den Rest des Körpers gilt.« (Foucault 2003: 458) Dies ist die Art von Bestätigung, wie sie von den feministischen Überlegungen zur Prostitution und der daraus entstehenden prohibitionistischen Politik ausgeht. Den Verkauf von sexuellen Dienstleistungen als Entfremdung vom Selbst seitens der Frau zu verurteilen, bedeutet, die Körperlichkeit des Geschlechts, im Gegensatz zu Körperteilen, die für andere Dienstleistungen verwendet werden, als Zentrum der wahrsten Identität des Subjekts anzusehen. Weit davon entfernt befreiend zu sein, neigt dieses Schema dazu, das Macht-Wissen-Dispositiv über die Sexualität aufrecht zu erhalten. In die gleiche Kritik kann jedoch auch die entgegengesetzte Position geraten, welche die Prostitution als Wahl und als Möglichkeit verteidigt, und welche einfordert, sie als Beruf zu verstehen, oder welche einfach die Anerkennung der gleichen Rechte für Prostituierte und die Abschaffung des sie unterdrückenden Stigmas fordert. Sie scheint sich in der Tiefe mit der Foucault’schen Analyse zu

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treffen, wenn sie sich darauf beschränkt, die Möglichkeit der Sexarbeiterinnen zu verteidigen, ihre Körper auf die gleiche Weise, wie jeder andere Arbeiter, der körperliche Dienstleistungen anbietet, zu nutzen. Nicht jedoch, wenn sie sich auf die Sexualität stützt, um die Freiheit der Prostituierten zu bestätigen oder um sie als revolutionäres sexuelles Subjekt zu verherrlichen. Auf diese Weise wird nämlich eine Mystifizierung produziert, die die Stigmatisierung spiegelbildlich verkehrt, jedoch die gleiche Tendenz verbirgt, die individuelle, insbesondere weibliche Identität mit der Rolle des sexuellen Akteurs gleichzusetzen.

E INDIMENSIONALE M ACHT ? Foucaults Beitrag erweist sich darüber hinaus noch für eine weitere Reihe von Überlegungen als nützlich, nämlich für die Analyse der Formen von Macht, die sich in der Prostitution manifestieren. Für die Theorie des radikalen Feminismus stellt der Geschlechtsakt den Ort der Aneignung und Reproduktion männlicher Macht dar, und die Prostituierte ist das eklatanteste Abbild desjenigen, der die patriarchalische Ideologie passiv bewahrt. In einer nicht-patriarchalischen Gesellschaft hätte Prostitution keinen Grund zu existieren. Die Prostituierten-Organisationen kehren jedoch das Verhältnis von Macht und Sexualität im sexuellen Gewerbe um. Während in der ersten Sichtweise der Kunde die Prostituierte ausnutzt und unterdrückt, kommt im zweiten Verständnis eine Macht der Prostituierten zum Vorschein, die sich über die Sexualität manifestiert und sich als agency darstellt. Die Anthropologin Paola Tabet zitiert in diesem Zusammenhang die bekannte Aussage von Pia Covre, einer der Gründerinnen des Comitato per i Diritti Civili delle Prostitute: Der Kunde sei ein Wolf, aber die Prostituierte (die professionelle Prostituierte und nicht eine Drogenabhängige oder ein armes Mädchen, das dies zum ersten Mal macht) sitzt am Ende am längeren Hebel (vgl. Tabet 2004: 86). Wie muss also die Macht verstanden werden, die sich im Verhältnis der Prostituierten zu ihrem Kunden äußert? Foucault versteht Macht »nicht [als] etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht« (Foucault 1977: 115). Es ist keine einzigartige, stabile und monodirektionale Kraft, sondern vielfältig und allgegenwärtig. Auch die Sexualität ist in dieser Perspektive von Macht bestimmt und produziert, aber von einer Macht, die nicht, oder nicht nur, extern und erdrückend-repressiv ist, sondern gleichzeitig verinnerlicht, tief verwurzelt in der Herausbildung des männlichen oder weiblichen Subjekts ist. Wie Judith Butler (vgl. Butler 2005) in Bezug auf Foucault zeigt, sind Subjektivierungs- und Unterwerfungsprozesse,

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das Ausüben von Macht und das ihr Ausgeliefertsein, zwei Seiten desselben Phänomens. Die beiden hier beschriebenen Positionen vermitteln jedoch eine eindimensionale Vorstellung von Macht (vgl. O’Connell Davidson 2001), für welche die Lehre Foucaults eine essentielle kritische Bereicherung darstellt. Sie lädt dazu ein, statische Vorstellungen von Machtverhältnissen über Bord zu werfen, einschließlich derer, die in der Beziehung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen bestehen. Die Überlegungen der Cultural Studies zu den Grenzen des Genderkonzepts, die durch Judith Butler mit ihren Werken Gender Trouble (vgl. Butler 2004) und Undoing Gender (vgl. Butler 2006) angestoßen wurden, gehen in die gleiche Richtung, hin zu neuen und autonomen subjektiven Bedeutungszuschreibungen. Die Umwälzung der Identität, das Infragestellen sexueller Etikettierungen, die Dekonstruktion nicht nur von Gender, sondern auch des Geschlechts als sozialem Produkt, sind einige der brisantesten Ergebnisse dieser Dekonstruktionsarbeit, die uns sogar dazu zwingt, die Dichotomie zwischen einer biologischen Männlichkeit und biologischen Weiblichkeit zu überdenken. Anhand der Konzepte von Gender und sexueller Differenz hat der Feminismus die kulturellen und sozialen Formen kritisiert, welche die Macht des Mannes über die Frau reproduzieren, und hat in diesem Zusammenhang die Prostituierte als Sexualobjekt des männlichen Begehrens par excellence dargestellt: als Opfer, Objekt, Ware, reinen Gebrauchswert. Auf diese Weise nimmt jedoch die Sexualität, die die Prostituierte im Tausch für Geld ausübt, also dem Kunden verkauft, eine eindeutige Bedeutung von Unterdrückung an. Die dem Markt der Sexualität innewohnende Problemstellung wird auf einen Kampf zwischen den Geschlechtern reduziert. Dies birgt nicht nur die Gefahr, die Vielschichtigkeit des Phänomens und seiner Problematiken zu übersehen, sondern auch, vermittels des feministischen Diskurses, Bewegungen des hegemonialen Diskurses der männlichen Macht, der jahrhundertelang die Frauen selbst ignoriert hat, zu reproduzieren und Stigmatisierungen und Mystifizierungen weiter zu bewahren.

W EDER H UREN NOCH H EILIGE , EINFACH F R AUEN Wie ist die Prostitution in Anbetracht der Mängel der dominanten Interpretationen also abschließend zu verstehen? Erstens gilt es, sie als ein vielfältiges und multidimensionales Phänomen zu sehen. Die darin enthaltenen individuellen Beweggründe, Machtverhältnisse und sich manifestierenden Formen von Sexualität stellen eine große Bandbreite dar, und im Hinblick darauf erweisen sich stereotype und monolithische Ansichten notwendigerweise als unvollständig. Zweitens können wir es ablehnen, Sexualität mit der Gesamtheit einer Person

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gleichzusetzen und die Prostituierte als eine Arbeiterin ansehen, die für ihren Lebensunterhalt eine persönliche Ressource, vielleicht ihre letzte, einsetzt und dafür nicht verachtet oder verurteilt werden darf. Zu diesem Zweck muss man denjenigen, die sich prostituieren, Gehör schenken und die Glaubwürdigkeit der Sex workers wiederherstellen, wenn diese die Einvernehmlichkeit des Vertrags und die Freiwilligkeit ihrer Entscheidung erklären. Nur so können wir uns auch den dunkleren Seiten des Phänomens, wie Menschenhandel, Ausbeutung und Zwangsprostitution von Migrantinnen, zuwenden, mit einem umfassenden Blick jenseits von einschränkenden Ansätzen und stereotypen Sichtweisen auf die Prostituierte (vgl. Chapkis 1997; Nagle 1997). Wir können uns also von der Stigmatisierung und Mystifizierung der weiblichen Sexualität befreien, auf denen die hegemonialen Darstellungen der Prostituierten basieren. Zudem können wir uns eine nicht-sexistische Welt vorstellen, in der Prostitution wahrscheinlich weiterhin existiert, doch auf einvernehmliche Weise und mit gegenseitigem Respekt, mit einer Garantie für das Wohl der beiden betroffenen Subjekte und vor allem ohne die Last des sozialen Stigmas (vgl. Kuo 2002). Wie schon ein alter Slogan des Feminismus sagte: Weder Huren noch Heilige – einfach Frauen. Né puttane né madonne, finalmente solo donne. Aus dem Italienischen von Nina Restemeier

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Biopolitik und Bio-Poetik: Der andere Blick auf die Kunst des Regierens

Die notwendige Literatur Skizze einer Biopoetik Michele Cometa

1. Biopoetik. Der Begriff Biopoetik zieht immer mehr Literaturwissenschaftler in seinen Bann. Dahinter steht einmal mehr Michel Foucault, dem der unbestreitbare Verdienst zukommt, dass er mehrere Male den sumpfigen Pfad, der die Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften verbindet, beschreiten wollte. Der Erfolg des Begriffs Biopoetik geht jedoch weit über das biopolitische Paradigma, das von Foucault eröffnet wurde, hinaus, auch wenn von diesem Ansatz die zentrale Herausforderung herrührt: das Neudenken von bíos und zoé in den inzwischen nicht mehr so unzugänglichen Falten des kulturwissenschaftlichen Gedankenguts. Anscheinend wollen die Literaturwissenschaftler die Widersprüche, welche uns zumindest seit der Romantik durch die These der zwei Kulturen beschert wurden, erneut miteinander konfrontieren. Die entscheidendsten Schritte in diese Richtung sind jedoch nicht von den Theoretikern einer umsichtigeren und sicher auch stichhaltigeren Kulturwissenschaft zurückgelegt worden, sondern von Wissenschaftlern, die sich, besonders im angelsächsischen Raum, am sogenannten Literary Darwinism orientieren. Die Literaturkritik – vor allem jene mit europäischen Wurzeln, die ja geneigt ist, den Einfluss des Darwinismus auf literarische Texte und sogar auf die Literaturtheorie brillant darzustellen –, wendet sich jedoch von diesen Ansätzen ab, indem sie lieber wieder den alten Fluch des Reduktionismus heraufbeschwört (sicher eines der Risiken einer auf die Kultur angewandten Evolutionstheorie), anstatt die Debatte offen anzugehen. In den Vereinigten Staaten hat vor mehr als einem Jahrzehnt die sogenannte Theorie heftig auf die Attacken von einer zunächst als eine Art Neo-Positivismus erscheinenden Strömung reagiert. Obwohl er auch von Geschichts- und Literaturtheorieexperten ausgeübt wird, hat der Literary Darwinism unmittelbar Ausgrenzung und betretenes Schweigen ausgelöst.1 Dennoch hatte der neodar1 | Ein Beispiel für harte Kritik ist die Doktorarbeit von Bankstone (vgl. Bankstone 1990).

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winistische Interpretationsansatz für Kunst und Literatur von Beginn an seine ›biopoetische‹ Berufung offengelegt. Bereits 1999 war der von Frederick Turner und Brett Cooke herausgegebene Band Biopoetics. Evolutionary Explorations in the Arts (vgl. Cooke/Turner 1999) erschienen. Sicher vor positivistischen und politisch zweideutigen Strömungen kam in Deutschland der Begriff Biopoetik in den Studien von Literaturwissenschaftlern wie Rüdiger Zymner, Katja Mellmann und Karl Eibl vor (vgl. Eibl 2003). Diese Autoren fördern das Studium der Literatur vor allem als ein »biokulturelles Konstrukt« (Zymner/Engel 2003: 8) und streben die Gründung einer »Biopoetik« (Zymner/Engel 2003: 8ff.)2 an, die mit der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie im Dialog stehen kann. Neben dem literarischen Darwinismus aus Übersee dient diesen deutschen Wissenschaftlern die deutsche philosophische Anthropologie als klarer Bezugspunkt. Diese hat sich stets mit Fragen zum ganzen Menschen auseinander gesetzt, zunächst anhand der Problemstellung von Leib und Seele, dann mittels eines entsprechenden Studiums elementarer Phänomene wie dem Spiel, der Lust oder dem Lachen. Letztlich hat sie sich kontinuierlich sowohl in theoretischen Ansätzen als auch post festum in der Ästhetik und der Literaturtheorie als eine »Bio-Anthropologie« (Eibl/Mellmann/Zymner 2007: 7) geäußert. Auf der angelsächsischen Seite geht Bryan Boyd bei der Anwendung evolutionärer Fragestellungen auf die Literatur explizit von der Annahme aus, dass »a bio-cultural model of the human can only be richer than a solely cultural model« (Boyd 2005: 1-23; vgl. Boyd 2006: 18ff.); darüber hinaus habe dies den Vorteil, dass es sich um einen wirklich kulturübergreifenden Ansatz handle. Die Autoren, zumeist Amerikaner, welche sich am von Joseph Carroll3 beeinflussten sogenannten Literary Darwinism orientieren, begeben sich jedoch ohne jedwede Scham in das Fahrwasser der Evolutionspsychologie, eben jener Disziplin, die versucht hat, die ›Soziobiologie‹ von ihren politischen Kompromissen und ihren rassistischen, eugenetischen und homophoben Untertönen zu befreien. Dies allein wäre Anlass genug, sich ohne Bedauern davon zu distanzieren, wenn uns nicht Studien, wie das jüngst erschienene und einflussreiche Buch Darwin und Foucault von Philipp Sarasin (vgl. Sarasin 2009), dazu ermutigen würden, uns in dieses Minenfeld vorzuwagen. Es handelt sich dabei nicht darum, kaum vertretbare intellektuelle Kaprizen zu fördern, sondern um eine unvermeidbare Notwendigkeit für all diejenigen, die heute Literaturwissenschaft im Sinne einer breiteren Kulturwissenschaft 2 | Karl Eibl, dem die erhellendsten Anregungen für die Herausbildung einer Biopoetik zu verdanken sind, spricht von der Schaffung einer »biologische[n] Poetik« (vgl. Eibl 2005: 9-25). 3 | Sein synthetisches Werk ist Literary Darwinism. Evolution, Human Nature and Literature aus dem Jahr 2004.

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praktizieren möchten. Gerade deshalb ist es notwendig, zum wiederholten Mal das kulturwissenschaftliche Mantra zu wiederholen und von einem bio-cultural turn der Literaturtheorie zu sprechen. Es geht offensichtlich erneut darum, eine Grenze, eine epistemologische Schwelle zu überschreiten, nicht für jenen Ausflug auf das Land, an den uns die internationalen Cultural Studies gewöhnt haben, sondern um den Diskurs dort wieder aufzunehmen, wo ihn Figuren wie Ernst Cassirer oder Aby Warburg zurückgelassen haben: auf der Schwelle des notwendigen Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Kultur/Geisteswissenschaften, zwischen Lebens- und Kulturwissenschaften. Ein Dialog, den die Schwemme an kulturwissenschaftlichen Interpretationen letztlich eher erstickt als angefacht hat. Ein Dialog, der möglich ist und den wir schließlich seit jeher vor Augen haben, vorausgesetzt man findet sich damit ab, zeitweilig die kulturwissenschaftliche Brille abzusetzen und ihn mit der Kulturkritik des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Wir bewegen uns also zweifelsohne auf einer neuen Grenze der Literaturtheorie, sodass man sogar in Italien begonnen hat, diesbezüglich die neusten Entwicklungen aufzugreifen. Man denke an die ersten Versuche, die jüngsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften explizit auf den literarischen Diskurs anzuwenden, wie beispielsweise in der Arbeit von Massimo Salgaro (vgl. Salgaro 2009)4 , an die Forschungen der ›Bioästhetik‹ von Pietro Montani (vgl. Montani 2007) oder schließlich an die von Stefano Calabrese vorangetriebene ›Neuronarratologie‹ (vgl. Calabrese 2009). All diese Forschungen öffnen den Naturwissenschaften in der Ästhetik und der Literaturtheorie gewiss wieder Tür und Tor. Aber sie tun dies alles in allem von einer elitären, in gewisser Weise beruhigenden und der sich noch entwickelnden Perspektive der Neurowissenschaften aus. Es ist jedoch etwas ganz anderes, dem Thema nicht auf der Basis von neurowissenschaftlichen Forschungsperspektiven – die sich gewiss als besonders interessant herausstellen, aber allesamt noch auf experimenteller Ebene definiert werden müssen –, sondern mit der harten Realität der evolutionären Option zu begegnen, einem Ansatz, der Zeit genug hatte, sich theoretisch zu festigen und sich weit über einhundert Jahre lang gesellschaftlich konkretisiert hat. Und dies in keinesfalls tröstlichen Versionen, wie die ideologische Manipulationen der Eugenetik und des Rassismus im 20. Jahrhundert, aber auch das Wiederaufkommen der harten und alles andere als leicht auszurottenden post-wilson’schen Soziobiologie zeigen. Den Dialog zwischen Lebenswissenschaften und Literaturtheorie wieder zu eröffnen, bedeutet in erster Linie, sich diesen unangenehmen und peinlichen 4 | Salgaros Verso una neuroestetica della letteratura (vgl. Salgaro 2009) ist als ein erster Versuch zu verstehen, die Forschungen der Neurowissenschaften ins Zentrum der literarischen Debatte zu stellen.

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Reisegefährten zu stellen und sich an einem border crossing zu versuchen, das oft sowohl politisch inkorrekt als auch destabilisierend ist. Es handelt sich tatsächlich darum, den sog. ›toleranten‹ Relativismus unserer Literaturtheorie mit dem oft erdrückenden Positivismus der Biologie zusammenzubringen. Fragen wie die ›Universalien‹, das ›Überleben‹ oder die ›natürliche Selektion‹ können sicher durch die schwachen Qualitäten unserer Hermeneutik versüßt werden, sie beschreiben aber an sich Phänomene, die gemeinhin nicht aus unserer Beobachtungsgabe resultieren. Im Hinblick auf das Literatur und Evolutionismus muss also der weit schwierigere Schritt gemacht werden, sich in Gebiete vorzuwagen, für welche die Literaturwissenschaft, so wie wir sie kennen und praktiziert haben, sehr wenig Raum bietet. 2. Literary Darwinism. Es sei uns gestattet, in provisorischer Weise einige der fundamentalen Thesen vorzustellen, in denen die sich am literarischen Darwinismus angelsächsischer Prägung orientierenden Wissenschaftler übereinstimmen, um sodann einige Schnittstellen dieser Linie mit der weiter gefassten literarischen Anthropologie aufzugreifen, wie sie sich seit der deutschen philosophischen Anthropologie und ausgehend von den Foucault’schen Ansätzen gestaltet. Die Grundthese, von der jede Erfahrung des literarischen Darwinismus ausgeht, lautet, dass die Kunst (die Literatur) der menschlichen Spezies evolutionäre Vorteile bietet, da sie Formen der Anpassung an die Umgebung übermittelt.5 Andere vertreten die durch den Linguisten Steven Pinker (vgl. Pinker 1997) berühmt gewordene, aber von vielen anderen Darwinisten (vgl. insb. Dutton 2009: 85-102) kritisierte These, dass die Kunst vielmehr ein Nebenprodukt (by-product) der evolutionären Anpassung sei, eine Art Überschuss und Luxus, den sich unser großes Gehirn auch über die Vorteile auf der Ebene des Überlebens oder der sozialen Ökonomie hinaus leisten kann. Die klassische Adaptationsthese wird durch eine Reihe von Beobachtungen des menschlichen Verhaltens und der Gehirnstruktur erklärt. Im Fall der spezifisch menschlichen Verhaltensweisen ist es offensichtlich, dass das Spiel – über das die Kulturwissenschaften sehr eingehend reflektiert haben (Huizinga, Caillois, Fink etc.) – als eine Aktivität mit Selbstzweck und klaren Anpassungswertigkeiten angesehen wird. Insbesondere die Fähigkeit zur Fiktion, welche Voraussetzung für jedes spielerische Verhalten ist, hat eine Doppelfunktion: Auf der einen Seite reduziert sie den Stress, indem sie die Realität entmaterialisiert und so eine psychische Distanz aufbaut; auf der anderen Seite erlaubt sie auf der Basis individueller und kollektiver Erfahrung, die ja direkt über die Sprache und andere Kommunikationsformen übermittelt wird, andernfalls nicht vorstellba5 | »It offers tangible advantages for human survival and reproduction, and it derives from play, itself an adaptation widespread among animals with flexible behaviours« (Boyd 2009: 1).

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re Lösungen zu generieren. Abgesehen von seiner maßgeblichen Eigenschaft, die Wirklichkeit zu suspendieren oder vorwegzunehmen, ist das Spiel auch ein außergewöhnliches Kommunikationsmittel, da es sehr viel komplexere Erfahrungen (Bryan Boyd, Ellen Dissanayake) in wenigen pattern (Formeln, Regeln) verdichtet. In diesem Sinne zielt die Kunst (die Literatur) darauf ab, Konzepte und Erfahrungen, die sonst enormen energetischen Aufwand beanspruchen würden, zu vereinfachen und durch die rituelle Wiederholung zu festigen. Die Kunst (die Literatur) bringt evolutionäre Vorteile, nicht nur, weil sie Spiele erschafft, die Spaß machen, Stress abbauen und das Leben vereinfachen, sondern auch, weil sie Informationen liefert, die ökonomisch vorteilhaft übertragen werden. Ihre Aufnahme erfordert keine körperliche Anstrengung; Zeit und Raum sind komprimiert, was das Verständnis erleichtert und natürlichere, artenspezifischere Rhythmen berücksichtigt und bevorzugt. Dies gilt insbesondere für die ›Erzählung‹, welche die ökonomischste Form ist, um »fitness related informations« (Sugyama 2001: 242; vgl. Sugyama 1996, 2003) zu übertragen und welche gleichzeitig die vollständigste und überzeugendste »holistic simulation of human experience« (Sugyama 2005: 190) darstellt. Derartige Simulationen werden in erster Linie dank des Einsatzes von Metaphern möglich, eine Fähigkeit, die den Menschen von den anderen Tieren unterscheidet (George Lakoff/Mark Johnson/Mark Turner) und die sich auch als ein spezifisch menschliches kognitives Instrument erweist, bei dem sich Lust und Information, Phantasie und Wissen gegenseitig ergänzen. Eine Metapher zu verwenden, bedeutet, sich andere Erzählungen vorzustellen – im Gegensatz zu denen, die aus der reinen Wirklichkeitsbeobachtung hervorgehen (Jerome Bruner/ Robert Storey). Derartige Erzählungen gestatten uns tatsächlich – wie schon Aristoteles wusste – Hypothesen auf die Realität zu projizieren (wie sie ist, aber auch wie sie sein könnte oder sein sollte). Es ist bezeichnend, dass Mark Turner, obwohl er auf die übliche antidekonstruktivistische Kontroverse eingeht, letztendlich den Begriff blending (Fusion, Mischung)6 in den Mittelpunkt seines eigenen Diskurses stellt. Dieser beschreibe eine der essenziellen Charakteristiken des literarischen Denkens, das auf den jüngsten und kontroversen Erkenntnissen zur Formbarkeit des menschlichen Gehirns beruhe. Die Erzählung, so Turner, bediene sich ständig der Fusion, der freien Assoziationen und mutigen Verdichtungen sonst zerstreuter Elemente und stelle so nicht mehr die Ausnahme bezüglich der natürlichen Funktionsweise des Gehirns dar, sondern schlicht die Basis des menschlichen Denkens.

6 | »At the most basic levels of perception, of understanding, and of memory, blending is fundamental« (Turner 1996: 110) sowie »Blending is a basic process; meaning does not reside in one site but is typically a dynamic and variable pattern of connection over many elements« (Turner 1996: 112).

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So kommt der Literatur eine Hauptrolle bei der Erklärung der Funktionsweise des Hirns zu, auch aus Sicht der strengsten neurowissenschaftlichen Hypothesen: »Literary process like blending make the everyday mind possible.« (Turner 1996: 115) Insofern erscheinen die poststrukturalistischen Hermeneutiken und die Neurowissenschaften nicht mehr so unversöhnlich. Es gibt Wissenschaftler, wie Ellen Spolsky, die in dieser Tatsache gar die große Versöhnung der zwei Kulturen sehen. Die Fähigkeit der Fiktionen, in sich widersprüchlich und zweideutig zu sein (wie zum Beispiel die Mythologien), hinge allenfalls von der modularen Struktur des Gehirns ab, das diese kognitiven gaps und multiplen Identitäten ermöglicht und zu ihnen ermutigt. Dies gelte ebenso für die zahlreichen gezwungenermaßen unpräzisen Prozesse der Informationsverarbeitung (vgl. Spolsky 1993). Jene Zweideutigkeit wird, wenn man sie in ihren extremen Konsequenzen betrachtet, von einigen Autoren als eine Form interpretiert, die sich, da sie die Lüge, das Nicht-Wahre und die Täuschung favorisiert, wie bei vielen anderen Tieren in dem Anpassungsvermögen niederschlägt, welches es dem Einzelnen wie auch der Spezies ermöglicht, den Nächsten zu seinem eigenen Vorteil zu »betrügen« (David Livingstone Smith)7. In Spolskys Auslegung führt diese Fähigkeit letztlich vor allem dazu, jene künstliche Grenze zu überschreiten, die sich zwischen der Positivität der genetisch bedingten Verhaltensweisen und den kulturellen Wahlmöglichkeiten des Individuums auftut, da Letztere in ihrer Exzentrik und Unvorhersehbarkeit gerade das Produkt der konstitutiven Unvorhersehbarkeit des menschlichen Hirns seien. Tony Jackson (vgl. Jackson 2000: 338, 1995, 2002) weist richtig darauf hin, dass diese Revision der Vorstellung, die wir vom Geist bzw. Bewusstsein haben, erlaubt, gerade die vom Poststrukturalismus theoretisierte Ambivalenz und multiple Identität innerhalb der bio-kulturellen Perspektive wieder aufzunehmen – eine Position, die übrigens auch von Autoren wie Daniel Dennet vertreten wird. Um Kunst (Literatur) erklären zu können, muss also ihre Koevolution mit der Struktur des menschlichen Gehirns berücksichtigt werden. Eine Hypothese, die sich durchaus von selbst versteht, aber dennoch von Julian Jaynes (vgl. Jaynes 1976) in einem gewaltigen Buch entwickelt wurde, in dem er vom bikameralen Geist als einem erst vor kurzem eingetretenem Evolutionsergebnis ausgeht. Im spezifischen Kontext des literarischen Darwinismus wird dies von Paul Hernadi aufgegriffen. Dieser sieht in der Narrativität den letzten Beweis für 7 | »The purpose of reception is to manipulate the behaviour of others to one’s own advantage. Consequently, successful deceivers have the edge in the struggle for existence. We human animals are natural born liars too, and our lies have the same biological purpose as the deceptive strategies of non-human organism« (Smith 2008: 275). Smith ist Autor des Bandes Why We Lie: The Evolutionary Roots of Deception and the Unconscious Mind (vgl. Smith 2004).

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eine Koevolution von Natur und Kultur und er besteht auf den ›kooperativen‹ Aspekt (Autor/Empfänger), auf dem die Kunsterfahrung gründet: »In particular, I interpret literary pleasures (whatever their present contribution to our personal and social well-being may be) as indicative of literature’s past power to make its devote more astute planners and problem solvers, more sensitive and empathetic mind readers, and more reliable co-operators than their conspecific rivals.« (Hernadi 2002: 26)

Hernadi zufolge äußert sich diese Kooperation besonders klar, wenn wir virtuelle Welten »erschaffen«: »The protodramatic, protolyric, and protonarrative ›institutions‹ of literature enabled our early ancestors to participate in rituals, chanting, and storytelling as socially sanctioned communal practices of role-playing, oblique communication, and counterfactual representation. Accordingly, one of literature’s adaptive functions could well have been (as one of its educative functions still is) to sharpen our skills for producing and recognizing different kinds of pretence, irrelevance, and fantasy outside the literary domain as well. Needless to say, literary experience enables more than the exercise of certain mental muscles needed to turn humans into smarter cheaters and liars or into shrewder cheater- and liar-detectors. At least as important, trafficking in literature’s virtual realities can open new horizons for human expression, communication, and representation. In other words, literature allows us to explore more fully than we could without it, just what can be publicly expressed, communicated, and represented – as well as privately felt, willed, and believed.« (Hernadi 2001: 63)

All dies ist möglich, weil die menschliche Spezies eine Art »cocreative play of imaginative world-making« (Hernadi 2001: 67) kultiviert hat, was ihr nicht nur ein besseres und längeres Überleben garantierte, sondern ihr auch erlauben wird, neue Fähigkeiten zu entwickeln, welche geeignet sind, auch in Zukunft neue Herausforderungen im Hinblick auf die Anpassung zu meistern. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass lange vor dieser Debatte Personen, wie etwa Emilio Garroni, in Italien auf der Notwendigkeit bestanden – übrigens in der renommierten und innovativen Enciclopedia Einaudi (1978) –, dass die Ästhetik, und zwar ausgehend von Begriffen wie ›Kreativität‹, die Debatte mit den Naturwissenschaften eröffnen müsse (vgl. Garroni 2010). Eine weitere Perspektive für die Forschung nach den Wurzeln und der Funktion von Kunst und Literatur im Kontext der Evolutionstheorie verharrt jedoch nicht mehr nur bei den adaptiven Vorteilen, die aus der geistigen Veränderung und der sozialen und kommunikativen Effizienz rühren. Diese Effizienz ist hierbei auf ein verringertes Gewicht der Realität zurückzuführen – eine These, die, wie wir sehen werden, Blumenbergs ›Entlastung vom Absolu-

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ten‹ aufnimmt –, ebenso wie auf eine affektive Katharsis und auf einem durch Hypothesen und Fiktionen verfeinertem Verständnis. Vielmehr muss eine solche Forschung bei der Idee ansetzen, dass sich Kunst evolutionär auf der Ebene der sexuellen Selektion determiniert. So wird eine – für Kulturwissenschaftler noch immer ungenießbare – These von Darwin aufgenommen, gemäß der die ästhetische Produktion des Menschen, sowohl was sein eigenes Äußeres (attractiveness) als auch die Zurschaustellung seines formalem Talents (skills) betrifft, die Partnerwahl steuert und so auch reproduktive Vorteile bietet (vgl. Miller 2000). In Bezug auf die Annahme, dass sich komplexe und aufwändige Formen wie die Literatur oder die Musik und gar allgemein die Struktur des menschlichen Gehirns lediglich gemäß ökonomischen oder sozialen Vorteilen entwickelt haben könnten, sind die Theoretiker der sexuellen Selektion jedoch recht skeptisch. Zumal wir Phänomene wie den bunten Pfauenschweif leicht mit Schönheit und sexueller Anziehung verbinden, anstatt ihn als einen Überlebensvorteil zu betrachten. Warum sollte die Natur einen solchen Überfluss zulassen, wenn er nur einen Zeit- und Energieverlust darstellt und, was noch viel wichtiger ist, im täglichen Leben manchmal sogar von Nachteil ist? Miller schlägt vor, das Augenmerk vom Überleben auf die Liebespraktiken (courtship; Miller 2000: 3) zu richten: »Every one of our ancestors managed not just to live for a while, but to convince at least one sexual partner to have enough sex to produce offspring. Those proto-humans that did not attract sexual interest did not become our ancestors, no matter how good they were at surviving.« (Miller 2000: 3)

An sich würde die These auch aus einer kulturwissenschaftlichen Sicht akzeptiert werden, wenn ihre theoretischen Prämissen nicht mit vielen modernen ethischen und politischen Aspekten brechen würden. Insbesondere wenn man auf die »natürliche Polygamie« des Mannes besteht oder auf Fragen, die eher von typischen Vorurteilen der patriarchalischen Gesellschaft als von der ethologischen Beobachtung geprägt sind. 3. Zur (provisorischen) Kritik des Literary Darwinism. Es versteht sich von selbst, dass wir uns auf einem Gebiet bewegen, auf dem wir eine gewisse Familienatmosphäre wahrnehmen. Aber wie in allen Familien fehlen die peinlichen Verwandten, die entschiedenen Antipathien und die Streitigkeiten nicht. Bevor einige Arbeitshypothesen zur Begründung einer Biopoetik formuliert werden sollen, wird es also notwendig sein, ganz offen den unbequemen Verwandten dieser Familie zu begegnen: dem Reduktionismus der Evolutionspsychologie, dem Kryptorassismus und der Metaphysik an den Ursprüngen des literarischen Darwinismus, der Homophobie und der Frauenfeindlichkeit, welche häufig die Theorien der sexuellen Selektion begleiten und zu Grunde

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liegen. Es ist eine relativ leichte Aufgabe, da wir ja im Enthüllen der heimtückischsten Züge des rechten Gedankenguts8 und des naturphilosophischen Irrationalismus geübt sind. Von den Dingen auszugehen, die unsere kulturwissenschaftliche Mentalität am meisten irritieren, ist gewiss eine gute Methode, um leichtfertige Begeisterungsstürme über diese neuen Forschungsbereiche zu vermeiden. Der Unmut konzentriert sich vor allem auf zwei Fragen. Die erste ist der Reduktionismus der Evolutionspsychologie, die jede menschliche Erfahrung degradiert, auch wenn sie auf der Basis von wenigen – und meist willkürlichen – Analogien mit der Tierwelt recht weit entwickelt ist. Ein typisches Beispiel ist die darwinistische Lektüre der großen Literaturklassiker, wie sie vor allem von jenen praktiziert wird, die sich mit der sexuellen Selektion befassen. Der eklatanteste Fall, der würdig ist, zitiert zu werden, ist der von David P. Barash und Nanelle R. Barash, deren nüchterner Stil und Understatement sie nicht vor Vereinfachungen schützt, die ans Groteske grenzen. Ihr glücklich gewählter Titel Madame Bovary’s Ovaries. A Darwinian Look at Literature fasziniert sicher durch seine Apodiktik, aber leider hält er auch, was er verspricht: eine Reduktion der größten Meisterwerke der Weltliteratur, von Othello bis Anna Karenina, von Les Miserables bis zu Madame Bovary auf eine Illustration der elementaren tierischen Verhaltensweisen: von der Eifersucht bis zum Ehebruch, von der Brutpflege bis zum Altruismus, was der Aussage gleichkommt, dass sich die gesamte große Literatur an den großen Themen der Menschheit orientiert. Bis dahin nichts Verwerfliches, wenn bei der Darstellung dieser elementaren Verhaltensweisen nicht der Eindruck entstünde, dass diese schon immer als allgemeines Erbe des Menschengeschlechts auftraten – was sich sicher über Jahrtausende gefestigt hat. Barashs Darstellung berücksichtigt jedoch in keinster Weise die kulturellen Korrektive, die der Mensch vorgenommen hat, ein Aspekt, der in den Thesen der umsichtigsten Evolutionswissenschaftler genau den enormen evolutionären Vorteil darstellt, den sich der Mensch im Vergleich zu den anderen Tieren verschaffen konnte. Wie es Denis Dutton klar auf den Punkt bringt: »It is evolution – most significantly, the evolution of imagination and intellect – that enable us to transcend even our animal selves.« (Dutton 2009: 9) So ist im Buch der Barashs im Kapitel zu Madame Bovary zu lesen: »Biologists understand that a major reason why Emma wanted sex with Rodolphe, Léon, and the Marquis (the last unconsummated) was because deep inside (in the DNA of her brain) she heard a subliminal Darwinian whisper that tickled her ovaries, even though she may not have acknowledged it and would likely have even acted consciously against

8 | Als Abhilfe empfiehlt es sich, die bedeutenden Studien von Furio Jesi zu lesen, insbesondere La cultura di destra (vgl. Jesi 1993).

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M ICHELE C OMETA such an outcome. Smart women sometimes really do make foolish choices, and whiff of Darwin enables us to glimpse some of the reasons why.« (Barash/Barash 2005: 101)

Eine derartige Vereinfachung verstimmt den Leser nicht nur aufgrund ihres Reduktionismus und der unerträglichen Banalisierung der Bedürfnisse einer Figur mit einer komplexen und widersprüchlichen Sexualität wie Madame Bovary (und mit ihr ebenso Flaubert) auf einen vagen Ruf der Eierstöcke, sondern enttäuscht letztlich sogar Darwinisten selbst, die den sexuellen Impuls (die Barashs verwechseln darüber hinaus die menschliche Sexualität häufig mit der Reproduktion!) nicht nur für ein in der DNA tief verborgenes (»deep inside«) »Murmeln« (»whisper«) halten würden, sondern allenfalls für eines jener starken Bedürfnisse, mit denen die Kultur einen Kompromiss schließen musste. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine kulturelle Erklärung von Madame Bovarys Verhalten nicht nur überzeugender und vielschichtiger ausfallen würde, sondern zweifelsohne auch erlauben würde, auch die sexuelle Dimension mit einzubeziehen (die, ich wiederhole es noch einmal, sich nicht auf den einfachen Fortpflanzungstrieb mit immer perfekteren Partnern reduzieren lässt). Darüber hinaus gibt es aber noch einen gewichtigeren Grund für unsere Verärgerung auf diesen Reduktionismus, nämlich, dass dieser häufig als die ›natürliche‹ und notwendige Reaktion gegen die Übermacht der Theorie – wie es die Amerikaner nennen – und vor allem der Hermeneutik und des Dekonstruktivismus betrachtet wird. An dieser Stelle wäre sicher Joseph Carrol9 zu nennen, der es auf sich genommen hat, mit größter Entschlossenheit die Gründe für einen »heiligen 9 | Und es ist auch Carrol, welcher der gesamten Evolutionspsychologie kurzerhand die Forschungsagenda auferlegt, indem er die Fragen, welche sich jene Disziplin vor allem in der post-wilson’schen Epoche gestellt hat, mit den Forderungen vermengt, die eindeutig nicht nur die persönlichen Vorlieben Carrols aufdecken, sondern auch die Erwartungen einer Intelligentia, die vorgibt, in der Objektivität Wissenschaftlichkeit zu finden und in der Empirie die Bestätigung ihrer eigenen gänzlich ideologisch aufgeladenen Wünsche. Es sollte genügen, die im Folgenden wiedergegebene Aufzählung zu überfliegen, um sich bewusst zu werden, dass es sich offensichtlich nicht nur um eine wissenschaftliche Herangehensweise an die Literaturtheorie handelt: »A detailed survey of current problems in evolutionary psychology would include the following issues: the pace and nature of the evolution of language; the role of sexual selection in the development of higher cognitive faculties; homosexuality as adaptation, by-product, or dysfunction; the relative causal force of foraging, innovation, group size, and social interaction in the evolution of the enlarged human brain; the relative causal force of male provisioning and female coalitions in the evolution of human family structures; the adaptive significance of individual differences in personality; the relation between cognitive »modules« and »general intelligence«; the number and character of »basic emo-

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Krieg« (oder »kalten Krieg«?) gegen den Poststrukturalismus darzulegen.10 Zudem äußerte Carrol mehrfach die Ansicht, dass der Vorwurf des Reduktionismus unnötige Polemik sei, da die Rückführung jedes theoretischen Ansatzes auf einfache und überprüfbare Fakten für ihn allenfalls das Gebaren wahrer Wissenschaftlichkeit ist. Er fordert empirische Beweise, und verärgert die Kulturwissenschaftler mit der Behauptung, eine größere Vereinfachung führe zu umso verlässlicheren Erklärungen im Bereich der abendländischen Epistemologie (vgl. Carroll 2008: 128ff.). Übrigens steht der Beweis noch aus, dass der den exakten Wissenschaften so notwendige ›Reduktionismus‹ auch in den Kulturwissenschaften funktionieren kann, die hingegen ihre Kulturbasis11 in der Komplexität12 sehen. Abgesehen von diesen Kontroversen liegt es auf der Hand, dass der evolutionäre Ansatz denjenigen perplex zurücklassen muss, der die Frage der Kunst von historischen und kulturwissenschaftlichen Paradigmen aus betrachtet. Wir beschränken uns auch in diesem Fall auf ein synthetisches Memorandum. Begriffe wie Kunst und Literatur werden im Literary Darwinism zu verallgemeinernd verwendet, was letztlich oft auf vorsätzlich verschleierte Weise unser (das heißt das westliche) Verständnis von Kunst auferlegt. Das Gleiche gilt für tions«; the interactions between basic emotions and Theory of Mind in the formation of more complex emotions; the limits of plasticity in the correlation between adaptively conditioned motive structures and affective responses; the exact character of the interactions between evolved cognitive mechanisms and fitness maximizing algorithms in human nature; the origin and nature of »altruism«; the existence of »tribal instincts« or social dispositions extending beyond kin but not restricted to direct social exchange; the exact nature of the interaction among multiple levels of selection (the gene, the individual, the kin group, and the larger social group); interactions among dominance, cooperation, and symbolic thinking in the evolution of elementary political dynamics; the way elementary political dynamics constrain complex social formations that contain advanced functional specialization and elaborate status hierarchies; the precise nature of gene-culture co-evolution; the adaptive function of religion; and the adaptive function of literature and the other arts.« (Carrol 2008: 315) 10 | Eine glänzende Intervention in diese Polemik folgt von T. Jackson in Questioning Interdisciplinarity: Cognitive Science, Evolutionary Psychology, and Literary Criticism, der sich hier offensichtlich erinnert, dass nicht jede Art der Evolutionspsychologie oder des Evolutionismus auf den viktorianischen Determinismus (vgl. Jackson 2000: 324) oder auf die kryptorassistische Soziobiologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reduziert werden kann. 11 | Derselben Meinung ist Goodhearth (vgl. Goodhearth 2008: 181ff.). 12 | Zum Thema kulturelle »Komplexität« vgl. die hervorragende und effiziente Zusammenfassung von F. Remotti Cultura. Dalla complessità all’impoverimento (vgl. Remotti 2011); ein Text, der überdies viele Anregungen zur hier behandelten Frage bietet.

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Begriffe wie Imagination, Phantasie, Vorstellungsvermögen etc., für Konzepte, deren Universalität erst noch zu beweisen wäre. Es ist hingegen ein bemerkenswertes Abstraktionsvermögen nötig, um von der Literatur (ein relativ modernes und geographisch sehr begrenzter Begriff) zur Narrativität zu gelangen, welche eine gänzlich andere Sache ist und mehr Chancen hat, korrekt als eine universelle, menschliche Tatsache angesehen zu werden. Es dürfte also klüger sein, über den Impuls zur Fiktion zu arbeiten als zu versuchen, biologische Interpretationen von Madame Bovary oder Anna Karenina zu geben. Ebenso ärgerlich ist die Verwendung einer unkontrollierbaren Chronologie und der kontinuierliche Hinweis auf Evolutionsphasen der Menschheit – in der Regel das Pleistozän –, deren paläoanthropologische Erkenntnisse noch recht begrenzt sind und deren Analyse tendenziell in unerträgliche Anachronismen (fiction im Pleistozän?) oder in eine nahezu unverheuchelte und gänzlich spekulative Metaphysik der Ursprünge mündet. Der Exzess an Aufmerksamkeit und Enthusiasmus für die Prähistorie der Kunst und der Literatur (Homer oder Gilgamesch) entpuppt sich häufig als das, was es ist: ein ganz modernes Mythologem, Erbe der Querelle des Anciens et des Modernes. Die übertriebene Aufmerksamkeit für die Ursprünge führt schließlich dazu, die Rezeption von künstlerischen und literarischen Schaffen zu vernachlässigen (vgl. Jannidis 2008: 220). Ein weiteres Problem der Anwendung von soziobiologischen und evolutionspsychologischen Paradigmen auf die Literatur, welche vielleicht gar von einer reichen Datenbasis gestützt werden (vgl. Gottschall 2007: 1-23), ist die Verwirrung, die zwischen fiktionalen und wirklichen Fakten gestiftet wird, indem zum Beispiel als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass die Verhaltensweisen der literarischen Figuren sic et simpliciter als Verhaltensweisen von realen Personen interpretiert werden können oder, was noch schlimmer ist, dass die Reaktionen der Leser auf das Verhalten der Figuren auf die gleiche Ebene gestellt werden dürfen wie Reaktionen gegenüber realen Personen (manche Überlegungen zu den Reaktionen realer Leser in Bezug auf das sexuelle Verhalten von fiktionalen Figuren sind immer fraglich (vgl. Fox 2005). Letztlich scheint sich ein exzessiver Bruch zwischen den Evolutionstheorien (im Hinblick auf Kognition und Hirnstruktur) und den daraus resultierenden literaturwissenschaftlichen Anwendungen aufzutun, da die evolutionäre Theorie ein zu weites Feld bleibt, um einzelne Werke oder einzelne Themen herauszugreifen.13

13 | T. Jackon meint jedoch, dass die Unversöhnlichkeit und letztlich die Unerheblichkeit dieser interdisziplinären Dimension auch aus dem Umstand rührt, dass in diesem speziellen Fall die Theorie durch keine kritische Anwendung und keine Praxis modifiziert werden könne, eine Dialektik, die aufgrund ihrer Interdisziplinarität als essenziell angesehen wird (vgl. Jackson 2002: 176ff.).

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4. Eine familiäre Atmosphäre: Perspektiven des Literary Darwinism. Die Tatsache, dass die Ansätze der Evolutionspsychologie und der Soziobiologie bzw. des literarischen Darwinismus, welche die Hermeneutik und die poststrukturalistische Kritik von vornherein ablehnen, uns reduktionistisch erscheinen oder dass diese in Anbetracht einer Jahrtausende alten Sicht die abgedroschensten Gemeinplätze einer kleinbürgerlichen Mentalität14 darstellen, bedeutet deshalb noch lange nicht, dass diese Fragen gänzlich irrelevant wären, um die Genese, die Funktionsweise und die Notwendigkeit dessen zu erklären, was wir historisch als Literatur oder Kunst bezeichnen. Sicher wird man sich daran gewöhnen müssen, heute ziemlich schwer in den Kontext einer literarischen Theorie einzugliedernde Fragen zu vertreten, unbequeme Fragen, wie die zu Universalien – welche die Literaturtheorie ja seit Jahrhunderten stellt – und somit auch zur menschlichen Natur oder der Hirnstruktur, Fragen, die uns jedoch dabei helfen könnten, das Fortbestehen der Literatur über die Jahrhunderte und die Kulturen hinweg zu erklären. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um verständlich zu machen, dass die Literaturtheorie vor einer recht komplexen Herausforderung steht. Sie ist gezwungen, ihre eigenen Überzeugungen häufig radikal zu hinterfragen, dies hat eine Konfrontation zur Folge, der sie genau genommen nie wirklich ausgewichen ist. Mehr noch: Rekonstruiert man ihren Dialog mit den Naturwissenschaften auf der Ebene der Ideengeschichte, so wird sofort klar, dass die Überschneidungen, die Hybridisierungen der beiden Wissenschaftsbereiche im abendländischen Denken an der Tagesordnung waren und selbst die entscheidendsten Entwicklungsmomente der Ästhetik und der Naturwissenschaften systematisch begleitet haben. Man wird sehr schnell bemerken, dass dieser Dialog zu keiner Zeit wirklich unterbrochen wurde und gemeinhin in den topischen Momenten zu Tage tritt, auch und vor allem auf dem Gebiet der Ästhetik. Ab ihrer Gründung als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (aisthesis) konnte diese ihrerseits die wichtigsten Erkenntnisinstrumente ja gar nicht ignorieren: die Sinne und den Körper. Die im Namen eines umso strengeren Mentalismus und Psychologismus erfolgte zunehmende Distanzierung von den Sinnen hat zu nichts geführt, 14 | Auf unangenehme Weise tut sich, selbst in Texten, die offensichtlich der Literatur gewidmet sind, die Idee hervor, dass die Homosexualität, da sie dem Fortpflanzungsimpuls gegenläufig ist, im Kontext der Evolution als Pathologie angesehen werden muss. Es ist unbegreiflich, warum diese natürliche »Dysfunktion« ein Element für die Beurteilung der Literatur sein sollte, deren Geschichten und deren Autoren häufig eine homosexuelle Dimension thematisieren. Es ist offensichtlich, dass hier eine natürliche »Dysfunktion« vom sozialen Gesichtspunkt aus als normativ betrachtet wird, deren »Funktion« auf der evolutionären Ebene jedoch erst noch zu klären ist (vgl. Carroll 1995: 163ff.).

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wenn man heute, gerade auf dem Gebiet der Neurowissenschaften, zum stetigen Zusammenwirken von Kognition und Emotionen, von Sinnen und abstrakten Gedanken forscht. Einige einfache Zitate werden die Relevanz dieses Vergleichs zwischen den nunmehr in ihren Zielen und Methoden so stark auseinanderdriftenden Disziplinen klar hervorheben: »Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.« (Aristoteles 1982: 11) »Ausgehend von der Primatenforschung […] haben Ergebnisse, die aus Studien zum Neuroimaging und zur Magnetstimulation an Menschen [stammen, d. Ü.], ein System von Spiegelneuronen offengelegt, das bei Affen die gleichen Funktionen erfüllt. Beim Menschen hingegen äußert sich das System der Spiegelneuronen über die Imitation. Es ist von weitaus größerer Bedeutung, denn die Imitation ist grundlegend für unsere Fähigkeit zu lernen sowie Kulturen und örtliche Traditionen weiterzugeben, eine Fähigkeit, die exponentiell viel größer ist als bei Affen.« (Iacoboni 2008: 222ff.)

Zwei weitere Zitate: »Helfen wollen die Dichter oder doch uns erfreuen/oder beides: die Herzen erheitern und dienen dem Leben./[…] Beifall bei allen erringt, wer Nützliches mischt mit der Liebe,/Freude dem Leser bereitend und gleichermaßen ihn mahnend.« (Horatius 2000: 271) »There are two issues to be distinguished. First, there is the adaptive usefulness of fiction, its functional benefits, from Pleistocene campfire to modern novels and movies. Second, there is the pleasure – and perhaps related felt satisfaction that are not well described as immediate pleasure – which experience of fiction evokes.« (Dutton 2004: 457)

Das erste, wohl bekannte Zitat ist eine der Annahmen, auf denen Aristoteles’ Poetik gründet; das zweite stammt aus einem weit verbreiteten Text zu den Entdeckungen des von Giacomo Rizzolatti geleiteten Forscherteams aus Parma. Das dritte ist noch bekannter und gehört zum klassischen Repertoire der Ästhetik, selbst der modernen. Es handelt sich um den berühmtesten Passus aus Horaz’ Ars poetica, während das letzte Zitat erneut aus der Abhandlung The Pleasures of Fiction von Dennis Dutton entnommen ist.

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Es sollte also nicht schwierig oder abwegig sein – selbst auf rein geschichtlicher Basis –, Konzepte zu rekonstruieren, welche sowohl in der Literaturtheorie als auch in den Lebens- und Evolutionswissenschaften anzutreffen sind, nämlich eine Biopoetik. Die Begriffe dieses Dialogs könnten die empathische Aktivierung einiger Hirnregionen und die kathartische Funktion der Gefühle sein, ebenso wie das Nachlassen der Spannung, die Wiederspiegelung15 der von unseren Mitmenschen gemachten Erfahrungen, die in unseren Bewegungen verkörperte Semantik (Performance) und die Spiegelneuronen. Dies betrifft vor allem die Kant’sche Idee des sensus communis, die das ästhetische Wissen in Beziehung zu den neuen Entdeckungen in Bezug auf das Gehirn und das menschliche Verhalten setzt. Es ist gerade der Begriff sensus communis selbst, der die Rede über die gemeinsame Natur der Menschen möglich macht. So greift zum Beispiel Denis Dutton klar jene Kant’sche Referenz auf, wenn er die Hypothese über eine Versöhnung der ›zwei Kulturen‹ aufstellt (wobei er auch Aristoteles und Hume mit einbezieht): »Kant […] considers that the very idea of a ›judgment of taste‹, his terminology for evaluation of beauty, posits as a necessary condition some conception […] of a sensus communis, or shared human nature […] Without a human nature underlying them, judgments of the beautiful would collapse into expressions of personal preference.« (Dutton 2009: 38)

Noch weitaus komplizierter als diese Familienähnlichkeit zu registrieren, ist es, die Begrifflichkeiten zu konstruieren, die Literaturtheorie und Biologie verbinden: das Universelle, die Lust, das Spiel, die Einfühlung16, die Nachahmung, um nur an einige dieser Begriffe zu erinnern, ebenso wie das interessenlose Wohlgefallen, die Doktrin der Entlastung, wie sie von der psychologischen postfechnerischen Ästhetik erarbeitet wurde, und die Theorie der Katharsis (Entladung der Affekte), welche noch immer die Theorie des Tragischen und, ganz allgemein, die ästhetische Erfahrung in ihrer Gesamtheit begründet. In gewisser Weise muss man eingestehen, dass diese Begriffe das Vokabular der Ästhetik und der Kunsttheorie darstellen, seitdem diese in der Moderne wiederbegründet wurden. Wenn es uns gelänge, den biopoetischen Aspekt in Werken wie Schillers Abhandlung Über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (vgl. Schiller 2012) oder Huizingas Homo Ludens (vgl. Huizinga 2004) zu fassen, so würde uns schnell klar, dass wir uns auf einem vertrautem 15 | Bekanntermaßen der Schlüsselbegriff der Ästhetik und der marxistischen Literaturtheorie, der, um ein Beispiel zu nennen, im umfassendsten ästhetischen Werk des Marxismus aus dem 20. Jahrhundert, nämlich dem von György Lukács, gipfelt. 16 | Zum Thema der Empathie in den Geisteswissenschaften vgl. Breithaupt (2009).

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Terrain bewegen, dessen Koordinaten wir lediglich allenfalls verloren haben. Dasselbe könnte man über die eindringliche, von Autoren wie Fechner, Volkelt, Vischer, Wundt und Lipps entwickelte Theorie der Lust sagen, deren Verfasser im Übrigen profunde Kenner der Kunst- und Literaturgeschichte (auch der ihnen zeitgenössischen) und darüber hinaus durchaus nicht atavistisch geprägt sind, was hingegen anscheinend bei vielen Strömungen des gegenwärtigen literarischen Darwinismus der Fall ist, der oft in den unvordenklichen Tiefen der Geschichte eine rein mythologische Metaphysik versteckt. Ganz zu schweigen von dem Mehrwert, den eine ähnlich geartete ästhetische Untersuchung in Bezug auf die Beziehungen zwischen dem Menschlichen, dem Nicht-Menschlichen, dem Noch-Nicht-Menschlichen, dem AndersMenschlichen, dem Unmenschlichen usw. haben könnte, indem sie uns dazu zwingt, auf radikale Weise fundamentale Fragen des kulturwissenschaftlichen Studiums zu überdenken, wie diejenigen nach dem Verhältnis zwischen den Menschenrechten und der Literatur, zwischen bíos und zoé etc. Außerdem würde sie uns zur jener Neuverhandlung des Verhältnisses von Natur und Kultur zwingen, deren sich die Kulturwissenschaften schon seit Langem angenommen haben sollten und die das Konzept der Koevolution definitiv den Naturwissenschaften aufgebürdet hat. Ein erneutes Überdenken der evolutionären Bedeutung von Literatur und Narrativität könnte schließlich die textlichen Exzesse der Kritik des 20. Jahrhunderts reduzieren und das Studium der Textualität in das umfassendere Gebiet einer Anthropologie zurückführen, welche soziale und biologische Dimensionen berücksichtigt ebenso wie die Fragen, die in der Literatur und in der Narration die anderen Sinne mit ins Spiel bringen (z.B. das Sehen) oder den gesamten Schematismus des Körpers (die Performance). Über die philogenetische Bedeutung der Fiktion und der Narration nachzudenken, würde umgekehrt bedeuten, in der biologischen Reflexion eine aufmerksamere Betrachtung von Textualität anzustoßen – und so einer Soziobiologie den Platz streitig machen, welche oft die eigenen fundamentalistischen und nicht verhandelbaren Positionen verrät. Es gibt zudem auch im rein kulturellen Bereich unumgängliche Vorteile. Weil gerade ein biopoetischer Ansatz die literarische Theorie vom Lokalismus der eigenen westlichen, europäischen und ausschließlich modernen Sicht befreien kann, indem er uns wirklich zu einem Vergleich zwingt mit dem Anderen, mit dem Primitiven und mit den tiefen Asynchronien, die unser teleologisches Modell (das Primitive in uns) in Frage stellen. Eine transkulturelle Herausforderung würde uns wenigstens helfen, unseren gefestigten Chronologien zu misstrauen. Die Berücksichtigung der – schon länger im Fokus der kulturwissenschaftlichen Debatte stehenden – körperlichen Dimension würde in einer biopoetischen Perspektive neue Impulse empfangen. Dies würde uns sogar erlauben bis auf die Ursprünge des ästhetischen Diskurses zurückzugehen, der als

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Baumgarten die Sinnlichkeit ins Zentrum der Disziplin setzte, die sensitive Kognition, welche die Neurowissenschaften heute sogar in der Theorie der Emotionen aufwerten (offensichtlich sind sie der ästhetischen Erfahrung nicht fremd). Auch die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die heute einen Großteil des Diskurses über die Literatur und die Künste ausmacht, könnte von der – momentan nur hypothetischen – Alternative zwischen genetischer und memetischer Weitergabe Gebrauch machen. Im Übrigen gründen die modernen Kulturwissenschaften auf den sehr biopoetischen Überlegungen von Autoren wie Aby Warburg (und seinen Quellen: Richard Semon). Auch wenn es nie gelingen sollte, einen experimentellen Beweis der Meme zu erbringen – wie es Richard Dawkins oder Susanne Blackmore vorschwebte –, so gibt es dennoch keinen Zweifel daran, dass sich die Kultur schon immer solch »mnemischer Prothesen« bedient hat. Auf der Basis seiner paläoanthropologischen Studien schlägt Steven Mithen zum Beispiel vor, den enormen evolutionären Impuls im Gehirn des Homo sapiens vor etwa 30.000 Jahren, der sich durch einige religiöse Verhaltensweisen, durch Malerei und Bildhauerei, durch Architektur und Nutzung komplexer Instrumente und auch durch die Entstehung der Mythologien vollzogen hat, mit der plötzlichen Entwicklung neuer Verknüpfungen zwischen zuvor getrennten Bereichen des menschlichen Hirns zu erklären. Es handelt sich um jene »cognitive fluidity« (vgl. Mithen 2011: 28-54), die es beispielsweise möglich macht, einen Löwen und einen Menschen auf chimärische Art (vgl. Severi 2004) zu einer einzigen phantastischen Figur verschmelzen zu lassen, wie in den Grotten von Hohlenstein Stadel in Deutschland. Nur dass diese neuen (phantastischen) Verknüpfungen im Gehirn nicht das Produkt von Synapsen sind, die wir überdies nie werden beweisen können, sondern das Ergebnis einer neuen materiellen Kultur: »I suspect that the answer lies with the use of external supports to human thinking – the objects of art, the paintings, the rituals created after 50.000 years ago are not only the products of a new way of thinking, but also their source.« (Mithen 2011: 49) In dieser Sicht sind die kulturellen Fakten – die prähistorischen Malereien wie die Rituale – jene mnemischen Prothesen, die es dem Homo sapiens schlichtweg ermöglichten, bestimmte Phantasien immer wieder zu vergegenwärtigen, sie weiterzugeben und sie mit anderen zu teilen, und eben nicht das Produkt einer neuen Denkart. Mithen hält die kreative Imagination17 vom evolu17 | Mithen unterscheidet auf der Basis einer rigorosen Analyse paläoarchäologischer Tatsachen zwischen vielen Formen der Vorstellungskraft: »There are various types of human imagination whose origins lie at different places in our evolutionary history. Imagination in terms of thinking (perhaps unconsciously) about the consequences of different courses of action is likely to be very old indeed, as this is a type of imagination most likely shared by many types of animals. Imagination in terms of thinking about

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tionären Blickwinkel aus gesehen sogar für eine entschieden ungünstige Form, weil sie die Individuen allenfalls voneinander unterscheidet und sie in getrennten Welten leben lässt: »Imagination in terms of creating worlds in which the rules of nature and society are broken ›fantasy‹ is the most recent form of imagination to have evolved. Evolution had guarded against such ways of thinking that are potentially so maladaptive by creating minds with both ways of thinking and bodies of knowledge quite isolated from each other. Modern humans, especially those after 50,000 years ago, learned how to overcome those evolutionary constraints by exploiting material culture, by telling stories, and performing rituals as a means to offload and provide cognitive anchors for ideas that have no natural home within the evolved mind. In this regard, the modern brain is unlikely to be significantly different from that of a Neanderthal. But it is linked into the world of human culture that augments and extends its powers in remarkable ways. It is this linkage that leads to works of art and science, which then act as cognitive foundations for further works, and so on, through human history.« (Mithen 2011: 51)

Es liegt auf der Hand, dass so der Kultur genau jene Bedeutung als multimedialer Support zuschrieben wird, welche die Kulturwissenschaften ihr heute geben wollen und müssen. Die Kunst, die Fiktion und die Rituale wären aus diesem Blickwinkel gesehen ein Magazin, eine Erweiterung und ein Mittel, das uns erlaubt, eben jene Grenzen zu überwinden, die aus unserer geistigen Struktur und unserer Evolutionsgeschichte rühren. Ein großer Teil der bis dato vorgestellten Thesen ist altbekannt und im Allgemeinen mit der antiken und modernen Literaturtheorie kompatibel. Jetzt handelt es sich allenfalls darum, ohne kulturwissenschaftliche Vorurteile die tieferen Verknüpfungen zwischen den Begriffen zu rekonstruieren, welche,

the contents of other minds probably stretches back to the common ancestor of 5-6 million years ago, and was an essential means of maintaining the complex and large social groups of Early Humans. This way of thinking played an essential role in human evolution, and remains critical to our everyday thought and behaviour. We revel in it, and applaud those artists who place this type of imaginative thought at the center of their work. Imagination in terms of narrative would also have become important within the world of Early Humans, as transmission of tool-making skills, the planning of big game hunting, and communication about new places and landscapes were essential. In the absence of language, gesture and mime may have played a critical role. But it was because of – not in spite of – the absence of spoken language, that such selective pressures may have been placed on imaginative abilities. If another individual could have simply told what he/she had seen or what was being planned, the Early Human mind may not have required such powers of imagination.« (Mithen 2011: 50)

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auch wenn sie sich von der kritischen Tradition des 20. Jahrhunderts entfernt haben, dennoch tiefe gemeinsame Wurzeln aufweisen. Die Beziehung zwischen Literatur und Biologie und mit ihr die Möglichkeit einer Biopoetik muss also grundlegend überdacht werden. Die literarische Theorie kann dieses Terrain nicht der evolutionären Psychologie oder der Soziobiologie überlassen, aus dem einfachen Grunde, dass jene Wissenschaften die Diskussion dort wieder zu eröffnen scheinen, wo die Kulturwissenschaften – vor allem die von anthropologischen Paradigmen geprägte – sie unterbrochen hatten. Auch in diesem Fall können wir uns hier nur auf eine nicht systematische Aufzählung der offensichtlichsten Berührungspunkte beschränken, die von der Literaturwissenschaft, welche sich als Teil einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise versteht, nicht ausgespart werden können: 1. die Frage nach der Nachahmung (Mimesis), der Lust und der damit verbundenen spielerischen, kognitiven und kommunikativen Elemente; 2. die Frage nach der thematischen und rhetorischen Universalien (die Formen, die Modi, selbst die Genera) (vgl. Hernadi 2002: 28ff.)18; 3. die Frage nach den Formen von Anpassung, die keine unmittelbaren Vorteile bringen und sich dennoch als eine Faszination für das erweisen, was offensichtlich keinen Zweck hat (vgl. Cosmides/Tooby 2000: 53-115)19 (Kants interessenloses Wohlgefallen?). Wie Leda Cosmides und John Tooby ausführlich bewiesen haben, ist glasklar, dass die Künste außer auf untergeordnete und marginale Weise keine explizite Anpassungsfunktion haben, während sie im Hinblick auf die Organisation des menschlichen Hirns über eine wichtige Funktion verfügen, wenn Kinder bereits ab dem 18. Monat Arten von Fiktionen entwickeln und dann den größten Teil ihres Lebens bis zuletzt gern fiktive Welten bewohnen. Die Literatur und die Künste sollten also nicht direkt in die primären Phänomene einbezogen werden, die der Evolutionismus studiert (die Reproduktion und das Überleben), außer in dem Sinne, dass diese Schule des Falschen, des Fiktiven – das innerlich kohärent ist und durch seine Organisation in uns ja

18 | Hernadi unterscheidet zum Beispiel zwischen vier »diskursiven Modi«: thematisch, narrativ, lyrisch und dramatisch (vgl. v.a. Hernadi 1972). Er übernimmt zu Recht auch die Theorie der literarischen Gattungen bzw. Mythen, wie sie sich in der Tradition von Northrop Fry entwickelt hat (vgl. Hernadi 1981: 195-211). Es handelt sich dabei bisher nur um Teilversuche einer Klassifikation, die jedoch Anregungen für weitergehende Studien geben könnten. 19 | Cosmides und Tooby sprechen von »nonfunctional« und »even extravagantly non utilitarian«.

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Lust entstehen lässt20 – unsere Fähigkeiten ohne die praktische Notwendigkeit weiterentwickelt und derart gewonnenene Erfahrungen speichert, die abgerufen werden, wenn wir zum Handeln gezwungen sind. Darüber hinaus ist diese Art, das Denken zu strukturieren, selbst ein Vergnügen, weil es uns ermöglicht, Isomorphismen zwischen erfundenen Geschichten und realer Erfahrung wahrzunehmen: »[T]he kind of truth conveyed in art is not propositional or referential in the ordinary sense. It consists of the increased mental organization that our minds extract from experiencing art, which is why this form of truth has seemed so elusive, so difficult to articulate or explicitly define. This organization consists mostly of what might, for want of a better word, be called skills: skills of understanding and skills of valuing, skills of feeling and skills of perceiving, skills of knowing and skills of moving. Picasso’s paradox – that ›Art is a lie which makes us see the truth‹ – turns out not to be so paradoxical after all. To call art ›lies‹ simply acknowledges that a simulacrum of individual experience has been manufactured largely out of false propositions or orchestrated appearances. Such falsities can convey truth because they are not processed as propositions with truth values, but as an experience whose false particulars are (in effect) thrown away. The truth inheres in what the experience builds in us. In sum, we think that art is universal because each human was designed by evolution to be an artist, driving her own mental development according to evolved aesthetic principles.« (Cosmides/Tooby 2001: 24ff.)

Dies würde auch erklären, warum bestimmte Geschichten niemals ihren Reiz verlieren, obwohl sie für verschiedene und sich stark unterscheidende Kulturen ersonnen worden sind. Wir sollten übrigens auch auf literarischem Gebiet getrost auf diesem dünnen Eis weitergehen. Tzvetan Todorov schreibt in einem Artikel mit dem apodiktischen Titel What is Literature for?, der 2007 in der renommierten Zeitschrift 20 | Es ist bezeichnend, dass Cosmides und Tooby implizit die innere strukturelle Kohärenz der Fiktionen berücksichtigen, die sie als eine Art innere »Wahrheit« der Vorstellungen verstehen, wie es seit Aristoteles’ Zeiten in der Literaturtheorie Usus ist: »Within a fictional narrative, everything (whether true in reality or not) has the same undiscriminated and largely indiscriminable standing, and all propositions are freely interwoven without the least regard to their extrinsic accuracy. By its entry into fiction, a fact loses its dependence on its truth in the external world and becomes something different. Indeed, we would claim that fictions consist of sets of propositions that (1) are bundled together, (2) refer internally to each other rather than to the world, and (3) can tolerate the uncontrolled proliferation within the bundle of other false propositions and their amalgamation with true propositions precisely because (4) the entire bundle is cognitively walled off so that its constituents cannot easily migrate into and corrupt our other knowledge stores.« (Tooby/Cosmides 2001:13)

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New Literary History erschien, bezeichnenderweise, dass man die Werke der Vergangenheit mit in den humanitären Dialog einbeziehen müsse. Und zwar ausgehend von dem Dialog, der seit Anbeginn der Zeit existent ist und an dem wir alle bis heute partizipieren. Ferner hätten die Erwachsenen die Pflicht, dieses zerbrechliche Ordnungssystem, diese Wörter, die uns leben helfen, an die zukünftigen Generationen weiterzugeben (vgl. Todorov 2007). Der Ausdruck »leben helfen« ließe sich auch mit den Begriffen ›Anpassung‹ und ›Kompensation‹ umschreiben. Nicht in Bezug auf das Individuum, sondern auch auf die Spezies. Die Biopoetik beschäftigt sich in der Tat sowohl mit den Individuen als auch mit der Gattung. Wird die literarische Theorie dazu imstande sein, die Herausforderung des Evolutionismus anzunehmen? Wird sie dazu in der Lage sein, die Literatur nicht als eine außergewöhnliche und zufällige Schöpfung von überdurchschnittlich begabten Individuen anzusehen, sondern als allgemeine Grundlage (die Erzählung?), die allen Individuen erlaubt hat, sich anzupassen und zu überleben? Wird sie die flachen und etwas altbackenen Gebiete eines jedoch in sich selbst widersprüchlichen Kulturalismus verlassen können, weil dieser unfähig ist, sich gegenüber dem Anderen zu definieren und den Provokationen der Biologie entgegenzutreten? Aus dem Italienischen von Wiebke Langer

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Pasolinis Salò Eine biopolitische Betrachtung Manfredi Bernardini

Im Jahre 1975 drehte Pier Paolo Pasolini seinen letzten Film Salò oder die 120 Tage von Sodom (I 1975). Er konnte jedoch die Reaktion darauf nicht mehr erleben, da er drei Monate vor der Premiere beim Pariser Filmfestival – laut der offiziellen Version – von Pino Pelosi in Ostia ermordet wurde.1 Viele Kritiker betrachten Salò als den politischsten Film des italienischen Regisseurs: Zweifelsohne trägt er Pasolinis wichtigste Überlegungen zu Macht, Sex und Leben in sich. Wenn ich im Folgenden Salò oder die 120 Tage von Sodom aus einer biopolitischen Perspektive betrachte, so beziehe ich mich auf Meinungen wie die von Neil Novello, der in Salò ausdrücklich ein janusköpfiges, biopolitisches und geschichtsübergreifendes Gleichnis und ein biopolitisches Traktat sieht (vgl. Novello 2007: 4, 187), oder auf Michele Cammelli, der im Hinblick auf Pasolinis Denken bemerkt, dass Pasolini den Begriff Biopolitik nicht benutze, obgleich doch alles in seinem Denken darauf hinausläuft (vgl. Cammelli 2007: 112). Die von mir vorgeschlagene Lesart des Films operiert mit aktuellen Ansätzen in Bezug auf Subjektivierungsprozesse (vgl. Foucault 2005), die Biomacht (vgl. Foucault 1998) oder das »nackte Leben« (vgl. Agamben 2002). In Anbetracht der Tatsache, dass Pasolinis Film auf Sades Die 120 Tage von Sodom aus dem Jahr 1785 zurückgreift, müssen wir zunächst einen kurzen Blick auf diesen außergewöhnlichen Roman werfen. De Sades Denken und Werk sind Gegenstand zahlreicher Interpretationen. Auch wenn zum Beispiel mit 1 | Der Film wurde am 22. November 1975 auf dem Pariser Filmfestival uraufgeführt, die erste Aufführung in Italien fand am 10. Januar 1976 im Mailänder Kino Majestic statt. Am 13. Januar konfiszierte der Mailänder Staatsanwalt den Film und eröffnete einen Strafprozess gegen den Produzenten Grimaldi. Am 20. Januar wurde das Urteil gesprochen, aber erst am 17. Februar 1977 wurde Grimaldi vom Appellgerichtshof freigesprochen. Dieser ordnete auch die erneute Freigabe des Films an (vgl. Pasolini 2001: 3159; alle italienischen Zitate wurden von Sieglinde Borvitz ins Deutsche übersetzt).

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Klossowski, De Beauvoir oder Barthes für das Verständnis der Philosophie des ›Göttlichen Marquis‹ grundlegende Betrachtungen vorliegen (vgl. Klossowski 1996; De Beauvoir 1964; Barba 1979), so soll unsere Aufmerksamkeit dennoch zwei spezifischen, da sehr unterschiedlichen Lesarten von Die 120 Tage von Sodom gelten, nämlich den Analysen von Michel Foucault (vgl. Foucault 1998) und Giorgio Agamben (vgl. Agamben 2002). Foucault verortet de Sades Doktrin in der Tradition der Souveränität: »Wenn sich diese Macht die Ordnung sorgfältig disziplinierter Fortsetzungen gemäß der Abfolge der Tage auferlegt, so ist diese Übung nur der reinste Gipfel einer einzigen und nackten Souveränität: schrankenloses Recht der allmächtigen Monstrosität.« (Foucault 1998: 177) Dagegen inszeniert de Sade nach Agambens Meinung »das theatrum politicum als Theater des nackten Lebens, in dem, mittels der Sexualität, das physiologische Leben der Körper selbst sich als pures politisches Element präsentiert, [und betont dann, Anm. d. Vf.] [die] unvergleichliche […] Zurschaustellung der absolut politischen (das heißt biopolitischen) Bedeutung der Sexualität und des physiologischen Lebens selbst.« (Agamben 2002: 143f.)

In der Tat trifft man bei der Lektüre von Die 120 Tage von Sodom auf viele der Elemente, die nur vom biopolitischen Paradigma des 20. Jahrhunderts erfasst werden können (zum Beispiel: Geburtenrate, Bevölkerungsregulierung, Sterberate, Normalität) (vgl. Foucault 2006a, 2006b). Die vier männlichen Protagonisten des Buches – der Herzog von Blangis, Curval, Durcet und der Bischof De Blangis – führen ein libertines Experiment durch, bei dem sie eine bestimmte Anzahl von Opfern im Schloss Silling in der Schweiz verbannen; ein abgeschlossener Raum, der von Mauern und einem Burggraben geschützt und vom Rest der Welt vollkommen abgeschottet ist. Damit nehmen sie das vorweg, was später als Biomacht bekannt werden wird. Wenn wir dem Verlauf der Geschichte folgen, so können wir einerseits eine prozessuale ›Normalisierung‹ und Kodifizierung des menschlichen Lebens beobachten. Diese wird erreicht durch den Wechsel von Züchtigungen und Bestrafungen, Kontrollen und Inspektionsrunden ebenso wie durch die Einführung einer Reihe von strengen Regeln, welche die Opfer im Innern des Schlosses befolgen müssen. All dies sind Subjektivierungsprozesse, die der Macht die völlige Beherrschung der Körper der Opfer ermöglichen. Zur Veranschaulichung dieses Arguments können wir die folgenden Romanpassagen heranziehen: »[Nachdem all dies beschlossen und bekannt gemacht ward, wurden] [h]ierauf […] die Leibstühle visitiert« (de Sade 2006: 326), oder auch: »Es wurde bestimmt, daß jedem Untertan, der eine Klage gegen einen anderen vorbrachte, die Hälfte der nächsten ihm zufallenden Strafe erlassen sein sollte.« (de Sade 2006: 326)

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Andererseits bezeichnet de Sade die ausgewählten und gewaltsam in das Schloss gebrachten Opfer als ein »kleine[s] Volk« (de Sade 2006: 326), das es zu benutzen und zu kontrollieren, zu bewerten und zu klassifizieren gilt. Betrachten wir diese beiden Beispiele noch einmal genauer: Im ersten schlägt der Autor durch die Worte Curvals ein grausames, aber seiner Meinung nach zugleich auch rationales Verfahren vor, um die Bevölkerungszahl auf dem richtigen Stand zu halten: »Curval […] schwur, daß er, wenn er der Herr wäre, das Gesetz der Insel Formosa einführen würde, wo alle Weiber, die vor dreißig Jahren schwanger werden, samt ihrer Frucht in einem Mörser zerstampft werden, und daß es, wenn man dieses Gesetz in Frankreich einführte, noch immer zweimal so viel Menschen da geben würde als nötig wären.« (de Sade 2006: 328)

Am Ende des Romans erstellt de Sade schließlich eine Liste der Toten und Überlebenden – eine Aufstellung über den ›Gebrauch der Untertanen‹, wie er im Buch schreibt. Dabei scheint es, als spräche er nicht von Menschenleben, sondern von bloßen statistischen Werten. Zudem untersuchen und analysieren die vier Herren jede einzelne biologische Lebensfunktion (Fortpflanzung, Geburt, Ernährung, Defäkation usw.). Nach jeder Diskussion schlagen sie das beste Verfahren zur Steuerung dieser verschiedenen Funktionen vor, was einer totalen Politisierung des Lebens gleichkommt. Zum Abschluss dieses ersten Teils der Untersuchung von de Sades Die 120 Tage von Sodom sind es abermals die Worte Agambens, welche die hiesige Argumentation treffend resümieren: »Ebenso wie in den Konzentrationslagern unseres [20.] Jahrhunderts hat der Totalitarismus der Organisation des Lebens im Schloß Silling mit seiner minutiösen Reglementierung, die keinen Aspekt des physiologischen Lebens (nicht einmal die obsessiv kodifizierte und ausgestellte Verdauungsfunktion) außer acht läßt, seine Wurzeln in der Tatsache, daß hier zum ersten Mal eine normale und kollektive (mithin politische) Organisation des menschlichen Lebens gedacht worden ist, die einzig und allein auf dem nackten Leben gründet.« (Agamben 2002: 144)

Diese kurze Analyse von de Sades Die 120 Tage von Sodom aus biopolitischer Sicht lässt die Bedeutung des Zusammenhangs von Macht, Leben, menschlichen Körpern und Sexualität erkennen und die Frage besser fassen, warum Pasolini auf de Sade und speziell auf dieses Buch Bezug nahm, um seine Überlegungen zu Sexualität und Macht ins Feld zu führen. Der italienische Regisseur rekurriert nicht – oder nicht nur – auf de Sades Werk, um das spezifische Thema des Sadomasochismus zu untersuchen; ein zweifellos wichtiges Thema, wie auch Giorgio Agamben andeutet, der es als »diejenige Technik der Sexua-

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lität [definiert], die das nackte Leben des Partners zutage fördert« (Agamben 2002: 144). Pasolini war zudem davon überzeugt, dass er dank der von de Sade behandelten Themen seine eigene Auffassung des Sex als einer Metapher für die Macht2 artikulieren könne. Die Sexualität gelte als ein Mittel, mit dem die Macht das menschliche Leben mehr oder weniger unmittelbar zu steuern vermag. Pasolini analysierte die in den 1970er Jahren herrschenden Machtformen eingehend. Er bezeichnete die Macht nicht nur als »kirchlich-faschistisch«, sondern zeigte auch in den Schriftsammlungen Freibeuterschriften (vgl. Pasolini 1978) und Lutherbriefe (vgl. Pasolini 1983), wie sehr ihn dieses Thema im Kontext der Analyse der Gegenwart beschäftigte. Widmen wir uns vor einer Analyse des Films der Entstehungsgeschichte und der Struktur von Salò. Der Film leitet sich bis zu einem gewissen Grad von zwei Theaterstücken ab, die Pasolini in den 1960er Jahren schrieb: Der Schweinestall (1968-69), das 1969 verfilmt wurde, und Orgie (1968-70). Beide Werke gehören nach der Aussage ihres Autors zum »Theater der Grausamkeit« (vgl. Pasolini 2001: 2063). Was Der Schweinestall und Salò verbindet ist Medicina Disumana3, ein Text, auf dem nicht nur das Theaterstück, sondern auch die Episode des Jungen mit der erhobenen Faust basiert (vgl. Novello 2007: 170f.). In Orgie erzählte Pasolini zum ersten Mal die Geschichte einer sadomasochistischen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, gewissermaßen ein Archetyp von Salò (vgl. Novello 2007: 116f.). Im Hinblick auf die Gliederung des Films verändert der italienische Regisseur die vier Teile von de Sades Roman zu Gunsten der Dantesken Erzählstruktur mit einer Vorhölle und drei Höllenkreisen (die Kreise des Wahnsinns, der Scheiße und des Blutes); eine Idee, so Pasolini, die auch schon de Sade vorschwebte (vgl. Pasolini 2001: 3017). Von besonderer Bedeutung ist Pasolinis Entscheidung, die Romanhandlung in die Republik von Salò zu verlegen, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs nach dem 08. September 1943 von Benito Mussolini und anderen faschistischen Funktionären in Norditalien gegründet wurde (vgl. Pasolini 2001: 3017). Die 2 | In einem Interview im schweizerisch-italienischen Fernsehen im Jahre 1975, das heute unter dem Titel Die Macht und der Tod bekannt ist, erklärte Pasolini: »Der Sadomasochismus ist eine ewige Kategorie des Menschen. Es gab ihn zu Zeiten de Sades, es gibt ihn heute usw. […] Aber das ist nicht der Punkt. Mir geht es um Folgendes. Der wirkliche Sinn des Sex’ in meinem Film ist so, wie ich es schon sagte: nämlich eine Metapher für das Machtverhältnis, dem er untersteht.« (Vgl. Pasolini 2001: 3013) 3 | So führt Pasolini in seinen Schriften zum Kino Per il cinema aus: »Der von A. Mitscherlich und F. Mielke herausgegebene Text enthält auch Dokumente der Nürnberger Prozesse gegen die nazistischen Ärzte: Es ist dieser Text, auf den sich Pasolini bei der Handlung von Der Schweinestall bezog. Aus ihm rührt wahrscheinlich auch die Episode in Salò, in der ein Junge vor seinem Tod mit der geschlossenen Faust grüßt.« (Vgl. Pasolini 2001: 3158)

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vier faschistischen Amtsträger können nicht nur perfekt Nietzsche und Baudelaire zitieren, sondern ebenso diejenigen Autoren, die Pasolini im Titelvorspann des Films nennt (Barthes, Blanchot, De Beauvoir, Klossowski und Sollers: Sie alle sind wichtige, wenn auch voneinander differierende Interpreten des de Sade’schen Denkens). Die vier Faschisten repräsentieren die verschiedenen Bereiche der bürgerlichen Macht (Wirtschaft, Justiz, Religion), die in unterschiedlichen Ritualen wie dem Musikhören, dem Nachmittagstee, dem Lob der Konzeptkunst und besonders dem Dadaismus verewigt wird (vgl. Pasolini 2001: 3158). Die bürgerliche Macht ist zugleich aber auch eine Macht, die den menschlichen Körper reguliert, verwaltet und bearbeitet. Neben den faschistischen Amtsträgern existiert eine konkrete Zahl junger Opfer, die in den Dörfern und ländlichen Gegenden Italiens gefangen genommen wurden. Sie versinnbildlichen die Jugend der 1970er Jahre, ihren Werteverlust und ihre völlige Kontrolle durch die kapitalistische Macht, welche imstande ist, ihre Körper in zweckmäßige Objekte zu verwandeln. Nach diesen Vorbemerkungen können die biopolitischen Aspekte fokussiert werden, die Pasolinis Salò innewohnen. Schon die in Salò dargestellten und beschriebenen Räume sind für unsere Untersuchung von Interesse. So erscheint der zu Beginn eingeblendete, mittig gelegene Versammlungssaal der Villa (es ist nicht derselbe wie im Rest des Films) mit seiner oktogonalen Form, seinen zwei Türen und acht Fenstern, von denen aus die vier Faschisten alles beobachten und kontrollieren können, wie eine panoptische Anlage zur Kontrolle und Unterwerfung. Noch vor Betreten der Villa sprechen die vier Herren von einem Balkon zu den Gefangenen: Diese hierarchische Perspektive von oben nach unten erinnert an das faschistische Ritual, so zum Beispiel an Mussolinis Ansprachen vom Balkon des Palazzo Venezia aus. Sie erklären, dass die Opfer nicht mehr dem normalen Gesetz, sondern einer Reihe von neuen Regeln und Gesetzen unterstehen, die von den vier Herren aufgestellt wurden. Wortwörtlich sagen sie: »Ihr schwachen, gefesselten und zu unserem Vergnügen bestimmten Kreaturen. Ich hoffe, ihr glaubtet doch nicht etwa, hier die lächerliche, von der Außenwelt zugestandene Freiheit zu finden. Hier steht ihr außerhalb jeden Rechts. Niemand weiß, dass ihr hier seid. Für die Außenwelt seid ihr schon tot. Und nun folgen die Gesetze, die euer Leben hier bestimmen.« (Vgl. Pasolini 2001: 2036)

Diese Ansprache wie auch die räumliche Disposition der Villa ist voller biopolitischer Implikationen: In der Tat entsprechen die Opfer in Salò den von Agamben beschriebenen homines sacri; ihr Leben ist ein nacktes Leben so wie

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das der Juden während des Zweiten Weltkriegs.4 Sowohl die Villa in Pasolinis Salò als auch Schloss Silling in de Sades Roman sind geschlossene Räume, in denen strenge Vorschriften für jeden Aspekt des Lebens gelten und in denen zugleich alles möglich ist (etwa jede Art der Grausamkeit und der Misshandlung). Sie gleichen in Teilen den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs, die Agamben als »Ausnahmeraum« und als »biopolitisches Paradigma der Moderne« (Agamben 2002: 179, 125) bezeichnet. Diesbezüglich spricht Pasolini von einer ungezügelten »Anarchie der Macht«, die im Gegensatz zur streng bewachten Bevölkerung steht, die gezwungen wird, einer strikten, jeden Aspekt des Lebens betreffenden Disziplin zu gehorchen; Novello spricht in diesem Zusammenhang gar von einer Enteignung des Lebens durch die Biomacht (vgl. Novello 2007: 189). In seinem Aufsatz zur Sexualität als Metapher der Macht Il sesso come metafora del potere erklärt Foucault: »Die Anarchie der Ausgebeuteten ist verzweifelt, idyllisch und lebt vor allem ohne Inhalt. Sie wird nie umzusetzen sein. Während sich die Anarchie der Macht mit der größten Leichtigkeit auf Gesetzesartikel und die Praxis konzentriert, tun die mit Macht versehenen Figuren von de Sade nichts Anderes, als Regeln zu schreiben und diese regulär anzuwenden.« (Pasolini 2001: 2066)

Neil Novello zufolge kann nicht zuletzt auch der Orgienraum, in dem die Faschisten mit den Opfern, den Erzählern, den ›Republikanern‹ und den Kollaborateuren zusammen sitzen, wie auch das Boudoir, als ein biopolitischer Raum interpretiert werden, denn er verkörpert das Verhältnis zwischen der Macht und der ihr Unterworfenen (vgl. Novello 2007: 188). Abgesehen von der biopolitischen Aufteilung des Raumes treten in Pasolinis Salò auch verschiedene Subjektivierungsprozesse zu Tage, die einer sorgfältigen Untersuchung bedürfen. Diesen wesentlichen Aspekt erarbeitet Erminia Passannanti in Il Corpo e il Potere. Salò o le 120 Giornate di Sodoma di Pier Paolo Pasolini (vgl. Passannanti 2008), in welchem sie den Film auf der Basis der von Michel Foucault in Überwachen und Strafen formulierten Kategorisierung analysiert. Die Autorin ist überzeugt, dass: 4 | Dieser Aspekt wurde von der aktuellen Forschung mehrfach hervorgehoben. So sieht Novello im Umstand, dass die Gebieter den Opfern Lust abzwingen, die Menschen (ihrerseits homo sacer) einem totalen Willen und der freien Willkür unterliegen (vgl. Novello 2007: 188). Eine ähnliche Lesart wählt auch Murri, wenn er in der Villa ein höllisches, an die Konzentrationslager erinnerndes Universum erkennt, in dem ein Mechanismus herrscht, der die Gefangenen von der Welt ausschließt und sich das Ziel gesetzt hat, ihre Identität auszulöschen (vgl. Murri 2007: 71). Passannanti sieht gar in Pasolinis Höllenkreis der Scheiße direkte Verweise auf den Holocaust in den nazistischen Vernichtungslagern (vgl. Passannanti 2008: 35).

P ASOLINIS S ALÒ »Aus Überwachen und Strafen rührt das Konzept des ›Macht-Körpers‹, das ganz dem ähnelt, das Pasolini in Salò in der Verkettung von Konditionierungstechniken entfaltet, deren Auswirkungen nicht nur den Körper, sondern auch das gesamte Verhalten der gefangenen und einer langsamen Indokrinierung ausgesetzten Menschen formen sollen.« (Vgl. Passannanti 2008: 38)

Genau wie in de Sades Roman werden die jungen Opfer unentwegt Prüfungen und Kontrollen unterzogen. Außerdem werden sie mit blauen Bändern gekennzeichnet, ganz so wie die Juden in den Konzentrationslagern. »Aus einer Foucault ähnlichen Perspektive, zeigt Pasolini, wie der Faschismus in den Vorkriegsjahren genügend Aktionsraum und -zeit hatte, um die Menschen der Maschine des Regimes zu unterwerfen, indem er jede tägliche Handlung und Funktion kontrollierte, das Verhalten und die Geschlechterrollen prüfte und den Aspekt der Bevölkerungsvermehrung betonte.« (Vgl. Passannanti 2008: 32) 5

Passannantis Augenmerk liegt auf der Kontrolle, die sowohl über die Körper der Gefangenen ausgeübt wird als auch über ihre intimsten, an das Überleben gebundenen Körperfunktionen wie Essen, Urinieren oder Defäkieren; eine Kontrolle, die im Film in der Szene ihren grausamen Höhepunkt findet, als die Gefangenen gezwungen werden, ihre Exkremente zu essen (vgl. Passannanti 2008: 35). Ebenso deutlich artikuliert dies eine andere Schlüsselszene, in der die nackten, von den Wärtern treppauf treppab an der Leine geführten Opfer zu einer Gruppe zahmer und gehorsamer Hunde stilisiert werden, die von ihren Herren als solche behandelt und gefüttert werden. Erschreckend und zugleich prägnant fasst diese Szene metaphorisch die Unterwerfung der conditio humana unter eine neue Art der Macht, nämlich unter eben jene biopolitische Macht, die auf »gelehrige […] Körper« (Foucault 2005: 173) bauen kann, die ähnlich wie Ton voll und ganz durch die Biomacht geformt und durch den Konsum gesteuert werden (vgl. Passannanti 2008: 20). Kehren wir jedoch zum Kernpunkt unserer Analyse zurück: dem Verhältnis von Macht, Sexualität und dem menschlichen Körper, das in Pasolinis gesamten Schaffen, aber auch seinem Denken, seiner Poetik und seinem Leben stets zentral war. In der Trilogie des Lebens – die sich aus den drei Filmen Decameron (1971), Pasolinis tolldreiste Geschichten (1972) und Erotische Geschichten aus 1001 Nacht (1974) zusammensetzt – stehen die körperliche Nacktheit ebenso wie die Sexualität in einem starken Gegensatz zur ›kirchlich-faschistischen‹ Macht und zu jener kulturellen Homologation, die dank der Medien (und speziell des 5 | Auch Passannanti verweist darauf, dass die vier Herrscher die Opfer ›erziehen‹ wollen, so dass diese die von ihnen in der Villa aufgestellten Gesetze respektieren (vgl. Passannanti 2008: 32).

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Fernsehens) durch die Konsumgesellschaft erzeugt wird. Die Nacktheit und die Sexualität stellen den einzigen Ausweg dar, angesichts der drohenden Vermassung, die der »hedonistischen Konsummacht« innewohnt. Im Jahr 1975 verwarf Pasolini diese Idee. Salò6 und Der Widerruf der Trilogie des Lebens, ein in den Lutherbriefen enthaltener Text, belegen dies eindeutig.7 Weder der Körper noch die Sexualität versagen in Salò als Mittel des Widerstandes gegen die Macht, da sie Teil des Machtsystems und ihm unterworfen sind. Die Macht, die wir durchaus als Biomacht bezeichnen dürfen, nutzt beide zu ihrem Vorteil, nämlich zu ihrer eigenen Erstarkung und zur Entfaltung des Konsumdenkens (so etwa in der Szene, in der die Exkremente verzehrt werden) (vgl. Passannanti, 2008: 19). Das ist, um mit Pasolini zu sprechen, der als »Produktion von Menschheit« bezeichnete Mechanismus. Im letzten Kapitel von Der Wille zum Wissen formuliert Michel Foucault einen ähnlichen Gedanken: »Diese Bio-Macht war gewiß ein unerläßliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre.« (Foucault 1998: 168)

Die Sexualität ist zu einem alles absorbierenden Kontrolldispositiv (vgl. Agamben 2008) avanciert, dessen sich die Konsummacht bedient, nämlich indem sie gegenüber dem sexuellen Habitus Toleranz heuchelt, welche letzten Endes nur Fassade ist. Die Sexualität ist kein Instrument des Widerstands, sondern eines der Unterwerfung. Dies erinnert an Michel Foucaults Auffassung zur Sexualität in Der Wille zum Wissen: »Ich suche nach den Gründen, aus denen die Sexualität in unserer zeitgenössischen Gesellschaft fortwährend hervorgerufen wird – anstatt unterdrückt zu werden. Es sind die neuen im Laufe des klassischen Zeitalters entwickelten und im 19. Jahrhundert voll eingesetzten Machtprozeduren, die unsere Gesellschaften von einer Symbolik des Blutes zu einer Analytik der Sexualität haben übergehen lassen.« (Foucault 1998: 176)

6 | Salò oder die 120 Tage von Sodom sollte der erste Teil der geplanten Trilogie des Todes werden, dem dann Porno-Theo-Kolossal folgen sollte. Pasolini konnte seine Idee jedoch nicht mehr umsetzen, da er ermordet wurde. 7 | Um den poetischen, stilistischen und politischen Wandel zwischen der Trilogie des Lebens und Salò zu verdeutlichen, verweise ich auf Vincenzo Cerami. Dieser erkennt in Salò ein in Henker und Opfer aufgeteiltes Italien; der Stil wird tragisch und bewegt, weil das Herz des Volkes erloschen sei. Während die Körper in der Triologie sich noch ungezügelt einer dionysischen Wollust ergaben, werden sie von der Macht mit nazistischer Wissenschaftlichkeit verherrlicht (vgl. Pasolini 2001: XLVI).

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Und er schlussfolgert, dass es die »Ironie dieses Dispositivs« sei, dass sie uns glauben mache, es gehe »darin um unsere ›Befreiung‹« (Foucault 1998: 189). Eben jene Überzeugung veranschaulicht auch eine Szene in Salò: Hier werden zwei Gefangene, ein Junge und ein Mädchen, in einen leeren Raum gebracht, in dem sie vor den Augen der Faschisten die Ehe vollziehen sollen. Unter dem Blick einer tolerant erscheinenden Macht – und nur dem Anschein nach zwanglos – werden sie zum Geschlechtsverkehr aufgefordert; bald jedoch unterbrechen die vier Männer das Paar und missbrauchen es.8 Im Interview mit Gideon Bachmann erklärte Pasolini, dass ihm die zeitgenössische Macht ganz besonders verhasst sei, da er ihr unterliege und sie spüre. Diese Macht manipuliere die Körper in einer solch schrecklichen Art und Weise, dass sie selbst Hitler in nichts nachstehe (vgl. Pasolini 2001: 3027). Sorge bereitete Pasolini gegen Ende seines Lebens nicht etwa das nazistisch-faschistische Regime oder eine ähnlich entartete Macht, die ja naturgemäß zum Scheitern verurteilt sind – und wie er es in Salò und in seinem in den Freibeuterschriften enthaltenen Aufsatz Das Verschwinden der Glühwürmchen darlegt –, sondern der Umstand, dass sich ein neuer Typ von Macht herausbildet. Diese Macht sei nicht totalitär, sondern absorbiere alles: Auf eine ganz andere Art und Weise wie in der Vergangenheit affiziert sie, möchte man sich des biopolitischen Vokabulars bedienen, den Körper und das Leben unmittelbar. Insofern ist die in Salò dargestellte Macht eine biopolitische. In seinen letzten Lebensjahren war sich Pier Paolo Pasolini dieser essentiellen und unser aller Leben bis auf den heutigen Tag prägenden Verknüpfung von Politik und Leben absolut bewusst. Aus dem Englischen von Laura Lumpe

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin: diaphanes. Barba, Vincenzo (1979): Interpretazioni de Sade, Rom: Savelli. Cammelli, Michele (2007): »Spettri demo-grafici e Biopolitica«, in: Adriano Vinale (Hg.), Biopolitica e Democrazia, Mailand: Mimesis, S. 99-132.

8 | Gemäß Serafino Murri beruht diese Episode auf der für de Sade typischen Technik der Unterbrechung, die bei der Hochzeit und beim Koitus praktiziert wird. Zudem erscheint sie ihm als ein Experiment, das ebenso in einem Nazilager stattfinden könnte, sieht er in ihr doch eine »biologische Profanisierung, einen Aufschub und eine Verschiebung der physischen Karthasis« (vgl. Murri 2007: 113f.).

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De Beauvoir, Simone (1964): Soll man Sade verbrennen? (Der Essay zur Moral des Existentialismus), München: Szczesny. Foucault, Michel (1998): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2006a): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2006b): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klossowski, Pierre (1996): Sade – mein Nächster, Wien: Passagen-Verlag. Murri, Serafino (2007): Pier Paolo Pasolini: Salò o le 120 Giornate di Sodoma, Turin: Lindau. Novello, Neil (2007): Pier Paolo Pasolini, Neapel: Liguori. Pasolini, Pier Paolo (1978): Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über der Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin: Wagenbach. Pasolini, Pier Paolo (1983): Lutherbriefe, Wien: Medusa. Pasolini, Pier Paolo (2001): Per il cinema, Bd. II, Mailand: Mondadori. Passannanti, Erminia (2008): Il Corpo e il Potere. Salò o le 120 Giornate di Sodoma di Pier Paolo Pasolini, Novi Ligure (Alessandria): Joker. Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade (2006): Die 120 Tage von Sodom oder die Schule der Ausschweifung, Köln: Anaconda.

Monströse Monstranz Zur Politik des Ästhetischen bei Ciprì und Maresco Sieglinde Borvitz »Uns interessiert das, was heute in Italien nicht existiert: ein Kino der ästhetischen Suche. [...] Uns interessiert dessen gesellschaftliche Funktion, die nur durch das Experimentieren und eine stilistische Hybridisierung erreicht werden kann.« (Cilli 1992: 195; dt. d. Vf.)1

Die beiden Regisseure Daniele Ciprì und Franco Maresco sind in Italien bekannt für ihr unkonformes, nicht kommerzielles Kino. Ihre Werke erweisen sich nicht nur als äußerst vielschichtig, sondern nicht zuletzt auch als gegenwartsdiagnostische Analyse gesellschaftlicher Umbrüche und Überlegungen zu Formen der biopolitischen Gouvernementalität. In Anlehnung an Michel Foucault soll der Begriff Biopolitik dabei einerseits als Biomacht und andererseits als gouvernementale »Praktiken verstanden werden, in deren Kontext Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien generiert werden« und die sich jeweils relational ins Feld der Machtverhältnisse einschreiben (Lemke 2000: 20). Verstehen wir unter Biomacht eine im weitesten Sinne institutionalisierte Struktur, die das Leben der Menschen zu kontrollieren und zu verwalten sucht, so bezeichnen wir mit Gouvernementalität eine Verschiebung hin zu informellen Praktiken, die das Wissen und somit die Konstruktion und Wahrnehmung von Wirklichkeit beeinflussen und zur Reproduktion normalisierender Verhaltens- und Wahrnehmungsschemata anhalten. So avancieren sie zu sich selbst reproduzierenden, informellen Formen des Regierens (vgl. Lemke 2000: 29), die zum einen die »Subjekte zu einem bestimmten Handeln bewegen« (Lemke 2000: 29) und zum anderen den Körper und das Denken politisch besetzen (vgl. Lemke 2000: 26). Das Subjekt steht somit im Spannungsverhältnis von subjektivierenden Selbsttechnologien (d.h. von individualisierenden Praktiken) 1 | Wenn nicht anders angemerkt, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin.

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und sich in ihnen reproduzierenden Machtstrukturen des Sozialen, die es als Teil der Gemeinschaft ausweisen. Das Subjekt selbst wird so zum Ort, an dem dieses Spannungsverhältnis stets erneut ausgetragen und ausgehandelt wird. Im Folgenden wollen wir unter Gouvernementalität »das ›strategische Feld beweglicher, veränderbarer und reversibler Machtverhältnisse‹ [verstehen], in dessen Innersten sich die Typen der Verhaltensführung oder der ›Führung des Verhaltens‹ einrichten« (Sennelaert 2004: 484). Ob und inwiefern sich biopolitische Formen und Reflexionen zu dem oben beschriebenen »double bind« der Macht (vgl. Lemke 2000: 31) in den Werken von Ciprì und Maresco finden lassen, soll im Folgenden exemplarisch anhand der Filme Lo zio di Brooklyn (1995), Grazie Lia. Breve inchiesta su Santa Rosalia (1996) und Totò che visse due volte (1998) betrachtet werden. Hierbei stehen drei Dimensionen im Fokus: erstens die Repräsentation und Kritik der lokalen Situation, zweitens mögliche philosophische Überlegungen zur Biopolitik und drittens die metafilmische Reflexion zum Bildstatus. Das Monströse dient dabei als Schlüssel für die Analyse, da es den »reifizierenden Gebrauch von Kategorien« denaturalisiert und »vertraute Denkschemata und epistemologisch-politische Positivitäten infrage stell[t]« (Lemke 2000: 21). Durch eine Zoologisierung der Welt und das divenire animale (Tier-Werden) des Menschen nehmen Ciprì und Maresco eine radikale Degradierung der Symbole der Zivilisation vor. Was bleibt ist eine Welt im Zeichen der Krisis und der Defiguration, in der das Monströse die Brüchigkeit der Ordnung augenfällig werden lässt. Die von Ciprì und Maresco geforderte gesellschaftliche Funktion des Kinos ist dabei an eben jene Verunsicherung unserer Sehgewohnheiten und Wahrnehmungsschemata gebunden. Diese ist umso größer, fällt die in ihren Werken allegorisch dargestellte Welt doch in den Erfahrungsbereich des Zuschauers.

E INE W ELT IM Z EICHEN DER K RISIS Das Bild, das die beiden Regisseure von Sizilien und seiner Hauptstadt Palermo entwerfen, entkräftet gängige Stereotypen. In ihren Filmen finden wir nichts Tourismusförderndes, sondern Peripherien und zerstörte Stadtlandschaften. Eine Welt in schwarz-weiß und in Trümmern, in der sich die Zivilgesellschaft weitestgehend aufgelöst hat und sich die Macht in den Händen der organisierten Kriminalität befindet. Trotz seiner klaren Verortung in Sizilien scheint dieses Szenario zugleich über die Insel und Italien hinaus zu reichen und in seiner Deterritorialisierung stellvertretend für die westliche Gesellschaft zu stehen (vgl. Hampson 2000: 95). Oft inspirieren sich die Filmemacher, wie sie im Interview mit Cristina Cilli berichten, an der sizilianischen Tagespresse (vgl. Cilli 1992: 193f.). Wenn sie in ihren apokalyptischen Landschaften die Paralyse des öffentlichen Lebens, das

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Versagen des Staates als Garant der Bürger- und Menschenrechte, die Kontamination der Strukturen zeigen, so nehmen sie implizit auch eine biopolitische Analyse der Machtstrukturen vor. Ihr kritisch-karikierender Blick auf das soziopolitische Szenario Italiens äußert sich in den Filmen von Ciprì und Maresco in Form eines nicht existenten Staates. Repräsentanten einer eher diffusen Macht, die jedoch nicht klar fassbar scheint, sind der katholische Glaube und die Mafia. Die Frage nach der Souveränität über Volk und Territorium wird nicht gestellt. Die Grenzen scheinen abgesteckt zu sein, zugunsten einer Biomacht, die nicht mehr sichtbar ist. Sie schließt den Betrachter ein, sie ist immanent. Der Betrachter hat keine Möglichkeit mehr, eine distanzierte Außenperspektive einzunehmen, hat keine Möglichkeit zu entweichen. Vielmehr fällt die Biomacht in den Erfahrungsbereich des Zuschauers. Die Menschen scheinen dabei nur eine zu verwaltende, statistische Größe zu sein. Dass es in den Filmen keine Gerechtigkeit, keine Rechtsprechung gibt und niemand die Figuren vor Unrecht schützt oder Delikte ahndet, mag diesbezüglich Bände sprechen. Ciprì und Maresco zeigen uns eine Welt in Trümmern, eine Welt im permanenten Ausnahmezustand, in der selbst diejenigen, denen ein wie auch immer geartetes, Geheimnis umwobenes Heilsversprechen angedichtet wird (so der ominöse Onkel aus Brooklyn in Lo zio di Brooklyn oder Totò, der christliche Erretter, in Totò che visse due volte), handlungsohnmächtig sind. Umso mehr affiziert dieser Ausnahmezustand auch die Protagonisten der Filme. Sie sind allesamt Randfiguren in einer Gesellschaft der Grausamkeit und Indifferenz, in der jeder nur dem eigenen Vorteil nachstrebt und menschliche Werte nicht mehr zu existieren scheinen. Nomaden gleich durchstreifen sie die verwaisten, ruinösen Stadtlandschaften, die den gesellschaftlichen Istzustand allegorisch reflektieren. Den Aggressionen ihrer sozialen Umwelt ausgeliefert, avancieren die Protagonisten zu homines sacri (vgl. Agamben 2002: 94), zu eben jenen von der Gemeinschaft Ausgeschlossenen, die getötet werden dürfen2 bzw. deren Tod erst die Immunität der Gemeinschaft sichert, d.h. diese als geschlossenes System konstituiert (vgl. Esposito zit.n. Borsò 2010a: 245). Dennoch bleibt zu fragen, ob es eine solche Form der Gemeinschaft in den Filmen von Ciprì und Maresco eigentlich noch gibt. Vielmehr scheint diese zerstört zu sein, lediglich und nur oberflächlich zusammengehalten durch automatisierte, referenzfreie Gesten und kulturell aufgeladene Praktiken. Routine statt gelebter Werte. In sich erstarrt, mit enttäuschtem Glauben. Nicht zufällig werden in Totò che visse due volte christliche Mytheme und ihr ikonographisches Arsenal aufgegriffen und subvertiert – Elemente, die konstitutiv für die süditalienische Kultur sind und mit denen die Regisseure augenzwinkernd spielen. Lustvoll profanie2 | »Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.« (Agamben 2002: 94)

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ren die Regisseure religiöse Symbole und parasakralisieren das Monströse. Die Welt scheint Kopf zu stehen und tut es doch nicht. So sehen wir in Totò che visse due volte den ohnmächtigen Messias Totò (abgeleitet von Salvatore, dem Erlöser), der die in ihn gesetzten Heilserwartungen enttäuscht: Er hat nichts zu verkünden und schickt Menschen, die zur Bergpredigt gekommen sind, nach Hause. Die Kranken und Invaliden bleiben ungeheilt. Er kommt zu spät zum Abendmahl. Die Jünger haben bereits mit dem Essen begonnen, Maria Magdalena tanzt zu ihrer Unterhaltung und ist im Begriff, einen Striptease aufzuführen. Angeekelt schickt er sie weg. Der Erretter ist unter den Menschen, aber es mag eine Erlösung für ihn sein, als er schlussendlich von der Mafia im Säurebad aufgelöst wird. Seiner statt werden die drei in der Bildtradition des leidenden Christus stehenden Protagonisten des Films an das Kreuz geschlagen: der notgeile, immer masturbierende Paletta, der zahnlose, homosexuelle Fefè, der den Leichen die Grabbeigaben stiehlt, und der namenlose Erotomane, der sich an Menschen, Tieren und gar der Madonnenstatue vergeht. Zu leiden scheinen sie nicht, sehen sie doch gleichgültig-grinsend ihrem Schicksal entgegen. Die vorbeilaufenden Passanten interessieren sich nicht für sie. Das vom Zuschauer als monströs erfahrene zoé ist in dieser Welt nicht mehr relevant, es ist zum Normalzustand geworden. Insofern ließen sich Ciprì und Maresco auch als Lebensbildner, als Zoographen3 verstehen, stellen sie doch in ihren Werken eben jenes zoé ostentativ aus. Mittels ihres »Bestiariums der Figuren«, »Monster einer gefangenen Schönheit« (Valentini 1999: 21, 13; dt. d. Vf.), brüskieren sie durch bewusst ausgestellte Leiblichkeit und degradieren so kulturelle Codes und Symbole. Die niedere Materie des Leibes und das Obszöne dient ihnen dabei als Mittel, eine philosophische Dimension einzuführen und das »hinter der Szene Liegende, das Undarstellbare […] in den Lücken der darstellenden Textur (Sprache, Diskurs oder Erzählung) insistierend« (Bataille zit.n. Wiechens 1995: 21) aufscheinen zu lassen. Ihr Thema ist kein geringeres als der »Tod« der westlichen Zivilisation und das Aufkommen eines neuen, von der Technik bestimmten und zur Empathie unfähigen Menschen. Ihre monströsen Figuren ähneln uns dabei vielleicht mehr als es zunächst scheinen mag. Ciprì und Maresco erheben den beschädigten, abjekten und profanen Körper zur Monstranz. Dies mögen nicht nur die schon angeführten Beispiele belegen, in denen die beiden Regisseure die christlichen Praktiken und Ikonographie aufgreifen und subvertieren. Auch die Prozession von San Polifemo, dem einäugigen Heiligen, verdeutlicht dies. Die Prozession steht dabei in bester katholischer Tradition, doch die ausgestellte Reliquie – das Simulakrum des Heiligen – taugt nicht zur Verehrung und dem Heraufbeschwören eines besseren Mor3 | Ausgehend von den griechischen Ethyma verstanden als Kompositum von zoé und graphein (schreiben).

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gen im Dies- oder gar im Jenseits. Statt eines aufwändigen Gewandes und eines prunkvollen Karrens ist der schäbige und zudem »beschädigte« Polifemo in ein paar abgewetzte Lumpen gehüllt. Der Heilige ist zudem zu Blut geworden; der einäugige Polifemo ist eine der Figuren. So steigt bei Ciprì und Maresco die Epiphanie hinab in die Niederungen des Seins: Immanenz statt Transzendenz. Dies deutet bereits die Geste an, die der Einäugige bzw. die Heilsfigur in der ersten Einstellung von Lo zio di Brooklyn ausführt. Er sieht uns an und nimmt sich das Auge heraus. Wir blicken auf eine leere, dunkle, blutgeäderte Augenhöhle, die an das zerschnittene Auge bei Buñuel oder das herausgerissene Auge bei Bataille erinnert. Das hohle Auge zeigt, dass hinter den Dingen nichts ist, keine objektive Wahrheit und keine verheißende Zukunft. In ihrer sinnentleerten Welt sind die Protagonisten auf sich selbst zurückgeworfen. Sie sind auf primäre Instinkte reduzierte und durch sie getriebene Figuren. So sehr reduziert, dass es nicht einmal mehr zum Antihelden des modernen Kinos reicht. Denn sie sind in erster Linie organische, profane Körper mit all ihren Leibesfunktionen und Ausscheidungen: Sie essen, trinken, rülpsen, furzen, defäktieren, kopulieren und masturbieren. Die Inszenierung einer solchen abjekten Materialität des Leibes – des nach Bachtin karnevalesken, grotesken und offenen Körpers mit seinen Körper-Dramen (vgl. Bachtin 1990: 15-23) – stellt sich bewusst dem aktuellen, ›zivilisatorisch beschnittenen‹ bzw. biopolitisch normierten Körperbild entgegen: »Siehst du nicht, wie viele arrogante junge Menschen ihre gebräunten, durchtrainierten Körper bewusst ausstellen? Ihre Körper sind schwitzender Ekel, ihre Erotik und Sinnlichkeit ist billig. Unsere Figuren – und unsere Schauspieler – wirken auf den Zuschauer hässlich, übertrieben und schrecklich, aber nicht auf uns. […] Wir filmen die Dinge so, wie sie sind, wir verändern nichts. Für uns sind diese hässlich scheinenden Körper hingegen ein Ausdruck von tiefster Menschlichkeit. In unseren Körpern sieht man eine tiefe menschliche Wahrheit. Das Grauen liegt nicht in unseren Figuren […], sondern ist vielmehr in den Ferienorten [zu finden] […], [die] dem Kult eines ekelerregenden Körpers huldigen. Es herrscht eine Gleichschaltung des Körpers vor.« (Pioppo 1996: 11; dt. d. Vf.)

Indem Ciprì und Maresco den Körper des Einzelnen auf den Plan bringen, stellen sie zugleich den Gesellschaftskörper zur Diskussion. Wenn sie den ungeschönten Körper ausstellen und ihre Figuren bewusst in den Gegensatz zum sportlich trainierten, dem normativ »gleichgeschalteten« Körper treten lassen – die Regisseure sprechen diesbezüglich nicht zufällig von einem Körper da supermercato bzw. dem culto del corpo-schifo, dem Kult eines ekelerregenden Körpers –, erheben sie ihre Figuren zum Außergewöhnlichen. Der Fokus der Kamera auf das Subjekt und nicht zuletzt auch dessen bildhafte Rahmung »schneiden« die Protagonisten aus der Wirklichkeit aus, lenken und absorbieren unsere Kon-

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zentration. Der privilegierte, examinierende Blick der Kamera, ihre subjektive Wahl des Sujets, die sich aufgrund der technischen, nicht sichtbaren Apparatur zugleich als objektiv ausgibt, ließe einen jeden von uns zu einer solchen de-normalisierten Figur avancieren. Die Isolation der Protagonisten durch die Kamera und das bewusste Ausstellen ihres vermeintlichen Andersseins schließt diese zugleich aus einer imaginierten Gemeinschaft aus. Möchte man diesen Aspekt näher betrachten, so drängen sich Überlegungen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben als Erklärungsmodell auf. Agamben unterscheidet in Homo sacer zwischen dem rein biologischen Leben auf der einen Seite und dem politischen Leben der Menschen auf der anderen Seite, zwischen zoé und bíos, zwischen dem zum Animalischen degradierten Menschen und dem Menschen als Teil einer politischen Gemeinschaft (vgl. Agamben 2002: 190). Angesichts der manifesten Präsenz abjekter Körper mag man Ciprì und Maresco unterstellen: Sie inszenieren das vom Diskurs Ausgeschlossene, das die aktuelle Ordnung in Frage und der diskursiv-normalisierenden Gleichschaltung entgegen stellt. Der monströse Leib ist das Gegenstück zum biopolitisch normierten Körper bzw. dem in dieser Logik funktionalisierten Leben des Menschen. Die Menschen in ihren Filmen avancieren somit zu Schwellenfiguren, die die Trennung von bíos und zoé aufheben und in Frage stellen.

A BSOLUTE B IOMACHT Mit ihrer Inszenierung des Monströsen setzen Ciprì und Maresco dort an, wo Pier Paolo Pasolinis Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975) aufhört. Dabei stehen die beiden Regisseure aus Palermo zwar in der Tradition seines scharfen, analytischen Geistes, entwickeln aber das Szenario gegenwartsdiagnostisch konsequent weiter. Möchte man Pasolini und die beiden sizilianischen Regisseure in Bezug setzen, so darf man Emilio Morreale Recht geben, wenn dieser bemerkt: »Sie beziehen sich ständig auf Pasolini: Zweifelsohne weisen Pasolinis frühe Filme einige Gemeinsamkeit mit den Filmen von Ciprì und Maresco auf, aber es handelt sich lediglich um äußerliche Ähnlichkeiten. In Totò entlehnen die beiden für Pasolini typische Stilelemente, ganz so als ob es sich um ein Genre handele, aber der Hintergrund ist ein ganz anderer; […].« (Morreale 1999: 48; dt. d. Vf.)

Ihre »prospettiva di fondo«, die Tiefenschärfe ihrer Aufnahmen, unterscheidet sich vor allem in einem: in der Beziehung zur Macht. Während in Salò die Sexualität als Metapher und Instrument der Macht über die anderen dient – sie ist ein Werkzeug der psychophysischen Domination –, ist sie bei Ciprì und Maresco für die Figuren zu etwas Unerreichbarem geworden. In ihrem Universum ohne Frauen und ohne Zukunft (selbst Frauenrollen werden wie in der anti-

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ken Tragödie von Männern gespielt) gieren sie danach, ihre primären, organischen Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei ist es egal, wie oder mit wem – die drei in Totò che visse due volte ans Kreuz geschlagenen Figuren zeugen davon (Selbstbefriedigung, Vergewaltigung, Homosexualität, Verkehr mit Tieren). Im Gegensatz zu Pasolini hat sich bei Ciprì und Maresco jedoch die Notion der Gemeinschaft verändert: Vor dem Hintergrund einer diffusen Anarchie ist das gesellschaftliche Leben (sofern überhaupt vorhanden) in oberflächlichen Riten erstarrt; eine gesellschaftliche Ordnung und ihre Machtinstanzen sind nicht zu erkennen. Eine politische Gemeinschaft existiert nicht, sondern lediglich eine Masse untereinander isolierter und auf sich selbst zurückgeworfener Subjekte, die als Mikroebene der Macht durch ihr Begehren und dessen Nichtbefriedigung kontrollierbar sind und einer unsichtbaren und zugleich absoluten Macht unterstehen. Insofern entpuppen sich die Werke von Ciprì und Maresco als eine Denkfigur gegen Pasolini. Das Anklagen der kleinbürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft, in der die omnipräsenten Medien und mit ihnen die verwobene politische Klasse die Macht übernehmen, scheint sinnlos geworden. Ciprì und Maresco präsentieren uns eine verrohte, anarchische und nicht überschaubare Welt. Nicht überschaubar bedeutet zugleich, dass man mitten im Geschehen ist, dass es kein Außen gibt, vom dem aus man alles distanziert betrachten kann. Insofern teilen sowohl die Figuren als auch die Zuschauer die gleiche Erfahrung. Das Gezeigte fällt in ihren alltäglichen Erfahrungshorizont. »Unkonsumierbar« – das sind die Filme von Ciprì und Maresco zweifelsohne, wie auch Pasolinis Salò. Die ihnen innewohnende Kritik bezieht sich jedoch nicht mehr auf den gesellschaftlich-medialen Totalitarismus, den Pasolini noch in den 1970er Jahren kritisierte. Bei Ciprì und Maresco finden wir kein polemisch-direktes Desavouement, kein empört-warnendes Auflehnen wie bei Pasolini, sondern vielmehr eine zynische mise en abyme, die konsequent aufzeigt, was aus uns geworden ist und noch werden kann, das constat einer verwahrlosten Welt und eine apokalyptische Vision. Dem bei Pasolini an de Sade erinnernden Schloss mit seinem strengen Reglement, seinem ausgeklügelten Strafsystem und seinem sadistisch-faschistischen Totalitarismus, der zwischen Tätern und Opfern klar unterscheiden lässt, stellen Ciprì und Maresco eine Welt entgegen, in der solch binäre weltbildende Oppositionen nicht mehr existieren. Es ist eine Welt der Unordnung, in der die Formen des nackten Lebens keine Ausnahme, sondern die Regel sind, und in der keine übergeordnete Vollzugsmacht über sie richtet. Verdeutlicht wird nicht die verwaltende und ordnende Biomacht, sondern die absolute gesellschaftliche Paralyse und Anarchie, in der überlebt, wer Selbstjustiz übt. Statt statischer, vordefinierter Rollen werden diese fortwährend neu ausgehandelt, manifestiert sich die irreduzible Ambivalenz von Täter und Opfer zugleich. Das Individuum ist dabei auf sich selbst zurückgeworfen, entbehrt jeder Hilfe.

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Unterteilt Pasolini Salò o le 120 giornate di Sodoma in Anlehnung an Dante in drei sich an Gewalt steigernde Höllenkreise – die Kreise der Leidenschaft, der Scheiße und des Blutes – und kreiert bewusst mittels Zentralperspektive eine Ästhetik der Kälte, um die Reduktion des Körpers zu einer bloßen Sache eindringlich herauszuarbeiten (vgl. Greene 1994: 234), so ist eine solche Unterteilung bei Ciprì und Maresco nicht mehr möglich. In den drei Episoden von Totò che visse due volte ist die Gewalt nicht steigerbar. Vielmehr scheint sie naturgegeben und Hobbes’ bekanntes Diktum zu illustrieren, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Nur, dass der Gewalt kanalisierende und das Zusammenleben regelnde Souverän nicht mehr existiert. Nicht von ungefähr spitzen die beiden Regisseure mögliche Deutungen zu, wenn sie sagen, Palermo gebe so eine Art Vorschau auf das Letzte Gericht (vgl. De Marinis 1999: 96). Insofern nimmt sich ihr Kino aus als eine Kunst ohne Zukunft für eine Menschheit, die am Ende ist (vgl. Morreale 1999: 48).

M EDIENKRITIK : L A BANALISSIMA TELE VISIONE Als Denkfigur und Mittel der ästhetischen Suche affiziert das Kino der beiden Sizilianer eine weitere Ebene der medialen Gouvernementalität: die Medienkritik. Ciprì und Maresco setzen, wie bereits schon Pasolini mit Salò o le 120 giornate di Sodoma, dem Publikum einen schwer verdaulichen Film vor bzw. schwere Kost, die erst einmal goutiert und verdaut werden möchte. Stand bei Pasolini das Essen der Exkremente allegorisch für den tagtäglichen Medienkonsum (vgl. Greene 1994: 237), so schließen Ciprì und Maresco mit ihrer Inszenierung des Abjekten daran an. Ihre Kritik gilt einer abgeschmackten und kommerziell-absatzorientierten Medien- und Kinoindustrie. Sie beklagen das Verschwinden eines Qualitätskinos durch oberflächliche und illusionswirksame Kanoni, die sich alternativ geben, es aber nicht sind. In ihrer Kritik machen sie augenzwinkernd auch nicht vor ihren eigenen Filmen oder dem Zuschauer halt. Ihre Filme »fanno schifo«, sind ekelhaft, wie einer der Protagonisten aus Lo zio di Brooklyn selbst sagt. Dabei ist das Erzeugen von Ekel durchaus wörtlich zu nehmen, sondern doch die Figuren bisweilen ihre körperlichen Ausscheidungen gar auch auf die Kamera ab. Der hohe autoreferentielle Gestus und die ironische Provokation massenmedialer Inhalte und Formate verorten ihre Werke explizit in einem medialen Bezugsrahmen, mit dem die Regisseure bewusst brechen: »Unser Film ist der Beweis dafür, dass uns das Publikum absolut egal ist: Wir verachten es, weil es eine abstrakte Masse ist, die aus unkultivierten und selbstgefälligen Menschen mit schlechtem Geschmack besteht.« (Ciprì und Maresco zit.n. Chiacchiari 1995: 60; dt. d. Vf.) Sie wollen, so die Regisseure weiter, vielmehr den Tod des Kinos und unserer Zivilisation nachzeichnen (vgl. Chiacchiari 1995: 61).

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Wie ernst sie es damit meinen, illustriert zum Beispiel die Anfangsszene von Totó che visse due volte. Dort greifen die Regisseure Fragmente aus Lo zio di Brooklyn auf und stellen diese, als Verschachtelung eines Films im Film, in einen metamedialen, selbstreflexiven Kontext. Wir sehen einen abgedunkelten, spärlich gefüllten Kinosaal. »Wie schön!«, stöhnt der Mann auf der Kinoleinwand, der mit einem Esel kopuliert. Mit »Echt eklig!« kommentiert einer der Zuschauer das Geschehen für seinem Nachbarn. Doch anstatt zu gehen, bleiben beide sitzen und schauen weiter zu. Ein wenig stimulierender Sex, der unseren Voyeurismus bedient, danach – Szenenwechsel – folgt leichte Musik. Ein auf einem Trümmerhaufen stehender, junger Gitarrist tönt mit schiefer Stimme, er sei ein Romantiker: »Sono un ragazzo romantico«. Sein Publikum wippt mit. Doch romantisch ist da nichts, weder im Kino noch die Straßenmusik. Vielmehr lässt sich die selbstreflexive Szene als Sinnbild für das italienische Fernsehprogramm und kommerzielle Kinoproduktionen lesen (vgl. Cappabianca 1998: 228). Augenzwinkernd und zugleich polemisch bringen es die beiden palermitanischen Regisseure auf diese Formel. Ihre Verweise auf das Fernsehen sind nicht zufällig, bildet dieses doch als Referenzmedium die Negativfolie für ihre biopolitischen Überlegungen und für ihre Auseinandersetzung mit Formen der medialen Gouvernementalität. Das Fernsehen – »la banalissima televisione«, gegen das schon Pasolini wetterte – setzt inhaltliche und ästhetische Maßstäbe, beeinflusst unser Wissen und steuert so auch unsere Wahrnehmung. Das Publikum stumpft ab, hinterfragt nicht, sondern konsumiert und reproduziert das ihm gebotene Weltbild. In seiner Analyse der Gouvernementalität spricht Foucault diesbezüglich von diskursiven Normalisierungsstrategien, die das Denken lenken und die Übernahme von homogenisierenden Konzepten in Subjektivierungsprozesse erleichtern (vgl. Link 1999: 133f.). Treffend formulierte dies bereits Pier Paolo Pasolini in seinem bekannten Text Contro la televisione aus dem Jahr 1966, in dem er das Fernsehen als neues Machtinstrument entlarvt: »Das Fernsehen ist ein schrecklicher Käfig, der die öffentliche Meinung und die gesamte führende Klasse Italiens gefangen hält. Dabei wird die öffentliche Meinung unterwürfig bedient, um die absolute Unterwürfigkeit zu erreichen. […] Alles wird wie durch eine Schutzhülle präsentiert, mit einem distanzierten und belehrenden Ton, der bereits Vorgefallenes bespricht. Vielleicht ist das noch gar nicht lange her, aber es ist passiert. So betrachtet das Auge des Weisen oder jemand statt seiner die Ereignisse mit einer beruhigenden Objektivität. Dabei ist er Teil eben jenes Mechanismus, der diese Objektivität unbesorgt und ohne wirkliche Schwierigkeiten erst produziert. […] In Wirklichkeit unterscheidet nichts Substantielles die ›Mitteilungen‹ im Fernsehen von der analogen Kommunikation des faschistischen Radios. Nur eins ist wichtig: Dass niemals etwas Beunruhigendes hindurchscheint. […] Das kleinbürgerliche Ideal eines ruhigen und gut-

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S IEGLINDE B ORVITZ bürgerlichen Lebens (konformen Familien darf nichts Schlimmes widerfahren […]) ist in allen Fernsehprogrammen und in jeder ihrer Wendungen ungebändigt allgegenwärtig. All dies schließt die Fernsehzuschauer von jedweder politischen Teilnahme aus, […]. Für sie wird schon gedacht. Dabei handelt es sich um Menschen ohne Makel, ohne Angst, gesund und ohne – nicht einmal zufällige – Schwierigkeiten. Aus all dem erwächst ein Klima des Terrors. […] Es wird nichts Skandalöses gesagt […]. Praktisch kann so kein einzig wahres Wort gesprochen werden.« (Pasolini 1999: 135ff.; dt. d. Vf.)

Die Aufgabe des Kinos sehen die Regisseure darin, den Zuschauer mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, die nicht unterdrückt werden dürfe, sondern der man sich stellen müsse (vgl. Chiacchiari 1995: 60). Ihre Kritik an den Massenmedien sowie an deren homologisierenden und normalisierenden Diskursen gehört zweifelsohne dazu. Sie beinhaltet aber auch eine Reflexion über das Kino, den Status des Bildes und die Definition von Wirklichkeit. Insofern erweist sich ihre monströse Monstranz als doppelbödig.

M E TAFILMISCHES CINÉMA VÉRITÉ Die Ausstellung des Monströsen bei Ciprì und Maresco nimmt sich nicht zuletzt auch als metafilmische Reflexion aus und lässt angesichts des ambivalenten, selbstreflexiven Status’ des Bildes fragen: Was ist Bild, was Wirklichkeit? Und vor allem: welche? Das Kino von Ciprì und Maresco steht im Zeichen des Unbehagens, in welchem die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen und beide Kategorien ununterscheidbar werden. Insofern nimmt sich dieses nicht als Kino der Wahrheit aus, sondern zeigt die Wahrheit des Kinos (vgl. Deleuze 1996: 199). Im Folgenden soll anhand der Figur des Monströsen überlegt werden, ob und inwiefern sich das Werk von Ciprì und Maresco als ein vielschichtiges cinéma vérité begreifen lässt, das Fiktion und Wirklichkeit ununterscheidbar werden lässt und so zu einer metafilmischen Reflexion überleitet. Trotz der grotesken und satirischen Überzeichnung finden wir in ihren Filmen ein ambivalentes Verhältnis zur Wirklichkeit vor. Dies ist nicht zuletzt den Figuren selbst geschuldet, denn der nuschelnde Pietro Giordano, der fettleibige Guiseppe Paviglianiti oder auch der instinktgetriebene Paletta – all jene monströsen Gestalten, die ihre Filme namentlich oder auch anonym bevölkern – existierten wirklich. Man könnte ihnen genauso gut bei einem Spaziergang durch Palermo begegnen, aber wir würden wahrscheinlich an ihnen vorbeilaufen, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Bei Ciprì und Maresco hingegen werden diese Gestalten zu Laienschauspielern. Doch zu sagen, sie schauspielerten nur, mag dabei jedoch zu kurz gegriffen sein. Vielmehr verschwimmen Fiktion und dokumentarischer Gestus. Beständig oszillieren die gefilmten Personen zwi-

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schen bewusstem Exponieren des Ichs vor der Kamera und dem Rückfall ins Selbstsein. Sowohl durch die Provokation durch die Regisseure als auch durch die Plansequenzen scheinen sie bisweilen aus der Rolle herauszutreten, sich zu verselbständigen. Insofern fließen Fiktion und Wirklichkeit zusammen, wechseln sich ab und überlagern sich bis zur Ununterscheidbarkeit und lassen so den Spielfilm zum cinéma vérité gedeihen. Gilles Deleuze beschreibt den ambivalenten, zwischen beiden Polen oszillierenden Status von Figur und Bild wie folgt: »Dem Kino geht es nicht um die Identität einer – realen oder fiktiven – Figur, indem es deren objektive und subjektive Aspekte erfasst. Was es erfassen muß, ist das Werden einer realen Person, die der Film ›auf frischer Tat‹ beim ›Fingieren‹, beim ›Legendenbilden‹ ertappt. […] Die Person ist untrennbar mit einem Vorher und einem Nachher verbunden, das sie im Durchgang von einem zum anderen Zustand vereinigt. Sie selbst wird zu einer anderen, wenn sie sich ans Fabulieren macht, ohne jemals fiktiv zu sein.« (Deleuze 1996: 198)

In eben jenem von Deleuze in der Zeit beschriebenen Werden, das in sich »das Vorher und das Nachher […] zusammenführt, statt beide voneinander zu trennen« (Deleuze 1996: 202), überwindet die Figur unentwegt die Grenze zwischen Realem und Fiktivem (vgl. Deleuze 1996: 202), zeigt, dass es nicht das Wahre, sondern nur viele mosaikartige, vielfacettierte Wirklichkeiten gibt, die einander nicht ausschließen, sondern ergänzen. Das Paradox dessen, was Deleuze als drittes Zeit-Bild klassifiziert, »besteht darin, ein Intervall einzuführen, das im Augenblick selbst andauert« (Deleuze 1996: 204). In diesem Intervall ereignet sich jene »Rede mit zwei Köpfen, mit tausend Köpfen, ›einem nach dem anderen‹« (Deleuze 1996: 199). Um eben jene Ununterscheidbarkeit der Rollen herbeizuführen, d.h. Momente, in denen die gefilmte Figur die Kamera vergisst, ihre Rolle verlässt, die Kontrolle über sich abgibt und sie selbst ist, provozieren Cipri und Maresco ihre Figuren. Durch die direkte Interaktion mit ihnen – und mit der für Kamera und Zuschauer beobachtbaren Welt –, versuchen die Regisseure gezielt, jene Schwellensituation herbeizuführen. Dass die Selbstreflexivität und Provokation gegenüber dem Sprecher zugleich auch in eine Provokation des Zuschauers umschlagen kann, zeigen zahlreiche Szenen bei Cipri und Maresco, wie zum Beispiel die folgende Szene aus Lo zio di Brooklyn, deren explizite und ironischparodisierende Selbstreflexivität den Film bewusst selbst in Frage stellt. Ein nur mit einer weißen Unterhose bekleideter Mann kommt auf die Kamera zu. Hinter ihm eine Mauer, der Weg zur Kamera führt über Schutt. Dort angekommen postiert er sich, eine Grimasse huscht über sein Gesicht. Dann, mit dem Finger auf das Objektiv zeigend, beginnt er zu zählen: »Uno, due, tre, quattro, cinque, sei, sette, otto, nove, dieci, undici, dodici.« Auf die neugierige Frage einer

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Off-Stimme, was er denn da mache, antwortet er, dass er die Zuschauer zähle, was er gereizt laut noch einmal wiederholt. Schlecht laufe es mit den Zuschauern (immerhin kommt er beim Zählen auf 23), weil der Film ekelerregend sei: »Perché il film fa schifo.« Plötzlich unterbricht die Figur ihre Ausführungen und beginnt zu schimpfen: »Wohin willst du, du erbärmlicher Drecksköter?« Er spuckt auf die Kamera und befiehlt: »Geh zurück auf deinen Platz.« Es hilft nichts: Der Zuschauer Nr. 24, jenseits der Kamera, ist einfach aufgestanden und hat den Kinosaal verlassen. So endet die Szene. So schaffen Ciprì und Maresco eine neue Qualität des cinéma vérité, das nicht mehr vorgibt, ein Kino der Wahrheit zu sein, sondern zugleich die Wahrheit des Kinos zu zeigen (vgl. Deleuze 1996: 199). Die Beziehung von Regisseur und Schauspieler bleibt dabei höchst ambivalent: »Das Verhältnis ist nicht wie das vom Regisseur zu einem oder mehreren Schauspielern. Es handelt sich um eine sehr persönliche Beziehung; die Schauspieler leben ihren Alltag. Im Grunde wird nichts fingiert, wenn wir Marcello darum bitten, in seiner Verzweiflung zu verharren. Seine Verzweiflung ist echt, sie existiert auch außerhalb unserer Filme. Mittels der Kadrierung gelingt es uns, dieses Leiden zu verstärken.« (Cilli 1992: 193; dt. d. Vf.)

Diese Vergrößerung des Leidens ihres cinéma vérité stellen die sizilianischen Regisseure auch in Grazie Lia. Breve inchiesta su Santa Rosalia (1996)4 aus. Hierin porträtieren sie die Beziehung zur Schutzpatronin Palermos, die die Stadt vor der Pest gerettet haben soll, und die den Menschen bis heute als Identifikationsfigur dient. Viele beten zu ihr und bitten sie um ein Wunder. So auch der nur mit einer Unterhose bekleidete Mann, der zu Beginn des vermeintlichen Dokumentarfilms mit dem Rücken zur Kamera steht. Im Hintergrund sind der Berg Monte Pellegrino, das Meer und die verwaiste Strandlandschaft zu sehen. Auf ganz eigene Art und Weise erinnert die Szene des Schwarz-Weiß-Films an Kaspar David Friedrichs Mönch am Meer. Auf die interpellierende Stimme aus dem Off hin, dreht sich die Person zu uns. Wir erfahren, dass es sich um Pietro Giordano handelt, der die Heilige Rosalia um die Gnade bittet, anstatt als »pezzo di merda«, als Stück Scheiße, gerufen, wieder bei seinem Namen genannt und als Mensch behandelt zu werden. In der Interaktion von Figur und der OffStimme gerät der herabsetzende Rufname Giordanos zur Schleife. Bisweilen offenbart sich sein stiller Schmerz, durchbricht die Rezitation. Nimmt sich Grazie 4 | In ihrer Umfrage interviewen Ciprì und Maresco verschiedene Personen (allesamt Freaks, die auch schon andere ihrer Filme bevölkerten) und fragen nach ihrer Beziehung zur Heiligen, nach dem Wesen und den Gründen ihres Glaubens. Der Film entstand zum Teil als Auftragsarbeit für die Stadt Palermo; ursprünglich war geplant, ihn bei festlichen Anlässen einzusetzen, wofür er sich jedoch als untauglich erwies.

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Lia im Großen und Ganzen eher als Stilübung aus, so wohnt doch insbesondere dieser Eröffnungsszene eine inkommensurable Ambivalenz inne, die sich zudem als zutiefst politisch erweist. Denn Pietro Giordano existiert wirklich. Er ist keine Kunstfigur, sondern vor der Kathedrale Palermos anzutreffen, wo er um Almosen bittet. Ciprì und Maresco zeigen die gesellschaftlichen Randfiguren als ebensolche, sie bedienen sich ihrer und geben sie bewusst der Lächerlichkeit preis – Pietro Giordano mag hierfür nur ein Beispiel sein. Das von ihnen nachgezeichnete zynische Lebensgefühl erweist sich insofern als zweischneidiger Mockumentary im doppelten Wortsinne.

D ER PRIVILEGIERTE B LICK UND DIE BRÜCHIGE G R AMMATIK DES S EINS Die von Spuren des Realen durchsetzte Vielschichtigkeit des cinéma vérité von Ciprì und Maresco spielt ebenso mit der Inszenierung des Monströsen wie mit der Verschachtelung der Sehordnungen und den selbstreflexiven, metafilmischen Verweisen. In biopolitischer Hinsicht zeigen die beiden Regisseure das divenire animale des zum Tierhaften degradierten Menschen. Indem sie vom Bild sprechen, d.h. einen Metadiskurs entwerfen, verdeutlichen sie zugleich, wie dieses Bild gemacht wird. Wenn sich ihr Kino also als metafilmisches cinéma vérité ausnimmt, so führt es den Film und seinen Bezug zur Wirklichkeit – die Wirklichkeit des Lebens, die Wirklichkeit des Mediums – und somit auch den vermeintlich privilegierten Blick des Zuschauers in eine Zone der Unbestimmtheit und setzt beide Kategorien in ein produktives Spannungsverhältnis. Das Medium gedeiht so zur Schwelle und die »Umkehrung des Blickes« zur »Einlassstelle des Subversiven« (Borsò 2010b: 40). Dabei vereint der Film als Schwellenraum die Kunst mit der Philosophie, das Leben und die Form. Als »immanenter Raum der Übergänge« (Borsò 2010b: 43) ermöglicht der Film, zwischen beiden Polen zu oszillieren, ständig vom einen in den anderen überzugehen und so das Denken der Schwelle selbst zu eröffnen. Gerade dies ist notwendig, um eben jene provozierende Unbestimmbarkeit der Form zu schaffen, »die das Spiel der Maschine, wenn nicht zum Stoppen, so doch wenigstens zum Stottern bringt, also aufs Spiel setzt« (Borsò 2010b: 41). Die von Ciprì und Maresco in Szene gesetzten Formen des Lebens sind solche Formen der Schwelle, die unsere Wahrnehmung und unser Denken aufs Spiel setzen. Scheinen doch ihre monströsen Figuren nicht in unser Weltbild zu passen, sich den Mechanismen des ökonomisch verwertbaren und somit »wertvollen« Lebens zu entziehen. Sie verkörpern das, was wir nicht sein wollen, das, was wir auszublenden, in uns selbst zu unterdrücken und zu vernichten versuchen. Der Ekel, die Abweisung, die einen angesichts der Figuren über-

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kommen mag, ist unsere Reaktion des Ausschlusses: Sie passen nicht in unser Raster, in unsere normierten und normalisierten Vorstellungen und das sollen sie auch nicht. Als Meister der Provokation vermögen die beiden Regisseure jedoch uns in eben jenes Denken der Schwelle zu führen, unseren Blick, während wir urteilen, auf die Gegenwart zu lenken und uns so unsere Funktion als Richter und Reproduzent von Machtmechanismen bewusst werden zu lassen. Indem Ciprì und Maresco – willentlich oder nicht – das (nicht normierte) Leben wieder ins Bild holen, führen sie uns schlussendlich uns selbst vor. Denn wir selbst sind es, die eben jene Monster produzieren, wenn wir die Kategorien von bíos und zoé anwenden. Die Grenze verläuft in uns. Wir »reproduzieren« sie. Dabei dient uns der eingangs erwähnte »dressierte Körper« als implizite Norm, an der wir unbewusst unser Umfeld abgleichen (vgl. Link 1999: 138). Als Richtende bestätigen wir die Norm, indem wir das Monströse zur Ausnahme deklarieren, und begreifen uns so als Teil eines politischen Körpers, der neoliberalen gouvernementalen Mechanismen unterliegt (vgl. Lemke 2007: 77). Dabei verkennen wir jedoch eines: Dass die Grenze nicht »zwischen Individuen oder sozialen Gruppen« (Lemke 2007: 77), sondern in uns selbst verläuft. Wir haben diese »in die individuellen Körper hineingenommen und gewissermaßen ›verinnerlicht‹« (Lemke 2007: 77). »Jede Gesellschaft legt diese Grenze fest, jede Gesellschaft – auch die modernste – entscheidet darüber, welche ihre homines sacri […] sind. Es ist sogar möglich, dass [die Grenze zwischen politisch relevanter Existenz und nacktem Leben (Lemke 2007: 77)] durch das Innere jedes menschlichen Lebens und jedes Bürgers geht. Das nackte Leben ist nicht mehr an einem besonderen Ort oder in einer definierten Kategorie eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes Lebewesens.« (Agamben 2002: 148) Dies führt dazu, dass »[…] in unserer Zeit in einem besonderen, aber sehr realen Sinn alle Bürger als homines sacri erscheinen« (Agamben 2002: 121). Nicht zuletzt steht somit das Menschsein des Bürgers selbst auf dem Spiel, wenn dieses durch Ökonomie und auf unseren Körper bezogene Machtmechanismen beschnitten wird, hat das Subjekt doch nun selbst die Macht, bíos leben und das zoé sterben zu machen (Agamben zit.n. Borsò 2010b: 39). Foucault formuliert luzide: »Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1977: 171) Von daher ist das Kino von Ciprì und Maresco doppelt grausam. Einerseits, weil es den Affront wagt, gegen den vermeintlich »guten Geschmack« opponiert, diesen lustvoll transgrediert. Andererseits weil es die Wirklichkeit ins Bild holt, Fiktion, Inszenierung und Dokumentarisches ununterscheidbar werden lässt. Und dabei sich derer bedient, die vor der Kamera posieren. Ist das Kino von Ciprì und Maresco daher ein unethisches Kino? Oder liegt gerade in seiner Ästhetik ein ethischer Appell? Gewiss ist indes: Dass es die von Rancière thematisierte binäre Opposition aufs Spiel setzt und unser Unbehagen in der Ästhetik

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spürbar macht. Nur entscheiden, wie wir das Gesehene bewerten – dies müssen wir letzten Endes selbst. Mit unserem Urteil verorten wir uns als Subjekte zwischen der individualisierenden subjectivation und dem sich den Machtmechanismen unterwerfenden asujetissement. Ciprì und Maresco führen uns so nicht nur unseren »besetzten« Blick vor Augen, der »gemachte Macht« reproduziert, sondern auch die brüchige Grammatik des Seins. Somit verunsichern und zerstören sie eben jene Einheit, die unserer alltäglichen Routine zugrunde liegt und diese strukturiert. Als radikale Figuration lässt das Monströse das Abjekte an den Grenzen der Ordnung aufscheinen. Sie zeigt, was nicht gezeigt werden darf. Monströs wären somit all jene beunruhigenden »phénomès bruts« (Bataille 1968: 183), die »Verwirrung, Abscheu, Ekel, ja (Todes-)Angst hervorrufen« und »in der Regel aus der […] alltäglichen, geordneten, ›homogenen‹ Realität verdrängt [werden], die ›sich unter dem abstrakten und neutralen Aspekt von Objekten dar[stellt], die exakt definierbar und identifizierbar sind« (Bataille zitiert nach Wiechens 1995: 12). Ciprì und Marescos Erforschung des Heterogenen, das von »Tod und Gewalt spricht und damit notwendig von jeder Form von System ausgeschlossen ist« (Wiechens 1995: 12), bedroht somit nicht nur die Ordnung. Als ein stetig im Werden begriffener Prozess lässt das Monströse die Codes dieses Konstruktes brüchig werden, indem es sie degradiert und sie in die Unschärfe abgleiten lässt. Dieser dynamische drift vom Geschlossenen zum Offenen, macht die Form neu aushandelbar (vgl. Borsò 2010a: 234f.). Die Manifestation der Form avanciert dabei zum Ereignis und zur Schwelle, denn im Moment ihres Ereignens steht sie innerhalb und außerhalb der Grammatik – die Potenz kristallisiert sich zur Materie, die langue zur parole – und erlaubt schlussendlich, das Wort zu artikulieren, dass die Grammatik des Seins sprengt. Genau dies haben sich die beiden Filmemacher zum Ziel gesetzt, wenn sie von der zivilen Funktion des Kinos sprechen, das durch stilistische Experimente und die die (film-)sprachliche Kontamination (vgl. Cilli 1992: 195) neue Formen auszuhandeln versucht und so gesellschaftliche Fragen, wie die Definition von bíos und zoé angesichts der Zoologisierung der Welt, neu zur Debatte stellt.

B ILDER DES U NBEHAGENS : D AS K INO ALS D ENKFIGUR Die Filme von Ciprì und Maresco haben das Kino selbst zum Gegenstand. Sie versuchen, das Medium Film neu auszuloten. Sie arbeiten am und mit dem Bild. Dieses tritt uns nackt, ostentativ, metaphorisch entgegen (vgl. Rancière 2005: 31ff.). So gewinnt das Bild selbst an Präsenz, wird zum Fetisch, zur Monstranz. Dies unterstreicht nicht zuletzt auch die ausgesuchte, bewusst konstruierte Bildkomposition. Ihre Einstellungen erwecken zunächst einen Eindruck der Schwere. Die trostlose, bedrückende Atmosphäre wird durch die hohe photo-

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graphische Qualität der Bilder und durch den langsamen, bisweilen arretierten Bildfluss genährt. Bei Ciprì und Maresco sind die Bilder auf ihren essentiellen Kern reduziert. Doch schon allein die minutiöse Konstruktion des Filmbildes, ebenso wie seine affektive Konnotation, enthüllen das Ziel der Regisseure, mittels einer interstitialen Ästhetik die Leere selbst zu zeichnen, eine wohlgemerkt aufgeladene Leere, in der Verdrängtes an die Oberfläche tritt. Ciprì und Maresco wollen die herrschende Ordnung in Frage stellen, wenn sie sich mokieren und uns provozieren, indem sie die Grenze des vermeintlich »guten Geschmacks« überschreiten. Sie wollen Dissens erzeugen. Nicht zuletzt gelingt ihnen dies, indem sie mit ihren Figuren Sprecher einführen, die – um mit Jacques Rancière zu sprechen – bislang nur als Tiere ohne Stimme wahrgenommen wurden (vgl. Rancière 2008: 35). Ciprì und Maresco setzen so dem repräsentativen Regime (Ästhetik der Politik) das ästhetische Regime der Kunst (Politik der Ästhetik) entgegen. Letztere macht etwas sichtbar, das vorher nicht sichtbar war. Somit eignet sie sich nicht zur Inszenierung der Macht oder zur Mobilisierung der Massen. Vielmehr geht es darum, den gemeinsamen Nenner der Gemeinschaft neu auszuhandeln. In seiner Schrift Das Unbehagen in der Ästhetik fasst Jacques Rancière dies wie folgt zusammen: »Die Politik besteht darin, die Aufteilung des Sinnlichen neu zu gestalten, die das Gemeinsame einer Gemeinschaft definiert, neue Subjekte und Objekte in sie einzuführen, sichtbar zu machen, was nicht sichtbar war, und als Sprecher jene vernehmbar zu machen, die nur als lärmende Tiere wahrgenommen wurden. Diese Arbeit der Erzeugung des Dissenses macht eine Ästhetik der Politik aus, die nichts mit den Inszenierungen der Macht und der Mobilisierung der Massen zu tun hat, die von Benjamin als ›Ästhetisierung der Politik‹ bezeichnet wurde.« (Rancière 2008: 35)

Dass der Mensch in den Filmen von Ciprì und Maresco auf seine elementarsten Instinkte und Triebe reduziert wird, also eine Analogie zum Animalischen hergestellt wird, ist somit nicht zufällig, sondern lässt sich als Ausdruck einer Politik des Ästhetischen verstehen. Ihr Kino rührt als »Form der Erfahrung an die politische Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2008: 43). Es teilt den materiellen und symbolischen Raum neu ein und entpuppt sich dabei als eine Anordnung, die die ästhetisch-mediale Gouvernementalität sichtbar macht (vgl. Rancière 2008: 33ff.), indem sie das Verhältnis von Macht und Ästhetik thematisiert. Als »pensée iconoclaste de l’image« (Deleuze zitiert nach Renaud-Alain 1996: 68), als neue Praxis der Zeichen und Bilder, lassen sich die Filme von Ciprì und Maresco somit im Sinne einer Bio-Poetik (vgl. Borsò 2010a: 235f.) lesen, als Widerstand und Sandkorn im Getriebe, welches die Mechanismen der Verwaltung des Lebens offenlegt. Dabei stehen Leben und Poesie, so betont die Kulturwissenschaftlerin Vittoria Borsò bei ihrer Definition des Begriffs Bio-Poetik,

M ONSTRÖSE M ONSTRANZ »nicht in einem akzidentiellen, sondern notwendigen Verhältnis zueinander […]. [Denn] Literatur [generiert] ein Wissen über das Leben […]. Dieses Wissen betrifft sowohl die Biopolitik, das heißt die sozialpolitischen, juristischen, kulturellen, ökonomischen und wissenschaftlichen Formen, die das Leben verwalten, als auch die Potentialität des Lebens zur ›Anarchie‹ gegenüber diesen Formen.« (Borsò 2010a: 229)

In diesem Spannungsfeld gedeiht das Monströse in den Filmen von Ciprì und Maresco zum produktiven Vektor. Durch die Provokation und denormalisierende Transgression werden jene habitualisierten, »reduzierten Formen des Lebens« (Borsò 2010a: 229) und ihre Deutung unterlaufen. Der daraus resultierende Spielraum der Differenz ermöglicht so einen Schwellen- und Artikulationsraum für andere Formen des Lebens (forma-di-vita), welche wiederum unser Wissen über das Leben und somit auch die Dispositive des Wissens affizieren und aus dem Automatismus von visueller Erfahrung und kognitiver Wahrnehmung befreien. Borsò beschreibt dies wie folgt anhand des Informen: »Das ›In-forme‹ widersteht der Identifikation durch die Selektionsmechanismen der visuellen Wahrnehmung, weil indeterminierte Bilder eine Diskrepanz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir verstehen, produzieren. Sie unterbrechen die automatische Integration des Gesehenen in bestehende kognitive Muster und verhindern die Anwendung vorgegebener perzeptiver Rahmen.« (Borsò 2010a: 234)

Das Kino von Ciprì und Maresco steht somit im Zeichen der Bio-Poetik, haben sich die Regisseure doch mit ihrem »cinema di ricerca« (Cilli 1992: 195) zum Ziel gesetzt, durch das ästhetische Experimentieren nach einer zivilen Funktion der Kunst zu suchen. Die Suche nach eben jener »Dialektik des ›apolitisch politischen‹ Werks« (Rancière 2008: 53), die als Form des gesellschaftlichen Widerstands den Film zu Bildern des Unbehagens und das Kino zu einer Denkfigur avancieren lässt. Denn »[d]as politische Potential des Werks ist seine radikale Trennung von den Formen der ästhetischen Ware und von der verwalteten Welt […]. [Es] ist die Reinheit des inneren Widerspruchs, der Dissonanz, durch die das Werk von einer nicht versöhnten Welt zeugt.« (Rancière 2008: 52) Das biopoetische Kino von Ciprì und Maresco steht also im Zeichen einer Krisis und der Denormalisierung. Die Inszenierung der zoé erfolgt anhand des grotesken, offenen und werdenden Leibes, der klar im Gegensatz zu bürgerlichen Normen und einer entsprechenden Kodierung des Körpers steht. Die kritisch-reflexive Dimension ihrer Werke ruft also implizit Konflikte und Widerstände gegen gouvernementale Praktiken auf den Plan. Das Unbehagen, welches sich angesichts der Konfrontation mit der Ambivalenz des Monströsen und des Spannungsverhältnisses zwischen Politik und Ästhetik einstellt, erweist sich dabei als notwendig, wenden wir uns doch so letztendlich dem zu, was uns ausmacht: dem Menschsein.

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Disziplin und Wahnsinn Die Regierung des hysterischen Körpers im zeitgenössischen Theater Roberto Giambrone

Die Figur – die ›Pathosformel‹ würde Warburg sagen und dabei an den Prototyp der Nymphe denken1 –, die sich so eindringlich in der aktuellen Theaterszene und der internationalen Choreographie manifestiert, ist die des hysterischen Körpers. Als dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich aus den Kliniken verschwand und im Gegenzug dazu auf den Theaterbühnen seinen Einzug hielt, avancierte er schließlich selbst zum Thema und zum ästhetischen Modell. So auch im Falle des Stücks von Alain Platel vsprs (2006), das sich an Filmaufnahmen anlehnt, die der belgische Arzt Arthur Van Gehuchten seinen neurasthenischen Patienten widmete. Dies betrifft aber auch Stücke von anderen Regisseuren und Choreographen, die den Akzent auf die proxemischen Störungen des Körpers gelegt haben, die als Instrument für die Kommunikation und für die Sinnanalyse verstanden werden. Die im Theater und in der Choreographie des 20. und 21. Jahrhunderts gemachten Erfahrungen scheinen zu zeigen, dass durch einen übersteigerten, an einen Anfall erinnernden gestischen Ausdruck und so durch eine emotionale Intensivierung, eben jene tiefe Wahrheit des Theaters wiedererlangt werden kann, die in den Falten des versöhnlichen Bühnenrealismus, seinerseits bereits Zielscheibe der frühen Avantgarde, abhanden gekommen war. Voraussetzung für diese Überlegung ist demnach die Beobachtung, dass das scheinbar von der klinischen Bühne verdrängte Phantom der Hysterie in neuer Form im Tanz und im gestischen Theater des 20. Jahrhunderts weiterlebt. Dieses eigenartige Krankheitsbild – mehr ›erfunden‹ als entdeckt, wie Didi-Huberman suggeriert (vgl. Didi-Huberman 1982) – war Ende des 19. und zu Beginn des neuen Jahrhunderts in Mode, da die Performances der jungen Pa1 | Aby Warburgs Interesse für den Tanz ist durch verschiedene Studien und Forschungen belegt (vgl. u.a. Cieri Via 2006: 103-104; Didi-Huberman 2002; Selmin 2006).

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tientinnen von Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière nicht nur Mediziner und Forscher der menschlichen Psyche anzog, sondern auch Journalisten, Künstler2 und einfach nur Neugierige. Es ist schon interessant zu bemerken, wie die Hysterie genau dann aus der klinischen Falllehre zu verschwinden begann, als die Schüler Charcots, unter ihnen Sigmund Freud und weitere Pioniere der Psychoanalyse, anfingen, das Phänomen von neuen Standpunkten aus zu erforschen und damit den Weg für die dynamische Psychiatrie eröffneten. Im Zuge dessen nahmen andere, uns geläufigere Leiden (Depressionen, dissoziative Störungen und andere vielfältige Persönlichkeitsstörungen) ihren Platz ein. Es ist eine komplexe und faszinierende Thematik, die zwar ausführlich untersucht und dennoch immer noch nicht vollkommen aufgeklärt ist. Das, was uns hier vorrangig interessiert, ist der performative Aspekt der Hysterie, die ja nicht zufällig als »Krankheit durch Repräsentation« bezeichnet wird (Janet zitiert nach Roccatagliata 2002: 209; vgl. auch Bronfen 1998)3 . So wie im Falle der Hysterie, die offensichtlich simuliert wurde und folglich durch das Komplizentum der Patientinnen zu einer wahren Inszenierung avancierte, die Charcots Sprechzimmer in der Salpêtrière gar in eine Theaterbühne verwandelte, hat auch der expressive Tanz, zuerst der Ausdruckstanz und dann das Tanztheater, bis hin zu den jüngsten Abwandlungen des Tanztheaters, dem Körper – durch die Vermehrung von Symptomen (von Signifikanten), welche die kanonischen Verbalund Gebärdensprachen (zum Beispiel die des Balletts oder der klassischen Pantomime) ersetzten – die Funktion des Mediums des Unsagbaren zugewiesen. Seit Mary Wigman hat der Tänzer die Krise der Identität ausgedrückt, indem er die Frakturen und Neurosen von Leib und Seele angesichts der Gräuel und der Ängste des neuen Jahrhunderts darstellte; ein Körper, der fortwährend in der Auflösung und Wiederzusammensetzung begriffen war, in einer Art von zermürbendem und bis heute anstrengendem anatomischen Theater. Als die Epoche des Ausdruckstanzes beendet war, haben sich das Tanztheater und alle folgenden Formen des europäischen Theatertanzes die Elemente dieser unruhigen und explosiven gestischen Kommunikation zu eigen gemacht, eine motori-

2 | Vor allem die Surrealisten erfassten die subversiven und ›revolutionären‹ Aspekte der Hysterie, die das Unbewusste und ihre instinktiven und schöpferischen Eigenschaften zur Geltung brachte. André Breton und Louis Aragon verfassten Le cinquantenaire de l’hysterie (1878-1928), eine Festschrift über die Hysterie, die am 15. März 1928 in der Zeitschrift La Révolution Surréaliste veröffentlicht wurde. Auch Max Ernst und in neuerer Zeit die Künstlerin Louise Bourgeois interessierten sich für die figurativen Aspekte der Hysterie. 3 | Roccatagliata bezieht sich auf folgenden Artikel: Janet, Pierre (1893): »Définitions récents de l’hystérie«, in: Arch. de Neurologie (25), S. 417-438.

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sche Übererregung, die sich da zu manifestieren scheint, wo das Wort oder die konventionelle Gestik ihren Mangel an Ausdrucksvermögen offenbart.4 Vielleicht hat alles mit einem gewissen symbolistischen, unangenehmen Vorgefühl begonnen, einer Art von Aura, um den medizinischen Ausdruck zu verwenden, welche die Vorboten der hysterischen und epileptischen Anfälle bezeichnet. Bestimmte Persönlichkeiten des Melodrams des 19. und 20. Jahrhunderts, die gezierten Schauspielerinnen des Stummfilms, die bekannte Unrast der Duse und die Nervosität der Diven des frühen 20. Jahrhunderts – all dies sind die ersten Symptome einer im Entstehen begriffenen und verbreiteten Unruhe. Es ist die Zeit, in der man im so genannten »Theater der Hysterie« (vgl. Violi 2004) aus der Nervosität und aus dem Phantasmatischen ein Bühnenwerk macht. In der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert füllen der Mesmerismus, der Magnetismus, die Hypnose, die Trance und die spiritistischen Sitzungen in Europa nicht nur die Illustrierten, sondern sind ebenso Freizeitbeschäftigungen, wobei all dies eine zweifelhafte Position an der Grenze zwischen Wissenschaft und Schießbudenzauber einnimmt. Gemeinsamer Nenner dieser Phänomene ist eine ausgeprägte Aufmerksamkeit, die auf den Körper als ein Medium unsichtbarer Kräfte, unterdrückter und unartikulierter Spannungen gerichtet ist, die mit aller Kraft nach außen dringen. Dies ist sicher ein Aspekt dieser epochalen Krise der Sprache und der Kommunikation, der sich auf die Identität des Individuums, in dessen persönlichen und sozialen Beziehungen überträgt. Das Theater – wie übrigens der größte Teil der künstlerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und unserer Tage – ist Symptom und zugleich Therapie dieser Krise geworden. Die Kommunikation des Theaters hat ihre Ausdrucksweise bis an den äußersten Rand des Sagbaren und des Sichtbaren getrieben, indem sie sich ähnlich wie ein anatomisches Kabinett selbst zergliedert und erprobt. Das Theater ist der Ort, an dem das von der Gesellschaft Verdrängte eine tatsächliche Legitimation finden konnte. Gesten, Verhaltensweisen und Ausdrucksformen, die sonst moralischer und ideologischer Zensur unterlägen, werden auf dem begrenzten Raum der Bühne nicht nur möglich, sondern erhalten eine kathartische und therapeutische Valenz. Zudem bieten sie die Möglichkeit – oder die Illusion – jenseits bestehender Zwänge, Regeln und Schemata die Wahrheit und tiefe Motivation des Schauspielers zu erfassen. Dies ist das Fundament der Utopie des Theaters des 20. Jahrhunderts, das die Meister der Bühne, die Theoretiker und die Künstler fasziniert hat.

4 | Parallel dazu kommt es im Theater zur Abwertung des Wortes, dessen Vorherrschaft während des gesamten Jahrhunderts zur Diskussion gestellt wird, bis hin zum Durchbruch des absurden Theaters, das zu Gunsten seines zunehmend visuelleren und weniger literarischen Theaters in die Beckett’sche Aphasie mündete.

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Welche besonderen Eigenschaften zeichnen den Performierenden aus, von dem ja heute im Vergleich zum traditionellen Bildungshintergrund viel mehr Anstrengung gefordert wird? Und wie erreicht man dieses nicht alltägliche Ausdrucksniveau? Ich werde dazu ein Beispiel geben: In der Performance The Dance Sections (1987) lässt der Choreograph Jan Fabre Balletttänzerinnen, wenn auch unter vollständiger Berücksichtigung des klassisch-akademischen Tanzes, starre und symmetrische Haltungen einnehmen und zwingt sie, endlose Minuten lang bewegungslos wie Statuen zu verharren. Irgendwann verrät ein ungewolltes Zittern der Arm- oder Wadenmuskeln die Anstrengung und zeigt, dass wir es mit lebenden Darstellern zu tun haben. In der perfekten, choreographischen Architektur der Aufführung, in eben jenem starren System, das aus einer rigorosen, nach der Perfektion einer Maschine strebenden Disziplin rührt (die des klassischen Balletts), kommt in einem leichten Zittern der Körper zum Vorschein. In dieser Grenzzone, in diesem unmerklichen Abweichen von der Norm, in diesem Bruch der Form, situiert sich ganz im Sinne Artauds der ultimative Sinn des Theaters, sein Verhältnis zum Leben, die Kluft zwischen Wahrheit und Fiktion, zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Leben und Tod. Wie auch Nietzsche, so suchte Artaud das Leben im Theater, die dionysische Wahrheit hinter der Maske der ›ästhetischen Phänomene‹, Apollo versus Dionysos, die Welt des Traums in Gegenüberstellung mit dem Rausch.5 Wir müssen also ein weiteres Mal bei Artaud beginnen, um unsere Geschichte des hysterischen Theaters zu schreiben, die nichts anderes ist als die ununterbrochene, krampfhafte Erforschung des Theaters als Leben. Nicht zufällig beginnt diese Geschichte im ausgehenden 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Wiederentdeckung des Körpers, der nun nicht mehr als mimetisches, sich an einem Vorbild orientierendes Instrument des Vollzugs gedacht ist, sondern selbst zum Kunstwerk erhoben wird. Bekanntlich präzisierte Artaud seine Idee des »metaphysischen«, »alchemistischen« und »grausamen« Theaters, nachdem er einem balinesischen Theaterstück auf der Pariser Kolonialausstellung im Jahre 1931 beigewohnt hatte (vgl. Artaud 1996: 57-72). Indem er den kolonialen Kontext, in dem die ›in Gefangenschaft befindlichen‹ Tänzer vor einem neugierigen Publikum auftreten, vollkommen ausblendete und die Performance jeglicher rituellen Valenz beraubte, erahnte Artaud, dass die Begrenztheit des westlichen – der Vorherrschaft des Textes unterstellten – Theaters in der Unfähigkeit liegt, die Wahrheit, die Kraft des Zeichens, »das Offenbarende an der Materie« (Artaud 1996: 64) in der Tiefe zu erfassen:

5 | Die Nähe von Artaud und Nietzsche – beide lehnten beispielsweise eine ausschließlich mimetische Darstellung ab – ist unter anderem von Jacques Derrida erkannt worden (vgl. Derrida 1966).

D ISZIPLIN UND W AHNSINN »Die Offenbarung des balinesischen Theaters ist dazu angetan gewesen, uns eine körperliche und keine verbale Vorstellung vom Theater zu verschaffen, bei der das Theater in den Grenzen all dessen enthalten ist, was sich auf einer Bühne unabhängig vom geschriebenen Text abspielen kann, während das Theater, wie wir es im Abendland auffassen, immer mit dem Text im Bunde steht und von ihm begrenzt wird.« (Artaud 1996: 73)

Für Artaud besteht die Aufgabe des Theaters darin, »auf objektive Weise verborgene Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen, durch aktive Gebärden jenen Teil Wahrheit zutage treten zu lassen […], der unter den Formen bei ihren Begegnungen mit dem Werden versteckt liegt« (Artaud 1996: 75). Ritus, Dionysos, Rausch, befreite Körper. In einem Wort: Wahnsinn, ein exzentrisches Sich-Positionieren des Lebens im Vergleich zur Norm. Wenn aber der Wahnsinn, dieser Grenzzustand des Ausdrucks, auf der Bühne wie im Leben die einzige offene Tür zur Wahrheit bleibt, und wenn die Systeme, die den Wahnsinn kontrollieren, die Funktion haben, das Symptom zu beschränken, zu unterdrücken, zu heilen – wenn also kein Wahnsinn ohne Überwachung existiert, wie können wir annehmen, dass die Theaterbühne eine freie Zone sei, innerhalb derer Artauds Traum (und jener der gesamten Avantgarde des 20. Jahrhunderts) von einer authentischen und befreienden Geste möglich ist? Sind der Regisseur oder der Choreograph vielleicht keine Subjekte mit den gleichen Verpflichtungen und therapeutischen Aufgaben wie der Arzt oder der Gefängniswärter in den von Foucault beschriebenen Kontrollsystemen (vgl. Foucault 1975)? Wenn schon jede choreografische oder theatrale Inszenierung in Bezug auf die Rollen- und Machtdynamik von Regisseur und Darstellern oder in Bezug auf die Texttreue, die Partituren und die Dramaturgie per definitionem nicht ohne Disziplin auskommen kann, wie und unter welchen Umständen ist es dann für den Schauspieler oder Tänzer möglich – wenn es überhaupt möglich ist –, sich von diesen Zwängen frei zu machen? Kann überhaupt eine Wahrheit des Theaters jenseits der Norm, der Wiederholung, der Disziplin existieren? Kann im Theater mit Hilfe eines disziplinierten Wahnsinns der Sinn am Leben und der Freiheit wiedererlangt werden? Die plausibelste Antwort ist, so paradox es auch scheint, dass im Theater (und im Leben?) Wahrheit nur durch Disziplin existieren kann. Oder besser: Nur in der Disziplin manifestiert sich die Wahrheit als Ausnahme, als Einzigartigkeit und als Rest. Haben wir es hier nicht mit dem Paradoxon der Souveränität zu tun, von der Agamben spricht und die auf der Theaterbühne umgesetzt wird? »Der Souverän [der Regisseur, der Choreograph, der metteur en scène, die Partitur, Anm. d. Vf.] steht zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung [das System des Theaters, Anm. d. Vf.].« (Agamben 2002: 25) Die Instanzen der Authentizität des Performers gehören der zoé (das Sein als solches) an und finden dank einer unumgänglichen, formalen Ausarbeitung ihren Ausdruck im bíos der Bühne (das qualifizierte, politische und, mehr noch, biopolitische Sein).

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Es gibt kein Theater ohne Form, so wie es auch kein Leben ohne Formen gibt. Mit anderen Worten: Damit es Kommunikation und Sinn gibt, muss im Theater wie auch im Leben dem Formlosen Form gegeben und die Materie, das ›nackte Leben‹, diszipliniert werden. Das gesamte experimentelle Theater, das im Namen einer wiedergefundenen Ausdrucksfreiheit entstanden und gewachsen ist, fußt – wie der Terminus selbst schon sagt – auf dem Experimentieren mit neuartigen Bühnenpraktiken, die bis an die Grenzen der Manipulation des Körpers und der Persönlichkeit des Performierenden oder gar darüber hinaus gehen (man spöttelt sehr über gewisse extravagante und oft erzwungene Aufgaben, welche die regieführenden Gurus der Avantgarde ihren eigenen Schauspielschülern auferlegen). Es ist schon kurios, dass an die Stelle der Diktatur des Regisseurs die Demokratie des harten Trainings, die Lehre der Meister-Gurus (die bekanntlich streng, wenn nicht gar autoritär sind) oder, wie in gewissen Fällen, das System der gemeinschaftlichen Kreation getreten ist. Der Diskurs ändert sich nicht, auch wenn nun ein Verhaltenskodex, ein Text, eine Partitur oder eine Choreographie den Regisseur ersetzt. Je mehr man versuchte, die unterdrückte Energie und das unterdrückte Unbewusste zu befreien, umso mehr musste man den neurotischen Überschuss, die motorische Übererregung und das hysterische Theater einschränken und disziplinieren. Alle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, mögen sie auch revolutionär und befreiend gewesen sein, scheinen zu erkennen, dass zur Regierung des Wahnsinns Disziplin nötig ist, um eine noch immer ungelöste Krise fassbar zu machen. Sicher: Die Autorität des traditionellen Regisseurs wurde durch das Ansehen des Leiters ersetzt, ebenso wie die vertikale Machtverteilung durch eine horizontale Teilhabe am Projekt. Pina Bausch (um das bekannteste Beispiel zu nennen) und ein Großteil der Regisseure und Choreographen des 20. Jahrhunderts haben das gemeinschaftliche Schaffensprinzip zur Theaterpraxis gemacht. Wie allgemein bekannt, entwickelte die deutsche Choreographin eine Arbeitsmethode, die nicht zufällig den Verfahren der Psychotherapie ähnelt. Seit Blaubart (1977) band sie die Darsteller direkt in die Schöpfung ihrer Stücke mit ein. Während der Proben konfrontierte Bausch die Tanzakteure (um einen bereits allgemein gebräuchlichen Begriff zu verwenden, der sowohl die schauspielerische Qualität als auch die der Tanzkunst der Darsteller des Tanztheaters ausdrückt) mit einer Reihe von scheinbar vom Thema und vom Kontext der Performance losgelösten Fragen und Anregungen. Die Darsteller sollten – indem sie Materialien und Eindrücke von selbst Erlebtem und aus dem eigenen Unterbewusstsein hervorholten – mit einer Bewegungssequenz antworten. Diese konnte Worte, Schweigen, physiognomische und proxemische Verhaltenszüge beinhalten. Nachdem die gesammelten Geschichten und Materialien feinfühlig von der Choreographin verlesen worden waren und dann eine Synthese gebildet wurde – ein Verfahren, das Bausch dem Brecht’schen Theater, der Revue, dem

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Kino und der Musik entlieh –, flossen sie in die Inszenierung mit ein. Bauschs Proben ähnelten einer psychotherapeutischen Sitzung, in der die Akteure, die zugleich Patienten waren, zu einer Art kreativem Outing aufgerufen wurden. Der Leiter ist also ein mit Autorität ausgestattetes Subjekt, das dazu befähigt ist, das Stück zu organisieren, indem es alle Darsteller, auch innerlich, gleichermaßen in den Schöpfungsprozess mit einbindet. Es sind die Schauspieler selbst, die ihn legitimieren eine solche horizontale Macht auszuüben. Auf diese Art und Weise fühlen sich die Akteure und Tänzer mitverantwortlich für die Entstehung des Stückes und betrachten das Training, wenngleich es mühsam und eintönig ist, als ein notwendiges Instrument, um ihren Empfindungen Form zu geben und sie mitzuteilen. Ich möchte mit einem Beispiel schließen. Dieses fasst im Bild des disziplinierten Wahnsinns nicht nur das zusammen, was vorgeblich ein Oxymoron zu sein scheint, sondern zeigt zudem auch einen Fluchtweg aus dem bisher geschilderten System auf. Es gibt in der Tat eine besondere Art des Darstellers: Er simuliert nicht, er schlüpft nicht in die Kleider einer Figur und er interpretiert auch keine fremden Gedanken, Wörter und Gesten. Dies ist der Seiltänzer, der auf einem Seil schwebt, zwischen Leben und Tod, und der nichts anderes tun kann, als an einem präzisen Punkt sein Gleichgewicht in Einklang zu bringen, jenseits dessen er unrettbar ins Leere fallen würde. Der Seiltänzer scheint der perfekte Darsteller zu sein, der Einzige, der nicht lügt und dem es gelingt, jene so mühsam von den Theoretikern und Lehrmeistern des Theaters des 20. Jahrhunderts gesuchte Wahrheit zu finden. Der Schauspieler muss glaubwürdig sein. Nicht zu Unrecht vertrat Stanislavskij diese Meinung schon im letzten Jahrhundert (vgl. Stanislavskij 1954). Im Hinblick auf einen sehr erlesenen Realismus bemühte sich Stanislavskij darum, eine nicht nur wahrscheinliche, sondern auch glaubwürdige Schauspielkunst anzustoßen. Daraus entstand seine Methode der Einfühlung, bei der Schauspieler in sich gehen müssen, um reale und folglich authentische Gefühle zu beleben und auf die Bühne zu übertragen. So hatte Stanislavskij einen Weg gefunden, den Text so vielen Untertexten unterzuordnen, wie Akteure auf der Bühne waren, die eingedenk ihrer persönlichen Freude und ihres persönlichen Unglücks lachten oder weinten und damit in gewisser Weise das Werk der Neoavantgarde vorwegnahmen. Aber der Schauspieler kann sich auch erlauben Fehler zu machen oder sich an einem Abend auszuruhen, um es am folgenden besser zu machen. Nicht so der Seiltänzer. Er kann nur präzise sein, sonst ist es sein Untergang. Vielleicht müssen wir auf ihn schauen, wenn wir weiterhin die Wahrheit des Theaters suchen wollen, eine Performance, die perfekt (und im Sinne Artauds) mit dem Leben übereinstimmt, mit jenem schwierigen Gleichgewicht zwischen Instinkt und Selbstregierung, zwischen Wahnsinn und Heil(igkeit) [san(t)ità, Anm.d.Ü.]. Der Seiltänzer ist souveräner Herrscher seiner selbst. Er hat also die Macht über Leben und Tod ohne jeglicher Ver-

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mittlung zu bedürfen: kein Autor, kein Regisseur. Während er sich einzig um sich kümmert, unterwirft sich der Seiltänzer spontan der Disziplin, die seine Wahrhaftigkeit während des Auftritts legitimiert und zugleich sein Leben garantiert: Akzeptierte der Seiltänzer die Disziplin nicht, so würde er sterben. Der Seiltänzer ist also Metapher einer Existenzbedingung, die im Ausdruck einer Geste und in der Ekstase der Perfektion nach der Synthese eines das Leben affirmierenden Seins sucht. Dies scheint die perfekte Form dieser zerklüfteten und unerfüllten Suche nach einer Wahrheit des Ausdrucks zu sein; eine Wahrheit, welche die Regisseure, Schauspieler, Pädagogen und Theoretiker des Theaters mithilfe schwieriger Kompromisse und maskenhaftem Spiel das gesamte letzte Jahrhundert hindurch gesucht haben. Aus dem Italienischen von Kristina van Raay

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Ästhetik der Sichtbarmachung der Techniken souveräner Macht Das Verwirrspiel von Jules Quichers alias Loriano Macchiavellis Romanen Funerale dopo Ustica und Strage Nicole Welgen

Bologna zählt heute zweifelsohne zu den Metropolen des italienischen Kriminalromans. Ereignisse, die sie erschütterten, Schriftsteller, die davon Zeugnis ablegten, haben die Hauptstadt der Region Emilia-Romagna dazu gemacht. Loriano Macchiavelli, laut Elvio Guagnini »einer der Protagonisten der italienischen Literatur und der neueren Geschichte des italienischen Kriminalromans«1 (vgl. Guagnini 2010: 52), war der Erste, der seine Kriminalromane in Bologna ansiedelte – zur Entrüstung der Bewohner, die ihm vorwarfen, den demokratischsten Ort Italiens mit Schmutz zu bewerfen, wie er in einem Vorwort zu der kürzlich erfolgten Neuauflage seines 1979 erschienen Romans Cos’è accaduto alla signora perbene berichtet (Macchiavelli 2006b: V). Als Macchiavelli Mitte der 1970er Jahre seine ersten Kriminalromane veröffentlicht, gilt Bologna tatsächlich allenthalben als signora perbene, als anständige Frau. Bologna, la grassa (fett), la dotta (gelehrt), la rossa (rot), ist bekannt dafür, anders zu sein, fett (des guten Essens wegen), gelehrt (als Heimat von Europas ältester Universität) und rot (entsprechend der überwiegenden politischen Gesinnung ihrer Bewohner) zugleich. Alles scheint zu funktionieren, alles in Ordnung zu sein, die Wirtschaft erfolgreich, der Ruf der Universität ausgezeichnet und sogar Kommunisten und Christdemokraten auf Ausgleich bedacht: »Eine Art Wunder und Beispiel für ganz Italien« (vgl. Del Buono 2005: 224; dt. d. Ü.).

1 | Eigene Übersetzung. Auch die folgenden Übersetzungen der italienischen Zitate stammen von der Verfasserin.

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B OLOGNA , S TADT IM W ANDEL Und doch nimmt Macchiavelli wahr, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen der späten 1960er und 1970er Jahre auch an Bologna nicht spurlos vorbeigehen. Seine ersten Kriminalromane zeugen von einer Stadt im Wandel, vor dem viele ihrer Bewohner sogar dann noch die Augen verschließen, als kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Tränengas in der Luft liegt (vgl. Macchiavelli 2006b: V). Die Bürger der für ihre Offenheit bekannten Stadt sind misstrauisch geworden (vgl. Bernardi 2001: 168; 171), so sehr, dass sogar im traditionell roten Bologna Linke zunehmend unter Generalverdacht stehen, wie Macchiavellis Kriminalromane Le piste dell’attentato (1974) und Ombre sotto i portici (1976) bezeugen: Sobald Cesare Raimondi, Chefinspektor und Vorgesetzter des Protagonisten, Antonio Sarti2 , erfährt, dass linke Arbeiter oder Studenten in der Nähe des Tatorts gesehen wurden, ist er davon überzeugt, die Täter gefunden zu haben (vgl. Macchiavelli 2004: 13-14, 29-30; Macchiavelli 2003: 26). Viel Industrie gibt es im Raum Bologna allerdings nicht und somit auch nicht viele Arbeiter, so dass im Gegensatz zu anderen italienischen Städten in den späten 1960er und 1970er Jahren nahezu ausschließlich Studenten in den Straßen demonstrieren, die laut Luigi Bernardi besonders radikal, phantasievoll und respektlos auftreten und Gleichgesinnte aus dem ganzen Land anlocken (vgl. Bernardi 2001: 171-172). Bolognas Bürger müssen geschockt erkennen, dass ihre Stadt sich doch nicht oder zumindest nicht mehr von anderen im Land unterscheidet (vgl. Macchiavelli 2006a: 8; Bernardi 2001: 171). Sie ziehen sich in ihre Häuser zurück, nicht um nachzudenken, sondern um darauf zu warten, dass man einen schlimmen Tag vergesse (vgl. Macchiavelli 2006a: 7; Del Buono 2005: 228), wie Macchiavelli ihre Reaktion 1979 in Cos’è accaduto alla signora perbene beschreibt. Schlimme Tage hat es in Bologna zu diesem Zeitpunkt schon viele gegeben: Nach Angaben Luigi Bernardis ist kaum eine andere italienische Stadt derart von den Studentenprotesten erschüttert worden (vgl. Bernardi 2001: 171). Im Jahre 1977 eskaliert die Situation: Am 11. März wird der Student Francesco Lorusso bei Zusammenstößen mit der Polizei von einem Carabiniere erschossen. Die Nachricht verbreitet sich schnell; der freie Sender Radio Alice, über den viele davon erfahren, wird noch am gleichen Abend von der Polizei wegen Aufrufs zur Gewalt geschlossen. Am frühen Nachmittag nehmen Tausende an einem Protestzug durch die Innenstadt teil, während dem es erneut zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. Mitglieder der außerparlamentarischen Linken zerstören Schaufenster, plündern Geschäfte und besetzen die 2 | Von Antonio Sarti ist stets als »Sarti Antonio, sergente« die Rede, in Anlehnung an und als Parodie auf den in Italien bei Militär und Polizei gängigen Brauch, den Nachnamen zuerst zu nennen (vgl. Guagnini 2010: 53-54).

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Universität, die Innenminister Francesco Cossiga daraufhin mit Panzern umstellen lässt. Die Proteste dauern drei Tage an, führen zu zahlreichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen und greifen auch auf andere italienische Städte über.3 Ein Jahr später sollten die so genannten anni di piombo, die Bleiernen Jahre, wie sie aufgrund der Vielzahl an abgefeuerten Projektilen genannt werden, mit der Entführung und Ermordung des Präsidenten der Regierungspartei Democrazia Cristiana, Aldo Moro, ihren Höhepunkt, aber nicht ihr Ende erreichen: Bologna steht das Schlimmste noch bevor. Am 2. August 1980 kommen um 10.25 Uhr durch eine im Wartesaal des Bahnhofs deponierte Bombe 85 Menschen ums Leben, über 200 werden verletzt. Zahlreiche Bürger eilen zum Tatort, um bei der Bergung der Verschütteten zu helfen. Da nicht genügend Rettungswagen verfügbar sind, werden Verletzte auch mit Linienbussen, Taxen und privaten Pkw in die Krankenhäuser der Stadt gebracht. Ärzte und Pflegepersonal unterbrechen ihre Sommerferien. Die Uhr am Bahnhofsgebäude, die bis heute den Zeitpunkt der Explosion anzeigt, wird zum Mahnmal des verheerendsten Sprengstoffattentats der italienischen Nachkriegsgeschichte. Es handelt sich um den vorletzten einer Serie von Anschlägen, die das Land seit dem 12. Dezember 1969 erschütterten, als eine Bombe in der Banca Nazionale dell’Agricoltura an der Piazza Fontana in Mailand explodiert war. Bereits 1974 wurde der Raum Bologna schon einmal zum Ziel von Terroristen: Am 4. August forderte ein Sprengstoffattentat auf den Schnellzug Italicus bei San Benedetto Val di Sambro zwölf Tote und fünfzig Verletzte. Der Anschlag auf den Schnellzug 904 am 23. Dezember 1984, bei dem fast an der gleichen Stelle 267 Menschen verletzt wurden und an dessen Folgen siebzehn Menschen starben, wird von einigen Autoren zwar noch den anni di piombo zugerechnet, wurde wohl aber bereits mit Hilfe der Mafia durchgeführt und markiert daher schon den Übergang zu einer neuen Ära von Sprengstoffattentaten.

3 | Vom 22. bis 24. September 1977 wird Bologna erneut zum Schauplatz der Bewegung: In Folge eines Appells gegen die Repression in Italien, den französische Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Gilles Deleuze am 5. Juli 1977 in der Zeitung der außerparlamentarischen Linken Lotta Continua veröffentlichen, versammeln sich hunderttausend junge Menschen zu einem internationalen Kongress, der aufgrund tiefgreifender Differenzen mit der inoffiziellen Auflösung der sich aus sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzten Bewegung endet.

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S TRATEGIA DELLA TENSIONE : D IE M ACHT INSZENIERT IHREN EIGENEN TOD Die Anschläge der anni di piombo reihen sich in die Kette der so genannten misteri d’Italia ein, der italienischen Geheimnisse, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes ziehen. In einigen Fällen besteht die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, in anderen sogar die Gewissheit, dass sie von Neofaschisten organisiert und verübt wurden. Nichtsdestotrotz ist bis heute keiner der genannten Anschläge vollkommen aufgeklärt. Bereits gesprochene Urteile sind stets wieder aufgehoben worden, so dass bis heute keine Täter feststehen und deren Mandanten schon gar nicht. In allen Fällen gilt als sicher, dass das Handeln der Neofaschisten von Staatsorganen wie den italienischen und amerikanischen Geheimdiensten zumindest geduldet und gedeckt wurde und wird, wie auch der italienische Philosoph Antonio Negri glaubt: »Heute erkennen selbst die Gerichte an, dass die CIA in die Taten verwickelt war, genau wie die italienischen Geheimdienste. Und dass der Staat – korrupt, nicht funktionierend, meinetwegen, aber trotzdem der Staat – hinter dem Ganzen steckte.« (Negri 2003: 14)

Was veranlasst einen Staat, die Ermordung der eigenen Bürger zu dulden, wenn nicht sogar zu initiieren? Für Negri liegt die Antwort auf der Hand: »Der Terrorismus des Staates sorgte für Angst, es ging darum, Angst zu verbreiten. Die Regierung hatte selbst Angst, Angst vor den Massen, und sie verbreitete unter den Massen wiederum Angst, damit die sich nicht rührten.« (Negri 2003: 11)

Der Staat fürchtete die Massen oder zumindest den Teil der Bevölkerung, der den Partito Comunista Italiano (PCI) zur größten kommunistischen Partei Westeuropas machte – und sogar beinahe zur stärksten Kraft Italiens. Bei den Parlamentswahlen 1976 unterlag der PCI der Regierungspartei Democrazia Cristiana nur knapp mit 34,4 gegenüber 38,7 Prozent der Stimmen. Die USA befürchtete, dass ein Wahlerfolg der italienischen Kommunisten die NATO von innen heraus schwächen oder sogar das Land ganz an den Blockgegner Sowjetunion verloren gehen könnte, und griff zu ähnlichen Maßnahmen wie in Griechenland, wo 1967 in Reaktion auf den drohenden Wahlsieg der Sozialisten eine Gruppe rechtsextremer Offiziere im so genannten Obristenputsch mit Unterstützung der USA die Macht ergriff und eine Militärdiktatur errichtete. Die so genannte strategia della tensione (Strategie der Spannung) deren Hauptinstrumente in Italien die erwähnten Bombenanschläge darstellten, zielte darauf ab, die Demokratie zu destabilisieren, Angst zu verbreiten, in der Bevölkerung den Wunsch nach Sicherheit und einem starken Staat zu nähren und, falls nötig, einen Staatsstreich durchzuführen (vgl. Ganser 2005: 7).

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Soweit der Stand der Ermittlungen, genährt durch Aussagen zweier Männer, die darin verwickelt waren: des vielfachen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, der 1990 unter dem Druck des Richters Felice Casson die Existenz von Stay-Behind-Armeen der NATO in allen Ländern Westeuropas während des Kalten Kriegs einräumte, und des Neofaschisten Vincenzo Vinciguerra, Mitglied von Gladio (Schwert), wie die paramilitärische Geheimorganisation in Italien hieß. Eine offizielle Version der Vorfälle gibt es nichtsdestotrotz bis heute nicht und es wird sie wohl auch nie geben, es kann sie laut Jean Baudrillard nicht geben, da sich die Sprengstoffanschläge in Italien wie der Watergate-Skandal in den USA und politische Affären grundsätzlich jeglichen Aufklärungsversuchen entziehen: »Alle Manipulationshypothesen lassen sich kreiselartig endlos umkehren. Denn die Manipulation ist ein fließender ursächlicher Zusammenhang, wo Positivität und Negativität sich gegenseitig erzeugen und wieder zudecken und es nicht mehr Aktives als Passives gibt. Man kann das politische Realitätsprinzip nur willkürlich [sic!], durch Anhalten dieser sich im Kreise drehenden Kausalität, retten. Die Prämissen oder Konsequenzen einer Handlung oder eines Ereignisses werden durch die Simulation eines eingeschränkten konventionellen Perspektivfeldes berechenbar.« (Baudrillard 1978: 29)

Verfolgen Hypothesen generell das Ziel, Gesetzmäßigkeiten herzustellen, dienen sie nach politischen Skandalen der Vergewisserung, dass es Gesetzmäßigkeit, dass es Regeln überhaupt gibt. Der Wunsch nach Ordnung, dem eine jede Hypothese letztlich geschuldet ist, kommt in diesem Fall dem Wunsch nach Recht und Ordnung gleich. Indem sie potenzielle Verantwortliche und deren potenzielle Absichten benennt, suggeriert eine jede Hypothese, dass es sich dabei um Ausnahmen handele, der Rest der Gesellschaft und deren politische Führung jedoch integer seien. In seinem 1978 und somit zum Zeitpunkt der Moro-Entführung und -Ermordung veröffentlichten Essay La précession des simulacres, das noch im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung in der Aufsatzsammlung Agonie des Realen erschien, beantwortet Jean Baudrillard die Frage nach der Urheberschaft der Anschläge in Italien entsprechend wie folgt: »Handelt es sich bei den Sprengstoffanschlägen in Italien um Taten linker Extremisten oder um eine Provokation der extremen Rechten oder um eine von der Mitte ausgehende Inszenierung mit der Absicht, alle Extremisten in Verruf zu bringen, um damit die eigene angeschlagene Macht wiederzuerlangen, oder handelt es sich um ein Szenario der Polizei und um eine Erpressung der öffentlichen Sicherheit? All das ist gleichzeitig wahr und die Suche nach Beweisen zur Ermittlung der objektiven Tatsachen hält diesen Interpretationsschwindel nicht auf. Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die

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N ICOLE W ELGEN nichts mehr mit einer Logik der Tatsachen und einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat.« (Baudrillard 1978: 30)

Die Logik der Simulation folgt eigenen Regeln und Baudrillard führt in seinem Essay zwei Beispiele an, in denen sie dazu dient, ein System zu bewahren. In Disneyland gehe es etwa darum, »zu kaschieren, daß das Reale nicht mehr das Reale ist, um auf diese Weise das Realitätsprinzip zu retten« (Baudrillard 1978: 25). Disneyland werde als imaginärer Ort hingestellt, um den Anschein zu erwecken, dass der Rest der USA real sei, um zu kaschieren, dass das ganze Land wie ein Disneyland anmute. Auch das zweite Dissuasions-Szenarium, wie Baudrillard es nennt (vgl. Baudrillard 1978: 34), findet er in Amerika: Die Watergate-Affäre habe dazu gedient, die Abwesenheit von Moral in der Politik zu kaschieren, um sie so wiederherzustellen (vgl. Baudrillard 1978: 29). Watergate werde als Skandal hingestellt, um den Anschein zu erwecken, dass es sich dabei um eine Ausnahme handele, Moral in der Politik grundsätzlich aber hochgehalten werde. »Eine Art Hormonbehandlung durch die Negativität und die Krise« (Baudrillard 1978: 34) wird schließlich auch Italien zuteil. Durch Duldung, wenn nicht Initiierung der Bombenanschläge inszeniert auch hier die Macht ihren eigenen Tod, »um wieder einen Schimmer von Existenz und Legitimität zu erlangen« (Baudrillard 1978: 34-35). Scheinbar hilflos angesichts der linken und rechten Extremisten, ist deren Handeln der Macht tatsächlich keineswegs unwillkommen oder sogar von ihr herbeigeführt. Ähnlich und doch ganz anders verhält es sich im Algerienkrieg, der laut Jean Baudrillard »als ungeheures Todesdispositiv und Todesspektakel nur zum Medium des terroristischen Rationalisierungsprozesses des Sozialen geworden« (Baudrillard 1978: 60) sei. Wie der Vietnamkrieg habe er letztlich die Grundlage für neue Gesellschaftsformen geschaffen, woran die eigentlich gegnerischen Parteien durch die »in absoluter Komplizenschaft« (Baudrillard 1978: 60) erfolgte Zerstörung vorkapitalistischer Gemeinschaftsstrukturen gleichermaßen Anteil hatten. Auch die Bombenanschläge in Italien sind einem übergeordneten langfristigen Ziel geschuldet, auch hier wird Destruktion für nötig erachtet, um Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben; anstatt eine neue Gesellschaftsform zu schaffen, sollen sie allerdings den Status quo gerade wahren und eine Regierungsbeteiligung des Partito Communista Italiano (PCI) weiterhin verhindern. Ein Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich zuletzt Anhänger von Mussolinis Repubblica Sociale Italiana Mitgliedern der antifaschistischen Widerstandsbewegung Resistenza und somit Landsleute gegenüber standen, scheint Italien in gewisser Weise erneut zum Schauplatz eines Kampfes zu werden, der gemäß Michel Foucaults Konzept des modernen Rassismus, »nicht zwischen zwei Rassen, sondern von einer einzigen wahren Rasse aus geführt

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wird, nämlich jener, die die Macht innehat und die Norm vertritt, gegen jene, die von dieser Norm abweichen« (Foucault 1999: 75). Indem staatliche Organe alles daran setzen, einen Wahlerfolg des Partito Comunista Italiano (PCI) zu verhindern, verhalten sie sich ähnlich wie die Mächtigen in der Sowjetunion, wo ideologische Gegner zu »einer Art biologischer Gefahr« (Foucault 1999: 97) gemacht und als solche behandelt wurden. Die Bedrohung erfolgt nicht von außen, sondern von innen, ihr wird durch einen Exklusionsmechanismus begegnet, »den die Gesellschaft gegen sich selber, gegen ihre eigenen Elemente, ihre eigenen Produkte kehrt; ein innerer Rassismus permanenter Reinigung, der zu einer der grundlegenden Dimensionen der gesellschaftlichen Normalisierung wird« (Foucault 1999: 75). Zur Wahrung des politischen Status quo ist die Ausgrenzung derer unabdingbar, die nicht nur für die jahrzehntelange christdemokratische Herrschaft eine interne Bedrohung darstellen, sondern auch für das prekäre Gleichgewicht des Kalten Krieges. Der italienische Staat will mit Gewalt verhindern, dass seine Bürger das ihnen eigene, fundamentale Recht in einer jeden Demokratie wahrnehmen, selbst darüber zu entscheiden, welche Partei das Land regieren soll. Doch damit nicht genug: Italiens Bürger werden nicht nur manipuliert, sondern auch zu homines sacri, die – im Dienste des Gemeinwohls – straflos getötet werden können (vgl. Agamben 2002: 18ff.). Wenn laut Giorgio Agamben auch jede Gesellschaft ihre homines sacri selbst bestimmt (vgl. Agamben 2002: 148), sind sie für die Konstitution von politischen Gemeinschaften doch unerlässlich: Erst durch den Ausschluss von Menschen, denen der Rechtsstatus verweigert wird, entsteht eine Gesellschaft. Auf der Absonderung von homines sacri gründet sie ihre Macht. Ebenso wie laut Carl Schmitt die Regel »überhaupt nur von der Ausnahme« (Schmitt 1993: 21) lebt, offenbart dem Staatsrechtler zufolge der Ausnahmezustand auch am klarsten das Wesen der staatlichen Souveränität, die, »um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht« (Schmitt 1993: 19). Vielmehr suspendiert sie das Recht in dieser Situation unter Berufung auf das eigene Selbsterhaltungsrecht (vgl. Schmitt 1993: 18f.), »sie erhält das Recht, indem sie es aufhebt, und setzt es, indem sie sich davon ausnimmt« (Borsò 2005: 61). Rechtsetzung kommt Walter Benjamin zufolge daher immer auch Machtsetzung gleich und ist »insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt« (Benjamin 1988: 61). Wer während der anni di piombo in Italien über den Ausnahmezustand entscheidet, hat ihn, wie bereits dargestellt wurde, gezielt herbeigeführt, sich zur Wahrung der eigenen Autorität ganz bewusst auf jene »Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus« (Agamben 2004: 9) begeben, wie Giorgio Agamben den Ausnahmezustand in seinem gleichnamigen Werk definiert. In dieser »Zone der Unentscheidbarkeit« (Agamben 2004: 8) werden alle Bürger zu potentiellen homines sacri. Die Anschläge richten sich gegen keine bestimmte Gruppe der Bevölkerung. Jeder kommt an jedem öffent-

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lichen Ort als Opfer in Frage. Das Leben eines jeden Bürgers wird aufs Spiel gesetzt, der Tod eines Jeden in Kauf genommen. Nur so kann das Gefühl der Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung fortbestehen, das im italienischen Volk den Wunsch nach einem starken Staat nähren soll, wie Vincenzo Vinciguerra, Mitglied der bereits erwähnten paramilitärischen NATO-Geheimorganisation Gladio, die in die Strategie der Spannung verwickelt war, Jahre später gestehen wird: »You had to attack civilians, the people, women, children, innocent people, unknown people far removed from any political game. The reason was quite simple. They [the massacres] were supposed to force these people, the Italian public, to turn to the State to ask for greater security. This is the political logic that lies behind all the massacres and the bombings which remain unpunished, because the State cannot convict itself or declare itself responsible for what happened.« (O’Shaughnessy 1992: 54)

Die Strategie geht auf. Schon 1975 wird das so genannte Reale-Gesetz erlassen, das den Ordnungskräften gestattet, präventiv von Waffen Gebrauch zu machen und ihnen Straffreiheit garantiert. Ein Referendum, das die Absetzung des Gesetzes durchsetzen soll, scheitert: 76,5 % der Teilnehmer sprechen sich dagegen aus. Der Ausnahmezustand wird die Regel. Krieg und Polizeimaßnahmen, deren Unterscheidung laut Antonio Negri immer schwerer falle, werden im Italien der 1970er Jahre wie in dem von Michael Hardt und ihm beschriebenen Empire zu Ordnungsfaktoren, die den Frieden aufrechterhalten und direkt gegen jeden Versuch der so genannten Multitude, der die Menge konstituierenden Singularitäten, gerichtet sind, sich zu organisieren (vgl. Negri 2003: 156; 223). Durch die Inszenierung ihres eigenen Todes ist es der Macht tatsächlich gelungen, ihr Fortbestehen zu sichern, mehr noch, sie wird sogar Zeuge »eines kollektiven Verlangens nach Zeichen der Macht« (Baudrillard 1978: 41). Eingeschüchtert durch die nicht enden wollenden Anschläge, verfallen Italiens Bürger in Panik, rufen immer lauter nach dem Staat, fordern immer stärkere Gesten und sind sogar bereit, als Preis für mehr Sicherheit, Persönlichkeits- und Freiheitsrechte zu opfern. »Vielleicht generiert die Panik sogar den Wunsch nach Unterdrückung, denn schließlich ist Unterdrückung recht praktisch. Sie erlaubt, Entscheidungen zu vermeiden. Es genügt, am Leben zu bleiben« (Negri 2003: 149f.), schreibt Antonio Negri. Seine Beobachtung bezieht sich zwar nicht explizit auf die Situation in Italien, trifft aber auf sie zu und veranschaulicht, wie sich die italienische Bevölkerung selbst dem Ausnahmezustand ausliefert, sich durch den Verzicht auf Persönlichkeits- und Freiheitsrechte in eine selbstverschuldete Unmündigkeit begibt, sich eines ›qualitativen Lebens‹ (bíos) berauben und auf das ›nackte Leben‹ (zoé) reduzieren lässt, als ob sie ein Körper wäre, der durch einen »inneren Rassismus« (Foucault 1999: 75) Foucault’scher

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Prägung von Abweichlern gereinigt werden könnte, eine gestaltbare Materie, die einer Form unterworfen werden könnte. Dass ein Volk die Einschränkung seiner lange und hart erkämpften Privilegien fordert, mag ungewöhnlich anmuten, ist aber tatsächlich keineswegs neu: Nicht zuletzt jene »Melancholie von Gesellschaften ohne Macht« (Baudrillard 1978: 41) hat Baudrillard zufolge zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Faschismus hervorgebracht.

M ACCHIAVELLIS E XPERIMENT UND SEINE F OLGEN Wenn die Macht ihren eigenen Tod inszeniert, um sich Legitimität zu verschaffen und fortan auf ausdrücklichen Wunsch der Bevölkerung Zeichen der Macht produziert, ist die Realität bereits vollkommen von fiktiven Elementen durchsetzt. Während der anni di piombo wird jedoch nicht nur Realität Fiktion, sondern auch Fiktion Realität. Nach dem Anschlag auf den Bahnhof von Bologna ergeht es Loriano Macchiavelli ähnlich, wie zwei Jahre zuvor dem sizilianischen Autor Leonardo Sciascia. Er fühle sich nach Moros Tod nicht mehr frei, sich etwas auszudenken. Auch deshalb ziehe er es vor, schon Geschehenes zu rekonstruieren. Er habe Angst, dass das, was er schreibe, wahr werden könne (vgl. Giacovazzo 2003: 30). So kommentiert Sciascia die eklatanten Gemeinsamkeiten, die der Fall Moro mit seinem sieben Jahre vor der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Politikers erschienenen Kriminalroman Il contesto aufweist. In Macchiavellis 1976 und somit vier Jahre vor dem Sprengstoffanschlag veröffentlichten Kriminalroman Sui colli all’alba wird Kommissar Antonio Sarti nachts zum Bahnhof gerufen, nachdem ein Anrufer der Polizei mitgeteilt hat, dass die Gruppe Armata Rivoluzionaria Popolare (Revolutionäres Volksheer) in der Unterführung eine Bombe deponiert habe (vgl. Macchiavelli 2005: 39ff.). Die Polizei riegelt den Bahnhof weitläufig ab, doch die Terrordrohung stellt sich als falsch heraus, und die zahlreichen Schaulustigen kehren in ihre Betten zurück, enttäuscht davon, dass es keinen Knall gegeben hat (vgl. Macchiavelli 2005: 46). Der Knall, der vier Jahre später in ganz Bologna zu hören ist, wird die Stadt und ihre Bewohner nachhaltig verändern. Die Stadt sei nicht mehr die gleiche, erklärte Macchiavelli 1983 in einem Interview (vgl. Orengo 1983: 5), und auch Luigi Bernardi konstatiert im Rückblick, dass danach nichts mehr so sein würde, wie es einmal war (vgl. Bernardi 2001: 176) – mit einer Ausnahme: Bologna bleibt Schauplatz von Macchiavellis Antonio Sarti-Reihe, trotz oder gerade wegen des Anschlags, weshalb ihn Oreste Del Buono wortwörtlich zum mutigsten italienischen Kriminalautor kürt (vgl. Del Buono 2005: 223). Vor dem Anschlag hat Macchiavelli acht Kriminalromane veröffentlicht und sechs weitere werden folgen, die RAI macht daraus sogar eine Fernsehserie, bis der Schriftsteller be-

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schließt, die beliebte Figur in Stop per Sarti Antonio aus dem Jahre 1987 umzubringen – auch wenn er sie sieben Jahre später auf vielfältigen Wunsch der Leser wieder zum Leben erwecken wird. Im Moment hat Macchiavelli andere Pläne. Fünfzehn Jahre sind seit Macchiavellis erstem Kriminalroman vergangen und im Lauf der Jahre sind andere Autoren seinem Beispiel gefolgt – nicht nur, aber nicht zuletzt in Bologna. Seit 1990 gehört er zu den Gründern des so genannten Gruppo 13 (Gruppe 13), gilt sogar als Vater dieses Zusammenschlusses von Kriminalautoren (vgl. Guagnini 2010: 53), die, wie er selbst oder Carlo Lucarelli, aus dem Raum Bologna stammen oder dort leben, wie der gebürtige Sarde Marcello Fois. Dessen ungeachtet sind viele weiterhin überzeugt, dass ein italienischer Schriftsteller nicht in der Lage sei, einen guten Kriminal- und Spionageroman zu schreiben (vgl. Bonaccorso 2005). Macchiavelli will das Gegenteil beweisen und schließt mit einem Lektor des Rizzoli Verlags folgende Wette ab: Er schreibe drei Kriminal- und Spionageromane, unter einem ausländischen Namen und man würde dann ja sehen, ob und wenn ja, wie viele Bücher verkauft werden (vgl. Oliva 2009). Seine Entscheidung für dieses Genre begründet er später wie folgt: »Die spy story war zu meiner Zeit viel lebendiger und viel greifbarer. Alles in allem reflektierte sie die mich damals umgebende Realität, die italienische Realität.« (vgl. Macchiavelli, zit. it. nach Guagnini 2010: 61; dt. d. Ü.) Macchiavelli hat angesichts der jüngsten Ereignisse seines Landes den Eindruck, selbst Teil eines Spionageromans zu sein und beschließt daher auch, sich in den drei Romanen mit misteri d’Italia, ungeklärten Fällen der italienischen Nachkriegszeit, zu befassen: dem Flugzeugabsturz bei Ustica, dem Anschlag auf den Bahnhof von Bologna und dem so genannten Dreieck des Todes, einer Gegend in der Emilia, wo von 1945 bis 1948 politische Morde verübt wurden, die ehemaligen kommunistischen Partisanen zugeschrieben werden. Die ersten beiden Fälle liegen zu diesem Zeitpunkt noch keine zehn Jahre zurück. Edmondo Aroldi des Rizzoli Verlags nimmt die Herausforderung an, und 1989 erscheint Funerale dopo Ustica, der erste Roman eines gewissen Jules Quicher, Experte für Sicherheitsprobleme in einem bekannten Schweizer Konzern, wie die Umschlaginnenseite verrät. Am Anfang scheint der Plan aufzugehen: Der Roman Funerale dopo Ustica, der auf dem nie geklärten Flugzeugabsturz in der Nähe der Insel Ustica beruht, bei dem am 27. Juni 1980 81 Menschen ums Leben kamen, wird zu einem Bestseller (vgl. Bonnacorso 2005) – auch wenn, oder eher, weil man glaubt, dass nicht ein Schweizer, sondern ein Italiener ihn geschrieben hat (vgl. Lucca 1989: 6; Fiori 1989: 8). Tatsächlich gibt die unbekannte Identität des Autors Anlass zu wilden Spekulationen. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens geht der Kalte Krieg seinem Ende zu, aber er ist noch nicht vorbei: Daria Lucca, die den Roman für Il Manifesto rezensiert, äußert sogar den Verdacht, dass der Autor seinen Text missbrauche, um Eingeweihten geheime

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Botschaften zukommen zu lassen (vgl. Lucca 1989: 6). Ernesto Gagliano, Rezensent der Literaturzeitschrift Tuttolibri, glaubt hingegen nicht an eine Verschwörung, wie er dem anonymen Autor auch keine Hintergedanken unterstellt: Vielleicht wolle der unbekannte Schriftsteller nur mittels der nationalen Geheimnisse eine Abenteuergeschichte erzählen – ein legitimes Vorhaben (vgl. Gagliano 1989: 3). Daria Lucca und Simonetta Fiori, Rezensentin für La Repubblica, sehen das anders: Sie werfen dem Autor, angesichts Macchiavellis Wette mit Aroldi sicherlich nicht ganz zu Unrecht, vor, das allgemeine Interesse an dem Flugzeugabsturz von Ustica ausgenutzt zu haben, um die Verkaufszahlen zu erhöhen (vgl. Lucca 1989: 6; Fiori 1989: 8). Wer angesichts des Titels Funerale dopo Ustica auf einen Roman über den Flugzeugabsturz hofft, muss lange warten. In der Tradition des klassischen Spionageromans wird die Geschichte um loyale und korrupte Geheimdienste, rechte und linke Terroristen und einen international agierenden Killer nicht rückwärts, sondern chronologisch erzählt. Das Unglück wird erst auf den letzten Seiten thematisiert, die Tat stellt das Ende der Handlung dar, nicht, wie beim klassischen Kriminalroman, deren Anfang. In Quichers alias Macchiavellis Version der Ereignisse wird das Flugzeug abgeschossen, um einen im Rollstuhl sitzenden Passagier zu beseitigen, der gemeinsam mit Vertretern aus Politik, Justiz, Wirtschaft und den Medien den Mord des Staatspräsidenten in Auftrag gegeben hatte. Wie für eine spy story üblich, steht in Funerale dopo Ustica nicht die Aufklärung des Flugzeugabsturzes im Mittelpunkt der Handlung, sondern die Verfolgung des Killers und der Versuch, ihn zu stoppen. Die Vereitelung des Attentats auf den Staatspräsidenten durch einen jungen Geheimagenten bildet dementsprechend den Höhepunkt des Romans, das Ereignis, das den Autor dazu bewogen hat, ihn zu verfassen, lediglich das Nachspiel. In seinem nächsten Projekt, dem 1990 und somit zum zehnten Jahrestag des Anschlags auf den Bahnhof von Bologna erscheinenden Roman Strage (»Massaker«), wendet sich Quicher alias Macchiavelli wieder dem Genre Kriminalroman zu. Die Tat ereignet sich am Anfang der Handlung, in deren Mittelpunkt die Aufklärung des Anschlags steht und an deren Ende sich herausstellt, dass das Sprengstoffattentat eigentlich an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt hätte stattfinden sollen. Die Bombe sei durch ein Versehen beim Transport an das eigentliche Ziel ausgelöst worden, das schon einmal Tatort eines Sprengstoffattentats wurde: Die Detonation habe nicht am 2. August am Bahnhof von Bologna, sondern am 4. August in Benedetto Val di Sambro erfolgen sollen, wo sie das Land bei der Gedenkfeier anlässlich des zweiten Jahrestags des Anschlags auf den Italicus nicht nur des Staats-, sondern auch des Ministerpräsidenten und einiger Minister beraubt und so eine ideale Situation für einen Staatsstreich geschaffen hätte (vgl. Quicher 1990: 520). Verglichen mit Funerale dopo Ustica, wird der Kreis derer, die darin verwickelt sind, um die Geheimloge und die Mafia erweitert, und der Autor greift

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zunehmend auf real existierende Personen zurück, deren Namen er kaum verändert, wie etwa im Fall des dem General Carlo Alberto Dalla Chiesa nachempfundenen Colonello Dalla Vita. Den Namen Sergio Picciafuocos, einer der Neofaschisten, denen vorgeworfen wird, den Anschlag ausgeführt zu haben, behält er sogar bei, woraufhin Picciafuoco den Autor von Strage wegen Diffamierung und übler Nachrede anzeigt; der Roman wird nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung aus dem Verkehr gezogen. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, wer sich hinter dem Pseudonym Jules Quicher verbirgt, Macchiavellis Wette nimmt so ein frühzeitiges Ende, und für den Autor beginnen nach eigenen Angaben die schlimmsten sechs Monate seines Lebens: Macchiavelli erhält nächtliche Anrufe, man droht ihm, Auto und Haus in die Luft zu sprengen und seiner Familie etwas anzutun (vgl. Oliva 2009), und obwohl er später von allen Anklagepunkten freigesprochen werden wird, ist sein Roman Strage zunächst nicht wieder im Handel erschienen.4 Hat Macchiavelli, indem er Picciafuocos Namen beibehalten hat, die Brisanz dieses Schrittes unterschätzt oder damit besonderen Mut bewiesen? Nachdem er sieben Jahre vor dem eigentlichen Anschlag auf den Bahnhof von Bologna das Szenario in seinem Kriminalroman Sui colli all’alba vorweggenommen hatte und Zeuge geworden war, wie die Fiktion durch die Realität eingeholt wurde, muss er nun am eigenen Leib erfahren, dass auch das Gegenteil der Fall sein kann. Diejenigen, die Macchiavelli über Monate bedrohen, kümmert es nicht, dass es sich bei Sergio Picciafuoco in Strage um eine Romanfigur handelt, ähnlich den Mitgliedern der organisierten Kriminalität, die Roberto Saviano nach dem Leben trachten, seit er Protagonisten seines Werks Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della Camorra (2006) ihre Namen gegeben hat. Und selbst professionelle Rezipienten scheinen zu vergessen, dass Funerale dopo Ustica und Strage zwar auf Fakten beruhende, aber nichtsdestotrotz fiktive Werke sind, wie das Beispiel Daria Luccas beweist, die dem Autor in ihrer in Il Manifesto erschienenen Rezension zu Funerale dopo Ustica vorhält, dass sich gar kein Rollstuhlfahrer auf der Passagierliste der abgestürzten Maschine befunden habe (vgl. Lucca 1989: 6). Es steht außer Zweifel, dass Macchiavelli nicht damit gerechnet hatte, in Folge der Veröffentlichung von Strage bedroht zu werden, und auf diese Folgen der Fiktion für seine Wirklichkeit gerne verzichtet hätte. Davon abgesehen, findet er jedoch durchaus Gefallen daran, den Leser, bezüglich der Frage, wo Realität aufhört und Fiktion beginnt, zu verwirren. Indem er auf der Umschlaginnenseite Einblicke in die Biografie des vermeintlichen Autors gewährt, scheint er bestrebt zu sein, Jules Quicher als real existierende Person zu etablieren, bindet

4 | Der geplante dritte Roman zum sogenannten Dreieck des Todes erschien 1992 unter Macchiavellis richtigem Namen und dem Titel Un triangolo a quattro lati bei Rizzoli.

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ihn aber gleichzeitig als Romanfigur in die Handlung ein.5 Macchiavelli macht sich auf diese Weise das von Roland Barthes und Michel Foucault postulierte Konzept vom Verschwinden des Autors zu eigen, das Giorgio Agamben über zwei Jahrzehnte später wieder aufgreifen sollte. »Es gibt ein Subjekt ›Autor‹, doch wird es nur durch die Spuren seiner Abwesenheit bezeugt« (Agamben 2005: 61), schreibt Agamben in seinem Essay Der Autor als Geste, und auch Macchiavelli lässt sich als Autor verschwinden und gerade dadurch die Frage danach überhaupt erst aufkommen. Der Autor wird, dem Täter in einem Kriminalroman gleich, gezielt zur Suche ausgeschrieben. Macchiavelli scheint auch in diesem Fall von den Geistern eingeholt zu werden, die er gerufen hat: Das Interesse der Öffentlichkeit ist derart groß, dass es das an den eigentlichen Romanen zu übersteigen scheint. Doch damit nicht genug: Der Schriftsteller geht sogar so weit, sein unter dem Pseudonym Jules Quicher verfasstes Werk unter richtigem Namen zu rezensieren. Wenige Tage bevor er als Autor von Strage entlarvt wird, stellt er in L’Unità augenzwinkernd fest, dass Jules Quicher die Kombination von Fakten und fiktiven Elementen derart gut gelungen sei, dass es dem Leser schwer falle, sie voneinander zu unterscheiden (vgl. Macchiavelli 1990: 20). Macchiavellis Verwirrspiel ist nicht nur der Wette mit Aroldi geschuldet, der Schriftsteller verfolgt damit ein weiteres Ziel. Mit seiner Ästhetik an der Grenze von Wirklichkeit und Fiktion liefert er eine indirekte Analyse der von der Politik geschaffenen »Zone der Unentscheidbarkeit« (Agamben 2004: 8), macht die Methoden sichtbar, mit denen die Macht ihre Souveränität behauptet6 und ist so jenen Schriftstellern zuzuordnen, die im Sinne der von Vittoria Borsò formulierten Bio-Poetik »eine Kritik der Verwaltung und Steuerung des Lebens durch die Techniken von Wissenschaft, Politik, Religion, Literatur und Kultur im weitesten Sinne vollziehen« (Borsò 2010: 229). Indem Macchiavelli sich als Autor verschwinden und gerade dadurch die Frage danach überhaupt erst aufkommen lässt, verweist er auf einen anderen Autor im Sinne des lateinischen Etymons7, der sich bis heute nicht zu seinem Werk bekannt hat: den italienischen 5 | Während Jules Quicher in Funerale dopo Ustica noch beim französischen Geheimdienst arbeitet und seinen Kollegen Stefano Degiorgi dabei unterstützt, die Ermordung des italienischen Staatspräsidenten zu verhindern, zählt er in Strage, obwohl er sich nur durch Zufall zum Zeitpunkt des Anschlags in Bologna aufhält, sogar zu den Protagonisten. In seinem 1976 erschienen dritten Teil der Antonio Sarti-Reihe Ombre sotto i portici hatte der Autor sich bereits selbst zur Romanfigur gemacht: Als mittelloser Kriminalautor möchte Loriano Macchiavelli ein Zimmer in einem ehemaligen Bordell mieten und wird zu Unrecht mit dem Mord an dessen Besitzerin in Verbindung gebracht. 6 | Auf ähnliche Weise funktioniert die Analyse der souveränen Macht in Kolumbien durch die novela de la violencia, insbesondere durch Gabriel García Márquez. 7 | Dt. Autor > lat. auctor – ›Urheber‹.

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Staat. Macchiavelli, der seinen Roman selbst rezensiert und öffentlich darüber rätselt, wer der Autor sein könnte, verhält sich tatsächlich ähnlich wie die italienische Exekutive, welche die Anschläge verurteilt und doch höchstwahrscheinlich schon vor deren Durchführung zumindest davon wusste. Die Manipulation der Leser entspricht der Manipulation der Bevölkerung. Macchiavelli kann nicht akzeptieren, wie der Staat sich als Urheber der Anschläge verschwinden lässt, und auch die italienische Bevölkerung soll es nicht hinnehmen, im Gegenteil, seine Romane sollen die Erinnerung daran wach halten und seine Landsleute dazu bewegen, nicht müde zu werden, nach den Verantwortlichen zu fragen. Macchiavelli erklärt, seine dokumentierte Phantasie schüre die Forderung nach dokumentierten Wahrheiten aufs Neue (vgl. Smargiassi 2010: 42).

N ARRARE È RESISTERE : E RZ ÄHLEN BEDEUTE T WIDERSTEHEN Nach dreißig Jahren sind die anni di piombo ein fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der italienischen Nation und laut Giovanni Moro, Sohn des ermordeten Staatsmanns Aldo Moro, gerade deshalb besonders präsent, weil wir uns nicht daran zu erinnern wissen: Man könne sich nicht von den siebziger Jahren befreien, ohne zu lernen, sich an sie zu erinnern (vgl. Moro 2007: 5). Um die Ereignisse zu verarbeiten, die Toten zu wecken und das Zerschlagene zusammenzufügen, ist es nötig, sich dem Sturm des Fortschritts entgegen zu stemmen und zu verweilen, wie der Engel der Geschichte, den Walter Benjamin in seiner neunten geschichtsphilosophischen These beschreibt, es vergeblich versucht (vgl. Benjamin 1977: 255). Literatur kann einen Beitrag dazu leisten. Sie kann, wie Sergia Adamo betont, den Opfern, denen vor Gericht keine Gerechtigkeit widerfahren ist, eine Stimme verleihen und sich so als eine Art Gegendiskurs zur Justiz etablieren: »Literature, as the privileged site of production of stories and narratives can define itself in relation to the law as an oppositional discourse where the textualization of justice and the transposition of its abstractions into representation takes place.« (Adamo 2003: 40)

Ähnlich jenem Archiv von Dokumenten, Akten und Internierungsregistern aus dem 17. und 18. Jahrhundert, das Michel Foucault zu erstellen beabsichtigte und dem sein 1977 selbstständig veröffentlichter Text La vie des hommes infames lediglich als Vorwort dienen sollte, kann auch die Literatur Spuren des Ausgelöschten tragen, diese Leben »wenigstens einen Augenblick lang […] in einem blendenden, schwarzen Licht« (Agamben 2005: 62) erstrahlen lassen und so »der Nacht und dem Schweigen« (Agamben 2005: 61) entreißen, was nicht nur einer Anklage der Macht, sondern auch einem Akt des Widerstands

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gegen sie gleichkommt. Der Kriminalautor Carlo Lucarelli, der sich seit 2001 auch im Rahmen einer Fernsehsendung mit dem Titel Blu notte – Misteri italiani ungelösten Fällen der Ersten Republik widmet, spricht Literatur die gleiche Bedeutung zu: Erzählen heiße Widerstand leisten und nicht vergessen (vgl. Lucarelli 2002: 82). Von den Anschlägen der anni di piombo zu erzählen, heißt Widerstand leisten, sich nicht mit der Reduktion auf das ›nackte Leben‹ (zoé) zufrieden geben: Widerstand gegen den »inneren Rassismus« (Foucault 1999: 75) Foucault’scher Prägung, durch den die Macht den Bevölkerungskörper von Abweichlern reinigen will; Widerstand gegen den Versuch der Macht, die Diversität des Lebens einer Form zu unterwerfen und damit zu reduzieren (vgl. Borsò 2010: 236, 239). So muss laut Valerio Evangelisti auch Strage als das Werk eines Autors gelesen werden, der aus Überzeugung respektlos Worte ausspreche, die andere nicht einmal flüstern würden (vgl. Evangelisti 2010). Auf diese Art und Weise pocht er auf das Recht des Schriftstellers, durch seine Werke aufzudecken, was im Interesse der Macht verborgen bleiben soll (vgl. Smargiassi 2010: 42). Gerade deshalb gebe er keine Antworten auf die Fragen seiner Leser und wolle ihr Verlangen nach Wahrheit gerade nicht stillen, wie Macchiavelli selbst in einem Interview betont: »Ich will kein Verlangen nach Wahrheit stillen. Im Gegenteil. Mir gefiele es, wenn der Leser das Buch bestürzt zuklappen würde und nicht bereit wäre, sich damit zufrieden zu geben. Ich möchte sogar, dass er gegen meine Hypothese protestiert und nach einer eigenen sucht.« (Smargiassi 2010: 42; dt. d. Vf.)

Zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung und nahezu sofortigen Beschlagnahmung hat sich nun Einaudi des Romans Strage erinnert und unter Macchiavellis richtigem Namen zum dreißigsten Jahrestag des Anschlags auf den Bahnhof von Bologna im Sommer 2010 neu aufgelegt. Ob diese Entscheidung in erster Linie dem großen Interesse geschuldet ist, das die italienische Öffentlichkeit seit wenigen Jahren den anni di piombo entgegen bringt, dem runden Jahrestag des Sprengstoffattentats, den Erfolgen, die der Verlag kürzlich mit Wiederveröffentlichungen von Macchiavellis ersten Antonio Sarti-Kriminalromanen aufweist oder dem aktuellen literarischen und filmischen DocufictionBoom: Fest steht, dass das Werk heute vollkommen andere Reaktionen auslöst als vor zwanzig Jahren. Valerio Evangelisti etwa hält die Neuauflage für eine exzellente Idee und beschreibt das Lektüreerlebnis als fesselnd und schwindelerregend (vgl. Evangelisti 2010), und auch Enzo Verrengia und Gian Paolo Serino bescheinigen Macchiavelli zwanzig Jahre nach der Niederschrift, mit Strage einen außergewöhnlichen Roman verfasst zu haben (vgl. Verrengia 2010: 17; Serino 2010: 25).

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Wie die Rezeptionsgeschichte des Werkes beweist, benötigen kollektive ebenso wie individuelle Traumata nicht nur eine Zeit der Latenz, bevor sie ausgesprochen werden (vgl. Giesen 2004: 31), sondern auch, bevor sie Gehör finden können. So lässt sich auch erklären, warum das Werk trotz der immer größer werdenden zeitlichen Distanz zum Ursprungsereignis heute von Cristiano Sanna als aktueller denn je bezeichnet wird (vgl. Sanna 2010); eine verbreitete Wahrnehmung, die auch darauf basieren mag, dass der Ausnahmezustand in Italien längst zur Regel geworden ist, die italienische Gesellschaft keineswegs aufgehört hat, sich »auf gewaltsame theatralische, ironische, spöttische und imaginäre Weise« aufzulösen (Baudrillard 1978: 99), wie Baudrillard bereits in den 1970er Jahren diagnostizierte. Die von Macchiavelli mittels seines Verwirrspiels aufgezeigte Manipulation der Bevölkerung durch die Macht setzt sich fort, wenn sie auch heute mit anderen Mitteln betrieben wird als vor dreißig Jahren. Nachdem die Legislative im Laufe der Jahre derart an Bedeutung verloren hat, dass kaum noch ein Gesetz nicht als von der ausführenden Gewalt initiierte Dringlichkeitsverordnung, decreto-legge, erlassen wird (vgl. Agamben 2004: 26), ist die Exekutive bestrebt, auch die Befugnisse der Judikative immer mehr einzuschränken. Die vierte Gewalt im Staat, die Medien, sind ohnehin zum größten Teil in der Hand des ehemaligen Ministerpräsidenten Berlusconi und somit ihrer Funktion als Kontrollinstanz der Politik weitgehend enthoben: Wahr ist, was die Macht diktiert. Zehn Jahre nach dem Anschlag war die Zeit für Strage noch nicht reif, zwanzig weitere Jahre später ist sie es – und Macchiavellis Experiment nach eigenen Angaben so doch noch zu einem guten Ende gekommen (vgl. Sanno 2010). Loriano Macchiavelli hat zweifelsohne Pionierarbeit geleistet, in mehrfacher Hinsicht: Er war der Erste, der Bologna zum Schauplatz seiner Kriminalromane machte und zwar, wie Oreste Del Buono betont, bevor und nachdem Bologna zu einem der beunruhigendsten Knotenpunkte der nationalen Tragödie und Farce wurde (vgl. Del Buono 2005: 223). Er hat nicht nur durch seine Werke, sondern auch durch sein Engagement einen großen Beitrag zur Renaissance des italienischen Kriminalromans geleistet. Mit Funerale dopo Ustica und Strage hat er zu einem frühen Zeitpunkt Werke zu italienischen Geheimnissen aus der Zeit der anni di piombo veröffentlicht, die auf Fakten beruhen, die man durch die Kombination mit fiktiven Elementen heute als docufiction oder romanzi-verità bezeichnen würde. Viele italienische Schriftsteller, darunter auch Giancarlo De Cataldo mit Romanzo criminale (2002) und Simone Sarasso mit Settanta (2009), sind in den letzten Jahren seinem Beispiel gefolgt: Nicht um die offenen Fragen der Bleiernen Jahre zu beantworten, sondern um sie aufrecht zu erhalten.

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Biopolitik am Computerbildschirm Valentina Mignano

Dieser Beitrag möchte die Rolle der visuellen Repräsentation in einer von Überwachung durchdrungenen Gesellschaft analysieren, so insbesondere aus der Perspektive der Visual Culture Studies und der Medienwissenschaften. Dabei wollen wir versuchen, etwa im Sinne der These Grossbergs (vgl. Grossberg 1999: 75), einen pluralen Ansatz zu verfolgen, der den Kulturwissenschaften entspricht. Insbesondere soll hier die zunehmende Bedeutung des Online-Sharings von digitalen Bildern unter zwei Aspekten betrachtet werden: zum einen die Zurschaustellung des privaten Alltagslebens und zum anderen die Schaffung von sozialen Netzwerken über das Internet im Sinne einer »partizipativen Überwachung« (vgl. Albrechtslund 2008). Ausgehend von Foucaults Konzept des Panopticon (vgl. Foucault 1975) werden wir sehen, dass dieses auch heute noch – versieht man es mit einigen nötigen theoretischen Ergänzungen – ein funktionales Werkzeug und ein Ausgangspunkt ist, der in unserer fließenden und dynamischen Gesellschaft unerlässlich ist.

D IE K RISE DES DIGITALEN S UBJEK TS Das World Wide Web hat nicht nur die Medienlandschaft verändert, sondern auch das Leben von Millionen von Privatpersonen. Die in der Praxis weit verbreitete Nutzung des Online-Sharings von Bildern ist für das Verhalten von Millionen von Menschen in den hoch technologisierten Ländern entscheidend und hängt zudem mit dem Thema der digitalen Kontrolle eng zusammen. Dass diese Thematik auch die aktuelle Krise des sogenannten »digitalen Subjekts« betrifft, ist insofern durchaus anzunehmen. Nach Meinung von Theoretikern wie Sherry Turkle führt die komplexe Verbreitung von Bildern und Bildschirmen, die in unserer Lebenswirklichkeit allgegenwärtig sind, zu radikalen Veränderungen unserer Selbstwahrnehmung (vgl. Turkle 1995). Turkle zufolge ist die Krise des zeitgenössischen Subjekts eng mit dem eigenen ›Leben auf dem Bildschirm‹ verbunden, wo der User sowohl sehendes Subjekt als auch betrach-

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tetes Objekt ist, und wo der alleinige Blick des Panopticonwächters durch ein plurales, kollektives und fließendes Beobachten ersetzt wird. Die Krise des zeitgenössischen visuellen Subjekts wird in diesem Zusammenhang, so Turkle, durch die Fragmentierung des Selbst gefördert. Diese Fragmentierung resultiert aus der Interaktion mit einem Interface, das sich wiederum in viele weitere Fenster aufteilt, von denen ein jedes mit den verschiedenen Dimensionen der virtuellen Existenz des Subjekts verknüpft ist. Für viele Digital Natives kann das Leben somit in eine Reihe von verschiedenen Fenstern unterteilt werden: von Diskussionsbeiträgen, über das Flirten mit Gleichaltrigen innerhalb einer Domain mit mehreren Nutzern (Multi User Domain) bis hin zur gleichzeitigen Recherche für den Schulaufsatz. Das ›Leben außerhalb der digitalen Sphäre‹ wird angesichts dieser komplexen Verflechtung von digitalen Fenstern nur als ein weiteres Fenster wahrgenommen und dabei oft auch als das uninteressantere. Mit Norbert Bolz lässt sich nachvollziehen, dass »alle Identitätsprobleme der humanistischen Kultur aus den Anforderungen einer neuen Mensch-Maschine-Synthese resultieren« (Bolz 1997: 661). In einem ganz ähnlichen Kontext wollen wir uns nun der Rolle der neuen Medien, des Internets und der Formen von Online-Überwachung als Ausdruck eben dieser Krise zuwenden. Die Fragmentierung des Selbst hängt dabei nicht nur mit dem Bildschirm zusammen, sondern auch mit einem Thema, welches sehr bedeutsam ist, wenn wir von Bildern sprechen: dem Archiv. In unserem digitalen Zeitalter werden private Informationen über uns in mehreren Archiven gespeichert. Stefano Rodotà führt an, dass das Selbst derzeit auf eine Vielzahl von Datenbanken verteilt ist, von denen jede ein ›Stück‹ Realität wiedergibt. Letztere stellt sich ihrerseits aber in jedem Fall als falsch heraus, wenn sie außerhalb des entsprechenden Kontexts beurteilt wird (vgl. Somaini 2007). Nur durch einen Vergleich von Informationen aus verschiedenen Datenbanken können wir versuchen, uns der Komplexität des Subjekts zu nähern.

S ICHTBARKEIT UND M ACHT Einen der wichtigsten Aspekte der zeitgenössischen visuellen Kultur bildet das kürzlich von Nicholas Mirzoeff entwickelte Konzept der Visualität, in dem sich Macht und visuelle Darstellung verschränken (vgl. Mirzoeff 2002: 4). Auch das digitale Bild, das aufgrund seines fließenden Charakters leicht manipuliert werden kann, fällt in diesen Bereich. Wie schon Chris Jenks bemerkt, stellen der Blick und die willentliche Manipulation im Übrigen die beiden Dispositive dar, durch die moderne Machtsysteme und gesellschaftliche Kontrolle funktionieren. Denn mittels des Bildschirms und des Blicks werden wir oft selbst zum Gegenstand heimtückischer Kontrollen (vgl. Jenks 1995).

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Wie wir wissen, erkennt Michel Foucault in der panoptischen Sichtordnung eine Falle: Sie versetzt den Gefangenen dauerhaft in die frustrierende Unwissenheit darüber, ob er beobachtet wird oder eben nicht (vgl. Foucault 1975). Heute jedoch leben wir in einer postmodernen Ära. Während in der Moderne die Macht über die soziale Kontrolle in den Händen der staatlichen Institutionen lag, befindet sich diese Macht in der postmodernen Gesellschaft vor allem an einem unbestimmten Ort: dem Markt. Dies impliziert eine radikale Veränderung der panoptischen Architektur: Während in der Bentham’schen Struktur die Unsichtbarkeit das Privileg des starken Subjekts darstellt (nämlich das des Gefängniswärters) und die totale Sichtbarkeit die strafende Lebensbedingung des Gefangenen, so hat sich in der globalisierten Gesellschaft dieses Machtverhältnis völlig in sein Gegenteil verkehrt. Hier sind es die allgegenwärtigen, funkelnden und nur so vor Marken strotzenden, großen Werbetafeln, welche die Basis der Konsumgesellschaft darstellen. Die Globalisierung der Märkte hat also dazu geführt, dass alles publik gemacht wird. Dies betrifft nicht nur den simultanen unternehmerischen Wettbewerb (vgl. Virilio 1998), sondern auch die ständige Überwachung der Verbraucher und damit aller Bürger. Kommunikationstechnologien, digitale Bilder und soziale Netzwerke avancieren so zu Instrumenten der Beobachtung und des gegenseitigen Vergleichs. Diesbezüglich lässt sich aktuell gar das Aufkommen einer neuen Art und Weise der Überwachung verzeichnen. Der Schwerpunkt liegt nun auf dem Sammeln von Informationen, die nicht mehr nur für die Zentralregierung eines Staates relevant sind, sondern sich auch als sehr nützlich für Großunternehmen, Banken und Versicherungen erweisen, um die Verbrauchermeinungen zu kontrollieren und zu bestimmen. Für die hier behandelte Thematik ist dabei besonders die Tatsache relevant, dass die neuen Technologien eine ständige Überwachung erlauben (vom Fotoapparat bis hin zum Personalausweis, von den Metalldetektoren bis hin zu den Steuerformularen), die ihrerseits aus einem jeden von uns einen zu überwachenden Gegenstand machen (vgl. Marx 1985). Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Überwachung tendenziell nur in bestimmten Kontexten wie in Fabriken, am Arbeitsplatz und in Büroverwaltungen eingesetzt. Mittlerweile herrscht eine konstante Überwachung, selbst wenn wir durch die Straßen spazieren. Auch die Kameras, die in jedem beliebigen Einkaufszentrum ursprünglich eingesetzt wurden, um die Sicherheit der Kunden zu gewährleisten, werden letzten Endes auch zur Überwachung des Personals genutzt. Die Kameras sind also zu einem Dispositiv zur Steuerung von Arbeit und Produktivität geworden. Howard Reingold, der Autor von Smart Mobs, stellt mit Blick auf die Kontrolle des Internets fest, dass angesichts von 1,5 Milliarden Internetnutzern die Überwachung die dunkle Seite der Behörden darstellt. Während wir uns früher Gedanken über Vater Staat gemacht haben, sind es jetzt unsere Nachbarn oder die Menschen in der U-Bahn, die uns Sorgen bereiten (vgl. Rheingold 2002). Nach

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Rodotà resultiert dieser gesellschaftliche Wandel aus einer Verschiebung: Aus der Überwachung des gefährlichsten Teils der Gesellschaft ist nun die Überwachung der gesamten Gesellschaft geworden. Die Digitalisierung von Bildern und die Techniken zur Gesichtserkennung befähigen potentiell jeden, der eine Kamera mit Endlosaufzeichnungssystem besitzt, ein beliebiges Individuum in einer Menschenmasse auszuwählen, zu identifizieren und zu verfolgen. Der Überwachung sind keine Grenzen mehr gesetzt (vgl. Rodotà 2003). Auch wenn dies, so Rodotà, einerseits im Namen der öffentlichen Sicherheit geschieht, so werden die in Supermärkten installierten Kameras andererseits aber zunehmend auch von der Marketingabteilung zur Beobachtung des Konsumentenverhaltens genutzt. Viele Studien zeigen zudem, dass die sogenannte verbesserte Sicherheit in den von Videokameras überwachten Bereichen dazu führt, dass sich die Kriminalität in andere Zonen verlagert, wo es keine Kameras gibt. Die Virtualisierung des politischen und ökonomischen Systems beinhaltet auch eine Verschiebung der demokratischen Beteiligung und der sozialen Kontrolle in den Bereich der Online-Aktivitäten bzw. in den Bereich des sogenannten virtuellen Lebens. Deshalb kann man sagen, dass ein Teil der postmodernen Gesellschaft zu sein – egal ob online oder offline –, zugleich auch bedeutet, superpanoptisch überwacht zu werden. Den Begriff des Super-Panopticons entwickelte Mark Poster, um eben jene Überwachungsmechanismen zu bezeichnen, die durch Datenüberwachung in der Lage sind, jedes Detail und jeden Augenblick unseres täglichen Lebens zu kontrollieren (vgl. Poster 1984)1 . Das Super-Panopticon stellt dabei nicht nur das Upgrade des panoptischen Modells dar, sondern auch ein wesentliches Element für das Funktionieren der Biomacht. Es fasst nämlich in einem einzigen Begriff die beiden Grundfunktionen, die Foucaults Konzept der Biomacht zugrunde liegen: die personalisierte Kontrolle und die Steuerung der Massen. Seit dem 11. September 2001 wächst die globale Überwachung. Die nationale Sicherheitsbehörde (NSA) der USA hat mehrere Methoden entwickelt für die massenhafte Erfassung von Daten aus sozialen Online-Netzwerken – und die Blogosphäre ist sich dessen sogar durchaus bewusst. Aber um potenzielle terroristische Straftäter zu verfolgen, muss man eine große Anzahl an Informationen miteinander verknüpfen. Diese Informationen betreffen die gesellschaftlichen Beziehungen, wie zum Beispiel die im Internet geteilten Aktivitäten und Kontaktgruppen oder auch persönliche Informationen zur politischen, sexuel-

1 | Die Datenüberwachung ist eine Art von systematischer Überwachung, die verschiedene personenbezogene Daten und die sich aus der Datenüberschneidung ergebende Kontrolle nutzt. Das Problem dabei ist, dass dieses Instrument nicht nur von Behörden genutzt wird, sondern auch große Unternehmen, Banken und Versicherungsgesellschaften diese Daten verwenden können.

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len und religiösen Orientierung. Also genau der Typ von Informationen, die in den Social Networks sofort zugänglich sind (vgl. Albrechtslund 2008: 4).

E INE F R AGE DES W ILLENS Was die hiesige Argumentation zudem erschwert, ist die Tatsache, dass das postmoderne Subjekt zumeist bereitwillig Informationen über sich selbst preisgibt. Dies ist vor allem seit der Entstehung des Web 2.02 der Fall. Dieses Verhalten ermöglicht es, einen weiteren wichtigen Unterschied zur Subjektivität der Gefangenen des Panopticons herauszustellen. Immer mehr Menschen stellen ihre Familien, ihren Alltag, ihre Beziehungen und ihre sexuellen Erfahrungen über Blogs, soziale Netzwerke und digitale Geräte zur Schau. Wir sind tatsächlich sehr damit beschäftigt, uns den anderen zu zeigen (man denke nur an die mehr als 200 Millionen Menschen, die ihre Tweets über ihre derzeitige Tätigkeit gewöhnlich über den Instant-Messenger Twitter veröffentlichen). Daniel J. Solove stellte fest, dass US-Firmen und die US-Regierung Unmengen von digitalen Dateien sammeln, die Informationen über die Bürger enthalten. In diesem Fall ist es leicht, Position zu beziehen und einen größeren Schutz der Privatsphäre zu fordern. Wenn wir jedoch von über das Internet freigegebenen Informationen sprechen, so sind wir allein dafür verantwortlich (vgl. Solove 2007). Facebook-Nutzer erstellen ihre Profile, indem sie eine große Menge an persönlichen Informationen eingeben: Bilder, Adressen, biographische Daten. Diese werden größtenteils dann wiederum von den Marketingabteilungen der großen Firmen verwendet, um sie zu analysieren und daraufhin das Verhalten der Nutzer zu beeinflussen. Gerade deshalb unterstehen die digital überwachten Menschen nicht der Kontrolle eines einzigen Beobachters, d.h. des idealen Zuschauers, nämlich des Gefängniswärters, der sich in den modernen Gesellschaften mit dem Staat deckt. Sie unterstehen vielmehr einer Vielzahl von Blicken.3 Nicht 2 | Der Begriff Web 2.0 bezeichnet die Tendenz, das Internet ›von unten‹ aufzubauen. Die Internetcommunities und sozialen Netzwerke ermöglichen den Menschen nicht nur zu kommunizieren, sondern auch das Sharing von Texten, Bildern, Musik, Ideen und Vorschlägen. Es handelt sich dabei nicht einfach nur um eine neue Generation von Dienstleistungen, sondern um eine tiefgreifendere Veränderung, die bis in unser tägliches Leben hinein reicht. 3 | Diesbezüglich muss ergänzt werden, dass die Überwachung nicht allein durch politische Institutionen oder die Wirtschaft erfolgt. Selbst ein einfacher Passant kann zum Beispiel in der Öffentlichkeit ein Bild von jemandem schießen, der gerade kein gutes Benehmen an den Tag legt und diesen tadeln, indem er dieses dann ins Internet stellt. Siehe hierzu die folgenden Links: www.washingtonpost.com/wp-dyn/con tent/article/2005/07/06/AR2005070601953.html (Stand 28.07.2012); www.flickr.

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nur junge Nutzer stellen sehr intime Details ihres Lebens ins Internet. Der Grund, warum die Accounts in sozialen Netzwerken kostenlos sind, ist, dass sie durchleuchtet und miteinander verglichen werden. Alle diese Informationen können für eine lange Zeit klassifiziert und gespeichert werden. Laut Danah Boyd sind sich sehr viele junge Menschen der möglichen Folgen ihrer OnlineHandlungen nicht bewusst bzw. wissen sie nicht, dass sie später wegen einiger verfänglicher Fotos, die viele Jahre zuvor auf Flickr gepostet wurden, von einem potenziellen Arbeitgeber möglicherweise nicht eingestellt werden könnten. Nur selten beschränken sie den Zutritt zu ihrem Profil bei Myspace oder Facebook nur auf ausgewählte und ihnen bekannte Besucher. Vielmehr wollen sie für möglichst viele Nutzer sichtbar sein und nicht nur für diejenigen, die sie schon kennen (vgl. Boyd 2006). Fakt ist, dass die jungen Menschen in ihrem Offline-Leben bereits ständig von ihren Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen derart kontrolliert werden, so dass sie sich über die mögliche zukünftige Kontrolle von Seiten der Unternehmen nicht den Kopf zerbrechen, »denn die Personen, die heute direkt ihr Leben beeinflussen, haben bereits ein viel klareres, traumatischeres und einschränkenderes Panopticon geschaffen als das, was im Internet passieren könnte« (Lovink 2008: 48; dt. d. Ü.). In einem solchen Kontext erlebt die jüngere Generation das Internet als befreiend. Das Internet kann gar als eine echte Technologie des Selbst (vgl. Foucault 1988) betrachtet werden, insofern es eine Struktur bildet, die eine an das individuelle Wohlbefinden gekoppelte befreiende Wirkung hat und Subjektivierungsprozesse ermöglicht (vgl. Agamben 2002). Aus unserer Sicht vollzieht sich also aktuell ein Prozess, wobei der Drang zu kommunizieren, über jedweden Gedanken an den Schutz der Privatsphäre siegt. Oder vielleicht liegt hier gar kein wirkliches Problem in diesem Sinne vor. Vielleicht will die junge Generation in unserer Gesellschaft der Reality Shows ja Details ihres Privatlebens öffentlich machen – und dies nicht aus Mangel an Wissen, sondern weil wir wahrscheinlich vor einem Generationswechsel stehen (vgl. Allen 1999). Ein Teil des Problems besteht jedenfalls darin, dass das wahre Ausmaß der eigenen, digitalen Zurschaustellung ziemlich schwierig abzuschätzen ist. Auch wenn Internetnutzer beim Kommunizieren im Web nur an die von ihnen ausgewählten Adressaten denken, so bleibt die tatsächliche Zahl der wirklichen Beobachter in vielen Fällen unbekannt: Der offene Charakter dieses Dispositivs macht Informationen potenziell für jedermann zugänglich, der eine Internetverbindung hat. Selbst wenn Personen private Informationen veröffentlichen und sich dieser Problematik bewusst sind, so scheinen sie doch keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Einem solchen Verhalten com/photos/uno4300/345254682/ (Stand 28.07.2012); www.flickr.com/photos/no jja/205062960 (Stand 28.07.2012); www.flickr.com/photos/caterina/59500 (Stand 28.07.2012).

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liegt die Auffassung zu Grunde, dass Menschen persönliche Informationen Fremden gegenüber online preisgeben, da »der wahrgenommene Mehrwert höher erscheint als das Risiko, dass die eigene Privatsphäre vereinnahmt werden könnte« (Gross/Acquisti 2005; dt. d. Ü.). So darf beispielsweise angenommen werden, dass die gefühlte Notwendigkeit, sich anderen Personen mit gemeinsamen Interessen anzuschließen, einen Menschen motiviert, private Informationen ins Netz zu stellen, wenn dies die Gruppenbildung erleichtert. Die neuen Technologien werden, wie schon erwähnt, auch zur aktiven Kontrolle genutzt, so von informellen Personengruppen, die, indem sie andere an den ›digitalen Pranger‹ stellen, ein bestimmtes Verhalten durchsetzen wollen. Die zunehmende Verbreitung von mit Kameras ausgestatteten Mobiltelefonen verändert diesbezüglich die Bedeutung des Bildsharings innerhalb dieser Kontrolldynamik radikal. In dieser komplizierten und globalen Proliferation von Blicken liegt zugleich die Krise des visuellen Subjekts begründet. Sie ist sowohl an den sogenannten Mangel an Privatsphäre gekoppelt als auch an die neuen Technologien, die, wie wir sahen, im Stande sind, die uns eigene, latente Lust an der öffentlichen Selbstdarstellung zu befriedigen. Auf beliebten Internetseiten wie Jennycam oder Anacam geht die Zurschaustellung des privaten Alltagslebens sogar so weit, dass Nutzer (also potenziell jeder mit Internetzugang) in Schlaf- oder Badezimmer sehen können. Ein Monatsbeitrag von ungefähr 19,95 US-Dollar garantiert den Voyeuren den privilegierten Platz des unsichtbaren panoptischen Wärters: Die Toilette diene dabei als Dispositiv, welches das Begehren bestätige und somit auch die Existenz des okzidentalen visuellen Subjekt mit seinem ständigen Verlangen zu sehen und gesehen zu werden (vgl. Mirzoeff 2002: 13). Alles ist nach der Kamera ausgerichtet, die ihrerseits dessen Existenz bestätigt. Aus diesem Verhalten lässt sich ableiten, dass das Bewusstsein, ›überwacht‹ zu werden, wohl etwas Beruhigendes an sich hat, da der Beobachtete so glauben kann, dass sein Leben auch andere interessiere. Angesichts des zunehmenden Verlusts eines konkreten Bezugsrahmens mag das Gefühl des Beobachtetwerdens fast als Garantie für die Echtheit des Lebens selbst empfunden werden, ganz so wie bei Dürrenmatts Figuren: »[Sie] litten unter dem Unbeobachtetsein […], auch sie kämen sich unbeobachtet sinnlos vor, darum beobachteten alle einander, knipsten und filmten einander aus Angst vor der Sinnlosigkeit ihres Daseins […] in der irren Hoffnung […], doch noch von irgendwem beobachtet zu werden […].« (Dürrenmatt 1986: 23f)

Bekanntlich ist das Verlangen sich zu zeigen, eng mit dem Erleben von Macht verbunden. Laut zu sagen, was man denkt oder empfindet, entspricht nach de Sade nicht nur einer Wahl, sondern auch einem unmittelbaren Impuls, unsere Existenz neben all den anderen zu behaupten.

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In einigen Fällen kann die Übertragung unseres Alltagslebens ins Internet auch als eine Methode betrachtet werden, um gegen die Einsamkeit anzukämpfen oder um die eigenen Obsessionen mit anderen zu teilen, so wie im Fall von Jane Houston: Die seit Langem von gespenstigen Geräuschen verfolgte Amerikanerin hat ungefähr 31 Webcams in ihrem Haus installiert, um mit Hilfe der zugeschalteten Internetsurfer wieder ›ruhig schlafen‹ zu können. Dazu aufgefordert, sich als ghost watchers zu betätigen, kontrollieren die Besucher ihrer Seite also die zahlreichen Winkel ihres Hauses auf mögliche unerwünschte Eindringlinge hin. Es geht hier nicht darum, durch die Installation von einer ganzen Reihe von Webcams Einbrecher fernzuhalten, sondern durch die Ausleuchtung des Wohnraums Ängste und Zwangsvorstellungen mit anderen Internetnutzern zu teilen (vgl. Virilio 1997). Etwas Ähnliches lässt sich zunehmend im Bereich der Kunst beobachten: So sieht das neueste Projekt des französischen Künstlers Christian Boltanski die totale Überlagerung von Leben und Kunst vor. Seit dem 01. Januar 2010 wird acht Jahre lang das Geschehen in seinem Atelier durchgängig und ausschließlich an einen in Tasmanien lebenden Millionär übertragen. Aber noch viel besorgniserregender ist die Tatsache, dass es Personen gibt, denen es egal ist, ob sie beobachtet werden oder nicht: So verkündete die Gründerin von Jennycam, Jennifer Ringley, dass sie ihr Privatleben nicht zum Beobachtetwerden zur Schau stelle, sondern weil es ihr egal sei, ob man sie beobachte oder nicht. Paradoxerweise erzeugt dies in uns, um mit Nicholas Mirzoeff zu sprechen, ein Gefühl der Nostalgie nach dem Überwachtwerden, nach eben jenem seltsamen Lustgefühl, welches uns das Betrachtetwerden verschaffe (vgl. Mirzoeff 2002: 14). Abgesehen von Ringleys klar exhibitionistischem Verhalten darf dennoch behauptet werden, dass das zeitgenössische Subjekt zunehmend das Gefühl verinnerlicht, von unsichtbaren Beobachtern observiert zu werden. Foucaults Konzept der Verinnerlichung von Kontrolle ist diesbezüglich also immer noch ein höchst aktuelles theoretisches Werkzeug. Auch wenn viele Theorien darauf abzielen, das Panopticon zu überwinden, so bleibt dieses dennoch weiterhin ein wichtiger theoretischer Bezugspunkt, um den unsere Überlegungen zur Überwachung kreisen. In seinem Buch Theorizing Surveillance: the Panoptic and Beyond betont David Lyon, dass das Panopticon bis heute nicht wegzudenken ist (vgl. Lyon 2006: 4). Die 1957 angesiedelte Textpassage aus Don DeLillos Underworld, in der ein junger Mann in seinem Zimmer sitzt und nachdenkt, greift die Idee des Panopticons auf: »Aber was passiert, dachte er, wenn du eines Tages stirbst, und dann stellt sich heraus, daß alles, was du jemals im stillen Kämmerlein getan hast, plötzlich allgemein bekannt

B IOPOLITIK AM C OMPUTERBILDSCHIRM wird. Jeder weiß automatisch alles, was du je getan hast, als du noch glaubtest, du wärst absolut und unauffällig und sicher außer Sicht.« (DeLillo 2006: 602f.).

Bereits der bloße Gedanke daran, aus der Ferne beobachtet werden zu können und so Dritten sein Leben zu offenbaren, ängstigt De Lillos während des Kalten Krieges aufgewachsene Figur: Sie ist sehr darauf bedacht, weiterhin in jener stillen Unsichtbarkeit zu verharren, die ihr Leben kennzeichnet. Im Gegensatz dazu lässt sich behaupten, dass heute viele Menschen Angst vor der Unsichtbarkeit verspüren, da diese als eine Form der sozialen Ausgrenzung verstanden wird. Dies führt dazu, dass die Menschen ihre persönlichen Daten überall angeben, ohne weiter darüber nachzudenken. Während die Vorstellung überwacht zu werden früher ein reines Gedankenexperiment war, halten wir dies heute für selbstverständlich. Wir sind uns gewahr, einer Vielzahl von prüfenden Blicken ausgesetzt zu sein, selbst jetzt, in genau diesem Augenblick. Und selbst wenn wir uns im Einzugsbereich einer Überwachungskamera befinden – und selbst wenn niemand vor dem Kontrollbildschirm sitzt –, so fühlen wir uns doch überwacht und in unserem Verhalten beeinflusst. Das hieraus erwachsene Gefühl des Kontrolliertwerdens hängt nicht zwangsläufig von der Präsenz eines konkreten Beobachters ab, sondern entspricht eher einer angeeigneten Erfahrung (vgl. Seppänen 2002: 111), nämlich dem das Disziplinarverhältnis begründenden und legitimierenden Bewusstsein.

N EUE S UBJEK TIVITÄT UND G EGENKONTROLLE Wie wir bereits gesehen haben, ist die visuelle Kultur auch eine Taktik für all diejenigen, die keinen entscheidenden Einfluss auf die Massenmedien haben, um die Hypervisualität des täglichen Lebens in einer global digitalisierten Kultur neu auszuhandeln (vgl. Mirzoeff 2002: 4). Deshalb kann der ›digitale Exhibitionismus‹, d.h. die Zurschaustellung der eigenen Person im Internet, als eine praktische Strategie in einer von Überwachung dominierten Welt betrachtet werden. Viele Theoretiker, unter ihnen David Lyon, sind der Ansicht, dass der Einzelne den verschiedenen Formen der Überwachung, die unsere Realität bestimmen, nur wenig Widerstand entgegensetzen kann (vgl. Lyon 2001). Auch wenn dies bis zu einem gewissen Grad zutrifft, so lassen sich von einer anderen Perspektive aus dennoch verschiedene Formen des Widerstands ausmachen. So hat der Einsatz von Webcams und von mit Kamera ausgestatteten Handys die Bedeutung der visuellen Darstellung gesteigert, so dass diese Dispositive Hille Koskela zufolge den Weg für eine neue Subjektivität eröffnen, da sie den traditionellen Code dessen verändern, was gezeigt und was nicht gezeigt werden darf, und so auch epistemologische Kategorien wie Blick, Geschlecht und Identität neuen kulturellen Spannungen aussetzen (vgl. Koskela 2004: 199).

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Im Folgenden soll also erörtert werden, wie die Bevölkerung trotz der anhaltenden Überwachung Verfahren der Gegenkontrolle in die Tat umsetzt, die sich ihrerseits in zwei Formen äußert: zum einen als private, individuelle und indirekte Reaktion und zum anderen als expliziter gemeinschaftlicher Widerstand. Beide Formen haben die ständige Präsenz der Subjekte an den Orten der Überwachung gemein, seien es die Straßen unserer Städte oder die Datenautobahnen des Internets, wie William Gibson es bereits 1984 visionär formulierte (vgl. Gibson 1984). Die freiwillige Zurschaustellung des Selbst und das Online-Denkverhalten sind derart verbreitet, dass sie eine vielschichtige und unbewusste Reaktion auf das allgegenwärtige Kontrollsystem nach sich ziehen. Bekanntlich gibt es keine Macht ohne Widerstand (vgl. Foucault 1980: 142). Um einen besseren Überblick über die Dynamik der digitalen Kontrolle zu erhalten, ist es wichtig zu beachten, dass es neben dem hierarchischen System von Macht und Kontrolle, in dem die Überwachung mit dem Ausspionieren und dem Verletzen der Privatsphäre assoziiert wird, eine andere, horizontale Art der Überwachung gibt, die es möglich macht, einige der positiven Aspekte der gegenseitigen Kontrolle zu verstehen (vgl. Albrechtslund 2008). Mit anderen Worten: Die Überwachung wird nicht mehr zwangsläufig nur als Bedrohung verstanden, sondern als Möglichkeit, sich vor einer Kamera zu präsentieren (vgl. Ernst 2002: 462). Denn Sichtbarkeit muss nicht immer zwangsläufig mit Machtlosigkeit gleichgesetzt werden. Die Menschen können Macht erlangen und eine Form von Widerstand erzeugen, indem sie ihre im Internet gewonnenen Ideen und Erfahrungen als auch ihre digitalen Bilder mit anderen teilen. Einige Bereiche der visuellen Kultur können sich bei dem Versuch als nützlich erweisen, ähnliche Dynamiken zu erklären. Wie bereits erwähnt, beschreibt Mirzoeff die Visualität als Schnittpunkt zwischen Macht und visueller Darstellung. Daraus können wir schließen, dass die Menschen einen Weg aus der sie affizierenden Krise suchen, indem sie bestrebt sind, selbst zum Medium zu avancieren. Diesbezüglich darf durchaus behauptet werden, dass die visuelle Kultur selbst eine Strategie ist, und zwar für diejenigen, so Mirzoeff, die die großen Instrumente der visuellen Produktion nicht kontrollieren, um die Hypervisualität des Alltags in einer globalen digitalen Kultur neu auszuhandeln (vgl. Mirzoeff 2002: 4). Nach der Definition des französischen Philosophen Michel de Certeau bezeichnet der Begriff ›Taktik‹ das, was sich ›am Ort des Anderen‹ befindet (vgl. de Certeau 1990). Dies meint in unserem Fall die Kontrollgesellschaft, in der wir leben. Ein genauerer Blick auf die konkreten Formen des Widerstands zeigt, dass sich dieser in mindestens zwei Formen äußern kann: erstens als direkte Auflehnung gegen die Überwachung und zweitens als Gegenkontrolle – dies bedeutet einerseits Bilder zu meiden und andererseits Bilder ganz bewusst zu erschaffen (vgl. Koskela 2004: 206). Nach Ansicht der Aktivisten bedeutet sich gegen die Überwachung aufzulehnen, dass man sich ihr auf irgendeine Art und

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Weise entziehen muss, indem man schärfere Gesetze zum Schutz der Privatsphäre fordert oder indem surveillance free zones geschaffen werden, wie es das Projekt iSee des Instituts für Angewandte Autonomie4 anstrebt. Der Internetdienst iSee unterbreitet Reisenden, die in New York, Amsterdam oder London unterwegs sind, Routenvorschläge, so dass sie auf ihrer Strecke möglichst viele Überwachungskameras meiden. Das Programm sieht das Herunterladen einer interaktiven Karte vor, auf welcher dem Nutzer nach Angabe des Start- und Zielpunkts die ›Routen mit geringer Überwachung‹ anzeigt werden. Die Gegenbewegung zur Überwachung reflektiert sich auch in der Arbeit von Steve Mann und seines Teams. Die von ihm entwickelten tragbaren Geräte erlauben unsere ›Beobachter zu beobachten‹ und so die Überwachungspraktiken zu kritisieren. Ziel seines Projektes ist es, gegen die Rhetorik der öffentlichen Sicherheit und die dazugehörigen Überwachungssysteme anzukämpfen, gegen die Unanfechtbarkeit der Behörden und die Kriminalisierung der Kritik an der Überwachung (vgl. Mann 2003). Der von Steve Mann geprägte Begriff Sousveillance, auch als Unterwachung bzw. invertierte Überwachung bezeichnet, erlaubt den Überwachungsvorgang aus der Sicht des daran Beteiligten zu beschreiben. In der Regel erfolgt dies mit Hilfe von kleinen, tragbaren Aufnahmegeräten, die einen Video-Lifestream oft direkt ins Internet übertragen. Die Sousveillance zielt darauf ab, die Kontrolle zu dezentralisieren und vollkommene Transparenz zu schaffen. Diese Art der Gegenkontrolle versucht also den Mechanismus des Panopticons umzukehren und so zu entkräften. Ein Beispiel hierfür ist das in der Nähe des britischen Nottigham aktive The Office of Community Sousveillance, wo eine Reihe von Sousveillance Officers (Unterwachungsoffizieren) damit beschäftigt sind, die »Überwacher zu überwachen«, indem sie über das Verhalten der Polizei genauestens Bericht erstatten. Ziel der Sousveillance ist es, den Menschen einen erleichterten Zugang zu den Daten der über sie Wachenden zu verschaffen und Letztere unschädlich zu machen, indem sie ihnen ihre Macht entziehen. Die Videoüberwachung verbreitet sich zunehmend und ihr Kontrollgegenstand ist der menschliche Körper. Wie Stefano Rodotà betont, wird der Körper nach der Registrierung digitalisiert, um so bestimmte Personen einfacher identifizieren zu können. Es sei darauf hingewiesen, dass: »[d]er menschliche Körper bei diesem Verfahren unangetastet bleibt. Es steht im Gegensatz zu den weiter steigenden Fällen, in denen der Körper direkt kontrolliert wird, so mit Hilfe von elektronischen Fernlesegeräten oder durch die Implantation eines Mikro chips. Der Körper avanciert zu einem Objekt unter vielen, das jederzeit lokalisiert werden kann.« (Rodotà 2007: 296; dt. d. Ü.)

4 | www.appliedautonomy.com/isee.html (Stand 17.11.2010).

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Steve Mann und seine Mitarbeiter nutzen tragbare Computer, um ihre Körper zu potenzieren. Indem die Anti-Überwachungs-Bewegung den Kontrollmechanismen einen Spiegel vorhält, rüstet sie ihren eigenen Körper mit technischen Instrumenten auf und wird so zu einem Cyborg, der durch die Straßen läuft. Der Baudelaire und Walter Benjamin so lieb und teuer gewesene Flaneur steht aus dieser Sicht noch immer für eine die Gegenwart reflektierende Subjektivität. Man denke nur an die zunehmende Anzahl von Menschen, die von Smartphones Gebrauch machen und die auch ohne die von Steve Mann entwickelten Apparate in der Lage sind, Kameras unbewusst einer Unterwachung zu unterziehen. Aber dies sind nur einige wenige Beispiele aus dem Bereich des traditionellen Aktivismus, d.h. für konkrete und bewusst eingesetzte Methoden zum Kontrollwiderstand. Besonders interessant ist jedoch die Tatsache, dass sich heute diesbezüglich eine neue Denkweise verbreitet. Anstatt die Macht über die überwachten Körper zu beschneiden, ist die unter Aktivisten verbreitetste Strategie die Überarbeitung eines relativen Freiheitsbegriffs. Anstatt die Überwachung als Werkzeug in den Händen der Behörden zu verurteilen, scheinen sie die Kontrolle fast zu ignorieren und als »einen Bereich, der ruhig durchquert werden kann« (vgl. Lovink 2008: 22; dt. d. Ü.) abzutun. Die visuelle Kultur kann hier als eine Form des strategischen Wissens betrachtet werden, als ein nützliches Instrument, um mögliche Formen des Widerstands zu erkunden. Sich mit Blogs und Webcams einen Platz im digitalen Schaufenster zu erkämpfen und zu sichern, ist bereits eine Strategie des Widerstands. Schon Michel de Certeau versteht ›Taktik‹ als eine Bewegung innerhalb des feindlichen Blickfeldes (vgl. de Certeau 1990: 73). Auch der Einsatz von Webcams, also von sichtbarkeitsfördernden Instrumenten, kann als eine Form des Widerstands betrachtet werden, nämlich als etwas, das den Menschen wieder zum Subjekt werden lässt: »Anstatt sich lediglich als ein zunehmend überwachter Gegenstand zu fühlen, sind die Menschen bestrebt, eine aktive Rolle bei der endlosen Herstellung von Bildern einzunehmen, […] sie versuchen vom Objekt wieder zum Subjekt zu werden.« (Vgl. Koskela 2004: 206) Das Erstellen und Freigeben von Bildern mit Hilfe einer privaten Kamera kann eine Methode sein, sich gegen die oktroyierte Kontrolle aufzulehnen. Bezugnehmend auf die von Foucault diagnostizierte ›Verinnerlichung von Kontrolle‹ (vgl. Foucault 1975), benutzt Hille Koskela den Begriff regime of shame, um die obige Dynamik zu beschreiben. Ihrer Meinung nach rührt das Gefühl, etwas zu besitzen oder etwas zu tun, was nicht gezeigt werden kann – so das grundlegende Bedürfnis nach Privatsphäre –, aus der tiefen Verankerung des Überwachungsregimes in unserer Gesellschaft, welches die Menschen noch mehr als jedweder äußerer Einfluss gefügig und gehorsam macht. Das freiwillige Veröffentlichen von privaten Erfahrungen ermöglicht daher eben jenes regime of shame abzulehnen (vgl. Koskela 2004: 206). Die digitale Zurschaustellung des Selbst kann auf diese Art und Weise tatsächlich als eine Form des Widerstands

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fungieren, da es so gegen die im Begriff des Privaten verankerte Bescheidenheit und die Scheu rebelliert (vgl. Koskela 2004: 206). Ein anderer Aspekt besteht darin, dass, so de Certeau, die ›taktische Handlung‹ ganz und gar im Alltag aufgeht. Daher widmet er sich der Bedeutung der ›interstitiellen Freiheiten‹, stiften doch gerade diese den Sinn zur Mobilisierung von unerwarteten, unbewussten und latenten Ressourcen, wenn der Normalbürger in seinem Alltag Widerstandstaktiken umsetzt. Die Tatsache, dass das Internet von einer Unmenge an persönlichen Informationen überschwemmt wird, erschwert den Kontrollinstanzen in gewisser Weise die entsprechenden Daten ausfindig zu machen. Dies zeigt zum Beispiel die in der Welt der Blogs oder Fotoblogs herrschende, völlige Anarchie von Bildern, Körpern und Gedanken. Wenn wir nun auch noch den stetigen Strom an täglichen Übertragungen von Webcams hinzurechnen, so ist festzustellen, dass wir es mit einem stillschweigenden Bündnis der Internetnutzer zu tun haben oder, um es mit de Certeaus Worten zu sagen, mit einer Wirklichkeit, die sowohl flüchtig als auch geprägt ist durch diffuse gesellschaftliche Handlungen, die mit der herrschenden Ordnung spielen (vgl. de Certeau 1990: 22). Im Zeitalter der Informationsflut sind Bedeutung und Kontext höchster Luxus. Die unseren Alltag bestimmende Datenschwemme lässt beides oft vermissen (vgl. Bolz 1997: 662). Dies führt nicht zuletzt auch dazu, dass es immer schwieriger wird, private Daten aus dem digitalen Sumpf herauszufiltern. Neben der Überwindung des klassischen Fernsehbildes (vgl. Virilio 2008) lässt sich in der zunehmenden Verbreitung von Livecams und der digitalen, kontinuierlich im Internet veröffentlichten Bilder eine globale Demokratisierung des Exhibitionismus erkennen, die konsequenterweise eine Demokratisierung des Voyeurismus nach sich zieht. Momentan sind die tatsächlichen Folgen dieser Entwicklung noch nicht auszumachen. Daher soll lediglich die Tatsache unterstrichen werden, dass, verfolgt man die Auswirkungen dieses enormen Datenaustauschs, Letzterer den Zugriff der Macht auf Informationen im Netz manchmal begünstigt und ein anderes Mal jedoch bremst. Als visuelles Subjekt lässt sich also derjenige bezeichnen, der eben jenes neue Mantra kreiert, das auf der Erfahrung des bewussten Beobachtetwerdens basiert. Mirzoeff formuliert dies wie folgt: »I am seen and I see that I am seen.« (Mirzoeff 2002: 11) Das visuelle Subjekt reagiert auf seine frustrierende Erfahrung, sich passiv inmitten eines globalen Netzwerks voller unterschiedlicher Ansichten zu befinden, indem es lernt, sich selbst zum Medium zu erheben. De Certeau fasst dies anhand der Metapher des Scheinwerfers, der sich von den mit Namen und Sozialprestige ausgestatteten Schauspielern abgewendet habe, um sich dem Chor der an den beiden Seiten zusammengedrängten Figuren und nun endlich auch dem Zuschauer zuzuwenden (vgl. de Certeau 1990: 25). Das Faszinierende dabei ist aber, dass es nun die Zuschauer selbst sind, die das Rampenlicht auf ihre eigene Person ausrichten: So nimmt der Fotoapparat während jedes wichtigen öffent-

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lichen oder privaten Ereignisses den Platz unserer Augen ein, so dass unsere Erinnerungen nur noch auf eine schier unendliche Abfolge von Bildern festgelegt werden, ganz so wie die Androiden in Blade Runner (vgl. Mirzoeff 2002: 11). Blogger, Webcam-Nutzer und Sousveillance-Aktivisten sind somit Akteure in einem komplexen digitalen Spiel, in dem sich das Teilen von Erfahrungen als grundlegend für die Definition des eigenen Alltags erweist. So sagt Nobert Bolz: »Realität ist ein Produkt von Selektionen und hat ihr Maß an Publizität; durch Veröffentlichung erfahren Ereignisse einen Zuwachs an Wirklichkeit durch Erweiterung ihrer Kommunikativität. Dabei tritt das Ereignis zunehmend in ein Spiegelverhältnis zu seiner massenweisen Publikation.« (Bolz 1997: 665)

So erklärt sich die Bedeutung und der Erfolg von Webseiten wie YouTube oder Flickr; hier kann der Nutzer nicht nur ganz flexibel zeigen, was er gesehen hat, sondern er verleiht dem von ihm Erlebten so auch einen nachhaltigeren Wirklichkeitseindruck. Das visuelle Subjekt ist also dasjenige, das seine visuelle Erfahrung mit uns teilen möchte. Passt man das oben zitierte Mantra an, so muss es nun heißen: I am seen, I see and I want you to see what I am seeing. Da sich potenziell jeder im globalen Schaufenster platzieren kann, wird es sowohl für diejenigen, die ihre Haut zu Markte tragen, als auch für diejenigen, die ihre Blicke darüber schweifen lassen, zunehmend schwierig, einen Schnittpunkt zu finden. Wir reagieren auf die ständige Überwachung, indem wir die Überwachungsmöglichkeiten vervielfachen und die zu observierende Datenfülle erhöhen, um so einen unüberblickbaren Überfluss an Bildern und Daten zu schaffen. Die visuelle Überflutung kann also als eine weitere Methode und als Reaktion auf die Überwachung verstanden werden: Hier, im heterotopen Raum der Datenautobahnen, wird mit den Vorgehensweisen der Überwachung gespielt.

D AS INTERKULTURELLE P OTENTIAL DES S HARINGS Wir wissen nur zu gut, dass das Internet nicht ganz dem Ideal der demokratischen Öffnung entspricht, für die es anfangs noch gehalten worden war. Es steht im Zeichen eines globalen Kapitalismus und in vielen Fällen ermöglicht es gar die umfangreiche Überwachung und Kontrolle von Einzelpersonen. In China gibt es ein System namens Great Firewall, welches vom System verbotene Websites automatisch herausfiltert. Aber auch Microsoft und Yahoo agieren in der gleichen Weise, indem sie bestimmte Informationen aus der virtuellen Welt ausschließen. Es bedarf diesen Unternehmen nur eines Algorithmus’, um Werte, Begriffe oder Ereignisse (egal ob, diese richtig oder falsch sind) einfach aus unserem kognitiven Universum zu tilgen. Trotzdem spielt das Internet, wie wir

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bereits gesehen haben, eine wichtige Rolle bei der Schaffung und Organisation von Widerstand, vor allem wegen seiner dezentralisierten Struktur. Einige Informationsgeräte sind jedoch für die Förderung von Pluralismus und Partizipation besser geeignet. So betont Ithiel de Sola Pool, dass weit verbreitete, dezentralisierte und leicht zugängliche Kommunikationsmittel die Freiheit sicherten, während Kontrolle wahrscheinlicher sei, wenn mediale Instrumente konzentriert, monopolisiert und limitiert seien, so wie im Fall der großen Networks (vgl. de Sola Pool 1983: 23). Auch wenn das Internet seine Schattenseiten hat, so lässt sich die Idee der Demokratie sehr gut mit seinen Eigenschaften verbinden. Das Internet und die digitalen Netzwerke erleichtern zweifellos die Verbreitung von Informationen und deren Verfügbarkeit, aber sie geben auch Anreize für die Schaffung von Netzwerken, die noch dynamischer und noch weiter verbreitet sind. Die Social Networking Sites sowie Instant Messaging verändern die Rolle des Nutzers vom Passiven zum Aktiven, da sie die Möglichkeit zum Handeln eröffnen, Inhalte hochzuladen und anderen zugänglich zu machen. In diesem Sinne gibt es einen klaren Unterschied zwischen Neuen Medien und Massenmedien. Letztere »reproduzieren sich in einer Art atheoretischer Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Atheoretisch allerdings, weil sie Relationen in Ereignisse mit News Value auflösen, […]. Die Selektion von Informationen folgt hochabstrakten Prinzipien, die an eine Aufmerksamkeit überhaupt appellieren – das nivelliert die Rezeption.« (Bolz 1997: 666)

Die neuen Medien sind interaktiver, sowohl beim Senden als auch beim Empfangen von Informationen. Es geht nicht darum Internet als einen Raum von absoluter Freiheit zu betrachten, sondern es geht darum, unser Bild davon zu revidieren, wer im heterotopischen Raum des Internets eigentlich das Wort inne hat und der Handlungsträger ist: »In einer auf Geographie, die auf von Nutzern festgelegten Koordinaten basiert und die nicht auf Absteckungen beruht, die aus jahrhundertealten Machtformen oder aus unangefochtenen Wirtschaftsaktivitäten herrühren, kommt der fundamentale Unterschied und der Sprung von der Kontrolle über die Alltagswelt hin zur Selbstorganisation und der Zusammenarbeit im Internet zum Vorschein. Die schnelle und universelle Verbreitung von Kooperationsformen erlaubte den Formen der Verwaltung von Wissens und Information sich nicht mehr über bestimmte hierarchische Kanäle, sondern sich durch ein anderes Verteilungs- und Kontrollmodell zu verbreiten.« (Ciastellardi 2009: 50; dt. d. Ü.)

Die sogenannte digitale Demokratie bedeutet in diesem Zusammenhang einen Machtverlust. Letzterer rührt daher, dass die Nutzer die von den Gurus der IT- und Kommunikationsbranche entwickelte Technik gegen diejenigen ver-

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wenden, die sie zu kontrollieren versuchen. Im Internet trifft man auf ein ambivalentes Verhältnis von miteinander verwobenen Kräften: einerseits auf die disziplinierende Kraft der Kontrollgeographien und andererseits auf die nicht nachvollziehbaren Bewegungen einer Unmenge von Internetnutzern. Es gibt nicht nur Websites und Online-Plattformen, sondern ganze Netzwerke, die wie Knotenpunkte zur Verteilung und Verdichtung von sozialen Themen organisiert sind. Im Gegensatz zu den traditionellen Medien erlauben sie den Nutzern sich viel freier auszudrücken und zu diskutieren (vgl. Ciastellardi 2009). Ein konkretes Beispiel lässt uns diesen Sachverhalt besser nachvollziehen: Seit den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 konnten wir alle verfolgen, wie Studenten und all jene, die Teil der Grünen Bewegung sind, trotz der gewaltsamen Unterdrückung durch die Regierung aktiv mit Handy Bilder machen und diese dann über Instant-Messaging-Webseiten verbreiten. Während der besagten Proteste wurde am 20. Juni 2009 Neda Soltan Agha, eine junge Frau, die Gerechtigkeit und wahre Demokratie forderte, getötet. Wäre dieser grauenhafte Vorfall ein paar Jahre zuvor geschehen, hätte er sich vermutlich in den Falten der Geschichte aufgelöst. Stattdessen haben im Juni 2009 zwei Amateurvideos dieses Ereignis aufgezeichnet. Der Tod dieser jungen Frau auf dem Asphalt, ging rasant um die Welt. Damals wurde Neda sofort zu einem Symbol für alle Iraner, die sich der islamischen Diktatur widersetzten. Diese beiden Videos können als populäre Beispiele für implizite Sousveillance bezeichnet werden: Es handelt sich um Amateuraufnahmen, die aussagekräftiger als jede Anzeige sind und sich dank des Internets wie ein Virus verbreitet haben. In einem Aufsatz über die Rezeption von Foucaults Konzept der Biopolitik sagt Thomas Lemke, dass, »wenn die Biomacht die Macht über das Leben darstellt, dann bildet das Leben selbst das Terrain, auf dem sich die Kräfte und Formen des Widerstands entwickeln« (Lemke 2007: 92). Die rasende Verbreitung der Bilder von Nedas Tod ist nur ein Echo dieser Worte. In Bezug auf die iranische Revolution hat noch ein weiteres Video unsere Aufmerksamkeit erregt. Das Video mit dem Titel Bella Ciao zeigt eine Reihe von Bildern zu einigen wichtigen Momenten der Revolte.5 Im Hintergrund ist die Stimme von Lidija Percan zu hören, die das italienische antifaschistische Widerstandslied singt. Das in Englisch und in Farsi untertitelte Video ging um die ganze Welt und wurde von unglaublich vielen Menschen angeschaut.6 Im Gegensatz zu den traditionellen Medien zeigt dieses Beispiel nicht nur, wie die neuen Technologien von Nutzern eingesetzt werden, um das Interesse an sozialen Themen zu fördern, d.h. an Themen, die mehr Meinungsfreiheit und einer vertieften Auseinandersetzung bedürfen. Der iranische Fall zeigt uns ferner, wie das Sharing von digitalen Bildern ein Instrument der Machtübernah5 | Vgl. www.youtube.com/watch?v=SNocyz1NRjA (Stand 28.07.2012). 6 | Am 19.04.2010 war der Clip 700504 Mal angeschaut worden.

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me ›von unten‹ sein kann und somit ein Weg, frei und spontan mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, um bislang nicht erprobte Subjektivierungsprozesse hervorzubringen. Insbesondere konfrontiert uns das erwähnte Video aber auch mit dem Thema der kulturellen Verflechtungen im Internetzeitalter, mit der unglaublich komplexen Dynamik, die dem Prozess der Bedeutungserzeugung in einer zunehmend vernetzten Welt zu Grunde liegt. Peter Drucker spricht in diesem Zusammenhang von einer echten Subversion der nationalen Kulturen durch die internationalen Medienkulturen. Daher sei, so Drucker, die Multimedialität das technische Geheimnis und der Schlüssel des Multikulturalismus (vgl. Drucker 1992). Die durch die Einführung digitaler Technologien induzierte Entmaterialisierung des Bildes führte dazu, dass der Wirklichkeitsgehalt der Bilder selbst immer mehr abnahm und sie zunehmend bearbeitet und manipuliert wurden. Die Entmaterialisierung des Bildes erfolgt zudem auf dem Computerbildschirm. Kaum gab es das Internet, haben wir uns, nach vierzig Jahren Fernseherfahrung, geradezu darauf gestürzt. Auf dem hellen Viereck des Computerbildschirms sehen wir ein Bild ohne Körper und ohne Materialität. Aber durch die Nutzung des Internets probieren wir neue Formen des menschlichen Zusammentreffens aus und neue Arten, um unsere Subjektivität auszudrücken. Aus dem Italienischen von Jasmin Kezmez und Sieglinde Borvitz

L ITER ATUR Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Albrechtslund, Anders (2008): »Online Social Networking as Participatory Surveillance«, in: Firstmonday. Peer-rewieved Journal on the Internet, XIII.3, 03.03.2008. Allen, Anita (1999): »Coercing Privacy«, in: William & Mary Law Review (40/1999), S. 723-737. Bolz, Norbert (1997): »Neue Medien«, in: Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel: Beltz, S. 661-677. Boyd, Danah (2006): »Identity Production in a Networked Culture: Why Youth Heart MySpace«, Vortrag bei der American Association for the Advancement of Science, St. Louis/MO, 19.02.2006. Celant, Germano/Maraniello, Gianfranco (Hg.) (2007): Vertigo. Il secolo dell’arte off-media dal futurismo al web, Genf-Mailand: Skira. Ciastellardi, Matteo (2009): Le architetture liquide. Dalle reti del pensiero al pensiero in rete, Led on Line.

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Biopolitik der Migration – Bio-Poetik der Bewegung

Biopolitik der Migration Politische Techniken und literarische Taktiken im Rahmen der italienischen Auswanderung nach Deutschland Federica Marzi

Das Leben der Individuen kann auch durch die Migration verwaltet werden. Migrationen können somit angeregt, reglementiert oder diszipliniert werden, um in Staaten als Technik zur Regulation der Bevölkerungen zum Einsatz zu kommen. Durch Migration können sogar ganze Gesellschaften regiert werden. Was aber bedeutet regieren? Wer regiert, zu welchem Zweck und mit welchen Methoden? All dem ließe sich in Anlehnung an eine berühmte Frage nachgehen, die Michel Foucault im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zu jener modernen Regierungsweise bzw. Form der Machtausübung stellte (vgl. Foucault 2004a: 92)1, die er unter der Bezeichnung ›Biopolitik‹ an verschiedenen Stellen seines Oeuvres diskutierte (vgl. Foucault 1976, 2004a, 2004b). Die Migration stellt eines der relevantesten biopolitischen Phänomene unserer Zeit dar. In der facettenreichen Forschung zur Biopolitik sind schon viele Paradigmen entworfen worden, mittels derer versucht wurde, den Zusammenhang von Biopolitik und Migration zu erörtern. Meistens sind sie aus der Beobachtung konkreter Situationen heraus diskutiert worden. Dies gilt beispielsweise für Giorgio Agambens Begriff des Lagers als örtliche Festlegung einer Ordnung, als verborgene Matrix des westlichen politischen Raums und als Materialisierung des Ausnahmezustandes (vgl. Agamben 2005: 23f.). Dieses Paradigma ist u.a. auch in Anbetracht jener »campi dei senza nome«, jener Lager der Namenlosen2 , entstanden, die von den süditalienischen Stadien, wo viele illegale Zuwanderer aus Albanien festgehalten wurden, bis hin zu den Vor1 | An dieser Stelle weist Foucault auf das Problem des »Comment être gouverné, par qui, jusqu’à quel point, à quels fins, par quelles méthodes ?« hin. 2 | So Agamben in einem Interview mit B. Caccia, das unter dem Titel »Nei campi dei senza nome« in der Zeitung Il Manifesto vom 3.11.1998 erschienen ist, hier zit.n. Cesana (2005: 7).

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orten der westlichen Städte reichen (vgl. Agamben 2005: 195). Die Diskussion von Biopolitik und Migration hält an. So analysiert zum Beispiel Judith Butler den Zustand der Nicht-Zugehörigkeit. Ausgehend von der Beobachtung einiger Nicht-Orte der Gegenwart wie Guantanamo oder Gaza, profiliert sich dieser Zustand bei Butler als ein Set von Anordnungen, die Entbehrung, Enteignung und Vertreibung erzeugen und aufrechterhalten (vgl. Butler/Spivak 2007: 10-12). Einen wichtigen Beitrag zur generellen Diskussion haben auch Michael Hardt und Antonio Negri geleistet, indem sie die postkolonialen Migrationen sowie jene massiven Ströme von Arbeitnehmern, die weltweit in Bewegung gesetzt worden sind, im Sinne der Multitude ausgelegt haben. Damit wird eine neue politische Widerstandssubjektivität gezeichnet, die sich im engen Zusammenhang mit der Konstituierung des Empires gebildet hat (vgl. Hardt/Negri 2000: 25, 394f.). Obwohl all diese Paradigmen zu berücksichtigen sind, soll sich die folgende Diskussion von Biopolitik und Migration vorrangig an jener ursprünglichen Analytik der Gouvernementalität orientieren, die Foucault in seinen Vorlesungen 1977-1978 am Collège de France entwickelte (vgl. Foucault 2004a). Hierbei sollen insbesondere einige biopolitische Techniken im Fokus stehen, auf die Staaten bzw. Regierungen zurückgreifen, um das (biologische und politische) Leben der Menschen durch die Organisation der Migration zu verwalten. All dies wird anhand der europäischen Massenmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert werden, wobei sich das Augenmerk auf den spezifischen Fall von Italien und der Bundesrepublik Deutschland (1955-2012) richten wird. So soll zunächst auf einige Thesen der neusten historischen Debatte zurückgegriffen werden, deren Gegenstand die neuen und besonderen Regierungstechniken (vgl. vor allem Colucci 2008) sind, welche in den massiv geplanten und organisierten Migrationen der 1950er und 1960er Jahre zum Einsatz kamen. Allerdings soll hier nicht so sehr nach dem positiven Gehalt dieser Thesen gefragt werden – dies zu tun, wäre eigentlich eher Aufgabe der Historiker –, sondern vielmehr nach der Art und Weise, wie sich das Problem der Migration in ihnen äußert bzw. formuliert wird und in welche Strategien der Macht sich einige Begriffe genealogisch einfügen lassen. Diese im historischen Diskurs entstandenen Behauptungen sollen im zweiten Teil mittels der Analyse von literarischen Werken, die in den 1980er und 1990er Jahren von italienischstämmigen und auf Deutsch schreibenden Autoren verfasst wurden, weiter diskutiert werden. Hierbei interessiert mich besonders, wie diese Literatur, die sich von Beginn an als widerständig verstand, jene biopolitischen Regierungstechniken (Disziplinierungen, Kontrollmechanismen usw.) reflektierte bzw. repräsentierte und welche Formen des Widerstands sie schuf. Der hiesige Beitrag möchte also, kurz gesagt, verschiedene Diskurse (theoretischer, historischer und literarischer Natur) miteinander verknüpfen, um die

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eventuellen Kontaktpunkte bzw. Unterschiede aufzudecken, getragen von der Hoffnung, dass sich die jeweiligen Bereiche durch den Vergleich wechselseitig potenzieren können. Ziel ist es, eine ganze Reihe an problematischen Beziehungen aufzuzeigen, so zum Beispiel die Wechselbeziehung von Sicherheits- bzw. Kontrollmechanismen, von Disziplin und Führungstechniken mit individuellen bzw. kollektiven Identitätskonstruktionen, aber auch die Machtstrukturen, die Prozesse bzw. Mechanismen der Ausschließung, der Denationalisierung und der Enteignung mit Formen des Widerstands und der Ablehnung. All dies sind Prozesse, die nicht von selbst entstehen, sondern, Foucault zufolge, von einer Macht angeordnet werden, die sich verschiedener Techniken bedient, welche Butler und Spivak auch als »komplexe Methoden der Gouvernementalität« (Butler/Spivak 2007: 30) bezeichnen. Hinsichtlich des Konzepts der Biopolitik gelang es Foucault gerade innerhalb der »Analytik der Regierung« (Lemke 2007: 66) weitere Akzente zu setzen (vgl. Lemke 2007: 48)3 . Dies erlaubte ihm seine Untersuchungsperspektive der Machtmechanismen zu verfeinern, im Sinne einer genealogischen Analyse der »Techniken, Strategien und Taktiken«, durch die sich »Felder, Bereiche und Wissensgegenstände« (Foucault 2004a: 122) konstituieren. Die Art und Weise, wie sich solche Techniken koordinieren lassen, war Foucault deshalb so wichtig, weil sie ganze Machttechnologien erkennen lassen (vgl. Foucault 2004a: 121). Dabei misst er dem Problem der Gouvernementalität und der Techniken des Regierens eine derart große Bedeutung bei, dass er in ihm den einzigen politischen Einsatz und den einzig realen Raum des politischen Kampfes und der politischen Gefechte sieht (vgl. Foucault 2004a: 112). Im vorliegenden Beitrag wird daher versucht, einige solcher Techniken in Bezug auf eine spezifische und besondere Migrationswelle zu beleuchten und auf die Migration als ein Dispositiv4 der Politik und der Wirtschaft zur Verwaltung des Lebens einzugehen. Wegweisend für den hier verfolgten Ansatz ist der von Lelio Demichelis und Giovanni Leghissa herausgegebene Band Biopolitiche 3 | So erklärt Lemke, dass »Foucaults Gebrauch des Begriffs der Biopolitik […] nicht einheitlich [ist] und […] sich in seinen Texten permanent [verschiebt]«, und gibt einen Überblick über die verschiedenen Verwendungen des Begriffs bei Foucault selbst (vgl. Lemke 2007: 47-70) ebenso wie in der aktuellen Forschung. Auch Demichelis und Leghissa konstatieren, dass das Konzept der Biopolitik »nicht wenigen Mutationen unterlag, seitdem es in den zeitgenössischen geistigen Wortschatz eingeführt worden ist«, Mutationen, die zu der heutigen »vielgestaltigen Forschung« beigetragen haben (Demichelis/Leghissa 2008: 8f., dt. d. Vf.). 4 | Diese Richtung scheinen auch die Ansätze von Demichelis/Leghissa (vgl. Demichelis/Leghissa 2008: 11) und von Bazzicalupo (vgl. Bazzicalupo 2008: 57-58) zu verfolgen, wobei sie jedoch die Arbeit, und nicht die Migration, als Dispositiv bezeichnen.

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del lavoro (vgl. Demichelis/Leghissa 2008; dt. ›Biopolitiken der Arbeit‹), welcher Biopolitik und Arbeit auch im Sinne von ›Biotechniken‹ und ›Dispositiven‹ diskutiert (vgl. Leghissa 2008; Bazzicalupo 2008; Demichelis 2008; Greblo 2008).

Z WISCHEN D ISZIPLINIERUNG UND L AISSEZ- FAIRE : Z U DEN R EGIERUNGSTECHNIKEN DER M IGR ATION Der historische Diskurs und insbesondere einige Beiträge aus der zeitgenössischen italienischen Historiographie haben kürzlich auf das Kapitel der europäischen Migrationen der zweiten Nachkriegszeit zurückgegriffen. Diesem Phänomen ist auch der deutsch-italienische Fall zuzuordnen, der hier einschließlich seines Hintergrunds betrachtet wird. Nachdem diesem Thema viele Jahre lang nur begrenzte Aufmerksamkeit geschenkt worden war, und obwohl das Studienpanorama, wie viele immer noch beklagen (vgl. De Clementi 2003: 11; Colucci 2008: 13), grenzübergreifend fragmentarisch bleibt, genießt dieses Thema aktuell neues Interesse. Im Mittelpunkt der neuen Studien stehen seit einiger Zeit jene Politiken der Migration, die im spezifischen europäischen Migrationszusammenhang, von dem hier die Rede ist, in vielen Staaten und durch viele Regierungen zum Einsatz kamen. Zu diesen Ländern zählen auch Italien und die Bundesrepublik Deutschland, die am 20. Dezember 1955, neben einer Vielzahl anderer Abkommen, ein Abkommen zur Anwerbung italienischer Arbeitskräfte unterzeichneten. Mit einer gewissen Nähe zu Foucaults biopolitischen Überlegungen, ebenso wie zu denen anderer zeitgenössischer Philosophen, hat sich der historische Diskurs recht intensiv und nicht selten auch mit beunruhigenden Akzenten den Politiken der Migration nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Zwischen dieser neueren Historiographie, die aber nur in manchen Fällen Foucault ausführlich zitiert,5 und einigen philosophischen Überlegungen Foucaults kann man gewisse Kontaktpunkte erkennen, die im Folgenden dargestellt werden. Dazu werden einige im Rahmen des historischen Diskurses entstandene Begriffe abwechselnd mit der Terminologie Foucaults verwendet bzw. verglichen, in der Absicht, einen weiteren Beitrag zur Diskussion über jene neuen und besonderen Techniken zur Verwaltung der europäischen Migrationen zu leisten, die im historischen Diskurs wiederholt hervorgehoben worden sind und worauf gerade das Foucault’sche Instrument der Biopolitik neues Licht werfen kann. 5 | Colucci ist einer der wenigen Autoren, der Agamben und Foucault direkt zitiert. Bei den anderen hier berücksichtigten Historikern ist hingegen unklar, ob sie an manchen Stellen auf Foucault anspielen, tatsächlich von seinen Schriften ausgehen oder ob sie überhaupt vom Denken Foucaults beeinflusst sind.

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Ein erster Punkt, der hier zu betonen ist, betrifft die Auslegung der Migration als eine übergeordnete Regierungstechnik: als ein Dispositiv oder als eine Technologie, um auf das Foucault’sche Vokabular zurückzugreifen, oder als ein wirtschaftliches bzw. politisches Instrument, um mit den Historikern zu sprechen (vgl. Colucci 2008: 27, 238). Im Rahmen der europäischen Nachkriegsmigrationen galt die Migration als politische Technik sowohl für die italienische wie auch für die deutsche Seite. Als 1946 die neu gegründete italienische Regierung mit verschiedenen Ländern eine Reihe von Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften zu unterzeichnen begann (1946 mit Belgien, 1947 mit Frankreich und der Tschechoslowakei, 1948 mit der Schweiz und Großbritannien), plädierten tatsächlich alle politischen Fraktionen dafür. Dies erfolgte in Italien nicht nur mit dem sehr eindeutigen Ziel der raschen Lösung des schweren und dringenden Arbeitslosigkeits- bzw. demographischen Problems, sondern auch zur Stabilisierung der neugeborenen Demokratie. Es sollte vermieden werden, dass eine explosive wirtschaftliche und demographische Situation die Befreiung vom Nazifaschismus behindern könnte (vgl. Colucci 2008: 43). Die Migration stellte daher – und dies nicht nur in dieser historischen Phase, sondern immer wieder in der Geschichte des vereinigten Italiens – das bevorzugte Mittel zum Nation Building dar (vgl. De Clementi 2003: 12; Colucci 2008: 27-41). Für die Bundesrepublik Deutschland, die erst zehn Jahre später, und zwar 1955, zum ersten Mal generell und zunächst nur mit Italien ein erstes Anwerbeabkommen unterzeichnete, stellte sich die Einwanderung als ein »wendiges Instrument zur Deckung des Bedarfs an Arbeitskräften« (Sala 2004: 127) heraus, das von großem Nutzen sein sollte, sobald sich die wirtschaftliche Entwicklung wieder in Gang setzen würde. Dieses erste Anwerbeabkommen mit Italien diente der Bundesrepublik als Vorlage für die darauf folgenden Abkommen mit anderen südlichen Ländern: 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien. Wie bereits diese Rahmendaten verdeutlichen, war die Rolle Italiens als Auswanderungsland in diesem Zusammenhang absolut entscheidend. Dies ist eine Dimension, die oftmals in den Studien zur Migration zu wenig berücksichtigt wird, denn diese tendieren eher dazu, den Standpunkt des Einwanderungslandes und daher des ›Migrationsausgangs‹ stärker zu beschreiben. Wie man sieht, war Italien in dieser Migrationsphase hingegen gerade eines der ›Ausfuhrländer von Arbeitskräften‹, das sich in erster Linie um den erfolgreichen Abschluss verschiedener bilateraler Anwerbeabkommen mit anderen europäischen Ländern bemühte und als Gegenpart der jeweiligen ›Einfuhrländer von Arbeits-

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kräften‹ eine durchaus aktive Rolle mit sehr klaren Zielen in der Innen- sowie in der Außenpolitik übernahm.6 Es verwundert daher nicht, dass sich Italien auch in der praktischen ›Organisation‹ und gemeinsam mit den verschiedenen Migrationspartnern, darunter auch Deutschland, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit einbezogen wurden, ebenso eifrig betätigte. Dies stellt den zweiten Punkt dieser kursorischen Lektüre dar und gleichzeitig eine der damals eingeführten Hauptstrategien zur Verwaltung der Migration. Denn unter Organisation ist jene Gesamtheit von Praktiken zu verstehen, derer sich zwei recht starke nationale, aber in Sachen Migration transnational verbundene Souveränitäten bedienten. Dieser Aspekt stellt vielen Historikern zufolge ein neuartiges Element dar, dem viel Aufmerksamkeit besonders von Seiten derjenigen geschenkt worden ist, die auf die Notwendigkeit des Vergleichs der verschiedenen Migrationswellen bzw. -phasen hingewiesen haben. Denn vorher waren die Migrationen nicht immer organisiert. So zeichneten sich beispielsweise die transozeanischen Auswanderungen aus Italien zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert durch eine Laissez-Faire-Politik aus (vgl. De Clementi 2003: 13), d.h. durch die ›Nicht-Intervention‹ durch den Staat. Im Fall der europäischen Migrationen ab 1946 ist die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten, da sich eine starke Intervention durch den Staat oder besser durch die zwei beteiligten Staaten registrieren lässt (vgl. De Clementi 2003; Sala 2004). Insbesondere die Historikerin Andreina De Clementi hat bemerkt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg »die ›unsichtbare Hand‹ Smith’scher Prägung […]  durch jene weitaus sichtbarere der Politik ersetzt  wird« (De Clementi 2003: 21, dt. d. Vf.). Zu diesem Zeitpunkt setzte sich also das Prinzip der Intervention durch. Dies geschah anhand einer ganzen Reihe von Praktiken, die von verschiedenen Diskursen über die »Sicherheit« und über eine »assistierte« bzw. »gefahrlose« sowie »nur befristete« und »fließende« Auswanderung aus Italien bekräftigt wurden (Colucci 2008: 43-68). Eingeführt im Namen der »Assistenz« und des »Schutzes« stellten sich die neuen Techniken jedoch alsbald als eine ganze Reihe von Kontrollmechanismen heraus, die alles andere als »fließend« waren: Organisation, Leitung, rationelle und zielgerichtete Verwaltung, staatlich bilateral vereinbarte Anwerbungen direkt am Herkunftsort und durch Kommissionen sowie die Errichtung eines bürokratischen und propagandistischen Apparats durch ein transnationales Netz von ad hoc geschaffenen Einrichtungen und institutionellen Orten (hauptsächlich Kommissionen, Lager und Baracken) waren die wichtigsten Bestandteile eines Modells, das typisch für diese Zeit war, das sich aber im Nachhinein als nicht ganz neu herausstellen sollte.

6 | Leider kann hier nicht auf all diese komplexen Aspekte detailliert eingegangen werden; einen guten Überblick hierzu bietet Colucci (2008).

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Denn die von den Historikern durchgeführten genealogischen Untersuchungen haben gezeigt, dass das Modell, dem die deutsch-italienische Kooperation ab 1955 folgte, trotz einiger Abweichungen gerade auf das ihm unmittelbar vorangegangene Modell von 1938 zurückzuführen ist. Im Rahmen dieses letzteren Abkommens erfolgte der Versand und die Zwangsrekrutierungen von Arbeitskräften im Namen des nazifaschistischen Bündnisses zwischen Italien und Deutschland (vgl. Colucci 2008; De Clementi 2003; Mantelli 2006; Sala 2004). Eine solche Kontinuität zwischen den zwei Phasen während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist u.a. auch durch die Verwendung der gleichen Terminologie (in beiden Fällen hießen beispielsweise in Italien die Anwerbungen reclutamenti, d.h. Rekrutierungen7), durch den Einsatz von gleichen Aufnahmeeinrichtungen (z.B. die gleichen »Baracken« in Deutschland, die einst Gefangene und dann Migranten aufnahmen (vgl. De Clementi 2003: 20) oder durch die Involvierung der gleichen Subjekte (wie z.B. im Fall des Konzerns Heitkamp, vgl. Colucci 2008: 220-21) hervorgehoben worden. All dies hat dazu beigetragen, dass im historischen Diskurs immer wieder von einem »Zustand der Außergewöhnlichkeit« (De Clementi 2003: 13) oder von »außergewöhnlichen Regierungspolitiken« (Colucci 2008: 19-21) bei den europäischen Massenmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede gewesen ist. Dabei wurden insbesondere im Rahmen solcher genealogischen Analysen weitere Überlegungen angestellt, die bis in die heutigen Tage hineinreichen: Die strenge Organisation, die Kontrollmechanismen und die außergewöhnliche Politik der Kriegs- bzw. Nachkriegszeit sind als Matrix für die Regierungsart der darauf kommenden, d.h. zeitgenössischen Migrationen aus außereuropäischen Ländern in die »Festung« Europa ausgelegt worden (vgl. Colucci 2008: 226). Was also meines Erachtens in diesem Querschnitt durch einige Kapitel der europäischen bzw. deutsch-italienischen Migrationsgeschichte sehr überzeugend deutlich wird, ist eine Transformation in actu der Macht: von den Regulierungen der transozeanischen Auswanderungen im 19. Jahrhundert durch eine »unsichtbare Hand« bis zur Disziplinierung der europäischen Nachkriegsmigration anhand von Kontrollmechanismen8 . Wollte man die folgenden Entwicklungen des letztgenannten Phänomens weiterverfolgen, so würde man beobachten, wie die soeben beschriebene kompakte Organisation bald anfing, sich an gewissen Stellen zu lockern, um wieder in die Richtung einer gewissen Liberalisierung, einer erneuten Laissez-faire-Politik zu tendieren. Der deutschitalienische Fall ist auch insofern prototypisch, als gerade die italienischen Migranten in Deutschland die Ersten waren, die zum Gegenstand einer Reihe von 7 | Auf diese militärische und dann halbmilitärische Dimension besteht insbesondere Colucci (2008: 21). 8 | Von Kontrolle, Überwachung usw. sprechen ausdrücklich De Clementi (2003: 14, 23) und Sala (2004: 120).

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EWG-Vorschriften (1961-1968) in Sachen europäischer Freizügigkeit wurden. Daher darf nach Meinung der Historiker das Kapitel der europäischen Freizügigkeit und insbesondere dasjenige der europäischen Integration nicht getrennt von der Geschichte der europäischen Migrationen betrachtet werden (vgl. Colucci 2008: 17, 28; Sala 2004: 138ff.). Laissez-faire – Disziplin – fließende Regulierungen: Was hier beschrieben worden ist, scheint einem Bündel an Beziehungen zu gleichen, die sich wechselseitig definieren und miteinander verschränkt sind. Darauf hatte Michel Foucault seinerzeit schon hingewiesen, gerade als er jenen entscheidenden Übergang von der Disziplinierungsgesellschaft zur Sicherheits- und Regulierungsgesellschaft, vom Territorialstaat zum Bevölkerungsstaat registrierte und damit einige zeitgenössische Veränderungen der Macht im Zeichen des Neoliberalismus diskutierte: Eine Macht, die zwar ihre Kontrollmechanismen lockert, um sie durch fließende Regulierungen bzw. Sicherheitsdispositive zu ersetzen, ohne dass man aber zugleich sagen könnte, dass der Machtzugriff auf die Subjekte nachgelassen hätte (vgl. Foucault 2004a: 8).

W IDERSTÄNDIGE L ITER ATUR : Z U DEN TAK TIKEN DES S CHREIBENS ÜBER DIE M IGR ATION All die bereits genannten Aspekte finden sich auch in der transnationalen Literatur von italienischen Autoren mit Migrationshintergrund wieder, die Anfang der 1980er Jahre in Deutschland entstand und der im Laufe der Jahre mehrere Bezeichnungen gegolten haben, angefangen mit »Literatur der Betroffenen« über die »Gastarbeiterliteratur« (vgl. Biondi/Schami 1984) bis hin zur »Literatur der Fremde« (vgl. Weigel 1992) oder »interkulturellen Literatur« (vgl. Chiellino 2000). Unter welchem Namen auch immer, hat sich diese Literatur – von Anfang an – die Aufgabe gestellt, die Migration zu erzählen, diese ›Geschichte‹ den dominanten Diskursen und Narrationen zu entreißen und sie nun endlich aus einer anderen Perspektive zu schildern. In seiner Auseinandersetzung mit dem Thema, setzt der literarische Diskurs den Akzent zum einen auf die hier bereits historisch erörterten Formen der Migrationspolitik; zum anderen – und in besonderem Maße – thematisiert sie aber auch die Grenzen dieser Migrationsgeschichte. Grenzen, die mit Rändern zusammenfallen, die in der Literatur be- und hinterfragt und nicht zuletzt in Bewegung gesetzt werden. Im Kapitel »History« von A Critique of Postcolonial Reason (vgl. Spivak 1999), das vor allem die historische Schreibweise problematisiert, hat Gayatri Chakravorty Spivak auf diese Grenzen bzw. Ränder verwiesen. Ihrer Ansicht nach situierten sich genau dort die Geschichten der Subalternen, die im historischen Bericht über hegemonische Figuren (Könige, Offiziere, Armeen usw.) oder gro-

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ße Ereignisse entweder ausgelassen oder angeeignet wurden. Diese Ränder der Geschichte werden durch Spivak als »fadeout points« bezeichnet (Spivak 1999: 239), die von dominanten Narrationen vereinnahmt werden. Innerhalb der Literatur, die von italienischen Zuwanderern nach Deutschland verfasst wurde, kommt der literarischen Darstellung die problematische und heikle Aufgabe zu, diesen subalternen Subjekten, die man einst »Gastarbeiter« zu nennen pflegte, das Wort zu erteilen. So wurden der Figur des Gastarbeiters viele Texte gewidmet: »ein Gastarbeiter besteht aus vier Teilen dem Ausländergesetz der Aufenthaltserlaubnis der Arbeitserlaubnis und einem Ausländer« (Chiellino 1984: 13)

Die Literatur dieser Zeit, die sich u.a. unter der Fahne der Gastarbeiterliteratur präsentierte, diskutierte und erzählte die Geschichte der Migration mittels von fiktionalen Texten, die eine Reflexion über jene ›Techniken‹ und ›Praktiken‹ der Verwaltung des Lebens durch die Migration aufweisen, die auch im historischen Diskurs zentral sind. Dies erfolgt in der Literatur auf mehreren Ebenen: vom primären Stoff der kurzen Prosa oder der narrativen Lyrik, über die Darstellung von Räumen der Krise und des Ausschlusses, bis zur Inszenierung jener diskursiven Praktiken der Abstempelung, die zur Konstitution von subalternen Subjekten beitragen. Insofern lassen sich in den Texten der 1980er Jahre sehr häufige Hinweise auf Anwerbungen durch Kommissionen, auf Reisen über verschiedene Staatsgrenzen, auf die Fabrikarbeit, auf das Barackenleben usw. finden – dies alles sind Merkmale, die in vielen Texten von Carmine Abate, Gino Chiellino, Giuseppe Giambusso und Franco Biondi als sozialgeschichtlicher Hintergrund dienen, zur Darstellung eines ›fremden Alltags‹ und eines Gastarbeiterdaseins, die durch den bevorzugt sachlichen, nüchternen und objektivierten Ton hervorgehoben werden. Wie zum Beispiel folgender Auszug aus dem Gedicht Integration I zeigt: »Ein Bett ein Tisch Zwei Stühle ein Ofen ein Schrank ein Klo von der Küche durch einen Vorhang getrennt.

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F EDERICA M ARZI Hier kann man nicht an Integration denken Hier sterben die Gedanken aus.« (Chiellino 1984: 63)

Die Literatur ›schielt‹ auf die Migration und fokussiert dabei gleichzeitig die Abfahrts- und die Ankunftsgesellschaft. Wie im historischen Diskurs so wird auch hier die Migration sehr oft als Technik beschrieben, die von Staaten eingesetzt wird. »Kulturelle Katastrophe, die die Kolonialvölker erlitten« (Biondi/Schami 1984: 136), keine »gottgewollte Naturkatastrophe, sondern eine Folge der herrschenden ökonomischen Verhältnisse« (Biondi/Schami 1984: 142), »Vertreibung« (Chiellino 1984: 47), »Krieg« (Biondi 1982: 20)9 , »passives Sanierungsmodell«, »politische Regierungspraxis an die südländischen Bauern gerichtet« oder »mechanische Lösung des südländischen Agrarproblems« (Abate 1986: 55, dt. d. Vf.) sind nur einige der vielen möglichen Epitheta, die in dieser Zeit immer wieder zirkulierten. Sie tragen dazu bei, die Migration als besondere Form der Bevölkerungsregulierung zu beschreiben und sie sehr präzise biopolitische Konturen gewinnen zu lassen. Es wäre aber irreführend, die literarischen Texte ›mimetisch‹ lesen zu wollen, einen Ansatz, den beispielsweise die ersten kritischen Lesarten vertraten. Zwar nimmt die Schrift eine realistische Pose ein, aber sie tut dies im Sinne einer Manier und nicht um die Realität widerzuspiegeln oder um über eine Lebenserfahrung zu berichten. Im Gegensatz dazu konstituiert bzw. organisiert sich die Literatur dieser Zeit an Räumen der Krise, d.h. an Heterotopien (vgl. Foucault 1984) entlang, um über sie zu reflektieren und Widerstand zu leisten. Der literarische Diskurs scheint also jene Dimension der Kontrolle und der Disziplinierung zu bestätigen, die im Rahmen des historischen Diskurses schon hervorgehoben worden ist. Auf diese Art und Weise wird die Migration in der Literatur als disziplinierter Raum dargestellt, der dichotomische Strukturen und Hierarchien aufweist. Schon Foucault identifiziert genau diese Merkmale der Disziplin: absolute Grenzen ziehen, hierarchisierende Trennungen zwischen dem Normalen und Anormalen einzuführen, um damit eine Norm festlegen zu können (vgl. Foucault 2004a: 7ff., 57ff.). 9 | Diese signifikative Bezeichnung, die auch schon im historischen Umgang mit der Migrationspolitik zu finden ist, stammt aus einer Kurzgeschichte von Franco Biondi, in der die Migration mit dem Krieg verglichen wird: »Das ersehnte er sich mit seiner ganzen Seele. Nicht mehr flehen, sich totarbeiten und die Füße lecken, um bloß für das Brot zu leben. […] Ihm wurde bewusst: Das alles hatte er in der Bundesrepublik gelernt. Nicht, dass sie es ihm beigebracht hätten, er hatte es gelernt in all den Gastarbeiterjahren. Als Gastarbeiter. Nicht aus einem Krieg, aus der Arbeitsmigration kam er. Er hatte begriffen, dass Kriege sinnlos waren, nicht die Arbeit.« (Biondi 1982: 19-20)

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Viele literarische Erzählungen stellen die Praktiken, die den »Fremdkörper« der Migranten disziplinieren, als Formen der Ausschließung dar, die gleichzeitig Formen von Einbehaltungen sind. Dies wird insbesondere in Franco Biondis Erzählband Passavantis Rückkehr (1982) insofern musterhaft dargestellt, als hier eine ganze Reihe jener kritischen Orte gezeigt wird, die Giorgio Agamben auf die Matrix des Lagers zurückgeführt hat und die auch vom historischen Diskurs betont worden sind: Abschiebungszentren, Gefängnisse, Irrenanstalten, Baracken, Wohnhäuser, Flughäfen usw. sind die Orte, die Biondi zum Anlass für viele Erzählungen dienen. Interessanterweise inszeniert der auf Deutsch schreibende Autor Situationen, in denen die verschiedenen Migrantenfiguren zwischen Schwere und Leichtigkeit, Verwurzelung und Flug schwanken, eine Art Zustand, in dem man ›gebunden‹ und gleichzeitig ›losgelöst‹ ist: »Bald werden wir beide, Mario und ich, uns wie diese rostbraunen Bäume vom Boden erheben und in der stahlgrauen Himmelsmasse verschwinden. Bald. Sobald wir in das Flugzeug der Abschiebung einsteigen. Rostbraune Bäume. Ich fühlte mich wie diese Bäume, ein Baum, der zwischen Knast und Flughafen verrostet. […] Das einzige Grün waren die Anzüge der Polizisten vor uns. Und sie führten uns zum Flughafen.« (Biondi 1982: 66f.)

Biondi scheint also einen jener Modi der ›Nicht-Zugehörigkeit‹ zu inszenieren, zu denen sich auch Judith Butler geäußert hat. Die Philosophin spricht von einem Zustand, den sie als »Nicht-Zugehörigkeit« bezeichnet: Einen vom Staat durch Aufhebung des Rechtsschutzes hervorgebrachten Zustand des gleichzeitig Gebunden-, Enthoben- und Verbanntseins. Ein Zustand der »Enteignung«, die eine spezifische Anordnung von Macht sei, welche ihrerseits machtgesättigte (subalterne) Subjekte produziere (vgl. Butler/Spivak 2007: 8f.). Diese Subjekte, entstehen laut Butler nicht von allein, sondern durch diskursive Operationen, die sie klassifizieren und als Subalterne hervortreten lassen. Sie konstituieren bzw. unterwerfen sie, um sie aus dem politischen Leben auszuschließen (vgl. Butler/Spivak 2007: 8f.). All dies schlägt sich paradigmatisch in der ›Literatur der Gastarbeiter‹ nieder, die ein Speicherbecken für eine ganze Reihe stigmatisierender Diskurse darstellt. Tatsächlich findet man in den zahlreichen Texten der Gastarbeiterliteratur Hinweise auf geläufige Darstellungen von Gastarbeitern, die immer wieder in den 1970er und 1980er Jahre im öffentlichen Diskurs zirkulierten: degenerierte Typologien von »Dieben«, »Mördern«, »dreckigen«, »frechen«, »feindlichen« Menschen, sonst auch als »Itaka«, »Spaghettifresser«, »Eseltreiber«, »Türken« oder »Kanaken« abgestempelt,10 kurz als »asoziale, kriminelle 10 | Es handelt sich um wiederkehrende Darstellungen der Gastarbeiter, die beispielsweise im auf »Gastarbeiterdeutsch« geschriebenen Gedicht »Frescher Gastarbeiter«

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und politisch bedenkliche Elemente«.11 Wie man schon an dieser stichwortartigen Aufzählung sehen kann, bilden sich solche Darstellungen durch typische Prozeduren der Normalisierung, Ethnifizierung (d.h. durch die Zuschreibung einer Ethnie) und Rassifizierung (d.h. durch die Zuschreibung einer Rasse) der Alterität, durch den Einsatz von bestimmten festen Codes, Modalitäten und Strategien zur Klassifizierung und Hierarchisierung der Differenzen. Es handelt sich hier um Verfahren, welche die Alterität ausgrenzen und sie in abgegrenzten Räumen verorten. All dies erfolgt auf Kosten des Lebens, das auch in der Literatur durchaus im Visier der Politik steht. Denn in diesem Szenario wird das (biologische und politische) Leben – ein Wort, das immer wieder in den Texten auftaucht und im Namen dessen auch Widerstandsformen ausgerufen werden – eingefangen und auf einen Gegenstand reduziert, der politischen und ökonomischen Kontrollmechanismen preisgegeben wird, wie im folgenden Auszug von Gino Chiellino: »Ein Mensch ohne Pass ist nicht mehr gültig, ein Arbeiter ohne Arbeit ist kein Mensch« (Chiellino 1984: 18)

Oder das Leben wird als Abwesenheit dekliniert, wie im folgenden Gedicht von Giuseppe Giambusso: »Alba al mio paese Non c’è nessuno per strada, nessuno, nessuno […] Che me ne faccio di un’alba morta, di queste mani vuote, di questa vita senza vita?«

»Sonnenaufgang in meinem Dorf Niemand auf der Straße niemand, niemand… […] Was soll ich denn mit einem toten Sonnenaufgang mit diesen leeren Händen mit diesem Leben ohne Leben?« (Giambusso 1985: 32-35, eigene Hervorhebung)

von Franco Biondi aufgezählt werden (vgl. Biondi 1983: 99). Ein Speicherbecken solcher Diskurse stellen ferner die Erzählbände Den Koffer und weg (1984) von Carmine Abate oder Biondis Passavantis Rückkehr dar. 11 | Zu einer Analyse der dominanten Diskurse der 1960er und 1980er Jahre in der BRD siehe Schönwälder (2001: 217, 257ff.).

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Das Leben wird aber auch als vollkommene, totale politisierte Entität dargestellt: »Kein Widerspruch ›Alles ist politisch scheißen auch‹ in der Fabrik wird dies rationalisiert die Bauern im Süden die Gastarbeiter im Norden und nicht sie allein haben keine hygienischen Klos was hat dort ein Gedicht zu suchen?« (Chiellino 1984: 49)

Wie man anhand der angeführten Texte beobachten kann, bewegt sich die Literatur der italienischen Emigranten im Deutschland der 1980er Jahre an verschiedenen Heterotopien entlang, die als Ergebnis einer »Handlung der Transparenz«12 durch eine (Bio-)Macht repräsentiert werden können. Diese Macht regelt und strukturiert Positionierungen, Disziplinen, Wissenschaften, Diskurse und soziale Praktiken. Sie unterscheidet zwischen der Norm und der normativen Abweichung, zwischen Inklusion und Exklusion. In diesen Räumen wird somit entschieden, welches Leben mehr wert ist, wer und wann im Namen des nationalen Staates, der nationalen Politik und Wirtschaft ausgeschlossen werden muss. Auf diese Weise registriert und reflektiert die Literatur verschiedene (Subjektivierungs-)Techniken und Strategien der Macht, die durch die Organisation der Migration und durch die Migration als Technik das (biologische und politische) Leben der Menschen schlechthin zu disziplinieren versucht. In diesem Zusammenhang avancieren Schrift und literarische Repräsentation aber auch bewusst zur Interventionstechnik, um die Normen, die das Leben regulieren, wieder aufs Spiel setzen zu können. Und um dies zu tun, schreckt diese Literatur – wie die obigen Textbeispiele vor Augen führen – gewiss nicht vor ausdrucksstarken Darstellungen zurück. Sie bedient sich paradoxer Positionen, bissiger Ironie bzw. Provokation und entschiedener Ablehnung. Kurz: Sie rekurriert in besonderem Maße auf eine Geste der Umkehrung bzw. Umwälzung, welche Trennungen, Hierarchien und Polarisierungen auf den Kopf stellen will. Dennoch bleibt gerade diese Geste, die für die Zeit sehr typisch 12 | Diesen Ausdruck übernehme ich von Homi Bhabha, der im postkolonialen Diskurs diese besondere Handlungsweise der Macht gegenüber der Kolonialbevölkerung betont: »Transparency is the action of the distribution and arragement of differential spaces, positions, knowledges in relation to each other, relative to a discriminatory, not inherent, sense of order.« (Bhabha 1994: 155f.)

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war und die in Situationen von Minderheiten sehr oft vorkommen kann, diesen durch Dichotomien und Gegensatzpaare stark strukturierten und polarisierten Räumen verhaftet. Wie einige geläufige Titel der Produktionen dieser Jahre – Il muro dei muri (dt. ›Die Mauer der Mauern‹, Abate 1993), Lachen aus dem Ghetto13 , Sehnsucht nach Getto14 usw. – bestätigen, hat man das Ghetto sozusagen nicht verlassen. Das folgende auf den Gegensatzpaaren wir/ihr, ich/du, wollen/ sollen beruhende Gedicht von Gino Chiellino liefert einen weiteren Beleg dafür: »Sklavensprache mit mir willst du reden und ich soll deine Sprache sprechen« (Chiellino 1984: 71)

Abschließend kann man sich also nicht des Verdachts erwehren, dass solche Schriften eher als frontale und antagonistische Widerstandsversuche gegenüber den Machtordnungen funktionieren – und dies auf eine Art und Weise, die sie unvermeidlich in den immer gleichen Machtmechanismen verhaftet bleiben lässt. Solche poetischen und narrativen Diskurse – wenn auch im Zeichen des Widerstands und einer subalternen rebellierenden Subjektivität artikuliert – bleiben daher als Gegendiskurse einer Minderheit auf eine Ghettoterritorialität beschränkt. Die Machtverhältnisse scheinen damit unverändert aufrecht erhalten geblieben zu sein. Zu Beginn der 1990er Jahre verfassen aber die ehemaligen ›Gastarbeiterautoren‹ neue Texte, in denen die Migrationsgeschichte und ihre Techniken auf eine ganz andere Art und Weise behandelt werden. Diese ›neue‹ Literatur (diesmal experimentelle Romane mit postmodernen Zügen und hermetische Gedichte) entsteht zwar noch immer entlang der verschiedenen Polaritäten (ich – du, Heimat – Fremde, Inländer – Ausländer, anwesend – abwesend, Leben – Politik usw.), aber diese werden nun nicht invertiert wie einst in der ›Gastarbeiterliteratur‹, sondern durch Annäherungen, Querverbindungen, Verschränkungen und Transversalitäten wieder aufs Spiel gesetzt. Inszeniert wird dies bevorzugt durch Deplatzierung und Entstellung, wie etwa in Die Unversöhnlichen. Im Labyrinth der Herkunft (1991), einem späteren Roman von Franco Biondi, der anhand einer labyrinthartigen Schrift von einer 13 | Es handelt sich um eine Anthologie, die 1985 vom Polynationalen Literatur- und Kunstverein herausgegeben wurde. 14 | So der Titel eines Gedichtes von Chiellino (1984: 90).

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gescheiterten Rückkehr in die Heimat, nach San Martino in der Romagna, erzählt. In dieser Familiengeschichte, die auch eine Reise durch das Gedächtnis ist, stellt Biondi Überlegungen zu den verschiedenen Phasen der italienischen Auswanderung an – von den transozeanischen Reisen am Ende des 19. Jahrhunderts, über die italienischen Binnenmigrationen bis hin zur Auswanderung in andere europäische Staaten, darunter auch jene Ströme, die die italienischen Gastarbeiter nach Deutschland führten. Und um diese Geschichte noch einmal zu erzählen, bedient sich Biondi einer Vorgehensweise, bei der sich verschiedene Räume (Nationen, Regionen und Orte) und Zeiten überschneiden und die von Bewegungen geprägt ist, welche Symmetrien, Hierarchien und Ausschlussräume wild durchqueren. Diese nicht nur kulturellen, sondern auch politischen Bestimmungen, die einst als Polaritäten wahrgenommen wurden (Inländer – Ausländer, Arbeiter – Gastarbeiter), vervielfachen und überschneiden sich im Laufe von Biondis Roman, so dass die Schrift zur Üppigkeit, Wiederholung, Redundanz, Akkumulation und zum Sprachüberschuss tendiert und die Textoberfläche so metaphorisch dichter und opaker erscheinen lässt. Es wird also eine Heterogenität, eine Opakheit zum Ausdruck gebracht, die sozusagen einen Desorientierungseffekt in der Transparenz der typisch dominanten und abstempelnden Diskurse der Macht herstellt: »Lange grübelte ich über diesen Traum. Mein Kopf bastelte mir einige Auslegungen zusammen, um mich zur Räson zu bringen. Dennoch landeten meine Gedanken immer nur in der Herkunft, die mich einholte und mich aufwühlte. Die Herkunft war ein wildgewordener Fluss, der sich in mich eingebettet und mich überschwemmt hatte. […] Mein Leben in Deutschland ist eine Jagd hinter Gespenstern und Dingen her geworden. Und das, weil ich ein Verlierer der Gegenwart bin. Ich gestalte meine Gegenwart so, dass sie sich in Vergangenheit verwandelt […]. Hier reißt das Gedächtnis auf, wie eine Schlucht, wie die Jahre die Haut runzeln und aufreißen. Die Geschichte meiner Herkunft ist nicht ungewöhnlich, dennoch seltsam. Sie ist ein Rätsel. Deshalb ist die Herkunft mein Dilemma: Sie hat keine Sprache, doch bestimmt sie diktatorisch das Leben. Mit einem festgefahrenen Bild darin: schwebende, kämpfende Helden. Sie, die Binachis, wir, ich. Im Bild rührt ein Zeigefinger im trüben Wasser eines Beckens; der Strudel ist ein Loch in der Existenz. In meiner Existenz. […] Froh kehrt der Herkunftssuchende heim, von der Herkunft fernher, wenn du entfremdete Metaphern in eigene verwandelt hast. […] Du fandest keinen Weg aus dem Labyrinth, nur noch den Flohmarkt der Irreführungen. Die Verwandten verblassen nun in Dämmerschein, der umgebrachte Biondi im Licht. Die Wohnung atmet Nervosität und Schlummer. Du, der herkunftssuchende Dario, fährst heimwärts. Du stehst hier und gehst von hier fort. […] Du gingst und reichtest ihnen die Hand des Abschieds. Sie fragten, wohin

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F EDERICA M ARZI du fuhrst, und auch, warum es sein musste. Die Einsamkeit ist mein ergiebigster Weg, sprachst du und gingst. Wo Abschied ist, beginnt etwas Neues, heißt es. Die Allee zum Bahnhof, die protzigen Bauten der faschistischen Ära, die Eichen und die geparkten Autos – sie wurden vom fahlen Morgenlicht übergossen. Unter diesen Bäumen drängte Moro Pasquale nach Hause zurück und lief allein weiter zum Bahnhof, wo Bruna auf ihn wartete. Die Fahrt nach Sardinien stand im Lichte der Versöhnung. An dieser Stelle nahm ich Abschied von der Stadt […].« (Biondi 1991: 12-346)

Die gleiche Tendenz ist ebenso an Chiellinos späteren Gedichtband Sich die Fremde nehmen (1992) erkennbar. Bereits im Titel spielt er auf geläufige Redewendungen wie »sich das Leben nehmen« oder »sich die Freiheit nehmen« an, um sie erkennbar zu machen, ja, erklingen zu lassen und sie dann mit einem Neologismus zu verfremden. Diese im Titel exemplifizierte Technik ist typisch für Chiellinos Band, der sich nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Pasquale Gallo einer »Sprache der Differenz« bedient (Gallo 1998: 53). Damit scheint Chiellino eine Zone der Unbestimmtheit zu öffnen, innerhalb derer die Grenzen in Bewegung gesetzt werden, so dass der dichotomisch strukturierte Raum der Gastarbeitermigration nun zum Ort der Fremde wird. Dieser ist in erster Linie ein Ort der Sprache, der nicht mehr mit den Trennungen einer gouvernementalisierten ›Sklavensprache‹ zusammenfällt, sondern durch semantische und phonetische Schwankungen, Übergänge, Überschneidungen und Paradoxien in der Sprache und zwischen den Sprachen gekennzeichnet ist. Dies belegen die folgenden Beispiele: »sich die Fremde nehmen weil meine Stimme von deiner sich fern lebt wenn Surriento näher kommt und es ist Abend an einem fremden Tag« (Chiellino 1992: 26) »wenn das Schweigen gegen uns sich weiß färbt me spagnu ja ich deutsche mich sehr« (Chiellino 1992: 53)

Trotz der großen Unterschiede in Gattung, Stil und Poetik sind an den beiden angeführten Textpassagen Taktiken der Schrift zu beobachten, die einer gemeinsamen Geste entstammen. Diese scheint vielmehr imstande zu sein, in die Disziplinierungsformen einzugreifen, hin und wieder Sprünge zu machen, bisweilen die klassifizierenden Diskurse zum Stolpern und zum Ausrutschen zu bringen. Tatsächlich handelt es sich hier um ein desorientiertes und desorientierendes Schreiben, das dazu beiträgt, die auf Transparenz abzielenden Symmetrien

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der Macht zu verwirren, ja gar verschwimmen zu lassen. Solche Symmetrien geraten ins Schwanken, sobald sich diese Grenzzone der Undurchsichtigkeit und Verdichtung, der Bewegung, Doppeldeutigkeit und Bedeutungssteigerung auftut. Wir haben es also mit einer Schreibweise der Heterogenität zu tun, die sich gegenüber den Narrationen bzw. Techniken der Macht eher diagonal und transversal verhält, die statt an ›Revolution‹ eher an ›Transformation‹ denken lässt und die tatsächlich einen Moment der Diskontinuität in der Ökonomie des Ganzen herzustellen scheint.

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Biomacht und Mobilität Migrationen, Nomadismus, Territorium Giorgio Sciabica

Da sich dieser Aufsatz im Kern den möglichen Ausprägungsformen und Verschränkungen der Konzepte Biopolitik und Mobilität widmen und diese analysieren will, möchte ich mich zunächst mit der aktuellen transnationalen Migration befassen und diese ›neu lesen‹. Trotz der konzeptionellen Schwierigkeiten, die eine solche Lektüre mit sich bringen kann, lässt sich diese Form der Migration nämlich als eine Art der zeitgenössischen biopolitischen Entwicklung und der Kontrolle über die menschliche Mobilität begreifen. Die hier zur Diskussion stehende These betont, dass innerhalb des von uns allen gelebten biopolitischen Rahmens vermehrt Formen des nackten Lebens und verschiedene Ausnahmezustände auftreten, so dass sie keine Ausnahme mehr, sondern vielmehr eine unausweichliche Konstante darstellen. Um diese im Zeichen der Biopolitik stehenden Entwicklungen nachvollziehen zu können, ist es in gewisser Hinsicht notwendig, sich zweier Formen der Analyse und entsprechend verschiedener Quellen zu bedienen. So soll die Kombination von einigen recht theoretischen Referenzen mit indirekt empirischen Quellen (wie zum Beispiel Reportagen, Zeitungsmeldungen und Videos) die möglicherweise divergierenden Meinungen ausbilanzieren, die sich aus der Betrachtung eines historisch-sozialen Phänomens wie der grenzüberschreitenden Migration ergeben können, wenn man dieses mit dem Konzept der Biopolitik verschränkt. Die unterschiedlichen Standpunkte und Analysen der Anthropologie oder der empirischen Soziologie beruhen auf unterschiedlichen theoretischen Zugängen und werden oft durch Feldstudien gestützt. Seien sie auch noch so unterschiedlich, so eint sie doch eins: Sie schließen oft einen philosophischpolitischeren Zugang aus, der ja grundsätzlich dazu tendiert, das Beobachtete in theoretische Begriffe zu überführen. Eine der interessantesten Schlussfolgerungen, die sich zum einen aus der Analyse vieler Zeitungsmeldungen (welche Einwanderung und Rassengewalt nicht zufällig nur im Zusammenhang mit Sicherheitsproblemen thematisie-

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ren, aber nie von Rassismus sprechen, vgl. Dal Lago 2005) und zum anderen aus den Erkenntnissen der Subaltern Studies ergibt, ist, dass es sich im Fall der Migration um etwas handelt, das mit dem Begriff des nackten Lebens gefasst werden kann. Auf genau dieser Vermutung basiert meine zentrale These, die zugleich aber auch andere Fragen aufwirft. Können Menschen, die zu einem unbestimmten, verstümmelten Anderen reduziert werden, denen man Rechte vorenthält, denen man ihre Menschlichkeit abspricht und sie auf eine Stufe mit Tieren stellt, als nacktes Leben bezeichnet werden? Oder ist das nackte Leben etwas anderes? Ist es möglich andere, indirektere Beziehungen der Unterjochung zu denken, welche die Maske einer apokryphen Macht unwirksam machen und so Täuschungen, Verschleierungen und weitere Formen der Unterwerfung ankündigen?1 Unter welchen Bedingungen und wo verwirklichen sich diese Kräfte? Die zentrale Frage ist jedoch: Kann der heutige Homo sacer klar identifiziert werden? Wer begleitet ihn, wie sieht er aus und welche Auswirkungen hat er auf unsere Gegenwart?2

D IE R ÄUME DER U NUNTERSCHEIDBARKEIT UND DIE P AR ADOXIEN DER S OUVER ÄNITÄT In Homo sacer (vgl. Agamben 2002) tritt ein sehr interessantes und gar bedeutsames Schema der Querbeziehungen von Rechtszustand und dem von Hobbes beschriebenen Naturzustand zu Tage. Agamben kartografiert die (für diese beiden Gesellschaftsformen typischen) Machtbeziehungen, um die Entwicklungen in Ex-Jugoslawien Ende der Neunziger Jahre allgemein zu skizzieren. Insbesondere möchte er den Leser so auf ein konkretes Beispiel aufmerksam machen, 1 | Interessant ist Arjun Appadurais Spekulation über die ethnischen Säuberungen. Hierbei handele es sich um die Ungewissheit der Maske, um die Angst, dass die normalen Gesichter des Alltags, deren verschiedene Namen, Bräuche und Glaubensarten sich von den unsrigen unterscheiden und in Wirklichkeit Verkleidungen seien, hinter denen sich nicht die Identitäten anderer Ethnien verbergen, sondern die Verräter einer als Ethnos verstandenen Nation (vgl. Appadurai 2005: 94). 2 | Agambens Definition des nackten Lebens und des homo sacer verdeutlicht übrigens ihre Zugehörigkeit zur biopolitischen Sphäre: »Der politische Raum der Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz des Profanen im Religiösen und des Religiösen im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterschiedenheit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist« (Agamben 2002: 93).

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welches uns fälschlicherweise zu der Annahme hätte verleiten können, mitten in Europa sei zum damaligen Zeitpunkt der Hobbes’sche Naturzustand ausgebrochen: »Wollte man das Verhältnis zwischen Naturzustand und Rechtszustand, so wie es sich im Ausnahmezustand gestaltet, schematisch darstellen, so könnte man sich zwei Kreise vorstellen, die anfangs voneinander getrennt erscheinen […], dann aber im Ausnahmezustand zeigen, daß in Wirklichkeit der eine sich im Innern des anderen befindet […]. Wenn die Ausnahme dazu tendiert, zur Regel zu werden, fallen die beiden Kreise absolut ununterscheidbar zusammen […] Es handelt sich also nicht um einen Rückfall der politischen Organisation in überwundene Formen, sondern um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nómos der Erde ankündigen […].« (Agamben 2002: 48f.; kursiv d. Vf.)

Signifikant erscheint hier insbesondere das Merkmal der Ununterscheidbarkeit, denn es erlaubt uns, eine Topologie zu entwerfen, die auf die Kategorien der Souveränität, des nackten Lebens und des Ausnahmezustands anwendbar ist.3 Diese Topologie, deren Paradigma das Lager ist, beschreibt, inwiefern sich Teile des Territoriums zugleich innerhalb und außerhalb der normalen Rechtsordnung befinden und dass sie unter eine Entscheidungsgewalt und eine Ausnahmeordnung fallen, welche die normale Ordnung begründet. Arendt zufolge ist das Bild des Lagers eng an ein biopolitisches Dispositiv4 geknüpft und basiert auf einer klaren geschichtlichen Verortung des Dispositivs selbst. Es reicht sich vor Augen zu halten, wie der zwanghafte Drang nach totaler Herrschaft im nationalsozialistischen Deutschland durch eine ideologische Indoktrinierung und durch die grauenhaften Lager eben jene Ideologie stützte, welche die Schaffung eines neuen, ex nihilo am Reißbrett entworfenen Menschen legitimierte. Arendts Worte sind lapidar, wenn sie beschreibt, wie der Schrecken der Lager und die Indoktrinierung der Eliten als Dispositive des totalitären Projekts funk3 | Deleuze beschreibt die Zone der Ununterscheidbarkeit wie folgt: »Anstatt durch formale Korrespondenzen wird die Malerei Bacons durch eine Zone von Ununterscheidbarkeit, Unentscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier konstituiert. Der Mensch wird Tier, aber er wird es nicht, ohne dass das Tier zugleich Geist wird, Geist des Menschen, physischer Geist des Menschen, der im Spiegel als Eumenide oder Schicksal vorgeführt wird. Dies ist keine Kombination von Formen, vielmehr das gemeinsame Faktum: das gemeinsame Faktum von Mensch und Tier. Und zwar in einem Maße, dass die isolierteste Figur Bacons bereits ein Figurenpaar ist, der in einem latenten Stierkampf mit seinem Tier verwachsene Mensch.« (Deleuze 1995:19f.) 4 | Ich benutze den Begriff Dispositiv im Sinne einer reinen Regierungsaktivität, die kein Fundament im Sein verfügt (vgl. Agamben 2008) und die in den Subjektivierungsprozess einfließt.

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tionieren, bei dem es darum geht, etwas vollkommen Neues zu fabrizieren: nämlich einen Typ Mensch, der dem Tier ähnele und dessen einzige ›Freiheit‹ darin bestehe, das ›Fortbestehen der Spezies‹ zu sichern (vgl. Arendt 2004: 599). Der meines Erachtens wichtigste Aspekt in dieser Textpassage ist die Außergewöhnlichkeit, die Arendt diesem Projekt zuspricht, das nur umgesetzt hätte werden können, wenn es gelungen wäre, die Spontaneität auszulöschen, die als Ausdruck des menschlichen Verhaltens nie vollkommen unterdrückt werden kann (vgl. Arendt 2004: 600). Bei Agamben scheint das komplexe Konzept der Souveränität mit dem Lager zusammenzufallen. Das Lager, welches, wie bereits erwähnt, als Paradigma unserer Gegenwart gelten kann, ist die Heimat einer Souveränität, welche sich dadurch unterscheidet, dass man ungestraft töten kann, und deren Funktion nicht darin besteht, den Tod zu bringen und jeden Fremdkörper zu eliminieren, um die inkludierende Dimension des Volks ›biologisch‹ zu erschaffen, sondern die überschüssigen Individuen ›leben lässt‹ und aus dieser krisenhaft werdenden Dimension verbannt (vgl. Agamben 2002: 16f.). Agamben bezieht sich hier auf eine Passage von Hobbes’ De cive, wo dieser voraussetzt, dass die Tötbarkeit der einzelnen Körper, die den Leviathan bilden, nicht nur die Gleichheit zwischen den Menschen begründe, sondern ebenso das Commonwealth. Mit Blick auf die mythische Darstellung des Leviathan, der sich aus den vielen einverleibten Körpern der Untertanen zusammensetzt und die runzeligen Züge der Bestie annimmt, kann man daher behaupten, dass es die klar tötbaren Körper der Untertanen sind, die den neuen politischen Körper des Abendlands bilden (vgl. Agamben 2002: 137). Neben dem Lager manifestiert sich eine zweite, ebenso emblematische Figur der Souveränität: der souveräne Bann. Dieser bereichert das vielfältige Universum der Souveränität, da er beispielhaft und besonders klar die Bereiche der Ununterscheidbarkeit vor Augen führt. Die Wiederaufnahme des Themas des Banns und des Verbannten5, das von Nancy vertieft und besprochen wurde, ist hier von grundlegender Bedeutung, da es die in Homo sacer angedeuteten Machtstrukturen räumlich kennzeichnet, wenn wir uns an folgende Definition des Souveränitätsbegriffs halten: »Die Souveränität ist nämlich genau dieses ›Gesetz jenseits des Gesetzes, dem wir überlassen sind‹, das heißt die sich selbst voraussetzende Macht des nómos, und nur, wenn es gelingt, das Sein der Verlassenheit jenseits der Idee von Gesetz (auch in der leeren Form einer Geltung ohne Bedeutung) zu denken, werden wir aus dem Paradox 5 | Der Werwolf bzw. Wolfsmensch ist somit ursprünglich der aus der Gemeinschaft Verbannte. Sein Leben ist »wie dasjenige des homo sacer – kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle zur Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Tier und Mensch […]«. (Agamben 2002: 115)

B IOMACHT UND M OBILITÄT der Souveränität hinaustreten in Richtung einer von jeglichem Bann losgelösten Politik. Eine reine Gesetzesform ist lediglich die leere Form der Beziehung; doch die leere Beziehung ist kein Gesetz mehr, sondern eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Gesetz und Leben, ein Ausnahmezustand.« (Agamben 2002: 70)

Daher sollte man ebenso jene Zone der Ununterscheidbarkeit berücksichtigen, »in der das Leben des Exilierten oder des aqua et igni interdictus an das tötbare und nicht opferbare Leben des homo sacer grenzt«, weshalb »die Extrarietät dessen, der im souveränen Bann steht, […] innerlicher und primärer [ist] als die Extraneität des Fremden« (Agamben 2002: 120, sic!). Besonders interessant wird die Entwicklung von Agambens biopolitischer Wende, wenn er die Möglichkeit zum homo sacer zu werden, im Leben des Bürgers verortet. Dies mag sicherlich aus dem spezifischen Wesen des Souveränitätskonzepts resultieren, aber vor allem auch aus der besonderen Struktur und Topologie, die sich in der Thematisierung des Lagers niederschlägt. Umgekehrt, so Agamben, nehme der Verbannte animalische Züge an. Die Möglichkeit des Banns ergebe sich nicht aus dem Eindringen einer Macht, die den Menschen aus einer gegebenen Gemeinschaft ausschließt, sondern sei Teil der Verwandlung selbst. Das Auflösen der Zonen der Ununterscheidbarkeit bestimmt also Einzuschließendes und Auszuschließendes, Herrscher und Tier, Zivilisation und Wildnis, welche zwei Seiten der gleichen Medaille sind.6 Insofern ließe sich mit dem nötigen Vorbehalt und im Einvernehmen mit Agamben behaupten, dass »so wie jenes tötbare und nicht opferbare Leben, dessen Paradigma der homo sacer bildet, in diesem Sinne die erste und unmittelbare Referenz der souveränen Macht ist, […] der Werwolf, der Wolfsmensch des Menschen, in der Person des Souveräns dauerhaft den Staat [bewohnt]« (Agamben 2002: 117). In diesem Sinne löst sich der gemeinsame Umstand auf, der Übergang vom Mensch zum Tier, von der Zivilisation zur Wildnis, von der phýsis zum nómos, und bringt Schwellen der Ununterscheidbarkeit und der Unbenennbarkeit hervor. Während diese Schwelle immer offen und in beide Richtungen passierbar gewesen ist, ohne dass jemals auf ein Jenseits verwiesen geworden wäre, so tritt 6 | So führt Derrida in seinen Betrachtungen zu Herrscher und Bestie aus, dass Souveränität nicht nur bedeutet, das Gesetz zu erlassen, sondern dieses auch zu suspendieren. Sie beinhaltet das außergewöhnliche Recht, sich über dem Gesetz zu positionieren und sie verleiht das Recht zum Nicht-Gesetz. Dem zufolge bedeutet dies im Grunde nichts anderes, als den souveränen Mensch über dem Mensch und in Kontraposition zur allumfassenden göttlichen Macht zu stellen. Gleichzeitig und aufgrund dieser willkürlichen Außerkraftsetzung oder Bruch mit dem Gesetz, läuft der Souverän Gefahr, Züge einer brutalen Bestie anzunehmen, die nichts mehr respektiert – nicht einmal mehr das Gesetz – und sich sozusagen im gesetzesfreien Raum bewegt (vgl. Derrida 2008: 37f.).

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nun durch den Schatten der Kehrseite bedauerlicherweise eben jener Weg zu Tage, der eine Rückwendung oder die Zugehörigkeit zu beiden Sphären sanktioniert.7 Dies lässt sich auch aus den Textpassagen zweier Autoren, des hier öfters zitierten Giorgio Agamben und von Jacques Derrida, schließen. Beide Philosophen haben sich sehr eingehend mit der Souveränität beschäftigt und sowohl deren Paradoxien als auch deren Schatten und Mutationen ausgelotet. Daher ist es unumgänglich, sich hier dieser konzeptuellen Spaltung zu widmen: »Hobbes’ Naturzustand ist kein vorrechtlicher, dem Recht des Staates gleichgültiger Zustand, sondern die Ausnahme und Schwelle, die ihn konstituiert und bewohnt; er ist nicht so sehr Krieg aller gegen alle als vielmehr eine Lage, in der jeder für den anderen nacktes Leben und homo sacer ist […].« (Agamben 2002: 116)

Für Derrida hingegen ähnelt jede Entscheidung (in ihrem Kern stets außergewöhnlich und souverän), die der Ordnung des Möglichen entfliehen muss einer Unentschiedenheit, einem Nicht-Wollen. Insofern beginne das mit der Entscheidung betraute souveräne Subjekt eben jener Bestie zu gleichen, die es unterwerfen soll (vgl. Derrida 2008: 60).

P OSTKOLONIALE S CHAT TEN Wollte man auf eine – den Postkolonialisten liebe und von Achille Mbembe übernommene – Formulierung zurückgreifen, so ließe sich heutzutage in Bezug auf das Strafsystem in biopolitischer Hinsicht von einer hybriden Form 7 | Ähnliches lässt sich für den offenen Raumbegriff des Grenzraums vermuten, welcher später durch die Besprechung eines optischen Gegenstands, nämlich des unidirektionalen Spiegels, klarer werden wird. In diesem Falle stellt man sich weniger die Frage, wo der Mensch endet und das Tier beginnt, sondern wo die Souveränität von einem Zustand in den anderen übergeht, aber auch welche handelnden Subjekte Träger eines solchen Souveränitätsprinzips sein können: »Die exklusive Territorialität der linearen Grenzen und der Staaten ist kurz gesagt (immer) eine Konvention gewesen. Nur innerhalb dieser Konvention – die wir als ›geschlossene Territorialität‹ definieren können – regieren Uniformität und Eindeutigkeit. In der einschließenden Territorialität des Grenzraums – welche wir als ›offene Territorialität‹ bezeichnen – leben zwangsläufig unterschiedliche Signale von verschiedenen Grenzen zusammen. Auch eine in Staaten, in geschlossene Territorialitäten unterteilte Welt erscheint somit lediglich als eine große Grenzzone: Auch innerhalb des vollen und exklusiven Raums, im Zentrum der geschlossenen Territorialität der souveränen Staaten, existierten – und existierten schon immer – externe, zeitweilige und verstreute andere Subjekte und andere Mächte.« (Cuttitta 2007: 31, dt. d. Ü.)

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sprechen, die metastasengleich im Bereich einer Todesmacht (necropotere, d. Ü.) aufgeht. In einem Interview in Esprit, dessen Übersetzung in der Folge in der Zeitschrift Aut Aut veröffentlicht wurde, skizziert Mbembe eben jene mögliche, als Biopolitik zu bezeichnende Beziehung, die sich aus der Verbindung von postkolonialer Kritik und dem Denken des Tierhaften sowie indirekt aus der postkolonialen Kritik und der europäischen universalistischen und humanistischen Denktradition ergibt. »In der postkolonialen Philosophie konstituiert die Rasse die wilde Region des europäischen Humanismus, sein Tier. Um eine Formulierung von Castoriadis in Bezug auf den Rassismus aufzugreifen, werde ich sagen, dass das Tier mehr oder weniger dies bestätigt: ›Ich allein bin etwas wert. Aber ich verfüge nur über einen Wert, wenn die anderen als solche nichts wert sind.‹ Das postkoloniale Denken bemüht sich also das Skelett der Bestie zu zerlegen, ihre bevorzugten Aufenthaltsorte aufzustöbern. Es stellt sich radikaler die Frage, was es bedeutet unter dem Regime der Bestie zu leben, um welches Leben es sich handelt und welchen Tod man stirbt. Es gibt aber noch eine zweite Ebene der postkolonialen Kritik am europäischen Humanismus und Universalismus, die als biopolitisch bezeichnet werden kann […]. Das Europa, dessen Auswirkungen die Kolonien [und zuvor die ›Plantagen‹ während der Sklaverei] spüren, ist weit davon entfernt, ein Europa der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu sein. Das Totem, das die Kolonisierten hinter der humanistischen und universalistischen Maske entdecken, ist sehr oft nicht nur ein taubes und blindes Subjekt, sondern vor allem ein durch das Begehren nach dem eigenen Tod gekennzeichnetes Subjekt, wobei jedoch eben jener Tod notwendigerweise den der anderen einschließt […]. Es ließe sich also sagen, dass das postkoloniale Denken nicht so sehr eine Kritik der Macht […], sondern der Kraft ist, einer Kraft, die sich nicht zu verwandeln vermag […]. Dies ist der Grund dafür, dass die koloniale Beziehung beständig oszilliert zwischen dem Begehren, den anderen auszubeuten [als rassisch minderwertig verstanden], und der Versuchung, ihn zu eliminieren und auszulöschen.« (Mbembe 2008: 48f., dt. d. Ü.)

Selbst Foucaults Auffassung des modernen Rassismus steht zutiefst im Zeichen der Biopolitik. Wie von Mbembe hervorgehoben, so basiere der moderne Rassismus Foucault zufolge auf der Erfahrung des Todes der Anderen, was die Überlebensfähigkeit des als rassisch überlegen empfundenen eigenen Seins stärke und garantiere. So soll einerseits die Funktion des Todes innerhalb der biopolitischen Ökonomie fließend gestaltet und andererseits einem spezifischen Vertreter einer vermeintlich überlegenen Rasse die Zusammenführung mit einer vermuteten einheitlichen und lebenden Pluralität ermöglicht werden. Foucault erklärt, inwiefern

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G IORGIO S CIABICA »[d]er Rassismus […] an das Funktionieren eines Staates gebunden [ist], der sich zum Zweck der Ausübung seiner souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der Rassen und der Reinigung der Rasse zu bedienen gezwungen sieht. Das Nebeneinander oder vielmehr das Funktionieren der alten souveränen Macht des Rechts über den Tod durch die Biomacht bringt es mit sich, daß der Rassismus erneut funktioniert, erneut in Einsatz gebracht wird und aktiv sein kann.« (Foucault 2001: 299f.)

Dafür fehlt es im Gegenzug nicht an Kritik, welche sich gegen die zu sehr auf den Begriff der Souveränität konzentrierten Auffassungen richtet. So dekonstruieren beispielsweise Spivak und Butler diese Ansicht, indem sie dafür plädieren, dass man weniger die Falten des souveränen Machtkonzeptes ergründen, sondern viel eher eine radikalere Frage stellen müsse, um das Problem der Subalternität besser zu fassen: Wie sieht das Leben der sogenannten Subalternen denn eigentlich aus (vgl. Spivak/Butler 2007)? Wenn sich Mbembes Antwort auch nicht vollends innerhalb der anregenden Provokation beider Philosophinnen bewegt, so nimmt er mit dem schwierigen Thema des Heideggerschen Daseins dennoch die Stoßrichtung ihrer Frage auf. In einem gewissen Sinne bedeutet, das Skelett der Bestie zu zerlegen, ja nicht nur, sich darüber bewusst zu sein, dass ein Regime der Bestie existiert, sondern ebenso, dass es Menschen gibt, welche die schrecklichen Umstände derer, die mit dem Tod anderer betraut werden, am eigenen Leib erleben. Mbembe zufolge ist die Daseins-Erfahrung etwas, das den Postkolonialismus entscheidend eint. Sie nimmt hier aber andere Bedeutungen an, die den von Heidegger angenommenen Effekten absolut spiegelbildlich gegenüber stehen. Jenseits des Spiegels der weißen Souveränität dehnt sich die nekropolitische8 Nische des Todes strahlenförmig aus und nährt so die Metastasen der Souveränität. So streckt die Bestie ihre immensen Glieder aus, ganz so also wöllte sie die Heideggersche Beziehung umkehren. An Stelle anderer zu sterben, scheint sie diesen gemeinsamen Umstand in einer Verderben bringenden Arena9 zu verwirklichen. So bestimmt die Vermassung als Übergang vom Ein8 | Mbembe versteht unter Todesmacht (necropotere, d.Ü.) eine souveräne Macht, die aus der maximalen Vernichtung von Menschen und aus der Schaffung von sog. »deathscapes« hervorgeht, die ihrerseits einzelne Formen von gesellschaftlicher Existenz darstellen. Die Lebensbedingungen der »deathscapes« reduzieren die Bevölkerung auf den Status von lebenden Toten. 9 | In Zeit und Sein schreibt Heidegger entscheidende Passagen über den Kadaver, die nötig sind, um den von Mbembe beschriebenen postkolonialen Raum zu verstehen. Die Divergenz, so scheint es mir, ist maximal, wenn Mbembe mit Blick auf die Yoruba-Tradition behauptet, es sei möglich, an Stelle anderer zu sterben. Heidegger schreibt: »Der ›Verstorbene‹, der im Unterschied zu dem Gestorbenen den ›Hinterbliebenen‹ entrissen wurde, ist Gegenstand des ›Besorgens‹ in der Wiese der Totenfeier, des Begräbnisses,

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zelnen zur Vielzahl im Alltag den stetigen Kontakt mit der Erfahrung, an Stelle anderer zu sterben; so sehr, dass sie gar die Mauer einzureißen vermag, die ihrerseits die Identifizierung des Menschen als einzigartig ermöglicht.10 Mbembes recht ›harte‹ Passage inspiriert sich an einer Erzählung von Amos Tutuola, in der die Verwandlungen der Menschen (gemäß der Tradition des Yoruba-Volks) die Konturen des Sichtbaren annehmen und als regelrechte körperliche Amputationen gelten. In diesem Sinne begünstigt die Macht der Transposition die Zerstückelung, d.h. das Ausstoßen der im Körper-Kadaver des Untergebenen vermuteten Individualität, mit dem Ziel, die vielfältige Einzigartigkeit der Vielen aufzulösen und in einem großen einzigartigen Wesen zusammenzuführen. So gibt der ›vollkommene Gentleman‹, der in Tutuolas Erzählung The wine palm drinkard in den unendlichen tropischen Regenwald, in die Stadt der Toten, vordes Gräberkultes […] Im trauernd-gedenkenden Verweilen bei ihm sind die Hinterbliebenen mit ihm, in einem Modus der ehrenden Fürsorge. Das Seinsverhältnis zum Toten darf deshalb auch nicht als besorgendes Sein bei einem Zuhandenen gefasst werden. In solchem Mitsein mit dem Toten ist der Verstorbene selbst nicht mehr faktisch ›da‹. Mitsein meint jedoch immer Miteinandersein in derselben Welt. Der Verstorbene hat unsere ›Welt‹ verlassen und zurückgelassen. Aus ihr her können die Bleibenden noch mit ihm sein […] Im Erleiden des Verlustes wird jedoch nicht der Seinsverlust als Solcher zugänglich, den der Sterbende ›erleidet‹. Wir erfahren nicht im genuinen Sinne das Sterben der Anderen, sondern sind höchstens immer nur ›dabei‹.« (Heidegger 1977: 238f.) Gleichwohl muss die Verfestigung der Divergenz zwischen den zwei unterschiedlichen Alltagspraktiken und Anthropologien bedacht werden. Anstatt den Menschen und die Konditionen des Daseins zu thematisieren, geht Mbembe meines Erachtens dem Konzept der vielfältigen Pluralität nach. Erfahrbar ist diese dennoch gemeinhin in der blackness, die auf der gemeinschaftlichen Erinnerung an die Versklavung basiert (vgl. Gilroy 2003: 100). 10 | In einem Bericht über sein Leben in Kinshasa betont der Anthropologe De Boeck die Todeserfahrung, die weit über den Kult des Kadavers hinausgeht und mit dem Irrationalen verschmelze. So gehe sie in etwas Fantastischem auf, in einer Glocke dunkler Mächte, die häufig auf dem Alltag in Kinshasa lasten. Dies zeigt sich klar in der Erfahrung von Zeitlichkeit, welche die Menschen in einen, so De Boeck, »apocalyptic interlude« einschließe: »Death has become omnipresent throughout the city: in the visible form of funeral wakes (Matanga) that transform houses and streets in public sites of mourning and mercy, or in its more invisible form, that of the ›second city‹, a shadow city which is constantly present as a parallel world of nocturnal and evil forces in the minds and lives of most Kinois. As I mentioned above, the reintroduction of temporality, and thus of death, in contemporary Kinshasa is of a very specific, eschatological, nature and takes its point of departure in the Bible, and more particularly in the book of revelation, which has become an omnipresent point of reference in Kinshasa’s collective imagination.« (De Boeck/Plissart 2004: 95f.)

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dringt, nach Art eines distinguierten Herrschers den Menschen die Körperteile wieder, die er sich von ihnen gegen Geld ausgeliehen hatte. Ganz so als handele es sich um verschlissene Werkzeuge, nimmt er diese Glieder ab und gibt sie denjenigen, die er vorher verstümmelt hatte, wieder zurück (vgl. Tutuola 1952). Auch Foucault spielt auf dieses Jenseits an, wenn er schreibt, dass in dieser utopischen Stadt der Toten der Körper hart wird wie ein Gegenstand und ewig wie ein Gott (vgl. Foucault 2006: 34). Diese für die postkoloniale Gegenwart typische Kommerzialisierung ist durch ersetzbare, zersetzte und zersetzbare, verkäufliche, auszubeutende und tötbare Körper gekennzeichnet, die als plurale und lebende körperliche Einheit wahrgenommen werden. Noch vor ihrem individuellen Ableben scheinen sie, Überlebenden gleich, den Tod zu durchleben. »In den Postkolonien zu leben, bedeutet auch, stets die Möglichkeit des Daseins zu nutzen, ›dazu bevollmächtigt zu werden, einen anderen darzustellen‹. Heidegger bemerkt hierzu, dass das Dasein innerhalb gewisser Grenzen auch der Andere sein kann und sogar muss. In den Postkolonien ist es die Macht, sich selbst zu bevollmächtigen, die es im Gegensatz zu Heidegger ermöglicht, den eigenen Tod an einen anderen abzugeben oder zumindest diesen fortwährend bis hin zum endgültigen Rendez-vous hinauszuzögern. Hieraus folgt, dass der Tod, in seiner Essenz, leicht nicht mein Tod sein kann; der andere wird statt meiner sterben können. In Erwartung des definitiven Endes wird sich das Dasein durchaus nicht jedes Mal um den eigenen Tod kümmern können. Es wird im Körper, in den Organen, in den Gliedern eines anderen existieren können.« (Mbembe 2005: 239, dt. d. Ü.)

Was hierbei jedoch unberücksichtigt zu bleiben scheint, ist die individuelle und reale Natur des Lebens in den Postkolonien. Dass einige Formen der Souveränität weniger das Leben des Einzelnen, sondern eher spezifische, konkret erfahrbare Lebensbedingungen bestimmen, dürfte in diesem Zusammenhang kaum als Argument gelten. Insofern ergibt sich unvermittelt eine neue Frage, nämlich, wo die von Mbembe so minutiös beschriebenen postkolonialen Gebiete liegen könnten. Die hier zu skizzierende These muss dem Umstand Rechnung tragen, dass sowohl das koloniale als auch das postkoloniale Regime einem Labyrinth mobiler und aktiver Kräfte entspricht, die sich innerhalb eines Raums befinden, den sie bestimmen, beeinflussen und ordnen (vgl. Mbembe 2005: 202). Es ist schwierig, auf die Frage, wo das Postkoloniale räumlich zu verorten sei, eine umfassende Antwort zu geben. Im Gegensatz zum Kolonialismus, der sich durch gewaltsame territoriale Eroberungen und Beutezüge historisch fest in die südlichen Regionen der Welt eingeschrieben hat, manifestiert sich der Postkolonialismus nicht linear, sondern fraktal. Er offenbart sich lediglich in den Phänomenen, die aus kolonialen Problematiken entspringen. Dies gilt beispielsweise für die neuen Formen von Rassismus (mehr oder weniger institutionell konsolidiert oder als unerwünschtes Resultat einer kulturellen Distan-

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zierung betrachtet), die sich fragmentiert und weltweit in verschiedenen Kulturkreisen verbreiten (gleiches gilt für die damit einhergehenden Räume der Suspension). Sie könnten dazu beitragen, die postkoloniale Struktur zu lockern, wenn man sie außerhalb des alten Europas verorten würde.11 So sieht Balibar zum Beispiel eine direkte Verbindung zwischen den Kolonien und den Diskriminierungen, welche Migranten heutzutage in Frankreich und generell in europäischen Großstädten erleiden: »Das koloniale Erbe, das auf menschlichen und wirtschaftlichen Beziehungen und zugleich auf Schematismen des Kennens (oder häufiger des Verkennens) beruht, konstituiert daher eine »pragmatische Anthropologie« der Populationen, die von außen ins nationale Territorium eingeführt wurden – ein Territorium, das immer dazu neigt, sich als Mutterland zu verstehen, das seine internen Differenzierungen und Konflikte herunterspielt, um sich seiner Identität durch Opposition vergewissern zu können. Es ist mit einem Wort der Fortbestand eines Ortes ohne Subjekt, es ist jener Schatten, den der Staatsbürger in den Raum der Souveränität wirft. Dieser Ort hat die Entkolonialisierung mit ihren noch zu hinterfragenden Grenzen und Trugbildern überlebt.« (Balibar 2003: 85f.)

B IOPOLITIK UND M OBILITÄT. R ÄUME DER S USPENSION , GENERISCHE S TÄDTE UND DAS L ABYRINTH DES I NFORMELLEN Eyal Weizman hat herausgefunden, wie der Gebrauch des unidirektionalen Spiegels entlang des Terminals/Lagers bei der Allenby-Brücke nicht nur eine 11 | Von institutionellen Rassismen spricht Balibar in Bezug auf Systeme, die um »die Souveränität des Staates« rotieren würden: Sie muss offenbar umso demonstrativer auf Kosten praktisch wehrloser Individuen und damit als ein Machtexzeß unter Beweis gestellt werden, je weniger ihr Fortbestand gesichert ist, je zweifelhafter sie auf der Ebene der großen Streitfragen von Wirtschaftspolitik, innerer Sicherheit und Informationspolitik wird, auf die heute kein Nationalstaat allein mehr Einfluß hat. Das, was wir an anderer Stelle das Syndrom der »Ohnmacht des Allmächtigen« genannt haben, bedeutet, daß wir eine Vervielfachung der Schikanen gegen Ausländer durch die Diener des Staates erleben und gleichzeitig die »Forderung« nach solchen diskriminierenden Behandlungen aus dem Munde von Staatsbürgern vernehmen, die der Kontrast zwischen der imaginären Macht des Staates, von dem ihre Existenz abhängt, und dem täglichen Schauspiel seiner Ohnmacht gegenüber den Phänomenen der Deindustrialisierung und der durch die Globalisierung beschleunigten Spekulationsbewegungen in Orientierungslosigkeit stürzt. Um im Raum des Imaginären eine in Wahrheit mythische Souveränität wiederherzustellen, entsteht ein institutioneller Rassismus, der für die Entwicklung von kollektiven Einstellungen viel entscheidender ist als das System fremdenfeindlicher Vorurteile oder Ideologien (vgl. Balibar 2003: 80f.).

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transparente Grenzzone geschaffen hat (in Israel, das Mobilität äußerst streng kontrolliert), sondern auch eine neue Auffassung der Grenze im Hinblick auf die Überlegungen zum Souveränitätsbegriff hervorgebracht hat (vgl. Weizman 2009: 143). Wie es scheint, begann dieser Prozess nach dem Attentat auf das New Yorker World Trade Center und nachdem die USA dem Terrorismus den Krieg erklärt hatten; er hat sich sukzessiv auf alle Maßnahmen ausgedehnt, die im Zuge dessen ergriffen wurden. Der unidirektionale Spiegel, der ja zugleich ein physisches und optisches Dispositiv ist, nimmt die Form eines Systems von territorialen Zellen an, welche eine Souveränität reflektieren, die nicht mehr einheitlich, sondern segmentiert und fragmentiert ist. Sein Gebrauch in den Gefangenenlagern, in denen das von der Bush-Administration erlassene Prinzip der Sonderverwahrung gilt, offenbart nicht nur seine Funktion als ein Instrument, das kontaktlose Folterarten ermöglicht, sondern auch die transnationale Ausbreitung der nun allgegenwärtigen US-Macht. Ohne gesehen zu werden, können amerikanische Agenten und Verhaltenswissenschaftler auf der anderen Seite des Spiegels der Folter der vermeintlichen Terroristen beiwohnen und vielleicht sogar die Anordnungen dazu erlassen.12 Dieses optische Instrument scheint – hier stimme ich mit Weizman überein – erst nach dem israelisch-palästinensischen Oslo-Friedensprozess voll eingesetzt worden zu sein; nämlich als den Palästinensern zugestanden wurde, sich als der palästinensischen Militärmacht aktiv und zugehörig zu definieren, da sie stets der Militärmacht Israel ausgeliefert sind. Dennoch schränkte die »Ausnahmeklausel« des Artikels 10 die palästinensischen Bestrebungen empfindlich ein, da den israelischen Militärs ohnehin garantiert wurde, in die Terminals eindringen zu können. Aus Sicherheitsgründen konnten die Streitkräfte den Strom der sich im Transit befindlichen Palästinenser kontrollieren, wie auch man Weizmans folgender Passage entnehmen kann:

12 | Das Sehen, ohne gesehen zu werden, ist Derrida zufolge eine Besonderheit des Visier-Effekts einer Maske aus schwarzem Samt, die von den Damen des 18. Jahrhunderts getragen wurde. Der Tropus des Wolfs ist wiederum als Abwesenheit und Anwesenheit seinerseits als ein Schlüsselelement bei der Neuinterpretation der Souveränität zu verstehen, die von Derrida gegeben wird: Das nicht wortwörtliche In-Erscheinung-Treten des Wolfs beim Ruf seines Namens meint die alleinige figurative, tropische, fabulöse, gespenstische, konnotative Darstellung. Es gibt keinen Wolf, es gibt nur ein »kein Wolf«. Diese Abwesenheit impliziert demzufolge gleichermaßen die Macht, die Ressource, die Gewalt, die Gewitztheit, die Gewitztheit des Krieges, die Strategie, die Herrschaftsoperationen. Der Wolf erscheint noch nicht in Person, sondern als nur als Maske. Es ist somit die Absenz des Wolfs, die seinen Einfluss, ja gar seine Souveränität begründe und potenziere (vgl. Derrida 2008: 25).

B IOMACHT UND M OBILITÄT »Der Versuch, ein ›politisches Subjekt‹ zu produzieren und zu regulieren, ist ein von der Sicherheitskontrolle unterschiedenes Projekt geblieben. Letztere beherrscht die Menschen durch Einschüchterung und Gewalt […]. Die Trennung zwischen den Funktionen von direkter Disziplin und indirekter Kontrolle fällt nicht mehr unter das theoretische Paradigma, das die Entwicklung von der ›Disziplinargesellschaft‹ hin zur ›Sicherheitsgesellschaft‹ voraussetzt. Diese beiden Herrschaftssysteme existieren in diesem Fall nebeneinander und sind zwei Aspekte einer vertikalen und schichtförmigen Souveränität, die auf dieser Ebene entlang der beiden Seiten eines unidirektionalen Spiegels horizontal getrennt ist.« (Weizman 2009: 144, dt. d. Ü.)

Die Nutzung von Machtdispositiven – für die der unidirektionale Spiegel ja nur ein Beispiel ist – dürfte dazu beigetragen haben, dass sich die zwei gegensätzlichen, zeitgenössischen Raumvorstellungen verdichtet haben. So existiert einerseits nach wie vor die Tendenz, uns als Teil einer flüssigen Welt darzustellen, wo die von neuen Technologien garantierten Interaktionen die falsche Rhetorik einer universellen Bewegungsfreiheit untermauern. Andererseits ist es offensichtlich, dass die Wirklichkeit vollkommen anders ist. Stünde uns übrigens absurderweise eine Karte zur Verfügung, welche symbolisch sowohl die globalen Flüsse und Verbindungen, als auch die Migrationsbewegungen der Menschen zeigte (ich beziehe mich hier auf verschiedene Migrationsanlässe, vor allem aber auf wirtschaftlichen Gründe, ebenso wie auf eine generelle Garantie des Rechts auf Mobilität), dann würde diese Karte sicherlich überdeutlich zeigen, dass einige Zonen der Welt äußerst dicht durch gegenseitige Kontakte miteinander verbunden sind. Umgekehrt würde diese imaginäre Karte auch mysteriöse, unberührte Gegenden aufweisen, die weder indiziert noch durch Kontakte und ebenso wenig durch Brüche oder Unterbrechungen gekennzeichnet wären. Petti zufolge geschieht dies, weil: »der Immaterialität der Ströme eine akzellierte Festigung des physischen Raums entspricht. Dies hat ein territoriales System hervorgebracht, in welchem die Figur des Archipels und die der Enklave koexistieren. Die Elite, die diesen migratorischen Raum verwaltet, lebt in einer Welt des Archipels, die sie als einzigartig und ohne äußere Referenzen wahrnimmt. Das System der Enklave bleibt vollkommen im Schatten, die Regeln des Archipels werden hier durch juristische Lücken außer Kraft gesetzt.« (Petti 2007: 78, dt. d. Ü.)

Auch wenn diese – von uns beobachteten – territorialen Veränderungen den Kernpunkt des Diskurses verschieben, so bringen sie uns doch zu unserem anfänglichen Thema zurück. So definiert Žižek zum Beispiel, den Versuch distanzierte Zonen zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen zu errichten, als postpolitische Biopolitik, wobei die juristischen Grauzonen mit der radikalen Einschränkung der individuellen Mobilitätsgarantie koinzidieren. Žižek

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bemerkt, dass eines der essentiellsten Menschenrechte im spätkapitalistischen Zeitalter das Recht auf Nichtbedrohung sei, d.h. das Recht einen Sicherheitsabstand zum jeweils anderen einnehmen zu können (vgl. Žižek 2008: 35). Žižeks Anmerkung muss dabei in dem doppelten Sinn, sich zweier kontrastierender postbiopolitischer Subjekte verstanden werden. Während sich die erste Bedeutungsebene auf das nackte Leben bezieht, also auf ein völlig rechtloses Sein, das spezifischen Kenntnissen und Techniken der Pflege unterliegt, so betont die zweite Bedeutungsebene eine narzisstische Subjektivität, welche die Erfahrung ihrer eigenen Verletzlichkeit macht und sich kontinuierlich den potenziellen Gefahren aussetzt und von diesen bedroht fühlt (vgl. Žižek 2008: 35). Zweifelsohne weist das Dispositiv des Lagers, wie Rahola betont, eine genealogische Verbindung mit dem Kolonialismus auf.13 So bezeugt nämlich das – von Balandier untersuchte – urbane Modell von Brazzaville klar, dass die großstädtischen Agglomerationen des Südens durch Abspaltung entstanden sind. Gerade deshalb liegt der Unterscheidung zwischen der ›offiziellen‹ (kolonialen und weißen) Stadt auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Komplex der afrikanischen, der Kolonialverwaltung unterstellten ›Zentren‹ und ›Lager‹ das Paradigma von Brazzaville zu Grunde (vgl. Agier 1999: 27). Dem französischen Urbanisten Agier zufolge entsteht dieses trennende Modell aus der Gegenüberstellung eines urbanen Modells, welches er als generische Stadt bezeichnet, und dessen Gegenteil, der nackten Stadt. Während uns die erste Form an ein minoritäres und dominantes städtisches Raummodell erinnert (in dem sich weltweit Nischen herausbilden, in denen Zirkulation, Kommunikation und Konsum engmaschige soziale Netze erschaffen), so offenbart sich die zweite Form als ein Raum, welcher der maximalen Plünderung und der Verwahrlosung ausgesetzt ist und wo die Lebensverhältnisse die Menschen – um mit Agamben zu sprechen – auf das nackte Leben reduzieren. Diese beiden Stadtkonzeptionen werden durch das Aufkommen eines dritten Modells ergänzt: la ban-lieue, das Reich des Informellen, eine ambivalente und stets oszillierende Zone, wo die menschliche Existenz zeitgleich dem Scheitern und dem Erfolg ausgesetzt ist (wie so oft an den Orten von Begegnung und Kontamination). Das von Agier vorgeschlagene Beispiel verwirrt, da alle drei Stadt- und Raummodelle dem Stadt-Raum-Verhältnis eine neue Sichtweise auferlegen. Das Lager – oder das, was Agier die nackte Stadt nennt – würde so die umgekehrte Grenze der generischen Stadt bilden, die als ein Raum ohne jeden Austausch gedacht ist. Hier 13 | Die Lager sind zweifelsohne nicht das einzige Machtdispositiv, das in den Kolonien entstanden ist und sich nach Europa gebracht und ›zentralisiert‹ wurde. Wahrscheinlich sind sie hierfür das extremste Beispiel, da sie sich in eine Linie einschreiben, die es erlaubt, den Kolonialismus als ein wahres ›Laboratorium‹ an Praktiken und Ideen zu verstehen, welches seinerseits prompt in die Metropolen importiert wurde (vgl. Rahola 2003: 64).

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führt, so Koolhaas, die unbegrenzte Teilhabe (der Bewohner der generischen Stadt) am Warenaustausch und am Mobilitätskreislauf zur Herausbildung von Nischen, die durch fehlende oder schwache soziale Normen gekennzeichnet sind: maximale Zirkulation – maximale Wirtschaftskraft (Maximum circulation = Maximum sales volume) (vgl. Koolhaas et al. 2000). Das Paradigma der ungewissen Stadt (città incerta, d. Ü.) beherberge hingegen diffusere Formen menschlicher Mobilität, wo die Überschüsse des Lagers – d.h. die Migranten – zu Informellem, zu Ausbeutung, Illegalität, Deportation und Ausweisung, aber teilweise auch zur Selbstorganisation bestimmt seien.14 Diese spezifischen flexiblen Orte – in denen, so Sciurba, die Kunst, Kompromisse zu schließen, mit einem absoluten, existentiellen Prekariat verschmilzt – begründen den differentiellen Einschluss der Migranten, der dem aktuellen, informellen Wirtschaftssystem zuträglich ist (vgl. Sciurba 2009: 119). So scheinen sich zumindest in Italien die ›neuen Verdammten der Welt‹ in den Ganglien der informellen Wirtschaft zu bewegen, von Zeltstadt zu Zeltstadt, wie die am 8. Januar 2010 in La Repubblica erschienene Reportage über die schwarze Revolte im kleinen kalabresischen Städtchen Rosarno berichtet.15 »Im November waren sie in Apulien in den schönsten Olivenhainen des Mittelmeerraums. Im Frühjahr zogen sie nach Kampanien weiter, um sich den Rücken auf den Gemüseplantagen kaputt zu schinden. Heute nun sind sie hier im [kalabresischen] Flachland, wo die grausamste Mafia der Welt regiert. Sie kommen aus Ghana, dem Sudan, der Elfenbein14 | In diesem Sinne ist es nützlich Heller Aufmerksamkeit zu schenken, der das Leben der Migranten im informellen Lager von Bel Younech in Marokko gefilmt und dokumentiert hat: »The informal camp of Bel Younech cannot be said to be the product of rejection alone. It is also a space of self-organization. Since the drastic measures employed by border patrols to prevent migrants from reaching the European enclave only allow the crossing to be done in drips and drops, it was necessary for migrants to organize while waiting to cross, and to organize the crossing itself.« (Heller 2006: 121) 15 | Anfang Januar 2010 werden zwei junge Afrikaner, die in der Ebene von Rosarno mit der Zitrusernte beschäftigt waren, von zwei Gewehrsalven getroffen. Es wird angenommen, dass die Schuldigen dies entweder aus reinem Vergnügen taten oder weil sie die Afrikaner entmutigen wollten, so dass diese keine Ansprüche stellen und nicht gegen das System der Gefreiten und gegen die schreckliche Ausbeutung zu rebellieren, die sie als Schwarzarbeiter ertragen müssen. Die Reaktion der Migranten ließ dennoch nicht auf sich warten. Es kam zu guerillaartigen Zwischenfällen: Autos wurden in Brand gesteckt, Mülltonnen umgeworfen, bis hin zu direkten Auseinandersetzungen mit Polizisten in Anti-Aufruhr-Ausrüstung. Ähnliches trug sich auch im Dezember 2008 zu, als ein Immigrant durch einen Schuss schwer am Arm verletzt wurde. In diesem Fall haben sich die Migranten darauf begrenzt, durch die Errichtung einer Strassensperre, Gerechtigkeit für ihren verletzten Kameraden zu fordern.

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G IORGIO S CIABICA küste, dem Senegal, aus Togo, Mauretanien und dem Kongo. Aber seit Jahren schon sind sie alle ›Italiener‹: um zu überleben, standzuhalten und um nicht zu verhungern. Dafür dass sie zwölf oder vierzehn Stunden lang die duftendsten Orangen ernten, verdienen sie ungefähr 20 Euro pro Tag […]. Die Letzten sind die Letzten, weil sie nie ein Bett für sich allein hatten. Sie schlafen in den verlassen Fabriken eben jenes Kalabriens, das durch die Verschwendung und die Diebstähle von Mafia und Staat gekennzeichnet ist. Skelette inmitten des Nichts. Ihr Lager schlagen sie zwischen den rostenden Zementsäulen an der Küste auf, auf den Gutshöfen und am Rand des Meeres. Rosarno ist wie Castelvolturno, wie Campobello di Mazara und wie eben jenes Italien, das sie bisher kennen. Das Lager und die Müdigkeit.« (Bolzoni 2010: 7, dt. d. Ü.)

In gewisser Hinsicht liegt es klar auf der Hand, dass sich die absolute Kontrolle der menschlichen Mobilität, deren Paradigma das Lager ist, und das mehrfach von Negri, Hardt und Mezzadra betonte Prinzip der Autonomie der Migrationen einander ausschließen. Vielmehr muss erwogen werden, dass ihre Beziehung zu einander und ihre Bewegung nur bestimmt werden können, wenn man den Modus operandi des mit dem Aspekt »Arbeit« verbundenen Migrationsregimes in Betracht zieht (vgl. Bojadzijev/Karakayali/Tsianos 2004: 137). Dieser Punkt ist für die hier zu ziehenden Schlussfolgerungen von wesentlichem Interesse. Diesbezüglich drängt sich eine Parallele zu den gesellschaftlichen Veränderungen auf, die Virno in seiner Grammatica della Moltitudine (vgl. Virno 2004) behandelt. So vertritt dieser die Auffassung, dass der pulsierende Nerv der biopolitischen Problematiken nur zu erfassen ist, wenn man begreift, wie sich der Begriff der Arbeitskraft in der spätkapitalistischen Gesellschaft konkret verändert hat. Begleitet durch das Aufkommen der Multitude als Protagonist dieses Prozesses, hat dieser Wandel nämlich unsere gesellschaftlichen Strukturen zutiefst beschnitten. So haben die vielfältigen Facetten der Arbeit – die prekär geworden und durch eine prinzipielle Ersetzbarkeit der die Multitude konstituierenden gesellschaftlichen Akteure begleitet worden ist – dazu geführt, dass Arbeitskraft heutzutage nicht mehr mit einer spezifischen Dienstleistung an einem bestimmten Ort zusammenfällt. Diese steht nun vielmehr für die Fähigkeit, diese Dienstleistung überhaupt erbringen zu können, indem sie all das die materielle Welt bildende physische und geistige Potential nutzt. Die Ausbeutbarkeit und Ersetzbarkeit der Körper der Multitude scheinen sich jetzt im Körper des Leviathans einzunisten, so dass seine ›Schuppen‹ nun die letzte und schrecklichste Eigenschaft symbolisieren: Tötbarkeit. Während also die Relation von Kolonien und Biopolitik für Mbembe von einem Verlangen gezeichnet ist, das zwischen der Ausbeutung und der Ermordung des anderen oszilliert, so werfen sowohl der Versuch, Migrationsflüsse zu blockieren, als auch die nicht demokratisch gesetzten Grenzen, meines Erachtens diese Thematik neu auf. Die nomadischen Arbeiter der informellen Sphäre wandern von einem Zelt zum anderen, von einem Gefreiten zum anderen, und

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leben im besten Fall im Schatten ihrer ad hoc durch Gesetzeslücken hervorgebrachten Subalternität – vorausgesetzt, sie haben es überhaupt geschafft, den oft tödlichen Gefahren während ihrer Reise über das Land oder Meer zu entkommen. Aus dem Italienischen von Thomas Hostert und Sieglinde Borvitz

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Subalternität und Subjektivierungsprozesse Der Fall der Beta Israel 1 Serena Marcenò Den paperi

Der Name Beta Israel (BI) verweist auf die Gruppe äthiopischer Juden, die zwischen 1984 und 1991 nach Israel übersiedelte.2 Der Integrations- und Assimilationsprozess der BI in Israel zeigt, inwiefern bei Subjekten der Verlust der Fähigkeit zur Autorisierung und die Anerkennung von staatsbürgerlichen Rechten für die Emanzipationsprozesse der Individuen, aber auch derjeniger, die diese zu Subalternen machen, eine erhebliche Rolle spielen können. Im Fall der BI wurden Migranten so mittels eines im Zeichen der Modernisierung stehenden, individuellen Subjektivierungsprozesses integriert und assimiliert. Durch die Immigration sind die BI zu Rechtssubjekten einer liberalen Demokratie geworden.

1 | Eine erweiterte Version dieser Forschungsarbeit ist erschienen in Marcenò (2011). 2 | Falascha, Beta Israel, Äthiopische Juden: Die Frage des Namens dieser Gruppe ist komplex und eröffnet, wie im Fall der Dalits in Indien, einen privilegierten Blick auf die Genese ihrer Identität (vgl. Bartoli 2008.). Beta Israel ist insofern kein historisch gewachsener Name, da die Bezeichnung aus den 1980er Jahren stammt. Vielmehr handelt es sich um einen identitätsstiftenden Namen, den die Gruppe selbst gewählt hat, um eine bestimmte Identität anzunehmen, die historisch weder gewiss noch klar definiert ist. Beta Israel ist zudem in zweifacher Hinsicht eine identitätsformende Bezeichnung: hinsichtlich einer Identität als Angehörige einer gemeinsamen Religion und als Mitglied einer Gemeinschaft. Ohne hier zu detailliert auf die historische Entwicklung der äthiopischen Juden einzugehen, ist es wichtig zu betonen, dass in ihrem Fall der Identitätsprozess und der Emanzipationsprozess nicht nacheinander oder der eine gar als Folge des anderen geschahen, sondern dass sich diese beiden Prozesse gleichzeitig vollzogen.

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D ER F ALL DER B E TA I SR AEL Die Geschichte der BI wird sehr kontrovers diskutiert. Bislang existiert in der Forschung keine Übereinstimmung bezüglich deren Herkunft (vgl. Kaplan 1992, vgl. Bianchi 1997). Grundsätzlich herrschen folgende drei Annahmen vor: Die erste erkennt die BI als einen der verloren gegangenen Stämme Israels an (vgl. Parfit 2004). Unter historischen Gesichtspunkten ist diese These zwar wenig zuverlässig, dennoch ist sie wesentlich, weil sie diejenige ist, die die israelischen Behörden offiziell anerkennen, was den BI wiederum ihr Rückkehrrecht ermöglicht hat.3 Die zweite Hypothese versteht die BI als eine indigene Gruppe, die zum Judentum konvertierte, während die dritte davon ausgeht, dass es sich nicht um Juden handelt, sondern um rebellische Christen, die sich vom orthodoxen Christentum abgewandt haben. Dieser letzte Ansatz würde auch die vielen Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Kult und dem der koptischen Christen erklären. Die mythische und historische Identität der BI hat bei der Auffassung, dass es sich bei ihrer Migration um eine Rückkehr handelt, eine Rolle gespielt. Gleichzeitig war diese Grundlage andererseits aber auch der wesentliche Grund für die Schwierigkeiten und die Desillusionierung, die sich bei ihrer Ankunft in der sie aufnehmenden Gesellschaft ergaben. Jenseits nämlich der starken Motivation – ausgelöst durch die Überzeugung, man kehre in das Land der eigenen Väter zurück – weist die Migration der äthiopischen Juden nach Israel viele, wenn nicht alle Merkmale zeitgenössischer Migrationsströme auf: Die NordSüd-Achse (Nord im Sinne des Abendlands); die Einordnung von Schwarzen in eine weiße Gesellschaft; die Präsenz vornehmlich Junger und Gesunder; und die Utopie und der Traum von einem besseren Leben (vgl. Ben Ezer 1992). Aus geschichtlicher Perspektive spielen in der Genese der Identität der BI als Gemeinschaft folgende Faktoren eine entscheidende Rolle: Die protestantische Mission der London Society for Promoting Christianity amongst Jews, die Henry Stern 1860 ins Leben rief, und die Gegen-Mission Joseph Halevys im Namen der Alliance Israélite Universelle von 1867, die eine Reihe an Phänomenen – Konvertierungen, Migrationen, Veränderungen der sozialen und familiären Strukturen – auf den Weg brachten, legten vor allem aber auch den Grundstein für das Zusammentreffen der BI mit der westlichen Moderne. Ein weiteres wesentliches historisches Ereignis war die große Hungersnot, die Äthiopien zwischen 1888 und 1892 heimsuchte. Diese brachte demographi3 | Das ›Gesetz der Rückkehr‹ wurde 1950 in Israel erlassen und besagt, dass jeder, der wenigstens einen jüdischen Großelternteil hat, ein Anrecht auf israelische Staatsbürgerschaft besitzt. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem jüdisch-religiösen Gesetz der Halacha, wonach jeder Jude ist, der von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertiert ist.

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sche und soziale Veränderungen mit sich, die den Modernisierungsprozess der BI beschleunigten, indem die BI aus den spezifischen Formen der Isolation herausgelöst wurden, in denen sie bis dato gelebt hatten und die eng mit ihren, den Riten der Reinigung dienenden religiösen Praktiken verknüpft waren (vgl. Trevisan Semi 1985)4 . Eine weitere wichtige Etappe im Modernisierungsprozess, der durch die christlichen und jüdischen Missionen und die Hungersnot auf den Weg gebracht wurde, stellt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Mission (Ya’acov) Faitlovitchs – ein Orientalist und Experte auf dem Gebiet semitischer Sprachen – dar, der die Theorie vom verlorenen Stamm Israels wiederaufnahm. Faitlovitchs Mission war im Jahr 1904 der Auslöser für eine Reihe wichtiger Reformen im Modernisierungsprozess der äthiopischen Juden: Die Reform ihres Judentums, die Verbesserung ihrer Bildungsstandards, die nach westlichem Vorbild herausgebildete Elite, um auf Augenhöhe mit den europäischen und amerikanischen Juden interagieren zu können sowie die Konstruktion eines Bildes der BI für den Gebrauch der internationalen jüdischen Glaubensgemeinschaft. Dieses Bild gründete auf der Idee einer herausgerissenen, abseitigen Gruppe, die innerhalb des afrikanischen Kontexts künstlich und deplatziert wirkte. Die Migration der BI begann Mitte der 1970er Jahre mit dem Bürgerkrieg in Äthiopien und mit der Überführung tausender Flüchtlinge – Juden oder NichtJuden – in den Sudan. In Anbetracht der tragischen Situation in den Flüchtlingslagern im Sudan und des den BI anerkannten Rechts auf Rückkehr, beauftragte die israelische Regierung 1980 den Mossad mit der Organisation der Umsiedlung der äthiopischen Juden nach Israel. Fast alle BI, die aus den Regionen der Amhara, Tigray oder Semien stammten, wurden in zwei Schüben zwischen 1984 und 1991 mit Hilfe von Luftbrücken nach Israel überführt. Die Operation Moses (November 1984 – Januar 1985) brachte rund 6500 äthiopische Juden aus den Flüchtlingslagern im Sudan nach Israel, weitere 650 beförderte im März 1985 die CIA; weitere 2500 folgten zwischen 1985 und 1989 aus Addis Abeba und aus dem Sudan. Im Jahr 1991 wurden mit der Operation Salomon schließlich an einem einzigen Tag 14.600 Personen nach Israel umgesiedelt. Seit Anfang der neunziger Jahre leben mehr als 90 Prozent der gesamten Gemeinschaft der äthiopischen Juden in Israel (vgl. Ashkenazi/Weingrod 1987; Friedmann/Santamaria 1989). Die Einwanderungswellen von Juden aus den verschiedensten Teilen der Welt nach Israel haben den Entstehungsprozess einer israelischen Gesellschaft begründet, insofern stellt die Ankunft der BI keine Besonderheit dar. Auch unterscheiden sich die Mechanismen, der Zwangsassimilierung der BI an das 4 | Bedeutend ist in diesem Zusammenhang der faschistische italienische Kolonialismus in Äthiopien, auf den hier allerdings nicht fundierter eingegangen werden kann (vgl. auch Trevisan Semi 1987).

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kulturelle Gebilde der aufnehmenden Gesellschaft nicht wesentlich von jenen, mit denen sich andere Gruppierungen bzw. Einwandererströme konfrontiert sahen. Dennoch trägt der Assimilationsprozesses der BI spezielle Züge – die sich partiell auch bei den Fällen der sephardischen, und hier vor allem bei den marokkanischen und jemenitischen Juden, finden lassen –, durch die sich die Mechanismen ihrer beschleunigten Modernisierung sehr viel leichter nachvollziehen lassen.5 Alle BI haben mit der Einreise nach Israel die israelische Staatsangehörigkeit erworben und damit auch die Rechte und Leistungen, die damit einhergehen. Es soll auch daran erinnert werden, dass die Immigration nach Israel von ihnen unbedingt angestrebt worden war und zwar nicht nur, um vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs und der Flüchtlingslager ihr Leben zu retten, sondern auch, um in das Gelobte Land zurückzukehren. Dies verleiht der Rückkehr eine stark religiöse Komponente. Das Ergebnis dieser Emanzipation hinsichtlich der Rechte und der Lebensbedingungen war jedoch der völlige Bruch, um nicht zu sagen die völlige Zerstörung, ihrer ursprünglichen Subjektivität, die aufgrund der engen Verknüpfung zwischen Religion und Identität beträchtlichen Veränderungen unterlag. Die wichtigsten Aspekte dieses Assimilierungsprozesses lassen sich wie folgt zusammenfassen (vgl. Kaplan/Parfitt/Trevisan Semi 1995): Ohne jegliche Form der Einwilligung verliehen die israelischen Behörden allen Neuankömmlingen einen hebräischen Namen, durch den die ursprünglichen Namen ersetzt wurden.6 Damit änderte sich nicht nur der Name, sondern auch die Funktion, die dem Einzelnen durch diesen Namen zuerkannt wurde. Die BI erhielten von den israelischen Behörden zudem nicht nur einen Vornamen, sondern auch einen Nachnamen, den sie vorher nicht hatten. Ebenso erhielten sie von Amts wegen ein Geburtsdatum, genauso wie neue westliche und sportlich anmuten5 | In Israel geriet das Assimilierungsmodell ashekenaziconform Ende der siebziger Jahre in eine Krise. Zu Beginn der 1980er Jahre begann man unter Berücksichtigung der Ursprungskulturen der Migranten vielmehr von Anpassung zu sprechen. Dieser Ansatz führte in den 1990er Jahren zu einer immer stärkeren Aufwertung der ursprünglichen Kultur, sodass man heute von hyphenated persons spricht, von Personen also, die eine doppelte oder gar multiple soziale Identität bewahren, da sie sich nicht gänzlich mit der aufnehmenden Gesellschaft assimilieren. In Israel ist heute von äthiopischen oder russischen Juden die Rede so wie man anderswo von Hispano- oder Italo-Amerikanern spricht (vgl. Eisenstadt 1967 und 1992; Abbink 1984; Ben Ezer 1992; Bianchi 1997; Yftachel 2006). 6 | In Äthiopien hatten die BI viele verschiedene Namen, die ihnen aufgrund von Eigenheiten in der Familie verliehen wurden oder auf bestimmte Ereignisse zurückzuführen waren.

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de Kleidung, die Kinder mussten die Kippa – also die jüdische Kopfbedeckung – tragen, auch dies war ein den BI unbekannter Brauch. Ein weiteres Element des Bruchs mit der ursprünglichen Identität stellte die fehlende Anerkennung seitens der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber der Heterogenität der Migranten dar, was Gefühle der Diskriminierung und der Verletzung ihrer Würde weckte. Die äthiopische Gemeinschaft wurde von den Behörden, den Medien und der israelischen Öffentlichkeit als ein homogenes Ganzes betrachtet, wobei die erheblichen Unterschiede innerhalb der Gruppe ignoriert wurden. Die Flüchtlinge stammten aus verschiedenen geographischen Gebieten und sprachen nicht die gleiche Sprache: Diejenigen, die aus dem Tigray kamen, sprachen Tigrinya, während jene aus Gondar aramäisch sprachen. Die Flüchtlinge kamen aus städtischen oder ländlichen Regionen und wiesen unterschiedliche Bildungsniveaus auf. Die Tigray waren zudem weniger Opfer von Verfolgung geworden; ihnen gelang eine Umsiedlung, ohne dass ihre Familien voneinander getrennt wurden, was bei anderen Flüchtlingsgruppen nicht der Fall gewesen war. Deren Familien nämlich wurden im Zuge der Umsiedlung völlig auseinandergerissen. Ein Großteil des Bruchs mit der Ursprungsidentität kann auf die Auswirkungen zurückgeführt werden, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge in Assimilierungszentren in Israel einhergingen. Diese Zentren lagen in Entwicklungsgebieten, vornehmlich im Süden des Landes in der Wüste Negev. Sie wurden von den israelischen Autoritäten genutzt, um die Aufnahme der Immigranten auf folgenden Gebieten zu erleichtern: Gesundheitswesen, Spracherwerb, Ausbildung, psychologische Betreuung und nicht zuletzt, was die Unterbringung dieser großen Anzahl an Personen betrifft. Die Zentren waren ursprünglich als vorübergehende Lösung gedacht und für einen maximal einjährigen Aufenthalt vorgesehen. Faktisch aber lebten die BI sehr viel länger in diesen Zentren, manche mehr als sechs Jahre, was nicht zuletzt den Schwierigkeiten, Arbeit und Unterkunft in den weniger entwickelten Teilen des Landes zu finden, geschuldet war. Dieser Umstand hat sich schnell als zusätzliches Hindernis bei der Integration der Immigranten herausgestellt. Das Leben in den Assimilierungszentren hatte für die BI Auswirkungen auf alle Bereiche des Alltags: Ihnen wurde rasch beigebracht, mit Besteck zu essen, in einem Bett zu schlafen, Tische, Stühle und anderen, für sie unbekannten Hausrat zu nutzen, Gas anzuzünden, elektrisches Licht und Elektrogeräte zu verwenden, das Nötige in Geschäften zu kaufen, sich den Gebrauch von Geld und Autos zu eigen zu machen. Die Geschwindigkeit dieser Veränderungen hat zu Brüchen innerhalb der Gruppe geführt, vor allem zwischen Jungen und Alten sowie zwischen Männern und Frauen. Für die Jungen und die Frauen bedeutete diese Entwicklung eine Emanzipation aus den traditionellen hierarchischen Strukturen, an deren Spitze die älteren Männer der Gemeinschaft gestanden und stets die Entschei-

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dungen für die gesamte Gruppe getroffen hatten. Diese Emanzipation eröffnete den Jungen und den Frauen vor allem über den Weg der Bildung und den Zugang zur Arbeitswelt nicht gekannte Formen der Autonomie. Unmöglich war es hingegen, die traditionellen Riten der Trennung und Reinwaschung fortzuführen. Den Jungen fiel es sehr viel leichter, sich psychisch und physisch den neuen Gegebenheiten anzupassen. Für die Frauen äußerte sich der regelrechte Umsturz der ihnen traditionell zuerkannten Rollen auch dadurch, dass den Mitarbeiterinnen in den Assimilierungszentren eine gewisse Autorität zuteilwurde. Wie alle Einwanderer wurden auch die BI in Intensivkurse eingeteilt, um die Nationalsprache zu erlernen. Der beinahe flächendeckende Analphabetismus innerhalb dieser Gruppe verlangsamte allerdings den Lernprozess um ein Vielfaches. Den wohl stärksten Aspekt dieses Assimilierungsprozesses machte aber die religiöse Identität der BI aus. Die BI sind ein sehr religiöses Volk und folgten zum Zeitpunkt der Migration allen in der Thora festgelegten Vorschriften. Ihre Identität war also besonders stark durch ihre Religiosität geprägt. Diese lebten sie mit sehr viel Stolz aus, zumal die Religion das Einzige war, das sie in Äthiopien vom restlichen Teil der Bevölkerung, mit dem sie Ethnie und Sprachen teilten, unterschied. Auch wenn die Herkunft der BI genauso wie die Ursprünge ihrer besonderen Auslegung des Judentums ungewiss sind, steht fest, dass ihre Auslebung der Religiosität sich zutiefst von allen anderen jüdischen Gemeinschaften weltweit – einschließlich der israelischen – unterscheidet. Der offiziellen Version gemäß handelt es sich hier um eine vor-rabbinische Religionsausübung, die entsprechend nicht alle post-testamentarischen Riten kennt. Viele Elemente des Glaubens lassen Zweifel daran zu, dass die BI direkte Nachfahren von ursprünglichen jüdischen Gemeinschaften seien. Vielmehr weisen ihre Glaubensinhalte – jedenfalls vor der Emigration – Ähnlichkeiten mit den Praktiken koptischer Christen auf. Eine Ausnahme bilden hier die Formen, die sich in den Schulen Faitlovitchs herausbildeten. Den BI war das antike Judentum unbekannt, einzig die Thora war ihnen vertraut. Den Talmud, den Midrasch und die Mischna berücksichtigten sie hingegen nicht. Die religiöse Literatur und die Rituale der BI findet man nur zum Teil in der rabbinischen Tradition. Ihre religiösen Riten sahen – wenn auch in abgeschwächter Form – etwa die Opferung der Tiere und ein Priestertum vor. Alle diese Aspekte haben in Israel erhebliches Misstrauen geweckt, weshalb man sich sehr oft fragte, ob die BI wirklich zum Judentum gezählt werden können. Deshalb zwang die religiöse Obrigkeit die Einwanderer bis 1984 zu einer Bekehrung, die für die Frauen durch ein rituelles Bad, für die Männer hingegen durch die Abgabe eines Bluttropfens als symbolische Beschneidung herbeigeführt werden sollte. Die BI empfanden dieses Vorgehen, das sich gänzlich von dem gegenüber anderen nach Israel immigrierten Gemeinschaften unterschied, als kränkende Beleidigung und als Zeichen einer regelrechten Ausgren-

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zung. Über diese Forderung der Bekehrung hinaus wurden die BI angehalten, alle religiösen Praktiken ihrer Lebensgestaltung abzulegen, die sich nicht mit dem rabbinischen Judentum und den modernen Formen des Zusammenlebens vereinbaren ließen. Ihrem Kultus wurde somit keinerlei Anerkennung zuteil: Sie waren nicht befugt, eigene Synagogen zu errichten, und ihre religiösen Festlichkeiten wurden nur dann geduldet, wenn sie den jüdischen entsprachen. Zudem wurden ihre Priesterschaft und andere religiöse Häupter nicht gebilligt. Grundsätzlich wurden also alle ihre religiösen Praktiken dem Prinzip der Assimilierung angepasst. Weitere wesentliche Aspekte, welche die Zerstörung der ursprünglichen Subjektivität der BI aufzeigen, sind diejenigen, die mit der Umwälzung der familiären Strukturen und der Rolle der Frau zusammenhängen. Schließlich waren die Großfamilien bei den BI nicht ausschließlich Gemeinschaften, die auf biologischen Verbindungen basierten, und ihre komplizierten Reinigungsriten waren in einer abendländisch geprägten Gesellschaft unmöglich zu erhalten. Auch die Tatsache, dass die Kernfamilien in der neuen Gesellschaft in kleinen Wohnungen lebten, und nicht zuletzt der über Bildung und Berufstätigkeit begünstigte Assimilierungsprozess der Frauen der BI haben die Vorstellungen dieser Bevölkerungsgruppe von sozialer, wirtschaftlicher und familiärer Hierarchie vollends untergraben. Weitere wichtige Veränderungen, die mit dem Assimilierungsprozess einhergingen, hatten Auswirkungen auf die folgenden Bereiche und Gewohnheiten: Ihr Verständnis von Zeit, Autoritäten und soziale Hierarchie, ihre Selbstwahrnehmung als ethnische Gruppe (und dabei vornehmlich bezüglich ihrer Hautfarbe), die Anwendung traditioneller Medizin, ihr Konzept über sowohl physische als auch mentale Gesundheit und Krankheit. Die vielen fundamentalen Veränderungen führten zu Gewaltausbrüchen, Konflikten und Suiziden, die bei den BI sechs Mal häufiger zu verzeichnen waren, als im restlichen Teil der israelischen Bevölkerung (eine noch höhere Rate diesbezüglich weisen wohl nur die russischen Juden auf, wobei aktuelle Daten hierzu nicht vorliegen). In der israelischen Bevölkerung führt von zehn unternommenen Selbstmordversuchen einer zum Tod, betrachtet man indes nur die BI, so ist das Verhältnis drei zu eins. Die Assimilierung der BI an die israelische Gesellschaft kann als ein Fall epistemischer Gewalt beschrieben werden, die von einer Hegemonialgruppe über eine subalterne Gruppe ausgeübt wurde – in diesem Fall also von einer aufnehmenden Gesellschaft gegenüber einer Einwanderungsgruppe, um diese rechtlich zu integrieren und die Übernahme von Werten und Alltagspraktiken durchzusetzen. Das Konzept epistemischer oder symbolischer Gewalt impliziert bekanntermaßen das Verhältnis zwischen Dominierenden und Dominierten und verweist auf den Prozess, der zur Subalternität und beim Unterdrückten zur Internali-

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sierung der Kategorie der Unterlegenheit führt, so wie von der herrschenden Gruppe zu ihren Gunsten vorgesehen (vgl. Bourdieu 2005; Spivak 1999). Bei Bourdieu heißt es entsprechend: »Die symbolische Gewalt richtet sich mittels der Zustimmung ein, die dem Herrschenden (folglich der Herrschaft) zu geben der Beherrschafte gar nicht umhinkann, da er, um ihn und sich selbst, oder besser, seine Beziehung zu ihm zu erfassen, nur über Erkenntnismittel verfügt, die er mit ihm gemein hat, und die, da sie nur die verkörperte Form des Herrschaftsverhältnisses sind, dieses Verhältnis als natürlich erscheinen lassen – oder mit anderen Worten: da die Schemata (hoch/niedrig, männlich/weiblich, weiß/schwarz usf.), von denen er Gebrauch macht, um sich selbst oder die Herrschenden wahrzunehmen und zu bewerten, das Produkt der Inkorporierung der damit naturalisierten Klassifikationen sind, deren Ergebnis sein soziales Sein ist.« (Bourdieu 2005: 66)

Die epistemische Gewalt erlaubt es der Herrschaft, sich dank der Zustimmung der Beherrschten aufrechtzuerhalten; ein Konsens, der dann garantiert werden kann, wenn die Beherrschten die Herrschaft als notwendig und natürlich betrachten. Die Introjektion der Herrschaftsmechanismen geht nur dann auf, wenn die Beherrschten einzig über das Wissen verfügen, das ihnen von den Herrschenden zugebilligt wird. Die Ausübung der epistemischen Gewalt funktioniert also über die Zustimmung desjenigen, der sie erleidet. Die epistemische Gewalt erfolgt jedoch nicht ausschließlich über die Beherrschung des Bewusstseins, sondern sie umfasst auch die Wahrnehmung, den Körper und die Emotionen. Gemäß Bourdieu handelt es sich entsprechend um »die verkörperte Form des Herrschaftsverhältnisses« (Bourdieu 2005: 66) in dem Sinne, dass die sozialen Strukturen Einfluss auf den Körper und das Denken der Individuen haben, indem sie diese modellieren und damit sozusagen einen ›Habitus‹ erschaffen, durch den die Struktur der Herrschaft eine dauerhafte wird. Dies ist ein Prozess, den Bourdieu in den Mechanismen der ›Nicht-Anerkennung‹ bzw. ›Verkennung‹ und der ›Naturalisierung‹ sieht, welche Steuerungs- und Überlebensstrategien des Gemeinsinns, der ›Doxa‹ sind. Der Subalterne ist demzufolge derjenige, der die herrschenden Kategorien internalisiert hat. Dies ist ursächlich für seinen Status. Ohne eigene Erkenntnis- und Wissensinstrumente erschaffen zu können, verfügt er einzig über die Interpretation der Welt und der sozialen Beziehungen der ihn Beherrschenden. Dies verleitet ihn dazu zu glauben, dass diese Version seiner selbst die einzig mögliche und demnach auch natürliche ist, eine Überzeugung, die sein Leben durchdringt, seine Gewohnheiten, seine Wünsche und sogar sein Verhältnis zum Körper. Diesem Mechanismus sind sowohl ›hegemone‹ als auch ›subalterne‹ Funktionen ein und desselben Systems inhärent. Somit sind auch die Herrschenden einer durch epistemische Gewalt geprägten Form unterworfen, was wiederum

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diese dazu verleitet zu glauben, ihre Herrschaft sei natürlich. Die hegemoniale Beziehung unterwirft Herrscher und Beherrschte innerhalb eines epistemischen Systems, das bei der Herrschaftsausübung der Herrschenden Repräsentationsformen der Subalternen produziert. Der Ausschluss der Subalternen äußert sich darin, dass kognitive Werkzeuge fehlen, die eine aktive Teilnahme am hegemonialen Diskurs ermöglichen. Weil der Subalterne ausschließlich jene Möglichkeiten der Repräsentation zur Verfügung hat, welche die Hegemonialbeziehung ihm einräumt, ist es diesem nicht möglich, autonome Repräsentationsformen zu produzieren. Deshalb ist er nur in der Lage, sich innerhalb der von den Herrschenden geformten Grammatik darzustellen, nämlich als subaltern. Dieser Subalterne ist derjenige, der die interpretatorischen Instrumente der Realität, die der Herrscher ihm zur Verfügung stellt, verinnerlicht hat. Der Subalterne ist demnach nicht imstande, sich mitzuteilen, er kann seine eigentlichen Interessen nicht darstellen, oder richtiger: Es ist ihm nicht möglich autonome Repräsentationsformen hervorzubringen. Bourdieu schreibt: »Das Fundament der symbolischen Gewalt liegt ja nicht in einem mystifizierten Bewußtsein, das es nur aufzuklären gälte, sondern in Dispositionen, die an die Herrschaftsstrukturen, ihr Produkt, angepaßt sind. Infolgedessen kann man eine Aufkündigung des Einverständnisses der Opfer der symbolischen Gewalt mit den Herrschenden allein von einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen jener Dispositionen erwarten, die die Beherrschten dazu bringen, den Herrschenden und sich selbst gegenüber den Standpunkt der Herrschenden einzunehmen.« (Bourdieu 2005: 77)

Im Fall der BI scheint die epistemische Gewalt einen paradoxen Punkt erreicht zu haben, indem sie nämlich eine zur Emanzipation führende hegemoniale Beziehung hervorgebracht hat. Die BI erleiden einen Prozess, der sie zu subalternen und schließlich zu hegemonialen Subjekten macht. Dies allerdings unter der Bedingung, dass sie ihre ursprüngliche Fähigkeit, Repräsentationsformen zu produzieren und eigenständig zu handeln, ebenso wie die hegemonialen Formen ihrer Herkunftsgruppe verlieren. Der Prozess, den die BI durchlaufen haben, lässt sich anhand von drei Bewegungen aufzeigen: 1. Subjekte ohne Rechte (die gesamte Gemeinschaft), denen mit der Staatsbürgerschaft die grundlegenden Rechte zuteilwerden; 2. Subjekte (hier vor allem Frauen und junge Menschen), die innerhalb der traditionellen Gesellschaft die Position Subalterner innehatten, die aber im Zuge der Assimilation und dank des Zugangs zum Bildungswesen und zur Arbeitswelt, aber auch durch die Lockerung der religiösen Praktiken, eine neue Selbstwahrnehmung entwickelten; 3. Subjekte (hier wieder die gesamte Gemeinschaft betreffend), denen untersagt wird, ihre ursprünglichen Sozialisationsformen

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auszuleben, und denen die Umgangsformen und die hegemonialen Beziehungen der aufnehmenden Gesellschaft auferlegt werden. Welche sind nun die Gründe dafür, dass epistemische Gewalt gleichzeitig zwei Prozesse hervorbringt, nämlich Emanzipation einerseits und Subalternität andererseits? In welcher Beziehung stehen Subalternität und Emanzipation zueinander? Wenn der Emanzipationsprozess auf einer Anerkennung des Individuums als Rechtssubjekt basiert, ist es dann möglich, dass eben diese Anerkennung gleichzeitig eine Enteignung mit sich bringt, die das Individuum durch Subjektivierungsprozesse führt, die wiederum Formen der Subalternität mit sich bringen? Und ferner die Frage: Wenn die Emanzipation des Subjekts mit dessen Subalternität einhergehen kann oder sich dessen Emanzipation sogar nur durch dessen Subalternität realisieren lässt, wie ist es dann möglich, dieser Subalternität überhaupt zu entkommen, wenn nicht einmal die Emanzipation einen Ausweg aus dieser Grammatik der Subalternität zu ermöglichen scheint? Wie entzieht man sich also einem Beziehungskonstrukt, das sich ausschließlich über das Duopol Dominierende/Dominierte definiert, und in dem die Emanzipation lediglich eine Verschiebung des Subjekts von einer subalternen Position in eine hegemoniale bedeutet, die aber die Grammatik der hegemonialen Beziehung aufrecht erhält? Die hegemoniale Grammatik scheint in zwei Richtungen zu wirken und zwar in jene, die man mit den Aspekten Inklusion, Anerkennung, Emanzipation versehen kann, und in jene, die man als Exklusion, Nicht-Anerkennung, Subalternität versteht. Im ersten Fall lässt die Emanzipation eine Integration des Subjekts in die Grammatik der Hegemonie zu und verändert die Rollen in dem Sinne, als es sich um eine Verschiebung von einer subalternen zu einer hegemonialen Rolle handelt, wobei die hegemonialen Beziehungen und Regeln unverändert bestehen bleiben. Die Subjekte können sich im Inneren der Hierarchiestufen von Hegemonen und Subalternen bewegen. Dabei werden sie von Subalternen zu Hegemonen oder von Hegemonen zu Subalternen: Die Logik und Formen der Hegemonie – und damit auch der Subalternität – bleiben indes unverändert erhalten. Im zweiten Fall – jenem der Exklusion, der Nicht-Anerkennung und Subalternität – wird den Subjekten die Möglichkeit verweigert, sich innerhalb der Hegemonialstruktur zu bewegen, in diesem Fall sind sie gezwungen, in ihrer subalternen Position zu verharren. Wie kann es sein, dass zwei scheinbar entgegengesetzte Bewegungen, jene der Exklusion und jene der Inklusion, beide zu Formen der Subalternität führen? Wie ist es möglich, dass eine Emanzipationsbewegung eine parallele Bewegung der Exklusion und Subalternität hervorbringt und zwar nicht ausschließlich für die Subjekte, die von der Emanzipation ausgeschlossen werden, sondern auch für jene, die eigentlich von einer Inklusion profitieren, die aber, um dahin zu gelangen, gegenüber den hegemonialen Repräsentationsformen

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der herrschenden Gruppe notwendigerweise zu Subalternen werden müssen, indem sie sich diese Repräsentationsformen aneignen und so in der aufnehmenden Gesellschaft mit Rechten und einer Staatsangehörigkeit ausgestattet werden und eine Hegemonialposition einnehmen? Weshalb muss das Subjekt, um vollwertiger Staatsbürger zu werden, zum Subalternen gemacht werden, insofern, als es – um im sozio-kognitiven Sprachgebrauch zu bleiben – seinen ursprünglichen ›Habitus‹ und seine ›Doxa‹ aufgeben muss und es damit seine Fähigkeit verliert, sich autonom mitzuteilen, um dann die sozialen Repräsentationsformen der aufnehmenden Gruppe zu verinnerlichen? Ist das in der Literatur zur Subalternität – mit all ihren Differenzierungen von Gramsci bis Spivak – vorherrschende Konzept der epistemischen Gewalt bezüglich der Beziehung zwischen Herrschern und Subalternen ausreichend, um die Subalternität zu erklären? Im Fall der BI scheint diese Aporie deutlich zutage zu treten. Wenn die BI also als der epistemischen Gewalt untergeordnet beschrieben werden können, die sie zu Subalternen macht und die ihre Emanzipation auf dem Weg zu Formen der Subjektivität innerhalb der hegemonialen, aufnehmenden Gesellschaft konditioniert, dann ist die epistemische Gewalt indes nicht ausreichend, um die Formen ihres Subjektivierungsprozesses zu beschreiben. Deshalb ist die erste Frage, die sich bei der Analyse ihres Falls stellt, ob die epistemische Gewalt einen ausreichenden Ansatz darstellt, um die Formen der Subalternität zu erklären, und ob sie nicht letztlich nur einen Teil bildet und in die Analyse von anderen Gewaltformen mit einbezogen werden muss, die dem Subjektivierungsprozess anhaften und die dieser hervorbringt. Um andere Formen von Gewalt zu untersuchen, die im Zuge eines modernisierenden Subjektivierungsprozesses hervorgebracht und eingesetzt werden, müssen wir zwei Herangehensweisen berücksichtigen: Zum einen die Kritik am Emanzipationsbegriff und zum anderen am Verhältnis von Emanzipationsprozess und Biopolitik. Gewalt, Emanzipation und Biopolitik sind also die drei Kernelemente dieser Überlegung. An dieser Stelle sei dabei bereits auf das Konzept von Gewalt hingewiesen, das hinsichtlich des Verhältnisses von Emanzipation und Subalternität als Gewalt, Recht und Macht im Benjamin’schen Sinne zu verstehen ist (vgl. Benjamin 1963, 1991). Die Kritik am Emanzipationskonzept und am Mechanismus von Inklusion und Exklusion führt uns geradewegs zum Herzstück moderner politischer Theologie. Bei Bruno Bauer ist das Prinzip der Exklusion, von dem jede Form politischer Identität produziert wird, eines, das aus der Theologie in die moderne juristisch-politische Konzeptualität übertragen wurde und welches das Konzept der Nation formt, indem den Subjekten gewisse Charakteristiken aberkannt und andere anerkannt werden (vgl. Bauer 1843). Die Anerkennung des mit Rechten ausgestatteten Individuums gründet sich auf einer Gleichheit, die dauerhaft die Verbindung zwischen Freiheit und

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Fähigkeit – sei sie natürlich oder juristisch – überwindet, was gerade das nichtmoderne 7, politische Subjekt ausmacht. Wenn also die juristischen und natürlichen Fähigkeiten die Bedingung für den Zugang zu Freiheiten und politischem Handeln bilden – und das politische, nicht-moderne Subjekt deshalb ein fähiges, freiheitliches Subjekt ist –, dann ist der Zugang zur Sphäre des Rechts von den natürlichen Fähigkeiten des Subjekts losgelöst. Hierbei werden eine Fähigkeit und Freiheit in Kraft gesetzt, die rein juristisch sind und auch denjenigen zugesprochen werden, die – zuvor nicht frei – weiterhin unfähig sind oder neue Fähigkeiten entwickeln (vgl. Lousse 1943). Die Wiederzusammensetzung von einer gemeinschaftlichen Dimension hin zu einer individuellen bringt einen Mechanismus der Entkörperlichung oder Abstraktion des ursprünglich politischen Subjekts mit sich, das in eine individuelle Dimension eingeordnet wird, die sich durch Neutralität und Abstraktheit auszeichnet. Der so konstituierte politische Körper basiert auf dem Funktionieren des Dispositivs der politischen Repräsentanz, in welcher der Autorisierungsprozess ein Prozess der Autoritätsbildung ist, durch den sich jeder seit dem Gesellschaftsvertrag als Autor der Handlungen der repräsentierenden Akteure des politischen Gesamtkörpers erkennt. Die Repräsentanz bildet den Horizont der Fähigkeit des modernen politischen Subjekts: Es gibt aus dieser Repräsentanz keinen Ausweg, sie ist für den Bürger die einzige Möglichkeit, zu agieren und die einzige Form politischer Handlung. Dies führt zu einer spezifischen Struktur politischer Subjektivität, die sich bekanntlich auf der Spaltung von öffentlich und privat gründet (vgl. Hofmann 2003). Die Konstitution der politischen Form, die sowohl die Natürlichkeit des Befehls als auch die der Unterschiede zwischen den Menschen ausschließt, basiert auf dem rationalen Willen aller Individuen. Doch die Einbeziehung der Gesamtheit der Individuen als Fundament der Macht kann nur durch eine Enteignung ihres politischen Handelns geschehen. Allesamt sind sie Autoren der Handlungen des Akteurs, bzw. des Repräsentanten, sei er Souverän oder eine Versammlung, womit alle darauf verzichtet haben, im öffentlichen Sinn zu handeln. Auf der anderen Seite betrifft der Mechanismus der Entkörperlichung auch diesen Repräsentanten, der nicht als handelndes Subjekt verstanden werden kann, sondern nur als eine Person, bzw. als eine Maske, die den Handlungen aller vorgeschoben wird (vgl. Duso 1988). Seit Hobbes basiert der Gesell7 | Ich verwende den Begriff nicht-modern in einem doppelten Sinn: Der erste Bedeutungshorizont ist der sozio-politische Übergang von der Ständegesellschaft zur Moderne, der bekanntermaßen den Ursprung für die Forschung zur Emanzipation und zur modernen politischen Repräsentanz ausmacht. Der zweite Bedeutungshorizont ist im Sinne der postkolonialen Literatur zur Moderne zu verstehen (vgl. Chakrabarty 2000). Demnach deutet nicht-modern auf eine zugleich diachrone und synchrone Kritik an der Moderne hin.

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schaftsvertrag nicht mehr auf natürlichen Rechten und dient auch nicht mehr dazu, ein Gleichgewichtssystem zu garantieren: Er dient vielmehr dazu, eine politische Form ex novo zu erschaffen. Es ist entsprechend nicht mehr möglich, die Führung und die politische Unterordnung als natürliche Formen zu denken. Die politische Macht kann sich – um rechtskräftig zu sein – nur auf einen einzigen Willen stützen. Die Unterordnung des Individuums, die in der nicht-modernen Gesellschaft innerhalb eines hierarchischen Systems durch die Autonomie und Unterschiedlichkeit ihrer Mitglieder zum Ausdruck kommt, äußert sich in einem modernen Horizont der Macht ausschließlich über den öffentlichen Körper. Diesem hat jeder durch den Gesellschaftsvertrag Souveränität zugesprochen, wobei eine Macht erzeugt wird, die Differenzen auslöscht und Gleichheit schafft (vgl. Duso 1999, 2001). Hegemonie und Subalternität können also einzig über eine sozio-kognitive Analyse voneinander unterschieden werden, die sich auf ein Dominanzkriterium beruft, das sich in religiösen, ökonomischen, ethischen Gesetzmäßigkeiten und solchen des sozialen Geschlechts usw. äußert, die aber in philosophischen Fragestellungen sowohl für die Hegemonen als auch für die Subalternen dasselbe Dispositiv der Entmachtung zeigen. Akteure und Autoren – Hegemonen und Subalterne – sind demnach alle in einem Subjektivierungsprozess eingenommen und gefangen, der innerhalb der Hegemonieformen der Macht in einem modernen Sinne zu verorten ist. Im Inneren des modernen Mechanismus der Macht äußern sich Emanzipation und Diskriminierung bzw. Hegemonie und Subalternität in einer fortlaufenden Schwankung – welche die Exklusionslogik nie verändert. Es handelt sich um eine Art Wiederholungszwang, der sich als ewige Schwankung zwischen den beiden Polen darstellt. Um aus dieser herauszukommen, bedarf es nicht der Emanzipation, sondern vielmehr der Befreiung, also des bewussten Auswegs aus Formen, die im direkten Zusammenhang mit Gewalt stehen. Aus diesen kann man nämlich nicht befreit werden, sondern muss sich vielmehr aus eigener Kraft befreien, um so den Formen der Herrschaft zu entkommen, in denen der Mensch zum nackten Objekt der Regierung und sein Leben zu einem Objekt der Machtorganisation geworden ist (vgl. Derrida 1994, vgl. Agamben 2003, vgl. Tomba 2002). Das durch Gewalt im Sinne Walter Benjamins entstandene Dispositiv bringt uns zu der zu Beginn angesprochenen Verbindung zwischen Recht und Macht, der wir in ihrer modernen Ausprägung über die Kritik an der Relation zwischen Souveränität und Biopolitik begegnen können. Die pluralen Prozesse moderner politischer Rationalisierung manifestieren sich in der Konstitution politischer Subjektivität, die das Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses ist, der durch die Bewegung von Spaltung und Wiederzusammensetzung zwischen den einzelnen Körpern der Nation und dem Gesamtkörper der Nation in Gang ge-

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setzt worden ist. Auf einer Seite ist da die Gesamtheit der abstrakten, neutralen und entkörperlichten Individuen, die Rechte innehaben und die ihre Fähigkeit zu politischer Handlung durch den Mechanismus der modernen politischen Repräsentanz verloren haben. Auf der anderen Seite sind da die Körper eben dieser Individuen, die durch den Druck, ihre wirtschaftliche Produktivität zu steigern und gleichzeitig ihren sozialen und politischen Konflikt zu neutralisieren, regiert und somit von biopolitischen und disziplinierenden Technologien durchdrungen werden. Biopolitik und Souveränität sind Bestandteile miteinander verbundener epistemisch-politischer Dispositive, die nicht so verschieden voneinander sind, dass man sie nicht miteinander vergleichen könnte, was die konkrete Machtfrage auf der einen Seite und ihre formale Repräsentation und Legitimität auf der anderen Seite betrifft. Im Gegenteil: sie interagieren konzeptuell und praktisch hinsichtlich moderner Machtverhältnisse. Die epistemisch-politischen Dispositive der Moderne funktionieren kraft der Genese der modernen politischen Subjektivität. Diese bildet gleichzeitig das Fundament und die Voraussetzung ihrer Existenz und konstituiert durch ihre Beschaffenheit die Regierungstechnologien der Bevölkerung. Die moderne politische Subjektivität ist das Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses, der ein mit Rechten ausgestattetes Individuum (abstrakt, neutral und entkörperlicht) geschaffen hat und eine Bevölkerung, die Gegenstand biopolitischer und disziplinierender Technologien ist. Diese beiden Dimensionen – eine individuelle und eine der Kollektive – sind nicht voneinander getrennt, sondern sind das Ergebnis ein und derselben Bewegung, die sie umfasst und gleichermaßen regelt. Die nicht-moderne politische Subjektivität agiert in einer gemeinschaftlichen Dimension und bezieht sich auf eine Pluralität verschiedener Subjekte, deren politische Autonomie in einem juristisch-politischen Kontext zu finden ist, die mit der ihr eigenen Kontinuität zwischen öffentlicher und privater Dimension, politische, biologische und wirtschaftliche Funktionen einschließt. Durch die Moderne wird diese Pluralität von Subjekten auf einen einzigen Aspekt bzw. auf das Individuum als Rechtssubjekt reduziert und funktional in einer individuellen Dimension wieder zusammengefügt, welche die politische, biologische und wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Einzelnen spaltet. Diese Spaltung vollzieht sich sowohl auf individueller Ebene – in einem anthropologischen Sinn – als auch auf gesellschaftlicher Ebene von dem Moment an, in dem die Individuen von den Formen politischer Handlung, die sie inne hatten, und von den mit diesen Formen zusammenhängenden biologischen und ökonomischen Funktionen entmachtet werden. Diese müssen nun auf anderen Ebenen verwaltet werden. Dennoch ist der Entmachtungsmechanismus nicht als bloße Enteignung zu verstehen, sondern vielmehr als eine Verschiebung der Handlung auf eine andere Ebene. Wenn nämlich auf der einen Seite – poli-

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tische, biologische und wirtschaftliche – Funktionen und Formen der Handlung entmachtet werden, wird auf der anderen Seite allen die politische Subjektivität gleichermaßen zuerkannt, also unabhängig von den Unterschieden, die zuvor ihr Fundament und ihre Legitimität konstituierten. Die Prozesse der Herausbildung einer modernen politischen Subjektivität können demnach als eine Interaktion von Subjektivierungsprozessen verstanden werden, die durch Mechanismen der politischen Repräsentanz auf der einen Seite einen politischen Körper der Nation hervorgebracht haben und auf der anderen über biopolitische Technologien eine Bevölkerung haben entstehen lassen. Die biopolitischen und disziplinierenden Technologien haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Rechtssubjekt in anderen Dimensionen zu regieren: die Biopolitik bezüglich der vitalen Prozesse, die nicht länger dem privaten Bereich zugerechnet werden können und damit eine fundamentale Variable des Reichtums, des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit der Nationen gegenüber anderen darstellen; und die disziplinierenden Technologien, die in Gang gesetzt werden, um die Aporien dieses einen Individuums im Hinblick auf Gefahren und soziale Konflikte zu sammeln und neu zu ordnen. Der Assimilierungsprozess der Beta Israel in Israel zeigt uns die Art und Weise, in der die Selbstautorisierung und die Rechte bei den Prozessen der Emanzipation und Subalternisierung eine Rolle spielen, und wie die Subalternisierung trotz oder sogar gerade wegen des Zugangs zu Rechten und zu einer neuen Form der Selbstbestimmtheit des Subjekts herbeigeführt werden kann, wobei aber dessen Selbstautorisierung grundlegend negiert wird. Das Interpretationsmuster, das ich abschließend vorschlagen möchte, basiert auf dem Konzept und auf den Praktiken, die im Subjektivierungsprozess im Sinne von Modernisierung ablaufen, und orientiert sich an einer philosophischen Infragestellung der Konzepte der Selbstautorisierung, der Hegemonie und der Subalternität. Die Herangehensweise, die hier einen Rahmen bildet, jedoch nicht weiter ausgeführt werden kann, ist die einer theoretischen und praktischen Reflexion zum Diskurs der Justiz, die durch den politisch-modernen Diskurs neutralisiert und über den Weg der Befreiungspraktiken aktualisiert werden könnte, wobei das Konzept der Justiz an Befreiungspraktiken und an die Selbstautorisierung des Subjekts geknüpft wird. Mit Selbstautorisierung meine ich die Fähigkeit des Subjekts, Autor seiner eigenen Handlungen, also gleichzeitig sowohl Autor als auch Akteur zu sein, und definiere sie im Gegensatz zur Autorisation, die ein Konstitutionsprozess der Autorität ist, bei dem sich jeder seit dem Gesellschaftsvertrag als Autor der Handlungen des Akteurs erkennt, bzw. der öffentlichen Person desjenigen, der einen Teil dieser Person repräsentiert und das Dispositiv konstituiert, das von der modernen politischen Repräsentanz aktiviert worden ist. Im Gegensatz dazu greife ich auf eine Definition der Subalternität als Negation der Selbstautorisierung zurück, also als Negation der (politischen) Hand-

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lungsfähigkeit, die sich lediglich in den Formen des modernen Rechtssubjekts darstellt; eine Spaltung – um es mit den Worten Hannah Arendts (vgl. Arendt 1958) zu sagen – zwischen Diskurs und Handlung, die auf dem modernen Konzept von Gleichheit basiert, in dem das Verhalten die Handlung als primäre Modalität der zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzt hat, eine Beziehung, die sich auf Gewalt gründet. Aus dem Italienischen von Sainab Sandra Omar

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Autorinnen und Autoren

Laura Bazzicalupo (Prof. Dr. phil.) lehrt politische Philosophie an der Universität Salerno und ist Vorsitzende der Società italiana di Filosofia politica. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitische Gouvernementalität, Darstellung und politisches Subjekt | Publikationen (Auswahl): Eroi della libertà (2011), Biopolitica. Una mappa concettuale (2010), Superbia. La passione dell’essere (2008), Il governo delle vite. Biopolitica e economia (2006), Politica identità potere (2004) | Zusammenarbeit mit folgenden Zeitschriften: Diacritics, Filosofia politica, Ragion pratica, Iride. Thomas Bedorf (Prof. Dr. phil.) lehrt Philosophie an der Fernuniversität Hagen. | Forschungsschwerpunkte: Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Phänomenologie, Alterität und Intersubjektivität, Französische Philosophie der Gegenwart | Publikationen (Auswahl): Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie (2011), Die Französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch (Mithg., 2009), Das Politische und die Politik (Mithg., 2010), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts (Mithg., 2012). Manfredi Bernardini promoviert in Kulturwissenschaften an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Literaturwissenschaft, Irish Studies, Border Studies, Studien zu Theater und Performanz, Postcolonial Studies, Übersetzungswissenschaften | Publikationen (Auswahl): »Irishness Troubles: trasformazioni dell’identità irlandese nelle performance della Field Day Theatre Company« (in: Mantichora I.1, 2011), »Identità, attraversamenti e ibridismi nell’opera di Joseph O’Connor« (in: Between I.1, 2011). Jörg Bernardy, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. | Promotionsprojekt in der Philosophie zur literarischen Artikulationsform und dem genealogischen Blick bei Parmenides, Foucault und Wittgenstein | Forschungsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Sozialphilosophie, Gesellschafts- und Medientheorie, Ästhetik, Französische Philosophie, Philosophy of  Communication | Publikationen (Auswahl): Kulturphilosophie, Diskursanalyse und Alterität bei Michel Foucault und

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D IE K UNST , DAS L EBEN ZU » BEWIRTSCHAFTEN «

Michel de Certeau. Sonderheft von Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte (Mithg., 2012). Vittoria Borsò (Prof. Dr. phil.) lehrt romanistische Literatur-und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitik, Bio-Poetik und Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien, Ästhetik von Visualität und Schrift, Iberian Postcolonialities, Literatur und Kultur Mexikos | Publikationen (Auswahl): Das andere denken, schreiben, sehen. Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (2008), Benjamin – Agamben. Politics, Messianism und Kabbalah (Mithg., 2010); Transkulturation. Literarische und mediale Grenzräume im deutsch-italienischen Kulturkontakt (Mithg., 2007), Topografia dell’estraneo. Confini e passaggi (Mithg., 2006), Unidad y pluralidad de la cultura latinoamericana (Mithg., 2006), Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien (Mithg., 2004), Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen (Mithg., 2001). Zahlreiche Aufsätze zu Literatur-, Kultur- und Medientheorie sowie zu den Literaturen Europas (Frankreich, Italien, Spanien) und Lateinamerikas. Sieglinde Borvitz (Jun.-Prof. Dr. des.) lehrt romanistische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Übersetzerin. | Forschungsschwerpunkte: Biopolitik und Gouvernementalitätsstudien, Visuelle Kultur und Medienästhetik, Transgressives Schreiben, Europäisches Kino, Italienische und französische Literatur des 19. und 20. Jh. | Publikationen (Auswahl): Figurationen des Anderen (Mithg., 2011), Controcorrente. Die kruden Visionen von Ciprì und Maresco (2013). Michele Cometa (Prof. Dr. phil.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte (u.a. Goethezeit, Hoffmann, Romantik), Visuelle Kultur, Theorie der Bild- und Kunstbeschreibung, Reiseliteratur | Publikationen (Auswahl): Il Romanzo dell’Architettura. La Sicilia e il Grand Tour nell’età di Goethe (1999), Il demone della redenzione. Tragedia, mistica e cultura da Hebbel a Lukács (1999), Dizionario degli studi culturali, (Mithg., 2004), Parole che dipingono. Letteratura e cultura visuale tra Settecento e Novecento, 2004, Visioni della fine. Apocalissi, catastrofi, estinzioni (2004), Descrizione e desiderio. I quadri viventi di E. T. A. Hoffmann (2005), L’età di Goethe (2005), Lo sguardo di Foucault (Mithg., 2007), Vedere. Lo sguardo di E. T. A. Hoffmann (Mithg., 2009), L’età classico-romantica (2009), Studi culturali (2010), La scrittura delle immagini. Letteratura e cultura visuale (2012), Mistici senza Dio (2012). Roberto Giambrone (Dr. phil.) ist Journalist, Theater- und Tanzkritiker, leitet die Presseabteilung und Öffentlichkeitsarbeit des Teatro Biondo in Palermo. |

A UTORINNEN UND A UTOREN

Publikationen (Auswahl): Pina Bausch. Le coreografie del viaggio (2008), Le trame di don Chisciotte (Hg., 2005), L’Opera dei Pupi dalla piccola alla grande scena (Hg., 2008), Le trame di don Chisciotte (Hg., 2005), Scenari del Novecento/Vision du Vingtième Siècle (Hg., 2009), Pietro Carriglio. Un teatro di immagini (Hg., 2012). Er leitet zusammen mit Eugenia Casini Ropa die Reihe »Danza d’autore« für das Verlagshaus L’Epos in Palermo | Zusammenarbeit mit folgenden Zeitungen und Zeitschriften: La Repubblica – Palermo, Danza & Danza, Engramma, Danza & Ricerca, Il Manifesto, Liberazione, Teatro e Critica. Christian Marazzi (Prof. Dr. oec.) lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Scuola Universitaria Professionale della Svizzera Italiana in Lugano. | Forschungsschwerpunkte: Arbeitsmarkttransformationen, Wirtschafts- und Finanzwesen, Währungssysteme | Publikationen (Auswahl): Sozialismus des Kapitals (2012), Verbranntes Geld (2011), Il comunismo del capitale. Biocapitalismo, finanziarizzazione dell’economia e appropriazione del comune (2010), Capitale e Linguaggio (2002), Fetisch Geld (1999), Der Stammplatz der Socken (1998). Danilo Mariscalco (Dr. phil.), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kultur-, Medien- und Kunstwissenschaften der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Kommunikative und kulturelle Praktiken von Widerstandsbewegungen, Kognitiver Kapitalismus, Visuelle Kultur, Sozialgeschichte der Kunst | Publikationen: »Considerazioni intorno l’opera e l’attività di impegno civile e politico degli artisti siciliani fra i moti del ’48 e l’esperienza dei Fasci dei lavoratori« (in: G. Barbera/M. C. Di Natale (Hg.): Itinerari d’arte in Sicilia, Mailand: Graphein 2012, S.  333-341), »La critica radicale tra previsione concreta e regolazione capitalistica. Considerazioni sull’efficacia specifica del movimento del ’77 nel processo di affermazione della ›società dello spettacolo‹« (in: www. studiculturali.it 1, 2012). Federica Marzi (Dr. phil.) lehrt Deutsch und Italienisch. | Forschungsschwerpunkte: Neuere österreichische Literatur, Triestinische Literatur, Theorie der Geschlechterdifferenz, Migrationsliteratur, Übersetzungstheorie, Interkulturelle Literatur | Publikationen (Auswahl): »Maschile e femminile nella lirica di Ingeborg Bachmann« (in: Prospero, Rivista di Letterature Straniere, Comparatistica e Studi Culturali, 2002), »Topographien der Fremde in einer littérature mineure zwischen Italien und Deutschland« (in: S. Borvitz/N. Welgen (Hg.): Figurationen des Anderen, Düsseldorf: DUP, 2011, S. 91-116), »Il pretesto della legge in una letteratura in lingua diversa« (in: Between, Rivista dell’Associazione di Teoria e Storia Comparata della letteratura, 2012) | Übersetzung aus dem Deutschen: R. Lunzer, Irredenti redenti. Intellettuali giuliani del ’900 (2009).

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D IE K UNST , DAS L EBEN ZU » BEWIRTSCHAFTEN «

Valentina Mignano (Dr. phil.), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften an der Universität Palermo. | Forschungsschwerpunkte: Visuelle Kultur, Medienwissenschaften, Vergleichende Literaturwissenschaft, Studien zur Fotografie, Studien zu den Praktiken des produktiven Konsums, Fashion Studies | Publikationen (Auswahl): »Un luogo dell’immagine. Flickr e la visione collettiva on-line« (in: Culturalstudies.it, 2008), »Oshevensk, Terra di stupore, di sogni e speranze« (in: Gente di Fotografia XVI, (52)). Giorgio Sciabica, Übersetzer, promoviert in Kulturwissenschaften an der Universität Palermo zur Verschränkung von Biopolitik und Postkolonialismus. | Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische Philosophie, Dekonstruktivismus, Postkoloniale Theorie | Mitarbeit an der Publikation Pensare altrimenti (hg. v. Salvo Vaccaro, 2011). Giorgia Serughetti (Dr. phil.) arbeitet mit dem Fachbereich Sociologia e Ricerca Sociale der Universität di Milano-Bicocca zusammen. | Forschungsschwerpunkte: Prostitution, Gender Studies, Immigration, Grenzen | Publikationen (Auswahl): »Crisi d’Identità alle porte d’Europa« (in: Trickster, (9), 2010), »Prostituzione e mobilità. Sconfinamenti e confinamenti nella città contemporanea« (in: DWF – Donna, Woman, Femme, (2), 2011, S. 71-78), »Immigrazione, tratta e prostituzione in Sicilia« (in: G. Candia/F. Gareffa (Hg.): Migrazioni, tratta e sfruttamento sessuale in Sicilia e Calabria, Mailand: FrancoAngeli 2011, S. 31-41), Uomini che pagano le donne. Genere, potere e mobilità nel mercato del sesso contemporaneo (Roma: Ediesse, im Druck). Tiziana Urbano (Dr. phil.) | Forschungsschwerpunkte: Kabarett und Politik in der Nachkriegszeit zwischen Selbstkritik und Normierung der Kritik, Semiotik des Performativen, Musikwahrnehmung als Performance, Cultural studies, Anerkennung und Identity, Border studies, Raumtheorie | Publikationen: »Un Orfeo nella Repubblica Democratica Tedesca« (in: culturalstudies.it, 2008), Orfeo nella Chausseestrasse. Un’analisi di Wolf Biermann cant(aut)ore« (in: Annali della Facoltà di Lingue e Letterature Straniere, III serie, 2007-2008/XIX), »Voci dai margini. La Kanak Sprak di Feridun Zaimoglu« (in: www.between-journal. it, 2011), »Satire nach Plan. Das Beispiel der Berliner ›Distel‹« (in: Treibhaus 8, im Druck). Angela Weber (Dr. phil.) lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. | Forschungsschwerpunkte: Migration, Konzepte des Fremden, Transkulturalität, Intermediales ästhetisches Handeln, Animal Studies | Publikationen (Auswahl): Im Spiegel der Migrationen. Transkulturelles Erzählen und Sprachpolitik bei Emine Sevgi Özdamar (2008).

A UTORINNEN UND A UTOREN

Nicole Welgen (M.A.),  Publizistin, promoviert zu Literatur und Terrorismus in Italien und der Bundesrepublik Deutschland, im Rahmen des binationalen Promotionsprogramms Interkulturalität und Kommunikation der Universitäten Düsseldorf und Triest. | Forschungsschwerpunkte: Literatur und Politik, Italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gedächtnistheorien, Generationenforschung | Publikationen: Figurationen des Anderen (Mithg., 2011), »Ich ist eine Andere. Projektion und Bewusstwerdung in La guerra di Nora von Antonella Tavassi La Greca« (in: S. Borvitz/N. Welgen (Hg.): Figurationen des Anderen, Düsseldorf: DUP, 2011, S. 51-74), »Novels about mysteries = Mystery novels? The Years of Lead in Contemporary Italian Literature« (in: P. Buckler (Hg.): Italian Crime Writing: Fiction and Non-Fiction, Jefferson, NC: McFarland Press, im Druck).

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Kultur- und Medientheorie Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Januar 2013, 168 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Mai 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung September 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5

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Kultur- und Medientheorie Marcus S. Kleiner, Holger Schulze (Hg.) SABOTAGE! Pop als dysfunktionale Internationale April 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2210-2

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2013, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

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Kultur- und Medientheorie Michael Andreas, Natascha Frankenberg (Hg.) Im Netz der Eindeutigkeiten Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität Juni 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2196-9

Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar) April 2013, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0

Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten Dezember 2013, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2330-7

Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien Dezember 2012, 188 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information April 2013, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1983-6

Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert April 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2215-7

Bastian Lange, Hans-Joachim Bürkner, Elke Schüssler (Hg.) Akustisches Kapital Wertschöpfung in der Musikwirtschaft März 2013, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2256-0

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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