Kohelet: Der Prediger Salomo 9783666512155, 9783525512159, 9783647512150

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Kohelet: Der Prediger Salomo
 9783666512155, 9783525512159, 9783647512150

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Das Alte Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk

herausgegeben von Reinhard Gregor Kratz und Hermann Spieckermann Teilband 16,5 Kohelet

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Kohelet Der Prediger Salomo Übersetzt und erklärt von Melanie Köhlmoos

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-51215-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Spieckermann in Dank und Verbundenheit

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Vorwort Das Buch Kohelet oder „Prediger Salomo“ ist fast nur durch seine Sentenzen im allgemeinen Gedächtnis: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ (Koh 1,9) und „Alles hat seine Zeit“ (Koh 3,1) sind die bekanntesten. Als Verkünder der Flüchtigkeit allen Seins ist er vor allem im christlichen Europa rezipiert worden und hat damit nicht nur die Theologie, sondern auch die Kunst maßgeblich beeinflusst. Mit Aufklärung und Moderne begann Kohelets Faszination zu verblassen, seine bestenfalls skeptische, schlimmstenfalls pessimistische Sicht auf den Menschen und seine Möglichkeiten wurde der Auslegung und Rezeption mehr und mehr suspekt. Exemplarisch darf das Votum von Aarre Lauha stehen: „Infolge seiner dem Gottesglauben fremdartigen Grundanschauung dürfte Kohelets Schrift … in ihrer Gesamtintention kaum die Chance haben, persönliche Glaubenüberzeugung im biblischen Sinne wachzurufen und zu festigen.“1

Seit den 1990er Jahren ist Kohelet wiederentdeckt worden. Zwar bleibt sein eigentümlich unpersonales Gottesbild eine schwierige Aufgabe für die Theologie, doch bietet Kohelet mit seiner Aufforderung zur Lebensfreude im Angesicht des Todes und mit seiner Profilierung der „Gottesfurcht“ immer wieder Anknüpfungspunkte für Theologie und Glaube. Zudem ist das Buch Kohelet eine faszinierende Lektüre im Spannungsfeld zwischen Bibel und Philosophie. Ich danke dem Herausgeberkreis der Reihe „Das Alte Testament deutsch“ für die Ehre, nach Ruth (2009) nun auch Kohelet kommentiert haben zu dürfen. Mein Dank gilt außerdem allen, die am Zustandekommen des Buches beteiligt waren, namentlich Herrn Moritz Reissing vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für seine große Geduld während der Schlussphase, meinen Mitarbeiterinnen Frau Anna Beyer und Frau Melanie Bastian für die nimmermüde Lösung von Organsations- und technischen Problemen und schließlich meinem Mann, Pastor Frank Muchlinsky, der mich immer wieder ermutigte, mein „Brot übers Wasser zu schicken“ (Koh 11,1). Frankfurt am Main, Oktober 2014

Melanie Köhlmoos

1 A. Lauha, BK, 23.

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Inhalt Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . Zitierte Textausgaben . . . . . . . . . . . . Kommentare zum Buch Kohelet (Auswahl) Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . Häufig zitierte Literatur . . . . . . . . . .

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1. Auslegungs- und Wirkungsgeschichte . . . . 1.1 Kohelet im Kanon . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Hebräischer Kanon . . . . . . . . 1.1.2 Septuaginta . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Salomo-Literatur . . . . . . . . . . 1.2 Auslegungsgeschichte . . . . . . . . . . 1.2.1 Jüdische Auslegungsgeschichte . . 1.2.2 Christliche Auslegungsgeschichte 1.3 Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . .

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2. Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung . . . 2.1 Aufbau und Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Sprechakte und Programme . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Leitmotive und -begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Literarische Gattung: Das Buch Kohelet als autoritative Lehre 2.2.1 „Worte Kohelets“ (1,1; 12,10) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Königstestament (1,12 – 12,7) . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 „Sprach Kohelet“ (1,3; 12,8): Das Buch Kohelet als erzählte Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Die Salomo-Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aspekte der Salomo-Tradition . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Salomo in den Königebüchern . . . . . . . . . 3.1.2 Salomo in der Chronik . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Salomo im Proverbienbuch . . . . . . . . . . . 3.2 Salomo-Tradition und Salomo-Diskurs . . . . . . . . 3.3 Die Salomofiktion des Kohelet-Buches . . . . . . . . 3.4 Fiktion als Textstrategie: Salomo als „re-used figure“

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4. Themen und Theologie des Buches Kohelet . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Flüchtigkeit (Hæbæl) und Streben nach Wind . . . . . . .

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Inhalt

4.1.2 Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Der Sinn des Lebens: Geschick und Los 4.2 Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Gott im Buch Kohelet . . . . . . . . . . 4.2.2 Gottesfurcht und Ethik . . . . . . . . .

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5. Die Entstehung des Buches . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Der Name Kohelet . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Sprache Kohelets . . . . . . . . . . . . 5.2 Kohelet und die Weisheit . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Kohelet und die Weisheit Israels . . . . . . 5.2.2 Kohelet und die außerisraelitische Weisheit 5.3 Der zeitgeschichtliche Hintergrund . . . . . . . . 5.3.1 Der Grundbestand des Buches . . . . . . . 5.3.2 Die Bearbeitung Z . . . . . . . . . . . . . .

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6. Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschrift Koh 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichts Neues unter der Sonne (Prolog und Motto) Koh 1,2 – 11 . . Des Königs Experiment Koh 1,12 – 2,26 . . . . . . . . . . . . . . . Alles zu seiner Zeit Koh 3,1 – 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht und Gerechtigkeit Koh 3,16 – 22 . . . . . . . . . . . . . . . . Neid Koh 4,1 – 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besser Zwei als Einer Koh 4,7 – 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer wird König? Koh 4,13 – 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kult und Weisheit Koh 4,17 – 5,6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Recht, Macht, Gerechtigkeit Koh 5,7 – 8 . . . . . . . . . . . . . . . Was bleibt vom Reichtum? Koh 5,9 – 6,9 . . . . . . . . . . . . . . . Gut und besser Koh 6,10 – 7,14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles in Maßen? Koh 7,15 – 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was Kohelet nicht fand Koh 7,23 – 29 . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wort des Königs Koh 8,1 – 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerechte und Frevler Koh 8,9 – 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Werk Gottes Koh 8,16 – 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ergebnis der Forschung Koh 9,1 – 10 . . . . . . . . . . . . . . Nicht die Schnellen gewinnen das Rennen Koh 9,11 – 12 . . . . . . Sprüche Kohelets Koh 9,13 – 10,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenskunst Koh 11,1 – 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Süß ist das Licht Koh 11,7 – 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto) Koh 11,9 – 12,8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort Koh 12,9 – 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausgewählte Literatur Zitierte Textausgaben A. Schenker u. a. (Hg.), Biblia Hebraica quinta editione com apparatu critico novis curis elaborato. Megilloth, Stuttart 2004 (BHQ) K. Elliger/W. Rudolph (Hg.), Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 1997 (BHS) R. Hanhart, Septuaginta. Id es Vetus Testamentum graece iuxta LXX interpretes edidit Alfred Rahlfs, Stuttgart 2006 E. L vine, The Aramaic Version of Qohelet, New York 21981

Kommentare zum Buch Kohelet (Auswahl) AB: C.-L. Seow, 1997; ATD: W. Zimmerli, 31980; BK: A. Lauha, 1978; BK Sonderband: T. Krüger, 2000; CBC: J.A. Fischer, 1986; HAT: K. Galling, 21969; HSAT: A. Allgeier, 1925; HThKAT: L. Schwienhorst-Schönberger, 2004; ITC: K.A. Farmer, 1991; KAT: H.W. Hertzberg, 21963; NEB: N. Lohfink, 31998; NICOT: E.Huwyler/R.E. Murphy 1999; NICOT: T. Longman III, 1998; OTL: J.L. Crenshaw 1987; ZüBK: A. Schellenberg, 2013

Weitere Literatur Y. Amir, Doch ein griechischer Einfluss auf das Buch Kohelet?, in: Ders., Studien zum antiken Judentum, Frankfurt/Main 1985 (BEATJ 2), 35 – 50; F. J. Backhaus, Qohelet und Sirach: BN 69 (1993), 32 – 55; F. J. Backhaus, Der Weisheit letzter Schluß? Qoh 12,9 – 14 im Kontext von Traditionsgeschichte und beginnender Kanonisierung: BN 72 (1994), 28 – 59; F.J. Backhaus, Die Pendenskonstruktion im Buch Qohelet: ZAH 8 (1995), 1 – 30; F.J. Backhaus, Qohelet und der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang: BN 89 (1997), 30 – 61; F.J. Backhaus, Widersprüche und Spannungen im Buch Qohelet. Zu einem neueren Versuch, Spannungen und Widersprüche literarkritisch zu lösen, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997 (BZAW 254), 124 – 154; F.J. Backhaus, Kohelet und die „Diatribe“: Beobachtungen zu einem ausstehenden Stilvergleich: BZ 42 (1998), 248 – 256; C.J. Bartholomew, Reading Ecclesiastes. Old Testament Exegesis and Hermeneutical Theology, Rom 1998; R.

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Ausgewählte Literatur

Bohlen, Kohelet im Kontext hellenistischer Kultur, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997 (BZAW 254), 240 – 274; R. Brandtscheidt, Weltbegeisterung und Offenbarungsglaube. Literar-, form- und traditionsgeschichtliche Untersuchung zum Buch Kohelet, Trier 1999 (TThSt 64); Klara Butting, Die Buchstaben werden sich noch wundern. Innerbiblische Kritik als Wegweisung feministischer Hermeneutik, Berlin 1993; R.W. Byargeon, The Significance of Ambiguity in Ecclesiastes 2,24 – 26, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 368 – 372; E.S. Christianson, A Time to Tell. Narrative Strategies in Ecclesiastes, Sheffield 1998 (JSOT.S 280); E.S. Christianson, Qohelet and the/his Self among the Deconstructed, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 425 – 433; J.L. Crenshaw, Qohelet’s Understanding of the Intellectual Inquiry, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 205 – 224; F. Crüsemann, Die unveränderbare Welt. Überlegungen zur „Krisis der Weisheit“ beim Prediger (Kohelet), in: W. Schottroff/W. Stegemann (Hg.), Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Bd. 1, Altes Testament, München 1979, 80 – 104; C. Dohmen, Der Weisheit letzter Schluß? Überlegungen zur Übersetzung und Bedeutung von Koh 12,9 – 14: BN 63 (1992), 12 – 18; F. Ellermeier, Qohelet. Teil I. Abschnitt I, Untersuchungen zum Buche Qohelet, Herzberg 1967; F. Ellermeier, Qohelet. Teil I. Abschnitt II, Einzelfrage Nr. 7, Herzberg 1970; A. A. Fischer, Beobachtungen zur Komposition von Koh 1,3 – 3,15: ZAW 103 (1991), 72 – 86; A. A. Fischer, Kohelet und die frühe Apokalyptik. Eine Auslegung von Koh 3:16 – 21, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 339 – 356; M.V. Fox, The Meaning of Hebel for Qohelet: JBL 105 (1986), 409 – 427; M.V. Fox, Qohelet and his Contradictions, Sheffield 1989 (JSOT.S 71); M. V. Fox, The Inner Structure of Qohelet’s Thought, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 225 – 238; R. Gordis, The Wisdom of Koheleth. A New Translation with a Commentary and an Introduction, New York 3 1968; J. Jarick, An „Allegory of Age“ as Apocalypse (Ecclesiastes 12:1 – 7): Colloquium 22 (1990), 19 – 27; J. Jarick, The Hebrew Book of Changes. Reflections on hakkol hebel and lakkol zeman in Ecclesiastes: JSOT 90 (2000), 79 – 99; O. Kaiser, Beiträge zur Kohelet-Forschung. Eine Nachlese: ThR 60, 1 – 31.233 – 253; O. Kaiser, Die Botschaft des Buches Kohelet, in: Ders. Gottes und der Menschen Weisheit, Berlin/New York 1998 (BZAW 261), 126 – 148; O. Kaiser, Kohelet. Das Buch des Predigers Salomo. Übersetzt und eingeleitet, Stuttgart 2007; N. Kamano, Character and Cosmology. Rhetoric of Qoh 1:3 – 3:9, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 419 – 424; Y. V. Koh, Royal Autobiography in the Book of Qoheleth, Berlin/New York 2006 (BZAW 369); K. Koenen, Zu den Epilogen des Buches Kohelet: BN 72 (1994), 24 – 27; T. Krüger, Theologische Gegenwartsdeutung im Buch Kohelet, München 1990; T. Krüger, Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik im Alten Testament, Zürich 1997; T. Krüger, Qoh 2,24 – 26 und die Frage nach dem „Guten“ im Qohelet-Buch: BN 72 (1994), 70 – 84; F. Kutschera, Kohelet: Leben angesichts des Todes, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Re-

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Ausgewählte Literatur

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zeption und Theologie, Berlin/New York 1997 (BZAW 254), 363 – 373; J.A. Loader, Kohelet 3,2 – 8 – ein „Sonett“ im Alten Testament, in: Ders., Begegnung mit Gott. Gesammelte Studien im Bereich des Alten Testaments, Frankfurt/Main 2001 (WAS 3), 5 – 8; N. Lohfink, Studien zu Kohelet, Stuttgart 1998 (SBAB 26); N. Lohfink, Zu einigen Satzeröffnungen im Epilog des Koheletbuches, in: A. A. Diesel u. a. (Hg.), „Jedes Ding hat seine Zeit…“ Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit (FS D. Michel), Berlin/New York 1996 (BZAW 241), 131 – 147; O. Loretz, Zur Darbietungsform der „Ich-Erzählung“ im Buch Qohelet: CBQ 25 (1963)46 – 59; O. Loretz, Qohelet und der Alte Orient. Untersuchungen zu Stil und theologischer Thematik des Buches Qohelet, Freiburg 1964; O. Loretz, Poetry and Prose in the Book of Qohelet (1:3 – 3,22; 7:23 – 8:1; 9:6 – 10; 12:8 – 14), in: J.C. de Moor/W.G.E. Watson (Hg.), Verse in Ancient Near Eastern Prose, Neukirchen-Vluyn 1993, 155 – 189; D. Michel, „Unter der Sonne“. Zur Immanenz bei Kohelet, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 93 – 111; H.-P. Müller, Theonome Skepsis und Lebensfreude. Zu Koh 1,12 – 3,15: BZ 30 (1986), 1 – 19; H.-P. Müller, Der unheimliche Gast. Zum Denken Kohelets, in: Ders., Mensch – Umwelt – Eigenwelt. Gesammelte Aufsätze zur Weisheit Israels, Stuttgart 1992, 169 – 193; H.-P. Müller, Travestien und geistige Landschaften. Zum Hintergrund einiger Motive bei Kohelet und im Hohenlied: ZAW 109 (1997), 557 – 574; H.-P. Müller, Das Ganze und seine Teile. Anschlusserörterungen zum Wirklichkeitsverständnis Kohelets: ZThK 97 (2002), 147 – 163; M. Rose, Rien de nouveau. Novelles approches du livre de Qoh leth, Freiburg/Göttingen 1999 (OBO 168); A. Schoors, Qohelet: A Book in a changing society : OTE 9 (1996), 68 – 87; L. Schwienhorst-Schönberger, Nichts Neues unter der Sonne. Zehn Jahre Kohelet-Forschung (1987 – 1997): ThREv 94 (1998), 363 – 376; L. Schwienhorst-Schönberger, Via Media. Koh 7,15 – 18 und die griechisch-hellenistische Philosophie, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 181 – 203; L. Schwienhorst-Schönberger, Neuere Veröffentlichungen zum Buch Kohelet (1998 – 2003): ThLZ 128 (2003), 1123 – 1138; L. Schwienhorst-Schönberger, Buch der Natur. Koh 12,5 und die Rückkehr des Lebens, in: Ders., Studien zum Alten Testament und seiner Hermeneutik, Stuttgart 2005 (SBAB 40), 209 – 222; C.-L. Seow, Qohelet’s eschatological poem: JBL 118 (1999), 208 – 234; A.J.C. Verheij, Paradise Retried. On Qohelet 2: 4 – 6: JOST 50 (1991), 113 – 115; A. Vonach, Gottes Souveränität anerkennen. Zum Verständnis der „Kanonformel“ in Koh 3,14, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 391 – 398; A: Vonach, Das Dilemma der Vergänglichkeit – Ein Beitrag zum Verständnis der Wortwurzel @58 bei Kohelet, in: M. Augustin/H.M. Niemann (Hg.), Basel und Bibel. Collected Communications tot he XVIIth Congress of the International Organization for the Study oft he Old Testament, Basel 2001, Bern 2004 (BEATJ 51), 229 – 233; H.M. Wahl, Zweifel, Freude und Gottesfurcht als Glaubensgewissheit. Zum aspektivischen Denken Kohelets: ThZ 56 (2000), 1 – 20; R.N. Whybray, Qohelet as Theologian, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 239 – 265.

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Ausgewählte Literatur

Häufig zitierte Literatur F.J. Backhaus, Zeit

F. J. Backhaus, „Denn Zeit und Zufall trifft sie alle“. Studien zur Komposition und zum Gottesbild im Buch Qohelet, Frankfurt/Main 1993 (BBB 83) F. J. Backhaus, Nichts F. J. Backhaus „Es gibt nichts Besseres für den Menschen“ (Koh 3,22). Studien zur Komposition und zur Weisheitskritik Besseres im Buch Kohelet, Berlin 1998 (BBB 121) R. Braun, Kohelet R. Braun, Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie, Berlin 1973 (BZAW 130) D. Dieckmann, Worte D. Dieckmann, „Worte von Weisen sind wie Stacheln“. (Koh 12,11) Eine rezeptionsorientierte Studie zu Koh 1 – 2 und zum Lexem L57 im Buch Kohelet, Zürich 2012 (AThANT 103) A. A. Fischer, Skepsis, A. A. Fischer, Skepsis oder Furcht Gottes? Studien zur Komposition und Theologie des Buches Kohelet, Berlin 1997 (BZAW 247) S. Fischer, Aufforderung S. Fischer, Die Aufforderung zur Lebensfreude im Buch Kohelet und seine Rezeption der ägyptischen „Harfnerlieder“, Frankfurt/Main 1999 (WAS 2) M.V. Fox, Frame-narrative M.V. Fox, Frame-narrative and composition in the Book of Kohelet: HUCA 48 (1977), 83 – 106 M.V. Fox, Identification M. V. Fox, The Identification of Quotations in Biblical Literature: ZAW 92 (1980), 416 – 431 M.V. Fox, Time M.V. Fox, A Time to Tear Down and a Time to Build Up. A Rereading of Ecclesiastes, Grand Rapids 1999 M. Hengel, Judentum M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., Tübingen 1969 (WUNT 10) C. Klein, Kohelet C. Klein, Kohelet und die Weisheit Israels. Eine formgeschichtliche Studie, Stuttgart/Berlin/Köln 1994 (BWANT 132) T. Krüger, Dekonstruktion T. Krüger, Dekonstruktion und Rekonstruktion prophetischer Eschatologie im Qohelet-Buch, in: A. A. Diesel u. a. (Hg.), „Jedes Ding hat seine Zeit…“. Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit (FS D. Michel); Berlin/ New York 1996 (BZAW 241), 106 – 129 J.A. Loader, Polar J.A. Loader, Polar Structures in the Book of Qohelet, Berlin Structures 1979 (BZAW 152) N. Lohfink, Strukturen N. Lohfink, Das Koheletbuch: Strukturen und Struktur, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/ New York 1997 (BZAW 254), 39 – 121 R. Lux, Fiktion R. Lux, „Ich, Kohelet, bin König…“ Die Fiktion als Schlüssel zur Wirklichkeit in Kohelet 1,12 – 2,26: EvTh 50 (1990), 331 – 334 J. Marböck, Kohelet und Sirach, in: L. Schwienhorst-SchönJ. Marböck, Kohelet

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Ausgewählte Literatur

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berger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997 (BZAW 254), 275 – 301; D. Michel, Qohelet D. Michel, Qohelet, Darmstadt 1988 (EdF 258) D. Michel, D. Michel, Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet. Untersuchungen Mit einem Anhang von Reinhard G. Lehmann, Berlin/New York 1989 (BZAW 183) H.-P. Müller, Wie sprach Qohälät von Gott?: VT 18 (1968), H.-P. Müller, Qohälät 507 – 521 A. Reinert, Salomofiktion A. Reinert, Die Salomofiktion. Studien zur Struktur und Komposition des Koheletbuches, Neukirchen-Vluyn 2010 (WMANT 126) A. Schellenberg, A. Schellenberg, Erkenntnis als Problem. Qohelet und die Erkenntnis alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen, Freiburg/Göttingen 2002 (OBO 188) A. Schoors, Preacher 1, A. Schoors, The Preacher Sought to Find Pleasing Words. A Study of the Language of Qoheleth. Part 1. Grammar, Leuven 1992 (OLA 41) A. Schoors, Preacher 2, A. Schoors, The Preacher Sought to Find Pleasing Words. A Study of the Language of Qoheleth. Part 2. Vocabulary, Leuven 2004 (OLA 43) L. Schwienhorst-Schönberger, „Nicht im Menschen gründet L. Schwienhorstdas Glück“ (Koh 2,24). Kohelet im Spannungsfeld jüdischer Schönberger, Nicht im Menschen Weisheit und hellenistischer Philosophie,, Freiburg 1994 (HBS 2) H. Spieckermann, Bildung H. Spieckermann, Bildung – Gottesfurcht – Gerechtigkeit. Die Prologe der Weisheitsbücher, in: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, Tübingen 2014 (FAT 91), 41 – 54 H. Spieckermann, Suchen H. Spieckermann, Suchen und Finden. Kohelet, in: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, Tübingen 2014 (FAT 91), 93 – 115 H. Spieckermann, Weise H. Spieckermann, Der betende Weise. Jesus Sirach, in: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, Tübingen 2014 (FAT 91), 116 – 140 C. Uehlinger, Qohelet C. Uehlinger, Qohelet im Horizont mesopotamischer, levantinischer und ägyptischer Weisheitsliteratur der persischen und hellenistischen Zeit, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Buch Qohelet. Studien zu Struktur, Geschichte, Rezeption und Theologie, Berlin/New York 1997 (BZAW 254), 155 – 247 A. Vonach, Nähere Dich, um zu hören. Gottesvorstellung und A. Vonach, Nähere dich Glaubensvermittlung im Koheletbuch, Berlin 1999 (BBB 125)

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T. Zimmer, Tod

Ausgewählte Literatur R.N. Whybray, The Identification and Use of Qutations in Ecclesiastes, in: R.B. Zuck (Hg.), Reflecting with Solomon. Selected Studies on the Book of Ecclesiastes, Eugene 2003, 185 – 202 T. Zimmer, Zwischen Tod und Lebensglück. Eine Untersuchung zur Anthropologie Kohelets, Berlin/New York 1999 (BZAW 286)

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1. Auslegungs- und Wirkungsgeschichte 1.1 Kohelet im Kanon 1.1.1 Hebräischer Kanon Das Buch Kohelet ist verfasst worden, als noch kein Kanon „Heiliger“ Schriften des Judentums festlag. Wohl aber gab es im 3. Jh. bereits eine Sammlung normativer Schriften, die Glaube und Leben verbindlich regeln: Das ist mit Sicherheit anzunehmen für Tora und Propheten, die ihre (vorläufige) Endgestalt zwischen dem 5. und dem 3. Jh. v. Chr. erhielten. Wahrscheinlich lag Kohelet auch schon das Proverbienbuch in seiner Endgestalt vor, wohingegen Psalter und Chronik eher gleichzeitig mit Kohelet anzusetzen sind. Das Buch Kohelet spiegelt selbst Diskurse und Prozesse, die ins Vorfeld der Entstehung eines Kanons gehören: Welcher Diskurs ist aufgrund welcher Maßstäbe und aufgrund wessen Autorität für Israel bzw. das Judentum normativ? Vor allem die Tora wurde zum Maßstab der „Kanontauglichkeit“ einer Schrift: Eine Schrift muss sich auf die Tora beziehen lassen, um als normativ/ kanonisch gelten zu können. Die Anordnungsstruktur der Hebräischen Bibel in ihrer Endfassung spiegelt dieses hermeneutische Prinzip bis heute.1 Deswegen ist der Autoritätsdiskurs der frühhellenistischen Zeit hauptsächlich ein Mosediskurs. Die reale oder angenommene Entstehungszeit der Schrift spielt eine zweite Rolle. Nach der Kanontheorie des Flavius Josephus aus dem 1. Jh. n. Chr. reichen die Bücher der heiligen Geschichte „von Mose bis Artaxerxes“2. Aus diesem Grund firmieren die Prophetenbücher als Texte aus dieser Zeit. Kohelet als Buch und als Diskursgründer verortet sich zwar in der Zeit, die eine Schrift kanontaulich macht, hält aber eine argumentative Distanz zur Tora. Die im dritten Teil der Hebräischen Bibel versammelten Bücher, die sog. „Schriften“ (Ket b m)3 haben – mit Ausnahme des Psalters – ihre Anerkennung als normative Schriften erst nach dem 2./1. Jh. v. Chr. erhalten, zum Teil in noch späterer Zeit.4 Kohelet gehört zu den Schriften, deren „kanonischer“ 1 2 3 4

Vgl. dazu ausführlich E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 21 – 25. Jos Contr Ap. I,8. Hi, Pss, Prv, Koh, Hld, Ruth, Klgl, Esr, Neh, Dan, Chr, Est. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Judentum niemals eine allgemein verbindliche Entscheidung über den Umfang des Kanons getroffen hat. Die Entwicklung, die dazu führte, dass am Ende die 39 Schriften als ausschließlich verbindlich anerkannt wurden, lässt sich nur hypothetisch erschließen. Vgl. zur Diskussion ausführlich: P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das

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Auslegungs- und Wirkungsgeschichte

Charakter noch lange umstritten war. Einerseits zählt der babylonische Talmud (bBabBat 14b) Kohelet unter die Schriften. Andererseits findet sich ebenfalls im babylonischen Talmud (bShab 30b) die Notiz, dass „die Weisen das Buch Kohelet zu verbergen suchten, weil sie darin Worte der Ketzerei fanden“.5 Dieselbe Diskussion für und wider Kohelet spiegelt die etwas frühere Mischna (mJad 3,5), obwohl dort die Entscheidung für Kohelet als kanonisches Buch im Großen und Ganzen schon gefallen ist. Zwischen dem 1. und dem 5. nachchristlichen Jahrhundert war die Kanonizität Kohelets im Judentum also noch umstritten. Die Gründe dafür liegen teils im Buch selbst, teils in theologischen Entwicklungen nach der Abfassung des Buches begründet. Kohelet selbst steht der Tora eher distanziert gegenüber. Auch seine Relativierung von Gerechtigkeit und Frevel macht das Buch Kohelet für das frühe Judentum schwer rezipierbar. Gegenüber der Eschatologie grenzt sich Kohelet ab; nach der Abfassung des Buches entwickelt sich die Hoffnung auf eine kommende Welt samt Auferstehung der Toten zu einem der Kernbestände jüdischer Theologie. Dass Kohelet angesichts dieser Eigenarten doch in den Hebräischen Kanon gelangte, verdankt sich der Salomofiktion: Die jüdische Tradition liest Kohelet als „salomonisches“ Buch und hat daher Möglichkeiten gefunden, ihn in den Kanon zu integrieren.6 Das Judentum hat seine kanonischen Bücher lange Zeit in Form der Rolle überliefert, wobei die einzelnen Bücher auf einzelne Rollen geschrieben wurden. Die Reihenfolge der Bücher hat daher im Judentum eine wesentlich geringere Bedeutung als im auf das Buch zentrierten Christentum. Die früheste „Liste“ kanonischer Bücher, bBabBat 14b, gibt folgende Reihenfolge der Ket b m: Ruth – Pss – Hi – Prv – Koh – Hld – Klgl – Dan – Est – Esr(+Neh) – Chr. Der Sinn dieser Anordnung ist bis heute umstritten7, die drei „salomonischen“ Bücher Prv, Koh, Hld bilden darin aber eine Reihe. Seit dem 6. Jh. n. Chr. ist der Brauch belegt, bestimmten jüdischen Festen Bücher aus dem Kanonteil Ket b m als liturgischen Text zuzuordnen. Kohelet ist die Festrolle (Megilla¯h) für das Laubhüttenfest (Sukk t). Seit der Etablierung dieser Tradition gibt es sowohl Bibelausgaben, die die fünf Megillot (außer Koh noch Ruth, Hld, Klgl, Est) zusammenfassen und solche, die sie weiterhin – nach unterschiedlichen Prinzipien – innerhalb des Kanonteils Ket b m anordnen. Hierbei gibt es keine festgelegten Regeln.8 In der wissenschaftlichen Standardausgabe der Hebräischen Bibel, der Biblia Hebraica Stuttgartensia, steht Kohelet zwischen zwischen Hld und Klgl; hier sind die

5 6 7 8

Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel, Berlin/Wien 2001 (BBB 131), 43 – 124. Vgl. dazu D. Dieckmann, Worte, 30. Vgl. D. Dieckmann, Worte, 29 – 34. Vgl. R. Brandt, Endgestalten, 63 – 66. Dazu ausführlich Ders., A.a.O., 148 – 171.

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Kohelet im Kanon

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Megillot in der Reihenfolge des liturgischen Jahres zwischen Prv und Dan gefügt.9 1.1.2 Septuaginta „Die griechische Übersetzung von Koh stellt eine extrem wortgetreue Wiedergabe der hebr. Vorlage dar, die bis in die Syntax hinein oft gegen alle Regeln der griech. Syntax die hebr. Syntax abbildet.“10 Möglicherweise handelt es sich bei der vorliegenden griechischen Fassung um eine rabbinische Rezension einer früheren Übersetzung.11 Wahrscheinlich wurde diese Fassung um das 2. Jh. n. Chr. angefertigt.12 Noch Hieronymus weiß im späten 4. Jh. n Chr. von zwei griechischen Übersetzungen Kohelets.13 Trotz der extrem wörtlichen Übersetzung zeigt KohLXX einige markante Unterschiede gegenüber dem hebräischen Text. Die menschliche Bosheit – im hebräischen Text nur ein Nebengedanke – hat in 7,17.27; 8,10 – 12 einen größeren Stellenwert, das göttliche Gericht wird stärker betont (3,15 – 18; 11,9; 12,13 f.). Die griechische Lesart von 2,16 bezeugt, dass der Weise nicht gleich dem Toren stirbt, „wobei aber offen bleibt, ob es für den Weisen ein Andenken oder eine postmortale Existenz gibt“.14 KohLXX vereinheitlicht den semantisch schillernden Begriff hæbæl und liest konsequent matai tes, „Leere“. Diese Übersetzung hat maßgeblich auf die christliche Rezeption des Buches eingewirkt. In der Textüberlieferung der Septuaginta steht das Buch Kohelet bei den „poetischen“ Büchern in der Mitte der Sammlung. Die interne Reihenfolge der drei „salomonischen“ Bücher Prv – Koh – Hld liegt dabei fest.15

1.1.3 Salomo-Literatur Die reichhaltige frühjüdische Literatur nach und neben den alttestamentlichen Schriften macht – soweit erkennbar – keinen nennenswerten Gebrauch vom Buch Kohelet. Gleichwohl zeigt sich, dass Themen und Formen, die im Buch Kohelet im Rahmen der Salomofiktion verhandelt werden, gleichzeitig mit Kohelet und danach in Verbindung mit Salomo weitere Bücher generierten. 9 Ders., A.a.O., 170 f. 10 F.J. Backhaus, Kohelet/Prediger, Ekklesiastes, in: M. Karrer/W. Kraus (Hg.), Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament. Bd. II. Psalmen bis Daniel, Stuttgart 2001, 2003. 11 Ders., A.a.O., 2004. 12 Ders., A.a.O., 2005. 13 Ders., A.a.O., 2004. 14 Ders., A.a.O., 2003. 15 Vgl. ausführlich P. Brandt, Endgestalten, 172 – 217.

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Die Weisheitsspekulation des Aristobulos (spätes 2. Jh. v. Chr.), liegt eher auf der Linie von Prv 8.16 Die frühjüdischen Historiker Eupolemos (2. Jh. v. Chr.) und Flavius Josephus (1. Jh. n. Chr.) bieten breite Schilderungen der Weisheit Salomos, ohne dabei jedoch Anspielungen auf Kohelet zu enthalten.17 Indes spielt Salomos Weisheit in diesen Überlieferungen eine große Rolle. Dass Salomos Herrschaft Israels goldenes Zeitalter war, wird bei Eupolemos und Josephus noch breiter ausgebaut als in 1Kön. Darin zeigt sich, dass diese Überlieferung trotz der kritischen Rekontexualisierung ihre Beharrungskraft besaß und um weitere Themen und Legenden angereichert wurde. Eine gewisse Nähe zu Kohelet sowohl der Form als auch dem Inhalt nach zeigt sich bei Pseudo-Phokylides (frühes 1. Jh. n. Chr.). Sein Lehrgedicht enthält Aussagen zu Neid (V. 70), zum Nutzen der Weisheit (V. 90; 131) und vor allem zu Zeit und Sterblichkeit (V. 27; 105 – 108, 110; 116 – 121), die Kohelet nahe stehen. Pseudo-Phokylides rezipiert indes die Septuaginta, nicht den hebräischen Text.18 Ob ihm eine griechische Fassung von Kohelet vorlag, ist nicht bekannt. Unter dem Namen Salomos sind nach Kohelet mehrere Schriften verfasst oder gesammelt worden, die das Weiterwirken eines Salomo-Diskurses anzeigen. Wahrscheinlich noch in das 1. Jh. v. Chr. gehören die Psalmen Salomos, ein Sammlung von 18 Gebetstexten. In ihnen drücken sich die religiösen und politischen Wirren der späten Seleukidenzeit und des römischen Eingreifens in Palästina aus. In ihnen wird – in Form des Gebets – das Schicksal von Frommen und Frevlern reflektiert. Die Texte erwarten einen Messias aus Davids Geschlecht, der Ordnung und Gerechtigkeit wiederherstellen wird (vgl v. a. PsSal 17). Die Textgeschichte der Psalmen Salomos ist äußerst komplex, wann sie ihre Zuweisung zu Salomo bekamen, ist unsicher. Sie enthalten auch keine Anspielung auf Salomo. Vielmehr wurde die Sammlung wegen der Nähe von PsSal 17 zu Ps 72 Salomo zugeordnet.19 PsSal stehen in einem ähnlichen Diskurszusammenhang wie das Buch Kohelet, äußern aber die exakte Gegenpositon zu ihm: Es gibt eine anthropologische Grundunterscheidung zwischen Gerechten und Frevlern, die auf Leben und Tod Auswirkungen hat. Obwohl sich Kohelet von der Eschatologie distanziert und er demzufolge keinen Messias erwartet, gibt es zwischen ihm und PsSal doch darin eine Übereinstimmung, dass die gegenwärtige Herrschaft starker Kritik unterworfen ist. Im „Buch der Weisheit Salomos (Weish) wirbt der Verfasser für die „Gerechtigkeit“ (dikaiosy´ne¯), d. h. eine Gott vertrauende, trotz aller Schwierigkeiten und Infragestellungen treu jüdische Lebensweise, die ihr Ziel im Dank 16 Vgl. K.M. Woschitz, Parabiblica. Studien zur jüdischen Literatur in der hellenistisch-römischen Epoche. Tradierung – Vermittlung – Wandlung, Münster 2005, 107. 17 Vgl. Ders., A.a.O., 189 – 192. 18 Vgl. Ders., 261 – 267. 19 Überblick und Literatur : E. Dafni, Art. Psalmen Salomos: www.wibilex.de.

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Auslegungsgeschichte

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an den in Kosmos und Geschichte als wirkmächtig erkannten einzigen Gott findet. Er erzählt eine fiktive Mahnrede des alten, weisen Salomo an die Maßgeblichen der Welt (Weish 1,1 – 6,21.25). In der Fortsetzung dieser Mahnrede blickt Salomo auf seine Jugend zurück und erzählt, wie er seine sprichwörtliche Weisheit als Geschenk von Gott durch sein Gebet erlangt hat (Weish 6,22 – 8,21). Er zitiert das Gebet vom Anfang seiner Regierungszeit und verbleibt in einer betenden Sprechhaltung bis zum Ende des Buches. Diese Form der Werbung nötigt die Lesenden nicht, sondern lässt ihnen die Freiheit der Zustimmung. Wollen sie sich für den Tod als letztmaßgebliche Wirklichkeit oder für die Gerechtigkeit und damit für den zu unvergänglichem Leben berufenden, wahren Gott entscheiden?“20 Im Buch der Weisheit Salomos wirkt das Buch Kohelet mit seiner Erzählsituation und seinen Themen nach, obwohl sich auch hier keine direkten intertextuellen Bezüge finden lassen. Der Salomo der Weisheit ist eine pseudepigraphische Verlängerung des Salomo des Proverbienbuches. Die Weisheit Salomos stammt aus dem 1. Jh. n. Chr. Die sog. Oden Salomos, eine Sammlung poetischer Texte aus dem 1. Jh. n. Chr. oder später, ist eine christlich-gnostische Schrift, die theologische Spekulationen und ethische Mahnungen enthält. Wie bei den Psalmen Salomos ist unsicher, wann der Text in den Salomodiskurs eingeordnet wurde. Zu Kohelet gibt es keine Berührungspunkte.21 Salomos Weisheit ist legendarisch um seine Heilkunst und seine Macht über die Dämonen erweitert worden. Aus dieser Tradition stammt das Testament Salomos, eine dämonologische und astrologische Schrift aus dem 4. Jh. n. Chr., die narrativ um den Tempelbau Salomos herum gestaltet ist. Eine Parallele zu Kohelet ergibt sich nur dadurch, dass es sich um ein Testament handelt (26,8).22

1.2 Auslegungsgeschichte 1.2.1 Jüdische Auslegungsgeschichte Die jüdische Auslegungsgeschichte des Buches Kohelet spiegelt sich schon in den Diskussionen um seinen kanonischen Charakter. Folgende Aspekte prägen die Auslegungsgeschichte: Erstens ist das Verhältnis Kohelets zur Tora zu klären. Die Integration Kohelets in die halachische Tradition gelang dadurch, dass – in Verlängerung von Prv und Sir – die Weisheit (Salomos) immer mehr mit der Tora identifiziert wurde. So wird Kohelet zum unermüdlichen Toralehrer, der zum einen die Freude (an der Tora) preist, wie er auch die Mühe 20 H. Engel, Art. Weisheit Salomos: www.wibilex.de. 21 Überblick und Literatur : E. Dafni, Art. Oden Salomos: www.wibilex.de. 22 Ausführlich: P. Busch, Das Testament Salomos, Berlin/New York 2006.

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Auslegungs- und Wirkungsgeschichte

ihres lebenslangen Studiums kennt.23 Im Zuge dieser Auslegungstradition konnte das Buch Kohelet zum liturgischen Lesetext für das Laubhüttenfest werden. Kohelets Distanz zur Eschatologie konnte mit Hilfe seiner wiederkehrenden Formulierung „unter der Sonne“ aufgebrochen werden: Demnach beziehen sich seine schwierigen Aussagen lediglich auf diese Welt („unter der Sonne“), während es in der kommenden Welt („über der Sonne“) Gewinn, Lohn für die Gerechten und Strafe für die Frevler geben kann. Die Salomofiktion des Buches Kohelet bildet bei diesen Lesarten den Bezugspunkt. In der jüdischen (und der christlichen) Auslegung wird Kohelet mit Salomo identifiziert. Exemplarisch dafür darf das Targum zu Kohelet gelten (5.–8. Jh. n. Chr.): „(1) Die Worte der Prophezeiung, welche Kohelet, das ist Salomo, der Sohn Davids, des Königs, der in Jerusalem war, prophezeite. (2) Als Salomo, der König Israels, durch den heiligen Geist sah, dass das Königtum Rehabeams, seines Sohnes, geteilt würde mit Jerobeam, dem Sohn Nebats, und dass Jerusalem und der Tempel zerstört würden und das Volk des Hauses Israel ins Exil gehen würde, sprach er zu sich selbst: „ Hawäl hawalim, vergänglich ist diese Welt. Alles ist hawäl hawalim, alles ist nichtig, wofür sich ich und mein Vater David abgemüht haben. Alles davon ist häwäl. (3) Welchen Gewinn hat ein Mensch, nachdem er gestorben ist, von all der Mühe, mit der er sich abgemüht hat unter der Sonne in dieser Welt, wenn er sich nicht mit der Tora beschäftigt, um eine vollständige Belohnung in der kommenden Welt zu empfangen, vor dem Meister seiner Welt?“24

Diese Lesart mag als ausgesprochen freie Interpretation eines Buches gelten, das traditioneller Lehre distanziert bis kritisch gegenübersteht. Gleichwohl hat sie für die Integration Kohelets in die jüdische Schrift gesorgt und dort die weitergehende Beschäftigung damit angeregt.25

1.2.2 Christliche Auslegungsgeschichte Im Neuen Testament ist Röm 3,10 vermutlich ein Zitat von Koh 7,20 (in Kombination mit Ps 14; 53). Paulus führt Kohelet als Beleg für seine Theologie an, nach der kein Mensch gerecht ist. Seine Weiterführung der Angewiesenheit auf die Gnade Gottes, liegt dann allerdings schon nicht mehr auf der Linie Kohelets. Möglicherweise liegen im Neuen Testament weitere Anspielungen auf Kohelet vor: Mk 2,18 – 20parr (Vgl. Koh 3,18); Mt 6,7 (vgl. Koh 5,1); 1Tim 6,7 (vgl. Koh 5,14). Wie im Judentum auch rechnet aber bereits das Neue Testa23 Vgl. dazu D. Dieckmann, Worte, 29 f. 24 Übersetzung nach D. Dieckmann, Worte, 29. 25 Vgl. Ders., A.a.O., 34 – 36, dort auch kritische jüdische Auslegungen Kohelets.

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Auslegungsgeschichte

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ment, mehr noch die christliche Tradition, mit einer Vergeltung jenseits des Todes.26 Für die christliche Auslegungsgeschichte des Buches Kohelet maßgeblich geworden ist der Kohelet-Kommentar des Hieronymus (um 389 n. Chr.). In Anlehnung an die Bücherfolge der Septuaginta – und unter Rückgriff auf die Auslegungsmethodik des Origenes – liest Hieronymus Prv, Koh, Hld als salomonisches Corpus und als „dreistufigen Weg der geistlichen Vervollkommnung: Die Anfänger auf diesem Weg werden durch das Buch der Sprichwörter in den weltlichen Dingen unterwiesen, Kohelet richtet sich an die Fortgeschrittenen und das Hohelied schließlich ist für die bestimmt, die bereits vollkommen in der geistigen Durchdringung sind und von der Weisheit mit ,ehelichen‘ Umarmungen empfangen werden.“27 Bei seiner theologischen Auslegung unterstreicht Hieronymus vor allem das Vergänglichkeitsmotiv Koh 1,2 u. ö. Anders als in Röm 3,10 ist es bei Hieronymus die menschliche bzw. kosmische Vergänglichkeit, die eine vollkommene Angewiesenheit auf Gott offenbart und der eigentliche Inhalt der Weisheit ist. Auch bei Hieronymus spitzt sich die Kohelet-Auslegung auf die jenseitige Erlösung zu, die Flüchtigkeit der Welt macht die Erlösungsbedürftigkeit transparent. Dabei werden die Lebensfreude-Texte (2,24 – 26; 3,22; 5,17 – 19; 9,70) als Verweise auf das Abendmahl interpretiert.28 So hat Hieronymus’ Kohelet-Interpretation eine christologische Fluchtlinie. Hieronymus’ Theologie der Flüchtigkeit hat eine charakteristische Eigenart. Er übersetzt hæbæl nicht – wie die LXX – mit „Leere“ (matai tes), sondern stellt fest: „Im Hebräischen steht für Nichtigkeit der Nichtigkeiten abal abalim, was, außer den siebzig Übersetzern alle gleich übersetzt haben mit atmos atmidon … was wir ,sich verbrauchender Dunst‘ und ,feine Luft/zarter Hauch‘, der schnell aufgelöst wird, nennen können. Und so zeigen sich aus diesem Wort das Vergängliche und das Nichts des Universums (vgl. Röm 8,20). Das, was sich zeigt, ist zeitlich/vergänglich (temporalia), was sich aber nicht zeigt, ist ewig.“29

Ähnlich wie die jüdische Auslegung macht Hieronymus einen Unterschied zwischen „unter der Sonne“ und der jenseitigen Welt, nimmt aber den hæbæl-

26 Vgl. T. Krüger, BK, 58 f. 27 E. Birnbaum, Nichtigkeit, 32. Bei dieser Auslegung ist die allegorische Lesung des Hohenliedes maßgeblich. 28 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 127 f. Ausführlich: S. Holm-Nielsen, The Book of Ecclesiastes and the Interpretation of it in Jewish and Christian Theology, Jerusalem 1975 (ASTI 10), 38 – 96. 29 Hieronymus, Comm in Eccl. 1,2 zitiert nach E. Birnbaum, Von Nichtigkeit und Sinnlosigkeit. Die Bedeutung der Hermeneutik für Auslegung und Übersetzung am Beispiel von Kohelet 1,2, in: M. Grohmann/U. Ragacz (Hg.), Religion übersetzen. Übersetzung und Textrezeption als Transformationsphänomene von Religion, Göttingen 2012, 33.

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Auslegungs- und Wirkungsgeschichte

Begriff zum Ausgangspunkt. Seine Übersetzung von hæbæl lautet „Vanitas“, was wie hæbæl zwischen „vergeblich“ und „vergänglich“ oszilliert. Die christliche Auslegungstradition des Buches Kohelet bleibt lange Zeit in den von Hieronymus vorgezeichneten Bahnen. Dabei ist es besonders interessant, dass die christliche Kohelet-Interpretation nicht nur bestimmte Inhalte rezipiert, sondern die Autorität Salomos für diese Inhalte immer mitliest. Schon Gregor der Große (540 – 604) betrachtet das Buch Kohelet als Dialog, in dem Salomo verschiedene Meinungen zu Wort kommen lässt, um sie autoritativ zu entscheiden – ein früher Vorläufer des Sentenzenmodells.30 Die klösterliche Bibelauslegung des 13. Jhs. wendet sich den „salomonischen Büchern“ zu und übernimmt Hieronymus’ Dreistufenmodell der Lektüre. Salomo wird dabei zum Begründer mönchischer Theologie: „Im ersten (Buch = Proverbien) lehrt er (Salomo), in der Welt zu leben, im zweiten, die Welt zu verachten und im dritten, Gott zu lieben und allein in ihm Entzücken zu suchen“31.

Dies wird an der Wende zur Reformationszeit noch einmal von Thomas a Kempis aufgegriffen (1380 – 1471), aber aus der Engführung des Klosterlebens herausgeführt.32 Auf dieser Linie bleibt auch Martin Luther : Für ihn lehrt Kohelet, dass der Mensch geduldig und gehorsam sein, den bösen Leidenschaften fern bleiben und die letzte Stunde in Frieden und Glück erwarten soll.33 Der von Hieronymus her stammende Gedanke der Angewiesenheit auf Gott als Thema Kohelets wird bei Luther in Richtung des unfreien Willens hin weitergedacht.34 Im evangelischen Gottesdienst ist Koh 3,1 – 4 als Predigttext für den 24. Sonntag nach Trinitatis vorgesehen; Koh 11,1 – 6; 12,1 – 8 sind Marginaltexte für besondere Sonntage.35 Abseits von dieser liturgischen „Seltenheit“ des Buches Kohelet werden einige Texte in Kasualhandlungen verwendet: Koh 3 wird häufig in Trauergottesdiensten gelesen, 4,9 – 12 ist inzwischen ein beliebter Trauspruch.

1.3 Wirkungsgeschichte Außerhalb der kirchlichen und theologischen Auslegung hat das Buch Kohelet vor allem in der bildenden Kunst seine Spuren hinterlassen. Das Flüchtigkeits30 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 130 f. 31 Dominikanerpostille, übersetzt nach M. Sæbø, Hebrew Bible/Old Testament. A History of Its Interpretation. I/2. The Middle Ages, Göttingen 1996, 530. 32 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 133. 33 Vgl. M. Sæbø, Hebrew Bible/Old Testament. A History of Its Interpretation. From the Renaissance to the Enlightenment, Göttingen 2008, 386 – 388. 34 Vgl. T. Krüger, BK, 61. 35 Vgl. D. Dieckmann, Worte, 37.

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Wirkungsgeschichte

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Motto in der Übersetzung des Hieronymus („Vanitas“) ist in der christlichen Kunst seit frühesten Zeiten präsent. Ab dem 16. Jh. findet sich die äußerstprominente Form der „Vanitas-Stilleben“. Sie bilden die Vergänglichkeit irdischer Schätze und der irdischen Existenz ab: Kostbare Gegenstände werden mit Todessymbolen (Schädel, Sanduhr) arrangiert, gelegentlich finden sich auch Christussymbole (Mohn, Ei). Häufig werden die Bilder als Vexierbilder oder in Trompe-de-l’oeuil-Technik gestaltet: Der Hinweis auf den Tod findet sich erst bei einem bestimmten Blickwinkel.36 Auf manchen dieser Darstellungen ist das Wort „Vanitas“ prominent zu sehen.37 Auch in die Abbildungen des „Hieronymus im Gehäus“ wird das Vanitas-Motiv übernommen.38 Die vor allem im 17. Jh. beliebten Vanitas-Stilleben scheinen als „privates Andachtsbild“ mit der Funktion einer „Gedächtnisstütze für die Meditation über den Tod und das ewige Leben“ verwendet worden zu sein.39 Auch die Literatur des Barock nimmt das Vanitas-Motiv gern und vielfach auf.40 Überdies ist es ein beliebter Topos des Kirchenliedes im und nach dem dreißigjährigen Krieg. Mit der Aufklärung beginnt die Popularität des Vanitas-Motivs deutlich abzunehmen, bzw. es wird gebrochen und sein Gegenteil verkehrt. Exemplarisch dafür kann Goethes Gedicht „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“ stehen: Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute, Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute. Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten, Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen, Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten. Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen, Fragt niemand mehr, und zierlich tätge Glieder, Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen. Ihr Müden also lagt vergebens nieder, Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder, Und niemand kann die dürre Schale lieben, Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben, 36 Die bekannteste Ausprägung dürfte Hans Holbein d. J. Bild „die Gesandten“ sein (1533, National Gallery, London). Es handelt sich indes nicht um ein Stilleben, gleichwohl eine Darstellung aus der Vanitas-Tradition. 37 Theodor Matham, Vanitas, Kupferstich 1622, Museum of Fine Arts, San Francisco. 38 Z.B. J. van Cleeve, Der Heilige Hieronymus im Gehäus, 1520 – 1522, Museum Kunst-Palast, Düsseldorf. 39 S. Ebert-Schifferer, Die Geschichte des Stillebens, München 1998, 145. 40 F. van Ingen, Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen 1966.

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Auslegungs- und Wirkungsgeschichte

Die heilgen Sinn nicht jedem offenbarte,(…) Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare? Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.41

Eine Rezeption Kohelets und/oder des Vergänglichkeitsmotivs in der Kunst findet sich immer wieder, prägt jedoch keine ganzen Strömungen oder Entwicklungen mehr, sondern hängt von der persönlichen Prägung des Künstlers oder der Künstlerin ab. Henry James’ (1843 – 1916) Roman „The Golden Bowl“ (1904) entlehnt den Titel Koh 12,6. Edith Whartons (1862 – 1937) „The House of Mirth“ (1904) nimmt Bezug auf Koh 6,4. Eine umfängliche Kohelet-Rezeption findet sich in den Werken des Komponisten Bernd Alois Zimmermann (1918 – 1970): Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich an ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde nichts anderes anzeigt, als dass es keine Gegenwart im strengeren Sinne gibt. Die Zeit biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen. Aus dieser Vorstellung […] habe ich meine […] pluralistische Kompositionstechnik entwickelt, die der Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit Rechnung trägt.42

In diesem Sinne stellen seine Kompositionen „Omnia tempus habent“ (1957) und Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne – Ekklesiastische Aktion (1970) eine musikalische Auseinandersetzung mit dem Buch Kohelet dar. In den Stationen seiner Wirkungsgeschichte ist das Buch Kohelet abseits des Bezugs auf seinen Autor um seiner Inhalte willen rezipiert worden.

41 Zitiert nach http://gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/121 (Zugriff 21. 9. 2014). 42 Zitiert nach: Harenberg Komponistenlexikon. Mannheim 2004, 1048.

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2. Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung Über die literarischen Grundfragen des Buches Kohelet gehen die Meinungen weit auseinander.1 Das liegt an den formalen und inhaltlichen Eigenarten des Buches. Umstritten ist zunächst, ob das Buch Kohelet überhaupt eine durchgängige planvolle Gestaltung erkennen lässt. Dies ist vor allem in der älteren Forschung verneint worden; sie sieht im Buch Kohelet lediglich eine Sammlung von Sentenzen.2 Derzeit überwiegt jedoch die Ansicht, dass dem Buch ein einheitlicher Plan zugrundeliegt.3 Doch auch innerhalb dieses relativen Konsenses lässt sich methodisch keine Einigung darüber herstellen, anhand welcher Kriterien die Gestaltung des Buches zuverlässig nachgewiesen werden kann. Eingebracht werden primär formale Beobachtungen,4 inhaltliche Charakteristica,5 Herleitung von bestimmten Gattungen6 oder Kombinationen aus formalen und inhaltlichen Wahrnehmungen7. Nicht nur die Divergenz der einzelnen Modelle weist auf das Problem hin, das Buch Kohelet sachgemäß zu erfassen. Viele Exegeten kommen selbst zu dem Schluss, dass das Buch sich einer einheitlichen Analyse entzieht.8 Thomas Krüger resümiert: „Diese Aufbauskizze erhebt keineswegs den Anspruch, die ,richtige‘ und einzig zutreffende Gliederung des Koheletbuches anzugeben – dazu sind die Struktursignale im Text zu wenig deutlich und eindeutig. (…) Die Frage nach einer übergreifenden

1 Vgl. die ausführlichen Forschungsüberblicke bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 46 – 63; Ders., Neues; Ders., Veröffentlichungen; T. Krüger, BK, 20 – 24; A. Reinert, Salomofiktion, 4 – 24. 2 S. D. Michel, Qohelet, 10 – 17. 3 Sog. „Dispositionstheorien“ (D. Michel, Qohelet, 21 – 45) bzw. „Kompositionstheorien“ (L. Schwienhorst-Schönberger, RGG4, 1580). 4 Sprache und Syntax: F. J. Backhaus, Zeit; Ders., Nichts Besseres; Sprechakte: G.A. Castellino, Qohelet and his Wisdom: CBQ 30 (1968), 15 – 28. 5 Leitworte oder –motive: A.G. Wright, The Riddle of the Sphinx: The Structure of the Book of Qohelet: CBQ 30 (1968), 313 – 334; C.-L. Seow, AB; A. Vonach, Nähere Dich; T. Krüger, BK; A. Reinert, Salomofiktion. 6 Diatribe: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT; Ders., Glück; Erzählung: M.V. Fox, FrameNarrative; Ders., Time; Weisheitserzählung: T. Longman, NICOT; Weisheitsliteratur : C. Klein, Kohelet. 7 N. Lohfink, NEB; Ders., Strukturen. 8 Bei J.A. Loader, Structures, 9 ergibt sich das Bild, dass das Buch keine klare Komposition, aber planvoll gestaltete Einzelteile aufweist und seinen thematischen Fluchtpunkt im „Flüchtigkeit“Motiv hat.

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Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung

Strukturierung des Koheletbuches ist für dessen Interpretation von begrenzter Relevanz.“9

Tatsächlich sind die einzelnen Abschnitte häufig eher locker gefügt. Das ist auch bei weisheitlicher Literatur nicht ungewöhnlich. Gleichwohl lassen sich strukturierende Elemente finden, die das Buch organisieren und ihm eine Gestalt verleihen.

2.1 Aufbau und Gliederung Um den Aufbau und die Gliederung des Buches zu bestimmen, ist sowohl eine Orientierung an bestimmten Formmerkmalen (Sprechakte) als auch an charakteristischen inhaltlichen Elementen (Leitbegriffe und –motive) sinnvoll.10 2.1.1 Sprechakte und Programme Die Verteilung von Sprecherrollen zeigt einen dreiteiligen Grundaufbau aus Rahmen (Kohelet in 3. Person: 1,1.2 – 11; 12,8.9 – 14) und Corpus (1. Person und direkte Anreden: 1,12 – 12,7). Innerhalb des Buchcorpus sind die Sprechakte für eine Grobgliederung leitend. Es ergibt sich: 1,1

„Worte Kohelets“

Überschrift

1,2 – 11

„Sprach Kohelet“

Prolog

1,12 – 12,7 „Ich bin Kohelet“

Buchcorpus

1,12 – 4,16:

Selbstbericht

4,17 – 10,20:

Reflexionen / Mahnungen 1. Person/2. Person

11,1 – 12,7:

Mahnungen

12,8

„Sprach Kohelet“

12,9 – 14

Kohelet war ein Weiser Epiloge11

1. Person

2. Person

9 T. Krüger, BK, 21.24. Vgl. auch F. J. Backhaus, Zeit, 330; A.G. Wright, Riddle, 334. Fast wieder in Richtung der Bestreitung einer Ordnung geht H. Spieckermann, Suchen, 96 (vgl. aber dagegen vehement: D. Michel, Qohelet, 37). N. Lohfink, Strukturen, 59 f. versucht, den Befund theoretisch zu erfassen, indem er von Struktur“konkurrenzen“ spricht, vgl. dazu A. Reinert, Salomofiktion, 18 f. 10 Das Programm ist bündig formuliert bei A.G. Wright, Riddle, 318 f. Vgl. auch M. Köhlmoos, Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch, Tübingen 1999 (FAT 25), 103 – 143. 11 Vgl. G. A: Castellino, Qohelet; A. Reinert, Salomofiktion, 151 f.166; C.-L. Seow, NICOT, 46.

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Aufbau und Gliederung

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Da das Buch durchgängig „Worte Kohelets“ (1,1) dokumentiert, ist es sinnvoll, sich für eine differenzierte Gliederung an den Ich-Aussagen zu orientieren. Den Ausgangspunkt bilden jene Texte, in denen Kohelet nicht einfach nur das Aussagesubjekt ist, sondern die, in denen er sich aus gewisser Distanz selbst reflektiert. Es handelt sich dabei um Meta-Texte, die „benennen, womit sich der Text befassen wird“.12 Bei Kohelet ist dies in erster Linie die Phrase na¯ttati libbi, wörtlich, „ich gab mein Herz“. Das Herz (Le¯b)13 ist im Biblischen Hebräisch nicht nur der Sitz der Emotionen, sondern vor allem des rationalen Verstandes, des Planens und des Willens, also das „Ich“ oder „Selbst“ im modernen Sinne. Spricht Kohelet vom Herzen, spricht er (meist) von seinem eigentlichen Ich.14 Die Phrase na¯ttati libbi übersetzt man daher sinngemäß am besten mit „Ich machte es zu meiner Lebensaufgabe“. Die Formulierung erscheint 1,13.17; 8,9; 9,1 und übernimmt – trotz einiger Variationen im Ausdruck – die Funktion einer Inclusio.15 Kohelets Lebensaufgabe hat ein doppeltes Ziel, wie er 1,12 – 18 programmatisch formuliert.16 Er will erstens durch Weisheit menschliches Handeln erforschen. Die einzelnen Beobachtungen leitet er im ganzen Buch durch „Ich sah“ (Ra¯B t ) ein (1,14; 2,13; 3,10.16.22; 4,1.4.7.15; 5,12.17; 6,1; 7,15; 8,9.10.17; 9,11.13; 10,5.7).17 Zweitens will Kohelet erforschen, was Weisheit überhaupt ist. Die Einzelergebnisse dieser Untersuchung leitet er ein mit „Ich erkannte“ (Ja¯daCt : 1,17; 2,14; 3,12.14; 8,12).18 Kohelet hat in seinem Leben noch ein drittes Ziel. 2,1 – 2 formuliert den Plan, Freude und Gutes zu „überprüfen“. Es wird dies zwar nicht als Lebensaufgabe formuliert, aber als Plan („Ich sprach in meinem Herzen“ entspricht etwa „ich nahm mir fest vor“). Diese Untersuchung der Freude und des Guten erweist sich als Vermittlerin zwischen der Erforschung des Handelns und der Suche nach der Weisheit (3,1 – 15).19 Kohelet beschränkt seine Erkenntnisse und Erfahrungen nicht auf Selbstreflexion, sondern gibt sie an einen Hörer weiter. Dieser wird 4,17 erstmals direkt angesprochen und in 11,9 mit „junger Mann“ tituliert. Neben ver12 Sog. „Diskursive Strukturen“: U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, 113. Ein ähnliches Verfahren nimmt A. Schellenberg, Erkenntnis, 165 – 180 vor. Dagegen: A. A. Fischer, Beobachtungen, 74. 13 Vgl. F. Stolz, THAT I (1971), 861 – 867; H.-J. Fabry, ThWAT IV (1984), 513 – 451. 14 Zur Differenzierung des Herzens bei Kohelet s. T. Zimmer, Tod, 15 – 17; A. Schoors, Preacher 2, 82 – 95. 15 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 108; A. Reinert, Salomofiktion, 162 f. 16 Zu den Einzelheiten s. den Kommentar. 17 Dabei ist „ich sah“ je nach Kontext zu differenzieren in „ich beobachtete“, „ich betrachtete“, „ich nahm wahr“ etc.; vgl. D. Michel, Untersuchungen, 25 – 39; A. Schoors, Preacher 2, 63 – 65. A. Schellenberg, Erkenntnis, 180 – 183. 18 Auch hier ist kontextuell zu differenzieren in „ich erkannte“, „ich stellte fest“ etc.: A. Schoors, Preacher 2, 130 f. A. Schellenberg, Erkenntnis, 184 – 186. 19 Vgl. ähnlich A. A. Fischer, Beobachtungen; Ders., Skepsis, 203 – 208, allerdings ohne Ausweitung auf die gesamte Buchstruktur.

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Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung

schiedenen Aufforderungen zu praktischem Handeln gibt Kohelet seine Erkenntnisse auch in direkten Aufforderungen an diesen „jungen Mann“ weiter : „Sieh!“ (5,1; 7,13.14), „gib dein Herz (nicht) auf …“ (7,21.22), „erkenne“ (7,22; 11,5.6) und schließlich „Freu dich“ (11,9). Das Buchcorpus 1,12 – 12,7 stellt als Ich-Bericht die Lebenserfahrungen Kohelets hinsichtlich Weisheit, Erkenntnis und Freude dar. Dabei misstraut er vorgegebenen und traditionellen Einsichten und verlässt sich im Wesentlichen auf seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen. Diese Beobachtungen – eingeleitet durch „ich sah“, „ich erkannte“ und „ich sprach“ – organisieren das Buch im Sinne eines narrativen Rückgrats; auf sie gründet Kohelet auch seine Mahnungen20. Sowohl der Weisheit als auch der Freude und erst recht der Erkenntnis kommt dadurch immer nur ein relativer Wert zu21. Gleichwohl betrachtet sich Kohelet als Autoritätsperson, dessen Wort Gewicht hat, und dies wird auch von den beiden Motti unterstrichen.

2.1.2 Leitmotive und -begriffe Anders als der eben skizzierte Zugang orientieren sich die meisten derzeitigen Analysen des Koheletbuchs an einem Thema, dem die Sprechakte untergeordnet sind. Obwohl das Thema des Buches unterschiedlich erfasst wird, gilt das rahmende Motto 1,2.(3); 12,8 als der thematische Fluchtpunkt, von dem aus das Buch organisiert ist22. Die Anordnung des Buches muss dann die Formel „flüchtig“ (Hæbæl) berücksichtigen, die dem Buch sein typisches Gepräge gibt. Sie begegnet in vier Formeln23 : (1) Im Superlativ „überaus flüchtig“ der beiden Motti 1,2; 12,8. (2) „Alles ist flüchtig“ erscheint 1,2.14; 3,19. (3) „Alles ist flüchtig und Greifen nach Wind“ begegnet 1,14; 2,11.17. (4) „(Auch) dies ist flüchtig“ bezieht sich auf das direkt Vorangehende und erscheint am häufigsten: 1,17; 2,1.15.19.21.23; 4,8; 5,9; 6,2; 7,6; 8,10.14. Ebenfalls auf das Vorangehende bezogen ist „Auch dies ist flüchtig und Greifen nach Wind“ (2,26; 4,4.16; 6,9). Tatsächlich ist die „Flüchtig“-Formel nicht nur besonders häufig, sondern auch die einzige Aussage, die Kohelet sowohl in den Mund gelegt als auch von ihm selbst geäußert wird. Überdies ist die Rahmung des Buches durch die beiden Motti offensichtlich.24 Trotzdem hat sich bislang keine überzeugende – 20 Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 164 – 167. 21 Vgl. Dies., A. A.O., 167; H.-P. Müller, Qohälät, 507 – 521; A. A. Fischer, Skepsis, 244; H. Spieckermann, Suchen; J. Marböck, Kohelet, 284 – 291. 22 So N. Lohfink, War Kohelet ein Frauenfeind?. Ein Versuch, die Logik und den Gegenstand von Koh 7,23 – 8,1a herauszufinden, in: Ders., Studien, 43 (S. dazu Ders., Strukturen); F. J. Backhaus, Zeit, 318 – 331; C.-L. Seow, NICOT; T. Krüger, BK, 20 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 52; zuletzt A. Reinert, Salomofiktion. 23 Zur Verteilung vgl. auch A. Reinert, Salomofiktion, 143 – 145. 24 Vgl. N. Lohfink, Strukturen, 63 – 66.

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Literarische Gattung: Das Buch Kohelet als autoritative Lehre

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und konsensfähige – Erklärung der Variationen finden lassen. Auffallend ist, dass die „Flüchtig“-Aussage nach 4,16 deutlich abnimmt25 und dass die Aussage „alles ist flüchtig“ nach 3,19 nicht mehr vorkommt. Eine Gliederung ist aus der Verwendung dieser Formel nicht abzuleiten; vielmehr scheint es sich um ein rhythmisierendes Element zu handeln.26 Überdies ist in der Forschung umstritten, ob das Buch Kohelet nur die These „Alles ist flüchtig“ entfaltet27 oder ob dieser Aussage eine ergänzende oder widersprechende These an die Seite gestellt wird.28 Was für das Motiv „Alles ist flüchtig“ zu beobachten war, gilt für sämtliche Wendungen und Begriffe, die in typischer Häufung im Buch Kohelet erscheinen. Sie lassen rein aus der Verteilung keine Schlussfolgerungen auf die Struktur des Buches zu.29 Was für den Aufbau bzw. die Gliederung des Buches von Bedeutung ist, lässt sich vielmehr an seiner Zuordnung zu textlichen Grundelementen beobachten, und das heißt für das Buch Kohelet: Der Sprecher Kohelet in seiner eigenen Zuordnung zu anderen Personen. Kohelet reflektiert in Bezug auf sich selbst, mahnt den „jungen Mann“ und reflektiert außerdem sich und sein Handeln in Bezug auf Gott als dritte Person.

2.2 Literarische Gattung: Das Buch Kohelet als autoritative Lehre 2.2.1 „Worte Kohelets“ (1,1; 12,10) Das Buch gibt selbst die Hinweise darauf, zu welcher literarischen Gattung es gehört. Alttestamentlichen Gepflogenheiten entsprechend finden sie sich am Anfang und Schluss des Buches: In der Überschrift 1,1 und im „Nachwort“ 12,9 – 12. Unabhängig von ihrer Autorschaft sind Über- und Unterschriften wesentliche Elemente zum Textverständnis; auch hier liegen metatextuelle Aussagen vor,30 die über den Text sprechen. In altorientalischen, antiken und biblischen Texten stammen Über- und Unterschriften meist aus zweiter Hand. Nichtsdestoweniger geben sie einen Einblick in das 25 26 27 28

Vgl. A.G. Wright, Riddle, 330 f. Vgl. A. Reinert, Salomofiktion, 143. So z. B. C.-L. Seow, NICOT; J.A. Loader, Structures, 9; prinzipiell auch M.V. Fox, Time. So die Frage nach dem Gewinn: F. J. Backhaus, Zeit; T. Krüger, BK, 20 f.; A. Reinert, Salomofiktion als Ergänzung zur Flüchtigkeit. Demgegenüber : L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 52: Die Frage nach dem Glück als Einspruch zur Flüchtigkeit. 29 Den sachgemäßen methodischen Umgang mit „Leitworten“ skizziert N. Lohfink, Strukturen, 62 f. Eine programmatisch an Leitworten bzw. –motiven orientierte Untersuchung bietet A. Reinert, Salomofiktion, 26 – 34. 30 Vgl. U. Eco, Lector, 118 – 127.

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Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung

Buch in seinem unmittelbaren Kontext und sind theoretischen Gattungszuweisungen daher qualitativ vorzuziehen. Wie Eckart Otto für den Pentateuch und Klaus Koch für die Prophetenbücher gezeigt haben, liefern Über- und Unterschriften auch im Alten Testament den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Bücher.31

Die Überschrift 1,1 weist das Buch als „Worte Kohelets“ aus. Mit „Worte des X“ werden im Alten Testament noch weitere Texte und Teiltexte überschrieben (Neh 1,1; Am 1,1; Jer 1,1; Prv 1,1; 30,1; 31,1). Im Hebräischen sind „Worte“ nicht nur sprachliche Einheiten, sondern haben wirklichkeitsgestaltende Kraft. Aus diesem Grund müssen sie durch Hinweis auf ihren Urheber legitimiert werden. Als „Worte des X“ wird der Text zu einem autoritativen Text, bei dem der Urheber die Gültigkeit der Worte garantiert. Dabei ist in der Regel nicht die individuelle Persönlichkeit eines Autors relevant, sondern seine Herkunft und/oder seine Rolle. Das Buch Kohelet bekommt seine Gültigkeit als „Königswort“. Als solches behält es auch seine Legitimation, obwohl und weil es einen König Kohelet nie gegeben hat. Weitere Anhaltspunkte liefert die Schlussbemerkung 12,9 – 11. Es handelt sich dabei um ein Kolophon, wie es altorientalischer Textpraxis entspricht und im Alten Testament noch Lev 26,46; 27,34; Num 36,13 vorkommt. Kohelet wird jetzt als „Weiser“ qualifiziert (was die Königsrolle nicht ausschließt). Seine Worte bekommen damit gegenüber 1,1 eine etwas andere Legitimation, verlieren aber nichts von ihrer prinzipiellen Geltung. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass sie als „wahre“, d. h. unbedingt zuverlässige Worte bezeichnet werden. 1,1; 12,9 – 11 erstellen den metatextuellen, diskursiven Rahmen des Buches. In der buchinternen Perspektive ist das Buch demnach eine Sammlung zuverlässiger Worte. Dabei rückt der hermeneutisch sensible Begriff „Wahrheit“ (BÆmæt) das Buch Kohelet zumindest der Tendenz nach in die Nähe von Tora und Propheten (vgl. Neh 9,13; Ps 19,10; 119,43.142.151.160; Dan 10,21). Für diesen Anspruch bürgt nicht die Person Kohelet, sondern seine Stellung als Davidide (1,1), König (1,1) und Weiser (12,9). Koh 1,1 und 12,9 – 11 stammen nicht von Kohelet, sondern von frühen Rezipienten des Buches. Für beide gilt, dass sie „die im Buch selbst angelegte … Struktur“ verstärken und „exakt dem Eindruck“ entsprechen, „den der Leser aus der Lektüre gewinnt“.32 Gemäß den eben gemachten Beobachtungen muss man allerdings die Perspektive umkehren: Koh 1,1 weckt eine Erwartung, die das Buchcorpus bestätigt und 12,9 bekräftigt. 31 E. Otto, Die Rechtshermeneutik im Pentateuch und in der Tempelrolle, in: R. Achenbach/M. Arneth/E. Otto, Tora in der Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und zur synchronen Logik diachroner Transformationen, Wiesbaden 2007 (BZAR 7), 72 – 121; K. Koch, Profetenbuchüberschriften. Ihre Bedeutung für das hebräische Verständnis von Profetie, in: A. Graupner u. a. (Hg.), Verbindungslinien (FS Schmidt), Neukirchen-Vluyn 2000, 377 – 388. 32 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 64.

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Literarische Gattung: Das Buch Kohelet als autoritative Lehre

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Dabei stammen Über- und Unterschrift wahrscheinlich nicht aus derselben Hand. Entscheidend für diese Annahme ist nicht das Verhältnis „König“ und „Weiser“; beides hat seinen Sitz im Buch, beide Rollen sind gleich autoritativ und schließen einander auch nicht aus. Es ist vielmehr die Legitimation via David, die in der Überschrift singulär dasteht. Die Annahme von zwei Herausgebern ist daher gut begründet.

Das Kolophon 12,10 gibt außerdem den Anhaltspunkt für eine literarische Gattung: Kohelet suchte nach „überzeugenden“ Worten, solchen die ebenso kostbar wie zustimmungswürdig wie Gewinn bringend sind.33 Damit beschreibt sich das Buch Kohelet sachgemäß als Lehre oder Unterweisung. Die wirklichkeitsgestaltende Kraft der „Worte Kohelets“ zielt darauf, BÆmæt, „Zuverlässigkeit“ und „Wahrheit“, und H. e¯pæs. , „Eindruck“ zu hinterlassen. Diese Unterweisung ist verbindlich durch den König-Weisen Kohelet formuliert. Die beiden Rahmensätze geben in diskursiver Form den charakteristischen Duktus des Buches wieder : Es handelt sich um die Worte, die Kohelet selbst vorträgt. 2.2.2 Königstestament (1,12 – 12,7) Kohelets selbst vorgetragene Rede, die 1,12 – 12,7 das Buchcorpus bildet, beginnt mit der solennen Selbstvorstellung „Ich bin Kohelet. Ich war König“ (1,12). Diese Rede gestaltet sich als rückblickende Reflexion und in der Gegenwart vorgetragene Mahnung an den „jungen Mann“ aus, damit dieser seine Zukunft recht gestalten möge. In der Gesamtanlage folgt das Buchcorpus damit dem Vorbild der altorientalischen, vor allem ägyptischen „Lebenslehren“, präziser dem „Königstestament“: In diesem gibt ein (realer oder fiktiver) König seinem Nachfolger biographisch begründete Ratschläge für seine Amtszeit. Den Vorschlag, das Koheletbuch vom ägyptischen Königstestament her zu lesen, hat Kurt Galling unterbreitet.34 Er ist auf große Zustimmung gestoßen,35 hat aber auch ebenso große Ablehnung erfahren.36 Zu berücksichtigen ist bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Buch Kohelet und dem (ägyptischen) Königstestament u. a., dass letzteres keine eigenständige Literaturform ist, sondern eine Untergattung der „Lebenslehren“, die nicht notwendigerweise königlich geprägt sein müssen37. Zur Kohelets Zeiten dominierten die bürgerlichen Lebenslehren.38 33 34 35 36 37

S. dazu A. Schoors, Preacher 2, 213 f. K. Galling, Kohelet-Studien: ZAW 50 (1932), 276 – 299. Z.B. G.v. Rad, Weisheit in Israel, München 31985, 292; A. Lauha, BK, 2. Z.B. C. Klein, Kohelet, 163. Vgl. G. Burkard/H.J. Thissen, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte. I. Altes und Mittleres Reich, Berlin 2007, 75 – 113; 169 – 184; E. Blumenthal, Die Rolle des Königs in der ägyptischen und biblischen Weisheit, in: D.J.A. Clines u. a. (Hg.), Weisheit in Israel. Beiträge des

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Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung

Die Lebenslehre ist nicht auf Ägypten beschränkt, sondern hat auch mesopotamische, aramäische und griechische Ausprägungen.39 Die königliche Lebenslehre hingegen scheint es nur in Ägypten gegeben zu haben. Die mesopotamischen Großkönige dokumentieren sich eher in der Form der Königsinschrift, an der das Buch Kohelet ebenfalls partizipiert (vgl. 2,3 – 8). Aus hellenistischer Zeit sind keine königlichen Autobiographien erhalten, einer Reihe politischer Führungsfiguren werden aber sog. Hypomnemata zugeschrieben.40 Zwischen den ägyptischen Königtestamenten und dem Buch Kohelet gibt es eine Reihe formaler und inhaltlicher Unterschiede.41 Das Buch Kohelet nimmt außerdem literarische und thematische Impulse anderer Literaturen auf.42 Obwohl das „Königstestament“ als Literaturform vor allem außerhalb des Alten Testaments belegt ist, gibt es doch auch inneralttestamentliche Analogien zum Buch Kohelet: Die Anweisungen Davids an Salomo (1Kön 2,1 – 9), Josuas Abschiedsreden (Jos 23; 24), vor allem aber das Deuteronomium. Mehr oder weniger zeitgenössisch mit dem Buch Kohelet sind die „Testamente der Zwölf Patriarchen“.43 In diesen Großzusammenhang fügt sich das Buch Kohelet ein, dessen Corpus ist bei allen inhaltlichen Brechungen durchaus als „Vermächtnis eines Königs“44 zu lesen ist. Das Deuteronomium als Abschiedsrede Moses und verbindliche Tora-Auslegung (vgl. Dtn 1,1 – 5) ist die engste alttestamentliche Gattungsparallele zum Buch Kohelet. Mit ihm wird die Tora durch Mose autorisiert und umgekehrt. Das Buch Kohelet ist analog gestaltet.

38 39

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41 42 43 44

Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901 – 1971), Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001, Münster 2003 (ATM 12), 1 – 36, hier 2 – 9. Überblick: C. Uehlinger, Qohelet, 222 – 224; Ausführlich: M. Lichtheim, Late Egyptian Wisdom Literature in the International Context. A Study of Demotic Instructions, Freiburg/Göttingen 1995 (OBO 52). Zur mesopotamischen Literatur vgl. M. Sæbø, Sprüche, Göttingen 2012 (ATD 19/1), 3. Zu den Ahiqar-Sprüchen: C. Uehlinger, Qohelet, 200 – 203; M. Weigl, Die aramäischen Achikar-Sprüche aus Elephantine und die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Berlin/New York 2010 (BZAW 399). Auch Hesiods „Werke und Tage“ gehört zu dieser Art Literatur : O. Schönberger, Werke und Tage, Stuttgart 2004. „Autobiographie.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. First appeared online: 2006. Zugriffsdatum: 18 September 2014. S. E. Blumenthal, Rolle, 9 – 36. Vgl. jetzt ausführlich Y. V. Koh, Royal Autobiography in the Book of Qoheleth, Berlin/New York 2006 (BZAW 369). Übersetzung und Einleitung: J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, Gütersloh, 21980 (JSHRZ III/1). L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 56.

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Literarische Gattung: Das Buch Kohelet als autoritative Lehre

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2.2.3 „Sprach Kohelet“ (1,3; 12,8): Das Buch Kohelet als erzählte Rede Zwischen Buchcorpus und Über- bzw. Unterschrift treten die beiden Textteile, die in 3. Person über Kohelet sprechen und ein längeres (1,2 – 11) und ein kürzeres (12,8) Zitat Kohelets darstellen. Überschrift, Prolog, Schlusszitat und Epiloge berichten damit von einer Rede Kohelets in der Vergangenheit, so dass das Buch durch die Rahmentexte zu einer erzählten Rede wird. Tatsächlich verschieben sich mit den beiden Zitaten Kohelets die Sprechakte. Weil 1,12 nicht mehr als neuer Sprechakt eingeleitet wird, ist die gesamte Ich-Rede Kohelets streng genommen vom „sprach Kohelet“ in 1,2 abhängig. Diese Beobachtung wird in vielen Analysen in eine Theorie der „Stimmenstruktur“ umgesetzt, die einen Erzähler, einen Protagonisten Kohelet und Kohelet als Erzähler unterscheidet.45 : Der Theorie der „Stimmenstruktur“ zufolge erlauben die verschiedenen „Masken“ dem Autor, sich mit inhaltlichen Positionen zu identifizieren oder davon zu distanzieren.46 Dies verbinden Fox und Schwienhorst-Schönberger zusätzlich mit dem Postulat, dass das Buch Kohelet eine Erzählung sei, die bereits als Gattung das Spiel mit Identifikation und Distanz erlaubt: „Eine Erzählung dient der Anschaulichkeit. Weist sie zudem autobiographische Züge auf, gewinnt die Lehre, die in ihr vertreten wird, an Glaubwürdigkeit. Sie wird zu einer ,erfahrenen‘ Lehre im Unterschied zu einer bloß erdachten und damit zu einer wirklichen ,Lebenslehre‘. (…) Erzählungen eignen sich in besonderer Weise, neuen Ideen eine Stimme zu geben, ,Gegenstimmen‘ zu Wort kommen zu lassen. Ein Autor kann aber auch in der Gestalt einer fiktiven Person Lebensentwürfe zur Sprache bringen, die er nicht teilt und vor denen er warnen will. (…) Die Form der Erzählung kann darüber hinaus einen Autor vor Angriffen schützen.“47

Richtig ist auf jeden Fall, dass die Strategie des Buches auf dem Wissen des Publikums aufbaut, dass Kohelet nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Dies verdankt sich aber der simplen Tatsache, dass es einen „König Kohelet“ nie gegeben hat. Eine Identifikation der verschiedenen „Stimmen“ verlangt klare Kriterien, zu erkennen, wann der Autor welche Maske trägt. Dies ist wiederum abhängig von Vorentscheidungen über Themen und Inhalte des Buches48. 45 M.V. Fox, Frame-Narrative; N. Lohfink, Strukturen, 64 – 60; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT 54 – 56; D. Dieckmann, Worte, 83 – 93. 46 M.V. Fox, Time, 372; N. Lohfink, Strukturen, 56 f. 47 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 55. 48 Aus den eben genannten Gründen muss z. B. N. Lohfink, Strukturen, 52 – 60 weitere Organisationsprinzipien des Buches zeigen, die ergänzend oder konkurrierend zur „Stimmenstruktur“ treten und rechnet L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 58 f. damit, dass das Buch nach dem Muster einer Diatribe aufgebaut ist, wobei nicht klar wird, wie Ditaribe, Stimmenstruktur und „Erzählung“ sich zueinander verhalten.

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Das Buch Kohelet: Aufbau, Gliederung, Literarische Gattung

Buchintern distanziert sich Kohelet, wenn er „ich“ sagt, zwar von seinen Meinungen, aber niemals von seiner Rolle. Die Theorie der „Stimmenstruktur“ macht auf eine Eigenart des Buches Kohelet aufmerksam, die aber letztlich nur darin besteht, dass zwischen 1,11 und 1,12 der Sprecherwechsel nicht hinreichend markiert ist. Dabei wirft die Theorie mehr Probleme auf als sie löst.49 Tatsächlich ist die solenne Selbstvorstellung 1,12 „Ich bin Kohelet“ eine hinreichend starke Zäsur, die den Sprecherwechsel auch ohne ausdrückliche Redeeinleitung markiert.50 Die beiden Rahmungen, die von Kohelet in der 3. Person sprechen und ihn zitieren, stehen außerhalb der eigentlichen Rede Kohelets, geben dieser aber gleichwohl ein inhaltliches Programm, das das Leitmotiv „alles ist flüchtig“ aufgreift. In altorientalischen Kolophonen ist die Wiederholung solcher Leitmotive belegt51, das Schlussmotto gehört daher zu den Meta-Texten des Buches. Das zum Prolog erweiterte Motto am Buchanfang ist nicht nur eine Bündelung der Reflexionen Kohelets, die sich ausdrücklich als Zitat zu erkennen gibt. Sie dient außerdem dazu, die Autorität Kohelets für weitere Aussagen geltend zu machen: In 1,2.3 – 11 werden ihm Sätze in den Mund gelegt, die nicht von ihm stammen. Nach demselben Verfahren ist das Eröffnungskapitel des Jesajabuches gestaltet (Jes 1,1 – 2,5).52 Ähnlich wie in der Überschrift wird also das Buch Kohelet als Rede einer Autoritätsperson aufgefasst. Anders als die Überschrift bürgt jedoch der Name Kohelet für die Autorität, nicht seine königliche Rolle.

49 Vgl. A. Reinert, Salomofiktion, 17 – 19. D. Dieckmann, Worte, 91 – 93 weist darauf hin, dass diese (Re-)Konstruktionen der literarischen Grundsituation genauso hypothetisch sind wie andere exegetische Operationen und weist außerdem (S. 84 – 89) nach, dass schon die Abfolge der Texte nicht deutlich zeigen lässt, welche Stimme überhaupt spricht. 50 Nicht umsonst hat die ältere Forschung in 1,12 den ursprünglichen Anfang eines älteren Kohelet-Buches gesehen, s. dazu A. Reinert, Salomofiktion, 75 f. 51 Vgl. ANET Suppl. 101.305.331.338.340.348. 52 S. dazu: W.A.M. Beuken, Jesaja 1 – 12, Freiburg/Basel/Wien 2003 (HThKAT), 60 – 96.

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3. Die Salomo-Fiktion In 1,1 wird Kohelet als „Sohn Davids“ bezeichnet. In 1,12 stellt er sich selbst als „König über Israel in Jerusalem“ vor und berichtet dann von seiner Weisheit, seinen Gütern und seinen Erkenntnissen. Vor allem Koh 1 – 2 legen eine Identifizierung Kohelets mit Salomo nahe, denn dieser war ebenso weise wie prachtvoll (1Kön 3 – 11). Die Auslegungstradition hat diese Identifikation denn eigentlich auch immer vollzogen. Gleichwohl ist die Identifikation Kohelets mit Salomo weder eindeutig noch vollständig. Nirgendwo im Buch wird ausdrücklich behauptet, dass Kohelet Salomo ist. Das Buch legt lediglich eine „salomonische Spur“1. Die Identifikation Kohelets mit Salomo setzt darüber hinaus auf die Mitwirkung des Publikums, das weiß, dass es einen König Kohelet in Israel nie gegeben hat. Darum ist das Buch Kohelet kein pseudepigraphisches Werk, bei dem der Autor unter fremdem Namen schreibt. Vielmehr ist „Salomo“ eine Rolle oder Maske, die Kohelet annimmt, um seinem Buch eine bestimmte Rezeptionsrichtung vorzugeben. Die Exegese spricht darum von „Salomofiktion“ bzw. „Königsfiktion“. Sie bildet den Schlüssel zum Verständnis des Buches. Vor allem Koh 1,12 – 2,26, aber auch andere Texte des Buches beziehen sich auf Texte aus 1Kön, 2Chr, Prv und Ps 72. In diesen werden aber unterschiedliche Bilder Salomos gezeichnet. Kohelet maskiert sich nicht einfach als „Salomo“, sondern greift bestimmte Aspekte der verschiedenen Salomotraditionen auf. Das heißt, dass er sich gleichzeitig von anderen Deutungen Salomos distanziert. Um dieser Strategie auf die Spur zu kommen, ist ein Überblick über die wesentlichen Salomo-Traditionen hilfreich.

3.1 Aspekte der Salomo-Tradition 3.1.1 Salomo in den Königebüchern Die vollständigste und zugleich älteste Tradition über Salomo ist in 1Kön 1 – 11 überliefert. Sie berichtet von der gesamten Herrschaft Salomos von seiner Thronbesteigung bis zu seinem Tod. Wiewohl sie wohl zumindest in Teilen auf historische Quellen zurückgeht, ist sie doch (selbst im ältesten Bestand) eine 1 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 118. Vgl. auch M. Hengel, Judentum, 237: „Eigenartig ist die … nur halb durchgeführte Pseudonymität des Werkes.“

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Die Salomo-Fiktion

nach theologischen Prinzipien angeordnete Komposition.2 Ihr Zentrum bildet der Tempelbaubericht 1Kön 5,15 – 9,9. Um diesem liegen als innerer Rahmen die Berichte über Salomos Weisheit, Macht und Pracht (1Kön 3,1 – 5,14; 9,10 – 10,29). Den äußeren Rahmen schließlich bilden das Programm und die Bilanz der Herrschaft (1Kön 2,1 – 4; 11,1 – 13).3 Vor allem in den rahmenden Partien 1Kön 2; 11//3 – 5; 9 – 10 wird deutlich, dass in 1Kön 1 – 11 zwei Salomotraditionen miteinander konkurrieren. Ist nach 1Kön 3 – 5; 9 – 10 Salomos Herrschaft aufgrund seiner Weisheit das unwiederbringliche Goldene Zeitalter Israels, so zeigen 1Kön 2; 11, dass Salomo aufgrund seines Götzendienstes am Anspruch des Königtums versagt hat und deswegen letztlich die Verantwortung für dessen Scheitern trägt. Die Erzählung vom weisen König Salomo 1Kön 3 – 5; 9 – 10* bildet einen fortlaufenden und schlüssigen Zusammenhang.4 Ihr Schlüsseltext ist 1Kön 3,1 – 15: Zu Beginn seiner Regierungszeit erhält Salomo von JHWH einen Wunsch frei. Er bittet um ein „hörendes Herz, Dein Volk zu beherrschen und zu unterscheiden zwischen gut und böse“ (1Kön 3,9). JHWHs Antwort lautet: 1Kön 3,12 – 13: „Siehe – hiermit erfülle ich Deinen Wunsch. Siehe – ich gebe Dir ein weises und verständiges Herz, so dass wie Du keiner vor Dir war noch nach Dir kommen wird. Und auch, worum Du nicht gebeten hast, gebe ich Dir, nämlich Reichtum und Größe, so dass wie Du keiner unter den Königen ist, solange Du lebst.“

Die weiteren Erzählungen sind Entfaltungen diesen Programms, nicht nur die Weisheitstexte im engeren Sinne (1Kön 3,16 – 28; 5,9 – 14; 10,1 – 10), sondern auch diejenigen, die von Israels Wohlstand und Frieden (1Kön 4,20; 5,4.5) sowie Salomos Ruhm und Reichtum berichten (1Kön 5,1 – 3.6 – 8; 10,1 – 28). Salomos von Gott verliehene Weisheit ist die Grundlage einer unvergleichlichen Herrschaft (1Kön 3,12.13; 5,10.11; 10,7.23.24), die für Israel zum Segen ohne Gleichen wird (1Kön 4,20; 5,4 – 5). Dieses Bild ist einzigartig in den Berichten über die Könige Israels. In den Königebüchern gibt es darauf auch keine Rückverweise. Ein größerer Teil des Textes ist von späterer Fortschreibung sogar im Wesentlichen unberührt geblieben.5 Das Bild das hier vom idealen König gezeichnet wird, entspricht 2 Zur Literargeschichte von 1Kön 1 – 11: W. Dietrich, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jh. v. Chr., Stuttgart/Berlin/Köln 1997 (BE 3), 224 – 226.257 – 259; R.G. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, Göttingen 2000 (UTB 2157), 167 f. 190 – 193. Zur Geschichte Salomos und der salomonischen Zeit: C. Frevel, Grundriss der Geschichte Israels, in: E. Zenger (Hg.), Einleitung, 628 – 636. 3 Vgl. R.G. Kratz, Komposition, 167. 4 Ausführlich: P. Särkiö, Die Weisheit und Macht Salomos in der israelitischen Historiographie. Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung über 1Kön 3 – 5 und 9 – 11, Helsinki/ Göttingen 1994 (SFEG 60); S. Wälchli, Der weise König Salomo. Eine Studie zu den Erzählungen von der Weisheit Salomos in ihrem alttestamentlichen und altorientalischen Kontext, Stuttgart/ Berlin/Köln 1999 (BWANT 141). 5 Vgl. S. Wälchli, König, 108 – 111.

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Aspekte der Salomo-Tradition

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gemeinorientalischer Königsideologie,6 wobei es aber ausdrücklich eine glanzvolle Herrschaft von JHWHs Gnaden ist. Diese Tradition besaß einiges an Dignität. Die großen Taten Salomos wurden in Details (Pferdeställe, Außenhandel etc.) immer dann fortgeschrieben, wenn die Unabhängigkeit des Jerusalemer Königtums von den Außenmächten betont werden sollte.7 Noch Herodes der Große inszenierte sich als Neuer Salomo. Gleichwohl hat eine Bearbeitung der Salomotradition stattgefunden, die ein zweites – kritisches – Bild Salomos entwirft. Sie ist in den äußeren Rahmenteilen 1Kön 2; 11 zu greifen, hat aber auch massiv in 1Kön 3,1 – 15 eingegriffen.8 In dieser Perspektive wird Salomo an seinem Gehorsam gegenüber den Geboten JHWHs gemessen, an dem er letztlich gescheitert ist. Hier spricht die „deuteronomistische“ Theologie, die das (davidische) Königtum nur dann gutheißt, wenn und sofern es der Tora entspricht.9 Salomos Herz gilt nur dann und solange als weise, wie er JHWHs Gebot beachtet. In diesem Sinne muss man das positive Bild Salomos verstehen, der bis zum Tempelbau Segen für Israel verwirklichte (vgl. 1Kön 4,20 mit Dtn 28,1 – 16). Danach aber geht sein Herz in die Irre, weil er sich aus Liebe zu seinen ausländischen Frauen zum Götzendienst verleiten lässt (1Kön 11,1 – 9). Die ältere „weisheitliche“ Salomotradition wird somit neu kontextualisiert und um ein zweites Bild Salomos erweitert. Der Glanz Salomos reicht nur noch bis zum Tempelbau, seine Unvergleichlichkeit wird durch Hiskia und Josia (2Kön 18,1 – 8; 22,1 – 2) aufgehoben. Im Lichte der Geschichte Israels, die mit Mose beginnt und im Exil endet, haben Salomos Errungenschaften nur relativen Wert. Die „deuteronomistische“ Bearbeitung der Königebücher verarbeitet das Scheitern des Königtums bis 587/6 v. Chr. und unterstellt Israel der Autorität Moses anstelle eines eigenen Königs. Diese Sinnfigur hat derart nachhaltig gewirkt, dass das nachexilische Israel bis zu den Hasmonäern (1. Jh. v. Chr.) keine nennenswerten Initiativen zur Wiedererrichtung eines Königtums mehr unternahm. Sie hat indes die Sinnfigur vom „weisen“ Salomo nie völlig verdrängen können. 3.1.2 Salomo in der Chronik Der chronistische Bericht über Salomo 2Chr 1 – 9 ist ganz auf den Tempelbau konzentriert. Der ehemalige Mittelteil der Salomogeschichte ist zu ihrem einzigen Inhalt geworden; die Chronik bietet keine echte Salomo-Narration 6 Ausführlich: Ders., A.a.O., 129 – 163. 7 Vgl. R.G. Kratz, Komposition, 188 f. J.C. Gertz, Konstruierte Erinnerung. Alttestamentliche Historiographie im Spiegel von Archäologie und literarhistorischer Kritik am Fallbeispiel des salomonischen Königtums: BThZ 21 (2004), 3 – 29. 8 Vgl. dazu S. Wälchli, König, 40 – 52. 9 Die dtr. Anteile, vor allem aber ihre relative Chronologie und ihr Bezug zum Dtn/dtrG sind umstritten, vgl. dazu R.G. Kratz, Komposition, 191 – 193.155 – 161.218 – 225.

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Die Salomo-Fiktion

mehr. Ausgelassen hat die Chronik die Thronfolgewirren, die gesamte Sequenz 1Kön 3,16 – 5,14 und Salomos Scheitern am Ende seiner Regierung.10 Das Salomobild der Chronik ist ganz auf den legitimen Nachfolger Davids konzentriert, der moralisch einwandfrei ist, den Tempel baut und ihn dem chronistischen Ideal folgend einrichtet.11 Demzufolge ist Davids „Testament“ 1Chr 28 – 29 darauf ausgerichtet, Salomo zum Tempelbauer einzusetzen. Darin besteht in chronistischer Perspektive seine Unvergleichlichkeit (1Chr 29,25), weil und obwohl Salomo nur noch ausführt, was David bereits geplant und vorbereitet hat. In diesem Sinne kontextualisiert die Chronik 1Kön 3,1 – 15 noch einmal neu. Salomos Herrschaft ist bereits durch das Tempelbauprojekt vorwegnehmend qualifiziert, die Bitte um das weise Herz (in der Chronik nur: Weisheit!) und ihre Erfüllung bestätigen dies (2Chr 1,7 – 12). Dass Salomo durch Weisheit oder Toragehorsam Erfolg hat bzw. scheitert, ist für den Chronisten nicht von Bedeutung und wird demzufolge ausgelassen. Die Rahmenfunktion für Salomos Herrschaft übernehmen Hinweise auf seinen Reichtum und seine militärischen Maßnahmen.12 Durch Auslassung, Neukontextualisierung und Schwerpunktverlagerung prägt die Chronik der Salomotradition ihren Stempel auf: Die ganze Geschichte Israels läuft auf die Errichtung des Tempels in Jerusalem zu, von dem aus Könige und Priester die Herrschaft JHWHs sinnfällig machen. Nur in diesem Rahmen kann Herrschaft ihren relativen Wert haben. Für einen weisen König ist darin kein Raum, Salomos Reichtum und Erfolg kommen dem Tempel zugute.13 Gleichwohl hat die Chronik nicht auch die Tradition von Salomos Weisheit ausgelassen, obwohl sie funktionslos geworden ist. Das heißt, diese Tradition behauptet sich auch noch in späteren Zeiten, wird aber in der Chronik der tempelzentrierten Herrschaft zugeordnet. Die Chronik ist in etwa gleichzeitig mit Kohelet anzusetzen. 3.1.3 Salomo im Proverbienbuch Das Buch der Sprüche (Proverbien) gilt als Werk Salomos, obwohl dieser als Autor nicht in Erscheinung tritt. Prv 1,1 – 9 stellt das ganze Buch unter die Autorität Salomos, indes sind im Buchverlauf Prv 22,17 – 24,22; 24,23 – 34; 30; 31 ausdrücklich nicht von Salomo. Die „weisheitliche“ Salomo-Überlieferung in 1Kön 3 – 11* und das Proverbienbuch stehen sowohl entstehungsgeschichtlich als auch theologisch im 10 R.B. Dillard, The Literary Structure of the Chronicler’s Solomon Narrative: JSOT 30 (1984), 85 – 93. 11 Vgl. S. Wälchli, König, 209. 12 Vgl. I. Kalimi, Zur Geschichtsschreibung des Chronisten. Literarisch-historiographische Abweichungen der Chronik von ihren Paralleltexten in den Samuel- und Königsbüchern, Berlin/ New York 1995 (BZAW 226), 251 – 264. 13 Vgl. J. Tinˇo, King and Temple in Chronicles. A Contextual Approach to their Relations, Göttingen 2010 (FRLANT 234), bes. 12 – 19; 94 – 107.

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Aspekte der Salomo-Tradition

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Austausch miteinander : Spruchweisheit ist Teil des Bildungscurriculums der (königlichen) Funktionseliten,14 d. h. der exemplarisch weise König ist der „Schirmherr“15 jener Weisheit, die seine Herrschaft, die Herrschaft seiner Nachfolger und aller derer ermöglichen, die im Dienste des „Staates“ stehen. Die Verfasser auch historischer, kultischer und gesetzlicher Texte haben die Schule der Spruchweisheit als ihr Elementarcurriculum durchlaufen. Darüber hinaus ist Weisheit auch in materialer Form eine Funktion von Herrschaft; daher äußert sich der König als König in Weisheitstexten.16 Und schließlich bietet 1Kön 3,1 – 15* die häufig vermisste theologische Begründung für die Weisheit des Sprüchebuches. Sobald Salomo als Autor auftaucht, ist dies von 1Kön 3 her zu lesen. (Seine) Weisheit ist eine Gabe Gottes. An dieser haben Leser und Produzenten des Proverbienbuches Anteil. Die Zuweisung der Sprüche an Salomo ist daher mehr als nur eine schriftgelehrte Ausdeutung von 1Kön 5,12. Vielmehr sind die Sprüche des Proverbienbuches Konkretion und Auslegung des Offenbarungsvorgangs von 1Kön 3, er autorisiert die Texte. In gewissem Sinne ist das Proverbienbuch daher die „Tora Salomos“.17 Diese enge Verschränkung betrifft vor allem 1Kön 1 – 11* und Prv 10 – 31. Prv 1 – 9 thematisiert den Zusammenhang zwischen Salomo und der Weisheit noch einmal anders.18 Zum einen wird Salomo jetzt ausdrücklich zum Lehrer, programmatisch in Prv 1,1 – 7.8 – 9, exemplarisch dann in den einzelnen Reden von Prv 1 – 9. Das wirkt sich auch auf Prv 10 ff. aus. Alles, was Salomo zu sagen hat, dient dem „Erwerb der Erziehung zu klugem Handeln, Gerechtigkeit, Recht und Redlichkeit“ (Prv 1,3) sowie der Weitergabe der Weisheit. In diesem Zusammenhang wird der theologische Charakter der Weisheit neu bestimmt. Programmatisch wird in Prv 1,7.8 – 9 Erkenntnis der Weisheit zur Erkenntnis JHWHs.19 Dies wird exemplarisch entfaltet in den Reden der personifizierten Weisheit Prv 1,20 – 33; 8,1 – 3620. Hier offenbart sich die Weisheit selbst und zwar als Verkünderin JHWHs.21 14 Vgl. M. Sæbø, Sprüche, 6 – 9 (Lit.). 15 Ders., A.a.O., 9 und passim. 16 Vgl. ausführlich A.F. Wilke, Kronerben der Weisheit. Gott, König und Frommer in der didaktischen Literatur Ägyptens und Israels, Tübingen 2006 (FAT II, 20). 17 Zu vergleichbaren Vorgängen in Tora und Propheten vgl. E. Otto, Rechtshermeneutik, 72 – 121; Ders., Jeremia und die Tora. Ein nachexilischer Diskurs, in: R. Achenbach/M. Arneth/E. Otto, Tora in der Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und zur synchronen Logik diachroner Transformationen, Wiesbaden 2007 (BZAR 7), 134 – 182. Dass in den Teilsammlungen des Proverbienbuches auch andere Autoren zu Wort kommen hat zwei Gründe: Zum einen bezeugen sie das Weiterwirken der Salomo verliehenen Autorität im Sinne der Auslegung und Aktualisierung (Prv 22 – 24). Zum anderen laden sie dazu ein, Salomos „unvergleichliche“ Weisheit durch den konkreten Vergleich zu überprüfen (Prv 30; 31). 18 Vgl. zum folgenden H. Spieckermann, Bildung, 42 – 48. 19 Vgl. H. Spieckermann, Bildung, 46 f. 20 Analysen: M. Sæbø, ATD, 47 – 52; 116 – 135. 21 Ders., A.a.O., 135.

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Die Salomo-Fiktion

Mit Prv 1 – 9 wird somit die Offenbarung der Weisheit an Salomo aus 1Kön 3 neu interpretiert: Die Gabe JHWHs an Salomo ist endgültig die wahre Erkenntnis JHWHs gewesen. Salomo macht Gott zu „Ursprung, Mitte und Aufgabe des eigenen Lebens … wie Gott zum Ursprung seines Wirkens den Gewinn der Weisheit gemacht hat.“22 An dieser Aufgabe kann Salomo gar nicht mehr scheitern. Diese Neukonstituierung der salomonischen Weisheit in Prv 1 – 9 korrigiert somit das „deuteronomistische“ Bild Salomos in 1Kön 2; 11. Dies gilt umso mehr, als in Prv 1,7 – 9 Weisheit mit Tora konvergiert.23 Im Proverbienbuch liegt dann tatsächlich die Tora Salomos vor (die mit der Tora Moses übereinstimmt). Prv 1 – 9 sind ein später Zuwachs zum Proverbienbuch; es ist in seiner Endfassung um das 4./3. Jh. anzusetzen und damit nicht viel älter als das Buch Kohelet.

3.2 Salomo-Tradition und Salomo-Diskurs Die Tradition von Salomos weiser Herrschaft ist ein eigenständiges Überlieferungsstück, das sich trotz aller Kritik an Salomo behauptet: Sie wird entweder fortgeschrieben oder in Prv 1 – 9 zum Offenbarungsvorgang neu gestaltet. Gleichzeitig wird Salomos Weisheit von Deuteronomisten und Chronisten relativiert, indem sie anderen Normen unterworfen wird. In allen diesen Salomotraditionen ist 1Kön 3,1 – 15 der explizite oder implizite Schlüsseltext. Er fungiert als Programm für 1Kön 3 – 11, wird umgeschrieben in Dtn-2Kön, gekürzt und neu kontextualisiert in 2Chr 1. Im Proverbienbuch wird er aufgerufen, wenn vom „Herzen“ die Rede ist, programmatisch Prv 15,14. 1Kön 3 hat somit innerhalb der Salomo-Tradition dieselbe Funktion, die in der Tora und den Propheten die Berufungstexte haben. Die Salomo-Tradition erweist sich dadurch als Salomo-Diskurs: „Die nachexilische Formierung der Hebräischen Bibel ist durch eine Reihe von ,Diskursen‘ geprägt. … Diese Diskurse … sind dadurch gekennzeichnet, dass sie thematische Schwerpunkte bilden, so … im Salomodiskurs der Zusammenhang von Königtum und Weisheit und dass die unter diesem Themenschwerpunkt … geschriebenen und fortgeschriebenen Texte aber auch unter die Autorität des tatsächlichen oder … fiktiven Urheber dieses Diskurses gestellt werden.“24

Charakteristisch für diese Diskurse ist, dass sie durch selbstreflexive Texte gekennzeichnet sind, die die Autorität des Diskursgründers legitimieren; im Pentateuch („Mosediskurs“) sind dies die Verschriftungsnotizen,25 in den 22 23 24 25

H. Spieckermann, Bildung, 46. Ders., A.a.O., 46 f. E. Otto, Jeremia, 181. Ders., Rechtshermeneutik.

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Salomo-Tradition und Salomo-Diskurs

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prophetischen Büchern Berufungsberichte.26 Die Rezeption und Transformation von 1Kön 3,1 – 15 in 1Kön; 2Chr ; Prv liegen auf dieser Linie. Der jeweilige Umgang mit den Legitimationstexten, ihre Fortschreibung, De- und Rekontextualisierung zeigt, „dass dies nicht reine Binnendiskurse in den jeweiligen Schulen waren, sondern durchaus die priesterlichen und prophetischen Kreise sich kontrovers miteinander auseinandersetzten.“27 Dabei gestalten sich diese Diskurse auf lange Sicht als auf die Frage nach der Geltung der Mosetora für Israel konzentriert – und auf die Frage, wer ihre primäre Auslegungs- und Deutungskompetenz hat. Daneben wird ein Diskurs um Herrschaft geführt. Nach dem Aufhören des indigenen Königtums in Israel übernehmen sukzessive die Jerusalemer Hohenpriester die Herrschaft in Juda-Jerusalem und eignen sich dezidiert königliche Funktionen an, die bereits im Licht der Tora gelesen wurden.28 Die Unterordnung des Königtums unter das Priestertum, wie es die Chronik darstellt und die eigenartige ToraIsierung des Proverbienbuches stehen in demselben Dienst. Seit dem Ende des 4. Jhs. v. Chr. entwickelt sich ein Salomo-Diskurs, der seine eigene Prägung hat. Dass die Septuaginta aus den 1005 Liedern Salomos von 1Kön 5,15 5000 macht, dürfte diese Entwicklung spiegeln.29 In diesen Diskurs gehören nicht nur die Schlussredaktion des Proverbienbuches, Kohelet und das – ebenfalls salomonische – Hohelied. Eupolemos (2. Jh. v. Chr.) erklärt in seiner Paraphrase der Geschichte Israels den Namen Jerusalem als Ableitung von „Hieron Salomonos“.30 Der alexandrinische jüdische Philosoph Aristobulos (der aus priesterlicher Familie stammte) nennt ebenfalls im 2. Jh. v. Chr. Salomo den größten jüdischen Philosophen nach Mose.31

26 Ders., Jeremia; R. Achenbach, König, Priester und Prophet. Zur Transformation der Konzepte der Herrschaftslegitimation in Jes 61 in: R. Achenbach/M. Arneth/E. Otto, Tora in der Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und zur synchronen Logik diachroner Transformationen, Wiesbaden 2007 (BZAR 7), 196 – 244. 27 E. Otto, Jeremia, 134. Einen Überblick über die Entwicklungslinien gibt R. Achenbach, Die Tora und die Propheten im 5. und 4. Jh v. Chr., in: in: R. Achenbach/M. Arneth/E. Otto, Tora in der Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und zur synchronen Logik diachroner Transformationen, Wiesbaden 2007 (BZAR 7), 26 – 71. 28 Ausführlich: R. Achenbach, König. 29 Zur Menge der Salomoliteratur unter magischen Gesichtspunkten s. M. Hengel, Judentum, 239. 30 „Eupolemos.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. 20 September 2014 First appeared online: 2006. 31 M. Hengel, Judentum, 239.297 f.

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Die Salomo-Fiktion

3.3 Die Salomofiktion des Kohelet-Buches Kohelet bildet mit seinem Buch einen Teil dieses Salomo-Diskurses. Der Schlüsseltext ist sein Selbstbericht 1,12 – 2,26, mit dem er sich selbst als „Salomo“ legitimiert und der auf seine Weise eine Neuinterpretation von 1Kön 3 – 10 ist. Im Vordergrund stehen zwei Elemente: Das weise Herz und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Indes macht er sich auch andere Elemente der Salomo-Tradition zu eigen: Die Formulierung seiner Herrschaft ist 2Chr 2,13 parallel, so dass er durchaus auch den chronistischen Salomo verkörpert. Als Tempelbauer präsentiert er sich jedoch nicht, vielmehr distanziert er sich in 4,17 – 5,4; 9,2 vom Tempel und seinen Riten – das heißt er inszeniert in der Maske „Salomos“ einen „kultkritischen“ Salomo. Den „deuteronomistischen“ Salomo, der das Königtum aufs Spiel setzt, rezipiert Kohelet auf seine Weise ebenfalls kritisch. Kohelets nachdrückliches Beharren darauf, dass sein „Herz“ der Weisheit gewidmet war (1,13.17; 8,9; 9,1) ist eine ebenso nachdrückliche Distanzierung von der Tradition, dass Salomo sein Herz durch die fremden Frauen hätte verleiten lassen. Damit werden die Reflexionen Kohelet-Salomos auch zur Möglichkeit, (königliche) Herrschaft neu zu bewerten. Sie bewährt sich in weise verwendetem Reichtum (1,12 – 2,26) ebenso wie in seinen Überlegungen zur Legitimierung des Königtums überhaupt (5,7; 8,2 – 4; 9,13 – 15; 10,16.20)32. Die engsten Berührungen hat das Buch Kohelet mit dem Salomo-Diskurs des Proverbienbuches. Nicht nur, dass er eine Reihe von überliefertem Gut zitiert, dass durchaus im Proverbienbuch stehen könnte.33 Sein Denken und seine Formulierungen bewegen sich in den Bahnen jener Weisheit, die durch das Proverbienbuch repräsentiert wird.34 „Weise“, „Weiser“ „Weisheit“ gehören unter den thematisch signifikanten Begriffen des Buches zu den häufigsten.35 Und gerade darin ist Kohelet gut „klassisch“: Bei Kohelet ist Weisheit immer das praktische Wissen (das durchaus begrenzt ist).36 Das liegt auf der Linie des älteren Proverbienbuches Prv 10 – 31. Kohelets Weisheit wird – anders als in Prv 8 – nicht zur Hypostase Gottes: „It is just a human quality and skill, which can never claim quasi-divine status.“37. Und schließlich kommt Kohelet in 3,14 zu derselben Erkenntnis wie Prv 1,7: Gottesfurcht und Weisheit hängen zusammen. Das entspricht dem Argumentationsduktus von Prv 1 – 7: Dass Gottesfurcht der Anfang der Weisheit sein ist oder sein muss, lässt sich 32 Vgl. dazu den Kommentar und N. Lohfink, melek, ˇsall t. und m ˇse¯l bei Kohelet und die Abfassungszeit des Buches, in: Ders., Studien, 71 – 83. 33 Vgl. die Liste bei F.J. Backhaus, Zeit, 58 – 60. 34 Ausführlich: C. Klein, Kohelet. 35 S. dazu A. Schoors, Preacher 2, 10 – 27. 36 Vgl. N. Lohfink, NEB, 24; A. Schoors, Preacher 2, 27. 37 A. Schoors, Preacher 2, 27.

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Die Salomofiktion des Kohelet-Buches

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nur aus Erfahrung mit ihr formulieren38. Und diesen Weg beschreitet Kohelet tatsächlich neu. Kohelets Selbstbericht 1,12 – 3,15 ist der Programmtext des Buches. Seine Erkenntniswege und –ziele nimmt er erzählend vorweg. Alles, was dann folgt, ist von dieser Erzählung her zu lesen und aus ihr begründet. 1,12 – 3,15 übernimmt für das Buch Kohelet die Funktion der Legitimation seines Autors als Offenbarungsempfänger wie Ex 3 – 4 für Mose, Jes 6; Jer 1; Ez 1 – 3 für die großen Propheten. Bis zum Ende des Buches bleibt der autoritative Sprecher kein anderer als Kohelet-Salomo, der dem „jungen Mann“ seiner Unterweisung erteilt. In der Forschung wird die Reichweite der Salomo-Fiktion unterschiedlich bestimmt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich; eine große Mehrzahl findet das Ende jedoch bereits in Koh 2, weil nur hier Kohelet ausdrücklich als König spräche.39 Auch 3,15 wird als das Ende der Salomofiktion betrachtet, weil hier der letzte explizite Bezug auf Kohelet als König vorläge.40 Nach Reinert reicht die Salomofiktion bis 4,16, weil sich danach andere Gestalten und Gehalte zeigten,41 indes betrachtet er 4,17 – 11,6 als „Weiterführung der Salomofiktion“.

Tatsächlich ist die textgestaltende Kraft des Königs-Ichs unterschiedlich stark. Und selbstverständlich formuliert Kohelet anachronistisch, wenn er als Salomo auftritt. Die methodische Forderung zum Umgang mit der SalomoFiktion formuliert Norbert Lohfink folgendermaßen: „Der Leser des Buches ist durch die geschehene salomonische Selbsteinführung zunächst einmal auf die Salomo-Fiktion eingestellt und rechnet solange mit ihr, bis er Gegensignale bekommt, also zumindest Äußerungen, die im Munde Salomos nicht mehr vorstellbar sind. Höchstens wenn … Signale sehr lange ausbleiben, könnte die ganze so flüchtig inszenierte Fiktion langsam in Vergessenheit geraten. (…) Deshalb ist es wichtig, auch auf den zweiten Typ von Signalen zu warten. Denn Signale dieses Typs können … das Vergessen der Fiktion etwas aufhalten. Die fingierte königliche Stimme erzählt ja, sie habe Programme entwickelt, die sie dann durchzuführen begann. Salomo gibt Vorschauen, formuliert zusammenfassende Abschnittseinleitungen. In allen diesen Fällen ist, falls keine Gegensignale auftauchen, eigentlich damit zu rechnen, dass auch die Berichte über die Durchführung des Angekündigten noch ganz in den Bereich der Königs-Fiktion gehören.“42 38 Vgl. H. Spieckermann, Bildung, 46 – 48. 39 Ende bei 2,11: D. Michel, Qohelet, 13 f.; Ders., Untersuchungen, 9. Ende bei 2,26: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 181; H.W. Hertzberg, KAT, 95; A. Lauha, BK, 42 f.; T. Krüger, BK, 150 – 152. 40 N. Lohfink, Strukturen, 91 – 94; F.-J. Backhaus, Nichts Besseres, 197 – 205. Beide unterscheiden eine Salomofiktion, die bereits in 2,26 endet, und einer Königsfiktion, die bis 3,15 reicht. Ähnlich argumentiert auch L. Schwienhorst-Schönberger, Glück, 113 f. mit dem Ende der Königsfiktion in 3,22. 41 A. Reinert, Salomofiktion, 133 – 149. 42 N. Lohfink, Strukturen, 92.

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Die Salomo-Fiktion

Tatsächlich sind solche „Gegensignale“ nirgends gegeben – im Gegenteil: Kohelets Rückbezüge auf sein königliches Programm finden sich bis 9,1. An keiner Stelle lässt sich sagen, dass Kohelet den „Königsmantel ablegt, den er sich umgeworfen hat“43 oder zwischen sich als Salomo und sich als Kohelet unterscheidet. In der einen oder anderen Weise, entweder in Form der „salomonischen Selbstpräsentation“ oder in der „Reichweite der salomonischen Programme“44 wird immer fortgeführt, was in 1,12 – 3,15 programmatisch entfaltet wird. So muss gelten: „Wollte man, trotz guter Gründe, … die Salomofiktion nicht mit 4,16 enden lassen, wäre es möglich, die Salomofiktion bis zum Abschluss durch das Schlussgedicht in Koh 11,7 – 12,7 zu führen.“45

Das ist vor dem eben skizzierten Befund nicht nur möglich, sondern sachgemäß. Was im „Mund Salomos nicht mehr vorstellbar ist“ bemisst sich nicht an Inhalten oder Variationen des Ausdrucks, sondern allein am konkreten Signal „wer spricht“. Die Salomofiktion ist nur dort (scheinbar) nicht vorhanden, wo nicht Kohelet spricht, sondern jemand anderes: 1,1.2 – 11; 12,8.9 – 10. Doch auch hier ist nur eine Distanz zum Sprecher zu verzeichnen, nicht zur Fiktion. 1,1 weist Kohelet als Davididen und König aus; 1,2 – 11 nennt zwar nur den Namen, behauptet aber keine andere Identität. 12,9 – 10 spricht als einziger Text biographisch über Kohelet. Hier ist tatsächlich nicht vom König die Rede, salomonisch oder nicht, sondern vom Weisen, Lehrer und Dichter. Dies hat aber durchaus seinen Platz im Salomo-Diskurs, nämlich in Prv 1,1 – 7. Auch ohne die Königsfiktion bleiben die Rahmentexte des Buches somit auf der „salomonischen Spur“. Eine besondere Schwierigkeit stellt in diesem Zusammenhang Koh 7,28 dar. Hier wird der sonst enorm selbstreflexive Gedankengang 7,23 – 29 durch die Angabe „sprach Kohelet“ unterbrochen. Danach folgt nirgends mehr eine so starke Selbstthematisierung wie 1,12. Theoretisch müsste daher alles von 7,28 an als aus zweiter Hand überliefertes Zitat gelesen werden. Gleichwohl wird die Salomofiktion aber an dieser Stelle nur kurzfristig unterbrochen, nicht aber beendet.

Die Salomo-Fiktion umgreift daher das ganze Buch, mit einem Vorspiel in 1,1.2 – 11 und einem Nachspiel in 12,9 – 14. Darin werden einzelne Elemente der Salomo-Tradition aufgegriffen und zu einem neuen Bild zusammengesetzt, das man mit „Der König und der Weise“46 überschreiben kann.

43 44 45 46

L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 243. Zum Befund auch A. Reinert, Salomofiktion, 134. N. Lohfink, Strukturen, 91. A. Reinert, Salomofiktion, 177. T. Krüger, BK, 20 f.

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Fiktion als Textstrategie: Salomo als „re-used figure“

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3.4 Fiktion als Textstrategie: Salomo als „re-used figure“ Von allen anderen Legitimationsdiskursen des Alten Testaments, vor allem den prophetischen, unterscheidet sich der Salomodiskurs bei Kohelet dadurch, dass er seine Fiktionalität von Anfang an deutlich macht, dass „dieser Salomo keinen Hehl daraus macht, dass er nicht Salomo ist“.47 Es gehört somit zur Strategie des Textes, im Einverständnis mit seinem Publikum nicht den „historischen Salomo“ zu Wort kommen zu lassen, sondern einen „Salomo redivivus“48 oder besser : einen imaginierten Salomo. Die Frage ist, was die Fiktion bezweckt, da doch immer der Möglichkeit zur Verfügung steht, Salomo pseudepigraphisch zum Verfasser der Reflexion zu machen. Diese Möglichkeit hat die nach-alttestamentliche Salomo-Literatur von den Psalmen Salomos bis zum Testament Salomos reichlich genutzt, von der apokryphen Salomo-Literatur gar nicht zu reden.49 Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass „Kohelet“ kein Name ist, sondern ein Pseudonym. Aufgrund der (möglichen) Bedeutung des Namens „Versammlungsleiter, Versammlungssprecher“ wird angenommen, dass die Salomofiktion Teil einer tatsächlichen Inszenierung gewesen sei, eines Vortrags, den Kohelet öffentlich gehalten hat und bei dem er als „Salomo“ auftrat. So denkt Rüdiger Lux an ein „Rollenspiel“50. Norbert Lohfink postuliert Kohelet als hellenistischen Wanderphilosophen, dessen Personifizierung als Salomo ebenfalls Teil seiner Inszenierung sei.51 Christoph Uehlinger schlägt vor, Kohelet als Symposiarchen zu verstehen, der – den Gepflogenheiten des Symposiums entsprechend – auch eine Königstravestie durchführe.52 Diese Vorschläge sind durchaus ansprechend, haben aber auch ihre Schwierigkeiten. Ob der Name Kohelet konkrete Rückschlüsse zulässt, wird sich nicht mehr klären lassen. Außerdem liegt allen Entwürfen die Annahme zugrunde, dass die Fiktion nicht das ganze Buch prägt. Vielmehr würden 12,9.10 Kohelets wahre Identität preisgeben.53 Oder das Buch hat unterschiedliche Wachstumsphasen durchlaufen.54 Erst 1,1 sei ein Missverständnis, das die Salomofiktion für echt hält.55 Michael V. Fox’ einflussreiche Theorie der „Stimmenstruktur“ versucht, Kohelet und „Salomo“ zusammen zu denken und entwirft eine komplexe narrative Mehrfach47 48 49 50 51 52 53

H.W. Hertzberg, KAT, 53. R. Lux, Fiktion, 337. M. Hengel, Judentum, 237. R. Lux, Fiktion, 335 f. N. Lohfink, Strukturen, 56 – 58. C. Uehlinger, Qohelet, 229 – 235. So N. Lohfink, Strukturen, 57 f. Kritik bei C. Uhelinger, Qohelet, 235; A. A. Fischer, Skepsis, 21 – 27. 54 C. Uehlinger, Qohelet, 235: „Symposion als ursprünglicher Sitz im Leben, das Buch als Diatribe“. 55 R. Lux, Fiktion, 336.

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Die Salomo-Fiktion

fiktion: Ein Autor erzählt von einer Person namens Kohelet, die ihrerseits von sich selbst erzählt (und sich dabei als Salomo entwirft).56 Letztlich ist hier nicht Salomo die Fiktion, sondern Kohelet, und damit ist die Salomofiktion bei Fox unterschätzt.

Fiktionen und Fiktionalität formulieren kein „Als ob“, sondern ein „wie es hätte sein können bzw. sollen“. Sie setzen eine Mitarbeit des Publikums voraus bzw. stellen sie gezielt her : Die Fiktion muss erkennbar sein, damit sie funktioniert.57 Das Buch Kohelet lässt einen Salomo sprechen, den es so nicht gab, aber den es hätte geben können. Er personifiziert eine bestimmte Sicht auf den Topos Salomo in der Figur des Kohelet-Salomo, ein typischer Zug des Fiktiven: „Schon die vergangene Wirklichkeit selbst hat die Tendenz, sich in der memoire collective zu Sinnfiguren zusammenzuschließen. Unter den Bedingungen eines historisch situierbaren Vorverständnisses von Geschichte entfaltet der historische Roman diese Sinnfiguren durch freie Besetzung, die die Funktion hat, die aus der Wirklichkeit gewonnenen Sinnfiguren durch Überschreitung der Wirklichkeit zu vertiefen, zu interpretieren, zu kritisieren, sie zum Gegenstand einer eigenen Aufmerksamkeitsbewegung zu machen. … Wenn der historische Roman … gebunden ist an die einer memoire collective gegebenen Fakten und Ereignisse, so ist sein Spielraum der einer Interpretation von Geschichte durch fiktionale Erfüllung von Leerstellen zwischen der memoire collective gegebenen Ereignissen und Verläufen. (…) Wenn Fiktion generell bestimmt ist als Inkorporierung von Konzepten, dann ist eine ihrer Möglichkeiten, dass solche Konzepte in einer historischen Welt inkorporiert werden. Die Geschichte ist dann der Horizont der Fiktion.“58

Die von Karlheinz Stierle skizzierten Umrisse decken des Fiktiven bzw. der Fiktionalität decken sich mit den oben geschilderten Merkmalen der alttestamentlichen Diskurse: Einem „Autor“ als Garant einer Sinnfigur werden Worte in den Mund gelegt, die er hätte sagen können (oder müssen), um in der Jetztzeit des Publikums verwirklicht zu werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung für das Publikum, die Fiktion zu erkennen.59 Warum aber gibt sich der Sprecher des Buches Kohelet nicht gleich als Salomo aus? Dass er es nicht ist, ließe sich trotzdem erkennen. Das Buch Kohelet entwirft einen alternativen Salomodiskurs, der mit dem Salomodiskurs von Kön; Chr und Prv nicht vollständig kompatibel ist. Er nimmt „Salomo“ gleichwohl für eine Sicht auf Weisheit und Herrschaft in Anspruch, die in diesen Texten wurzelt. Am ehesten lässt sich das Buch Kohelet noch als ein Gegenentwurf zu Prv in dessen Endfassung verstehen.60 Entweder ist das Buch 56 M.V. Fox, Time, 366 – 372. 57 Vgl. R. Lux, Fiktion, 334 im Anschluss an Weinrich und Iser. 58 K. Stierle, Fiktion, Negation und Wirklichkeit, in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, München 1975 (Poetik und Hermeneutik VI), 522 – 524, hier 524. 59 Vgl. E. Otto, Rechtshermeneutik, 74 – 77. 60 Vgl. T. Krüger, BK, 52, der mit Kohelet als Ergänzung zu Prv rechnet.

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Fiktion als Textstrategie: Salomo als „re-used figure“

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mit seiner Position von Vertretern einer „orthodoxen“ Weisheitstheologie ausgegrenzt worden oder Salomo als volle Legitimationsfigur war – zumindest zu Kohelets Zeiten – gewissermaßen schon „besetzt“. Aus der spätpersisch-hellenistischen Epoche lässt sich eine ganze Reihe ähnlich gelagerter Werke benennen: Die Tempelrolle, das Jubiläenbuch, die Henoch-Literatur, die Testamente der Zwölf Patriarchen. In allen diesen Büchern wird die grundlegende Aussage des Diskursgründers in Bezug auf die „biblischen“ Texte, aber in Distanz zu diesen noch einmal neu bestimmt, sei es als „Offenbarung61, sei es – wie bei Henoch und den Patriarchen – durch die Gründung neuer Diskurse. Auch das Buch Kohelet gehört zu diesem Feld der rewritten bible, die vielleicht nicht zufällig häufig in Form der Abschiedsrede oder des Testaments gekleidet ist. Die Intertextualitätsforschung spricht in Fällen wie dem Buch Kohelet von „Figuren auf Pump“ oder re-used figures. Dabei ist es bei Reinterpretationen bereits vorliegender Werke außerordentlich schwierig, die „tatsächliche“ Figur zu verwenden, weil das Werk selbst zu viele Anforderungen stellt. Häufiger sind Anspielungen auf Figuren oder Kombinationen von Figuren und Traditionen62. Dieser Fall liegt auch im Buch Kohelet vor.63

61 Vgl. dazu E. Otto, Rechtshermeneutik, 105 – 121. 62 Vgl. dazu Jörg Helbig, Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, Bd. 141), 113 – 115. 63 Wobei indes in diesem Fall nicht sicher zwischen „re-used figure“ und „re-used author“ (Ders., A.a.o., 115 – 117) zu unterscheiden ist, weil „Salomo“ beides ist.

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4. Themen und Theologie des Buches Kohelet 4.1 Themen Zu den charakteristischen Eigenarten des Buches Kohelet gehören bestimmte refrainartig verwendete Begriffe, Formulierungen und Motive. Sie bilden das thematisch-theologische Gerüst des Buches, werden aber dramaturgisch und didaktisch entfaltet. Es lassen sich folgende für das Buch bedeutende Themenkreise bestimmen: Die Flüchtigkeit des Tuns und Erkennens, die Frage nach dem Guten und die Frage nach dem Lebenssinn.

4.1.1 Flüchtigkeit (Hæbæl) und Streben nach Wind Die in unterschiedlichen Varianten auftauchende Formel „Alles ist flüchtig“ bzw. „auch dies ist flüchtig“ begegnet an 24 Stellen im Buch. Hinzu kommt die singuläre Formulierung 11,8 „denn alles, was kommt, ist flüchtig“. Dreimal wird es mit „Leben“ verbunden, (6,12; 7,15; 9,9) und erscheint im Zusammenhang mit der Fehlgeburt in 6,4. Im Ganzen wird Hæbæl somit 38 Mal bei Kohelet verwendet und ist damit ein Leitbegriff des Buches. Die Frage ist, welche Rolle es für die Argumentation und die Theologie des Buches spielt. Hæbæl im Alten Testament Im Alten Testament erscheint Hæbæl an insgesamt 86 Stellen. Mit einer gewissen Häufung begegnet es in Gen 4 (Vv. 2.4.8.9.25 – dort als Eigenname), im Hiobbuch (Hi 7,16; 9,29; 21,34; 27,12; 35,16), in den Psalmen (Ps 31,7; 39,6.7.12; 62,10.11; 78,33; 94,11; 144,4) und bei Jeremia (Jer 2,5; 8,19; 10,3.8.15; 14,22; 16,19; 23,16; 51,8). Die weiteren Belege sind: Dtn 32,23; 1Kön 16,13.26; 2Kön 17,5; Prv 13,11; 21,6; 31,30; Jes 30,7; 49,4; 57,13; Klgl 4,17; Jon 2,9; Sach 10,2.1 Wörtlich bedeutet Hæbæl „Windhauch“ und ist wahrscheinlich eine lautmalerische Bildung.2 In dieser konkreten Bedeutung kommt es nur selten vor (Jes 57,13; Ps 62,10; Prv 21,6). Überwiegend wird es metaphorisch bzw. in übertragenem Sinne verwendet und konnotiert Trug, Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Vielfach betrifft dies den Menschen und seine Lebenszeit. Exemplarisch ist Ps 144,4: „Der Mensch gleicht dem Hæbæl, seine Tage sind wie der vorübergleitende Schatten“.3 Programmatisch auserzählt wird dies in 1 Grundlegende Literatur : R. Albertz, THAT I, 476 f.; K. Seybold, ThWAT II, 335 – 343; D. Michel, Untersuchungen, 40 – 42. 2 K. Seybold, ThWAT II, 335 f. 3 Vgl. ähnlich auch Ps 39,6.7.12; 62,10.11; Jes 49,4; Hi 7,16; 9,29; 21,34.

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Themen

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Gen 4. Abel (hebr. Hæbæl) ist „der schlechthin Verschwindende, der zum Nichts wird durch den Mord seines überlebenskräftigen Bruders“.4 In ähnlicher Weise können Jugend und Schönheit (Koh 11,10; Prv 31,30) als Hæbæl bezeichnet werden. Wahrscheinlich auf assoziativem Weg benennt der Begriff dann ein Nichts oder eine Nichtigkeit5. In diesem Sinne wird es verwendet für Worte (Hi 27,12), unzuverlässige Verbündete (Jes 30, 7; Klgl 4,17), vor allem aber „Götzenbilder“ (Dtn 32,21; 1Kön 16,13.26; 2Kön 17,15; Jer 2; 8; 10): „Sie werden dadurch attackiert, dass sie mit dem nichtigenden Hæbæl gleichsam angehaucht und so mit Emphase negiert werden.“6 bzw. „schon eine Kleinigkeit reicht aus, um die Götzen als kraftlos zu entlarven“7

Zum Programmbegriff des Buches wird Hæbæl durch die beiden Motti 1,2; 12,8. Dort wird die Botschaft Kohelets zusammengefasst mit „Überaus flüchtig“, sprach Kohelet, „überaus flüchtig, alles ist überaus flüchtig“. Der Superlativ begegnet nur an diesen beiden Stellen. Sonst begegnet der Begriff einzeln und mit kurzer Reichweite, teils voraus-, teils rückweisend. Im Buch erscheint Hæbæl in charakteristischer Verteilung. Es rhythmisiert den Abschnitt 1,12 – 2,268 und wird dann signifikant seltener. Im ersten Buchteil wird es in den einzelnen Abschnitten nur noch vereinzelt verwendet (3,19; 4,4; 4,8). Im zweiten Buchteil tritt es gehäuft noch einmal in 5,9 – 6,9 auf (5,9; 6,2.9), dann nur noch in 7,6; 8,14, danach nicht mehr. Bezeichnenderweise ist es in den Abschnitten 3,1 – 15; 4,17 – 5,6 und 9,1 – 11 nicht vertreten. So ist aus der Verteilung zu erkennen, dass Hæbæl besonders für Kohelets Lebensexperiment (1,12 – 2,26) von Bedeutung ist. In diesem werden mit dem Hæbæl-Urteil sehr unterschiedliche Einzelaspekte verbunden: Die Untersuchung der Menschenwerke und der Freude (1,14; 2,1), die selbst vollbrachten Taten (2,11), der Befund, dass das Erreichte nicht weitergegeben werden kann (2,15.19.21), alle Taten der Menschen (2,17) und die Unverfügbarkeit der Gaben Gottes (2,26). Es ergibt sich somit, dass sowohl Erkenntnisbemühungen als auch das Streben nach Gütern als auch Gottes Handeln in Bezug auf den Erfolg dem Hæbæl-Urteil unterliegen.9 Nach 2,26 wird das Urteil nicht mehr für Erkenntniswege verwendet. Vielmehr beziehen sich die weiteren Belege auf die Sterblichkeit von Mensch und Tier (3,19), den Neid als Movens allen Erfolgsstrebens (4,4), die Frage nach dem Weitergeben (4,8) den Reichtum und die Wünsche des Menschen (5,9; 6,9) sowie die Unverfügbarkeit göttlicher Gaben (6,2; 8,14). Somit tritt zwischen 1,12 – 2,26 und 3,19 eine Wahrnehmung, die die Erkenntniswege charakteristisch verändert. Nach Kap. 3 kann man jedenfalls nicht sagen, dass sich „im Hæbæl-Urteil Kohelets 4 K. Ehlich, @58 – Metaphern der Nichtigkeit, in: O. Kaiser/A. A. Diesel/A. Wagner (Hg.), „Jedes Ding hat seine Zeit“. Studien zur israelitischen und altorientalischen Weisheit (FS D. Michel), Berlin/New York 1996 (BZAW 251), 52. 5 Vgl. Ders., A.a.O., 53 f.; K. Seybold, ThWAT II, 338. 6 K. Seybold, ThWAT II, 338. 7 T. Zimmer, Tod, 25. 8 Acht Mal: 1,14; 2,1.11.15.17.19.21.23.26. 9 A. Reinert, Salomofiktion, 144.

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ein Verzicht auf alle menschlichen Erkenntnismöglichkeiten niederzuschlagen“ scheint.10 In 3,19; 8,14 erhält die Hæbæl-Formel ihr sofortiges Gegengewicht durch die Empfehlung der Lebensfreude (3,22; 8,15), in 4,8 durch das Lob der Gemeinschaft. Der Wahrnehmung der Flüchtigkeit gesellen sich also im Lauf der Reflexion weitere Wahrnehmungen hinzu, die sie zwar nicht aufheben, aber ein Gegengewicht dazu bilden können: Lebensfreude und Gemeinschaft.11 Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage nach der angemessenen Übersetzung von Hæbæl. Auch Kohelet verwendet Hæbæl überwiegend metaphorisch. Im Großen und Ganzen oszilliert es zwischen „vergänglich“ und „vergeblich“, kann dabei aber auch in Richtung „widersinnig“, „frustrierend“ oder „sinnlos“ tendieren. Unter vielen Übersetzungsversuchen12 hat in jüngerer Zeit die Übersetzung „absurd“ große Beliebtheit erfahren13. Versteht man diese Übersetzung im umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „widersinnig, unlogisch“, dann ist sie durchaus sachgemäß. Ob man „absurd“ jedoch im Sinne der philosophischen Diskussion als Bedeutung für Hæbæl verwenden sollte, scheint fraglich und ist auch umstritten14. Ähnliches gilt für die klassische Übersetzung „eitel“ (im Anschluss an die lateinische Übersetzung als „vanitas“). Dessen Konnotation von „vergänglich“ ist dem modernen Sprachgebrauch inzwischen abhanden gekommen.15 Insofern ist „flüchtig“ eine sachgemäße Übersetzung, wobei „leer“, „Dunst“, „Wahn“, „Chimäre“, „Luftschloss“ usw. stets mitzuhören sind.16

Die metaphorische Aussage reC t r ah. (1,14.17; 2,11.17.22.26; 4,4.6.16; 6,9) bedeutet entweder „Streben nach Wind“ oder „den Wind weiden“17, auf jeden Fall ebenfalls ein sinn- und ergebnisloses Unterfangen. Es verstärkt – vor allem in 1,12 – 2,26 die Hæbæl-Aussage, hat aber keinen eigenen Stellenwert. Der Dramaturgie der Hæbæl-Formel, die sich in 1,12 – 12,7 beobachten lässt, stehen die beiden pauschalen Motti 1,2; 12,8 entgegen: Am Anfang und am Schluss seiner Reflexionen sagt Kohelet ihnen zufolge immer noch dasselbe. Vor allem aber formulieren die Motti das Hæbæl-Urteil in einer Weise, die im Rest des Buches nicht verwendet wird, nämlich als Superlativ. Die Motti werden nicht nur nicht von Kohelet selbst geäußert; die Verse stammen zudem 10 11 12 13 14 15 16 17

Ebd. Vgl. T. Krüger, BK, 14 f. Überblick: T. Zimmer, Tod, 25 – 33; A. Schoors, Preacher 2, 120 – 129. M.V. Fox, The Meaning of hebel for Qohelet: JBL 105 (1986), 409 – 427; Ders, Time, 27 – 29; D. Michel, Untersuchungen, 40 – 51; A. Schoors, Preacher 2, 125 f. Vgl. zur Kritik an dieser Übersetzung T. Zimmer, Tod, 27 f.; K. Ehlich, Metaphern, 59 – 61. Vgl. dazu Ders., A.a.O., 27. In diese Richtung übersetzen die Zürcher Bibel, T. Krüger, BK. N. Lohfink; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT bleiben beim wörtlichen „Windhauch“. Vgl. ausführlich M.V. Fox, Time, 43 – 45; A. Schoors, Preacher 2, 439 – 442. Während Schoors und mit ihm die Mehrzahl der Kommentare das Streben oder Greifen bevorzugt, ist nach Fox eine genaue Übersetzung nicht zu leisten.

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vermutlich aus zweiter Hand. Es ist das Ziel dieser Bearbeitung, gerade beides, die Flüchtigkeit des Lebens und Handelns einerseits und die Sinnlosigkeit menschlichen Erkenntnisstrebens betont festzuhalten.

4.1.2 Das Gute Kohelet beginnt sein weisheitliches Lebensprojekt mit der Frage „was gut ist für die Menschen bei dem, was sie tun“ (2,3). Die Frage nach dem Guten – und ergänzend die Beobachtung des Schlechten – werden im Buch schrittweise beantwortet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass „Gut“ (t. b) und „schlecht“ (raC) im Buch Kohelet selten in moralischem Sinne verwendet werden. „Gut“ erscheint an 52 Stellen und ist damit das häufigste Einzellexem.18 Es ist fast ausschließlich als das Sinnvolle, Nützliche und Erfreuliche konkretisiert, was mit der allgemeinen Semantik der Wurzel im Alten Testament konvergiert.19 Überraschenderweise findet die Frage von 2,3 in 2,24 zunächst eine negative Antwort: Es gibt nichts Gutes im Menschen. Sein Tun, nämlich Essen, Trinken und Genießen muss vielmehr als Gabe Gottes erkannt werden. Dies ist hinsichtlich des Guten Kohelets Grunderkenntnis („ich sah“), die er dann fortwährend präzisiert: 3,12 variiert 2,24, ergänzt die Handlungen jedoch um „Gutes tun“. 3,22 lautet die Aussage: „es gibt nichts Besseres für den Menschen als Freude zu empfinden bei seinem Tun“. Statt der Gabe Gottes erscheint in 3,22 das „Los“ (h. e¯læq). Dies greift 5, 17 auf und wendet das Gute wieder auf Essen, Trinken und Genuss an. An dieser Stelle werden „Los“ und Gabe Gottes verbunden. Wie in 2,24 ist die Einsicht über dieses Gute eine absolute Erkenntnis. 6,12 greift die Frage von 2,3 wieder auf und richtet sie an den Zuhörer. Der Bezugspunkt ist hier die Flüchtigkeit des Lebens. In 7,18 wird in einer persönlichen Anrede das Gute mit der Weisheit verknüpft. 8,12 – 15 verbinden Gottesfurcht und Freude, d. h. Essen, Trinken und Genuss miteinander als das, wozu es nichts Besseres gibt. Die Frage nach dem Guten und die schrittweise Antwort darauf prägt also die inhaltliche Dramaturgie des Buches Kohelet ganz erheblich. Insofern lässt sich dieses Thema als einer der Hauptschwerpunkte des Buches kennzeichnen. Und tatsächlich nimmt die Hæbæl-Formel in dem Maße ab, wie die Frage nach dem Guten an Bedeutung gewinnt. Aufgrund dieser Beobachtung bestimmt vor allem Ludger Schwienhorst-Schönberger „Glück“ als das Thema des Buches Kohelet:20

18 A. Schoors, Preacher 2, 27. 19 Vgl. ausführlich I. Höver-Johag, ThWAT 3 (1982), 315 – 339. 20 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 69 – 80.

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„Im Zentrum des Koheletbuches steht die Frage nach Inhalt und Bedingung der Möglichkeit menschlichen Glücks“.“21 Er verortet die Entstehung dieser Thematik im „eudämonologischen Diskurs der Antike“22, d. h. in der breiten Diskussion über das Glück in den griechischen und hellenistischen Philosophien. In dieser Diskussion bildet Kohelet seine eigene Stimme und gibt dem Thema Glück vier eigene Akzente: 1) Glück in Bezug auf die Wirklichkeit Gottes; 2) Glück als Erfahrung; 3) Glück in der Gegenwart und 4) Glück als etwas Bleibendes.23 Mit diesen vier Akzenten grenze sich Kohelet vor allem gegen einen mehr oder weniger unreflektierten Hedonismus ab und betone vor allem Glück/Freude als unverfügbare Gabe Gottes.24 Es ist ein großes Verdienst der Analysen Schwienhorst-Schönbergers, die Bedeutung der „Gutes“-Thematik im Buch Kohelet so nachhaltig herausgearbeitet zu haben. Die Auslegung des Buches ist überwiegend von der Wahrnehmung Kohelets als Prediger der Vergänglichkeit, der Geringschätzung der Welt und der Vorherbestimmung geprägt. Auch die narrative Entwicklung des Themas und die spezifischen Aspekte sind richtig beobachtet. Gleichwohl ergeben sich einige Anfragen an diese „Theologie des Glücks“. Im Hinblick auf die Salomofiktion muss gesagt werden, dass die Entdeckung des Glücks, seiner Gestalt und seiner Möglichkeiten nicht das Ende der Königsfiktion darstellt, wie Schwienhorst-Schönberger und mit ihm die meisten annehmen.25 Überdies ist zu fragen, ob in der Erkenntnis und im Leben des „Glücks“ eine Heilung gesellschaftlicher Unheilszusammenhänge im Blick Kohelets liegt.26 Das Gute ist dazu zu eng verwoben mit anderen Bedingungen, vor allem mit Weisheit und Gottesfurcht. Auch ein „bleibendes Glück“ ist bei Kohelet nicht notwendig zu erkennen, dazu ist das Bewusstsein des Todesgeschicks zu stark. Vor allem aber ist es die Interpretation des „Guten“ als „Glück“ und seine Einordnung in griechisch-hellenistische Diskurse, die problematisch ist. Was das Griechische mit eudaimon a bezeichnet, wäre im Hebräischen eher mit Basˇre¯, „selig“, wiederzugeben, ein Begriff, den Kohelet gerade nicht verwendet.27 Überdies differenziert sich in der griechischen und hellenistischen Philosophie der Glücksbegriff:28 Steht

21 22 23 24 25 26 27 28

Ders., A.a.O., 70. Ebd. Ders., A.a.O., 74. Ders., A.a.O., 78.f. Im Anschluss an N. Lohfink, Koh 5,17 – 19 – Offenbarung durch Freude, in: Ders., Studien, 101 f. erwägt Schwienhorst-Schönberger für das Buch Kohelet eine „Offenbarung durch Freude“, die den Weg zur Gotteserkenntnis bahnt. L. Schwienhorst-Schönberger, A.a.O., 76 f. Vgl. Ders., A.a.O., 80 f. Vgl. A. Cazelles, ThWAT I (1973), 481 – 485. „Glück.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. 17 October 2014

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bei Platon das Glück unter dem Horizont der Gerechtigkeit, so bei Aristoteles im Zusammenhang mit der Weisheit. Beide erörtern das Glück im Horizont des Gemeinwesens. Die hellenistischen Philosophenschulen hingegen konkretisieren Glück als Genießen der Güter unter individueller Perspektive, vor allem aber im Zusammenhang mit der Frage nach den Leidenschaften. Offen ist überdies, wie die griechische Philosophie in den israelitisch-orientalischen theologischen und Weisheitsdiskurs vermittelt wurde. Wo Kohelet mit seinem „Glücks“-Diskurs zu verorten ist, muss daher noch einmal präzise analysiert werden. Tatsächlich ist es sowohl vom Textbefund wie von der Überlieferungsproblematik her sachgemäßer, das „Gute“ bei Kohelet als „Lebensfreude“ zu präzisieren. Die überzeugendste Analyse hierzu hat Stefan Fischer vorgelegt.29. Eine Durchsicht der einschlägigen Stellen ergibt: „Alle Beschreibungen der körperlichen Wahrnehmung zielen auf die Lebensfreude, die je und je neu ergriffen werden muss. Die Lebensfreude wird zum Maßstab eines gelungenen Lebens. Wahre Gottesfurcht findet sich nur im Wahrnehmen der Lebensfreude, weil der Mensch damit seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung gerecht wird. Die Weisheitslehre Kohelets hat demnach zwei Säulen: Gottesfurcht und Lebensfreude. (…) So hat seine Weisheitslehre eine menschliche und eine göttliche Seite und ist demnach nicht Philosophie, sondern Theologie.“30

Material konkretisiert sich das Gute bei Kohelet als Essen, Trinken, Genuss und Freude, daneben auch im Tun des Guten. Theologisch ist es eine Gabe Gottes und das Los des Menschen. Es ist demnach nicht verfügbar, sondern muss als das erkannt werden, was es ist. Damit distanziert sich Kohelet von jenen theologischen Entwürfen, die das materiale Gute als Segen Gottes o. ä. verstehen und das Verfügen-Können über die Güter in den Horizont der Gebote und des Willens JHWHs stellen. Gutes und Güter sind als Gabe Gottes nicht spezifisch für JHWH und Israel, gleichzeitig aber an die Bedingung der Gottesfurcht gebunden.31 Die prominente Stellung des „Guten“ im Kohelet-Buch ist im Schlüsseltext des Salomo-Diskurses verankert: In 1Kön 3 konkretisiert sich das weise Herz Salomos in der Unterscheidung von Gut und Böse. Kohelet macht dies zu einem Teil seiner Lebensaufgabe. Dass er das Gute auf die Gottesfurcht hinordnet, verdankt sich der Auseinandersetzung mit der Weisheit des Proverbienbuches. Das Gute bzw. die Lebensfreude haben jedoch im Buch Kohelet keinen eigenständigen Stellenwert, sondern nur im Rahmen der Gottesfurcht und der Weisheit.

First appeared online: 2006 29 S. Fischer, Aufforderung. 30 Ders. A.a.O., 110 f. 31 Vgl. Ders., A.a.O., 111.

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4.1.3 Der Sinn des Lebens: Geschick und Los Das, was das Gute material auszeichnet, fasst Kohelet mehrfach mit dem Begriff h. e¯læq, „Los“ zusammen. Es bezeichnet die Zuteilung, auf die man in gewisser Weise ein Anrecht hat und die man bis zu einem gewissen Grad eigeninitiativ ergreifen kann. Trotzdem bleibt sie in letzter Konsequenz unverfügbar. Auch dies wird dramaturgisch gestaffelt entwickelt: Aus dem königlichen Selbstexperiment ergibt sich 2,10 das durch Mühe erworbene frohe Herz, die Zufriedenheit mit dem Erreichten als „Los“. Es kann jedoch nicht auch von ihm weitergegeben werden, weil es mit dem persönlichen Engagement verbunden ist (2,21). 3,22 bildet einen neuen Ansatz: Die Freude im Tun wird zum Los des Menschen, der sein Todesgeschick erkannt hat. 5,17.18 entfalten dies ausdrücklich als Gabe Gottes. In 9,9 wird dies in eine Aufforderung umgesetzt, das Leben zu genießen und dies als Los anzuerkennen. Unter der Perspektive des „Loses“ wird Lebensfreude für Kohelet ein Teil des Lebenssinns. Gleichwohl ist dieser unverfügbar. Vor allem 2,10 – 21; 3,16 – 22 wird entfaltet, dass die volle Erkenntnis und Akzeptanz des Loses von einer zweiten Größe abhängt, nämlich dem „Geschick“ (miqræh). Damit meint Kohelet den Tod, der alle Menschen einerseits und Mensch und Tier andererseits trifft und zwar völlig unabhängig von ihrer Lebensgestaltung. Die Begriffswahl ist nicht zufällig, der Tod ist für Kohelet wirklich blindes Geschick und völlig unbeeinflussbar. Die Korrelation von Los und Geschick tritt buchdramaturgisch zwischen das Hæbæl-Urteil (und bewirkt dessen Zurücktreten) und die immer stärkere Dominanz der Aufforderungen zur Lebensfreude. Diese Einsicht in Glückslos und Todesgeschick ist hochsignifikant für die ethische bzw. praktische Perspektive der Lehre Kohelets. Mit dem Wissen um das indifferente Todesgeschick werden „klassische“ theologischethische Differenzierungen bedeutungslos. Die für seine theologischen Zeitgenossen hochbedeutsamen Leitkategorien „Gerechte“/„Frevler“ bzw. „Weise/Toren“ haben, wie er in 3,16 – 22 theoretisch und in 6,10 – 7,14; 7,15 – 22; 8,9 – 15 praktisch entfaltet, keinen Einfluss auf das Leben und Sterben des Menschen. Vor allem Franz Josef Backhaus hat sachgemäß herausgearbeitet, dass das „beziehungslose Todesgeschick“ der „hermeneutische Schlüssel“ zu dem ist, was für Kohelet eine Art Sinn des Lebens ist: Kohelet „verwendet das beziehungslose Todesgeschick, also etwas Sinnloses, um die Absurditäten bzw. das Sinnlose im Leben … aufzuzeigen: Das unstillbare Verlangen nach Weisheit und Besitz. (…) Der Tod dient … nicht nur zur Offenlegung absurder bzw. sinnloser Handlungen, sondern er stellt gleichzeitig unter der zeitlichen Perspektive des Zufalls bzw. Geschicks einen ,hermeneutischen Schlüssel‘ für ein neues Verständnis des Lebens … dar. Für ein solches Leben, welches aufgrund der kritisierten Weisheit nicht mehr auf überlieferte Ordnungsstrukturen vertraut und in dem der Tod zu der zentralen anthropologi-

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schen Konstante wird, ergeben sich … zwei Handlungsentwürfe: Während die Gottesfurcht versucht, dem alltäglichen Zufall theologisch zu begegnen, versucht die Aufforderung zum carpe diem, dem alltäglichen Zufall auf anthropologische Weise zu begegnen.“32

Weisheit bewährt sich als Einsicht in diesen Zusammenhang, die einen völlig neuen Blick auf Leben und Handeln zur Folge hat. Ein gelungenes Leben zeigt sich nicht in der Befolgung theologischer Normen, sondern im vollen Bewusstsein dessen, dass der Mensch nur dieses Leben hat, das er im Angesicht des Todes gestalten muss. Unter diesem Horizont gibt es keinen echten Lebenssinn, sondern eher eine Lebensaufgabe, oder : der Sinn des Lebens besteht darin, es zu leben und seine Güter (einschließlich der Aufforderung zum Handeln) als Los zu erkennen.

4.2 Theologie 4.2.1 Gott im Buch Kohelet Im Buch Kohelet ist an vierzig Stellen von Gott (Bæl h m) die Rede, 32mal davon mit dem Artikel, 8 mal ohne. Den Namen Gottes verwendet Kohelet nie. Auch andere Gottesbezeichnungen oder –epitheta kommen bei Kohelet nicht vor.33 Aus der Verwendung des Artikels bei Bæl h m lässt sich keine Schlussfolgerung für das Gottesbild Kohelets ableiten. Sicher ist, dass er mit nur einem Gott rechnet und dass er diesen im Rahmen der Traditionen Israels versteht. Bei Kohelet ist Gott ausschließlich mit drei Verben verbunden: „geben“ (na¯tan: 1,13; 2,26; 3,10.11; 5,17.18; 6,2; 8,15; 9,9; 12,7. Außerdem „Gabe Gottes“ 2,13; 5,18); „tun, machen“ (Ca¯´sah: 3,11.14; 7,14.29; 11,5) und „richten“ (sˇa¯pat. : 3,17; 11,9; 12,14). Dass Gott „gibt“, wird weitaus am häufigsten gesagt. Seine Gaben sind: Das schwere Geschäft des Weisheitserwerbs (1,12; 2,26; 3,10), die Weisheit selbst (2,26), die Ewigkeit als Erkenntnisaufgabe (3,11) die Möglichkeit zum Lebensgenuss (2,24; 3,13; 6,2), Reichtum und Vermögen (5,18) die kurze Lebensdauer (5,17; 8,15; 9,9) und der Lebensatem (12,7). Im Zusammenhang mit „Tun“ erscheint Gott 3,11.14; 11,5 als derjenige, der „alles“ gemacht hat, als derjenige, der gute und böse Tage „gemacht“ hat (7,14), als derjenige, der den Menschen „recht“ gemacht hat (7,29). Vom „Werk“ Gottes ist außerdem die Rede in 7,13; 8,17. Vom Richten Gottes spricht Kohelet 3,17; 11,9; 12,14. Insgesamt muss festgestellt werden, dass im Koheletbuch Gott „als der 32 F.J. Backhaus, Zeit, 392 f. 33 Mit der alleinigen Ausnahme des „dein Schöpfer“ in 12,1.

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Schöpfer des Menschen und seiner Erfahrungswirklichkeit betrachtet“ wird.34 In dieser Rolle gibt er verschiedene Güter und Aufgaben des Menschen und wird ihn richten. Weitere Aspekte Gottes spielen keine Rolle für Kohelet. Textdramaturgisch tritt Gott als Geber auf, bevor er als Schöpfer in Erscheinung tritt. Als Geber ist er ambivalent. Seine erste Gabe ist das schwere Geschäft der Weisheit; am Ende seines Selbstexperiment muss Kohelet feststellen, dass alle Gaben Gottes – gute wie schlechte – unverfügbar sind. Von hier aus blickt er auf menschliches Handeln und stellt fest, dass es den – vorherbestimmten – fallenden Zeiten unterworfen ist, die aber immer nur punktuell erkenn- und nutzbar sind. Erst in diesem Zusammenhang kann er von der Schöpfung Gottes sprechen. Die Erfahrungswelt ist sein Werk, aber nicht im Sinne einer Geschichte oder Ordnung erkennbar. Das Flüchtige und das Gute sind handhabbar und nutzbar, auch in ihrem Bezug auf die Gabe und das Werk Gottes, aber dem Geschick kann keiner entkommen. Das Todesgeschick des Menschen ist dann auch das Gericht Gottes über den Menschen (vgl. 7,20; 8,6.11; 9,3).35 Vor allem aber leidet der Mensch daran, der Welt und der Zeit einen Sinn abringen zu wollen – auch dies ist (3,11) eine Gabe Gottes. So ist dieser Gott ambivalent. Koh 3,1 – 15 ist der zentrale theologische Text des Buches Kohelet. In theologischer Abstraktion kann man mit Alexander A. Fischer formulieren: Sein verborgenes Wirken übersteigt den menschlichen Geist, seine Zuteilung des Glücks geschieht aus freien Stücken, und sein unveränderliches, unergründliches und doch vollkommenes Werk erweist definitiv seine Allmacht.“36

Kohelets Gott ist nicht personal, man kann ihm nicht begegnen – obwohl es für Kohelet durchaus kultisch-rituelle Kommunikation mit Gott gibt (4,17 – 5,6). Dieser Gott ist kein „du“, wie ihn große Teile des Alten Testaments kennen. Er handelt nicht, sondern hat immer schon gehandelt und ist allenfalls ein Gegenstand der Erkenntnis aus der Ferne. Mit dieser Distanzierung Gottes von der Welt ist Kohelets Gottesbild wenig übereinstimmend mit dem, was das Alte Testament über Gott zu sagen weiß. Und es ist wohl auch der sachliche Grund, warum Kohelet den Gottesnamen nicht verwendet. Diese eigentümliche Ferne Gottes in ihrer ganzen Zweideutigkeit macht Kohelets Gott so unerwartet modern. Sie ist vor allem eine Möglichkeit, Gott und Welt zusammenzudenken, ohne in die Aporien theologischer Normen im Sinne einer Kalkulation von Verhalten und Ergehen zu geraten oder angesichts unerträglicher Verhältnisse auf eine bessere Welt zu hoffen: Kohelets Gott ist der Schöpfer, aber nicht der Erlöser, weil es in dieser Welt nichts besser zu machen gibt: „Durch die Vorgaben des Schöpfungswirkens Gottes wird menschliches Handeln und Genießen gleichermaßen ermöglicht wie begrenzt. Freude und Genuss sind – wie 34 T. Krüger, BK, 13. 35 S. dazu auch T. Krüger, BK, 13. 36 A. A. Fischer, Skepsis, 244.

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schon das Leben selbst – ein Geschenk Gottes an den Menschen. Die Kontingenz der Zeit, das Schicksal und der Zufall sowie der Tod stellen dagegen das Gericht Gottes über den Menschen dar – ein Gericht, das letztlich alle Menschen in gleicher Weise trifft, da keiner von ihnen völlig unschuldig ist.“37

4.2.2 Gottesfurcht und Ethik Die Haltung diesem Gott gegenüber kann nichts anderes sein als „Gottesfurcht“ (3,14; 5,6; 7,18; 8,12; 12,13). Auch sie ist letztlich eine Konsequenz des Schöpferhandelns Gottes. Gottesfurcht resultiert für Kohelet – wie für das Proverbienbuch – aus der intensiven weisheitlichen Durchdringung der Welt. Kohelet rechnet nicht mit einer Offenbarung, vielmehr ist Gott für ihn denknotwendig und somit derjenige, der die Bedingung seiner Anerkenntnis selbst schafft. Gottesfurcht ist für Kohelet eigentlich nichts anderes als für den Autor von Prv 1,1 – 7, die „Haltung, sich der Erkenntnis umfassender Ordnung zu öffnen, die Disziplin des Empfangens und Entschlüsselns als die Bildungschance des Lebens zu begreifen und den Obsessionen des Eigenwillens eine Absage zu erteilen.“38

Gott hat nach 3,14 alles „so gemacht, dass man sich vor ihm fürchtet“, was die Ehrfurcht ebenso einschließt wie das Erschrecken. Gottesfurcht resultiert für Kohelet allein aus der Betrachtung und Durchdringung des Schöpfungswerkes Gottes – obwohl er mit einer Erkenntnis Gottes durch Worte und Offenbarungen rechnen kann (5,6). Diese Haltung Gott gegenüber gehört für ihn zu den guten Dingen des Lebens, und sie gilt für alle Menschen. Eine Leugnung Gottes im Sinne einer Verweigerung der Gottesfurcht steht für Kohelet in der Nähe der (schuldhaften) Gottlosigkeit (8,12). Mit Gottesfurcht ist bei Kohelet kein dumpfes Sich-Fügen unter die Willkür einer totalitären Macht gemeint.39 Als Gegenbegriff zur Gottesfurcht kennt Kohelet die Sünde (h. at.Ba), die mit sechs Belegen (2,26; 7,20.26; 8,12; 9,2.18) sogar häufiger erscheint als die Gottesfurcht. In Übereinstimmung mit dem alttestamentlichen Sprachgebrauch bezeichnet sie die völlige Verfehlung Gottes in Denken und Tun. Anders als der Rest des Alten Testaments ist diese Sünde bei Kohelet aber nicht an die vorherige Akzeptanz einer Norm gebunden. So kann er sagen, dass jeder sündigt (7,20). Sie entscheidet aber nicht über Ge- und Missfallen Gottes. Gott steht mit seinen Gaben jenseits aller Normen (2,26). Die Rede von der Sünde ermöglicht es Kohelet, in sein Denken eine praktisch-ethische Konsequenz einzubeziehen. Recht und Unrecht, Gewalt und Bedrückung sind schlecht und rufen zum Handeln auf. Auch 37 T. Krüger, BK, 13. 38 H. Spieckermann, Bildung, 44. 39 So aber H.P. Müller, Qohälät, 151; der Tendenz nach auch H. Spieckermann, Suchen, 113.

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Themen und Theologie des Buches Kohelet

Kohelets praktische Ethik speist sich letztendlich aus der Gottesfurcht. 5,15 f.; 6,6.8 zeigen deutlich, dass Unterdrückung dem Menschen die Möglichkeit verwehrt, das Gute zu genießen. Dies aber wäre ein Eingriff in Gottes Schöpferwirken und fällt für Kohelet unter das Verdikt der Torheit. In diesem Sinne ruft Kohelet zu tatkräftigem Handeln auf, das Neid und Konkurrenz entgegenwirkt (4,4 – 6).

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5. Die Entstehung des Buches 5.1 Der Autor Kaum ein anderes Buch trägt so deutlich die Handschrift eines Autors wie das Buch Kohelet. In Sprache, Form und Inhalt verrät es einen unverwechselbaren und individuellen Gestaltungswillen. Vor allem aber macht Kohelet sich selbst zum Thema: Es sind seine Fragen, seine Antworten und seine „Erkenntniswege“1, die das Buch – scheinbar ganz unmittelbar – dokumentiert. Tatsächlich kommt auch kaum eine Analyse ohne Hypothesen über Kohelet aus. Wie in allen Bereichen der Kohelet-Forschung gehen auch hier die Meinungen weit auseinander. Diese Breite hängt nicht nur mit der Eigenart des Buches zusammen, sondern auch mit methodischen Unklarheiten in der Bestimmung eines biblischen Autors und damit, dass biblische Literatur im Allgemeinen als „Traditionsliteratur“ bestimmt wird, die sich nicht von einem (einzelnen) Autor herleitet. Überdies ist auch in der modernen Literaturwissenschaft der „Autor“ eine umstrittene Größe.2 Die neuesten Analysen des Koheletbuches verzichten denn auch tendenziell auf eine Autorenhypothese.3 Gleichwohl kann eine sachgemäße Kohelet-Auslegung aus den oben genannten Gründen eine Hypothese über den Autor nicht auslassen: Er ist explizit ein Teil seines Textes, wenn auch im Rahmen einer Fiktion. Sein Königtum ist eine Inszenierung. Dass die biographischen Angaben in 12,9 – 10, die ihn als Lehrer, Weisen und Schriftsteller bezeichnen, verlässlicher sind als die Salomofiktion4, lässt sich nicht belegen. Auch sie dienen der Autorisierung des Textes durch die Legitimation seines Autors – eines Autors, der sich eben auch selbst für außerordentlich bedeutend hält.5 Eine empirische Person Kohelet lässt sich aus dem Buch natürlich nicht

1 Der Begriff bei A. Reinert, Salomofiktion. 2 Vgl. dazu F. Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000; F. Jannidis u. a., Rückkehr des Autors. Zu Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7). 3 Konsequent: T. Krüger, BK; Moderater: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT. Beide legen ein rezeptionsorientiertes Interpretationsmodell zugrunde (zur theoretischen Begründung: T. Krüger, Gegenwartsdeutung, 48 ff.; F.J. Backhaus, Nichts Besseres, 33 – 35). Ein ähnliches Vorgehen auch bei D. Dieckmann, Worte. Während diese Ansätze jedoch den Fokus auf die Mitarbeit des Publikums legen, verzichtet A. Reinert, Salomofiktion, 27 – 35 mit einer rein textorientierten Methodik auf Autorenhypothesen. 4 So z. B. N. Lohfink, Strukturen, 55 f. 5 E.S. Christianson, Qohelet and the/his Self among the Deconstructed, in: A. Schoors, Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 425 – 433.

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Die Entstehung des Buches

erschließen. Er ist hinter seiner Maske vollständig verschwunden. Gleichwohl erlauben einige Indizien begründete Hypothesen zum Verfasser des Buches.

5.1.1 Der Name Kohelet Der Name „Kohelet“ ist nach Form und Bedeutung rätselhaft.6 Sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine Ableitung vom Nomen qa¯hal „Versammlung, Gemeinde“.7 In der Regel wird „Kohelet“ (qohælæt) als Partizip Aktiv eines Verbs qa¯hal, „versammeln“ aufgefasst. Doch das Verb ist im Aktiv nicht belegt, sondern nur im Reflexiv und im Passiv.8 Deswegen ist mit Schoors davon auszugehen, dass der Name eine Nominalbildung des Verbs ist, die eine Tätigkeit oder Rolle bezeichnet.9 Qa¯hal bezeichnet eine Versammlung jeder Art; sie wird normalerweise durch den Personenkreis oder Zweck näher bestimmt.10 Es handelt sich um eine Menschengruppe, so dass die Bedeutung des Namens als „Sammler von Sprichworten“ ausgeschlossen ist.11 Qa¯hal bezieht sich überwiegend auf Israel. Vor allem in Esr, Neh und Chr ist es die unter der Tora und/oder zum Kult versammelte „Gemeinde JHWHs“.12 Mose, David und Salomo begegnen dort als versammelnde Subjekte. Es ist daher denkbar, dass auch der Name auf Salomo verweisen will (Vgl. 1Kön 8,1). Andererseits ist qa¯hal nicht auf Israel beschränkt. Bei Sir bezeichnet es die politische Versammlung.13 Daher sind auch andere Gruppen denkbar, etwa ein Gastmahl (Symposium)14, eine Schule15 oder die von Kohelet belehrte Öffentlichkeit16. Die Femininform bezieht sich nicht nur auf eine Funktion, sondern auf ein Spezialistentum.17 Bezogen auf die Versammlung wäre Kohelet dann deren Leiter oder ein Redner. Dass es wirklich ein Eigenname ist, ist denkbar (Esr 2,55.57; Neh 7,57.59)18. Andererseits schreiben sich die Träger der Autorisierungsdiskurse in der Regel mit ihrer Funktion in die Texte ein, mit denen sie sich legitimieren (Dtn 27,1 – 26; 31,9 – 13).19 So ist der „Name“ Kohelet wahrscheinlich ein „Deck“- oder Funktionsna6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Vgl. R.E. Murphy, WBC, 2: „From the very first, our author is wrapped in mystery“. Zu weiteren Herleitungen vgl. A. Schoors, Preacher 2, 433. Vgl. F.-L. Hossfeld/E.-M. Kindl, ThWAT VI (1989), 1205 – 1220. A. Schoors, Preacher 2, 438 f. D. Michel, Qohelet, 5; F.-L. Hossfeld/E.-M. Kindl, ThWAT VI, 1210. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 434 f. F.-L. Hossfeld/E-M. Kindl, ThWAT VI, 1215 – 1218. Vgl. Dies., A.a.O., 1219. C. Uehlinger, Qohelet, 234 f. M.V. Fox, Time, 161; A. Schoors, Preacher 2, 438 f. N. Lohfink, Strukturen, 54. A. Schoors, Preacher 2, 438. Nachbiblische Beispiele bei A. Schoors, Preacher 2, 437 f. Vgl. E. Otto, Rechtshermeneutik, 96 f.

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Der Autor

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me, der für den Text geschaffen wurde. Auch, dass es sich um die Bezeichnung für eine Gruppe handelt, ist nicht völlig ausgeschlossen. Das Buch selbst betrachtet Kohelet aber als Einzelperson.

5.1.2 Die Sprache Kohelets Kohelets Sprache ist einzigartig im Alten Testament. Bei keinem anderen Werk ist so nachhaltig ein Stil erkennen. Das gilt für den eigentümlichen Umgang mit Morphologie, Grammatik und Syntax wie für Kohelets Vokabular und dessen Semantik. Die Untersuchung der Sprache Kohelets20 ergibt einen mehrfachen Befund. Erstens hat Kohelet tatsächlich einen unverwechselbaren persönlichen Stil. Zu dessen Eigentümlichkeiten zählen u. a. das redundante nachgestellte Personalpronomen „Ich“, das vorangestellte Objekt, die Vorliebe für den Nominalsatz, Sätze mit „Je¯ˇs“ („Es gibt“) etc. Bei vielen anderen Eigentümlichkeiten lässt sich nicht mehr sicher bestimmen, ob es sich um persönlichen Stil handelt, um eine bestimmte Stufe der Sprachentwicklung oder einen Zusammenhang der Sprache mit dem Charakter des Werkes – wahrscheinlich spielen alle diese Faktoren eine Rolle. Zweitens ist Kohelets Sprache „spät“, d. h. sie repräsentiert das spätbiblische Hebräisch statt des klassischen „Biblischen Hebräisch“ vieler anderer alttestamentlicher Bücher. Unter den alttestamentlichen Büchern stehen Esra und Nehemia sprachlich dem Buch Kohelet am nächsten. Hier wie dort findet sich ähnliche Eigenarten der Syntax und des Vokabulars sowie eine starke Annäherung des Hebräischen und Aramäischen.21 Diese sprachlichen Details weisen auf eine Herkunft der Verfasser aus der öffentlichen Verwaltung der Provinz Juda/Yehud mit einer entsprechenden Ausbildung. Bei Kohelet sind es Sätze wie 2,3, die diese Herkunft verraten, außerdem die Menge der Vokabeln aus Wirtschaft und Verwaltung (Jitr n, pitgam, ˇsalat. u. a.). Die Sprache Kohelets ist daher nicht nur ein Datierungsindiz, sondern auch ein Hinweis

20 Anton Schoors hat der Sprache Kohelets eine zweiteilige Monographie gewidmet, die außerordentlich ertragreich ist: A. Schoors, Preacher 1.2. 21 Vgl. ausführlich: F. H. Polak, Sociolinguistics and the Judean Speech Community in the Achaemenid Empire, in: O. Lipschits/M. Oeming (Hg.), Judah and the Judeans in the Persian Period, Winona Lake 2006, 589 – 628. Zur Sprachentwicklung in Juda während der persischen und griechischen Zeit vgl. außerdem: I. Kottsieper, „And They Did Not Care To Speak Yehudit“: On Linguistic Change in Judah during the Late Persian Era, in: O. Lipschits u. a. (Hg.), Judah and Judeans in the Fourth Century B.C.E., Winona Lake 2005, 95 – 124; S. Schorch, Spoken Hebrew of the Late Second Temple Period According to Oral and Written Samaritan Tradition, in: J. Joosten/J.-S. Ray (Hg.), Conservatism and Innovation in the Hebrew Language of the Hellenistic Period. Proceedings of a Fourth International Symposium on the Hebrew of the Dead Sea Scrolls and Ben Sira, Leiden 2008 (STDJ 73), 175 – 191.

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auf Kohelets soziale Herkunft und das Ziel des Buches.22 Sowohl die Sprache Kohelets als auch die literarische Grundstruktur der Salomofiktion sowie bestimmte Themen des Buches legen die Vermutung nahe, dass sowohl Kohelet als auch seine Leser unter denen zu suchen sind, die in spätpersischer oder frühhellenistischer Zeit mit der Verwaltung und Leitung der Provinz Juda/Jehud bzw. der Stadt Jerusalem betraut waren. Auch eine Vorbereitung der Leser zum Dienst am Hof des ausländischen Großkönigs ist grundsätzlich denkbar,23 das Buch zeigt sich allerdings an Vorgängen außerhalb Judas indifferent. Drittens schließlich ist die Sprache Kohelets ein Hinweis auf seine theologische Position.24 Das (klassische) „Biblische Hebräisch“ ist vor allem die Sprache der Tora sowie der „Vorderen Propheten“. Deren Sprachgestalt blieb normativ, auch wenn Teiltexte dieser Corpora erst in spätpersischer und frühhellenistischer Zeit verfasst wurden. Kohelets Sprache entspricht nicht dieser Norm und drückt damit eine inhaltliche Distanz zur Tora und zu den Trägern der Toraüberlieferung aus.

5.2 Kohelet und die Weisheit Der Form und dem Inhalt nach ist das Buch Kohelet primär ein weisheitliches Buch. Es reflektiert in gebundener Sprache die Weisheit und ihre Implikationen für die Theologie, das Individuum und die Gesellschaft.25 Gleichwohl nimmt das Buch in hohem Maße Impulse aus anderen Traditionen auf. 5.2.1 Kohelet und die Weisheit Israels Als „Weisheit“ wird traditionell eine Denk- und Literaturtradition bezeichnet, in der ohne nennenswerten Rekurs auf die Geschichte, das Heilshandeln JHWHs, die Tora oder andere Spezifica des Alten Testaments theologische und vor allem ethische Themen behandelt werden. Literarisch geschieht dies im Modus des kurzen Spruchs oder der Spruchsammlung, der Mahnung, der Anweisung und der paradigmatischen Erzählung. „Weisheit“26 bezeichnet in erster Linie Handlungskompetenz zum Ausführen einer bestimmten Tätigkeit und zum Ausfüllen einer bestimmten Rolle. Sie beruht vielfach auf Erfahrung und Traditionsweitergabe und ist daher nicht grundsätzlich an bestimmte 22 Vgl. dazu F.H. Polak, F.H. Sociolinguistics: A Key to the Typology and the Social Background of Biblical Tradition, Hebrew Studies 47 (2006), 115 – 162. 23 Dies erwägt N. Lohfink, Melek, 71 – 83. 24 Vgl. zum Folgenden K. Schmid, Literaturgeschichte, 40 f. (mit Literatur). 25 Vgl. M. Köhlmoos, TRE 36 (2003), 487 f. 26 Vgl. zum Folgenden M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 486 – 490; C. Klein, Kohelet, 46 – 61.

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gesellschaftliche Gruppen oder theologische Mileus gebunden. Als Literaturform und theologische Tradition repräsentiert „Weisheit“ die elementare Bildung, über die alle jene verfügen mussten, die in Israel und Juda den Anspruch auf gesellschaftliche Verantwortung erhoben (sog. „Funktionseliten“). Innerhalb ihrer Ausbildung bildet Weisheit gewissermaßen das Elementarcurriculum. Dazu gehört dreierlei. Zum einen führt Weisheit auf didaktischem Weg in die Grundbestände des Wissens ein. Zum zweiten vermittelt sie die mit diesem Wissen einhergehenden sozialen Kompetenzen der Ethik und des gesellschaftlichen Miteinanders. Und zum dritten lehrt die Weisheit die sprachlichen-literarischen Grundkenntnisse, die zum Umgang mit dem Wissen und der Tradition, Recht, Verwaltung und Diplomatie vonnöten sind. „Weise“ als gesellschaftliche Gruppe sind vor allem Lehrer. Obwohl die Existenz von Schulen im alttestamentlichen Israel bis heute nicht zweifelsfrei erwiesen ist – der früheste textliche Beleg ist Sir 51,23 – kann ihre Existenz doch mit guten Gründen angenommen werden.27 Kohelet ist tief in der weisheitlichen Tradition Israels verwurzelt. Schon die Gattung des Buches – die Lehre an einen Heranwachsenden hinsichtlich Ethik, Wissen und Erkenntnis – ist eine typisch weisheitliche Gattung. Auch die Dramaturgie des Geschehens innerhalb des Buchs bildet den Weg weisheitlichen Denkens ab: Beobachten – Erkennen – Schlussfolgern – Formulieren. Bei Kohelet schlägt sich dies in den Einleitungen „ich sah“ – „ich erkannte“ – „ich sprach“ nieder. Wie die Weisheit auch, ist Kohelet in vielem ein „Empiriker“.28 Im Unterschied zur Weisheit des Sprüchebuchs reflektiert er allerdings seine Erkenntniswege. Schließlich ist selbst auf der Ebene kleiner und kleinster Einheiten typisch weisheitliches Gepräge zu beobachten. Das gilt vor allem für die didaktische Gestaltung des Textes: Er ist häufig so formuliert, dass der Hörer die Erkenntnis denkend mitvollziehen muss. Das gilt für Kohelets ureigene Beobachtungen vor allem zum Todesgeschick (vgl. 2,14 – 16; 9,2 – 4), wie auch für jene weisheitlichen Formen, die bei Kohelet in signifikanter Häufung auftreten: der „Besser“-Spruch (4,6.9.13.17; 5,4.17; 6,9a; 7,1.2.3.5.8.11 f.26; 8,15; 9,4.16.17; 9,18; 10,1) und die (rhetorische) Frage (1,3; 2,2.12.15.19.22.25; 3,9.21.22; 4,8.11; 5,5.10.15; 6,6.8.11.12; 7,10.13.16.17.24; 8,1.4.7; 10,14.15). Beide verlangen vom Publikum eine nach-denkende Beteiligung am vorgeführten Erkenntnisinhalt.29 Auch und nicht zuletzt inhaltlich erweist sich Kohelet als der Weisheit zugehörig. Es finden sich bei ihm vielfach Sätze – meist in gebundender Form gestaltet – die auch im Sprüchebuch stehen könnten. Dabei ist kein einziges dieser Worte als Zitat ausweisbar, in dem Sinne, dass es sich auch im Wortlaut anderer Stelle im Alten Testament findet. Vielmehr greift Kohelet an einigen Stellen Weisheitssprüche auf, die zum vorfindlichen Wissen seines Publikums 27 Vgl. J. Krispenz, Art. Schule: www.wibilex.de. 28 Vgl. ausführlich A. Schellenberg, Erkenntnis, 159 – 187. 29 Vgl. dazu C. Klein, Kohelet, 95 – 105. 114 – 121.

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gehören. Die Kriterien zur Bestimmung solchen weisheitlichen „Traditions“guts sind einigermaßen Konsens in der Forschung. Demnach müssen sie formal gebunden bzw. poetisch formuliert sein, auch ohne Kontext eine Evidenz besitzen, thematisch mit vergleichbaren Gut im vor allem im Sprüchebuch vergleichbar sein und sich sprachlich von Kohelets Stil unterscheiden.30 In diesem Sinne repräsentieren 1,15.18; 2,14; 4,5.9a.12; 5,9.10a; 6,7a.9; 9,16a; 10,1a.8 – 11 mit einiger Sicherheit traditionelle Sprüche. Über die Einzelsprüche31 hinaus dürften auch 1,4 – 8; 3,1 – 9 weisheitliches Traditionsgut darstellen. Daneben kann Kohelet aber auch Sprüche selbst schaffen, die zumindest formal den traditionellen entsprechen, sprachlich oder inhaltlich jedoch vom Traditionsgut unterschieden sind (z. B. 10,1).32 Am Spruchgut des Buches Kohelet zeigt sich dessen weisheitlicher Sitz im Leben, wie auch erkennbar wird, dass die Formulierung weisheitlicher Maximen nicht auf das Sprüchebuch beschränkt ist, sondern danach und daneben weiter durgeführt wurde.33 In diesem Sinne würdigt der sog. Erste Epilog 12,9 – 10 Kohelet als Weisen, wahrscheinlich als Lehrer. Gleichzeitig ist Kohelet aber auch ein Kritiker der traditionalen Weisheit. Eine ganze Reihe aufgenommener Sprüche werden von ihm kritisch kommentiert bzw. Kohelet formuliert Sprüche in kritischer Absicht (4,13; 7,2). Dass Kohelet fremde Meinungen bzw. Aussprüche aufnimmt, um sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, darf als ein Meilenstein der Kohelet-Forschung gelten. Diese sog. „Zitatentheorie“ geht auf Vorstudien von Ferdinand Hitzig34 und Robert Gordis zurück und ist dann methodisch und analytisch durchgestaltet von Diethelm Michel und Norbert Lohfink35 zum Mittel der Kohelet-Analyse gemacht worden. Tatsächlich handelt es sich um ein Verfahren, um Widersprüchlichkeiten in der Argumentation zu erklären (vgl. z. B. Koh 6,7 – 9). In dieser Weise wird das Zitatenmodell vor allem von Diethelm Michel gehandhabt: Textteile, die inhaltlich nicht zum Duktus der Argumentation passen, sind als Zitate aufzufassen, mit denen Kohelet sich kritisch auseinandersetzt.36 Unter dieser Perspektive wird das Zitatenmodell jedoch problematisch. Um die Funktion des Zitats im Zusammenhang bestimmen zu können, muss es als solches ausweisbar sein; dies gelingt bei Michel nicht immer.37

30 Kriterien nach R. N. Whybray, Identification, 437. Vgl. auch C. Klein, Kohelet, 63 – 122; F.J. Backhaus, Zeit, 58 – 62. 31 Welche Sprüche zweifelsfrei als übernommenes Gut zu identifizieren sind, ist in der Forschung umstritten. 32 Weitere Beispiele bei F. J. Backhaus, Zeit, 60 – 62. 33 In diesem Sinne hat die ältere Forschung das Buch Kohelet als Sentenzensammlung charakterisiert, Überblick bei A. Reinert, Salomofiktion, 6 – 8. 34 F. Hitzig, Prediger, 181 – 314; R. Gordis, Quotations, 103 – 116. 35 D. Michel, Untersuchungen, 81 – 103; N. Lohfink, NEB. 36 Vgl. exemplarisch D. Michel, Untersuchungen, 126 – 137. Ähnlich auch schon F. Ellermeier, Qohelet, 89 – 91. 37 Vgl. F.J. Backhaus, Zeit, 58; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 68; M. V. Fox, Time, 20 – 23.

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Kohelet führt keine der (wahrscheinlichen) Aufnahmen weisheitlichen Guts mit einer Zitationsformel ein. Auch weitere Anspielungen auf und Entlehnungen aus alttestamentlicher und außerbiblischer Literatur (vor allem Dtn 23,22a in 5,3a) werden nicht als solche gekennzeichnet. Es handelt sich hier um „unmarkierte“ bzw. „implizit markierte Intertextualität“. Sie ist typisch für die Literatur kleiner Kreise mit vergleichsweise kleinen und gut bekannten Literaturcorpora: Wo die Literatur, auf die man sich bezieht, bekannt ist, muss sie nicht durch Zitationsformeln markiert werden.38

Kohelet greift weisheitliches Traditionsgut auf, um es zu kritisieren, weiterzudenken oder auch seine eigene Argumentation affirmativ abzusichern. Im Bereich weisheitlichen Denkens hängt die fehlende Markierung der Tradition auch damit zusammen, dass Kohelet selbst als Autorität für die Gültigkeit seiner Aussagen steht und sich nicht auf einen anderen Diskursgründer zurückbeziehen kann. Die – im weitesten Sinne – kritische Aneignung der Tradition in der Weisheit ist kein Proprium Kohelets. Sie findet sich im Sprüchebuch in der Form der Spruchsammlung, die „Bewegungen im Stoff“ dokumentiert, „die sich als Auswirkungen einer lebendigen Überlieferung deuten lassen.“39 Im Hiobbuch nimmt dies die Form des Dialogs an, bei dem unterschiedliche Positionen durch unterschiedliche Sprecher repräsentiert werden. So erweist sich das Koheletbuch auch darin als Vertreter weisheitlicher Literatur und Theologie. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten ist das Buch Kohelet ebenfalls ein typisches Weisheitsbuch. Es befragt die Welt auf „Ordnungspartikel“, von denen aus sozial, politisch und kosmologisch-theologisch auf eine Gesamtordnung der Welt zu schließen ist. Dabei ist charakteristisch schon für die frühe Weisheit, dass sie einerseits eine grundsätzliche Ordnung der Welt voraussetzt, andererseits auch um die Kontingenzen und Gefahren weiß, die diese Ordnung scheinbar oder tatsächlich in Frage stellen. Die ethischen Handlungsanweisungen der Sprüche bilden nicht nur die Ordnung dessen ab, was geschieht, sondern stellen auch eine Regel dafür auf, was geschehen soll, damit gelingendes Leben möglich ist und bleibt.40 Die dahinter stehende Gesamtordnung ist in Gott gegründet und auf ihn bezogen, wird aber in der Regel nicht ausführlich thematisiert. Im Falle der Sprüche hängt dies mit der didaktischen Ausrichtung und Einübung in Grundbestände des Wissens und Handelns zusammen.41 Auch Kohelet nimmt seinen Ausgangspunkt von Einzelerfahrungen und –beobachtungen sowie von paradigmatischen Fällen (nicht zuletzt seiner selbst). Als besonders eindrucksvolles Beispiel darf 3,1 – 38 39 40 41

Vgl. J. Helbig, Intertextualität und Markierung, 83 – 86. M. Sæbø, Sprüche, 22. Vgl. C. Klein, Kohelet, 169 – 176. Vgl. Ders., A.a.O., 169.173 und ausführlich: G. Freuling, „Wer eine Grube gräbt …“. Der TunErgehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, Neukirchen-Vluyn 2004 (WMANT 102), 37 – 81.

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15 gelten. Das Gedicht über die fallenden Zeiten ist der Ausgangspunkt und Beleg der These, dass es auf das Handeln zum rechten Zeitpunkt ankommt, dass es aber (scheinbare) Zufälle und Kontingenzen gibt, die das Erkennen des rechten Zeitpunkts und die Abstimmung des Handelns darauf erschweren. Auch Prv 10 – 31 kennen diese Kontingenzen, machen aber Gott zu ihrem Fluchtpunkt. In Prv 16,33; 20,24; 21,31 u. a. drückt sich aus, dass „das, was nicht nicht erklären lässt und somit dem Menschen zufällig erscheint, … Wille und Tat Jahwes ist.“42 Ob es einen Plan JHWHs mit der Welt und somit einen Sinn des Lebens und der Geschichte gibt, ist nicht Gegenstand der Weisheit, sondern der Theologie der Geschichte, der Tora und des Kultes. Von ihren Entwürfen grenzt sich Kohelet gerade mit weisheitlichen Erkenntnissen ab. Die Weisheit und ihre Möglichkeiten werden zum alleinigen Bezugspunkt sinnvoller Lebensgestaltung; andere theologische Optionen scheinen ihm aufgrund seiner Erkenntnisse eher zweifelhaft, vgl. besonders 6,10 – 7,14. Darin berührt sich Kohelet mit Prv 1 – 9. Anders als der Prolog und die Anfangskapitel des Sprüchebuches verzichtet Kohelet aber darauf, die Weisheit zum Weg der Gotteserkenntnis und damit zum theologischen System zu machen. Auch eine prinzipielle Übereinstimmung der Weisheit mit der Tora behauptet Kohelet nicht. Vielmehr gilt: „Die Äußerungen Kohelets ergeben kein stimmiges Ganzes, weil das Ganze keiner Erkenntnis zugänglich ist und deshalb nur die unvereinbaren Teile zusammengestellt werden können. Das Resultat dieser erneuten Suche nach Weisheit ist jedenfalls offenkundig: Das Suchen zeitigt ein Finden, das keine Erkenntnis bringt, sondern nur die erneute Erkenntnis der göttlichen Erkenntnisverweigerung.“43

Das ist in der Tat weisheitskritisch, affirmiert aber die Einsicht der älteren Weisheit in das Aufeinandertreffen von Regelhaftigkeit und Kontingenz. Tatsächlich ist das Buch Kohelet eine Variation über Prv 20,24. Dass trotz der Unsicherheit über einen göttlichen Plan weises Handeln möglich ist, macht Kohelet zu einem gut weisheitlichen Buch.

5.2.2 Kohelet und die außerisraelitische Weisheit Weisheit ist „international“. Das gilt bis zur späten hellenistischen Zeit für den gesamten Raum des Vorderen Orients in dem Sinne, dass seine Weisheitsliteratur von denselben Grundvoraussetzungen ausgeht: Einer grundsätzlichen Kosmoshaftigkeit der Welt, eine Herrschaft Gottes über Kosmos und Chaos, einem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung (bzw. Tun-ErgehenZusammenhang), der generalisierbaren Erfahrung und der Weisheit als Basis für Handeln, Denken und Erkennen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht 42 C. Klein, Kohelet, 184. 43 H. Spieckermann, Suchen, 109.

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verwunderlich, dass altorientalische Weisheitstexte sich formal und inhaltlich ähneln. Die ägyptische Lehre des Amenemope konnte daher für Prv 22,17 – 24,22 adaptiert werden; das Hiobbuch zeigt Parallelen zu mesopotamischen Dichtungen.44 Auch Kohelet lässt die Adaption außerbiblischer Weisheitstexte erkennen. Auf die Gestaltung des Buches von der Gattung der ägyptischen Lebenslehre bzw. des Königstestaments wurde bereits hingewiesen. Aber auch für Teiltexte des Buches lassen sich außerbiblische Parallelen benennen. Mit einiger Sicherheit kommen folgende Texte in Betracht: Die Meditation über den Wert der Gemeinschaft 4,7 – 12 und die Aufforderung 9,7 – 9 hat eine Parallele in der Gilgamesch-Tradition (GE IV vi 3 – 6/11 – 14; V ii 23 – 26; Gilg Me = VAT 4105+, Kol iii).45 Koh 2,3.24.26; 5,18; 9,11; 6,10; 7,8.16; 8,2 – 4; 10,4.9.20 zeigt Affinitäten zu den aramäischen Ahiqar-Sprüchen.46 Das Motiv der Lebensfreude in nächster Nähe zum Tod (3,22; 8,15; 9,7 – 9) findet sich auch in den ägyptischen Harfnerliefern.47, ebenso die Sequenzen über die Vergänglichkeit der Erinnerung (1,10 – 12). Die Meditationen über das Todesschicksal und weitere Einzeltexte (3,16 – 22 10,9; 9,11 – 12) ähneln späten ägyptischen Weisheitslehren.48

Für diese (und weitere) Texte gilt dasselbe wie für die Aufnahme biblischer Texte im Kohelet-Buch: Sie werden nicht als Zitate markiert. Im Gegenteil: Die für Kohelet so typischen Überlegungen zu Todesschicksal und Lebensfreude (3,22; 8,15; 9,7 – 9; 3,16 – 22; 10,9; 9,10 – 12) werden als eigene Ergebnisse der Reflexionen Kohelets präsentiert und somit durch ihn autorisiert. Dadurch entfällt auch das sprachliche Kriterium zur Bestimmung möglicher Parallelen; vielmehr ist die Annahme und der Nachweis einer Parallele auf intensive Vergleiche der Texte und ihrer Kontexte angewiesen. Hinzu kommt, dass Kohelet die inner- und außerbiblischen Vorgaben ganz individuell ausgestaltet.49 Der Ort der Vermittlung weisheitlicher Traditionen sind die altorientalischen Weisheitsschulen. In ihnen gehörte die Aneignung von Klassikern auch 44 Vgl. dazu B.U. Schipper, Die Lehre des Amenemope und Prov 22,17 – 24,22 – eine Neubestimmung des literarischen Verhältnisses (Teil 1 und Teil 2), ZAW 117 (2005), 53 – 72.232 – 248. C. Uehlinger, Das Hiob-Buch im Kontext der altorientalischen Literatur- und Religionsgeschichte, in: T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob. Beiträge zum Hiob-Symposium auf dem Monte Verit vom 14.–19. August 2005, Zürich 2007 (AThANT 88), 97 – 164. 45 Vgl. C. Uehlinger, Qohelet, 180 – 182. S. Fischer, Aufforderung, 195 – 197. 46 Vgl. C. Uehlinger, Qohelet, 200 – 203; I. Kottsieper, Art. Achikar : www.wibilex.de. Ausführlich: M. Weigl, Achikar-Sprüche. 47 Vgl. ausführlich S. Fischer, Aufforderung, 168 – 174. 48 Vgl. C. Uehlinger, Qoehlet, 222 – 228; M. Lichtheim, Late Egyptian Wisdom. 49 Aufgrund dieser Beobachtung lehnt C. Klein, Kohelet, 162 – 167 eine Herleitung des Buches Kohelet von außerbiblischen Gattungen kategorisch ab.

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abseits der eigenen Tradition zum Elementarcurriculum. Dies geschah entweder durch Übersetzungen oder durch die Aneignung der entsprechenden Sprachkenntnisse im Ägyptischen, Akkadischen und Aramäischen. Die engen Kulturkontakte Juda-Israels mit den Nachbarkulturen macht eine Kenntnis ihrer Texte und Traditionen im Rahmen sowohl friedlichen Austausches als auch unter den Bedingungen der fremden Oberherrschaft unabdingbar. Die Beherrschung der eigenen Traditionen in Tora, kultischer und Rechtsüberlieferung dürfte dagegen erst einer späteren Ausbildungsstufe angehört haben. Insofern ist die Kenntnis ausländischer Weisheitstraditionen für das Koheletbuch als Teil seiner weisheitlichen Prägung vorauszusetzen.50 Ein besonderes Problem stellen in diesem Zusammenhang die möglichen Aufnahmen griechischer und hellenistischer Texte durch Kohelet dar. Vor allem Rainer Braun hat eine Fülle von formalen und Motivparallelen Kohelets zur griechischen Literatur und Popularphilosophie deutlich machen können.51 Seine Schlussfolgerung ist allerdings, dass das Buch Kohelet ausschließlich von diesem Diskurs geprägt sei. Dass nicht-israelitische Einflüsse auf Kohelets Denken und Schreiben nicht im Sinne einer Alternative zwischen dem orientalischen und dem griechischen Diskurs zu bestimmen sind, hat Christoph Uehlinger gezeigt.52 In Richtung einer überwiegend griechisch-hellenistischen Prägung des Koheletbuches gehen auch die Interpretationen, die das Buch ganz oder überwiegend nach dem Muster der hellenistischen Diatribe angelegt sehen, die durchaus auch eine schulmäßige Literaturgattung ist.53 Alexander Fischer setzt für das Denken Kohelets zumindest eine intensive Kenntnis des Aristoteles voraus.54 Problematisch an der (engen) Zuordnung Kohelets zu griechisch-hellenistischer Literatur und Theologie ist die Sprache. Nach bisherigem Kenntnisstand ist kein klassisch-griechisches Werk in eine semitische Sprache übersetzt worden. Zwar dürfte die judäische Bildung in hellenistischer Zeit auch ein Erlernen des Griechischen und in Verbindung damit ein Kennenlernen der Bildungsklassiker umfasst haben. Ob Kohelets Sprache Gräzismen erkennen lässt, ist umstritten, aber möglich.55 Ob Kohelet in vollem Umfang griechische Bildung genossen hat, kann daher nicht eindeutig bewiesen werden. Den Überhang n hat bei ihm eher die palästinischorientalische Tradition.

50 Vgl. S. Fischer, Aufforderung, 233 – 237; D.M. Carr, Writing on the Tabbet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, New York 2005, 111 – 175. 51 R. Braun, Kohelet. 52 Vgl. C. Uehlinger, Qohelet, 155 – 248. 53 Vgl. N. Lohfink, Strukturen; Ders., NEB; T. Krüger, Kohelet, 29 – 32; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 57 – 59. Letzterer sieht das Buch zumindest nach den Gepflogenheiten antiker Rhetorik aufgebaut. 54 A. A. Fischer, Skepsis, 208 – 217. 55 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 501.

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Der zeitgeschichtliche Hintergrund

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5.3 Der zeitgeschichtliche Hintergrund 5.3.1 Der Grundbestand des Buches Der Terminus ad quem des Koheletsbuches ist durch das Manuskript 4QKoha gegeben, das in die Mitte des 2. Jhs. zu datieren ist. Wieviel früher Kohelet anzusetzen ist, ist unklar. Verifizierbare Anspielungen auf historische Ereignisse fehlen. Die Sprache Kohelets könnte sogar noch in die späte persische Zeit gehören.56 Nach dem Forschungskonsens ist das Buch Kohelet um die Mitte des 3. Jhs. v. Chr. anzusetzen, also noch zu Zeiten der ptolemäischen Herrschaft in Palästina. Für diesen Ansatz sprechen vor allem sozialgeschichtliche Gründe, d. h. die spezifischen Darstellungen von Wirtschaft und Verwaltungspolitik.57 Darüber hinaus rezipiert Kohelet umfänglich ägyptisches Gut, was ebenfalls die Ptolemäerzeit als Entstehungshintergrund wahrscheinlich macht. Theologie- und literaturgeschichtlich ist das 3. Jh. v. Chr. in Juda-Jerusalem durch eine kritische Revision der Geschichtstheologie geprägt. Der Zusammenbruch der (weitgehend positiv gewerteten) Perserherrschaft und der ebenso rasche Untergang des Alexanderreiches führten zur Frage danach, welche Herrschaft in Juda-Jerusalem den Heilswillen JHWHs für Israel adäquat durchzusetzen in der Lage war. Hier standen „theokratische“ Herrscher, die im Hohepriesteramt die Nachfolge des davidischen Königtums angetreten hatten, das Königtum aber unter dem Horizont der Tora-Gebote ausgestalteten, oppositionellen Kreisen gegenüber, die im Blick auf die historischen Erfahrungen eine prophetisch inspirierte Eschatologie mit der Erwartung einer Neugestaltung der Welt durch JHWH erwarteten. Vor allem der Psalter und Jes 60 – 62 sind Zeugen dieses Diskurses58. Kohelet verortet sich mit seiner Herrschaftskritik mitten in diesem Diskurs und vertritt mit der salomonischen Autorität sowohl eine Distanz zur Theokratie als auch zur Eschatologie. Seine Option geht auf ein weltliches Herrscheramt in Weisheit. Von der erhitzten Diskussion im Zusammenhang mit den Vorbedingungen des Makkabäeraufstandes und also mit apokalyptischem Denken ist bei Kohelet noch nichts zu spüren. Insofern ist das 3. Jh. – wenn auch hypothetisch – eine sinnvolle historische Verortung des Buches in seinem Grundbestand.59 56 57 58 59

Vgl. Ders., Preacher 1, 221 – 224; Ders., Preacher 2, 499 – 502. Vgl. exemplarisch T. Krüger, BK, 39 – 42. Vgl. dazu ausführlich K. Schmid, Literaturgeschichte, 177 – 198; R. Achenbach, König; Man könnte das Buch Kohelet eventuell noch etwas später datieren, wenn Sicherheit darüber zu gewinnen wäre, wie sich Kohelet zu Sirach verhält. Das um das frühe 2. Jh. verfasste Sirachbuch scheint Kohelet vorauszusetzen, andererseits finden sich vor allem im zweiten Teil des Koheletbuches Teile, die ihrerseits Sirach zu kennen scheinen. Eine Gleichzeitigkeit der beiden Texte und ihrer Traditionen ist anzunehmen, wobei Kohelet möglicherweise früher zur Buchgestalt gefunden hat als Sirach, vgl. dazu J. Marböck, Sirach und H. Spieckermann, Weise.

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Die Entstehung des Buches

5.3.2 Die Bearbeitung Z Das Buch Kohelet ist zum großen Teil von einem Autor entworfen, wie Stil und Gattung nahelegen. Gleichwohl hat es eine umfangreiche Bearbeitung erfahren. Vor allem in den äußeren Rahmenteilen 1,3 – 11; 12,1 – 8 äußert sich eine Stimme, die das Buch Kohelet in charakteristischer Weise fortschreibt. Sie soll hier das Kürzel „Z“ erhalten (für „Zweite Generation“). Z greift die Vorgaben Kohelets auf und gibt ihm einige neue Akzente. Er bereichert Kohelets Argumentation um kosmologische Aspekte und grenzt sich vehement gegen eschatologisch-protoapokalyptische Tendenzen ab. Charakteristisch für Z ist eine hochartifizielle Sprache, der Rückgriff auf geformtes Traditionsgut und – vor allem – die Verstärkung der „pessimistischen“ Tendenz Kohelets. Dass menschliches Handeln keinen bleibenden Gewinn zeitigt und dass menschliches Leben zu keiner Erinnerungsspur führt, stammt von Z.60 Von ihm stammt auch der erste Teil des Nachtrags 12,9 – 11. Wieviel später als Kohelet er anzusetzen ist, muss offen bleiben; allem Anschein nach hat er Kohelet noch gekannt. Über Z hinaus haben weitere punktuelle Einschreibungen in das Buch stattgefunden, die in sich keinen Zusammenhang bilden. Sie widmen sich verschiedenen Aktualisierungen, aber auch einer Auseinandersetzung mit weiteren Fragen der Eschatologie.61 Sie sind wahrscheinlich nach Z anzusetzen, gehören aber durchgängig in den Umkreis einer positiven Koheletrezeption62 Die Identifikation der Fortschreibungen erfolgt weniger im Modus der sonst als störend empfundenen inhaltlichen Spannungen im Koheletbuch, die vor allem in der älteren Forschung zu literarkritischen Modellen geführt haben.63 Eher zielführend ist ein redaktionsgeschichtliches Modell, wie Alexander A. Fischer es grundgelegt hat64 und nimmt weniger inhaltliche Maßstäbe zum Anlass als Beobachtungen zu Sprache und Stil. Echte Widersprüche finden sich im Buch Kohelet sehr viel weniger, als allgemein angenommen wird. Eine der Dramaturgie der Salomofiktion folgende Lektüre – die sich auf die Entwicklung von Themen einlässt – wird sich vielmehr mit Geduld durch den Text führen lassen.65

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Die entsprechenden Fortschreibungen sind im Kommentar kursiv gesetzt. Die entsprechenden Fortschreibungen sind im Kommentar in Kapitälchen gesetzt. Vgl. dazu auch T. Krüger, BK, 375 f. Überblick bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 64 – 68. A. A. Fischer, Skepsis, 5 – 55. Vgl. in diesem Sinne auch T. Krüger, BK, 32 – 39.

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6. Kommentar Überschrift Koh 1,1 1,1 Die Worte Kohelets, Sohn Davids, Kçnig in Jerusalem Das Buch eröffnet mit einer Angabe über die Gattung und den Namen des Verfassers. In 3. Person formuliert, stammt sie nicht von Kohelet selbst. Die Gattungsangabe dibre¯, „Worte“ ist sehr allgemein und gibt keine genaue Angabe über die Art des folgenden Textes. In Buchüberschriften findet sich „Worte des X“ noch Neh 1,1; Am 1,1; Jer 1,1; Prv 24,24; 30,1; 31,1 (Dtn 1,1; Jes 2,1). Da „Worte“ so unterschiedliche Texte wie Prophetenbücher, Memoiren oder weisheitliche Aussprüche bezeichnet, werden sie durch Verweis auf den Urheber näher bestimmt. Dies entspringt nicht nur dem Bedürfnis nach Präzisierung, sondern hängt mit dem Konzept des „Wortes“ zusammen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein „Wort“ im Hebräischen immer mehr ist als eine sprachliche Einheit.1 Worte werden auch „getan“ und können sich sogar selbständig „ereignen“. Wort und Ereignis bilden eine Einheit. Prophetie und Geschichtsschreibung kennen und beschreiben das „Wort Gottes“ als Kraft mit eigener Dynamik, die die Geschichte bestimmt, vgl. besonders eindrücklich Jes 55,10 – 11. In der Weisheit wird deutlich, wie das Wort, weise oder töricht, die Wirklichkeit zu gestalten vermag (Prv 10,19; 13,5; 14,15.23; 18,8.23; 22,12; 26,22; 29,12 f.; 30,8 u. ö.). Auch Kohelet befasst sich vielfach mit der Macht des Wortes.2 Aus diesem Grund muss das Wort durch den Urheber legitimiert werden und der Urheber zusätzlich eine Legitimation erfahren. Dies geschieht durch Angaben zum Namen3 und zur Herkunft und Funktion des Verfassers. Sie bilden mit „Worte“ eine sprachliche Einheit. Die Autorität der Person Kohelets wird durch seine davidische Abstammung und sein Königtum zusätzlich beglaubigt. In der jetzigen Fassung ist unklar, ob sich die Königstitulatur auf David oder auf Kohelet bezieht.4 Für 1 Vgl. zum Folgenden: W.H. Schmidt, ThWAT II (1977), 111 – 131. 2 Die Wurzel dbr noch: 1,8.10.16; 2,15; 3,7; 5,1.2.6; 6,11; 7,8.21; 8,1.3.4.5; 9,16.17; 10,12.13.14.20; 12,10.11.13, s. dazu D. Dieckmann, Worte, 192 – 239. 3 Zum Namen Kohelet s. Einleitung. 4 Aufgrund dieser Unklarheit nimmt die ältere Forschung und zuletzt wieder A. A. Fischer, Skepsis, 1, an, dass eine ursprüngliche Überschrift „Worte Kohelets“ sukzessive um „Sohn Davids“ und „König in Jerusalem“ erweitert wurde. Der positive Nachweis lässt sich nicht führen. Die auto-

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Überschrift Koh 1,1

den Bezug auf David spricht vor allem, dass es einen König Kohelet nicht gab. Die Form der Titulatur „über Israel in Jerusalem“ ist aber in 1Kön 11,42 belegt (Vgl. für David 2Sam 5,5; 1Chr 29,27).5 In diesem Fall erhält Kohelet seine Autorität als Davidide, was nicht zwangsläufig auf einen historischen Herrscher weist. Es könnte sich sogar um eine (durchaus zuverlässige) Erinnerung handeln, dass sich ein spätes Mitglied der Davidfamilie als Weiser und Schriftsteller betätigte. „Sohn“ bezeichnet im Hebräischen einfach nur den Nachkommen. Berücksichtigt man jedoch, dass Kohelet sich selbst als König bezeichnet, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Überschrift dies korrigiert. Gleichwohl bleibt offen, auf wen sich die Königstitulatur bezieht. 1Kön 11,41 berichtet von einem „Buch der dibre¯ Salomos“, in dem seine Worte/Taten und seine Weisheit aufgezeichnet sind. Damit verweist das Königebuch wahrscheinlich auf eine – jetzt verlorene – Chronik der Herrschaft Salomos, aus der es exzerpiert hat.6 Es ist denkbar, dass Koh 1,1 das Buch Kohelet unter diesem Horizont verstehen will.7 Salomo gilt sonst als der Autor von „Sprüchen“ (Prv 1,1; 1Kön 5,15) und „Liedern“ (1Kön 5,15). Gleichwohl verschiebt sich mit der Angabe „Sohn Davids“ der Schwerpunkt der Legitimierung Kohelets. Das Buchcorpus gründet seine Autorität auf Salomo, wenn auch fiktiv und verdeckt. Es entwirft ein Bild von Herrschaft, die allein durch Weisheit legitimiert ist. Diese Weisheit hat eine bestimmte Art von Frömmigkeit bei sich, die sich nicht primär kultisch verwirklicht, sondern in Gottesfurcht besteht (3,14; vgl. Prv 1,7). David hingegen steht zumindest in der nachexilischen Literatur für eine fromme Herrschaft, die eng mit dem Tempel verknüpft ist, sei es als Kultgründer und exemplarischer Priester wie in der Chronik, sei es als Psalmendichter.8 Insofern bleibt die Überschrift im Horizont der Salomofiktion. Gleichwohl zeigt sich, dass einige Zeit nach Kohelet der (verdeckte) Bezug auf Salomo nicht mehr hinreichend zur Legitimation des Buches war und durch die Davidisierung gleichermaßen verdeutlicht, verstärkt und ersetzt wurde. Die Überschrift bezeugt somit eine Debatte um das Buch unter seinen frühesten Rezipienten. Dabei ist es in

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risierende Funktion einer Buchüberschrift verlangt aber in der Regel zusätzliche Angaben zum Namen. Die Königstitulatur in 1,1 differiert von 1,12. Die griechische Textüberlieferung hat hier angeglichen, Vulgata und Peschitta lesen „König Jerusalems“, vgl. BHQ. Vgl. zu diesem Verweis: M. Köhlmoos, „Die übrige Geschichte“. Das „Rahmenwerk“ als Grunderzählung der Königebücher, in: S. Lubs u. a. (Hg.), Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs (FS C. Hardmeier), Leipzig 2007 (ABG 28), 216 – 231. Vgl. D. Dieckmann, Worte, 92. Vgl. R.G. Kratz, Die Tora Davids. Psalm 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, in: Ders., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, Tübingen 2004 (FAT 42), 245 – 279; K. Seybold, David als Psalmsänger in der Bibel. Entstehung einer Symbolfigur, in: W. Dietrich/H. Herkommer (Hg.), König David – biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, Freiburg 2003, 145 – 163.

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Koh 1,1

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gewisser Weise ein ironischer Zug, dass das Buch, das sich an einen Nachfolger richtet, seine Legitimation durch einen Vorgänger erhält, von dem sich Kohelet selbst eher absetzt (1,16; 2,9). Gleichwohl belegt 1,1, wiewohl literarisch sekundär, eine Wertschätzung des Buches.

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Nichts Neues unter der Sonne (Prolog und Motto)

Nichts Neues unter der Sonne (Prolog und Motto) Koh 1,2 – 11 1,2 „Überaus flüchtig“, sprach (der)1 Kohelet, „überaus flüchtig. Alles ist flüchtig. 1,3 Was ist schon der Gewinn für den Menschen von2 aller seiner Mühe, mit der er sich abmüht unter der Sonne? 1,4 Eine Generation geht, und eine Generation kommt. Und die Erde – in Ewigkeit bleibt sie. 1,5 Und die Sonne geht auf3, und die Sonne geht unter, und nach ihrem Ort strebt sie, geht dort auf. 1,6 Er geht nach Süden und wendet sich nach Norden, immerfort wendend geht der Wind. Und weil er sich wendet, kehrt der Wind zurück.4 1,7 Alle Flüsse gehen zum Meer, doch das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, an den die Flüsse gehen, dorthin kehren sie zurück, um (wieder) zu gehen.5 1,8 Alle Dinge sind unermüdlich, niemand kann (sie) aussprechen. Das Auge wird nicht satt vom Sehen, und das Ohr wird nicht voll vom Hören. 1,9 Was geschah, ist, was geschehen wird. Und was getan wurde, ist, was getan werden wird. Und es gibt nicht Neues unter der Sonne. 1,10 Es mag schon sein, dass jemand sagt6 : ,Schau mal! Das ist neu!‘

1 Kohelet hier mit dem Artikel, der wahrscheinlich aus stilistischen Gründen verwendet wird. Der Artikel ist nur in der griechischen Textüberlieferung belegt. MTohne Artikel (anders 12,8!) stellt eine erleichternde Angleichung an 1,12 dar, vgl. BHQ. 2 Vgl. T. Krüger, BK, 109; A. Reinert, Salomofiktion, 48 f.; A. Schoors, Preacher 1, 128; Ders., Preacher 2, 424. 3 In Vv. 4 – 7 finden sich fast ausschließlich Partizipien, nur hier liest MT ein Perfekt (die nachfolgende Form kann sowohl Perfekt als auch Partizip sein). Das Verständnis als Partizip gegen MT ist gut bezeugt, allerdings lectio facilior (vgl. BHQ). Gleichwohl ist die Lesart dem Kontext angemessen und greift auch nicht in den Konsonantenbestand ein, vgl. F.-J. Backhaus, Zeit, 12; A. A. Fischer, Skepsis, 197; T. Krüger, BK, 109 f.; R.E. Murphy, WBC, 6. Anders: N. Lohfink, Die Wiederkehr des immer Gleichen. Eine frühe Synthese zwischen griechischem und jüdischem Weltgefühl, in: Ders., Studien, 106 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 156. 4 Möglich ist auch „Zu seinem Wenden kehrt der Wind zurück“. Die Präpositionen Cal (gegen, wegen: MT) und Bæl (zu) sind spätestens bei Kohelet austauschbar : A. Schoors, Preacher 1, 200 f. 5 Im Unterschied zu den vorigen endet dieser Satz mit einem Infinitiv statt mit einem Partizip. Unklar ist außerdem, wie die beiden Verben „zurückkehren“ (sˇ b Part.) und „gehen“ (ha¯lak Inf.) grammatisch-syntaktisch aufeinander zu beziehen sind. Der Kontext macht eine Wiederkehr der Flüsse wahrscheinlich, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 165; A. A. Fischer, Skepsis; N. Lohfink, Wiederkehr, 111. Anders F. J. Backhaus, Zeit, 14 f.; T. Krüger, BK, 109; M.V. Fox, Time, 163; D. Michel, Untersuchungen, 3. 6 Wörtlich: „Es gibt ein Wort, das gesagt wird“ (j mar Qal Pass., vgl. A. Schoors, Preacher 1, 77 f.).

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Koh 1,2 – 11

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Es ist schon gewesen in7 Ewigkeiten (die vor uns gewesen sind).8 1,11 Keine Erinnerung gibt es an die Früheren9 und auch nicht an die Späteren, die sein werden: An sie gibt es keine Erinnerung, bei denen die danach sein werden. Koh 1,2 – 11 bilden die Einleitung zum Buch Kohelet. Dieser Eröffnung entspricht der Abschluss 12,1 – 8, der ebenfalls aus einem Gedicht und einem Zitat Kohelets besteht. 12,8 ist mit 1,2 identisch. Zunächst formuliert der Text zwei Grundeinsichten Kohelets: Alles ist flüchtig, und ein bleibender Ertrag („Gewinn“, jitr n) allen Tuns ist fragwürdig (Vv. 2 – 3). Dies wird durch die Widerkehr kosmischer Phänomene erläutert (Vv. 4 – 8). Die Schlussfolgerung lautet: Es gibt nichts Neues auf der Welt (Vv. 9 – 11). Dabei ist der Abschnitt zweiteilig: Die Doppelthese von Vv. 2 – 3 wird in Vv. 4 – 11 begründet und erläutert. „Unter der Sonne“ (Vv. 3.9) und „Ewigkeit“ verklammern die beiden Teile. Die Einheit ist also planvoll komponiert und in sich abgeschlossen.10 In Koh 1,2 – 11 spricht Kohelet nicht selbst, sondern wird zitiert. Dieses Zitat Kohelets ist vom Bearbeiter Z formuliert. Dabei wird nicht nur dessen eigene Hand deutlich erkennbar, die Unterschiedenheit vom restlichen Buch erklärt sich auch durch die hohe Aufnahme von Traditionsgut. Aufgenommen und bearbeitet wurden: Ein Zitat des griechischen Philosophen Monimos in 1,2. Von Monimos (4. Jh. v. Chr.) ist wenig bekannt, seine Schriften sind nicht mehr erhalten11. Überliefert ist einer

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Die Partikel je¯ˇs kann auch konditional verwendet werden, s. dazu Ders., Preacher 2, 181. Bezeugt wird dies durch LXX und Hieronymus, vgl. BHQ. Die Präposition le hier als Zeitadverb: A: Schoors, Preacher 1, 199. Der Relativsatz ist sperrig. Er verwendet die Relativpartikel Baˇsær, statt ˇsæ. Das Verb steht im Singular, während das Bezugswort im Plural steht. „Vor uns“ ist redundant und bietet eine ungewöhnliche Form (vgl. dazu A. Schoors, Preacher 1, 122 f.). Jeder einzelne Sachverhalt kann bei Kohelet vorkommen und im Rahmen der Grammatik erklärt werden, die Häufung fällt jedoch auf. Möglicherweise handelt es sich um eine Glosse, die das unklare „in Ewigkeiten“ erläutern soll. „Frühere“ und „Spätere“ können sich sowohl auf Menschen als auch auf Zeiten beziehen. Die maskulinen Formen und der Kontext machen Menschen als Bezug wahrscheinlicher, vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 51; A. Schoors, Preacher 2, 202f. Häufig werden dagegen V. 2 (D. Michel, Qohelet, 127; T. Krüger, BK, 101 – 104; F. J. Backhaus, Zeit, 326 – 330; A. A. Fischer, Skepsis, 3 f.; M.V. Fox, Time, 161 – 163; R.E. Murphy, WBC, 3 – 5) oder Vv. 2 – 3 bzw. 2 und 3 (N. Lohfink, Strukturen, 85; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 142 – 154; A. Reinert, Salomofiktion, 45 – 52) als eigenständige Einheiten von 1,4 – 11 abgetrennt. „Monimos.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. 21 September 2014

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Nichts Neues unter der Sonne (Prolog und Motto)

seiner Aussprüche in der Komödie Hippokomos des Menander (342 – 291 v. Chr.): „Er sagte nämlich, dass alle Meinungen/Annahmen Dunst (typh s) seien“.12 Die Formulierung in Koh 1,2 unterscheidet sich charakteristisch von Kohelet, ist aber eine ziemlich genaue Übersetzung des griechischen Satzes ins Hebräische.13 Eine Reihe von ägyptischen „Harfnerliedern“, die das Kommen und Gehen der Generationen, der Sonne und des Windes und das Vergehen der Erinnerung thematisieren. Vor allem das Antef-Lied ist in 1,4.9 – 11 präsent.14 Eine „kosmologische Lehrdichtung“ in 1,4 – 8. Dass eine solche vom Verfasser bearbeitet und in seinen Text integriert wurde, hat zuletzt wieder Alexander Fischer nachgewiesen.15 Die Herkunft ist unbekannt, teilweise überschneidet es sich mit den Harfnerliedern.16

Der Bearbeiter Z interpretiert Kohelet im Lichte paralleler bzw. verwandter Aussagen, die er dem Buch programmatisch voranstellt und zu Kohelets eigener Aussage macht. Inhaltlich formuliert 1,2 – 11 einen Dreischritt: Vv. 2 – 3 bilden die programmatische Ausgangsthese und –frage; Vv. 4 – 8 entfalten sie im Hinblick auf den Kosmos; Vv. 9 – 11 im Blick auf die Geschichte.17 Die Vv. 2 – 3 bilden den programmatischen Auftakt sowohl des Abschnitts als auch des Buches. Die Reflexionen Kohelets werden in zwei knappen Aussagen zusammengefasst, die eine doppelte These bilden: Alles ist flüchtig (V. 2), und menschliche Mühe bringt keinen Gewinn (V. 3). In den zwei Versen erscheinen vier Leitbegriffe des ganzen Buches. 1,2 ist außerordentlich kunstvoll gestaltet. Das Prädikat „flüchtig“ steht dem Subjekt „alles“ voran und wird – unterbrochen durch die Sprecherangabe – wiederholt und somit verstärkt. Schließlich wird das Leitwort „flüchtig“ (Ha¯bæl) noch einmal pointiert an den Schluss gestellt.18 Diese Gestaltung bewirkt, dass sowohl Ha¯bæl als auch „alles“ in gleichem Maße betont werden.19 Der Satz bildet außerdem eine rhythmische und Klangeinheit20 : habe¯l haba¯l m Ba¯mar haqqohælæt habe¯l haba¯l m hakk l habæl. Dieser Gestaltung 12 To gar hypolephthen typhon einai pan ephe: F.H. Sandbach (Hg.), Menandri reliquiae selectae, Oxford 1972, 307. Es handelt sich um eine erkenntnistheoretische Aussage (A.W. Gomme/F.H. Sandbach, Menander. A Commentary, Oxford 1973, 696 f.; R. Braun, Kohelet, 45 f.), keine ontologische (so aber N. Lohfink, Kohelet 1,2, „alles ist Windhauch“ – universale oder anthropologische Aussage?, in: Ders., Studien, 126; T. Krüger, BK, 103). 13 R. Braun, Kohelet, 46. 14 Antef, Neferhotep und Incherchau, vgl. dazu C. Uehlinger, Qohelet, 210 – 215. S. Fischer, Aufforderung, 170 – 173. 15 A. A. Fischer, Skepsis, 193 – 202 (mit älterer Literatur). 16 Es könnte sich um eine von C. Uehlinger, Qohelet, 214 f. postulierte Zwischenstufe handeln. 17 Die Abfolge könnte der Diatribe entlehnt sein: T. Krüger, BK, 29 – 31; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 57 – 59. 18 Vgl. auch N. Lohfink, Kohelet 1,2, 125; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 147. 19 L. Schwienhorst-Schönberger, A. A.O., 147. 20 Betonte Silben sind unterstrichen.

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wird sogar der reguläre Sprachgebrauch untergeordnet.21 Berücksichtigt man, dass hebräische Texte laut gelesen werden, erzielt die Eröffnung eine außerordentlich starke Wirkung. Der Verfasser Z greift Kohelets Leitwort Hæbæl auf und verwendet sie in Form des Superlativs. Im Unterschied zu Kohelets Reflexionen behauptet Z in 1,2 ohne Kontext und Differenzierung, „alles“ sei in höchstem Maße flüchtig. Damit ist hier das große Ganze aller Sachverhalte, Ansichten und Erkenntnisbemühungen gemeint.22 Indem Kohelet hiermit – durchaus nicht unsachgemäß – der Ausspruch des Monimos in den Mund gelegt wird, erweist sich Kohelet als anschlussfähig für hellenistisches Denken. Auch andere Philosophen bezeichnen menschliche Erkenntnisbemühungen als Typh s, „Windhauch“.23 Der wuchtige Mottosatz wird in 1,3 mit der Frage nach dem Gewinn menschlicher Mühe fortgesetzt. Ob die Frage rhetorisch gemeint oder eine tatsächliche Frage ist, bleibt offen. Prominent an den Anfang gerückt und dadurch mit einigem Nachdruck versehen wird der Begriff jitr n, „Ertrag, Gewinn“. Das Wort stammt vermutlich aus der Wirtschaftssprache.24 Es bezeichnet das, was „unter dem Strich“ herauskommt und kommt im Alten Testament nur bei Kohelet vor (1,3; 2,11.13; 3,9; 5,8.15; 7,12; 10.10.11). Obwohl in durchaus prominenten Zusammenhängen verwendet (vor allem 2,11.13) ist es erst durch Z wirklich zum Schlüsselwort des Koheletbuches geworden. Gefragt wird nach dem Ertrag menschlicher Mühe, es handelt sich also um eine anthropologische Aussage.25 Dabei trägt die Mühe (Ca¯mal) als Grundbedingung des menschlichen Daseins das Hauptgewicht des Verses: bek l Camalo ˇsæjjaCa¯m l26 ist eine ähnliche Redefigur wie der Superlativ „überaus flüchtig“ und steht hier in der Mitte des Satzes. Die Gestaltung als figura etymologica findet sich mehrfach, wenn Kohelet über Ca¯mal spricht (2,11.18.19.20.22; 5,17; 9,9). Indes wird außer in 1,3 Ca¯mal niemals als grundsätzliches Kennzeichen des Menschseins verwendet.27 1,3 greift vielmehr einen allgemein weisheitlichen Gedanken auf: Das Menschenlos ist Mühsal im Sinne dauerhafter Arbeit (Ps 90,10; Prv 31,7; Hi 5,7).28 Bei Kohelet 21 Der Constructus habe¯l ist ungewöhnlich, regulär wäre hæbæl. Falls es sich nicht um eine aramaisierende Form handelt (vgl. A. Schoors, Preacher 1, 75), ist er aus rhythmischen Gründen gewählt. Das gleiche gilt für den Artikel beim Namen Kohelet: Er bewirkt, dass fast alle Worte mit demselben Laut beginnen. 22 Es meint keinesfalls das Universum, vgl. A. Schoors, Preacher 2,3. 23 Die griechischen Bibelübersetzungen haben diesen Bezug verwischt, indem sie Ha¯bæl mit mataiot s oder athm s/athm s übersetzen, vgl. mit Belegen R. Braun, Kohelet, 45 f. 24 Die ökonomische Herkunft ist nicht sicher belegt, aber wahrscheinlich, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 423; A. A. Fischer, Skepsis, 186 – 190. 25 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 190 f. 26 „Von all seiner Mühe, mit der er sich abmüht“. Zur Übersetzung s. auch T. Krüger, BK, 109; A. Reinert, Salomofiktion, 48 f.; A. Schoors, Preacher 1, 128; Ders., Preacher 2, 424. 27 Vgl. A: Schoors, Preacher, 2, 44 – 49. 28 Vgl. B. Otzen, ThWAT VI (1989), 213 – 220. Die Konnotation von Leid und Bedrängnis spielen in der Weisheit und bei Kohelet keine Rolle.

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hat die Rede von der „Mühe“ „den Unterton der Frustration“29 aber nur in 2,11 werden Ca¯mal und jitr n verbunden. Hier hat Z Kohelets Aussagen verallgemeinert. Mit dem einleitenden Motto und der provokativen Frage eröffnen 1,2 – 3 das Buch mit einer recht pessimistischen Sicht menschlicher Möglichkeiten. Dass menschliches Mühen flüchtig, sogar erfolglos ist, wird in 1,4 – 11 kosmologisch und anthropologisch untermauert. Die Sequenz bildet einen sachlichen Zusammenhang, der das Kommen und (Ver-) Gehen natürlicher und menschlicher Phänomene reflektiert. Formal ist sie zweiteilig. Vv. 4 – 9 bilden einen poetisch gestalteten ersten Teil; Vv. 10 – 11 als zweiter Teil ist Prosa. Der erste Teil ist durch das Stichwort „Sonne“ (Vv. 5.9) eng mit der einleitenden Doppelthese verknüpft. Der zweite Teil nimmt Stichworte aus dem ersten auf: da¯bar, „Wort, Sache“: Vv. 8.10; ra¯Ba¯h, „sehen“: Vv. 8.10; C la¯m, „Ewigkeit“ (Vv. 4.10). Außerdem greifen Vv. 10 – 11 das Thema von V. 4a auf, wenn auch in anderer Formulierung. Hinsichtlich der Details der Gestaltung lassen sich weitere Teilsequenzen erkennen. Vv. 4 – 7 sind als tempuslose Partizipialsätze formuliert und durch ha¯lak, „gehen“ und ˇs b, „zurückkehren“ zu einer Einheit verbunden. V. 8 bildet einen eigenen Teilabschnitt aus drei gleichartigen grammatischen Konstruktionen (Imperfekt – Infinitiv). V. 9 zeigt ebenfalls eine eigenständige Gestaltung. Vv. 10 – 11 schließlich haben das Leitwort ha¯ja¯h, „Sein“. Das Ziel dieser komplexen Einheit ist der Spitzensatz V. 9 „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Er ist an V. 3 zurückgebunden und gibt die vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Gewinn.30 Dieses Ziel wird in Vv. 4 – 8 vorbereitet und in Vv. 10 – 11 weiter reflektiert.31 1,4 – 7 bilden den am dichtesten gestalteten Teilabschnitt. Die syntaktische Gestaltung ist einheitlich der Partizipialsatz, der zeitlose Dauer anzeigt. Alle Verben (bis auf „bleiben“ V. 4b) sind Verben der Bewegung, allein ha¯lak, „gehen“ wird sechsmal verwendet (Vv. 4a.6a.b.7.a.b). Auch rhythmisch und klanglich ist der Text planvoll gestaltet.32 Dabei fällt auf, dass die Einzeleinheiten – bei gleichbleibender Sachaussage – kontinuierlich länger werden.33 Das Thema des Abschnitts ist „Zeit als kosmisches Phänomen“. Es wird in drei Aspekten verhandelt: als zielloses Werden und Vergehen (V. 4a), als unbewegte Ewigkeit (V. 4b) und als Wiederkehr des Gleichen (Vv. 5 – 7). Die Partizipialformen bilden diese drei „Aggregatzustände“ als dauerhaften zeitlosen Zustand ab. Diese gewissermaßen zeitlose Zeit wird in den kosmischen Raum eingeordnet. V. 4 betrachtet Zeit auf der Erde, Vv. 5 – 7 verhandeln die drei Kosmosgrößen Sonne (V. 5), Wind (V. 6) und Wasser (V. 7). Sie sind 29 B. Otzen, ThWAT VI, 218, vgl. auch A. Schoors, Preacher 2, 154. 30 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 158 f.; A. A. Fischer, Skepsis, 201. 31 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 158; N. Lohfink, Wiederkehr, 97; A. Reinert, Salomofiktion 57 – 59, dort auch Diskussion weiterer Gliederungsvorschläge. 32 Zur poetischen Analyse: N. Lohfink, Wiederkehr, 99 – 103. 33 Ders., A. A.O., 100 f.

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räumlich angeordnet und zwar sowohl vertikal (Sonne – oben; Wind – Mitte; Wasser – unten) als auch horizontal (Sonne: Ost-West; Wind: Nord-Süd; Wasser : Ost-West).34 Im Gesamtraum des Kosmos findet ständig Bewegung statt, gleichzeitig steht die Zeit still, und die Bewegung kommt nicht voran.35 V.4 beginnt mit einer Kontrastaussage. Generationen kommen und gehen, die Erde aber ist ewig. Der Satz ist ähnlich sorgfältig formuliert wie V. 2 und wahrscheinlich eine Eigenkomposition von Z.36 Der Kontrast ist bis ins Detail durchgestaltet. Den beiden Bewegungsverben „kommen“ und „gehen“ steht das Zustandsverb „bleiben“ gegenüber ; Generationen (menschlich) stehen im Kontrast zu „Erde“ (nicht menschlich),37 zwei Subjekte in V. 4a stehen in Opposition zu einem in V.4b. Die Aussage von V. 4b trägt die Hauptaussage des Verses, der mit dem betonten Prädikat „sie bleibt“ endet.38 Der Vers schildert zunächst das Kommen und Gehen der Generationen. „Generation“ (d r) ist ein Zeitraum oder Zeitmaß, das (in etwa) einem Menschenalter entspricht.39 Die geprägte Wendung d r wadd r, „von Generation zu Generation“ ist ein Synonym zu „für immer“. Das zugrundeliegende Konzept lässt sich mit einem Staffellauf vergleichen:40 Die Aufeinanderfolge von Generationen schafft ununterbrochene Zeit. Die traditionelle Wendung wird als Zeitadverb verwendet und bedeutet wörtlich „Generation und Generation“. Mit einiger Raffinesse macht der Verfasser daraus zwei Handlungssubjekte. Eine Generation geht und eine Generation kommt, wobei zwei unterschiedliche Generationen gemeint sind. So entsteht bei aller Zeitlosigkeit eine dauerhafte Diskontinuität. Eine Generation kommt gleichsam aus dem Nichts, eine andere verschwindet ins Nichts.41 Damit wird das „flüchtig“ von V. 2 der Sache nach aufgenommen. Da die Generationen auch soziale, menschliche Zeit abbilden, kann es keinen Gewinn menschlicher Mühe geben. Dem dauernden Kommen und Gehen der Generationen steht die Bestän34 Da mit „Meer“ das Mittelmeer gemeint ist. Zu dieser Struktur auch N. Lohfink, Wiederkehr, 108 f.; A. A. Fischer, Skepsis, 194; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 160 – 166. Es handelt sich indes um die Anordnung kosmischer Räume, nicht um die Übernahme der griechischen Elemente Erde, Feuer, Luft, Wasser (so N. Lohfink, Wiederkehr, 109. Ältere Ansätze bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 160): An Sonne als Feuer ist nicht gedacht, die Erde ist ein Raum, kein Element, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 194. 35 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 54. 36 A. A. Fischer, Skepsis, 195 – 197 betrachtet die Gesamtkomposition Vv. 4 – 8* als übernommenes Traditionsgut. V. 4 ist V 2 aber so ähnlich, dass hier mit einer Schöpfung von Z zu rechnen ist. Dafür sprechen außerdem inhaltliche Gründe. 37 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 11 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 161. 38 Aus diesem Grund befindet sich „in Ewigkeit“ nicht, wie sonst bei Kohelet (2,16; 3,14; 9,6), in Endstellung, vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 12. 39 G.J. Botterweck/D.N. Freedman-Lundbom, ThWAT II (1977), 185 f. 40 Vgl. N. Lohfink, Wiederkehr, 104. 41 Vgl. auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 161. Indes überschätzt er die Konnotation der Verben in Richtung auf Sterben (gehen) und Geboren-Werden (kommen). Der Tod (und das Leben) sind in Koh 1 das Thema. Noch stärker in diese Richtung geht N. Lohfink, Wiederkehr, 97 f.

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digkeit der Erde gegenüber. Bæræs. , „Erde“, ist der Kontrastbegriff zu d r, gemeint ist die Kosmosgröße zwischen Himmel und Unterwelt. Von ihr gilt nun gerade nicht eine Summe von Zeitabschnitten, sondern sie ist dauerhaft. C la¯m, „Ewigkeit“, hat im Hebräischen nicht den abstrakt philosophischen Aspekt, der heutigen Lesern vertraut ist. Es bezeichnet vielmehr „fernste Zeit“ sowohl in der Vergangenheit als in der Zukunft.42 LeC la¯m ist eigentlich ein Synonym zu d r wadd r43. 1,4 macht daraus einen Gegensatz. Das betont am Schluss stehende „bleiben“ (Ca¯mad) ist ein Begriff für Stabilität. In Verbindung mit C la¯m wird die Unwandelbarkeit der Erde betont: Das Kommen und Gehen der Generationen hinterlässt keine Spuren auf der Erde.44 Die folgenden drei Verse 1,5 – 7 schildern die jeweilige Bewegung und Rückkehr von Sonne, Wind und Wasser. In ihrer Gesamtheit bilden sie einen Kontrast zur ewigen Erde und zum ziellosen Kommen und Gehen der Generationen. Die Wiederkehr des Phänomens steht in allen drei Versen am Schluss. Sie verleiht den drei Versen eine thematische Einheitlichkeit, die sie ohne dieses Element nicht besitzen. Überdies sind die Aussagen über die jeweilige Wiederkehr sprachlich etwas sperrig mit Tendenz zur Prosa. Außer an dieser Stelle wird im Koheletbuch nicht mit dem Kosmos argumentiert. So liegt die Vermutung nahe, dass Z hier ein Traditionsstück über Naturphänomene aufgegriffen und für seine Argumentation bearbeitet hat.45 Die z. T. überraschende Betonung der Wiederkehr dient der Publikumslenkung: Die drei eigentlich unterschiedlichen Sachverhalte werden unter einem Aspekt zusammengeschaut. Das baut eine Erwartung auf, die mit jedem Vers neu eingelöst wird, das Publikum kann mit-denken.46 Dies ist ein typisch weisheitliches Verfahren47. V. 5 beginnt mit der Sonne. Wie in V. 4 werden vom selben Subjekt zwei Handlungen ausgesagt. Anders als dort ist hier jedoch die Reihenfolge VerbSubjekt/Verb-Subjekt. Damit wird eindeutig, dass es dasselbe Subjekt ist. Der Auf- und Untergang der Sonne ist kein Ablösen verschiedener Dinge, sondern eine Handlung.48 Für den Sonnenaufgang verwendet 1,5 den geläufigen Begriff za¯ra¯h, „aufstrahlen“, für den Untergang das ebenso geläufige b B, „kommen“. Letzteres verbindet die Sonne mit der Generationenkette, aber eben im Kontrast.49 Dieser wird dann noch verstärkt: Die Sonne kehrt nach ihrem Unter42 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 221. 43 Und muss hier gleichzeitig mit „seit fernster Zeit“ und „bis in fernste Zeit“ übersetzt werden. 44 Vgl. A. Schoors, Preacher, 2, 187: „The procession of generations does not alter the face of the Earth.“ 45 Das zeigt A. A. Fischer, Skepsis, 199 – 201. Indes produzieren die Einfügungen keine sprachlichen Inkohärenzen, vgl. dazu F. J. Backhaus, Zeit, 13 f. 46 Vgl. N. Lohfink, Wiederkehr, 101 f. 47 Vgl. M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 488 f. 48 Vgl. N. Lofink, Wiederkehr 106; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT 161, ohne dass deswegen das Perfekt gelesen werden muss. 49 N. Lohfink, Wiederkehr, 106.

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gang sofort wieder zu „ihrem“ Ort zurück, d. h. zum Osten. Gedacht ist mit Sicherheit an den (unterirdischen) Nachtlauf der Sonne. ˇsa¯Bap ist ein lautmalerisches Verb, das in etwa „Schnaufen, Keuchen“ bedeutet. Für Naturphänomene wird es sonst nicht verwendet, es erscheint im Kontext von Lust (Jer 7,24), Wehen (Jes 42,14) oder Gier (Jer 14,6; Hi 7,2). Letzteres veranlasst die Konnotation von Habgier und Unterdrückung (Ps 56,2; Ez 36,3; Am 2,7; 8,4).50 Welche Vorstellung vom Sonnenlauf Koh 1,5 zugrundeliegt, ist unklar, auf jeden Fall ist an eine schnelle Bewegung zu denken (vgl. Ps 19,6).51 „Von wo sie aufgeht“ ist im Grunde redundant und vom Verfasser eingetragen, um die Wiederkehr zu betonen. In V.6 wird das Thema poetisch verrätselt. Das Subjekt „Wind“ (r ah. ) erscheint nach fünf Verbformen, die eine dauernde (Kreis-) Bewegung aussagen. Dabei werden aber nur zwei Verben verwendet. Ha¯lak, „gehen“, rahmt das dreifache sa¯bab, „drehen“. Da Sonne und Wind im Hebräischen dasselbe maskuline Genus haben,52 ist grammatisch auch eine weitere Beschreibung der Sonnenbewegung möglich,53 die sich aber aufgrund des ständigen Drehens als falsch erweist. Erst der pointiert am Schluss stehende Wind löst das Rätsel auf. V. 6 schildert mehrere Aspekte der Windbewegung. Zunächst weht (wörtlich: „geht“) er nach Süden. Das hier verwendete Wort da¯r m kennzeichnet den solaren Süden, den Mittagspunkt der Sonne. Die Frage nach dem Subjekt wird somit weiter in der Schwebe gehalten. Vom Süden aus „dreht“ der Wind nach Norden. Geschildert wird also ein Südwind, der im Mittelmeerraum gefürchtete Chamsin (Schirocco), der sich dreht und Windhosen und Sandstürme verursacht.54 Auch der Norden wird nicht geographisch bezeichnet, sondern kosmologisch-mythisch: S. a¯p n, im Alten Testament traditionell die Herkunft des Feindes.55 Innerhalb seines Ganges von Süd nach Nord kreiselt der Wind in sich. Erst hier, in 6b, wird klar, dass es sich nicht um die Sonne handeln kann. Das die Kreisbewegung rahmende hala¯k verknüpft den Wind mit den Generationen, doch erneut ist eine andere Bewegung gemeint. Betont wird dies dann in V. 6bb, wo wieder eine Rückkehr zum Ausgangspunkt ausgesagt wird. Das steht in gewisser Spannung zu den Schilderungen des wechselhaften Windes und ist daher vermutlich eine Formulierung des Verfassers Z. 50 Vgl. P. Maiberger, ThWAT VII (1993), 929 – 931. 51 Ders., A. A.O., 930: „Der weite Weg, den sie durcheilen muss, bringt sie ganz außer Atem, so das sie ,keuchend‘ ihrem Aufgang zustrebt.“ So auch A. Schoors, Preacher 2, 418; A. A. Fischer, Skepsis, 198. Die meisten Exegeten denken an die Pferde des Sonnengottes (vgl. auch 2Kön 23,11). Da ˇsa¯Bap auch von Eseln ausgesagt wird (Jer 2,24; 14,6), ist das gut denkbar. 52 r ah. kann Maskulin und Feminin verwendet werden, hier erscheint das Maskulinum. 53 LXX und Vulgata sowie einige Exegeten beziehen 6a, das Targum und Rashi sogar den ganzen Vers auf die Sonne, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 162. 54 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 163 f. 55 Jes 14,3; Jer 1,13 – 15; 4,6; 6,1.23; 10,22; 13,20; 15,12; 46,20.24; Dan 11,6, vgl. E. Lipin´ski, ThWAT VI (1989), 1099 – 1101.

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V. 7 beginnt zwar mit dem Subjekt, die Hauptaussage betrifft aber das Objekt: Das Meer wird trotz beständigen Zuflusses nicht voll. Wie in V. 4 liegt eine Kontrastaussage vor, das Themawort „Meer“ steht hier betont und wiederholt in der Mitte.56 V. 7b erklärt das erstaunliche Phänomen mit dem Kreislauf des Wassers. Er ist wahrscheinlich – wie in V. 5 – als unterirdischer Rücklauf gedacht.57 Gleichwohl ist die Vorstellung des Wasserkreislaufs dem Satz wohl nachträglich zugesetzt. V. 7b ist eine Prosaformulierung mit dem Wortrepertoire der vorigen Verse und versieht V. 7 mit einem neuen Aspekt.58 V. 8 formuliert die Summe der vorigen Beobachtungen in betonter Parallele zu V. 7. Trotz der Fortsetzung mit „reden“ meint der Text hier „Dinge“ oder „Taten“, nicht „Worte“. Da¯bar bezeichnet alle drei Sachverhalte, d. h. auch hier muss das Publikum mitdenken.59 Die Dinge sind „unermüdlich“. Das verwendete Adjektiv bedeutet wörtlich „müde“ und bezeichnet die Müdigkeit, die aus ständiger Tätigkeit resultiert (vgl. besonders eindrücklich Jes 47,12).60 Der Sache nach ist das ein Echo der Mühsal des menschlichen Daseins V. 3,61 und ähnlich wie dort ergibt sich auch bei Dingen nichts Bleibendes. Die unermüdlichen Dinge können nicht ausgesprochen werden und nicht durch Sehen oder Hören erfasst werden. Die jeweils gleichartig formulierte Trias Reden – Sehen – Hören parallelisiert Ausdruck und Wahrnehmung mit den drei Kosmosgrößen, der verwendete Tempusaspekt (Imperfekt) drückt die ständige Wiederholung aus. Die Dinge sind in ständiger Bewegung, und der Mensch bemüht sich unablässig darum, sie zu erfassen. Ohne Erfolg: Sie können nicht durch Reden stillgestellt und damit erfasst werden. Das verwendete Verb dibber kennzeichnet die (inhaltslose) „Tätigkeit des Sprechens, das Hervorbringen von Worten und Sätzen“.62 Durch das Reden (dibber) wird ein Sachverhalt (da¯bar) erst zum Wort (da¯bar) und damit erst zum Ding, mit dem man umgehen kann63. Angesichts der ständigen Bewegung ist das aber nicht möglich. Das Gleiche gilt vom Sehen und Hören. So, wie das Meer durch die Flüsse nicht voll wird, fließen die Eindrücke ergebnislos in das ständig hinblickende Auge, das ständig hinhörende Ohr64. Zwar thematisiert V. 7 menschliche Fähigkeiten, trotzdem ist es keine anthropologische Aussage.

56 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 14. 57 Vgl. dazu A. A. Fischer, Skepsis, 200; N. Lohfink, Wiederkehr, 111; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 164 – 166. 58 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 199 f. 59 S. den Kommentar zu 1,1. Zu Mehrdeutigkeit von deba¯r m an dieser Stelle: N. Lohfink, Wiederkehr, 112; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 167. Zur Semantik von da¯bar bei Kohelet: A. Schoors, Preacher 2, 268 – 272 und D. Dieckmann, Worte, 194 f. 60 Deswegen übersetzen N. Lohfink, Wiederkehr, 112; A. A. Fischer, Skepsis, 198 „rastlos tätig“. 61 Vgl. T. Krüger, BK, 115. 62 W.H. Schmidt, ThWAT II (1977), 105. 63 Vgl. N. Lohfink, Wiederkehr, 113. 64 Vgl. T. Krüger, BK, 115.

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Weder ist der Mensch Teil des Kosmos,65 noch geht es um die Möglichkeiten des Menschen und seiner Erkenntnis66 noch um den Menschen überhaupt.67 „Niemand“ (wörtlich „kein Mann“) bezeichnet im Buch Kohelet immer nur ein einzelnes Individuum, keinen Vertreter der Menschheit. Vielmehr hat der Vers gerade darin seine Pointe, dass die unzähligen Einzelbemühungen zu keinem Ergebnis führen. Die unermüdliche, rastlose Bewegung der Elemente erzielt also kein bleibendes Ergebnis im Sinne einer fassbaren Aussage oder Wahrnehmung. Dies ist vermutlich das Ziel und die Pointe des vom Verfasser aufgenommenen Traditionsstücks Vv. 5 – 8*: Der Kosmos ist nicht fassbar.68 1,9 – 11 wenden die Einsicht in das kosmische Geschehen auf die menschliche Zeit an. In diesen Versen geht es um „Geschichte“. Zugleich bilden sie den Höhepunkt und den Abschluss des Prologs. Der Verfasser Z verwendet hier kein Traditionsmaterial, sondern führt in eigenen Formulierungen Gedanken weiter, die bei Kohelet angelegt sind. Dabei bildet V. 9 den Übergang vom Kosmos zur Geschichte: Kosmisches Geschehen und menschliches Handeln entsprechen einander.69 V. 9a bündelt alle Vorgänge in zwei pointierten, rhythmisch gestalteten Relativsätzen: Masˇˇsæha¯ja¯h h B ˇsæjihjæh masˇænnaCas´a¯h h B ´sæjjeCas´æh. Die beiden Aussagen sind absolut zu verstehen.70 V. 9b zieht die Schlussfolgerung mit dem berühmten Satz „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“.71 Damit ist die Frage nach dem Gewinn beantwortet: Wo es nichts Neues gibt, kann es auch keinen bleibenden Ertrag geben.72 Unterstrichen wird dies durch die Wiederholung von „unter der Sonne“. V. 9 bildet gleichermaßen den Abschluss des vorigen wie die Einleitung des nächsten, abschließenden, Gedankengangs. 1,10 – 11 stellen einen zusammenhängenden Abschnitt dar. Er ist in Prosa formuliert und kreist um die Leitworte „sein“ (5mal) und „Erinnerung“ (2mal). V.10 besteht aus der Gegenthese zu V. 9 (10a), die dann (10b – 11) ausführlich widerlegt wird: Es kann nichts Neues geben, weil es keine Erinnerung an Früheres gibt. Im Hebräischen ist „Früher“ der Gegensatz zu „Neu“, nicht „Alt“.73 Neues ließe sich nur in Bezug auf Früheres bestimmen. Indes vergehen Menschen und Dinge, ohne eine Erinnerungspur zu hinterlassen (V. 3). Es gibt 65 So etwa T. Krüger, BK, 115. Die Parallele zwischen „alle Dinge“ und „alle Flüsse“ sagt aber noch nichts über die Stellung des Menschen im Kosmos aus. 66 So etwa F. J. Backhaus, Zeit, 38 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 167. 67 So etwa N. Lohfink, Wiederkehr, 112 – 115; F. J. Backhaus, Zeit, 38 f. 68 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 196, der aber V. 4 zur Vorgabe rechnet. 69 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 169. 70 Sie sind in 2,12b und 3,15 vom selben Verfasser in die Argumentation eingefügt. 71 T. Krüger, BK, 110 weist auf die Unschärfe hin, die offen lässt, ob gar nichts Neues oder nichts völlig Neues gemeint ist. Der Gebrauch von „alles“ bei Kohelet weist eher in die Richtung „gar nichts“ (A. Schoors, Preacher 2, 8), der Kontext legt das zweite Verständnis nahe (T. Krüger, BK, 110). 72 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 201. 73 N. Lohfink, Wiederkehr, 119.

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keinen bleibenden Ertrag (jitr n), demzufolge kann es auch keine Erinnerung (zikr n) geben.74 Die Gegenthese wird mit einer Art Zitat eingeleitet: „Es gibt ein Wort, das man sagt“, so dass der Verfasser Z sich hier mit einer zeitgenössischen Meinung auseinandersetzt. Es handelt sich um prophetische Ankündigungen des „Neuen“, besonders nahe stehen Koh 1,10 f. Jes 43,16 – 21; 65,17 – 25.75 In beiden Jesajatexten kündigt Gott an „jetzt“ Neues zu schaffen. „Kohelet“ und „Jesaja“ unterscheiden sich aber nicht nur in der Frage nach dem Neuen. Bezüglich der Erinnerung liegen sie sogar weiter auseinander. Bei Jesaja ist das absichtliche Vergessen dessen, was gewesen ist, die Voraussetzung zur Erkenntnis des Neuen.76 Paradoxerweise muss es aber eine Erinnerung an die Geschichte geben, weil das Neue nur so als Neues erfasst werden kann. Sie dann zu vergessen, gibt dem Neuen seine Chance. Jesaja ruft also zu bewusstem Vergessen der Erinnerung auf. Koh 1,10 f. dagegen leugnet, dass es eine solche Erinnerung überhaupt geben könnte. Bemerkt V. 10 noch lapidar (und im Grunde übereinstimmend mit Jesaja), dass alles bereits da war, so stellt V.11 dann endgültig fest, dass die Generationenkette keine Erinnerung weitergibt: Man erinnert sich nicht an die Früheren, wie die Späteren sich nicht an die Gegenwart (als deren Frühere) erinnern werden. Hier greift der Text die Vorgabe des ägyptischen Antef-Liedes auf:77 „Eine Generation vergeht, andere bleiben/kommen seit der Zeit der Vorfahren. Die Götter, die vordem entstanden, ruhen in ihren Pyramiden78, die Edlen und Verklärten gleicherweise liegen begraben in ihren Pyramiden. Die (aber) da Gräber aufführten – ihre Stätte ist nicht mehr – was ist mit ihnen geschehen? Nun, ich habe die Worte des Imhotep und des Hordedef gehört, deren Sprüche in aller Munde sind, aber : Wo sind ihre Stätten? Ihre Mauern sind zerfallen, ihre Stätte gibt es nicht, als wären sie nie gewesen. Keiner kommt von dort, dass er erzähle, wie es um sie steht, dass er sage, was sie brauchen… 74 Der üblichere Begriff wäre ze¯kær. Zikr n bezeichnet ein material-symbolisches Andenken, vor allem in kultischen Zusammenhängen (Ex 28,12.29.39; 30,16; Num 5,15.18; 10,10; 31,54; Jes 57,8) oder aufgezeichnete „Denkwürdigkeiten“: Ex 17,14; Est 6,1; Mal 3,16, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 323 f. Zikr n ist wegen der Assonanz zu jitr n verwendet. 75 Vgl. zum Folgenden N. Lohfink, Wiederkehr, 119 f.; T. Krüger, BK, 119 f.; K. Schmid, Neue Schöpfung als Überbietung des neuen Exodus. Die tritojesajanische Aktualisierung der deuterojesajanischen Theologie und der Tora, in: Ders., Schriftgelehrte Traditionsliteratur. Fallstudien zur innerbiblischen Schriftauslegung im Alten Testament, Tübingen 2011 (FAT 77), 185 – 206. 76 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 175. 77 Übersetzung nach C. Uehlinger, Qohelet, 211 f. 78 Dieser Textteil wird von Kohelet verständlicherweise nicht aufgegriffen.

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Der nüchterne Blick auf die vorfindliche Welt belegt historisch ein immerwährendes Werden und Vergehen, kosmologisch die Wiederkehr des Gleichen. Mit dieser Feststellung endet der Prolog. Koh 1,2 – 11 bildet die Einleitung zum Koheletbuch. Als solche setzt sie wichtige Signale für das Verständnis des nachfolgenden Textes. Die Einleitung lässt die Charakteristica Kohelets aus, sein Königtum und seine persönlichen Erkenntniswege. Stattdessen wird Kohelet als Autorität für bestimmte Inhalte zitiert und zwar dafür, dass alles flüchtig und vergänglich ist und dass es demzufolge nichts Bleibendes und also auch nichts Neues gibt. Dies gilt in gleicher Weise für den Kosmos wie für die Geschichte. Bei dieser Zusammenfassung Kohelets wird indes nicht nur Kohelet zitiert, sondern ein beachtliches Arsenal anderer Texte; Koh 1,2 – 11 spielt ägyptisches Gut ein in der Aufnahme des Antef-Liedes (1,4.9 – 11), die Sentenz des Monimos (1,2) und ein (von ihm bearbeitetes) Lehrstück über kosmische Phänomene (1,4 – 8). Diese Texte werden samt und sonders als Aussage Kohelets zitiert und dem (anonymen) Wort über das Neue gegenübergestellt. Das heißt: „Kohelet“ wird gegen „Jesaja“ ins Spiel gebracht, um die Frage autoritativ zu entscheiden, ob es jetzt und überhaupt Neues geben könnte. Diese Frage ist nicht akademisch. Das Heil zu verwirklichen – jetzt – ist der Anspruch der hohepriesterlichen Herrscher der persischen und hellenistischen Zeit, entweder als amtierender „Messias“ oder als dessen vorläufiger Vertreter. Die Ankündigung des Neuen in Jes 43; 65 ist eng verwoben mit diesem Anspruch (Jes 61).79 Um diesem Anspruch argumentativ entgegenzutreten, wird dem Buch Kohelet jener Abschnitt vorangestellt, der sozusagen objektiv den Beweis führt, dass keine Herrschaft diesen Anspruch verwirklichen kann, weil er keine empirische Grundlage hat. Kohelet steht als Autorität für diese Sicht der Dinge. Dabei zitiert Koh 1,2 – 11 nicht nur eine Menge fremder Texte, die er Kohelet in den Mund legt. Kohelet selbst kommt in diesem Text kaum zu Wort. Wirklich präsent ist er in einigen Vokabeln, im „Flüchtig!“-Zitat (das aber mit Monimos parallelisiert wird) und in der Frage, ob es Gewinn geben könnte. Eine Lektüre des Buches wird ergeben, dass Kohelet selbst mit der Flüchtigkeit entschieden anders umgeht, einen Gewinn nur für sich persönlich in Frage stellt und sich zum Kosmos und den Generationen überhaupt nicht äußert. Auch das Wort „neu“ kommt im Buch Kohelet nicht mehr in prominenter Weise vor. Koh 1,2 – 11 stammt daher nicht von Kohelet, sondern von jenem Bearbeiter des Buches, der hier mit der Chiffre „Z“ bezeichnet wird. Als „Zweite Generation“ aktualisiert er Kohelets Diskurs über Herrschaft und Weisheit im Gegenüber zur prophetisch-priesterlichen Eschatologie. Wie bei allen Fortschreibungs- und Aktualisierungsprozessen im Alten Testament geht es darum, was der Diskursgründer hätte sagen können oder hätte sagen müssen, 79 Vgl. ausführlich R. Achenbach, König, 196 – 244.

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Nichts Neues unter der Sonne (Prolog und Motto)

wenn er sich zur aktuellen Situation äußern würde. Sätze wie „Alles ist flüchtig“ und „Generationen kommen und gehen“ waren in den Theologenkreisen der hellenistischen Zeit bekannt – Koh 1,2 – 11 hält fest, dass sie nicht von irgendwem gesagt wurden, sondern von Kohelet. Es gibt nichts Neues, und wer das Gegenteil behauptet, irrt. Buchanfänge und Einleitungen sind für die Rezeption von entscheidender Bedeutung. Die Rezeption (so sie denn das ganze Buch von Anfang bis Ende wahrnimmt) wird sie immer zum Leittext ihrer Lektüre und Interpretation machen. So ist es denn nicht verwunderlich, dass das Buch Kohelet immer im Licht von 1,2 – 11 gelesen worden ist.80 Leitend für die christliche Auslegung war lange Zeit der Kommentar des Hieronymus: „Wenn ich also die Elemente und die große Vielfalt der Natur ansehe, werde ich die Größe der Schöpfung zwar bewundern; doch wenn ich mich besinne, dass alles vergeht und dass die Welt an ihrem Ende hinschwindet, und nur Gott das ist, was er immer gewesen ist, bin ich gezwungen nicht einmal, sondern zweimal zu sagen: Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles ist Nichtigkeit. (…) Und so zeigen sich aus diesem Wort das Vergängliche und das Nichts des Universums. Das, was sich zeigt, ist zeitlich/vergänglich, was sich aber nicht zeigt, ist ewig. Oder weil die Kreatur der Nichtigkeit unterworfen ist und seufzt und leidet und auf die Erscheinung der Gottessöhne harrt, erkennen auch wir nun zum Teil und prophezeien zum Teil. „So lange ist alles nichtig, bis das kommt, was vollkommen ist.“

Hieronymus liest Koh 1,2 – 11 im Licht der paulinischen Aussagen zur Erlösung und kann ihm somit aus vollem Herzen zustimmen. Diese Auslegungslinie reicht weit bis in die Neuzeit; der Choral „Ach wie nichtig, ach wie flüchtig“81 ist bis heute ein beliebter Grabgesang. Liest man Koh 1,2 – 11 für sich und ohne Fortsetzung oder kanonischen Kontext, ist es ein düsterer Text. Gott kommt darin nicht vor, aus dem kosmischen Kreislauf lässt sich keine Hoffnungsperspektive auf die Ewigkeit des Lebens oder gar einer Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung ableiten. In diesem Sinne rezipieren vor allem Schriftsteller des 19. und 20. Jhs. Koh 1 als Predigt des Sinnlosen: „Das Wahrhaftigste aller Bücher sind die Sprüche Salomos, und der Prediger Salomo ist aus dem feingehämmerten Stahl des Leids geschmiedet. ,Es ist alles ganz eitel‘. ALLES. Die Weisheit des unchristlichen Salomo hat diese mutwillige Welt noch nicht begriffen.“82

80 Vgl. zum Folgenden E. Birnbaum, Nichtigkeit , 31 – 50. 81 EG 528. 82 H. Melville, Moby Dick. Oder der Wal, Kap. 96.

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Ob man die scheinbare Trostlosigkeit des Kohelet-Prologs für theologisch legitim oder für theologisch minderwertig hält, entscheidet ein komplexes Geflecht hermeneutischer und anderer Bedingungen.83 Auf die Hörer und Leserinnen des Textes muss Koh 1,2 – 11 provozierend, ja schockierend gewirkt haben. Sie sind unter Judäern und Judäerinnen zu vermuten, da es sich um einen hebräischen Text handelt. Zwar wendet sich der Text einigermaßen direkt nur an diejenigen, die ihre Hoffnung auf die große Heilswende des Neuen Himmels und der Neuen Erde setzten (Vv. 10 – 11).84 Doch auch andere theologische Richtungen werden sich in Koh 1 kaum wiederfinden. Mit Gen 1 ist die Kosmologie nicht kompatibel, zu Gen 8,20 – 22 geht der Text auf Distanz. Die priesterliche Literatur und die Psalmen verwenden „von Generation zu Generation“ gerade als Begriff für Kontinuität: Eine Generation gibt kultische Ordnung und heilsgeschichtliche Erinnerung an die nächste weiter (exemplarisch: Ps 145,14; Ex 12,14.17.42). Im Deuteronomium ist „Erinnern“ eines der theologischen Leitworte – dass es keine Erinnerung gibt (V. 11) entzieht einer ganzen Theologie die Grundlage. Die Aneignung des Monimos-Zitats gleich zu Beginn macht deutlich, dass in keiner Lehre das Heil zu finden ist, nicht in Israel noch anderswo. Damit ist das Publikum des Buches Kohelet aber wieder auf den Text zurück geworfen. Der Prolog ist eine Eröffnung, die Erwartungen weckt, die eingelöst oder auch korrigiert werden. Dies überlässt der Verfasser des Prologs Kohelet selbst.

83 Vgl. E. Birnbaum, Nichtigkeit, 38 – 48. 84 Möglicherweise sind auch diejenigen angesprochen, die mit dem Hellenismus große Erwartungen verbanden (so L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 176). Mit einer signifikanten Verwendung des Begriffs „neu“ verbindet er sich in Syrien-Palästina aber nicht. Immerhin trägt aber mit Ptolemaios IV. Neos Dionysos (245 – 204) ein zeitgenössischer Herrscher das „neu“ im Titel.

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Des Königs Experiment Koh 1,12 – 2,26 1,12 Ich bin Kohelet.1 Ich wurde2 König in Jerusalem. 1,13 Und ich3 machte es zu meiner Lebensaufgabe, durch Weisheit alles zu untersuchen und zu erforschen4, was unter dem Himmel5 getan wird6. Das ist ein schweres Geschäft; Gott7 hat es den Menschen gegeben, damit sie sich damit beschäftigen. 1,14 Ich sah alle Werke, die unter dem Himmel getan wurden8 und siehe: Alles war flüchtig und Greifen nach Wind. 1,15 Gekrümmtes kann nicht gerade werden, und Fehlendes kann man nicht zählen. 1,16 Ich dachte bei mir9 : „Siehe – ich bin größer und weiser geworden als jeder, der vor mir über Jerusalem geherrscht hat10, und mein Herz hat eine Menge an Weisheit und Erkenntnis gesehen.“ 1,17 Und da machte ich es zu meiner Lebensaufgabe11, Weisheit zu erkennen und Irrtum12 und Torheit zu erkennen13. Ich erkannte: auch dies ist Streben14 nach Wind. 1 So mit der masoretischen Akzentsetzung, vgl. außerdem M.V. Fox, Time, 170. 2 Die Perfektform kann unterschiedlich aufgefasst werden: „War/wurde/bin gewesen“. Da der Text nicht erkennen lässt, dass Kohelet nicht mehr König ist, liegt „wurde“ am nächsten. Diskussion: A. Schoors, Preacher 1, 172. 3 Kohelet betont seine Autorität mit dem (redundanten) Personalpronomen „Ich“. Die Stellung nach dem Verb ist eigentlich irregulär und eine Eigenart Kohelets, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 160. 4 Wörtlich: „zu erkunden und zu erforschen mittels Weisheit bezüglich aller Dinge“ Diskussion: A. Schoors, Preacher 1, 198 f. 5 Die im Buch seltene Formulierung (nur noch 2,3; 3,1; 9,8) wird vom größeren Teil der Textüberlieferung zum häufigeren „unter der Sonne“ korrigiert. MT hat lectio difficilior. 6 Das Verb lässt sich partizipial oder perfektisch auffassen; zum partizipialen Verständnis: A. Schoors, Preacher 1, 94 f. 7 Gott wird hier ohne Artikel verwendet und meint daher wahrscheinlich jeden Gott. LXX liest hier den Artikel. Der Gebrauch des Artikels bei Kohelet ist unsystematisch, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 164 – 169. Ein System ist dargestellt bei A. Vonach, Nähere dich, 23 f. 8 Das Verb ist jetzt eindeutig ein Perfekt und bezieht sich auf Kohelets Erzählstandpunkt. 9 Wörtlich: „Ich sprach bei meinem Herzen“. Die Präposition Cim („mit, bei“) ist hier ungewöhnlich, üblicherweise kommen Bæl („zu“) oder be („in“) vor. 10 Wörtlich: „Als jeder, der vor mir über Jerusalem war“. Kohelet verwendet kein Verb für Herrschaft, sondern die Präposition Cal, die Aufsicht oder Führung anzeigt. Die meisten Versionen korrigieren zu „in“. Zum Problem auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 189. 11 Der bei Kohelet seltene Narrativ zeigt das Ende des Selbstgesprächs an. Durch die Form des Kohortativ ist er zusätzlich betont: A. Schoors, Preacher 1, 87. 12 H le¯l t erscheint nur bei Kohelet. Trotz der zugrunde liegenden Wurzel „töricht sein“, ist die griechische Übersetzung angemessener, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 442 f. 13 So mit MT. Der größere Teil der Textüberlieferung liest wedaCat als Substantiv und in Parallele zu „Weisheit“: „zu erkennen Weisheit und Erkenntnis, Irrtum und Torheit“. Gegen die masoretische Lesung gibt es keine Einwände, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 12 f.; T. Krüger, BK, 126 f. Mit

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1,18 Denn in viel Weisheit ist viel Verdruss, und wer die Weisheit vermehrt, vermehrt den Schmerz. 2,1. Ich sprach zu mir : „Los doch! Ich will Freude überprüfen! Und schau mal – Gutes15 !“ Und siehe – auch dies war flüchtig. 2,2 Über das Lachen sprach ich: „Irrtum“ Und über die Freude: „Was bewirkt sie?“ 2,3 Ich erforschte in meinem Verstand, wie es wäre, in Wein zu schwelgen, während mein Verstand in Weisheit die Führung behielt, und Unsinn zu ergreifen, bis ich sähe, was gut ist für die Menschen, bei dem, was sie tun unter dem Himmel ihr Leben lang. 2,4 Ich vollbrachte meine großen Taten: Ich baute mir Häuser, und ich pflanzte mir Weinberge. 2,5 Ich machte mir Gärten und Parks, und ich pflanzte in ihnen Fruchtbäume jeglicher Art. 2,6 Ich machte mir Wasserteiche, um daraus einen Wald zu tränken, sprießend von Bäumen. 2,7 Ich erwarb mir Sklaven und Sklavinnen und hatte Hausgeborene. Auch Viehherden, Rindvieh und Kleinvieh, besaß ich in Menge – mehr als alle, die vor mir in Jerusalem gewesen waren. 2,8 Auch Silber und Gold häufte ich an und das Eigentum von Königen und Provinzen. Ich verschaffte16 mir Sängerinnen und Sänger und den Traum aller Menschen: eine riesige Dienerschar17. 2,9 Und ich war größer und reicher als jeder, der vor mir in Jerusalem gewesen war. Aber meine Weisheit blieb mir erhalten. 2,10 Und nichts, was meine Augen begehrten, versagte ich ihnen18, ich hielt mein Herz von keinerlei Freude zurück, denn mein Herz war froh wegen19 aller meiner Mühe. Und das war mein Los aus aller meiner Mühe. 2,11 Und in wandte mich um von20 allen meinen Taten, die ich eigenhändig getan hatte, und von aller Mühe, mit der ich mich darum gemüht hatte. Und siehe: alles war flüchtig und Greifen nach Wind. Und kein Gewinn unter der Sonne.

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den Versionen: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 195; A. Reinert, Salomofiktion, 80 f. Zur Interpretation von D. Michel, Untersuchungen, 23 f. s. T. Krüger, BK, 126 f. Hier die Variante raCj n zum häufigeren reC t. Das Verb ist ein Imperativ und daher parallel zu leka¯-na¯. „Überprüfen“ bestimmt beide Objekte („mit Freude“ – „mit Gutem“). Ein Anschluss mit Infinitiv („und Gutes sehen“), so z. B. T. Krüger, BK, 125 ist weniger wahrscheinlich. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 199 und A. Schoors, Preacher 1, 177 lesen einen indirekten Imperativ: „Auf, sieh das Gute!“, berücksichtigen aber die Präposition nicht. Der Vorschlag von A. Reinert, Salomofiktion, 82 f. versteht „mit Gutem“ im Sinne einer positiven Haltung zum Untersuchungsgegenstand. Wörtlich: „Ich machte“. Zu dieser Übersetzung s. den Kommentar. „Augen“ ist Feminin, die Präposition aber Maskulin. Das Phänomen kommt in späteren Texten des Alten Testaments häufiger vor. Ungewöhnlicherweise mit der Präposition min, „von, weg“. Die Übersetzungen korrigieren zum üblicheren be („in“), vgl. BHQ. „Wegen“, „aufgrund von“ ist gut möglich, vor allem, wenn „Mühe“ außer der Tat auch deren Ertrag bezeichnet. Es kann aber auch stilistische Gründe geben, nämlich die Parallele zum nachfolgenden Satz, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 178. Hier mit be („in“). Die Präposition hängt von der Bewegung des Wendens ab: In seinem Tun hält Kohelet inne und dreht sich um, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 368.

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2,12 Und ich wandte mich zurück, um Weisheit und Irrtum und Torheit zu sehen. Denn was ist der Mensch, der nach dem König kommt? (Das, was man schon längst getan hat)21 2,13 Und ich sah, dass mehr Gewinn in der Weisheit als in der Torheit liegt, wie mehr Gewinn im Licht liegt als in der Finsternis. 2,14 Der Weise hat Augen im Kopf, aber der Tor – in Finsternis wandelt er. Und auch erkannte ich, dass ein Geschick sie alle trifft. 2,15 Und ich dachte bei mir : „Das Geschick des Toren wird auch mich treffen! Wozu bin ich dann so überaus weise geworden?22“ Und ich sagte mir, dass auch dies flüchtig sei. 2,16 Denn keine Erinnerung gibt es an den Weisen noch an den Toren in Ewigkeit. In den Tagen, die kommen, werden sie alle längst vergessen sein. Ach! Es stirbt der Weise wie der Tor! 2,17 Und ich hasste das Leben, denn schlecht erschien mir23 das Tun, das unter der Sonne getan wird. Denn alles ist flüchtig und Greifen nach Wind. 2,18 Und ich hasste alle meine Mühe, mit der ich mich unter der Sonne abgemüht hatte, die ich dem Menschen hinterlassen muss, der nach mir kommt. 2,19 Und wer weiß, ob er ein Weiser sein wird oder ein Tor? Und er wird über alle meine Mühe verfügen, für die ich mich unter der Sonne abgemüht habe und weise geworden bin. Auch das ist flüchtig. 2,20 Und ich begab mich meiner Täuschungen24 über all die Mühe, mit der ich mich unter der Sonne gemüht hatte. 2,21 Denn da ist ein Mensch, der müht sich mit Weisheit und Erkenntnis und Geschick, und einem Menschen, der

21 12b ist inkongruent, der Versschluss bildet keinen sinnvollen Anschluss an die Frage. Schon die Textüberlieferung zeigt das Problem an, vgl. BHQ. Es liegt ein sprachliches und ein inhaltliches Problem vor. Sprachlich ist nicht erkennbar, ob das Verb ein Singular oder ein Plural ist. So oder so ist es aber keine sinnvolle Antwort auf „was ist der Mensch“. Aus diesem Grund setzen die meisten Analysen ein Verb ein („Was tut der Mensch“): R.E. Murphy, WBC, 20; A. Schoors, Preacher 1, 156; F. J. Backhaus, Zeit, 101; T. Krüger, BK, 125; D. Michel, Untersuchungen, 23; A. Reinert, Salomofiktion, 87 f. Diese Lösung bietet dann den geringsten Eingriff in MT, wenn man nicht mit dem Ausfall eines Verbs rechnet, sondern mit seiner Auslassung (Aposiopese: GK 167a, so Murphy und Krüger; Breviloquenz, so Backhaus. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 218 – 220 fasst den Versschluss als Relativsatz auf („den sie einst eingesetzt haben“). Es bleibt das inhaltliche Problem. Der Versschluss behauptet im Unterschied zu Kohelet, dass dieser eben nicht einmalig war. Diese Lösung funktioniert nur, wenn man 1,12ff von 1,2 – 11 her liest, was sich durch das Stichwort „Gewinn“ nahelegt (exemplarisch: F. J. Backhaus, Zeit, 104). Daher ist der Versschluss entweder eine Formulierung von Z oder eine epexegetische Glosse (so A. A. Fischer, Skepsis, 204). 22 Zur Übersetzung s. A. Schoors, Preacher 1, 100.114 f. Das schwerverständliche Ba¯z, „dann, damals“ wird von den meisten alten Übersetzungen ausgelassen, vgl. BHQ. 23 Wörtlich: „denn übel war gegen mich“. Die Präposition weist hier auf die Perspektive. 24 Die Formulierung wird meist übersetzt „Und ich ergab mich der Verzweiflung“, entweder, weil Kohelet (endgültig) die Sinnlosigkeit seines „Leistungsdenkens“ einsähe (T. Krüger, BK, 146; ähnlich auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 231 f.), oder weil die Verzweiflung an sich noch einmal einen „Erkenntnisweg“ darstelle (A. Reinert, Salomofiktion, 90 f.). Das Verb sa¯bab impliziert aber eine Richtungsänderung im Denken (vgl. F. Garcia-Lopez, ThWAT V (1986), 734). Die Übersetzung hier mit M.V. Fox, Time, 185.188, vgl. auch A. Schoors, Preacher 2, 387.

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sich nicht darum gemüht hat, muss er es geben, sein Los. Auch dies ist flüchtig und ein großes Übel. 2,22 Denn was bekommt der Mensch in aller seiner Mühe und im Streben seines Herzens, mit dem er sich müht unter der Sonne? 2,23 Denn alle seine Tage sind Schmerzen und Verdruss sein Geschäft. Auch bei Nacht kommt sein Herz nicht zur Ruhe. Auch dies ist flüchtig. 2,24 Es gibt nichts Gutes25 im26 Menschen, der isst und trinkt und seine Seele Gutes sehen lässt bei seiner Mühe. Auch dies sah ich: Dass es aus der Hand Gottes kommt. 2,25 Denn wer kann essen und wer „sich sorgen“27 ohne ihn?28 2,26 Denn dem Menschen, der gut ist vor seinem Angesicht, dem gibt er Weisheit und Erkenntnis und Freude. Dem Sünder aber gibt er das Geschäft des Sammelns und Anhäufens, um es dann dem zu geben, der gut ist vor dem Angesicht Gottes. Auch dies ist flüchtig und Greifen nach Wind. Nach dem einleitenden Prolog kommt Kohelet in 1,12 selbst zu Wort. Er bleibt bis 12,7 der alleinige Sprecher des Textes. In 1,12 – 2,26 berichtet er von seinem Leben als König und den Lehren, die er daraus gezogen hat. Seine eigenen Erfahrungen führen zu dem Ergebnis, dass alle Anstrengungen umsonst sind.29 Der Grund dafür erschließt sich zuletzt: Alle Menschen sind sterblich (2,14 f.), und Gottes Gaben sind unverfügbar (2,24 – 26). Der Text bildet den längsten zusammenhängenden Abschnitt des Buches. Für das Buch hat er programmatische Bedeutung. Kohelet formuliert seine Lebensaufgabe, deren Ergebnisse er dann zunächst in Bezug auf sein eigenes Leben darstellt. Dieses Programm ist Ausgangs- und Bezugspunkt aller weiteren Reflexionen. Der Text beginnt 1,12 mit der solennen Selbstvorstellung Kohelets. 2,26 ist mit dem Subjektwechsel ein Abschluss erreicht. Auch kompositionell und

25 Nur hier findet sich die absolute Aussage „Es gibt nichts Gutes“, an allen anderen Stellen steht der Komparativ (3,12.22; 5,17; 8,15). Aus diesem Grund wird 2,24 von vielen in diesem Sinne korrigiert (Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 211.) Das hat zur Folge, dass die folgende Relativpartikel zur Vergleichspartikel zu ändern oder diese zu ergänzen ist. Dafür gibt es textkritische Indizien (vgl. BHQ), MT ist aber verständlich. Für die Änderung plädieren u. a. F. J. Backhaus, Zeit, 107; S. Fischer, Aufforderung, 35.38 f. 26 „Im Menschen“ ist gut verständlich, eine Änderung zu „für“ (F. J. Backhaus, Zeit, 107) ist nicht erforderlich. Das „im“ erklärt sich am ehesten als Beth constitutionis, vgl. T. Krüger, BK, 138; A. Reinert, Salomofiktion, 90 f. 27 Eine genaue Übersetzung des Verbs h. ˇs ist umstritten und wird sich nicht mehr klären lassen; die näherungsweise Übersetzung ist aber gut begründet, vgl. ausführlich F. J. Backhaus, Zeit, 108 – 111; A. Schoors, Preacher 2, 384 – 386. 28 MT liest „außer mir“, was im Kontext ein Zitat Gottes voraussetzt. Die Änderung zum Suffix 3. Person ist gut begründet (BHQ) und macht der Sache nach keinen Unterschied. 29 Vgl. pointiert A. A. Fischer, Skepsis, 204 – 206.

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dramaturgisch bilden 2,24 – 26 den Abschluss des Textes: Die Unverfügbarkeit der göttlichen Gaben setzt dem menschlichen Streben Grenzen.30 1,12 – 2,26 sind durchgängig in 1. Person gehalten und bilden eine Erzählung des Königs über sein Leben. Der Text ist also „autobiographisch“. Charakteristisch für autobiographische Texte ist nicht nur, dass das erzählende Ich der Protagonist seiner Erzählung ist, sondern auch deren Erzähler und Autor. Für die Komposition und Gliederung sind demnach die Textteile relevant, in denen das „Ich“ seinen Erzählentwurf erkennen lässt, d. h. wo er sich aus der Distanz reflektiert, nicht von sich spricht, sondern über sich. Erkennbar wird das dort, wo Kohelet sich entweder selbst reflektiert und oder in Beziehung zu anderen setzt. Dominant sind in diesem Text die Bezugnahmen auf sein „Herz“, die Verweise auf sein rationales Selbst (1,12.16; 2,1.3.10.15.20.22.23). Diese Sätze bilden das narrative und thematische Grundgerüst des Textes. Neben seinem Herzen als Bezugspunkt seiner selbst nennt Kohelet drei Personen, zu denen er sich in Beziehung setzt: Gott (1,13; 2,24 – 26), seine Vorgänger (1,16; 2,7.9) und seinen Nachfolger (2,12.13.18.19). Die Verweise auf Vorgänger und Nachfolger gliedern die autobiographische Erzählung in einen ersten und einen zweiten Teil.31 Die Bezüge auf Gott bilden den äußeren Rahmen, es geht an allen drei Stellen darum, was Gott „gibt“. Die Formeln „alles ist flüchtig“ (1,14; 2,1.11.15.17.19.21.23.26) und „unter der Sonne“ (2,11.17.18.19.20.22) sowie die Leitworte „Weisheit“ (1,13.16.17.18; 2,9.12.13.14.15.19.21.26), „Mühe“ (2,10.11.18.19.20.21.22.24) und „Tun“ (1,13.14; 2,11.12.17) rhythmisieren den Text zusätzlich und verleihen ihm das Bild thematischer Geschlossenheit.32 1,12 – 2,26 sind als königliche Autobiographie gestaltet. Dabei nimmt nicht nur die ganze Erzählung vom „Ich bin Kohelet“ ihren Ausgang. Kohelet positioniert auch seine ganze Reflexion zwischen den Herrschern vor ihm und dem Herrscher nach ihm. Das Königtum (Kohelets) ist damit der argumentative Rahmen der Darstellung, obwohl der Mensch an sich das Ziel seiner Überlegungen ist.33 Kohelet spricht in 1,12 – 2,26 über seine Vergangenheit. So ist der Sprechakt irgendwo am Ende seines Lebens zu denken. Indes bleibt Kohelet in dieser 30 Vgl. Ders., A. A.O., 216; Ders., Beobachtungen zur Komposition von Kohelet 1,3 – 3,15*: ZAW 103 (1991), 72 – 86; T. Krüger, BK, 129 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 181; A. Reinert, Salomofiktion, 98 f. Eine Zäsur bei 2,11 (D. Michel, Untersuchungen, 9) ist nicht sinnvoll. Weitere Literatur bei A. Reinert, Salomofiktion, 76 f. 31 Vgl. T. Krüger, BK, 129. 32 Eine ähnliche Gliederung der Teilsequenzen auch bei A. A. Fischer, Komposition, 79; Ders., Skepsis, 208 – 210; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 181 f.; A. Reinert, Salomofiktion, 77 – 79, jedoch aufgrund anderer Kriterien. Anders: F. J. Backhaus, Zeit, 92 – 111; T. Krüger, BK, 129 f. Die meisten Analysen sehen eine entscheidende Zäsur bei 2,11, weil dort die pointierte Aussage zum Gewinn steht, vgl. aber zum Übergang T. Krüger, BK, 140. 33 S. dazu E. Blumenthal, König, 10. Es geht also nicht um eine Travestie „nach oben“, die dem „bürgerlichen Menschen“ die Einsicht verleihen soll, dass der König auch nur ein Mensch wie Du und ich ist (so L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 188).

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Rolle, nirgendwo wird erkennbar, dass er im Verlauf des Textes aufhört, König zu sein. Dadurch wird die narrative Abfolge der Taten und Einsichten einigermaßen komplex.34 Die Vorhaben Kohelets für sein Königtum 1,13 – 15.16 – 18; 2,1 – 2.3 gehören an den Anfang seiner Herrschaft, sind aber nicht notwendigerweise nacheinander durchgeführt. Vielmehr wechselt Kohelet in seinem Rückblick mehrfach die Perspektive. Kohelets Königtum ist auf Salomo transparent. Die Fiktion bzw. Travestie dient dazu, die Deutung der Welt unter die Autorität eines idealen Salomo zu stellen. Dabei greift der Text auf folgende Bausteine der Salomo-Tradition zurück: 1. Der primäre Bezugstext für Koh 1,12 – 2,26 ist 1Kön 3,1 – 15. Von ihm gewinnt Koh 1 – 2 die Zuordnung von „Herz“ und „Weisheit“, die Unvergleichlichkeitsaussage und die Aufgabe, das „Gute“ und das „Böse“ zu unterscheiden. Bei seiner Rezeption von 1Kön 3 berücksichtigt Kohelet den Bezug auf David (Kön 3,6 – 7a) und die Zuspitzung auf die Gebote (1Kön 3,14) aber nicht. 2. Kohelets Tätigkeit als Bauherr und sein Reichtum sind nach 1Kön 5,1 – 3.5 – 8; 10 modelliert. 3. Die narrative Abfolge eines erfolgreichen und eines „gescheiterten“ Königs entspricht dem narrativen Aufriss von 1Kön 3 – 11. 4. Die Stichworte „Essen, trinken, Freude“ beziehen sich auf 1Kön 4,20.35 5. Das Wissen um die Nachfolgeproblematik stammt aus der Tradition von 1Kön 12,1 – 20. 6. Kohelets Ziel der Weisheitserkenntnis (1,17) ist Prv 1,2 entlehnt. 7. 2,13.14 haben thematische Parallelen im Proverbienbuch.36 8. Die betonte Herrschaft Salomos in Jerusalem entspricht dem Salomobild der Chronik. Die Elemente werden so zusammengesetzt, dass eine Synthese des durch Weisheit erfolgreichen Herrschers (Kön) mit dem des Forschers (Prv), der in Jerusalem herrscht (Chr) entsteht. Sie zielt auf die Eignung eines Menschen zur Herrschaft. Der Text beginnt 1,12 mit der feierlichen Selbstvorstellung Kohelets. Die Selbstvorstellungsformel „Ich bin X“ ist in alttestamentlichen Texten JHWH vorbehalten. Außerhalb des Alten Testaments hat sie in den Königsinschriften seit der frühen Bronzezeit gute Tradition, besonders gehäuft begegnet sie in assyrischen Texten.37 34 Da Kohelet den hebräischen Narrativ selten verwendet, der die Handlung von ihren Begleitumständen absetzt, wird es besonders schwierig, die Narration von der Reflexion zu unterscheiden. 35 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 188. 36 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 59.105. 37 Vgl. A. A. Diesel, Art. Selbstvorstellungsformel: www.wibilex.de.

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Die Formel ist ein Sprechakt, bei der ein bisher Unbekannter oder nur aus zweiter Hand Bekannter sich mit größtmöglichem Nachdruck seinen Hörerinnen und Lesern zeigt. Nicht umsonst begegnet sie außer in Königsinschriften vor allem in hymnischen Selbstpräsentationen von Gottheiten (Aretalogien).38 Die Rolle, Funktion oder weitere Merkmale können der Formel direkt angeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund ist „Kohelet“ das Prädikat zu „Ich“.39 Betont wird auf diese Weise die Autorität, mit der Kohelet spricht. „Ich“ ist im ersten Buchteil eines der Leitworte. Fortgesetzt wird die Selbstvorstellung mit dem Verweis auf Kohelets Königtum. Das Perfekt verweist im klassischen Hebräisch auf einen abgeschlossenen Vorgang unabhängig von der Zeitstufe. Bei Kohelet tendiert das Perfekt zum einfachen Vergangenheitstempus.40 Daher kann die Aussage sowohl „Ich wurde König“ (Perfektischer Aspekt) als auch „Ich war König“ (Vergangenheitstempus) bedeuten.41 Im Duktus des Textes ist „wurde“ am sinnvollsten: Kohelet wurde König und begann sofort mit seiner Untersuchung. Dafür spricht auch, dass die Schilderung der Projekte 1,13 mit einem „und“ beginnt und daher einen Progress andeutet. In der Formel „König über Israel in Jerusalem“ wird die chronistische Idee aufgenommen, dass überhaupt nur in Jerusalem legitime Herrschaft möglich ist und zwar in enger Abstimmung zwischen Königtum und Priesterschaft (vgl. 2Chr 1,13; 9,30).42 Diese Formulierung enthält ein Signal zur Rezeption: Zu erwarten ist, dass sich der Sprecher zum Verhältnis von königlicher und priesterlicher Herrschaft äußert. Statt dessen schlägt Kohelet aber den weisheitlichen Weg ein. 1,13 – 2,3 bilden einen formalen und sachlichen Zusammenhang.43 Davon dienen die beiden ersten Sequenzen (1,13 – 15.16 – 18) der programmatischen Eröffnung des ganzen Buchcorpus. 2,1 – 3 leiten zum Lebensexperiment Kohelets über. Die drei Abschnitte sind ähnlich gestaltet, sie bestehen je aus dem Plan (1,13.17; 2,1) und dem vorweggenommenen Ergebnis (1,14.17). 1,13 – 15.16 – 18 werden zudem mit einem Sprichwort abgeschlossen.44 1,13 – 15 schließen direkt an 1,12 an und formulieren Kohelets erste Lebensaufgabe: Die genaue Erforschung menschlichen Handelns (V. 13a). In 38 39 40 41

Ebd. Vgl. zur Syntax der Formel: Ebd. Vgl. A. Schoors, Preacher 1,172. Wenig wahrscheinlich ist das deklarative Verständnis „Ich bin hiermit König“ (so R. Lux, Fiktion, 335), weil sich die Erzählung schwer darauf beziehen lässt. Vgl. dazu A. Schoors, Preacher 1, 172. 42 Ausführlich: T. Willi, Chronik. 1. Teilband, 1. Chronik 1,1 – 10,14, Neukirchen-Vluyn 2009 (BK XXIV/1), 284 – 288. 43 Vgl. grundlegend A. A. Fischer, Komposition, 78 f.; Ders., Skepsis, 205 – 208; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 181 f.; T. Krüger, 130 f. 44 A. A. Fischer, Komposition, 78 f.; Ders., Skepsis, 205 f. postuliert einen zu stark schematisierten Aufbau; die Differenzierungen zeigen L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 183; F. J. Backhaus, Zeit, 93 – 96; A. Reinert, Salomofiktion, 78 – 88.

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einer zusätzlichen Reflexion wird diese Aufgabe theologisch bewertet (V. 13b). In V. 14 fasst er den Vorgang und das Ergebnis zusammen, und V. 15 zitiert zur Bekräftigung ein Sprichwort. 1,13 beschreibt Kohelet seine Lebensaufgabe, wörtlich „Ich gab mein Herz…“ Das Herz (le¯b) fungiert hier und in V. 17 als Ort des Planens und des Willens, wobei der Plan im Herzen bereits konkrete Gestalt angenommen hat. In der Salomo-Überlieferung begegnet dieses Motiv noch in 1Kön 8,17 f.; 2Chr 6,7 f.; 7,11, dort ist der Tempelbau schon im Herzen konkret. Auch die Königin von Saba hat ihre Fragen an Salomo schon „im Herzen“ (1Kön 10,2; 2Chr 9,1).45 Die Formulierung mit „geben“ (na¯tan) ist charakteristisch für Kohelet.46 Der Grund ist die Parallele der „Herzensgabe“ mit den Gaben Gottes. Kohelets Plan besteht in der genauen Erforschung menschlichen Handelns. Das Mittel dazu ist die Weisheit. Wenn Kohelet hier und in V. 17 die Weisheit verwendet bzw. untersucht, ist vorausgesetzt, dass die Gabe seines „weisen Herzens“ (1Kön 3) bereit stattgefunden hat. Kohelet sagt nirgends, dass er sich seine Weisheit angeeignet hätte. Sie steht ihm vielmehr zur Verfügung, und er setzt sie ein.47 Mit der hier instrumental gebrauchten Weisheit ist das intellektuelle Vermögen gemeint, das Wissen oder – modern gesprochen – die Kompetenz (Ri 5,29; 2Sam 13,3; 142; Hi 38,36; Ez 28,3 f.; Prv 21,22; Jer 9,22).48 Was damit konkret gemeint ist, zeigt 1Kön 3,9. Ein „hörendes“ oder „weises“ (3,12) Herz kann unterscheiden zwischen „gut“ und „böse“, d. h. zwischen sinnvoll und nützlich einerseits und schädlich andererseits.49 Im Unterschied zu 1Kön 3 setzt Kohelet-Salomo diese Weisheit zunächst nicht zur Herrschaft ein,50 sondern gewissermaßen als „Herrschaftswissen“: Er verschafft sich einen Überblick über menschliches Handeln im Allgemeinen.51 Die beiden Verben konkretisieren das Vorhaben: da¯rasˇ, wörtlich „suchen“, meint „erforschen, studieren, untersuchen“52 und zwar auf ein dokumentierbares Ergebnis hin.53 T r bezeichnet das Erkunden (Num 13 – 14) oder das Aussuchen 45 Vgl. H.-J. Fabry, ThWAT IV (1984), 437. 46 Es begegnet sonst häufiger das „Setzen“ (s´ m bzw. k n): Jes 41,22; Ez 44,5; Hag 2,15.18; Hi 11,13; 1Chr 29,18; 1Sam 7,3 u. ö. 47 Anders L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 196; T. Krüger, BK, 134. Tatsächlich liegt bei Kohelets Sprachgebrauch eine Mischung aus 1Kön 3 (Stichwort „weises Herz“) und 2Chr 1 (Stichwort „Weisheit“) vor. So oder so handelt es sich nicht um eine Parodie, sondern um eine Art Midrasch. 48 Vgl. H.-P. Müller, ThWAT II (1977), 929 f. 49 2Chr 1 fehlt diese Näherbestimmung. 50 Vgl. 1Kön 3,9: „Deinem Volk Recht zu verschaffen“. 51 Vgl. T. Krüger, BK, 134. Es ist weder gemeint „was geschieht“ (R.E. Murphy, WBC; M.V. Fox, Times, 175) noch ist „implizit die Frage nach der Schöpfung gestellt“ (L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 192). 52 S. Wagner, ThWAT II (1977), 316; A. Schoors, Preacher 2, 381. 53 Da¯rasˇ ist der Terminus für die juristische Untersuchung oder die Orakelanfrage: S. Wagner, ThWAT II, 316 – 327.

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(Num 10,33; Dtn 1,33; Ez 20,6) eines für ein Vorhaben geeigneten Gegenstandes. Kohelet inszeniert sich als Forscher, wobei sich sein Interesse aber anders als 1Kön 5,15 nicht auf die Natur richtet, sondern, wie im Proverbienbuch, auf die Gesellschaft. In einer im Alten Testament ungewöhnlichen Aussage schildert in V. 13b die Mühen des Forscherdaseins: ein „übles Geschäft“, besser „ein leidiges Unterfangen“. Das Nomen Cinja¯n, „Beschäftigung, Geschäft“, erscheint nur bei Kohelet, in der Verbindung mit raC, „schlecht, übel“, noch 5,8; 5,13. In diesem Zusammenhang bringt Kohelet zum ersten Mal Gott ins Spiel: Das mühsame Unterfangen der Forschung ist allen Menschen von Gott auferlegt, damit sie sich damit „beschäftigen“.54 Kohelet hat sich seine Lebensaufgabe also durchaus nicht selbst ausgesucht, sondern erfüllt seine von Gott gesetzte Pflicht! Bedeutsam ist die Korrelation der Verben: Kohelet „gibt“ sein Herz“, Gott „gibt“ die Pflicht. Eine Gabe Gottes kann nicht in Frage gestellt werden, obwohl sie (2,26) in ihrem Grund undurchschaubar55 und in diesem Fall nicht eben erfreulich ist. Wie mühsam das Geschäft des Forschens ist, thematisiert Kohelet noch 2,28; 3,16 – es steht in erheblichem Gegensatz zu Prv 8,19; Sir 8,29; 6,19.56 Andererseits weiß bereits Gen 2 – 3 darum, dass mit dem Erwerb grundlegender Weisheit auch ein arbeits- und schmerzensreiches Leben verbunden ist. Und mag das Ergebnis – die erworbene Weisheit – auch Anlass zu lyrischem Lob sein, die altorientalische und antike Weisheitserziehung mit ihrem immerwährenden Lernen und Üben war hart.57 1,14 gibt eine vorweggenommene Summe der Forschertätigkeit und ihr ebenfalls vorweggenommenes Ergebnis. Narrativ befindet sich Kohelet immer noch im Rückblick auf sein Leben, nimmt aber nicht den Beginn in den Blick, sondern fasst Vorgang und Ergebnis zusammen. Das „ich sah“ (ra¯B t ) gehört zu den strukturbildenden Elementen des Buches. Es erscheint an 20 Stellen (1,14; 2,13.24; 3,10.16.22; 4,4.15; 5,12.17; 6,1; 7,15; 8,9.10.17; 9,13; 10,5.7; 4,1.7; 9,11) mit wechselnden Objekten und changiert je nach Kontext zwischen „betrachten“, „beobachten“ und „wahrnehmen“.58 Hier bildet es die Umsetzung des Forschungsplans: Erforschen durch Beobachten.59 Das Objekt ist mit leichter Variation zu 1,13 formuliert, die „Werke“ weisen hier auf die Ergebnisse des Tuns. Das Ergebnis wird mit der charakteristischen Doppelformel „Alles flüchtig und Greifen nach Wind“ benannt. Sie bezieht sich sowohl auf den Erkenntnisvorgang als auch auf das erkannte Objekt. 1,15 schließt den Gedankengang mit der Zitation eines oder zweier

54 55 56 57 58

Ca¯na¯h III von derselben Wurzel wie Cinja¯n: A. Schoors, Preacher 2, 427 f.

Vgl. A. Schoors, Preacher, 2, 98. Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 197 f. Vgl. ausführlich David M. Carr, Writing, 17 – 46.63 – 110. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 63 – 65; D. Michel, Untersuchungen, 25 – 30. 35 – 39; A. Schellenberg, Erkenntnis, 180 – 183. 59 H.-J. Fabry, ThWAT IV, 437.

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Sprichwörter ab.60 Für beide lassen sich keine exakten Parallelen beibringen. V. 15a könnte eine Sentenz aus dem Handwerk sein61; V. 15b ist wahrscheinlich eine kaufmännische Maxime.62 So beendet Kohelet seine Untersuchung praktischer Weisheit mit Einsichten aus eben diesem Kontext; der Erkenntnisweg, der zur Formulierung solcher Sprichworte führt, wird geradezu lehrbuchmäßig vorgeführt: Untersuchen – Schlussfolgern – Formulieren.63 Kohelet führt somit exemplarisch seine weisheitliche Kompetenz vor Augen.64 1,16 – 18 berichten von Kohelets zweiter Lebensaufgabe, der Erkenntnis dessen, was Weisheit ist. In der Grundstruktur ähnlich dem vorigen Abschnitt, verläuft der Gedankengang doch etwas anders. 1,16 beginnt, damit dass Kohelet die Voraussetzungen seines nächsten Plans reflektiert; ausgedrückt wird dies als Selbstgespräch (wörtlich: „Ich redete bei meinem Herzen“). Kohelet schildert sich dann als außergewöhnlich „groß“ und „weise“ und darin alle Vorgänger übertreffend,65 die nicht zwangsläufig Könige sein müssen. Der historischen Logik nach bezieht es sich auf David und dessen Vorgänger als Herrscher Jerusalems, und das heißt, auf Melchisedek, den legendären Priesterkönig (Gen 14,18 – 20; Ps 110). So greift Kohelet auf diesem Weg in die Debatte um Herrschaft ein und macht Weisheit zum Legitimationskennzeichen des Königtums.66 Er unterstreicht dies durch einen zweiten Hinweis auf seine Weisheit, die er buchstäblich verinnerlicht hat („Und mein Herz hat gesehen eine Menge Weisheit“)67 und ergänzt die Weisheit noch um „Erkenntnis“. Das Nomen daCat kommt bei Kohelet nur als Parallelbegriff zu „Weisheit“ vor und dürfte daher die eher theoretische Ergänzung der praktischen Weisheit sein68. Zudem bezieht sich „Erkenntnis“ in 60 61 62 63 64 65 66

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F. J. Backhaus, Zeit, 60 f. geht von einem; C. Klein, Kohelet, 90 von einem Doppelsprichwort aus. Zu einem vergleichbaren Satz aus der ägyptischen Lehre des Ani vgl. T. Krüger, BK, 135. H. æsr n bedeutet „Fehlbetrag, Defizit“: A. Schoors, Preacher 2, 460 f. Vgl. C: Klein, Kohelet, 57 – 60; M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 488. Die Versuche V. 15 auf die pädagogische Praxis und/oder den Tod zu beziehen (L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 194), überzeugen nicht, vgl. T. Krüger, BK, 135. Cal + Objekt bezeichnet Vorsteher und Aufseher jeder Art, vgl. z. B. Salomos Beamtenliste 1Kön 4,4 – 6. Eine Änderung zu „in Jerusalem“ ist nicht erforderlich, vgl. BHQ. Dass Kohelet auf die „jebusitische Tradition des Jerusalemer Stadtkönigtums“ anspielt (L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 189), ist kaum denkbar. Wenn es eine solche je gegeben hat, dürfte sie nach mehr als 700 Jahren erheblich an Kontur verloren haben. Gen 14,18 – 20 ist ein später Text, der das Jerusalemer Hohepriestertum legitimiert; Ps 110 nimmt kritisch dazu Stellung, vgl. M. Witte, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Gen 1,1 – 11,26, Berlin/New York 1998 (BZAW 265), 330 f.; G. Granerød, Abraham and Melchizedek. Scribal Activity of Second Temple Times in Genesis 14 and Psalm 110, Berlin/New York 2010 (BZAW 410), M. Saur, Die Königspsalmen: Studien zur Entstehung und Theologie, Berlin/New York 2004 (BZAW 340), 205 – 224. Angesichts der Leitfunktion von 1Kön 3 ist die Formulierung auffällig, denn dort ist vom „hörenden“ Herzen die Rede. Kohelet will vermutlich darauf hinaus, dass er durchaus autonom mit seiner Weisheit umgeht, ohne dass er damit notwendigerweise leugnet, dass er sie Gott verdankt (So T. Krüger, BK, 136). A. Schoors, Preacher 2. 136; Ausführlich: A. Schellenberg, Erkenntnis, 13 – 24.

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Prv 10 – 29 eher auf soziale Bereiche, „Weisheit“ auf das praktische Handeln69. DaCat umfasst aber auch das Spezialwissen von Priestern (Mal 2,7), Ärzten (Sir 38,3) und Schriftgelehrten (Sir 37,22). Zumindest als Obertöne dürften diese Dimensionen des Wissens mitklingen, das Kohelet für sich beansprucht. 1,17 bietet dann die eigentliche Aufgabe, die als Plan aus V. 16 hervorgeht („Ich gab mein Herz“ im Narrativ). „Erkennen“ (ja¯daC) ist hier das Schlüsselwort, das dreimal wiederholt wird. Kohelet will Weisheit, Torheit und Irrtum „erkennen“, d. h. intellektuell durchdringen, verstehen. „Weisheit“ und alles, was dazugehört, wird also vom Untersuchungsmittel zum Untersuchungsgegenstand. „Irrtum“ (nur bei Kohelet) und „Torheit“ (überwiegend in Proverbien) sind dabei kein Mangel an Intelligenz oder ein schlichter Fehler, sondern die absichtliche Verweigerung – Dummheit und Inkompetenz. Die prominente Formulierung „Weisheit erkennen“ stammt aus Prv 1,2. Kohelet wechselt also vom Salomo des Königebuches zum Salomo der Sprüche. Prv 1,1 – 7.8 – 9 ist hier der Bezugstext. Liest man Koh 1,17 vor diesem Hintergrund, wird deutlich, dass Kohelet sich eine anspruchsvolle und mit menschlichen Mitteln kaum lösbare Aufgabe gesetzt hat: Weisheit lässt sich nicht auf den Begriff bringen, verlangt Zucht und Disziplin und enthält Rätsel70 – und wird in Gottesfurcht gipfeln, die ihr eigentlicher Anfang ist. Diese Dimension ist in Koh 1,17 nicht offen ausgesprochen, aber intertextuell als Interpretationshorizont mitgesetzt. Statt dessen bringt Kohelet Torheit und Irrtum als Untersuchungsgegenstände ein. Das zielt möglicherweise darauf, Weisheit dadurch zu erkennen, dass man sie von ihren Gegensätzen unterscheidet.71 Es läuft aber am Ende darauf hinaus, dass Kohelet Weisheit, Irrtum und Torheit neu definiert, und seinen Salomo somit zur Konkurrenz des Salomo des Proverbienbuches macht. Diesmal verweist Kohelet nicht auf die Mühe seines Unterfangens. Wer von Prv 1 liest, kennt sie ohnehin.72 Stattdessen kommt er auch hier zu dem vorweggenommenen Ergebnis, dass sein Plan ein Luftschloss gewesen war. Weisheit intellektuell „verstehen“ zu wollen, heißt, nach Wind zu greifen. An kaum einer Stelle des Buches wird die Metapher so deutlich wie hier. Wie die vorige Sequenz wird auch diese mit einer Sentenz abgeschlossen, die in 1,18 den Ertrag des Vorhabens bündelt. Sie dient hier sogar zur Begründung der „Wind“-Aussage. Auch hier handelt es sich vermutlich um ein oder zwei Sprüche aus umlaufender Überlieferung. Sie thematisieren auf ihre Weise das „mühsame Geschäft“ (Vgl. 1,13) des Weisheitserwerbs. Eine Kritik an der traditionellen Weisheit muss damit nicht zwangsläufig verbunden sein.73 69 70 71 72 73

G.J. Botterweck, ThWAT III (1982), 496. Zur Analyse von Prv 1,1 – 7, vgl. M. Sæbø, Sprüche, 39 – 46; H. Spieckermann, Bildung, 42 – 44. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 197. Vgl. pointiert H. Spieckermann, Bildung, 42 – 44. Vgl. D. Michel, Untersuchungen, 14; C. Klein, Kohelet, 90 f. Anders T. Krüger, BK, 136; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 197 – 199.

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2,1 – 3 leiten zum Lebensexperiment des Königs Kohelet über, in dem er in charakteristischer Weise sein eigenes Leben mit einer theoretischen Frage verbindet. Es handelt sich nicht mehr um eine Lebensaufgabe, sondern um ein zusätzliches Projekt. Kohelet will das Gute und die Freude untersuchen. Auch dies erweist sich als fragwürdig. Wie 1,16 beginnt 2,1 mit einem Selbstgespräch („ich sprach in meinem Herzen“), das aber anders als zuvor das fertige Vorhaben formuliert: eine Untersuchung der Freude und des Guten. Es ist charakteristisch für Kohelet, dass er auch die Freude zu einem mehr oder weniger intellektuellen Unterfangen macht. Na¯sa¯h bedeutet „ausprobieren, überprüfen“. Gemeint ist das Experiment, mit dem eine zuvor gemachte Annahme bzw. eine Meinung überprüft werden soll. In der Salomo-Überlieferung ist es die Königin von Saba, die kommt, um Salomos Weisheit zu überprüfen (1Kön 10,1; 2Chr 2,9).74 Kohelet unternimmt es, die „Freude“ (s´imh. a¯h) und das „Gute“ (t. b) zu überprüfen. In seiner zeitgenössischen Literatur ist vor allem die Freude theologisch hochsignifikant. Schon das Deuteronomium entwickelt eine „Festtheorie“ als Anweisung zur Freude über das Gute, das JHWH gibt (Dtn 26,11),75 die Psalmen beschwören die Freude über die Rettung und an JHWHs Herrlichkeit, Jes 35; 55 die Freude des endzeitlichen Heils.76 Die Chronik und Esra-Nehemia blicken auf die Geschichte Israels als eine Abfolge freudiger Ereignisse.77 Zudem ist gemäß 1Kön 4,20 Salomos Regierungszeit für Israel und Juda eine Zeit der Freude gewesen, und das Sprüchebuch zieht Freude aus der Weisheit.78 Die griechische Philosophie diskutiert auf breiter Front das Glück.79 Vor diesem vergleichsweisen Überangebot an Freude mit je ihren spezifischen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass Kohelet sie – unter unspezifischen Vorzeichen80 – selbst untersuchen will. Die Funktion des Sentenzen-Abschlusses übernimmt in 2,2 das Selbstzitat. Im Sinne von Kohelets Forschungsprogramms muss sich erst noch zeigen, wozu Freude gut ist, und ob Lachen nicht Irrtum81 sei. Die Frage ist hier durchaus nicht rhetorisch gemeint.82 2,3 – 10 bilden nach diesen drei Vorreden das eigentliche Experiment Kohelets: Was ist gut für den Menschen? Kohelet erprobt dies an seinem eigenen Leben und zwar als gleichzeitigen Versuch mit Weisheit, Torheit und 74 Die wohl prominentere Belegstelle ist Gen 22,1, nur dass dort nicht die Annahme genannt wird, die von Gott überprüft wird. 75 Vgl. G. Braulik, Die Freude des Festes – die älteste biblische Festtheorie, in: Ders., Studien zum Deuteronomium, Stuttgart 1988 (SBAB 2), 161 – 218. 76 G. Vanoni, ThWAT VII (1993), 818 f. 77 Ders., A. A.O., 819; D. Michel, RAC (1972), 375 f. 78 G. Vanoni, ThWAT VII, 815. 79 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 70 – 72. 80 Dies problematisiert A. Reinert, Salomofiktion, 82 f.; seine Wiedergabe „positive Grundhaltung“ ist aber wohl zu blass. 81 Nach R. Bartelmus, ThWAT VII (1993), 744 sogar „Albernheit“. 82 So aber T. Krüger, BK, 137.

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Gutem. Der Abschnitt ist dreiteilig: 2,3 bildet die Einleitung; 2,4 – 9 die Durchführung (Rahmung Vv. 4 – 9) und 2,10 das Resultat.83 2,3 formuliert das Vorhaben in einem komplizierten Satz. Kohelet beschreibt mit größtmöglicher Präzision einen Versuchsaufbau. Den programmatischen Auftakt bildet „Ich erforschte in meinem Herzen“. Damit steht Kohelets Experiment im Horizont von 1,13. Das Untersuchungsziel steht am Schluss: Kohelet will feststellen, ob die Menschen Gutes tun bzw. will das Gute dadurch feststellen, dass er das Tun der Menschen betrachtet. Dies tut er aber im Horizont seines eigenen Lebens, nämlich während er sich Luxus gönnt und Torheiten erprobt und dabei gleichzeitig weise bleibt. „Schwelgen in Wein“ ist überaus drastisch formuliert, wörtlich „mein Fleisch durch Wein ziehen“. Es entspricht in etwa der modernen Redewendung „in Champagner baden“. Dabei versucht Kohelet gleichzeitig, sich selbst zu beobachten, insofern seine Weisheit die Führungsrolle behält. Das Experiment ist also nicht die pure Lust am Luxus, sondern hat ein allgemeingültiges Ziel.84 Das Ziel „was gut ist für die Menschen“ klingt an Mi 6,8 an, doch es geht nicht um eine Anleitung zum Handeln, sondern um die Feststellung des Guten.85 Wahrscheinlich macht der Text eine Anleihe bei 1Kön 3,9, wo Salomo um die Gabe bittet, Gutes und Schlechtes unterscheiden zu können. Die Verbindung von persönlichem Leben und allgemeinem Ziel erinnert aber auch an griechisches Denken.86 In 2,4 – 9 schildert Kohelet seine „großen Taten“ (V. 4): Es sind genau zehn87 und sie umfassen Bautätigkeiten (Vv. 4 – 6), Besitz (V. 7) und Reichtum (V. 7). Der Text greift die Vorgaben von 1Kön 4,20 – 5,3.6 – 9; 7,1 – 12; 10 auf, setzt sie aber anders um. Kohelets Pracht kommt nicht Israel zugute; Pferde und Handel erwähnt Koh 2 überhaupt nicht. In 1Kön geht es darum, dass Israels Wohlstand zu Salomos Zeit durch Salomos Weisheit bedingt ist und diesem auch zugutekommt (vgl. vor allem 1Kön 4,20 – 5,9). Dieser Zirkel fehlt in Koh 2,4 – 9, vielmehr imaginiert der Text, was der König mit seinen Gütern „für sich“ anfängt.88 Dies dient aber nicht nur einer individuellen Glückssuche oder der „Travestie nach oben“, sondern entwirft ein bestimmtes Bild von Herrschaft, ihren Möglichkeiten und ihren Aufgaben: Es sind König und Palast, nicht Tempel und Priester, die in Israel paradiesische Zustände 83 Vgl. zur Gliederung auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 206, allerdings mit Ende in 2,11. 84 Vgl. R.E. Murphy, WBC, 18; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 209; A. Reinert, Salomofiktion, 86. 85 Anders T. Krüger, BK, 138. 86 A. A. Fischer, Skepsis, 208 – 210 hat die Parallele der Erkenntniswege Kohelets zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles in die Forschung eingebracht, vgl. ausführlich L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 70 – 72. In der Tat erinnert Koh 2,3 an EN 1095a 19 – 20 (A. A. Fischer, Skepsis, 209), aber auch an EM I 3 1148b. R. Braun, Kohelet, 78 verweist auf die Sentenzen des Menander. 87 Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 206 f. 88 Ders., A. A.O., 210.

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schaffen. Die Frage ist aber, ob die materiellen Güter allein ausreichen. Bei der Schilderung seiner Herrschaft lässt sich Kohelet auch von den zeitgenössischen Königen inspirieren. 2,4 beginnt mit der Einleitung „Ich vollbrachte meine großen Taten“ und fährt dann vergleichsweise anspruchslos fort. Häuser und Weingärten sind die Minimalbedingungen für einen bescheidenen Wohlstand. Es ist jedoch auch die prächtige Ausstattung des salomonischen Hauses (1Kön 7,1 – 12) mitzuhören sowie die Erinnerung, dass zu Salomos Zeiten „jeder unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum saß (1Kön 5,5).89 2,5 – 6 verlässt die Vorgabe von 1Kön und berichtet von der Anlage von Gärten, Parks und Wasserteichen. Von königlichen Gärten berichten 2Kön 9,27; 21,18; Jer 39,4; 52,7; Neh 3,15 f., sie werden also erst in nach-salomonischer Zeit verortet. Der Garten (gan) ist das eingezäunte Stück Land, das sowohl der Nutzung als auch der Erholung dient.90 Der Garten kann metaphorisch für ein zufriedenes Leben gebraucht werden (Jes 58,11), aber auch als Zeichen des Heils stehen (Jes 32,15 – 18; Am 9,13 f.). Es ist daher kein Zufall, dass der Garten mit Gott in Verbindung gebracht wird (Jes 61,11) und die Welt in einem Garten ihren Anfang nimmt (Gen 2 – 3). Der königliche Garten – die Tradition geht weit zurück – bildet die königliche Aufgabe ab, die Welt zu kultivieren und zu ordnen. Auch Tempelgärten sind symbolische Anlagen der idealen Welt (Ps 52,10; 93,13 – 16).91 Die Steigerung des Gartens ist der Park. Kohelet verwendet das persische Lehnwort pardes (nur noch Hld 4,13; Neh 2,8), von dem sowohl unser Wort „Park“ als auch das griechische „Paradies“ abgeleitet ist. Für diese Anlagen mit Bäumen, Tieren, Wasseranlagen und Jagdmöglichkeiten waren vor allem die Perserkönige berühmt (obwohl sie auf assyrische Vorbilder zurückgehen)92. Für die hellenistische Zeit berichtet Josephus von der Parkanlage der Tobiadenfamilie im heutigen CAra¯q el-emir.93 Der Park ist das verkleinerte Abbild der Welt, in dem sich der König als derjenige zeigt, der in Gottes Auftrag die Welt pflegt und beherrscht – noch die Königsgärten Europas leben von dieser Symbolik. Kohelet zieht den Zusammenhang von König und Schöpfung noch weiter aus, wenn er in seinen Parks „Fruchtbäume jeglicher Art“ (V. 5, vgl. Gen 1,11 – 12.29) und „Bäume“ (Gen 2,9.16) anpflanzt, sowie eine Anlage, um den Wald zu bewässern (V. 6, vgl. Gen 2,5.6.10).94 Sehr wahrscheinlich hat Kohelet neben den intertextuellen Bezügen die konkreten Plantagen (Paradeisoi) in En-Gedi und Jericho vor Augen, die bereits die persischen Herrscher zur Balsamgewinnung anlegten; die PaVgl. ähnlich auch 2Kön 18,31 f.; Mi 4,4; Sach 3,10. S. dazu P. Riede, Art. Garten: www.wibilex.de. Vgl. Ebd. Vgl. dazu P. Briant, From Cyrus to Alexander. A History of the Persian Empire, Winona Lake 2002, 200 – 208. 93 JosAnt 12, 4,5 vgl. dazu T. Krüger, BK, 139. 94 Zu den einzelnen Bezügen zwischen Gen 1 – 2 und Koh 2 s. A. Verheij, Paradise Retried: On Qohelet 2,4 – 6: JSOT 50 (1991), 113 – 115.

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radies-artig gestalteten griechischen Krongüter in Palästina waren landwirtschaftliche Versuchsanlagen – auch darauf bezieht sich Kohelet wohl.95 Die Nachahmung der Schöpfung durch den König hat nichts mit Hybris zu tun,96 sondern spiegelt die Frage, wer Schöpfung und Ordnung der Welt angemessen sinnfällig macht: der König oder der Tempel. Die späten Stadien der Urgeschichte, auf die der Abschnitt mit den Bewässerungsanlagen (V. 5 vgl. Gen 2,10 – 14) anspielt, pflegen „die Vorstellung vom Heil in der Gestalt des Tempels als gegenwärtig erfahrbarem Ersatz für das verlorene Paradies“97; der Tempel hat in Melchisedek seinen Gründer. Kohelet greift auf die königliche Tradition vom Hüter der Welt zurück und hat mit der Erinnerung an Israels „Goldenes Zeitalter“ ein historisches Argument auf seiner Seite. 2,7 behandelt den Besitz als Teil der königlichen Güter ; dabei werden Sklaven, Mägde und Vieh in dieselbe Kategorie eingeordnet. Das Verb qa¯na¯h bedeutet „käuflich erwerben“, davon abgeleitet ist Miqnæh, der Besitz. Woher die Sklaven und Sklavinnen kommen, wird nicht gesagt. Vorauszusetzen ist aber, dass Kohelet sich an die Vorgabe von 2Chr 8,9 hielt, wonach Salomo nur ausländische Sklaven hatte, deren Besitz gemäß Lev 25,44 – 46 erlaubt ist. Königssklaven sind nach 1Kön 16,9; 2Kön 9,5.11; 25,8 mehr Amtsträger als Unfreie; überhaupt sind „Sklaven“ am königlichen Hof Angehörige des königlichen Hauses mit entsprechender Wertschätzung.98 Ob dies auch für die Sklavin gilt, wissen wir nicht. Wahrscheinlich zählten dazu auch die königlichen Konkubinen. Immerhin – und darauf liegt der Fokus – hat Kohelet sie erworben und nicht selbst versklavt.99 In diesen Zusammenhang gehören auch die Hausgeborenen. Es handelt sich um Sklaven der zweiten Generation, d. h. im Haushalt des Herrn geborene Kinder von Sklaven. Da sie das Gesinde vergrößern, muss der Herr weniger erwerben. Die Erwähnung der großen Viehherde bezieht sich auf 1Kön 5,3: Salomo verfügt über eigenen Besitz, den er verzehrt, er beutet nicht etwa seine Landsleute aus. Dies könnte sich direkt gegen die die Herrschaft beanspruchenden Priester richten, denen mit dem Zehnten ein Teil des Besitzes ihrer Landsleute zustand. Auch diese Praxis wird mit der Melchisedek-Tradition begründet.100 Der Vers schließt erneut mit einer Unvergleichlichkeitsaussage. In 2,8 geht es um Reichtum. Dabei bündelt die Formulierung sämtliche Quellen des märchenhaften Reichtums Salomos: Tribut (1Kön 5,1), Geschenke und Handel (1Kön 10). Wie in 1Kön; 2Chr wird nicht von Kriegs95 96 97 98 99

Vgl. dazu M. Hengel, Judentum, 85 – 91. So aber L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 211. M. Witte, Urgeschichte, 331. Vgl. U. Rüterswörden, ThWAT VI (1986), 998. Das mag aus moderner Perspektive keinen großen Unterschied machen, vgl. das (zu Recht) strenge Urteil von T. Krüger, BK, 139. Unter antikem/alttestamentlichem Horizont ist das Versklaven freier Personen jedoch wesentlich problematischer als der Verkauf bereits Unfreier, s. dazu M. Hengel, Judentum, 41 f. 100 Gen 14,20, vgl. dazu G. Granerød, Abraham, 230 ff.

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zügen berichtet. Die „Provinzen“ (med n t) verwenden den perserzeitlichen Begriff für den Verwaltungsbezirk innerhalb des Großreichs, eine zeitgemäße Wiedergabe des salomonischen Großreichs. Auch der „Schatz“ (segulla¯h) hat die Konnotation von Vasallität und Tribut bei sich.101 Die Formulierung beansprucht aber auch den „Staatsschatz“ für den König, den nach 1Chr 29,3.6 – 8 David und seine Würdenträger dem Tempel übergeben. Die „Sängerinnen und Sänger“ sind aus 1Kön 10,12 entlehnt. Sie gehören zu einer glanzvollen Herrschaft und stellen erneut den König dem Tempel gleich. Das letzte Objekt ist bis heute schwer deutbar. TaCan g bezeichnet allerlei sinnliche Freuden von Entzücken bis Wollust (mit Bezug auf Gott: Ps 37,4; Jes 58,14)102 und steht hier im Intensitätsplural.103 Eine Präzisierung muss von ˇsidda¯h weˇsidd t her erfolgen. In der Regel wird unter Verweis auf Salomos legendären Harem (1Kön 11,1.3) „Brüste über Brüste“ übersetzt. „Brust“ heißt allerdings ˇsad bzw. ˇsod, außerdem ist von der Wonne der Menschen die Rede, nicht der Männer. Aramäisch ˇsa¯daB bedeutet „ausgießen“, daher ist die Septuaginta-Übersetzung „Tischbedienstete“ wohl keine Entschärfung,104 sondern korrekt.105 2,9 summiert Kohelets Königtum mit einer Variation der Unvergleichlichkeitsaussage und damit, dass ihn bei allem Luxus seine Weisheit nicht verlassen hat.106 2,10 zieht die Bilanz: Kohelet hat sich jeden Wunsch erfüllt und jede Annehmlichkeit gegönnt. Das Experiment kommt in seinem „Herzen“ an; hier hat das Herz auch einen emotionalen Aspekt. Kohelet greift auf 2,2 zurück und stellt fest, dass die Freude durchaus etwas bewirkt, nämlich ein frohes Herz und zwar trotz der Mühe, die aufgewendet werden muss. In gewisser Weise ist das frohe Herz somit der Lohn aller Mühe. Gleichwohl macht Kohelet deutlich, dass es nicht zu verdienen ist. Er verwendet den Begriff h. e¯læq, „Zuteilung“. Es bezeichnet das, was einem zwar zusteht, aber trotzdem zufällt, das „Los“. Es wird überwiegend in Kontexten von Grund und Boden verwendet: Die Stammesgebiete werden per Los verteilt (Jos 14,4; 15,13), die Priester bekommen ihr Los an den Opfergaben (Lev 6,10); ihre Diensteinteilung erfolgt ebenfalls per Los (1Chr 24 – 26). Hinter diesen Texten steht die Vorstellung, dass der eigentliche Eigentümer den Besitz gerecht und voraussetzungslos verteilt. Vom Schicksal ist das Los dadurch unterschieden, dass man es aus eigener Initiative ergreifen kann (vgl. auch Ps 50,18; Jes 57,6) und eben ein E. Lipin´ski, ThWAT V (1986), 751. Vgl. T. Kronholm, ThWAT VI (1989), 230 – 233. Ungewöhnlicherweise in der Femininform, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 421. So aber T. Krüger, BK, 127. Vgl. auch E. Bons, ˇsidda¯h weˇsidd t: Überlegungen zum Verständnis eines Hapaxlegomenon: BN 36 (1987), 12 – 16; A. Schoors, Preacher 2, 452 – 454. Zum Personal am persischen Hof s. P. Briant, Cyrus, 292 – 294. 106 Schon deshalb sollte man damit vorsichtig sein, Kohelet ein Leben in „Saus und Braus“ zu unterstellen, z. B. T. Kronholm, ThWAT VI, 233.

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gewisses Anrecht darauf hat.107 In Koh 2,10 ist es eindeutig die Mühe, die Kohelets Los legitimiert. Kohelet stellt somit fest, dass ein frohes oder mindestens zufriedenes Herz sein Los ist. Damit ist das Experiment teilweise gelungen. Weise erwirtschaftete Güter bewirken Zufriedenheit bei und in aller Mühe. 2,11 macht jedoch deutlich, dass dies nur ein Zwischenergebnis ist. Kohelet „wendet“ sich (pa¯na¯h), das heißt, dass er seinen Werken den Rücken zuwendet. Das bedeutet nicht, dass hier das Ende der Königs- bzw. Salomofiktion erreicht ist.108 Es handelt sich vielmehr um einen Wechsel der Perspektive. Im Hebräischen hat man die Vergangenheit vor Augen109 und die Zukunft im Rücken110. Wenn Kohelet seinen Werken (vgl. auch 2,4) den Rücken zuwendet, macht er sich die Perspektive der Nachwelt zu eigen und blickt mit deren Augen auf das, was er erreicht hat. Hier gilt nicht nur die „Flüchtig“ Aussage, sondern mehr : Es gibt überhaupt nichts, was als bleibender Ertrag „Salomos“ gelten kann. Vor dem historischen Urteil ist das völlig richtig, denn vom Königtum in Israel ist nichts geblieben. Die Herrscherfunktionen sind auf den Großkönig und den Hohepriester übergangen, der Tempel ist zerstört und durch den Zweiten Tempel ersetzt worden. Hier ist ein relativer Einschnitt erreicht und es stellt sich die Frage, ob es außer dem persönlichen Los und den vergänglichen Werken etwas gibt, das Kohelet-Salomo so auszeichnet, dass es als dauerhaft gelten kann. 2,12 – 26 bildet den zweiten Teil des Textes. Kohelet reflektiert sein Leben unter dem Horizont der Ausgangsfragen nach Weisheit und Erkenntnis.111 Der Bezugspunkt ist der königliche Nachfolger (Vv. 12.13.19): Wird das salomonische Herrschercharisma der Weisheit auf dynastischem Weg vererbt? Hier hat der „historische“ Salomo eine schwere Hypothek, denn sein Sohn und Nachfolger Rehabeam erwies sich seines Vaters unwürdig (1Kön 12,1 – 20),112 wie Sir 47,23 mit einiger Häme feststellt. Überhaupt erreichte ja kein Nachfolger mehr das, was Salomo erreichte, sondern Salomos Herrschaft blieb Episode. Das bedeutet aber auch, dass Salomos Weisheit, die das Sprüchebuch dokumentiert, nicht vollständig ist: Was man von Salomo lernen kann, muss ergänzt werden. In diese Leerstelle stößt Kohelet 2,12 – 26 mit der Frage nach dem Tod. Dabei wird der Text zunehmend grundsätzlich. Das bedeutet aber nicht, dass Kohelet von der Salomofiktion Abschied zu nehmen beginnt. Vielmehr bleibt der Text weiterhin im Modus der autobiographischen Erzählung: „ich wandte mich“ (2,12) – „und ich sah“ (2,13) – „und ich erkannte“ 107 108 109 110 111 112

Vgl. M. Tsevat, ThWAT II (1977), 1015 – 1020. So D. Michel, Untersuchungen, 22 – 24; F. J. Backhaus, Nichts Besseres, 186 – 205. Deswegen verweist Kohelet in 2,7.9 mit dem räumlichen lipne¯, „vor“ auf seine Vorgänger. Dazu klassisch: H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 135. Vgl. grundlegend A. A. Fischer, Skepsis, 203 – 205. Vgl. dazu M. Köhlmoos, „Eine Generation vergeht, die andere kommt“ (Koh 1,4), in: C. Burbach/F. Heckmann (Hg.), Generationenfragen. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2007, 23 – 38.

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(2,14) – „und ich dachte“ (2,15) – „und ich hasste“ (2,16.17) – „und ich begab mich meiner Täuschung“ (2,20) – „auch dies sah ich“ (2,21). Auch die grundsätzlichen Einsichten zum Menschsein gewinnt Kohelet also in seiner Rolle als König. In 2,12 wendet sich Kohelet wieder zurück (pa¯na¯h) und betrachtet113 sein Lebenswerk auf dessen theoretischen Ertrag (vgl. 1,16 – 18) hin. Folgerichtig wird der Nachfolger als Bezugspunkt genannt. Kohelet blickt aus dessen Perspektive auf sein Leben, formuliert aber ganz grundsätzlich. Die Frage „was ist der Mensch, der nach dem König kommt?“ ist durchaus nicht rhetorisch.114 Sie spielt aber auf das intertextuelle Wissen des Publikums an. Im Rahmen der Salomofiktion ist Rehabeam der „Mensch, der nach dem König kommt“. Mit Sir 47,23 lautet die Antwort auf die Frage daher : „reich an Torheit, arm an Einsicht“. Doch auch ohne konkreten Bezug auf Rehabeam ist der Generationenwechsel in der alttestamentlichen Geschichte immer problematisch. Bis auf wenige Ausnahmen (Mose/Josua; David/Salomo) folgt auf eine große Führerfigur eine Nachfolgegeneration, die die Vergangenheit komplett vergisst und somit Schaden anrichtet. Die Lösung besteht in Traditionsweitergabe, die im Falle Salomos in Weisheit liegt (vgl. auch Prv 1 – 9).115 Auf diese zielen die folgenden Reflexionen. 2,13 formuliert eine Beobachtung Kohelets.116 Dem schließt sich eine Doppelsentenz an, die den Vorrang der Weisheit vor der Torheit aussagt. Das ist weder ein Widerspruch zu 2,11 noch gar zu 1,3. 2,11 stellt fest, dass Kohelets eigene Werke keinen Bestand haben. Hier wird jedoch gesagt, dass Weisheit verglichen mit Torheit einen relativen Ertrag hat, was Kohelet in 2,3 – 10 ja auch bewiesen hat.117 Einen Widerspruch zu 1,3 gibt es nur dann, wenn man voraussetzt, dass die dortige Frage eine negative Antwort voraussetzt.118 2,14 belegt die These mit einer geradezu klassichen weisheitlichen Maxime.119 Sie hat keine exakte inhaltliche Parallele im Alten Testament, es kann aber als gewissermaßen kanonisch gelten, dass Weisheit Orientierung verschafft, Torheit aber in die Irre führt.120 Es ist dabei bedeutsam, dass Kohelet 113 Ra¯Ba¯h hier „Untersuchen“: A. Schoors, Preacher 2, 64; F. J. Backhaus, Zeit, 100. 114 A. A. Fischer, Skepsis, 203 f. versteht die Frage im Sinne eines Rangunterschieds zwischen König und „Bürgerlichem“ und liest sie außerdem auf dem Hintergrund von Ps 8,5; Hi 7,17 als Frage nach der Gott-Mensch-Relation. Das erstere ist im Kontext des Buches unwahrscheinlich, Ba¯h. ar ist immer ein zeitliches „danach“. „Was ist der Mensch…“ wird in Ps 8; Hi 7 mit einer Anrede an Gott fortgesetzt und ist deswegen eine Frage theologischer Anthropologie. Vgl. zur Kritik auch F. J. Backhaus, Zeit, 101. 115 Zum Problem auch M. Köhlmoos, Generation, 31 – 34. C. Körting, Amtsübergabe von einer Generation auf die nächste, in: C. Burbach/F. Heckmann (Hg.), Generationenfragen. Theologische Perspektiven zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2007, 39 – 50. 116 Diskussion bei A. Schoors, Preacher 2, 63 f. 117 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 207; T. Krüger, BK, 143. 118 S. den Kommentar zu 1,2 – 11. 119 Vgl. dazu C. Klein, Kohelet, 66. 120 Die von F. J. Backhaus, Zeit, 62 beigebrachten Beispiele setzen einen anderen Schwerpunkt. Für

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seine theoretische Frage nach der Weisheit jetzt auf den personalen Gegensatz Weiser/Tor zuspitzt. Zum einen ist diese Typisierung in der Spruchweisheit üblich.121 Zum anderen leitet sie über zu Kohelets wesentlicher Erkenntnis, die sich direkt anschließt. Es folgt Kohelets erste sachliche Einsicht: In der Untersuchung der Weisheit und des Weisen wird ihm klar („ich erkannte“), dass der Weise und der Tor dasselbe Geschick teilen. Der ganze Satz ist mit einiger Sorgfalt formuliert und kann als einer der Spitzensätze Kohelets gelten. Er ist rhythmisch gestaltet (weja¯daCt gam-Ba¯n ˇsæmmiqræh Bæh. ad jiqræh Bæt-kulla¯m) und lässt den Erkenntnisprozess schrittweise nachvollziehen: Und ich erkannte – auch ich – dass ein Geschick – eines – trifft – sie alle.122 Die Hauptaussage „ein Geschick trifft“ ist als figura etymologica gestaltet, das betonende „eins“ tritt zwischen Subjekt und Verb. Das Verb qa¯ra¯h, „fallen“, und das abgeleitete Substantiv miqræh, „Zufall“, bezeichnet das, was von selbst geschieht123 und einem daher „zufällt“. Es hat einen gewissen Bezug zum „Los“ (h. e¯læq, V. 10), insofern man beide nicht aktiv bekommt. Auf das Los hat man aber ein gewisses Anrecht, während das Geschick blind ist. Göttliches Zutun ist dabei nicht ausgeschlossen, und manchmal stellt sich auch heraus, dass der Zufall in Wirklichkeit eine Fügung war (vgl. 1Sam 6,9; 20,26; Ru 2,3). Bei Kohelet wird er zum unentrinnbaren Schicksal. Dies ergibt sich jedoch nicht sofort, wie denn auch der Inhalt dieses Geschicks erst schrittweise entfaltet wird. 2,15 wendet die (noch namenlose) Erkenntnis auf sich selbst an: Kohelet wird dasselbe Geschick erleiden wie der Tor – das lässt ihn fragen, wozu ihm seine unvergleichliche Weisheit denn gedient haben soll. 2,16 erst bringt die schmerzliche Erkenntnis, die Kohelet als Klageruf formuliert. Es ist signifikant, dass Kohelet diese Einsicht nicht auf sich selbst appliziert, indem er sagt „auch ich muss sterben“. Die schrittweise Einführung des Themas „Tod“ hat – wie schon der Aufbau zeigt – ein didaktisches Ziel. Erreicht werden soll die Einsicht, dass alle sterben. Im betonten Gegensatz zu Prv 15,24 gibt es für niemanden einen Ausweg aus dem Tod. Damit weist Kohelet kein Defizit des Sprüchebuchs auf,124 wohl aber eine Leerstelle. Im Sprüchebuch wird dem Toren vor Augen gestellt, dass er sterben muss, damit er die grundsätzliche Verfehlung seines Lebens erkennt. Dem Weisen hingegen wird zugetraut, dass er im Gelingen seines Lebens auch mit dem Tod fertigzuwerden versteht. Kohelet macht aber deutlich, dass der ebenso unausweichliche wie zufällige Tod zur Unterscheidung von Weisem und Tor so nicht

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Koh 2,13 vgl. Prv 4,18 f.; 14,8; 10,9; 12,12.15; 14,15; 15,19; 17,24; 22,3; 27,12. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass in Prv kaum einmal der Gegensatz Licht/Finsternis bemüht wird. Lediglich Prv 4 macht davon Gebrauch. S. M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 488 f. Nach C. Klein, Kohelet, 84, handelt es sich um eine für Kohelet typische „Wortpyramide“. A. Schoors, Preacher 2, 203. So L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 227.

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taugt.125 Nicht zufällig ist im Alten Testament das Gebet der Ort der Todesreflexion (Ps 49; 37; 73), und Koh 2,16 rekurriert auf Ps 90,10 – 12. Auch dort ist das Leben „Mühsal“ (Ca¯mal, Ps 90,10), und Ps 90,12 bittet: „Zu zählen unsere Tage lass uns erkennen, dass wir einbringen ein weises Herz“. Es geht um den weisen Umgang mit begrenzter Lebenszeit – und Kohelet, der Inhaber des „weisen Herzens“ macht sich diese Einsicht zu eigen.126 Das macht sie nicht weniger schmerzlich. Es deutet sich aber an, dass eine neue Perspektive auf Gott, Tod und Leben das Todesgeschick handhabbar macht. In 2,15b–16 hat sich der Bearbeiter Z eingeschrieben. Er ist erkennbar an dem für ihn typischen Begriff zikr n und dem Gedanken, dass menschliches Handeln keine Erinnerungsspur hinterlässt. 16a unterbricht die Dramaturgie der Verse, trägt aber sachlich stimmig eine zusätzliche schmerzliche Erkenntnis ein. Sie folgt – wie in 1,3 – 11 – auf die Frage nach dem Gewinn.

Aus der Erkenntnis folgt die persönliche Reaktion Kohelets mit dem doppelten „Ich hasste“ von 2,17 – 18. Psychologisch äußerst stimmig verallgemeinert er seine Einsicht dahingehend, dass er zunächst alles Tun für schlecht und wertlos erklärt. Es ist ironischerweise eine vorläufige Antwort auf den Versuchsaufbau von 2,3 und steht zumindest teilweise in Spannung zu 2,11. 2,18 verfährt in diesem Duktus weiter und überträgt den Hass auf alles, was sich Kohelet erarbeitet hat. „Hassen“ (sa¯ne¯B) ist auch im Hebräischen ein äußerst starkes Gefühl. Es kann mit physischem Ekel verbunden sein (Am 5,21 von Gott). Es impliziert daher immer „eine Distanzierung vom Gehassten“127, so dass Kohelet erneut zu sich „auf Abstand geht“. Folgerichtig setzt er sich auch wieder in Beziehung zu seinem Nachfolger. „Überlassen“ (he¯n ah. ) ist kein erbrechtlicher Terminus, sondern bedeutet einfach „Zurücklassen“ (Gen 42,33; 2Sam 16,21; 20,3; 1Kön 19,3;, in Hos 4,17 auch „lass fahren dahin!“).128 2,19 formuliert wieder grundsätzlicher. „Wer weiß“ (m j de¯aC) verwendet das Verb für Erkennen gezielt. Es ist auch keine „rhetorische“ Frage. Vielmehr kommt hier der Bogen von V. 14 zum Abschluss: Niemand weiß, ob der Nachfolger ein Weiser oder ein Tor sein wird. Sie teilen indes dasselbe Schicksal, nämlich den Tod. Damit sachgemäß umzugehen ist aber nicht lehrbar, sondern eine Gabe Gottes, die erbeten werden muss, und das hat Kohelet nicht in der Hand. Im Zusammenhang mit Herrschaft ergibt sich dann ein Problem; ˇsa¯lat. bezeichnet die Verfügungsgewalt eines Menschen über Besitz und andere Menschen „inklusive der Möglichkeit, ihm zu schaden“.129 Gen 42,6 zeichnet dieselbe Entscheidungssituation. Sonst hat ˇsa¯lat. 125 Vgl. M. Köhlmoos, TRE 35, 492; T. Zimmer, Tod, 218. 126 Zu Ps 90 vgl. M. Köckert, Zeit und Ewigkeit in Ps 90, in: R.G.Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsgeschichtliche, theologische und philosophische Perspektiven, Berlin/New York 2009 (BZAW 390), 155 – 186. 127 E. Lipin´ski, ThWAT VII (1993), 829. 128 H.D. Preuß, ThWAT V (1986), 302 f. 129 M. Sæbø, ThWAT VII (1993), 81.

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sowohl bei Kohelet (8,9; 10,15) als auch außerhalb (Ps 119,123; Neh 5,15; Est 9,1) die Konnotation von Tyrannei.130 D.h. die Möglichkeit steht im Raum, dass Kohelets Nachfolger sein Erbe (einschließlich seiner Untertanen) in tyrannischer Weise missbraucht. Es sind dabei nicht nur die persönlichen Güter, sondern auch die politischen und sozialen Errungenschaften, um die KoheletSalomo sich bemüht hat und weise geworden ist. Auch an dieser Stelle muss man die alttestamentliche Tradition mithören, denn in der „deuteronomistischen“ Perspektive auf die Geschichte der Königszeit hat ja (spätestens) die Generation nach Salomo alles verspielt, was dieser erreicht hatte. Kohelet wird aber nicht das Argument des Götzendienstes verwenden, sondern weiterhin die weisheitliche Erkenntnis zum Maßstab der guten Herrschaft machen. Es ist dies indes weder ein historisches Exempel noch eine akademische Übung. Sˇa¯lat. ist der zeitgenössische Begriff für Herrschaft aller Art, vielfach belegt in Inschriften131 und im Buch Kohelet selbst.132 Kohelet greift also in eine aktuelle Debatte ein und macht deutlich, dass Herrschaft immer in der Gefahr steht, zu scheitern. Hier muss man bei der „Flüchtig“-Formel auch „frustrierend“ mithören. In 2,20 findet der endgültige Perspektivwechsel statt. Kohelet „wendet sich“ im Sinne einer Richtungsänderung gegenüber dem Vorigen, aber jetzt hinsichtlich der Verzweiflung bzw. Täuschung seines Herzens. Der Satz ist schwierig.133 Ja¯Basˇ bedeutet „aufgeben“.134 Paradoxerweise gibt Kohelet aber gerade nicht auf, sondern schlägt bezüglich seines Herzens einen neuen Weg ein. Umgangssprachlich müsste man übersetzen „Ich riss mich zusammen“. Es ist daher ein komplett neues Vorhaben seines Herzens zu erwarten.135 Hinsichtlich der persönlichen Mühen (2,21) gilt weiterhin, dass man sie jemandem hinterlassen muss, der sie nicht selbst verdient hat. Dass Kohelet hier vom Los spricht, verweist zurück auf 2,10. Sein frohes Herz war sein Los – muss er dies auch weitergeben? Das Verb na¯tan, „geben“, deutet die Problematik an. Es wurde bislang nur von Gott verwendet, und dessen Gabe ist mit Arbeit verbunden. So ist nicht verwunderlich, dass hier wieder vom „großen Übel“ die Rede ist. Damit ist gewissermaßen die erste Antwort auf die Frage, was gut ist für die 130 131 132 133 134 135

Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 244. Ebd. Vgl. N. Lohfink, Melek, 78 – 82. A. Schoors, Preacher 2, 387: „somewhat complicated“. 1Sam 27,1; Hi 6,26. Das Part. Nif. Jes 57,10; Jer 2,25; 18,12 sagt aus: „Was soll’s“. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 386; F. J. Backhaus, Zeit, 236, zu 7,25. Auf Koh 2 wendet Backhaus die Einsicht nicht an, dass hier „ein neues Vorhaben beginnt“. Die Interpretation, dass Salomo hier verzweifelt, wird einhellig von den Kommentaren vertreten. Sie ist philologisch möglich und psychologisch stimmig (vgl. z. B. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 231). Indes wird dadurch nicht erklärt, warum Kohelet dann mit seinen Reflexionen fortfährt. Aus diesem Grund wird 2,20 häufig als Abschluss der Königsfiktion geltend gemacht. Die Interpretation von 2,20 als Verzweiflung ist von Sir 47,23 her gelesen (vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Ebd.). Der Ausweg aller Verzweifelten ist der Tod. Kohelet wünscht sich aber nicht, zu sterben.

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Koh 1,12 – 2,26

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Menschen, gegeben (2,3). 2,21 negiert Prv 13,22: Der Gute mag seinen Besitz vererben, aber das ist eine böse Sache. Kohelet schließt hier Weisheit und Erkenntnis ausdrücklich mit ein. Da er hier grundsätzlich formuliert, schließt der Satz die Mahnung ein, sich um Besitz, Weisheit und Erkenntnis selbst zu mühen. Statt „vererben“ wie Prv 13,22 verwendet Koh 2,21 „geben“ und stellt den Satz somit in den Horizont des Programms von 1,13 – 15. 2,22 stellt eine weitere Frage. Diese ist ebenfalls nicht rhetorisch, denn sie bietet drei mögliche Antworten in Anbindung an die vorige Argumentation. „Mühe“ und „Streben“ (raCj n, eine Variante von reC t)136 haben bisher drei Ergebnisse gebracht: „Wind“ (1,14; 2,11.17), gar nichts (2,11) und – ein frohes Herz (2,10). Die Antwort ist also noch offen. Kohelet und sein (impliziter) Gesprächspartner befinden sich an einem Wendepunkt. Kohelet bekräftigt 2,23 erneut, dass sein ganzer Lebensweg im Zeichen des mühsamen (1,18), aber gottgegebenen (1,13) Geschäft des Weisheitserwerbs gestanden hat. In Überbietung von Ps 132,4 hat er nicht nur seinen Augen, sondern seinem Herzen keinen Schlaf gegönnt. Der vieldiskutierte Vers 2,24 gehört mit Sicherheit zu den Schlüsseltexten des Buches.137 Er besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass alles Gute im Leben von Gott kommt und zwar „in“ der Mühe, nicht wegen ihr. Es ist typisch für Kohelet, dass er dies durch eigene Beobachtung feststellt. Es ist ebenso bedeutsam, dass es keine theoretische Erkenntnis ist, sondern (2,3) in den Zusammenhang praktischer Weisheit gehört.138 Darin unterscheidet er sich grundlegend vom Sprüchebuch, das das „Glück“ (Bæsˇær) als erkenntnisbezogene Größe kennt. Darüber hinaus befindet sich Kohelet der Sache nach im Einklang mit der gesamten alttestamentlichen Theologie, die durchgängig weißt, dass der Mensch das „Gute“ – in unterschiedlicher Definition – nicht selbst schaffen kann. Indes ist dieser Erkenntnis eben bei Kohelet unabhängig von einer Traditionsvorgabe durch seine eigene Beobachtung erschlossen. Kohelet definiert das Gute nicht. Essen, Trinken und Genießen können nur dann gut sein, wenn sie aus der Hand Gottes kommend erkannt werden (vgl. auch 2,11). Kohelet wählt seine Worte mit Bedacht. “Essen und trinken“ sind die Minimalbedingungen für Zufriedenheit. Das Wortpaar kennzeichnet im Alten Testament jede Form der Nahrungsaufnahme, von der simplen Mahlzeit bis zum rauschenden Fest. Ungewöhnlich ist indes die Formulierung „seine Seele Gutes sehen lassen“. Die „Seele“ (næpæsˇ) bezeichnet bei Kohelet das vitale Selbst, das zwar vor allem Wünsche hat (6,2.3.7.9), diese aber nicht aktiv erfüllen kann. Daher kann sie sich Gutes auch nur zeigen lassen und nicht selbst sehen.139 Damit das Verlangen der Seele zu einem Plan wird, bedarf es 136 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 441 f. 137 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, 238. 138 Vgl. T. Krüger, BK 12 und ausführlich Ders., Qoh 2,24 – 26 und die Frage nach dem „Guten“ im Qohelet-Buch: BN 72 (1994), 70 – 84. 139 Am besten übersetzt man næpæsˇ bei Kohelet mit „Verlangen“, „Wunsch“: A. Schoors, Preacher 2, 218; T. Zimmer, Tod, 9 f.

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Des Königs Experiment

der Aktion des ganzen Menschen („Ich“), der begreift, dass das Gute der Macht Gottes untersteht. 2,25 bekräftigt dies unter Verweis auf einen wahrscheinlich traditionalen Spruch. 2,26 bezieht sich auf die „Hand“ Gottes zurück. Sie ist sowohl das Organ des Gebens (na¯tan, dreimal in diesem Vers) als auch das Symbol der Macht. M.a.W., Gott gibt nicht nur mit seiner Hand, sondern er schlägt damit auch.140 So wird in dieser theologischen Metapher die Undurchschaubarkeit Gottes sinnfällig. Gutes gibt er dem, der ihm gefällt (wörtlich: „der gut ist vor ihm“),141 der Sünder hingegen geht leer aus. Kohelet verwendet hier kultische Terminologie, allerdings in gebrochener Weise. „Gut sein vor Gott“ drückt hier die Qualität eines Menschen, die ihn in die Lage versetzt, Gott personal zu begegnen; lipne¯ bezeichnet das Gesicht.142 Nach Ps 24,4 bedarf es dazu „reiner Hände“ und eines „aufrichtigen Herzens“ – Bedingungen, die in nachexilischer Zeit überhaupt nur kultisch verwirklicht werden konnten. Demgegenüber ist der Sünder (h. t.æB, hier Part.) derjenige, der Gott anstößig ist. Er bedarf der kultischen Aufhebung seiner Untat.143 Das entsprechende Opferritual bildet ein Zentrum nachexilischer Theologie.144 Berücksichtigt man die Sensibilität des mit „Sünde“ (h. a¯t.a¯B) gekennzeichneten Bereichs, wirkt es fast wie eine Ironie, wenn Gottes einzige Reaktion darin besteht, dem Sünder sein Erwirtschaftetes wegzunehmen.145 Tatsächlich aber handelt es sich um die Ausweitung des Sündenbegriffs: Als Gegenbegriff zu einem unspezifischen Wohlgefallen behält sich Gott die Bestimmung von Sünde selbst vor – und demzufolge auch deren Konsequenz.146 Kohelet liegt damit in etwa auf einer Linie mit Gen 4, wo die Sünde in kultischem Kontext entsteht, aber in diesem nicht mehr zu beseitigen ist. Es gilt also, dass „Gott seine Gunst nicht grundsätzlich am moralischen und kultischen Handeln orientiert. Wem auch immer Gott sich zuneigt, ist objektiv der Beurteilung des Menschen entzogen.“147 Im folgenden Abschnitt wird Kohelet dies zunächst theologisch weiter denken. Das königliche Selbstexperiment Kohelet-Salomos steht im Dienste der Untersuchung der Weisheit und des Guten. Der unübertrefflich weise und 140 Vgl. ausführlich P. Ackroyd, ThWAT III (1982), 446 – 455. 141 Die Übersetzung von L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 235 ist philologisch weniger wahrscheinlich. 142 Ausführlich: F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32,34, Tübingen 2008 (FAT 55). 143 Ausführlich: K. Koch, ThWAT II (1977), 857 – 870. 144 Ausführlich und grundlegend: B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterlichen Sühnetheologie, Neukirchen-Vluyn 22000 (WMANT 55). 145 Aus diesem Grund wird „Sünde“ bei Kohelet häufig im abgeschwächten Sinn der Verfehlung oder des Versagens verstanden, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, 235; T. Krüger, BK, 126; D. Michel, Untersuchungen, 398; F. J. Backhaus, Zeit, 110; A. Schoors, Preacher 2, 225 – 230. 146 Vgl. auch M.V. Fox, Time, 189. 147 A. A. Fischer, Skepsis, 214 f.

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Koh 1,12 – 2,26

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große König überprüft erst einmal an sich, was in Weisheit erwirtschaftete Güter bringen. Die Antwort lautet: Zufriedenheit. Sie haben aber deswegen keinen bleibenden Wert, weil die Weisheit, mit der sie erwirtschaftet wurden, nicht vererbt werden kann. Damit der Nachfolger in ähnlicher Weise wie Kohelet-Salomo erfolgreich sein kann, muss ihm die Weisheit vermittelt werden; dazu dienen die folgenden Reflexionen, zu denen 1,12 – 2,26 die Einleitung bildet. Entscheidend dafür ist der Umgang mit dem Tod und dem Geschick.

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Alles zu seiner Zeit

Alles zu seiner Zeit Koh 3,1 – 15 3,1 Für alles gibt es den richtigen Zeitpunkt, und eine Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel: 3,2 Zeit zum Gebären und Zeit, zu sterben, Zeit zum Pflanzen und Zeit, Gepflanztes auszuraufen, 3,3 Zeit zum Töten und Zeit, zu heilen, Zeit zum Niederreißen und Zeit zum Aufbauen, 3,4 Zeit zum Weinen und Zeit, zu lachen, Zeit zum Klagen und Zeit, zu tanzen, 3,5 Zeit zum Steine werfen und Zeit zum Steine sammeln, Zeit zum Umarmen und Zeit, sich des Umarmens zu enthalten, 3,6 Zeit zum Suchen und Zeit zum Verlieren, Zeit zum Bewahren und Zeit, wegzuwerfen, 3,7 Zeit zum Zerreißen und Zeit zum Zusammennähen, Zeit zum Schweigen und Zeit, zu reden, 3,8 Zeit zum Lieben und Zeit, zu hassen, Zeit des Krieges und Zeit des Friedens. 3,9 Welchen Ertrag hat, der etwas tut, von dem, womit er sich müht? 3,10 Ich sah das Geschäft, das Gott dem Menschen gegeben hat, damit sie sich damit beschäftigen: 3,11 Alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit. Auch die Ewigkeit hat er ihnen ins Herz gegeben – nur dass der Mensch das Werk Gottes, das Gott gemacht hat, nicht herausfinden kann von Anfang bis Ende. 3,12 Ich erkannte, dass nichts Gutes bei ihnen ist, außer zu essen und zu trinken und Gutes zu tun in ihrem Leben. 3,13 Und jeder Mensch, wenn er isst und trinkt – eine Gabe Gottes ist das. 3,14 Ich erkannte, dass alles, was Gott tut, für die Ewigkeit ist. Nichts ist hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen. Und Gott hat gewirkt, dass man sich vor ihm fürchtet. 3,15 Was gewesen ist, ist längst gewesen. Und was geschehen ist, ist längst geschehen. (Und Gott sucht das Vergangene). In 3,1 – 15 reflektiert Kohelet über die Zeit als Raum menschlichen Handelns und der Erkenntnis Gottes. Der Text bildet ein Ergebnis seines weisheitlichen Forschens (V. 10 vgl. 1,13): Was Menschen tun, ist an bestimmte Zeiten gebunden (3,1 – 9). Diese Ordnung der Zeit entstammt dem Schöpferwillen Gottes (V. 11). Indes kann der Mensch darüber hinaus keinen Plan und keine Ordnung im Sinne einer (Heils-) Geschichte erkennen (Vv. 11 – 14). Vielmehr besteht die Möglichkeit sinnvoller Lebensgestaltung darin, das Leben gut zu leben (Vv. 12 – 13). Diese Erkenntnis ist Gottesfurcht (V. 14).

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Koh 3,1 – 15

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3,1 – 15 sind eine geschlossene Einheit.1 3,1 bildet nach 2,26 einen Neuansatz, der von Prosa zu Poesie wechselt. „Unter dem Himmel“ zeigt bei Kohelet einen neuen Abschnitt an. Während „alles“ im vorigen Abschnitt rückverweisend verwendet wurde, weist es in 3,1 nach vorn. Die Vv. 14 – 15 mit Gott als Subjekt bilden den Abschluss des Abschnitts. Der Text ist zweiteilig: Vv. 1 – 8.9 – 10 bilden die Einleitung, aus der in Vv. 11 – 14.15 Schlussfolgerungen gezogen werden: „ich sah“ (Vv. 10 – 11) – „ich erkannte“ (Vv. 12 – 13) – „ich erkannte“ (Vv. 14 – 15). Die Schlussfolgerungen setzen das Programm von 1,13 – 18 fort: Kohelet unternimmt eine Untersuchung der Menschenwerke und gewinnt eine Erkenntnis über Gott.2 Kohelet gewinnt seine Einsichten aber jetzt nicht mehr durch eigene Erfahrungen, sondern durch Beobachtung. Er geht vom Experiment zur Empirie über, ohne dass er jedoch seine Rolle verlässt. Es ist immer noch das „salomonische Programm“, das hier durchgeführt wird.3 Im Unterschied zu 1,13 – 2,26 formuliert Kohelet hier allgemein anthropologisch. Gott, der in diesem Abschnitt sechsmal genannt wird, ist eigentümlich wenig aktiv. Und doch sind seine Gaben (3,10.11.12) und seine Werke (3,11.13.14) das Thema des Textes. Sie werden miteinander verschränkt und unter den Aspekten „Zeit“ (3,1 – 9.11) und „Ewigkeit“ (3,11.14) betrachtet. In diesem Abschnitt fehlt bezeichnenderweise das Stichwort „flüchtig“. Stattdessen gewinnt Kohelet etwas, was der Flüchtigkeit standhält, nämlich Gottesfurcht. D.h. am Schluss seiner Reflexion steht der Schlüsselbegriff des Proverbienbuches (1,7). Damit ist für 3,1 – 15 der Salomo des Proverbienbuches leitend, der zu derselben Einsicht gelangt, aber auf andere Weise. 3,9.15 sind Fortschreibungen der Reflexion über Zeit und Ewigkeit durch den Bearbeiter Z. 3,1 – 8 ist Kohelets wohl bekanntester, mit Sicherheit aber populärster Text. Er gliedert sich in eine einleitende These (V. 1) und schließt dann eine Reihe von Wahrnehmungen an, die die These bestätigen. In strengem Parallelismus werden in 3,2 – 8 jeweils zwei einander entgegengesetzte Handlungen unter dem gemeinsamen Aspekt zusammengestellt, dass sie ihre jeweilige Zeit haben. Es handelt sich um 7x4 Aufzählungen.4 Inhaltlich stehen die vierzehn Paare für sich und ergeben ihren Sinn als Summe von paradoxen Einzelbe1 So vor allem A. A. Fischer, Beobachtungen, 83 – 86; Ders., Skepsis, 183 – 225; D. Michel, Untersuchungen, 1 – 83. Anders: F. J. Backhaus, Zeit, 92 – 111 (3,1 – 22 gegliedert in 3,1 – 9; 10 – 15; 16 – 17; 18 – 22); L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 244 – 286 (3,1 – 9; 10 – 15; 16 – 22); T. Krüger, BK, 152 – 155 (3,1 – 9 Einzelsequenz); A. Reinert Salomofiktion, 99 – 115: 3,1 – 8; 9 – 11; 12 – 15 Einzelsequenzen. 2 Zu diesem Zusammenhang: A. A. Fischer, Beobachtungen, 85 f.; Ders., Skepsis, 186. 3 Vgl. A. Reinert, Salomofiktion, 114 f. 4 Ob diese Paarungen noch weiter zu untergliedern sind, ist umstritten. Ein plausibler (aber nur formaler) Gliederungsvorschlag bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 246 f.; Zum Vorschlag von J.A. Loader, Qohelet 3,2 – 8. A „Sonnet“ in the Old Testament: ZAW 81 (1969), 240 – 242; Ders., Polar Structures, 29 – 34 s. F. J. Backhaus, Zeit, 113 f.; A. A. Fischer, Skepsis, 217 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 246.

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obachtungen, die allen Lebensbereichen entnommen sind.5 Einen erkennbaren Abschluss bildet 3,8 dadurch, dass hier zwei Substantive verwendet werden. Bei 3,2 – 8 handelt es sich mit einiger Sicherheit um ein Traditionsstück. Die verwendeten Worte sind für Kohelet untypisch. Überdies handelt es sich um einen memorablen und inhaltlich auch ohne Kontext völlig evidenten Text. V. 1 könnte darin immer schon den Beginn gebildet haben. Immerhin bietet er den Bezugsrahmen der Verse. Zema¯n, „Termin“, kommt bei Kohelet sonst nicht vor, h. e¯pæs. , „Vorhaben“, dagegen schon. Auch „unter dem Himmel“ ist für Kohelet typisch. Er könnte den Vers daher selbst formuliert, aber auch eine Vorlage bearbeitet haben.6 Vor allem der Form nach ist 3,1 – 8 ein klassisches Stück Weisheit. In ungemein verdichteter Form7 werden Teilstücke der Wirklichkeit versprachlicht und zusammengesetzt. Das Resultat ist ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Teile.8 Ein wesentlicher Bestandteil solcher weisheitlicher Wirklichkeitsaneignung ist die Zusammenschau von Dingen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören. Diese Entdeckung verborgener Zusammenhänge ist ureigenes Anliegen der Weisheit.9 Sie besteht im vorliegenden Fall darin, dass selbst diametral entgegengesetzte Tätigkeiten darin ihre Einheit finden, dass sie alle zu einer rechten Zeit stattfinden. So gesehen, kann es nicht absolut Gutes oder Schlechtes geben.10 Dinge unterscheiden sich auch nicht dadurch, dass sie mehr oder weniger wünschenswert sind.11 Das ist allenfalls ein Anfang. Die wahre Unterscheidung liegt im Erkennen, wann es Zeit ist, etwas zu tun oder zu lassen. Dementsprechend zu handeln ist nicht nur ein Interesse der Weisheit (vgl. Prv 15,24). Jede spezialisierte Tätigkeit hat ihren inhärenten Kalender, vom Bauern bis zum König und zum Priester. Der Zahlenwert des hebräischen Wortes Ce¯t, „Zeit“, beträgt 70+400 = 470. Die Reihe hat 7x4 Einheiten. Ob hier eine Zahlenspekulation eine Rolle spielt, ließe sich erwägen,12 wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eine Memorierhilfe handelt. Mit Ausnahme des Anfangs- und des Schlusspaares ist die Reihe mehr oder weniger zufällig. So lässt sich der Text sehr gut als Schultext verorten, der das Erkennen des richtigen Zeitpunktes einübt. Sein Sitz im Leben wäre demnach Erziehung bzw. Grundausbildung künftiger Führungseliten in der Schule. 3,1 beginnt mit der einleitenden These. Sie ist als synonymer Parallelismus in chiastischer Stellung formuliert. „Alles“ wird durch „jedes Vorhaben unter 5 6 7 8 9 10 11 12

Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 219 f.; T. Krüger, BK, 154 f.; M.V. Fox, Time, 194. Vgl. A.G. Wright, Riddle, 327; A. A. Fischer, Skepsis, 221. Vgl. dazu C. Klein, Kohelet, 137. Vgl. M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 488 f. Vgl. C. Klein, Kohelet, 59. T. Krüger, BK, 157. J.A. Loader, Sonnet, 340 f.; Ders., Polar Structures, 29 f. sieht hierin den primären Gegensatz. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 247 f.

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Koh 3,1 – 15

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dem Himmel“ näher bestimmt; „Termin“ durch „Zeit“. Zema¯n, „Termin, Datum“, erscheint nur Neh 2,6; Est 9,27.31; Sir 43,7. Das aramäische Lehnwort13 ersetzt in Est 9 den hebräischen Terminus m Ce¯d. Gemeint ist der festgesetzte Termin einer Handlung, der sowohl nach Anlass gegeben sein kann (Neh 2,6), wie auch durch den kultischen (Est 9) oder allgemeinen Kalender (Gen 1,14 – 19) festgelegt ist. Da zu biblischer Zeit keine Uhren in Gebrauch waren,14 ist die genaue Beobachtung der Zeit von erheblicher Bedeutung für jeden Lebensbereich und verlangt häufig biologische und astronomische Kenntnisse. Der Parallelbegriff Ce¯t ist allgemeiner, bezeichnet aber auch in diesem Text am ehesten den Zeitpunkt.15 H. e¯pæsˇ, „Vorhaben“, hat (nicht nur bei Kohelet) sowohl eine auf den Willen als auch auf den Plan zielende Bedeutung,16 das, was man als Wunsch und Wille sich vornimmt. Es gibt also eine sachliche Beziehung zum Herzen als dem Ort des Planens. Nicht zu unterschätzen ist dabei die theologische und kultische Bedeutung. Ob Gott an etwas „Gefallen“ hat (h. a¯pasˇ), entscheidet über die Gültigkeit eines Opfers und über historische Ereignisse.17 Sollte 3,1 von Kohelet selbst formuliert sein, liegt eine Anspielung auf 1Kön 10,9 = 2Chr 9,8 vor.18 Das erste Begriffspaar (3,2) nennt die beiden einzigen Vorgänge, über die der Mensch in keiner Weise verfügen kann, eindeutig nur von außen und damit wahrscheinlich von Gott bestimmte Zeiten.19 Neben Geburt und Tod als Basisgegensatz ist hier auch die anthopologische Polarität von Mann und Frau mit im Blick, da ja¯lad Qal in aller Regel das Gebären bezeichnet.20 Gebären ist ein aktiver Vorgang, der nichtsdestoweniger zeitgebunden ist. Dasselbe gilt für m t, „sterben“, auch dies ein aktives Verb. Diese beiden Vorgänge sind im Blick des Textes, weniger der Anfang und das Ende des Lebens. Das letzte Rätsel besteht ja gerade in dem Paradox, dass der aktive Vorgang nicht auch aktiv gestaltet werden kann21 – und möglicherweise auch in dem Sachverhalt, dass für Frauen die Zeit zum Gebären manchmal auch die Zeit zum Sterben ist.22 13 14 15 16 17 18 19 20

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Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 382. Außer den an Tempeln und an öffentlichen Orten aufgestellten Sonnenuhren. Vgl. T. Kronholm, ThWAT IV (1989); M. V. Fox, Time, 200. Vgl. G.J. Botterweck, ThWAT III (1982), 108 – 110; A. Schoors, Preacher 2, 211 – 214. Vgl. G.J. Botterweck, ThWAT III (1982), 110 – 114. „Gepriesen sei JHWH, dein Gott, der Gefallen an dir gefunden und dich auf seinen (!) Thron gesetzt hat als König für JHWH, deinen Gott.“ Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 222. Mit Ausnahme von Prv 17,21; 23,22.24, vgl. dazu G.J. Botterweck, ThWAT III (1982), 634 f. Für die vielzitierte Ansicht von H.W. Hertzberg, ATD, 104: „Natürlich ist bei ,gebären‘ hier weniger an die Mutter als an das Kind gedacht.“ (vgl. auch J. A. Loader, Polar Structures, 29; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 250) gibt es keinen Anhalt. Aus diesem (und anderen) Grund erwägt J. Blenkinsopp, Ecclesiastes 3,1 – 15: Another Interpretation: JSOT 66 (1995), 55 – 64, dass hier der Freitod gemeint sei. Der Duktus des Textes macht dies wenig wahrscheinlich. Das Alte Testament steht dem Suizid moralisch und theologisch indifferent gegenüber: J. Lauer, Art Suizid: www.wibilex.de. Vgl. T. Krüger, BK, 157 f.

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Das zweite Paar wendet sich der Landwirtschaft zu. Pflanzen und Ausraufen beziehen sich auf Feld- und Gartenbau. Es handelt sich also um die Anwendung gärtnerischen bzw. agarischen Professionswissens, das die Ernährung gewährleistet.23 Auf keinen Fall ist „Ausraufen“ negativ besetzt,24 sondern notwendig. Das prononcierte „Pflanzen“ weist zurück in die königlichen Pflanzungen von 2,4 – 5.25 Auch in 3,3 wird Fachwissen aufgerufen. Das erste Verb, ha¯rag, „töten“, bezeichnet der Mehrzahl der Fälle das gerechtfertigte und notwendige Töten von Feinden im Krieg,26 der Politik (Hinrichtung politischer Verschwörer 2Kön 11,16.18; 2Chr 25,3 f.) oder den Vollzug der Todesstrafe bei besonders schwer wiegenden Verbrechen (Ex 21,13; 32,27; Num 25,9).27 Eine Minderheit von Texten bezeichnet mit ha¯rag das verbrecherische Töten, allen voran Gen 4,8. In Ex 2,14; 1Kön 2,428 wird jedoch erkennbar, dass die Entscheidung darüber, ob ha¯rag ein Verbrechen ist oder nicht, vom Urteilsspruch eines Fachkundigen abhängt.29 So verweist der erste Begriff in die Fachkompetenz von Königen, Richtern, Soldaten und Priestern. Ra¯paB, „heilen“, ist die medizinische Tätigkeit, die seit dem 8. Jh. v. Chr. auch mit spezialisierten Ärzten verbunden ist, sonst aber von Priestern und Propheten vollzogen wird.30 Dass hier der richtige Zeitpunkt entscheidend ist, versteht sich von selbst.31 „Niederreißen“ (pa¯ras. ) und „Aufbauen“ (ba¯na¯h) sind Kompetenzen des Baumeisters,32 wobei auch hier ein Rückbezug zu 2,4 vorliegt. 3,4 beginnt wieder mit einer allgemeinen Aussage. Das Lachen bezieht sich zurück auf 2,2, so dass Kohelet hier durch die Weisheit belehrt und korrigiert wird: Lachen ist durchaus nicht grundsätzlich Irrtum oder Albernheit, sondern vom Anlass abhängig. Das „Trauern“ (sa¯pad) meint die ritualisierte Totentrauer mit ihren speziellen Riten und Bräuchen.33 Es kann durch (männliche und weibliche) Spezialisten geleitet und begleitet werden. „Tanzen“ erscheint hier mit dem seltenen Begriff Ra¯qad (aktiv nur noch Ps 144,4.6). Es bezeichnet das „Hüpfen“ oder Springen von Mensch und Tier (Hi 21,11; Ps 144,4.6).34 Dass es sich 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 220. So etwa T. Krüger, BK, 158; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 250. Möglicherweise ist dies der Grund, warum hier nicht von Saat und Ernte die Rede ist. Belege bei H. Fuhs, ThWAT II (1977), 487 f. Vgl. Ders., A. A.O., 492. Dieser Text gehört zur Salomogeschichte. Vgl. H. Fuhs, ThWAT II (1977), 491 f. Vgl. H. Frey-Anthes, Art. Krankheit und Heilung: www.wibilex.de. Tatsächlich wird in den meisten Belegen von ra¯paB Gott/JHWH als Subjekt verwendet, gerade auch im gegenüber zu „Töten“ bzw. „Schlagen“ (vgl. Hos 6,1; 11,3.6 u. ö.). Es ist denkbar, in 3,3 Anspielungen auf prophetische Worte zu hören, sie stehen aber nicht im Vordergrund. S. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 251 f. 32 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 220. 33 Vgl. dazu M. Köhlmoos, Art. Trauer : www.wibilex.de. 34 Vgl. M.J. Mulder, ThWAT VII (1993), 665 – 668.

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um mehr oder weniger choreographiertes Tanzen mit festgelegten Bewegungen handelt, ist aber möglich. Vielleicht ist an einen kultischen Tanz gedacht, vielleicht ist der Gegensatz aber auch darin zu sehen, dass der streng ritualisierten Trauer ein Herumtollen gegenübergestellt wird.35 In 3,5 bezieht sich „Steine wegwerfen und aufsammeln“ auf das Vorbereiten von Äckern und Grundstücken zur Bebauung, gehört also in den Kontext von Hauswirtschaft.36 Es ist nicht geschlechtsspezifisch, ebenso wie das Verb des zweiten Begriffspaars. H. a¯baq bezeichnet jede Art von liebevollem Körperkontakt, von der herzlichen Umarmung zur Begrüßung (Gen 29,13; 33,4; 48,10) bis zur sexuellen Zärtlichkeit (Hld 2,6; 3,8; Prv 5,20). Dieser Kontext ist im Blick, denn es gibt Zeiten, zu denen Körperkontakt nicht angezeigt ist. Im Zusammenhang kultisch definierter Reinheit sind sexuelle Kontakte während des Wochenbetts (Lev 12), der Menstruation und bei Ausfluss (Lev 15) untersagt. In diesen Fällen bestimmt priesterliche Kompetenz über die Zeiten des Kontakts.37 In 3,6 ist das erste Paar schwer deutbar. Ba¯bad Pi. bedeutet „verloren gehen“. Einen konkreten Bezug gibt es nicht. Wahrscheinlich formuliert das Paar die Einsicht, dass manche Dinge die Suche lohnen, manche hingegen nicht. In dieselbe Richtung geht „wegwerfen“ und „aufbewahren“.38 In 3,7 geht es um Textilien. Qa¯ra¯C, „zerreißen“, ist im Alten Testament fast nur im Zusammenhang des Trauerritus belegt.39 Würde sich das Verb darauf beziehen, ergäbe sich eine Doppelung mit V.4.40 So ist ein Verweis auf die hausfrauliche Tätigkeit wahrscheinlicher,41 möglicherweise auch die Schneiderei: Alte Kleidungsstücke werden zerrissen, um aus den noch brauchbaren Teilen neue herzustellen. Das muss geschehen, bevor sie völlig zerschlissen und daher unbrauchbar sind (vgl. Prv 23,21).42 Das Paar „Schweigen“ – „Reden“ ruft eine traditionelle weisheitliche Einsicht auf (Prv 15,23; Sir 1,23 f.; 4,23; 20,6 f. 20). 3,8 ist insofern überraschend, als es hier anscheinend um Emotionen und nicht um Handlungen geht, die zur geeigneten Zeit auszuführen sind. Vor 35 Der einzige Mensch, der als Subjekt von Ra¯qad erscheint, ist David (1Chr 15,29, dort in Parallele zu „lachen“). Da Michal diesen Tanz ausdrücklich missbilligt, handelt es sich offenbar um eine ungewöhnliche Form des Tanzes. 1Chr 15 hat die (wohl anstößigen) Verben ihrer Vorlage 2Sam 6,4.14 aber durch akzeptablere ersetzt. 36 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 221. 37 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 253. Denkbar und wahrscheinlich ist auch, dass durch Enthaltsamkeit Familienplanung verwirklicht wurde – dann wäre die Beobachtung der Zeiten auch von Laien durchzuführen. So oder so handelt es sich nicht um Trivialitäten (so aber T. Krüger, BK, 158 f.). 38 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 253 f. 39 Vgl. W. Thiel, ThWAT VII (1993), 159. 40 So L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT 254 im Anschluss an die jüdische Tradition. 41 Vgl. T. Krüger, BK, 159. 42 Interessant ist Lev 13,56: Ein „aussätziges“, d. h. schimmeliges oder stockfleckiges Stück Gewebe muss unter bestimmten Bedingungen vom Priester abgerissen werden.

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allem Hass ist eigentlich nicht steuerbar (vgl. 2Sam 13,5), sondern kommt unvermutet (Vgl. 1,17.18). Im Bereich der theologischen Ethik können Liebe und Hass jedoch empfohlen werden (Vgl. Dtn 6,5; Am 5,15; Prv 14,17). In Dtn 22,13.16; 24,3; Mal 2,13 ist „Hass“ ein juristischer Fachbegriff: der Rechtsgrund für eine legitime Ehescheidung.43 Umgekehrt bezeichnet „Liebe“ in politischen Texten die Vertragstreue und wird biblisch auch von Eheleuten gefordert. Möglicherweise geht es hier also nicht um Gefühle, sondern um die (juristische) Gestaltung der Ehe. Mit den beiden Substantiven „Krieg“ und „Frieden“ liegt das letzte Begriffspaar vor. Für die Zivilbevölkerung sind sie so unverfügbar wie Geburt und Tod. Die Entscheidung über Krieg und Frieden obliegt dem König. Für Könige „gibt es eine ,Zeit‘, in der sie ,(zum Kampf) ausziehen‘ (2Sam 11,1), d. h. eine für Kriegführung günstige (Jahres-) Zeit, in der sie aber keinesfalls gezwungen sind, Krieg zu führen.“44 Gerade bei der pointierten Schlussstellung von „eine Zeit des Friedens“ ist zu berücksichtigen dass Frieden (sˇa¯l m) als Gabe JHWHs weit über den politisch-militärischen Bereich hinausgeht und Heil impliziert.45 Die persische und hellenistische Zeit in Juda sind von ebenso euphorischen Erwartungen über das anbrechende Heil wie von tiefen Enttäuschungen über sein Ausbleiben geprägt.46 Möglicherweise bildet der Abschlussbegriff hier eine aktuelle Anspielung. 3,1 – 8 zielen mit den vierzehn Tätigkeiten nicht auf einen Ertrag oder Gewinn, sondern allenfalls auf einen Erfolg, der aber vom Wissen um den rechten Zeitpunkt abhängt. 3,9 fragt indes nach einem realen Ertrag. Er besagt, dass „die Verfügbarkeit eines möglichen Gewinns begrenzt [ist], wenn der Erfolg menschlichen Handelns von der Gunst oder Ungunst der Zeitumstände abhängt, wogegen die Anstrengung des menschlichen Handelns jedenfalls nicht zuverlässig anzukommen vermag.“47 Damit liegt V. 9 inhaltlich und auch in der Formulierung auf der Linie des Bearbeiters Z. 3,1 – 8 lassen sich als anthropologische Ausführung des Kreislaufgedankens lesen, der 1,3 – 11 kosmologisch entfaltet wird.

In 3,10 kommt Kohelet auf seine Lebensaufgabe zurück. Das (weisheitliche) Wissen um den rechten Zeitpunkt jeden Handelns, das für alle Lebensbereiche, Funktionen, Berufe und Geschlechter erforderlich ist, bündelt er im Rekurs auf 1,13. Im Duktus der Argumentation Kohelets wäre jetzt eine „Flüchtig“-Aussage zu erwarten, die indes überraschenderweise nicht kommt. Auch außerbiblisch belegt, vgl. dazu E. Lipin´ski, ThWAT VII (1993), 833 – 836. T. Krüger, BK, 159. Ausführlich: F.-J. Stendebach, ThWAT VIII (1995), 12 – 46. Vgl. R.G. Kratz, Die Propheten Israels, München 2003, 92 – 102. Dabei wird das Substantiv ˇsa¯l m allerdings verhältnismäßig selten verwendet. Der Zustand ist aber klar beschrieben. 47 T. Krüger, BK, 160.

43 44 45 46

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Stattdessen wird in 3,11 Gott zum Subjekt, und zwar nicht mehr als der, der „gibt“, sondern der, der tut, nämlich „alles“ und zwar „schön zu seiner Zeit“. Kohelet reflektiert das mühsame Geschäft des rechten Handelns im Horizont der Schöpfung. Dabei verweist das Vokabular auf eine Auseinandersetzung mit Gen 1, allerdings mit charakteristischen Eigenarten. Zunächst einmal meint das betont an den Anfang gestellte Objekt nicht nur die Schöpfungswerke von Gen 1,31, sondern geht darüber hinaus. Wie in Jes 44,24; 45,7 hat Gott „alles“ geschaffen. Das schließt menschliches Handeln und dessen Bedingungen mit ein.48 So wird aus dem mühsamen Geschäft von 1,13 eine Schöpfungstat Gottes: von der Gabe zum bewussten Werk. Das gibt der Weisheit im Sinne Kohelets eine neue Dimension. Weisheit vollzieht sich im Horizont der Schöpfung. Zweitens hat Gott die Dinge nicht „gut“ geschaffen, sondern „schön“ (japBæh). Dass Kohelet einfach „gut“ durch „schön“ ersetzt, ist denkbar, weil die beiden Begriff eng beieinanderliegen.49 Auch ein Einfluss des griechischen kal s ist denkbar.50 Die unterschiedliche Begrifflichkeit weist aber wahrscheinlich auf eine andere Perspektive: was „gut“ ist, kann man nur selbst sehen, vgl. 2,3; Gen 1,31. Aus der Perspektive des Geschöpfs sind Gottes Werke schön. Schönheit wird im Alten Testament zwar mit den Augen wahrgenommen, bleibt aber nicht auf die Optik beschränkt. „Schön“ ist das zweckmäßige und Geordnete – hier überschneiden sich „gut“ und „schön“ (Vgl. Prv 1,9; 4,9; Num 24,4 – 7) – aber auch das Ehrfurcht erregende (Ps 48,3; 50,2).51 So wird mit dem Begriff bereits V.14 vorbereitet. Mit der Wiederholung von „Zeit“52 ergibt sich, dass Handeln zur rechten Zeit die Schönheit der Schöpfungswerke spiegelt.53 Kohelet ist an dieser Stelle im Einklang mit Sir 39,16.21.33.34,54 stellt aber anders als Sirach nicht einfach thetisch fest, sondern beobachtet selbst. Vor allem aber geht Kohelet über die Anerkennung der guten Schöpfung hinaus. Gott gab nicht nur das mühsame Geschäft der Forschung, auf das Kohelet seit Herz richtet, sondern Gott gab auch die „Ewigkeit“ ins Herz der Menschen. Mit Rücksicht auf den Versschluss muss C la¯m hier in seinem Wortsinn als „fernste Zeit“ aufgefasst werden – Urzeit und Endzeit.55 Damit ist 48 Vgl. Ders., A. a. O., 170; A. Schoors, Preacher 2, 4. 49 Vgl. H. Ringgren, ThWAT III (1982), 790. 50 So O. Kaiser, Die Sinnkrise bei Kohelet, in: Ders., Der Mensch unter dem Schicksal. Studien zu Geschichte, Theologie und Gegenwartsbedeutung der Weisheit, Berlin/New York 1985 (BZAW 161), 101. In der zeitgenössischen Philosophie Kohelets ist das „Schöne“ aber nicht kosmologisch orientiert, sondern ethisch, vgl. D. Bertram, ThWNT III (1938), 544 f. mit Belegen. Die Septuaginta übersetzt in Gen 1 indes „gut“ mit kal s, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 265. 51 Vgl. J.A. Loader, Art. Schönheit: www.wibilex.de. 52 Das Suffix bezieht sich nicht auf Gottes Zeit bei der Schöpfung, sondern wie „alles“ auf die Vorgänge von Vv. 1 – 8, vgl. T. Krüger, BK, 171. 53 Vgl. Ders., A. A.O., 174. 54 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 264 – 266. 55 Vgl. T. Krüger, BK, 174.

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die Geschichte im Blick Kohelets56. Den einzelnen Ordnungsparzellen in der Zuordnung zur Zeit Sinn abzugewinnen, hat Gott dem Menschen gegeben – und zwar als Aufgabe des rationalen Verstandes. Indes kann der Mensch das ganze Werk Gottes eben nicht als sinnvoll geordnete Geschichte herausfinden. „Von Anfang bis Ende“ ist nicht einfach nur ein Merismus für das Ganze, sondern zeitlich gemeint: Von der Schöpfung (Gen 1,1) bis zum definitiven Ende (s p, vgl. Dan 8,17.23; 11,27.35.40; 12,4.13). Vordergründig ist damit die Begrenztheit menschlichen Erkennens gemeint, das sich die Perspektive Gottes nicht zu eigen machen kann und somit zwangsläufig das Ganze nicht überblickt.57 Kohelet distanziert sich so aber auch von allen seinen theologischen Zeitgenossen, deren autoritative Entwürfe genau das tun: Eine Geschichtstheologie entwerfen, die diesen Sinn behauptet, sei sie priesterlich, deuteronomistisch oder prophetisch. Der recht eindeutige Bezug auf Gen 1 verweist auf die Priesterschrift als den hauptsächlichen Bezugstext. Sie wird hier in gewisser Weise relativiert.58 Daneben wird mit dem Verweis auf das nicht erkennbare Ende auch prophetische Eschatologie abgewehrt.59 3,12 formuliert eine neue Einsicht. Das prononcierte „ich erkannte“ verweist darauf, dass Kohelet aus seinen empirischen Beobachtungen jetzt eine theoretische (Weisheits-) Erkenntnis ableitet. Sie variiert 2,24a: „im“ oder „bei“ den Menschen ist nichts Gutes. Im Unterschied zu 2,24 wird aber jetzt nicht der Mensch in den Blick genommen, sondern das Gute. Es besteht in Freude und dem Tun des Guten. Damit ist ein weiterer Schritt auf das Ziel von 2,3 genommen. Freude ist gut, und Menschen tun Gutes, indem sie sich freuen. 3,13 setzt dies dahingehend fort, dass das Gute in Essen, Trinken und Vergnügen besteht. Als Gabe Gottes ist dies das Gegengewicht zum mühsamen Weisheitserwerb, aber für Kohelet ist das eine nicht ohne das andere zu haben. Im Lichte der Auseinandersetzung mit der Theologie der Schöpfung kann Kohelet seine vorläufige Einsicht von 2,24 präzisieren: Der Mensch kann durchaus nicht nur begehren, sondern das Gute genießen, das Gott ihm gibt – und das Gute tun.60 Dies ist eine anthropologische Grundeinsicht Kohelets.61 Auch Vv. 12 – 13 setzen sich mit der Schöpfung auseinander. Der Bezugstext ist die Paradiesgeschichte Gen 2 – 3. Darauf weist die betonte Verbindung von „Erkennen“, „Essen“ und „Gutes“. Kohelet ist darin aber „nachparadiesisch“, 56 Vgl. A. Vonach, Gottes Souveränität anerkennen: Zum Verständnis der „Kanonformel“ in Koh 3,14, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 392. 57 Vgl. T. Krüger, BK, 174; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 268; A. Schellenberg, Erkenntnis, 128; H. Spieckermann, Suchen, 109. 58 Vgl. H. Spieckermann, Suchen, 101. 59 S p ist im Alten Testament erst ein apokalyptischer Terminus, in Koh 3 liegt wohl ein Aramaismus vor, vgl. dazu A. Schoors, Preacher 2, 339. Zur Sache vgl. auch T. Krüger, BK, 175. 60 So T. Krüger, BK, 176. Anders L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 269; F. J. Backhaus, Zeit; M.V. Fox, Time, 192; S. Fischer, Aufforderung, 45; A. Reinert, Salomofiktion, 110 f. Diese Sicht berücksichtigt 2,3 aber zu wenig. 61 Vgl. T. Krüger, BK, 176 f.

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dass er einerseits das Gute erkennen kann und um die Mühe des Daseins weiß, die seit oder wegen der Erkenntnis auf dem Menschen lastet – einschließlich „Gebären“ und „Sterben“ (vgl. V. 2).62 Es erscheint ihm nicht als Verlust. Die Fluchtlinie dieses Gedankens sind jene Aussagen der Urgeschichte (Gen 6,5), die den Menschen als unverbesserlich schlecht betrachten und ihm trotzdem Zeit und Raum zur Verfügung stellen. Bei Kohelet ist es umgekehrt: Der Mensch kann Gutes tun und hat die Ewigkeit im Herzen, nicht das Böse. 3,14 stellt zusätzlich fest, dass sich Gottes Wirken weiterhin ereignet, wenn auch unter einem völlig anderen Zeithorizont als dem menschlichen. Gottes Handeln findet „in Bezug auf fernste Zeiten“ statt, d. h. in den Dimensionen göttlicher Zeit, die mit menschlichen Konzepten nicht zu erfassen ist. Kohelet bekräftigt dies mit der sog. Kanonsformel. Sie unterstreicht hier die Vollständigkeit der Werke Gottes wie seine alleinige Verfügungsgewalt darüber.63 Die Kanonformel bezieht sich eigentlich auf Texte, deren normativer Charakter damit festgestellt wird (Dtn 4,2; 13,1). Dieser eindeutige Sitz im Leben legt nahe, dass Kohelet ebenfalls auf Texte verweist. Denkbar sind vor dem Hintergrund des fortwährenden Wirkens Gottes vor allem eschatologische Texte, die ein neues Schaffen Gottes erwarten, also etwa Jes 65,17 – 25: „Die eschatologischen Heilsgüter, die Jes 65,13 den ,Frommen‘ in Aussicht stellt [= essen, trinken, Freude. MKö] werden von Qoh 3,13 nachgerade als die Essenzen des vorfindlichen diesseitigen Lebens gekennzeichnet.“64 Die eschatologische Erwartung einer neuen Schöpfung wirft die Frage auf, warum Gott nicht von vornherein solche Bedingungen geschaffen hat.65 Die Antwort der meisten alttestamentlichen Texte lautet, dass menschliches Fehlverhalten Gottes gute Schöpfung kontaminiert. Im Gegensatz dazu stellt Kohelet fest, dass Gott der Welt zwar keine erkennbar sinnhafte Ordnung eingestiftet hat, aber seine Anerkenntnis ermöglicht. Der entscheidende Begriff lautet Gottesfurcht. Damit gelangt Kohelet zu demselben Ziel der Weisheit wie Prv 1,1 – 7: Gottesfurcht ist (eigentlich) der Anfang der Weisheit. Gemeint ist in beiden Texten die „Haltung von Ehrfurcht und Demut“66, die Gottes Herrschaft anerkennt, aber auf eine aktive Gestaltung der Welt trotzdem nicht verzichtet. Die Formulierung bei Kohelet ist verbal: „…dass man sich vor ihm fürchtet“67. Die aktive Haltung der Gottesfurcht ist damit ein 62 Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 240 – 247. 63 Vgl. A. Vonach, Souveränität, 394; T. Krüger, BK, 178. 64 K. Schmid, Schöpfung, 200. Vgl. auch T. Krüger, BK, 175.179. Es ließe sich zusätzlich erwägen, ob sich Kohelet mit der Kanonsformel an dieser Stelle nicht auch von den diversen relectures der Urgeschichte distanziert, die zu seiner Zeit kursierten (Henoch; Jubiläen etc.). In ihnen behauptet der Erzähler, auf dem Weg der Offenbarung eine zusätzliche Einsicht in den Sinn der Geschichte gewonnen zu haben. 65 T. Krüger, BK, 48. 66 A. Vonach, Souveränität, 396. 67 Das Imperfekt ist dabei möglicherweise modal aufzufassen: „dass man sich vor ihm fürchte“ (A. Vonach, Souveränität, 395).

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Angebot Gottes, „ob sich der Mensch dieser Möglichkeit bedient, liegt in seiner eigenen Entscheidungsfreiheit“.68 Voraussetzung dafür ist aber die Erkenntnis der Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis. 3,14 bildet somit den Abschluss der theoretischen Grunderwägungen Kohelets. Von jetzt an steht zur Debatte, wie unter den geschilderten Voraussetzungen das Leben gestaltet werden kann. Es versteht sich von selbst, dass richtiges Handeln nicht in der Befolgung eines wie immer gearteten Normenkatalogs bestehen kann. Handlungsnormen sind vielmehr im Rückbezug auf Sterblichkeit, Begrenztheit des Handelns, Freude und Verantwortung zu überprüfen und zu entwickeln.69 Dem dienen die folgenden Abschnitte. V. 14 ist der ursprüngliche Abschluss der Reflexion über Zeit und Ewigkeit. V. 15 ist eine Ergänzung durch den Bearbeiter Z, der hier seine Perspektive auf die Zeit einträgt. Er liest 3,1 – 8 im Sinne eines ewigen Kreislaufs und entfaltet damit anthropologisch, was in 1,3 – 11 kosmologisch dargestellt wurde. Das Verb nirda¯p ist schwer verständlich. Ra¯dap bedeutet „verfolgen“, in aller Regel in Kontexten von Krieg und Gewalt,70 das Passiv begegnet nur hier und Klgl 5,5. Die älteste Textüberlieferung bleibt bei dieser Bedeutung71. Sie fügt sich aber nicht recht in den Kontext. Schon Hieronymus hat das Verb daher im Sinne von „verloren gehen“ aufgefasst,72 eine Lesung, die auch heute noch überwiegend vertreten wird. Aufgrund der Beobachtung, dass „suchen“ (ba¯qasˇ) und „verfolgen“ (ra¯dap) in Dtn 16,20; Ps 34,15; Zeph 2,3 parallel stehen, vertreten Diethelm Michel und Alexander Fischer die Übersetzung: „Gott sucht das Erstrebte“73 in dem Sinne, „dass Gott das Vergangene ausfindig mache und bereithalte, bis es wieder Gegenwart wird“74. Damit würde Z erst an dieser Stelle – und darin Kohelet folgend – Gott in den Kosmos einbringen.

68 69 70 71 72 73 74

Ebd. Ders., A. A.O., 396. Vgl. C. Frevel, ThWAT VII (1993), 362 – 372. Vgl. BHQ; A. Schoors, Preacher 2, 107 f. Ders., A. A.O., 108. D. Michel, Untersuchungen, 74 – 77. A. A. Fischer, Skepsis, 241.

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Recht und Gerechtigkeit Koh 3,16 – 22 3,16 Und weiter sah ich unter der Sonne: Die Stätte des Rechts – dorthin (geht) der Frevel.1 und die Stätte der Gerechtigkeit – dorthin geht der Frevler. 3,17 Und ich dachte bei mir : Den Gerechten und den Frevler richtet Gott. Denn eine Zeit für jedes Vorhaben gibt es und wegen jeder Tat ein „Dort“2 3,18 Ich dachte bei mir : Wegen der Angelegenheit der Menschen, dass Gott sie ausgesondert hat und sah, dass sie Tiere sind3 : 3,19 Ja: Das Geschick der Menschen und das Geschick der Tiere4 – sie haben ein Geschick. Wie der Tod der einen, so der Tod der anderen. Und einen Geist haben sie alle. Und nichts hat der Mensch den Tieren voraus. Denn alles ist flüchtig. 3,20 Alles geht an einen Ort. Alles kommt vom Staub und kehrt zurück zum Staub. 3,21 Wer weiss denn, ob der Geist des Menschen aufsteigt nach oben und der Geist der Tiere hinabsteigt nach unten zur Erde?5 3,22 Und ich sah, dass es nichts Besseres gibt, als dass der Mensch sich freut bei seinem Tun, denn das ist sein Los. Denn wer könnte ihn dazu bringen, zu sehen, was nach ihm kommt?

1 Die Septuaginta hat hier „der Frevler“, was den Satz an 16b angleicht. MT ist gut bezeugt, vgl. BHQ. 2 In der zweiten Vershälfte erscheint Cal („wegen, gegen“) statt le („hinsichtlich, für“). Bei Kohelet sind diese Präpositionen in der Regel nicht austauschbar, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 200. 3 Ein befriedigendes Verständnis des Satzes will nicht gelingen. 1) Handelt es sich bei den beiden Verben um Infinitive oder um finite Verben? Näher liegt die Infinitiv-Lösung (vgl. auch 2,3). 2) Die Phrase nach dem „Sehen“, wörtlich: „dass sie Tiere sind, sie für sich“. Sie hat einen erkennbaren Rhythmus, vor diesem Hintergrund ist ein Personalpronomen mit emphatischen Lamed am plausibelsten („dass sie Tiere sind, sie, ja sie“) 3) Das erste Verb (ba¯rar) ist biblisch und in Qumran auf die Aussonderung zum heiligen Dienst bezogen (Neh 5,18; 1Chr 7,40; 9,22; 16,41). Eine anthropologische Verwendung ist aber nirgends belegt. Die Bedeutung im mischnischen Hebräisch „ans Licht bringen“ fügt sich nicht in den Kontext. Die angenommene Sonderbedeutung „prüfen“ oder eine Variante von ba¯raB, „erschaffen“, ergeben inhaltlich keinen befriedigenden Sinn. Auch die Lösungen, die Kohelet oder die Menschen zum Subjekt des Sehens machen (vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 138; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 282; A. A. Fischer, Skepsis, 345), können nicht überzeugen. Schon die Textgeschichte zeigt die Verlegenheit der Überlieferung mit diesem Vers, vgl. BHQ. Übersetzung im Anschluss an A. Schoors, Preacher 1, 112 f. 180 – 184. Diskussion ebd. 4 Mit den Versionen, vgl. BHQ. 5 MT hat (aus dogmatischen Gründen) einen syntaktisch unmöglichen Satz. Mit den Versionen müssen die Artikel als Fragepartikel aufgefasst werden, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 213 f.

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Recht und Gerechtigkeit

3,16 – 22 ist ein außerordentlich schwieriger Abschnitt, der offenbar mehrfach erweitert worden ist, wobei die einzelnen Einträge sprachlich und sachlich nicht miteinander übereinstimmen.6 V. 17b trägt die Vorstellung eines Jenseitsgerichts ein und ist vermutlich die frühere Fortschreibung, V. 18b ist offenbar ein weiterer (isolierter) Eintrag, der die Aussage hinsichtlich Mensch und Tier relativieren soll. Auch V. 21 stellt einen weiteren Nachtrag dar. In 3,16 – 22 wendet sich Kohelet nach der grundsätzlichen Reflexion von 3,1 – 15 wieder seiner eigentlichen Frage zu, ob und inwiefern menschliches Tun gut ist (2,3; 3,12). Er entfernt sich dabei von seinem eigenen Erfahrungshorizont und wird allgemeiner.7 Er löst damit sein Programm von 2,3 ein, es ist aber durch seine Einsichten aus dem vorigen Argumentationsgang bestimmt. 3,16 – 22 sind eine Einheit, die mit einer neuen Beobachtung einsetzt (3,16). Es schließen sich zwei Reflexionsvorgänge an (Ich dachte/Ich dachte: Vv. 17.18*19.20). Eine als Beobachtung formulierte Schlussfolgerung schließt den Abschnitt ab. Inhaltlich wird hier das Thema „Recht und Gerechtigkeit“ reflektiert und zwar nicht in Bezug auf eine ethische und/oder theologische Norm, sondern in anthropologischer Perspektive. Wenn der Tod zur Unterscheidung von Weisem und Toren nicht taugt (Vgl. 2,15 – 19), wie verhält es sich dann im Blick auf die weitere anthropologisch-ethische Grundunterscheidung, den Gerechten und den Frevler? Wie in 2,15 – 19 zeigt sich auch hier, dass sich der Mensch im Hinblick auf den Tod als seinem Geschick bewährt. Kohelet bleibt auch in diesem Text im Horizont der Salomofiktion. Zum einen verallgemeinert er weiterhin den Ertrag seines persönlichen Lebens: Zufriedenheit in und mit dem Erreichten. Zum zweiten wird hier Ps 72 als Teil der Salomotradition eingespielt. Recht und Gerechtigkeit als „salomonisches“ Handlungsfeld sind Kohelet von diesem Text (und seiner Rezeption) her vorgegeben. Schließlich steht die Beispielerzählung vom salomonischen Urteil im Hintergrund (1Kön 3,16 – 28), die in die Schlussfolgerung eingebracht wird. Thematisch ist 3,16 – 22 auf die Fortsetzung in 4,1 – 6 angelegt, formal ist sie aber geschlossen.8 6 Überblick über die verschiedenen Lösungsansätze bei D. Michel, Untersuchungen, 248 – 250; A. A. Fischer, Kohelet und die frühe Apokalyptik, in: A: Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 339 – 356. 7 Deutlich herausgearbeitet bei N. Lohfink, Strukturen, 88. 8 Die Gliederung und Abgrenzung des Textes ist höchst unterschiedlich, je nach zugrundeliegendem Modell des Buches: A. A. Fischer, Skepsis, 19 f.75 betrachtet 3,16 – 4,16 als Komposition aus den Teilsequenzen 3,16 – 4,3; 4,4 – 12; 4,13 – 16 mit 3,22 als Einzelstück. A. Reinert, Salomofiktion, 116 – 126: 3,16 – 21.22; 4,1 – 6 als einzelne „Erkenntniswege“. T. Krüger, BK, 169.179 – 198: 3,16 – 21.22; 4,1 – 12 als Bestandteil der Teilkomposition 3,10 – 4,12. F. J. Backhaus, Zeit, 88 – 92.131 – 142.159 f.: 3,16 – 22 (darin: 3,16 – 17.18 – 22) als Teil der Komposition I (1,3 – 3,22), 4,1 – 16 (darin: 4,1 – 3.4 – 6.7 – 12.13 – 16) als Teil der Komposition II (4,1 – 6,9). L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 244 – 287: 3,16 – 22 zum ersten Buchteil; 4,1 – 6.7 – 12.13 zum zweiten Buchteil.

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Koh 3,16 – 22

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3,16 beginnt mit einer neuen Beobachtung Kohelets. Sie wird mit C d, „Fortsetzung“, eingeleitet. Nach der Unterbrechung durch 3,1 – 15 kommt Kohelet nun wieder zu seinem Untersuchungsprozess von 2,3 zurück. Legt man die Geschichte Salomos als narrativen Orientierungsrahmen zugrunde, dann befindet sich Kohelet mit seiner Beobachtung anscheinend „zwischen“ Gibeon und dem Urteil von 1Kön 3,16 – 28. Kohelets Weisheit versetzt ihn ja in die Lage, genau dieses weise Urteil zu sprechen. Kohelets Ausdeutung dieser Leerstelle soll paradigmatisch die königliche Weisheit im Interesse von Recht und Gerechtigkeit darstellen. Der Satz von 3,16 ist sehr sorgfältig gestaltet. Er formuliert zweimal denselben Gegensatz mit vorangestelltem Objekt und Subjekt in Schlussstellung.9 Dieser synonyme Parallelismus wird nur minimal variiert, so dass mit der theologisch hochsignifikanten Paarung nur eine Aussage gemacht wird: Die Welt ist völlig aus den Fugen. Mit geradezu prophetischer Attitude formuliert Kohelet einen schreienden Kontrast zu der Aussage, Gott habe alles schön gemacht zu seiner Zeit.10 Mit „Stätte“ (Maq m), „Recht“ (Misˇpat.), „Gerechtigkeit“ (S. ædæq) und „Frevel“ (Ra¯ˇsaC) ruft Kohelet vier Zentralbegriffe alttestamentlicher Theologie auf. Maq m kann zwar prinzipiell jeden Ort bezeichnen (vgl. auch 11,3),11 ist aber ganz überwiegend kultisch-theologisch bestimmt. Maq m ist der Tempel, der Zion, Jerusalem als Wallfahrtsort und Stadt JHWHs.12 Der „Ort“ wird durch „Recht“ und „Gerechtigkeit“ bestimmt. Wenn sie als Begriffspaar auftauchen – sie sind hier nur aus stilistischen Gründen getrennt – geht es um das „Richtige“ in ethischer, politischer, juristischer, kultischer und theologischer Dimension und zwar alles zugleich (Dtn 32,4; Zeph 3,5; Ps 119, 137; Hi 34,17; Ps 1,5; 37,30; Prv 12,5; 21,15; Hab 1,4).13 „Recht und Gerechtigkeit“ ist der alttestamentliche Begriff für „Heil“. Sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft und ihre Institutionen (darin vor allem der Herrscher) sind aufgerufen, sie zu verwirklichen. Sie sind Konkretionen der Gegenwart Gottes. Der Gegenbegriff Ra¯ˇsaC kennzeichnet alles, was dieser Ordnung entgegen steht und zwar willentlich und wissentlich. Ra¯ˇsaC ist praktizierte Gott-Losigkeit.14 Ein besonders eindrückliches Bild von dem, was mit Ra¯ˇsaB gemeint ist, zeichnet Jes 59. Ra¯ˇsaC als summarischer Begriff für den Feind aller Ordnung begegnet vor allem in den Psalmen15 und im Proverbienbuch.16 Während die Sprüche darauf vertrauen, dass Gottlosigkeit sich selbst zerstört, bitten die Psalmen 9 Außerdem ist der Satz rhythmisch gestaltet: meq m hammisˇpat. ˇsa¯ma¯h ha¯ræsˇaC umeq m has.s.ædæq ˇsa¯ma¯h ha¯ra¯ˇsaC. 10 Vgl. T. Krüger, BK, 179. 11 Vgl. J. Gamberoni, ThWAT IV (1984), 1116. 12 Ders., A. A.O., 1124. 13 Vgl. B. Johnson, ThWAT VI (1989), 907 f. 14 H. Ringgren, ThWAT VII (1993), 675 – 683. 15 82 Belege: Ders., A. A.O., 679 f. 16 80 Belege: Ders., A. A.O., 680 f.

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Recht und Gerechtigkeit

darum, dass JHWH Frevel und Frevler vernichten möge. Die beiden Haltungen schließen einander nicht aus. Kohelet ruft mit der „Stätte“ von „Recht und Gerechtigkeit“ eine Institution auf, die deren Durchsetzung gewährt. Wenn aber an der Stätte von Recht und Gerechtigkeit Frevel ist, dann können sie nicht mehr durchgesetzt werden.17 Dabei steht wesentlich mehr auf dem Spiel als ein funktionierendes Justizwesen.18 Im Zusammenhang mit Salomo haben „Recht und Gerechtigkeit“ ihren Ort in Ps 72.19 Dass er mit JHWHs Hilfe dessen Recht und Gerechtigkeit verwirklichen möge, wird in diesem Psalm erbeten. Zu Kohelets Zeit lag der Psalm bereits in seiner erweiterten und aktualisierten Fassung vor, nach der die Durchsetzung der Heilsherrschaft von einem kommenden Davididen erwartet wird. Kohelet schließt sich nicht der „messianischen“ Hoffnung an, sondern entwickelt sein Programm im Blick auf gegenwärtige Herrschaft. 3,17 formuliert zunächst eine völlig orthodoxe Einsicht: Gott richtet Gerechte und Frevler und zwar in dem Sinne, dass er den Gerechten gerecht und den Frevler schuldig spricht. Genau dies äußert Salomo in seinem Tempelweihgebet 1Kön 8,32.20 Dieses Gericht ist aber von 3,1 – 8 her bestimmt. Wenn es für jedes Vorhaben seine Zeit gibt, dann gilt das auch für Gerechtigkeit und Frevel. „Insofern vollzieht sich im Wechsel der Zeiten zugleich auch so etwas wie ein ,Gericht Gottes‘ – wenn auch in einem etwas anderen Sinne als gemeinhin angenommen wird.“21 Kohelet macht damit deutlich, dass die Welt sich nicht schematisch in „Frevler“ und „Gerechte“ einteilen lässt: Jeder ist fähig, zu seiner Zeit das eine oder das andere zu tun. Das ist nicht so unkonventionell, wie es den Anschein haben mag. Die priesterliche Sühnetheologie rechnet mit einer Vielzahl von Vergehen, die in die Kategorie Frevel fallen. Geschehen sie jedoch ohne bewusste Absicht, kann der Frevel durch Sünd- und Schuldopfer beseitigt werden, ohne den Täter zu vernichten.22 Im Unterschied zur priesterlichen Theologie bindet Kohelet die Beseitigung des Frevels und die Vernichtung des Frevlers nicht an kultische Zeiten und Normen, sondern an die letztlich nicht durchschaubare „Gottes-Zeit“.23 Wie und wann man sich Gottes Richten unter diesem Horizont vorzustellen hat, muss Kohelet natürlich offen lassen. 17 Vgl. T. Krüger, BK, 179 f. 18 Aus diesem Grund ist völlig ausgeschlossen, dass hier einfach Orte der Rechtsprechung gemeint sind (so aber A. Schoors, Preacher 2, 294; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 280). 19 Analyse: M. Saur, Königspsalmen, 132 – 153. 20 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 281; T. Krüger, BK, 180. A. A. Fischer, Apokalyptik, 341 f. möchte den ganzen Vers der Bearbeitung zuweisen, weil a) Kohelet eine traditionelle Ansicht äußert; b) „Ich sprach in meinem Herzen“ bei Kohelet keinen Sachverhalt schildert und c) das Verb „richten“ im Buch nur hier vorkommt. Tatsächlich leitet die Formel aber eine Überlegung ein, die sich auf die Beobachtung von V. 16 bezieht. Das Verb verdankt sich dem intertextuellen Bezug auf 1Kön 8. 21 T. Krüger, BK, 180. 22 Vgl. zu dieser Theologie grundlegend B. Janowski, Sühne. 23 Vgl. T. Krüger, BK, 180.

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Koh 3,16 – 22

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In V. 17bb ist – vermutlich von derselben Hand wie 12,14 – die Vorstellung eines Jenseitsgerichts eingetragen worden. Für den Eintrag spricht zunächst nicht so sehr ein inhaltlicher Maßstab, sondern die ungewöhnliche Sprachgestalt. Es handelt sich zwar um ein paralleles Bikolon, doch ist es eine Nachahmung dessen, was Kohelet vorgibt. Wie sich gezeigt hat, formuliert Kohelet seine Spitzenaussagen sehr präzise. Hier jedoch werden Inhalt und Form nur unvollkommen aufeinander abgestimmt. „Wegen“ (Cal) soll den tatsächlichen Gerichtsgedanken unterstreichen und unterscheidet sich somit vom bewusst unbestimmten le, „bezüglich“. Das als Substantiv verwendete „dort“ ist ungewöhnlich. Es nimmt das ˇsa¯ma¯h von V. 16 auf, meint aber etwas anderes: die Totalität von „jede Tat“ macht eine Identifikation mit dem Ort der Gerechtigkeit unwahrscheinlich.24 Auch V. 18 ist ein Eintrag. Kohelet stellt nie zwei Selbstgespräche direkt hintereinander25 und schließt an „ich dachte bei mir“ auch kein direktes Objekt an. Möglicherweise dient der Eintrag zur Verstärkung der Niedrigkeitsaussage. Falls dies so ist, liegt das nicht ganz auf der Linie Kohelets, der die Gleichheit der Geschöpfe betont, nicht die Niedrigkeit der Menschen.

3,19 – 20 wechselt zur anthropologischen Perspektive über : Wenn Gott undurchschaubar hinter Zeit und Zeiten steht, dann steht die Frage nach dem blinden „Geschick“ im Raum (vgl. auch 2,14 ff.). Der Tod als Gleichmacher taugt darum so wenig zur Unterscheidung zwischen Gerechtem und Frevler wie zwischen Weisem und Toren. Die Einsicht über das Geschick ist in 3,19 nach demselben Muster formuliert wie 2,14: das Geschick der Menschen – und das Geschick der Tiere – ein Geschick – eines – für sie (k miqræh bene¯ Ba¯da¯m umiqræh habbehe¯ma¯h miqræh Bæhad la¯hæm). Das eine Geschick für . beide steht hier betont am Schluss. Entfaltet wird dies durch die ebenfalls gebundene Aussage, wörtlich „wie dessen Tod, so dessen Tod“. Die Gleichheit von Mensch und Tier belegt Kohelet mit einem Verweis auf die Schöpfung. Erstens haben beide denselben Geist (r ah. ). Es bedeutet hier „Atem, Lebenskraft“, das vitale Selbst, das Mensch und Tier zu Lebewesen macht.26 Zweitens sind beide aus derselben Materie, nämlich Staub, zu dem sie im Tod auch wieder zurückkehren. Die Gleichheit der Geschöpfe bezüglich Atem und Staub stammt aber nicht aus Gen 2, sondern aus Ps 104,29 f.27 Dort dient die Gleichheit der Geschöpfe dazu, Gottes Majestät zu unterstreichen, auf die alle Geschöpfe gleichermaßen angewiesen sind.28 Ps 104, 35 schließt aber nun auch 24 Vgl. A. A. Fischer, Apokalyptik, 343. Anders F. J. Backhaus, Zeit, 134. Zur Deutung durch L. Schwienhorst-Schönberger, Nicht im Menschen, 115 – 117 vgl. T. Krüger, BK, 181. Dass V. 17bb aus derselben Hand stammt wie 12,14, ist naheliegend, vgl. D. Michel, Untersuchungen, 250; A. A. Fischer, Apokalyptik, 344. 25 Vgl. auch A. A. Fischer, Apokalyptik, 341. 26 Vgl. T. Zimmer, Tod, 13 f. 27 Sowohl der Atem (Gottes) als auch die Rückkehr zum Staub werden Gen 2,7; 3,19 nur vom Menschen ausgesagt. Vgl. zum Atem aber auch Gen 6,17; 7,15.22. 28 Zu Ps 104 vgl. H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989

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Recht und Gerechtigkeit

mit dem Wunsch, dass die Frevler von der Erde vertilgt werden mögen – die Majestät des Schöpfergottes setzt also in letzter Konsequenz Recht und Gerechtigkeit durch. Auf dieser Linie denkt Ps 49 weiter. Zwar sind die Menschen untereinander und die Tiere gleich im Hinblick auf den Tod und ihre Angewiesenheit auf Gott (Ps 49,8 – 13). Doch der weise (!) Beter weiß (oder hofft), dass es im Tod noch einen Unterschied gibt: Die Frevler (Ps 49,6) ziehen ins Totenreich wie Schafe (Ps 49,14 – 15), den Weisen aber wird Gott aus der Gewalt des Totenreichs loskaufen (Ps 49,16). In Ps 49 wird „die individuelle Fortexistenz eines Teils der Menschen über den Tod hinaus ausdrücklich der Vernichtung der Tiere im Tod gegenübergestellt. Genau diese Differenzierungen sind es, die in Koh 2,14 – 16 … und 3,19 – 21 in Frage gestellt werden.“29 Kohelet argumentiert also mit Ps 104 gegen Ps 49 und die Theologie, die er vertritt.30 Er betont dies noch, indem er einschärft, dass der Mensch gegenüber den Tieren keinen Vorzug hat. M ta¯r gehört demselben Stamm an wie jitr n, „Gewinn“, und wird in Prv 14,23; 21,5 genauso verwendet. Es könnte tatsächlich darauf hinweisen, dass der Mensch keine zusätzliche substanzhafte Größe bei sich hat, die ihn vom Tier unterscheidet. Wahrscheinlicher ist ein stilistischer Grund, die Assonanz von „Tod“ (m t), „Ort“ (maq m) und m ta¯r.31 Die „Flüchtig“-Aussage schließt 3,19 ab und fügt sich völlig kohärent in die Argumentation: Wenn alle einen Atem haben, ist auch alles gleich flüchtig. In 3,20 wird derselbe Gedanke im Hinblick auf die Herkunft vom und die Rückkehr zum Staub entfaltet. Hierbei werden Gen 3,19 (vom Staub kommen) und Ps 104,29 (zu Staub werden) kombiniert und mit Hinweis auf den einen Ort bekräftigt. „Ein Ort“ ist die räumliche Entsprechung zu „Ein Geschick“ und meint das Totenreich. Zugleich aber wird auf 3,16 zurückverwiesen: Der irdische Skandal, dass die Stätte von Recht und Gerechtigkeit zur Stätte des Frevels werden, muss damit korreliert werden, dass im Tod Frevler und Gerechte an demselben Ort sein werden. Eine endgültige Entscheidung darüber ist nicht an menschliche Zeiten und – in diesem Fall – Räume gebunden. V. 21 unterstreicht die Gleichheit von Mensch und Tier noch einmal in Form einer didaktischen Frage. Die Form dient bei Kohelet dazu, einen Gedankengang zu betonen32. Hier klappt sie jedoch nach und fügt dem bereits abgeschlossenen Argument ein weiteres hinzu. Das Gegensatzpaar ist mit dem für Kohelet typischen vorange-

29 30 31 32

(FRLANT 148), 21 – 49; T. Krüger, „Kosmo-Theologie“ zwischen Mythos und Erfahrung. Ps 104 im Horizont alttestamentlicher und altorientalischer „Schöpfungs“-Konzepte, in: Ders., Kritische Weisheit. Studien zur weisheitlichen Traditionskritik, Zürich 1997, 91 – 120. T. Krüger, BK, 185. Ps 49 gehört in die theologische Tradition der „Relativierung des Todes durch die alles bestimmende Gottesrelation“: M. Leuenberger, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im Alten Israel, Tübingen 2011 (FAT 76), 123 – 126. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 393 f. Vgl. A. A. Fischer, Apokalyptik, 351.

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Koh 3,16 – 22

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stellten Objekt formuliert, das Vokabular ist indes untypisch. „Erde“ hat hier möglicherweise die Konnotation von Unterwelt.33 Nach allgemeiner Ansicht nimmt die Frage einen populären Satz auf, den sie kritisch zur Disposition stellt.34 Unklar ist allerdings, ob der Satz das Aufsteigen des Menschengeistes in Frage stellt35, die zugrundeliegende Annahme eines Unterschiedes36 oder ob er darauf zielt, dass es sich um Spekulation handelt.37 Inhalt, Form und Stil von 3,21 würden gut zum Bearbeiter Z passen, eine Entscheidung lässt sich aber nicht treffen.

3,22 formuliert die Schlussfolgerung mit Verweis auf das empirisch Beobachtbare: Ein gelingendes Leben gibt es nur jetzt und hier. Kohelet verallgemeinert seine Erfahrung von 2,10 ff. Wenn es zwar keinen Gewinn aus der Mühe gibt, so gibt es doch das Los der Freude. Hier wird jetzt das Los gegen das Geschick geltend gemacht. Das Los der Menschen besteht in Freude, weil und obwohl er seinem Geschick nicht entkommen kann. Das beantwortet die Frage von 2,3 „Was gut ist für die Menschen“. Die Antwort lautet: Freude empfinden. Dass die Freude hier absolut steht, ohne durch „essen und trinken“ ergänzt zu werden, verdankt sich erneut der Auseinandersetzung mit Ps 104. Er schließt: „ich freue mich an JHWH … mögen die Frevler nicht mehr sein.“ Die Existenz der Frevler ist keine Gefahr für die Freude, und dies greift Kohelet auf. Der Verweis auf die Unmöglichkeit, die Zukunft vorherzusagen oder zu vorherzusehen schärft dies zusätzlich ein: Nur die Gegenwart bietet Gelegenheit zum Handeln. Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen, ist eine Primäraufgabe des Herrschers. Um sie zu erfüllen, bedarf es der Einsicht in ihr Wesen. Kohelet setzt bei der Beobachtung an, dass Frevel und Frevler sich dort aufhalten, wo eigentlich Gerechtigkeit herrschen sollte. Nach allgemeiner Ansicht müsste dieses Missverhältnis zum Tod der Frevler führen. Doch der Tod ist allgemein menschliches Schicksal bzw. ein dauerhaftes Gericht über den Menschen. Richtiges Handeln muss sich daher daran bestimmen, ob die Gottesfurcht angemessen berücksichtigt wird. Der in diesem Sinne weise und gerechte König Salomo (vgl. 1Kön 3,16 – 28) hat Israel und Juda die Möglichkeit gegeben, selbst „zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein“ (1Kön 4,20). Hier liegt der „historische“ Zielpunkt der Argumentation.

33 A. Schoors, Preacher 2, 187. 34 D. Michel, Untersuchungen, 117; F. J. Backhaus, Zeit, 140; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 284; T. Krüger, BK, 184. 35 So D. Michel, Untersuchungen, 118. 36 T. Krüger, BK, 184; M. Leuenberger, Gott, 138. 37 A. A. Fischer, Apokalyptik, 354 f; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 285.

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Neid

Neid Koh 4,1 – 6 4,1 Und ich wandte mich zurück. Und da sah ich die Unterdrückungen, die unter der Sonne getan werden. Und siehe – die Tränen der Unterdrückten, und sie haben keinen Tröster. Und von der Hand ihrer Unterdrücker geht Gewalt aus, und sie haben keinen Tröster. 4,2 Und ich pries1 die Toten, die schon gestorben sind, mehr als die Lebenden, die noch2 leben. 4,3 Und noch glücklicher als beide den3, der nie gelebt hat, der nicht ansehen muss die schlechte Tat, die unter der Sonne getan wird. 4,4 Und ich sah: Alle Mühe und alles erfolgreiche Tun – es ist nur Neid des einen auf seinen Nächsten. Auch dies ist flüchtig und Greifen nach Wind. 4,5 Der Tor legt seine Hände in den Schoß und verzehrt sein eigenes Fleisch: 4,6 „Besser eine Handvoll Ruhe als zwei Handvoll Mühe!“ (und Greifen nach Wind). Nach dem Ergebnis von 3,22 setzt 4,1 neu an und wendet sich noch einmal einer vergleichbaren Thematik zu. Wiewohl es keine theologische Unterscheidung zwischen Gerechtem und Frevler gibt, ist das Unrecht damit noch nicht beseitigt. Kohelet sucht also nach einem neuen Zugang zum Thema „Recht und Gerechtigkeit“. Die Antwort lautet, dass Unrecht durch Neid motiviert ist. 4,1 – 6 sind eine geschlossene Einheit, jedoch eng mit dem Vorigen verknüpft. Recht und Unrecht werden auch hier vom Tod aus betrachtet. Auch hier steht eine „Besser“-Aussage am Schluss. Anders als im vorigen Abschnitt aber geht es in 4,16 nicht um den Tod als Geschick, sondern um die Toten in ihrem Verhältnis zu den Lebenden. Der Abschnitt beginnt 4,1 mit einem neuen Verb. ˇsabt , „ich wandte mich zurück“. Es handelt sich nicht, wie im vorigen Abschnitt, um eine zusätzliche Beobachtung, sondern um einen neuen Untersuchungsvorgang, der gezielt und bewusst in Angriff genommen wird.4 Da ˇs b die Rückkehr zum Ausgangspunkt anzeigt, greift Kohelet auf seine erste Lebensaufgabe zurück. Die Fortsetzung mit „sehen“ zeigt, dass es um die weisheitliche Untersuchung allen menschlichen Handelns geht. Der bei Kohelet seltene Narrativ kenn1 2 3 4

Der Infinitiv ersetzt vermutlich das finite Verb, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 178. Wahrscheinlich Kontraktion aus Cad, „bis“ und hinne¯h, „jetzt“, vgl. Ders., A. a. O., 117. Der Ausdruck ist abhängig von „ich pries“: Ders., A. a. O., 191. Vgl. D. Michel, Untersuchungen, 251; A. Schellenberg, Erkenntnis, 187. Anders M.V. Fox, Time; A. Schoors, Preacher 2, 67.294; T. Krüger, BK, 164 f.187; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 290: ˇsabt als Ausdruck der Wiederholung: „und wiederum sah ich“.

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Koh 4,1 – 6

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zeichnet einen neuen Vorgang: Kohelet fängt noch einmal von vorne an. Damit ist diese Untersuchung von seiner persönlichen Erfahrung zwar unabhängig, aber selbstverständlich mit den damit verbundenen Erkenntnissen verknüpft. Kohelet richtet seinen Blick auf „Unterdrückungen“, die getan werden. CAsˇ q m bezeichnet einen aggressiv lebensfeindlichen Sachverhalt;5 als Handlung müsste man es sachgemäß mit „Terror“ übersetzen. Wiewohl es in der Prophetie auf wirtschaftliche Ausbeutung zugespitzt wird (exemplarisch Mi 2,1 – 10), umfasst es jede Form von Schädigung. In Ps 72,4 – also im unmittelbaren Bereich der Salomotradition – ist es das „Beispiel unmenschlichen und widergöttlichen Verhaltens schlechthin“6 (vgl. auch Ps 146,7 – 9). Kohelet ruft also ein ähnlich gewichtiges Wort und denselben Kontext auf wie im vorigen Abschnitt. 4,1 bleibt zunächst unpersönlich („tun“ im Passiv), richtet aber dann den Blick auf die Opfer. Die Formulierung „Tränen der Unterdrückungen“ bleibt zwar unpersönlich, doch die durchgängige Verwendung des Intensivplurals mit unterschiedlicher Perspektive verstärkt die Wucht des Begriffs. Kohelet bleibt bei den Opfern, wenn er den Unterdrückungen Gewalt zuschreibt. Das Leid der Opfer wird nicht nur durch die „Tränen“ gekennzeichnet, sondern mit dem wiederholten „und sie hatten keinen Tröster“ noch unterstrichen. Kohelet ruft hier das größtmögliche Leid auf (vgl. Klgl 1,2.9.17.21). Erneut macht Kohelet auf einen Skandal aufmerksam, den er auf geradezu prophetische Weise formuliert. Deutlicher als im vorigen Abschnitt wird jedoch, dass es sich nicht nur um eine Diagnose handelt, sondern um eine Anklage. Das doppelte „und sie haben keinen Tröster“ weist auf ein Versagen. Vom „Tröster“ (Menah. e¯m) wird konkrete Hilfe erwartet7 – und die Beseitigung von CAsˇ q m gehört nicht nur in die Verantwortung des Königs, sondern auch in die der Kultgemeinde (Lev 5,20 – 26; 19,11 – 14).8 Hier werden mehr noch als bei Recht und Gerechtigkeit auch die Priester in die Pflicht genommen. Kohelets Reaktion in 4,2 treibt die Schockwirkung auf die Spitze. Sˇa¯bah. , „lobpreisen“ wird sonst nur auf Gott als Objekt gerichtet (Ps 63,4; 106,47; 117,1; 145,4; 147,12; Dan 2,23; 4,31.34). Der Lobpreis der Toten ist im Alten Testament singulär und wird in 4,3 noch gesteigert durch den Lobpreis dessen, der nie gelebt hat.9 Nie gelebt zu haben, ist der schlimmste aller nur denkbaren Todesaspekte, aber nur dies würde einem Menschen den Anblick alles Schlechten ersparen. Hier meint raC vermutlich wirklich „böse“. 4,4 leitet die aus der Beobachtung abgeleitete Schlussfolgerung ein. Sie tut nichts, um Kohelets scharfe Anklage zu erleichtern, im Gegenteil: Alles 5 6 7 8 9

E. Gerstenberger, ThWAT VI (1989), 441 f. Ders., A. a. O., 444. Vgl. H. Simian-Yofre, ThWAT V (1977), 366 – 384. E. Gerstenberger, ThWAT VI (1989), 444. Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 164 f.; T. Krüger, BK, 187.

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Neid

Handeln und dessen Resultat sind nur durch Neid motiviert. QinBa¯h ist der leidenschaftliche Neid, die Eifersucht und die Habgier. Während Gottes Leidenschaft letztlich positives Kennzeichen seiner Einzigartigkeit ist, ist die menschliche Form tadelnswert.10 Nach Prv 23,17 soll der Mensch einzig nach der Gottesfurcht „eifern“ – diese Stelle liegt im Horizont der Kohelet’schen Reflexion über den Neid. Die Nennung des Nächsten (re¯Ca¯) ruft gezielt Lev 19 in Erinnerung: Man soll ihn nicht „terrorisieren“ (Ca¯ˇs q: Lev 19,13), sondern „lieben“ (Lev 19,11). Die abschließende „Flüchtig“-Aussage tendiert hier zum Widersinnigen. Denn anders als der Gerechte und der Frevler, der Weise und der Tor ist der Nächste kein Gegenstand normativer Definition, er erklärt sich sozusagen von selbst.11 Sich auf seine Kosten zu bereichern, ist daher – gerade im Hinblick auf die Gleichheit der Geschöpfe – widersinnig. Die abschließende „Flüchtig“-Aussage unterstreicht dies.12 4,5 zitiert ein Sprichwort: Der Faule erweist sich dadurch als Tor, dass er die Gefahren der Faulheit nicht erkennt (vgl. Prv 6,10 f.; 10,4 f.; 12,11.24.27).13 Der Spruch ist selbstevident und in Übereinstimmung mit der Tradition. Er ist sehr bildhaft formuliert. Der (faule) Tor „schmust“ (h. a¯baq, vgl. 3,5) seine Hände und merkt nicht, dass er sich dabei selbst schadet. Möglicherweise hat Kohelet das Verb eingesetzt, um den Bezug zu 3,14 herzustellen. Wer nicht weiß, wann es Zeit zum Handeln ist, erweist sich als Tor. Der nachfolgende Spruch 4,6 ist Kohelets erster „Besser“-Spruch. Der Form nach eine traditionelle Weisheitsgattung, könnte er dem Wortgebrauch zufolge von Kohelet selbst verfasst sein. Er dürfte ein Zitat des Faulen/Toren darstellen, bei dem ironisch das Wenige dem Vielen gegenübergestellt wird.14 Dass er im Unrecht ist, hat V. 5 deutlich gemacht.

10 Vgl. E. Reuter, ThWAT VII (1993), 51 – 62. 11 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass re¯Ca¯ in Lev 19, wahrscheinlich auch noch bei Kohelet den Landsmann bezeichnet, nicht den Mitmenschen. 12 Obwohl QinBa¯h, „Neid“ nicht wurzelverwandt ist mit dem Namen Kain (von qa¯nah, „erwerben“), ließe sich erwägen, ob spätestens durch die „Flüchtig“-Formel nicht doch Gen 4 eingespielt wird. Die Erzählung ist die narrative Ausformulierung der Beobachtung Kohelets. 13 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 62; C. Klein, Kohelet, 121. 14 An dieser Stelle dürfte die Zitatentheorie im Recht sein, vgl. D. Michel, Untersuchungen, 140; F. J. Backhaus, Zeit, 162. Ein goldener Mittelweg (so L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 295; T. Krüger, BK, 189 f.) ist dagegen kaum im Horizont des Textes.

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Koh 4,7 – 12

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Besser Zwei als Einer Koh 4,7 – 12 4,7 Und ich wandte mich zurück. Und da sah ich „Flüchtiges“ unter der Sonne: 4,8 Da ist einer, und da ist kein Zweiter. Nicht Sohn noch Bruder gibt es für ihn. Und da ist kein Ende aller seiner Mühe, und seine Augen werden1 am Reichtum nicht satt: „Und für wen mühe ich mich ab und lasse meiner Seele Gutes mangeln?“ Auch das ist flüchtig und ein leidiges Geschäft. 4,9 Besser Zwei als Einer allein, die2 guten Lohn in ihrer Mühe haben. 4,10 Denn wenn sie fallen, richtet einer den anderen auf. Wehe dem Einen, der fällt, und hat keinen Zweiten3, ihn aufzurichten! 4,11 Auch wenn Zwei beieinander liegen, wird ihnen warm. Aber Einer – wie kann ihm warm werden? 4,12 Und wenn auch jemand einen Einzelnen überwältigt4 – zwei können ihm standhalten. Und eine dreifache Schnur reißt nicht so leicht. 4,7 – 12 behandelt das Alleinsein bzw. die Vorzüge der Gemeinschaft. Nach dem leidenschaftlichen Ton der beiden vorigen Abschnitte, wird es jetzt wieder ruhiger. Im vorigen Abschnitt hatte Kohelet jeden persönlichen Erfolg auf Neid als Triebfeder zurückgeführt. Aus diesem Grund muss er jetzt klären, unter welchen Voraussetzungen menschliche Gemeinschaft sinnvoll und notwendig ist. Der Abschnitt ist in sich geschlossen. Er wird – wie der vorige Abschnitt mit „Und ich wandte mich um. Und da sah ich“ eröffnet und endet mit der sachlich abschließenden Sentenz 12b. Dazwischen variiert der Text „Einer“ und „Zwei“ als Leitworte. 4,7 beginnt noch einmal mit dem prononcierten: „Und ich wandte mich um. Und da sah ich“, das wie im vorigen Abschnitt den Überblick über das ganze Leben unter einer neuen Fragestellung anzeigt. Auch hier gibt es wie in 4,1 – 6 ein direktes Objekt des Sehens, allerdings nicht Unrecht, sondern hæbæl. Kohelets Programmwort ist hier erstmalig das Objekt der Untersuchung. Die anschließende Beobachtung wird also von vornherein als etwas Widersinniges qualifiziert.5 4,8 schildert das „Widersinnige“, das Kohelet beobachtet. Ein Einzelner 1 Numerusinkongruenz zwischen Subjekt (Plural) und Prädikat (Singular). Eine Änderung ist nicht erforderlich, vgl. BHQ. Das Phänomen kommt im Alten Testament häufig vor. 2 Es ist weder nötig, die Relativpartikel konditional aufzufassen (vgl. dazu T. Krüger, BK, 169) noch kausal (so Krüger selbst, Ebd.). Der relativische Anschluss ergibt einen guten Sinn, der Inhalt dieser Wahrnehmung wird im Folgenden erläutert. 3 Zur Form weB l vgl. A. Schoors, Preacher 1, 149. 4 Unpersönliches Subjekt mit Suffix 3. Person als (proleptischem) Objekt, vgl. dazu A. Schoors, Preacher 1, 154.162.190. 5 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 299.

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Besser Zwei als Einer

müht sich allein und ohne Familie bis zur Erschöpfung ab. In einem Zitat lässt Kohelet diesen Mann sogar selbst zu Wort kommen. Es handelt sich also um jemanden, der hart arbeitet, reich wird, aber dabei zu keinem Genuss kommt.6 Dass der Reichtum erwähnt wird, könnte den Neidgedanken aufgreifen,7 aber auch einen verdeckten Hinweis auf Salomo enthalten.8 Indes hat Salomo Söhne gehabt, der Text betont aber ausdrücklich, dass es keinen Sohn noch Bruder gibt. Wenn Mühe und Erfolg durch Neid motiviert sind, aber nichts Materielles vererbt werden kann, ist das in der Tat widersinnig. Sir 11,18 hebt auf diesen Gedanken umgekehrt ab, wenn er betont, dass der Lohn des Geizes darin besteht, dass man seine Güter nicht mitnehmen kann. Die Wiederholung des „leidigen Geschäfts“ zeigt, dass es Kohelet nicht nur um materielle Güter geht, sondern auch um die Weitergabe von Weisheit und Wissen. Kohelets Beobachtungen in diesem und im vorigen Abschnitt zeigen eine Aporie auf: Einerseits produziert menschliches Miteinander einen geradezu tödlichen Konkurrenzkampf, andererseits muss es Gemeinschaft geben, um Erwirtschaftetes, einschließlich Traditionen und Erkenntnissen weiterzugeben. Vor diesem Hintergrund wendet sich Kohelet dem Sinn menschlicher Gemeinschaft zu. 4,9 beginnt mit einem „Besser“-Spruch. Wie im vorigen Abschnitt ist auch dieser „Besser“-Spruch nur im Kontext überraschend, nicht aber als Einzelwahrnehmung9 ; wahrscheinlich greift er einen traditionellen Spruch auf. Die Weiterführung 9b dürfte allerdings von Kohelet selbst stammen. S´a¯ka¯r, „Lohn“ bezeichnet die Entlohnung des Arbeiters in Geld oder Naturalien; altorientalische und biblische Lohntarife versuchen, ihn ausreichend für das Lebensnotwendige zu gestalten.10 Bei Kohelet selten (nur noch 9,5), gehört er trotzdem in das semantische Feld von „Los“ und „Geschick“. Zwar erwirbt man Lohn (oder zumindest Anspruch darauf), doch zugeteilt wird er von einem anderen. Im Unterschied zum „Los“ und zum „Geschick“ ist Gott am Lohn aber völlig unbeteiligt, sondern er ist eine rein zwischenmenschliche Angelegenheit. Das heißt, „Gutes“ oder „Freude“ sind hier nicht im Blick, wohl aber sehr konkretes Wohlergehen: Das, was ein Mensch für den anderen tun kann. Damit entwirft Kohelet das Gegenbild zum Neid des vorigen Abschnitts und führt dies in Vv. 10 – 12 aus. In 4,10 geht es um konkrete Unterstützung in Notfällen, vielleicht auch Trost oder materielle Hilfe: Ein einzelner ist hilflos. V. 11 schildert zwischenmenschliche Wärme, die hier von der Reise bis zur Erotik alles umfassen kann. V. 12 schließlich spielt auf Überfälle und Gefahren an11. Gemeinschaft 6 7 8 9

Vgl. Ebd. Vgl. T. Krüger, BK, 191 f. liest den Text als Warnung vor Habsucht. Vgl. A. Reinert, Salomofiktion, 127. S. dazu C. Klein, Kohelet, 95 – 105. Zu 4,9: 98 f. Klein lässt mit 4,9 einen neuen Abschnitt beginnen. 10 Belege bei E. Lipin´ski, ThWAT VII (1993), 798 – 800. 11 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 301.

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Koh 4,7 – 12

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hat somit ihre lebensnotwendigen Seiten, wenn sie auch in tödlichen Neid umschlagen kann.12 Am Schluss dieser kurzen Reflexion nimmt Kohelet mit der „dreifachen Schnur“ auch die größere Gemeinschaft in den Blick.13 Mindestens das Wort von der dreifachen Schnur, wenn nicht sogar weitere Teile der Reflexion über den Vorteil der Gemeinschaft kommen bereits im Gilgamesch-Epos vor. Wie Christoph Uehlinger plausibel gemacht hat14, handelt es sich hier wohl nicht um direkte literarische Abhängigkeit. Vielmehr ist die ganze Spruchgruppe „unabhängig vom Gilgameschepos in der internationalen Spruchüberlieferung tradiert, dabei modifiziert und erst in modifizierter Gestalt in Qoh 4 angekommen.“15 Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für die sachliche Übereinstimmung mit Ilias X, 224 – 226.16

12 Es ist erneut zu überlegen, ob sich Kohelet in 4,1 – 6.7 – 12 nicht zumindest lose an der Genesis orientiert. Indes kehrt er die Reihenfolge um: Ist die Schöpfung der Tiere und der Frau in Gen 2 durch die Einsamkeit des Menschen motiviert, die nicht gut (!) ist und folgt dann erst der tödliche Neid der Brüder (!), so verhandelt Kohelet erst den Neid und dann die Gemeinschaft. Ein rechter Gebrauch der Weisheit muss also nicht zu Mord und Totschlag führen. Hingegen dürften sich hinter den sehr allgemein gehaltenen Vorteilen der Gemeinschaft kaum Anspielungen auf den Tod verbergen (so L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 300 f.). 13 4,12 macht damit Anleihen beim „gestaffelten Zahlenspruch“. Die etwas sperrige Formulierung am Versbeginn dürfte sich der Gestaltung mit dem betonten „Einer“ – „Zwei“ – Drei verdanken (nach C. Klein, Kohelet, 84 eine „Wortpyramide“), vgl. 2,14; 3,19. 14 C. Uehlinger, Qohelet, 180 – 183. 15 Ders., A. a. O., 183. 16 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 302.

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Wer wird König?

Wer wird König? Koh 4,13 – 16 4,13 Besser ein Kind, arm, aber weise, als ein König, alt, aber töricht, der nicht mehr versteht1, sich warnen zu lassen. 4,14 Selbst wenn einer2 aus dem Gef ngnis3 kam, um Kçnig zu werden, auch in seiner Herrschaft wurde ein Bed rftiger geboren. 4,15 Ich sah alle Lebenden, die unter der Sonne wandelten: bei dem Kind ist ein zweites das an seine Stelle tritt. 4,16 Kein Ende war des ganzen Volks, des ganzen, das vor ihnen4 war. Doch die Sp teren hatten keine Freude mehr daran. Denn auch dies ist fl chtig und Streben nach Wind. 4,13 – 16 bildet den Schlussabschnitt des Ersten Teils. Kohelet beendet seine Überlegungen zu Weisheit und Herrschaft mit einer Summe über den geeigneten Herrscher : Weisheit ist wichtiger als Alter, Reichtum oder dynastische Legitimität. Ausgeführt wird dies mit einem Beispiel aus der Geschichte. Der Abschnitt ist in sich geschlossen, bietet aber ungewöhnlicherweise die Beobachtung nach der Sentenz. Überdies ist die thematische und auch stilistische Kohärenz des Abschnitt schwer zu ermitteln. Vv. 14 – 16 sind ein Nachtrag. 4,13 eröffnet den Abschnitt mit einem „Besser“-Satz. Obwohl es hier um den (eigentlich selbstverständlichen) Vorrang der Weisheit vor der Torheit geht, formuliert der Satz gerade keine Selbstverständlichkeiten.5 Zum einen gilt alttestamentlich, dass „Kinder“ eben nicht weise sind. Vielmehr bedürfen sie ja gerade der Erziehung zur Weisheit. Ein weises Kind ist daher eigentlich eine Unmöglichkeit.6 Der im „Besser“-Spruch angezielte Überraschungseffekt liegt also im Gegensatz Kind-weise vs. Alt-töricht. Kohelet formuliert jedoch einen „überfüllten“7 Spruch:

1 Perfekt, hier aber wahrscheinlich in präsentischer Funktion: A. Schoors, Preacher 1, 174, anders T. Krüger, BK, 174. 2 Der Satz ist grammatisch auf den König von V. 13 bezogen: „Denn aus dem Gefängnis ging er heraus, um zu herrschen“. Die Übersetzung hier mit T. Krüger, BK, 199. 3 Vgl. A. Schoors, Preacher, 1,40 f. 4 Gemeint sind die beiden Herrscher des vorigen Verses. Die Versionen korrigieren zum Singular, vgl. BHQ. 5 Anders T. Krüger, BK, 200. 6 Vgl. dazu M. Köhlmoos, Generation, 26 f. 7 Vgl. C. Klein, Kohelet, 100.

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Koh 4,13 – 16

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Besser Kind arm weise Als alt töricht König

Zudem wird der König durch einen „sinntragenden Nachsatz“8 noch weiter qualifiziert: Seine Torheit liegt offenbar darin, dass er sich trotz seines Alters nicht mehr raten lässt.9 Weisheit allein macht also noch keinen König, vielmehr muss dieser seine Weisheit bis ins Alter darin zeigen, dass er sich auch beraten lässt. Es ist möglich, dass Kohelet-Salomo hier andeuten will, dass er mit seiner Weisheit am Ende ist und es daher Zeit für ihn wird, abzutreten. Das würde sich durchaus in die Gattungsvorgabe des Königstestaments fügen: Bevor es zu Torheiten des Königs kommen kann, gibt er seine Weisheit weiter, solange er noch im Vollbesitz seiner Kräfte ist.10 Denkbar ist in diesem Zusammenhang eine Art Zugeständnis an die kritische Salomotradition, nach der Salomo am Ende seiner Herrschaft Fehler machte und sich so seine Widersacher selbst verdankte.11 Wahrscheinlich reißt der Vers aber noch ein weiteres Spektrum auf. Das hier verwendete Wort für „arm“ (miske¯n) bezeichnet den sozialen Aufsteiger, d. h. jemanden, der nicht in die königliche Familie hineingeboren wird12. D.h. neben dem Gegensatz „weise“/ „töricht“ wird der Gegensatz „Dynastie/nichtdynastische Herrschaft“ reflektiert: Entscheidend ist die Weisheit, nicht das Alter oder die Herkunft. Damit ist Kohelet wieder beim Thema von 2,17 – 19: Herrscherkompetenz vererbt sich nicht auf dynastischem Weg. Denkbar ist in diesem Zusammenhang eine leise Affinität zu messianischen Texten, die die Armut und die Weisheit des Heilskönigs betonen.13 In jedem Fall bildet 4,13 vermutlich den Abschluss des ersten Teils des Buches Kohelet und wurde ursprünglich unmittelbar durch 4,17 fortgesetzt.

8 9 10 11

Ebd. So T. Krüger, BK, 200. Vgl. die Einleitung zur Lehre des Ptahhotep: TUAT I, 197. 1Kön 11,14 – 26. In der deuteronomistischen Perspektive auf die Herrschaft Salomos lässt es Salomo nach der zweiten Ermahnung durch JHWH (1Kön 9,1 – 9: dort wird ein „reines Herz“ angemahnt, kein weises!) an der rechten Amtsführung mangeln, was dann in der sog. „Reichsteilung“ (1Kön 11,29 – 12,20) endet. Die Septuaginta überliefert über Salomos Rivalen Jerobeam eine Erzählung, die erheblich von der masoretischen Fassung abweicht (3Bas 12,24az): Demnach war Jerobeams Aufstand durch politisches Ungeschick verursacht, nicht als Strafe für Salomos Abfall von JHWH. Dieser Jerobeam ist ein sozialer Aufsteiger, also „arm“. Zum Verhältnis der verschiedenen Überlieferungen s. A. Schenker, Jeroboam and the Division of the Kingdom in the Ancient Septuagint, in: A. de Pury/T. Römer/D. Macchi (Hg.), Israel Consructs Its History. Deuteronomistic Historiography in Recent Research, Sheffield 2000 (JSOT.S 306), 214 – 257. 12 Vgl. dazu A. Schoors, Preacher 2, 443 f. 13 Jes 11,2; Jer 23,5; Sach 9,9, s. dazu T. Krüger, BK, 201.

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Wer wird König?

4,14 – 16 bilden eine Fortschreibung zu V. 13. Bereits V. 14 ist sprachlich schwierig, weil der Anschluss an V. 13 nicht ganz klar erkennbar ist. Das Perfekt „er ging heraus“ ist ein Vergangenheitstempus, das Perfekt von V. 13 ist präsentisch. Das Verb bezieht sich grammatisch auf den „alten“ König. Er wäre aus dem „Gefängnis“ zur Herrschaft gekommen. Der Arme (ra¯ˇs), der in V. 14 geboren wird, entspricht lexikalisch nicht dem armen Kind von V. 13. Soll trotzdem gesagt werden, dass der Alte ungeeignet ist, weil er die Armut nicht beseitigt hat? Dann wäre zusätzlich ein dritter Gegensatz aufgemacht, nach dem Fürsorge für die Schwachen das eigentliche Kriterium des Königs wäre. Wenn sich V. 14 sachlich auf das Kind bezieht, „wird das Problem der Armut selbst dann nicht beseitigt, wenn der neue Herrscher selbst aus geringen Verhältnissen stammt.“14 Dann wäre ebenfalls die klare Gegenüberstellung des (besseren) Kindes gegenüber dem (schlechteren) Alten aufgehoben. Die Schwierigkeiten setzen sich in V. 15.16 fort. V. 15 beginnt mit einem „Ich sah“, das hier deplaciert ist, weil es umgekehrt zum Bisherigen die These mit der Beobachtung belegt. Überdies hat „Ich sah“ ein direktes Objekt bei sich, ungewöhnlich für Kohelet. Der Vers setzt aber anscheinend voraus, dass der König von V. 14 das Kind von V. 13 ist. Aber hier wandelt sich noch einmal der inhaltliche Fokus. Geht es in Vv. 13 – 14 um die Eignung eines Herrschers, so in Vv. 14 – 15 um den Wechsel der Volksgunst, die dann doch wieder enttäuscht wird. Inhaltlich würde dies gut zum Bearbeiter Z passen, doch die sprachliche Gestalt ist auch für ihn eher ungewöhnlich. Sowohl Thomas Krüger als auch Kurt-Dietrich Schunck lesen in 4,14 – 16 Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse. Nach Krüger15 bezieht sich die Episode auf den Thronwechsel Ptolemaios‘ IV. (222 – 204) auf Ptolemaios V. (204 – 180), der mit sechs Jahren aufgrund einer Intrige König wurde. Der Vorgänger Ptolemaios IV. wird von den antiken Historikern als unfähiger und dem Luxus ergebener König geschildert. Krüger stellt aber selbst fest, dass Ptolemaios IV. weder alt noch Ptolemaios V. arm war. Für V. 15 – 16 verweist Krüger auf eine vergleichbare Debatte aus Arist 288 um den geeigneten Herrscher. Wenn aber die Tendenz des Abschnitts dahin geht, Herrschaft an sich von zu hohen Erwartungen zu befreien – wozu dann der mehr oder weniger konkrete Verweis auf die beiden Ptolemäer? Kurt-Dietrich Schunck setzt den Text anders an: In Koh 4,13 – 16 spiegeln sich die Thronwirren um Antiochos II. (261 – 246) und Antiochos III. (222 – 187).16 Schuncks Analyse beruht aber auf einigen schwierigen Übersetzungsentscheidungen. Da Ptolemaios V. und Antiochos III. um die Vorherrschaft in Syrien-Palästina stritten (5. Syrischer Krieg), könnten sogar beide Herrscher gemeint sein. Mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich in Koh 4,14 – 16 um Anspielungen auf aktuelle Ereignisse, die indes nicht mehr aufzuhellen sind, da der Text sprachlich und inhaltlich nicht völlig durchsichtig ist. Es handelt sich um eine Fortschreibung, die im Stile Kohelets („Ich sah“, „unter der Sonne“, „vor ihnen“ als Herrschaftsterminus, „die Späteren“, 14 T. Krüger, BK, 203. 15 T. Krüger, BK, 200 f. 16 K.-D. Schunck, Drei Seleukiden im Buche Kohelet?: VT 9 (1959), 192 – 201.

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Koh 4,13 – 16

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„Freude“) formuliert ist, aber diesem nicht entspricht. Die Herkunft des Abschnitts muss offen bleiben. Mit 4,13 kommt Kohelets grundsätzliche Erwägung zum Ende. Am Beispiel seines eigenen Lebens und seiner eigenen Herrschaft hat Kohelet-Salomo entwickelt, dass Weisheit sich darin bewährt, dass sie um Tod und Kontingenz weiß. Nur unter diesem Horizont sind Lebensfreude und Gottesfurcht möglich. Am Leben und am Tod zeigt sich nicht, dass und ob jemand ein Gerechter oder ein Frevler ist. Vielmehr ist der Tod ein allgemeines Geschick und gegenwärtiges menschliches Handeln dadurch bestimmt, dass der Mensch dem Mitmenschen seinen Erfolg neidet. Rechtes Handeln muss daher von den Gegebenheiten des Todes und der fallenden Zeiten bestimmt sein. In diesem Sinne wird der „Nachfolger“ im folgenden Buchteil instruiert.

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Kult und Weisheit

Kult und Weisheit Koh 4,17 – 5,6 4,17 Achte auf deine Füße, wenn du zum Haus Gottes gehst. Und nähere dich1, um zu hören. Eine Gabe der Toren ist das Schlachtopfer2. Denn sie wissen nicht, dass sie Schlechtes tun. 5,1 Sei nicht vorschnell mit deinem Mund, und dein Herz übereile sich nicht, ein Wort vor Gott zu bringen. Denn Gott ist im Himmel und du auf der Erde, darum seien deine Worte wenige. 5,2 Denn es kommt ein Traum bei großer Geschäftigkeit3, und die Stimme des Toren bei vielen Worten. 5,3 Wenn du Gott ein Gelübde ablegst, zögere nicht, es zu erfüllen. Denn es gibt kein Gefallen an den Toren. Was du gelobst, das erfülle! 5,4 Besser, du gelobst nicht, als dass du gelobst und nicht erfüllst. 5,5 Lass nicht zu, dass dein Mund dein Fleisch dazu bringt zu sündigen, und sprich nicht vor dem Boten: „Es ist ein Versehen!“ Warum sollte Gott zornig werden über deine Stimme und zunichte machen das Werk deiner Hände? 5,6 Ja, bei der Menge der Träume und der Nichtigkeiten und der Menge der Worte, da fürchte Gott! Der zweite Teil des Buches wird mit einer Reihe von Anweisungen zu kultischem Verhalten eröffnet. Kohelet mahnt seinen Zuhörer, sich im Tempel, bei Gelübden und Gebeten in einer Weise zu verhalten, die der Gottesfurcht entspricht. Der Abschnitt ist in sich geschlossen und besteht aus vier Teilen. Die ganze Einheit ist durch den eröffnenden Imperativ „Beachte“ und den abschließenden Imperativ „Fürchte Gott“ gerahmt. „Gott“ ist das Leitwort des Abschnitts (Sechs Mal: 4,17; 5,1.3.5.6).4 Der Abschnitt ist durch die Aufnahme zentraler Begriffe mit dem vorigen Teil verknüpft, so dass Kohelet wichtige Aspekte seiner vorigen Reflexionen in Gestalt der Mahnung weitergibt. Aufgegriffen werden „Torheit“ (vgl. 2,14.16; 1 Der Inf. abs. tritt für den Imperativ ein: A. Schoors, Preacher 1, 171.179. 2 MT mitte¯t setzt einen wie immer gearteten Vergleich voraus. Deswegen liest die Tradition hier häufig einen unvollständigen „Besser“-Satz: „Es ist besser, nahezutreten, um zu hören als Schlachtopfer zu bringen“, vgl. BHQ. Die Alternative ist, das min bei mitte¯t im Sinne von „anstatt“ zu lesen, so z. B. T. Krüger, BK, 206. Die Umpunktation von mitte¯t zu mattat, „Gabe“ (vgl. 3,18; 5,18) macht die wenigsten Schwierigkeiten, vgl. A. Vonach, Nähere Dich, 41; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 310. Zur Diskussion um die Übersetzungs- und Verständnismöglichkeiten vgl. N. Lohfink, Warum ist der Tor unfähig, böse zu handeln? (Koh 4,17), in: Ders., Studien, 83 – 87. 3 Wörtlich: in der Größe des Geschäfts. 4 Vgl. weitere Gliederungen bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 311; T. Krüger, BK, 207; N. Lohfink, Tor, 87 f. Es handelt sich indes nicht um eine poetisch geformte Einheit.

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Koh 4,17 – 5,6

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4,13) und „Gottesfurcht“ (3,14). Die Gottesfurcht, die in 3,1 – 14 theoretisch begründet wurde, soll sich jetzt praktisch bewähren und zwar in „weisem“ kultischen Verhalten. Die Wurzel „Weisheit“ erscheint zwar nicht, aber dreimal ist prononciert vom „Toren“ die Rede. Hier ist der angesprochene Hörer zum Mitdenken aufgefordert: Sich nicht wie ein Tor zu verhalten, heißt, sich wie ein Weiser zu verhalten, ohne dass er direkt zur Weisheit aufgefordert wird. Insofern gibt Kohelet nicht nur inhaltliche Mahnungen weiter, sondern leitet auch aktiv zur Weisheit an. Dabei steht das „Herz“ betont in der Mitte der Mahnungen. Im Kontext des Koheletbuches ist der Abschnitt in gewisser Weise überraschend. Das Thema „Kult“ spielte bisher keine Rolle und wird auch im weiteren Buchkontext nicht sonderlich dominant sein. Die Eröffnung der Anrede an den Hörer mit einer Aufforderung zur Gottesfurcht, die vielen Erwähnungen Gottes und das Fehlen der „Flüchtig“-Formel machen 4,17 – 5,6 jedoch zu einem der theologisch zentralen Abschnitte des Buches.5 Es sind aber nicht nur sachliche Gründe für diese wichtige Funktion. Auch narrativ – d. h. im Horizont der Salomofiktion – markieren 4,17 – 5,6 einen Wendepunkt im Buch. Die erste Anrede an den Hörer wiederholt auf seine Weise die Gibeon-Szene von 1Kön 3, spielt aber auch noch andere Elemente der Salomotradition ein. Dafür sprechen folgende Verweise: 1. Die prononcierte Erwähnung der „Schlachtopfer“ im Kontext mit dem Übergang von der Torheit zur Weisheit ruft den Beginn des Traums in Gibeon ab. Wegen der Schlachtopfer auf den Kulthöhen, wird er von der Tradition getadelt (1Kön 3,3).6 2. „Nähere dich, um zu hören“ spielt das „hörende Herz“ der Bitte Salomos ein (1Kön 3,9). 3. „Dein Herz übereile sich nicht“ wiederholt die Situation, nach der es die „Weisheit“ der Bitte Salomos war, die JHWH gefiel. 4. Die im Kontext von Koh 4,17 – 5,6 wenig motivierte Erwähnung der Träume (5,2.6) verweist direkt auf 1Kön 3, wonach Salomos Gottesbegegnung im Traum stattfand (1Kön 3,5.15). 5. „Gott ist im Himmel“ (5,1) bezieht sich auf den Refrain des Tempelweihgebets 1Kön 8,43 – 61 (Vv. 27.30.34.36.39.43.45.49). 6. 1Kön 8,40 stellt die Vergebung in den Kontext der Gottesfurcht. Durch diese gezielten Verweise wird deutlich, dass Salomo als Diskursgründer zwar nicht über priesterliche Spezialkompetenzen verfügt, das notwendige theologische Wissen, das zum Kult gehört, aber durchaus besitzt. Der Herrscher ist somit integraler Bestandteil des Kultes. Ausgeführt wird dieser jedoch von den Priestern und Kultspezialisten. Damit wird die Theologie der 5 Zu dieser Zentrumsfunktion vgl. auch N. Lohfink, Tor, 88 f.; Ders., Strukturen, 109 f. jedoch mit anderer Begründung. 6 Nach dtr. Theologie ist das Opfer außerhalb des Jerusalemer Tempels illegitim.

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Kult und Weisheit

Chronik umgedreht, nach der die Könige die Herrschaft JHWHs im Grunde als Ausführungsorgan der Priesterschaft durchführen. Kohelet-Salomo optiert hier für eine Trennung nach Kompetenzen. Unter diesem Horizont werden die Mahnungen erteilt. Sie zielen darauf, den möglichen Nachfolger – also den nächsten König – auch hinsichtlich des Kultes auf seine Herrschaft vorzubereiten. Dabei ist 4,17 – 5,6 einer der stärksten autoritativ gestalteten Abschnitte des Buches. Kohelet spricht hier nicht mehr als Forscher oder Lehrer, sondern apodiktisch.7 Die erste Aufforderung 4,17 „Achte auf deine Füße!“ ist teils kultisch konnotiert, teils bildhaft zu verstehen. Der Fuß (rægæl) kommt mit Straßenschmutz in Berührung, deswegen wäscht man die Füße beim Betreten eines Hauses (2Sam 11,8; Gen 18,4; 19,2 u. ö.). Priester waschen sich die Füße vor Beginn ihres Dienstes (Ex 30,19.21; 40,31). Möglicherweise waschen sich auch Laien die Füße vor dem Besuch des Tempels, ziehen zumindest aber ihre Schuhe aus (Ex 3,5; Jos 5,15). Da die „Füße“ auch ein Euphemismus für den Unterleib sind, sind vermutlich weitere hygienische Maßnahmen mit angesprochen.8 Es geht dabei nicht nur um Hygiene, sondern um die Entfernung von Unreinheit.9 Dieses – für Laien angemessene – Minimum an Beachtung von Reinheitsvorschriften ist der erste Aspekt der Mahnung. Das Verb ˇsa¯mar, „beachten“, ist eines der Leitworte deuteronomischer Theologie und daher von nicht geringem Nachdruck (vgl. exemplarisch Dtn 4,2). Zweitens stehen die „Füße“ vor allem in der Weisheit und den Psalmen metaphorisch für einen gottgefälligen Lebenswandel (vgl. Ps 119,101; Prv 1,15; 4,27).10 Die Mahnung in 4,17 tendiert also nicht nur auf „Andacht“11, sondern auf Kultfähigkeit in ritueller und moralischer Hinsicht. Die zweite Mahnung fordert zum Hören auf. Qa¯rab, „sich nähern“, ist der technische Begriff für die kultische Kontaktaufnahme mit Gott, überwiegend zum Opfer, aber auch für Gebete und Orakelanfragen, für Rituale etc.12 „Hören“ bestimmt hier die Kontaktaufnahme. Ausgeschlossen werden damit zunächst einmal andere Kulthandlungen: Selbst sprechen, „Suchen“ bzw. „Fragen“, also die Orakelanfrage,13 und die Opferhandlung. Sˇa¯maC bezeichnet sowohl „hören“ als auch „gehorchen“. Die beiden Anweisungen bilden eine Assonanz ˇsem r – lisˇmoaC, also ist wahrscheinlich auch sachlich ein Zusammenklang angezielt: So, wie sich Kohelets Zuhörer im Einklang mit bestimmten Verhaltensregeln befinden soll, wenn er zum Tempel geht, soll er 7 Vgl. zu den Sprechakten ausführlich: T. Hieke, Wie hast du’s mit der Religion? Sprechhandlungen und Wirkabsichten in Kohelet 4,17 – 5,6, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 319 – 338. 8 Vgl. F.-J. Stendebach, ThWAT VII (1993), 335 f. 9 Vgl. B. Ego, Art. Reinheit/Unreinheit/Reinigung: www.wibilex.de 10 Vgl. F.J. Stendebach, ThWAT VII, 339; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 312. 11 Vgl. dazu T. Krüger, BK, 207. 12 Vgl. J. Milgrom, ThWAT VII (1993), 149 – 160. 13 Vgl. J. Milgrom, A.a.O., 153.

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Koh 4,17 – 5,6

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auch im Tempel sich regelkonform verhalten, also – im weitesten Sinne – gehorchen.14 Der nachfolgende Satz verbindet Schlachtopfer (zæbah. ) mit Torheit und formuliert mit dem für Kohelet typischen vorangestellten Objekt. Beim Schlachtopfer wird das Opfertier vorschriftsmäßig geschlachtet und Teile davon als Opfer verwendet. Der Rest wurde privat verzehrt, dem Tempel übergeben oder anderweitig verwendet.15 Ursprünglich Israels älteste Opferart, hatte „am zweiten Tempel das Schlachtopfer mit einigen Ausnahmen (Passa (2Chr 35), Priesterweihe-Riten (Ex 29,19 ff.; Lev 9), Wochenfest (Lev 23,15 ff.) nur noch geringe Bedeutung in den offiziellen Ritenzeremonien, wurde aber bei diesen Anlässen als selbstverständliche Beigabe von einem Israeliten erwartet (Num 23,38; Num 29,39).“16 Von höherer Bedeutung waren das Brandopfer und die verschiedenen Formen der Sünd- und Schuldopfer. Wenn Kohelet das Schlachtopfer in Zusammenhang mit Torheit bringt, drückt er möglicherweise aus, dass die Bedeutung dieses Opfers falsch eingeschätzt wird und dem Schlachtopfer eine zu hohe Bedeutung zugemessen wird. Kohelet berührt sich hier aber auch mit Texten, die moralisches Verhalten bzw. die Befolgung der Tora höher einschätzen als die Gabe von Schlachtopfern (Prv 21,3; Sir 34,21 ff.; 35,8 ff.). Ohne das Opfer grundsätzlich abzulehnen, ist die richtige Gesinnung der „Darbringung von Opfern gleichwertig und könnte diese prinzipiell ersetzen.“17 Das steht bei Kohelet im Kontext des Beachtens und Gehorchens und bereitet somit auf eine Gott würdige Weise kultischer Betätigung vor.18 So scharf opferkritisch wie mancher Prophet wird er jedoch nicht.19 Der Versschluss gehört zu den vieldiskutierten Sätzen des Buches Kohelet, nicht zuletzt, weil unklar ist, mit welcher Nuance Kohelet hier raC, „schlecht, böse“ verwendet.20 Da es bei Kohelet aber überwiegend „schlecht, unnütz“ bedeutet, dürfte es auch hier diese Bedeutung haben. Entscheidend ist ohnehin, dass der Tor nicht „erkennt“, dass er falsch handelt. Er weiß es nicht 14 Meist wird mit „Hören“ übersetzt und auf Schriftlesung, Gebete oder Gesänge verwiesen: T. Krüger, BK, 207; A. Schellenberg, ZüBK, 91 u. a. Es wäre noch die priesterliche Tora als das hinzuzufügen, was man hören kann. 15 S. dazu G. Ulrike Dahm, Art. Opfer: www.wibilex.de. Ausführlich: Dies., Opferkult und Priestertum in Alt-Israel: Ein kultur- und religionswissenschaftlicher Beitrag, Berlin/New York 2003 (BZAW 327). 16 Dies., Art. Opfer : www.wibilex.de. 17 T. Krüger, BK, 208. 18 Auffallend ist außerdem das Verb „geben“. Im Zusammenhang mit Schlachtopfern ist es nur Ex 10,25 verwendet, dort aber als Weitergabe des Opfertiers (F.J. Backhaus, Zeit, 176). Eventuell wendet sich Kohelet gegen die Stiftung von Opfern, deren Begründung Torheit ist (Vgl. T. Krüger, BK, 206). Berücksichtigt man aber, dass „essen und trinken“ 3,13 explizit als Gabe Gottes bezeichnet werden, scheint die Verwendung des Fleisches zu anderen Zwecken in den Horizont der Torheit zu gehören. 19 1Sam 15,22 steht Koh 4,17 immerhin im Vokabular nahe. S. außerdem Jes 1,19; Jer 7,23; Hos 6,6. 20 Diskussion bei N. Lohfink, Tor, 86 f.

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besser und ist darin dem Weisen unterlegen. Auf die Annahme seines Opfers durch Gott hat das wahrscheinlich keinen Einfluss (vgl. 3,17). Für Kohelet steht im Vordergrund, dass sein Zuhörer sich seiner bewusst ist, wenn er sich im Bereich des Kultes befindet.21 5,1 befasst sich mit dem Gebet. Dabei deutet „vor Gott bringen“ an, dass Kohelet hier im Kontext des Tempels bleibt.22 Den Anlass und die Situation des Gebets nennt Kohelet nicht. Entscheidend sind „Besonnenheit und Herzensruhe“23, wobei die direkte Kontaktstellung von „Herz“ und „Mund“ bedeutsam ist. Sie sind gerahmt von zwei Verben, die Eile bezeichnen24. Das erste, ba¯hal, ist zwar in der Weisheit (Prv 28,22; 20,21) und unter aramäischem Spracheinfluss (Dan 2,25; 3,24; 6,20; 2Chr 26,20; 35,21; Est 2,9; 8,14)25 in etwa mit „hasten“ wiederzugeben, hat aber daneben die Konnotation von Panik durch die Begegnung mit dem Unheimlichen und dem Schrecken, auch und nicht zuletzt dem Erschrecken vor Gott.26 Auch das zweite Verb hat deutliche theologische Obertöne: ma¯har, „eilen“, wird in deuteronomistischen Texten verwendet, wenn es um den schnellen Abfall Israels von JHWH geht (Ex 32,8.16; Ri 2,17; Ps 106,13) bzw. es kennzeichnet JHWHs schnelle Reaktion beim Abfall (Dtn 9,3; 4,26; 7,4). In der eschatologischen Tradition vom Tag JHWHs als Dies irae kommen beide Verben gemeinsam vor (Zeph 1,14.18).27 Neben dem gut weisheitlichen Ratschlag zur Besonnenheit ist hier also auch eine theologische Dimension mitzuhören. Sie ist von Kohelets Zeitlehre 3,1 – 15 her bestimmt. Berücksichtigt der Hörer das Wissen um die rechte Zeit und ihren Zusammenhang mit Gott und seiner Zeit, ist „Furcht und Zittern“ unangemessen. Der Mund spricht dann aus, was im Herzen stattfindet28 : Das Bewusstsein des unerreichbaren Gottes. Mit „Gott ist im Himmel und Du auf der Erde“ ruft Kohelet zwar den betenden Salomo aus 1Kön 8 ab, dort wird aber nicht dieser Abstand benannt. Im Gegenteil: 1Kön 8 vertraut darauf, dass Gott vom Himmel her auf Israel achtet. Kohelet hingegen macht den Abstand zur Voraussetzung eines rechten Gebets. Hier wird räumlich-kultisch umge21 Vgl. so auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 313; T. Krüger, BK, 207. Ob hier „unvernünftige“ Kultpraktiken anderer „toleriert“ werden können oder sollen (Ebd.), steht dahin. Eher wird der Tor hier gründlich abgewertet, vgl. N. Lohfink, Tor, 93 f.: „Dieser unernsthaft lebende Typ von Menschen … ist wirklich zu letzter Bosheit unfähig, aber nur deshalb, weil er auch nicht in die positiven Möglichkeiten menschlicher Existenz gekommen ist. Er ist religiös emsig. Was Gottesfurcht ist, weiß er dennoch nicht.“ 22 Vgl. D. Dieckmann, Worte, 212. Das schließt eine nicht-kultische Gebetspraxis keineswegs aus, vgl. dazu M. Leuenberger, Art. Beten (AT): www.wibilex.de. 23 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 313. 24 Angesichts der Gestaltung ist denkbar, dass Kohelet hier ein geprägtes Wort aufnimmt, das im Kontext aber über die übliche Besonnenheitsmahnung der Weisheit hinausgeht. 25 Vgl. B. Otzen, ThWAT I (1973), 521. 26 1Sam 28,21; Beim Tod: Lev 26,16; Ps 78,33; Jer 15,8 u. ö. Vor Gott; Hi 21,6; und im Zusammenhang mit dem Tag JHWHs: Ps 48,6; 83,16.18; Ex 15,15; Jes 13,8; Zeph 1,18 u. ö.: Ders. A.a.O., 522 f 27 Vgl. H. Ringgren, ThWAT IV (1984), 714 f. 28 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 296. Unerwarteterweise steht in Koh 5,1 der Mund vor dem Herzen.

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setzt, was in 3,1 – 15 in zeitlich-geschichtlichen Dimensionen gedacht wurde. Gott ist nicht „fassbar“, darum sollten Gebete sich auf das Notwendigste beschränken.29 5,2 verknüpft die Menge der Worte und die Torheit in einem traditionell anmutenden Spruch, der gleichwohl von Kohelet selbst stammen dürfte30. Darauf deutet das Schlüsselwort Cinja¯n, „Geschäft, Unterfangen“, auch: „Beschäftigung“. Es wird die Gleichung aufgemacht: viel Beschäftigung = Traum und viele Worte = Torheit. Kohelet bezeichnet mit Cinja¯n fast immer den mühsamen Weisheitserwerb (1,13; 2,23.26; 3,10; 4,8; 8,16). Hier wird eine Korrelation zwischen „viel Beschäftigung“ und dem Traum hergestellt. Kohelet re-inszeniert damit die Gibeonszene 1Kön 3 für seinen Zuhörer : Im Zusammenhang mit dem Weisheitserwerb kommt es zum – für Salomo alles entscheidenden – Traum, d. h. zur Begegnung mit Gott.31 Der Traum (H. a¯l m) als Offenbarung Gottes ist im Alten Testament Salomo und Jakob (Gen 28,10 – 20) vorbehalten.32 Die alttestamentlichen Propheten empfangen ihre Visionen zwar gelegentlich bei Nacht (Jes 29,7; Sach 1 – 8), für den Vorgang werden jedoch andere Termini verwendet.33 Der Traum als legitimes Offenbarungsmittel ist im Alten Testament umstritten: Stehen Salomo und Jakob für eine positive Haltung zu dieser Frage, so votieren Jer 23,25; Dtn 13,2 – 6 dagegen. Num 12,6 – 8 stellt in diesem Zusammenhang einen Kompromiss und eine Entscheidung dar : Er „vertritt ein eindeutiges Privileg der Tora gegenüber aller weiteren Wortoffenbarung, sei sie prophetischer, sei sie priesterlicher Natur.“34 Kohelet vertritt unter Rückgriff auf die salomonische Autorität in dieser Debatte ein positives Votum für den Offenbarungstraum: Unter Beachtung kultischer und ethischer Regeln durch den potentiellen Träumer, und unter der Voraussetzung, dass dieser sich ernsthaft mit (Kohelets!) Weisheit auseinandersetzt, kann ihm ein Traum zuteilwerden. Dieser ist legitim, wohingegen sich eine Menge Worte35 als Torheit erweisen wird. Kohelets positive Haltung zum Traum hängt vermutlich mit der Hochschätzung der Träume in hellenistischer Zeit zusammen (vgl. Hi 33,14 ff.; Dan

T. Krüger, BK, 210. A. Vonach, Nähere dich, 48. Anders T. Krüger, BK, 209. 1Kön 3,5: „Da erschien ihm (ra¯Ba¯h Pass.) JHWH im Traum bei Nacht.“ Außerdem eine kurze Notiz zu Abimelech (Gen 20,3). Zum Phänomen des Traums im Alten Testament vgl. den Überblick bei J. Lanckau, Art. Traum: www.wibilex.de. Obwohl vom Phänomen der „Offenbarung“ her plausibel dargestellt, unterscheidet Lanckaus Darstellung jedoch nicht hinreichend zwischen Traum und prophetischer Vision. Zumindest einigen biblischen Texten ist diese Unterscheidung aber wichtig. 34 R. Achenbach, König, 211. 35 Es ließe sich erwägen, ob nicht im zweiten Versteil ein Stück Polemik steckt: Das Deuteronomium, das der Schlüsseltext mosaischer Autorität in der Vermittlung der Offenbarung ist, beginnt mit „Dies sind die Worte, die Mose sprach…“ (Dtn 1,1). Zur Bedeutung von Dtn 1,1 – 5 als Schlüsseltext des Mosediskurses vgl. E. Otto, Rechtshermeneutik, 80 f.

29 30 31 32 33

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Kult und Weisheit

2; 4; 7), Kohelets Zeitgenosse Sirach vertritt eine entschiedene Gegenposition (Sir 34,1 – 7).36 5,3 – 4 befassen sich in einer zusammenhängenden Anweisung mit dem Gelübde. Nædær ist ein wesentlicher Bestandteil israelitischer religiöser Praxis: Es handelt sich um ein feierliches, bindendes Versprechen vor der Gottheit, etwas zu tun oder zu lassen. Häufig verbindet sich damit die Erwartung oder Hoffnung auf Gottes Reaktion:37 „Es lässt sich generalisierend sagen, dass in Israel das Gelübde bei allen Nöten des Volkes oder des Einzelnen als Mittel galt, Gottes Hilfe herauszufordern.“38 In der Regel wird es durch eine materiale Gabe an Gott bekräftigt (Vgl. Dtn 12,6.11). Kohelet schärft 5,3 seinem Zuhörer ein, ein Gelübde unverzüglich zu erfüllen und zitiert dabei wörtlich Dtn 23,22a. Die Begründung unterscheidet sich jedoch. Während Dtn 23 die Vergeltung JHWHs in Aussicht stellt, falls ein Gelübde nicht erfüllt wird, verwendet Koh 5,3 den kultisch konnotierten Terminus h. e¯pæs. , „Gefallen“.39 Ein unerfülltes Gelübde ist Torheit und findet Gottes Gefallen40 nicht, was in der Konsequenz auf die Vergeltung von Dtn 23 hinausläuft, hier aber mit einer Anleihe an priesterlicher Sprache formuliert ist. Kohelet-Salomo inszeniert sich in priesterlicher Rolle, und unter Rückgriff auf Tora-Worte. Darin wird erneut deutlich, dass der König in Kohelets Perspektive durchaus auch über kultisch-theologische Kompetenzen verfügt. Mit einem „Besser“-Spruch wird die Anweisung in 5,4 bekräftigt.41 5,5 schärft erneut die Bedeutung des Wortes bzw. der Rede ein: Lass nicht zu (wörtlich: „Gib nicht“), dass dein Mund dein Fleisch zur Sünde bringt. Dass der Sünder vor Gott nur eine Minderexistenz führt, hatte schon 2,26 angesprochen. Hier erst wird deutlicher, was Kohelet mit „Sünde“ meint: nämlich die Verfehlung des Mundes – das voreilige Reden, das in V. 2 mit einer Herzensverirrung parallelisiert wird. Hier hat der Mund seine Auswirkungen auf das „Fleisch“, d. h. den Körper, das materiale Selbst. Mit diesem Stichwort stellt Kohelet seine Mahnung in den Horizont seines Selbstexperiments von 2,3. Der Umgang mit dem Körper – selbst wenn er in Schwelgerei besteht – muss vom Herzen durch Weisheit geführt werden. Erst jetzt wird deutlich, dass Kohelet durchaus damit rechnet, dass ein Abweichen von der Weisheit zu

36 Vgl. T. Krüger, BK, 209. Anders L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 314 f.: Eine übermäßige religiöse Beschäftigung führt zur „Illusion“ eines falschen religiösen Bewusstseins. Damit ist aber zum einen die Beschäftigung nicht im Sinne Kohelets aufgefasst, zum anderen geht der Traum im Alten Testament selten mit einer Illusion daher – allenfalls mit einer (nichtsdestoweniger realen) Täuschung. 37 O. Kaiser, ThWAT V (1986), 263 f. (mit Belegen). 38 Ders., A.a.O., 270. 39 Vgl. oben zu 3,1. 40 Dass das „Missfallen der Mitmenschen“ zumindest mitgesetzt ist (so A. Vonach, Nähere dich, 50; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 312), dürfte weniger wahrscheinlich sein. 41 S. dazu C. Klein, Kohelet, 99.

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Sünde führen kann.42 Eine Konkretion erfolgt nicht, statt dessen kommt es auf die möglichen Konsequenzen an. Ein h. at.Ba-Vergehen muss gesühnt werden, auch wenn Kohelet mit der möglichen Strafe abweichend von der regelhaften Definition rechnet.43 Das Alte Testament unterscheidet zwischen willentlich und wissentlich begangenen Vergehen, die nicht gesühnt werden können, und solchen, die „versehentlich“ begangen werden. Sˇa¯gah kennzeichnet grundsätzlich einen Zustand der Führungs- und Orientierungslosigkeit.44 Welche Vergehen durch sega¯ga¯h, „Verwirrung“ besser vielleicht: „Fahrlässigkeit“ erklärt und somit gesühnt werden können, regeln Lev 4; 5; Num 15,35. Anscheinend zitiert Koh 5,5 das konkrete Vorgehen: Man äußert vor dem Priester45 : „Es ist eine sega¯ga¯h“ und kann (vermutlich nach einer Prüfung) mit der entsprechenden Sühnehandlung rechnen. Kohelet schärft ein, es gar nicht so weit kommen zu lassen – was angesichts seines weiten Sündenbegriffs auch nicht verwundern kann. Unter dem Horizont von 2,26 ist Sünde nicht durch Sühne zu beseitigen. Wie ernst es ihm damit ist, belegt die – durchaus nicht nur rhetorisch gemeinte Frage – ob der Zuhörer Gottes Zorn und seinen Vernichtungswillen auf sich laden will. Qa¯s. ap ist der Gegenbegriff zu h. e¯pæs. (V. 3), Gottes Unmut, der sich im Gerichtshandeln entlädt und Num 16,21 f.; Jes 34 grausige Formen annehmen kann.46 In der weisheitlichen Form der Frage macht sich Kohelet hier sowohl priesterliches als auch prophetisches Vokabular zu eigen. V. 6 bildet den Höhepunkt und Abschluss dieser solennen Mahnung: Der Zuhörer soll Gott fürchten, also Gott als Herrn der Welt anerkennen (mag er noch so undurchschaubar sein) und zwar in den Träumen, im Reden und in den „Nichtigkeiten“.47 Mit dieser Zusammenfassung von Weisheit und Kult im salomonischen Horizont ist der Zuhörer auf die nachfolgenden Instruktionen vorbereitet, gewissermaßen in die salomonische Nachfolge eingeführt.

42 Dass „dein Fleisch“ hier nur ein Ersatz für „Dich“ ist (L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 316), ist wenig wahrscheinlich, vgl. T. Zimmer, Tod, 18. 43 S. oben zu 2,26. 44 T. Seidl, ThWAT VII (1993), 1059 – 1061. Das Adjektiv „meschugge“ ist davon abgeleitet. 45 Für den Priester als Boten vgl. Mal 2,7. 46 F.V. Reiterer, ThWAT VII (1993), 95 – 104. 47 Habal m bezeichnet hier sinnlose und unsinnige Kultpraktiken, vgl. T. Krüger, BK, 211.

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Recht, Macht, Gerechtigkeit

Recht, Macht, Gerechtigkeit Koh 5,7 – 8 5,7 Wenn du Unterdrückung des Armen und den Raub von Recht und Gerechtigkeit in der Provinz siehst, dann wundere dich nicht über diese Angelegenheit. Denn ein Höherer überwacht von oben einen Hohen und über ihnen der Allerhöchste.1 5,8 Und ein Gewinn für ein Land ist es bei all dem2 : ein König für ein beackertes Feld. Der kleine Abschnitt bildet einen Übergang zwischen dem programmatischen Auftakt der Instruktionen und der folgenden langen Sequenz 5,9 – 6,9. Er verbleibt im Modus der Anrede und führt in dieser die anklagenden Beobachtungen von 3,16 – 4,6 zu Ende. Aufgegriffen werden Ca¯ˇsaq, „Unterdrückung“ (vgl. 4,1), Recht und Gerechtigkeit (vgl. 3,16 – 22), h. e¯pæs., „Angelegenheit/Gefallen“. Durch das Stichwort „König“ ist der Abschnitt mit 4,13 – 16 verbunden.3 4,7 versetzt den Zuhörer in die Situation von 3,16 – 22; 4,1 – 6 zurück, variieren aber die Formulierung. Statt „ich sah“ formuliert die Anrede „Wenn du siehst“. An dieser Stelle befindet sich die Narration der Salomofiktion gewissermaßen im Niemandsland zwischen dem „Nicht mehr“ Kohelet-Salomos und dem „Noch nicht“ seines Zuhörers und Nachfolgers. Dass die beobachteten Zustände wieder oder weiter geschehen, ist vorausgesetzt – Kohelet hatte sie zuvor ja als anthropologische Grundgegebenheiten reflektiert, die dennoch nicht vom Handeln entlasten. Die zuvor einzeln reflektierten Missstände werden jetzt in umgekehrter Reihenfolge zusammengefasst und neu bestimmt. Statt der allgemeinen Ca¯ˇsaq, „Unterdrückung“, spricht Kohelet jetzt von der Unterdrückung des Armen. Ra¯ˇs ist der materiell Arme, der in der Regel im Zusammenhang mit dem Reichen erwähnt wird.4 Recht und Gerechtigkeit werden jetzt als Sachverhalte geschildert, die „Raub“ (ga¯zal) unterliegen. Gemeint ist das gewaltsame Wegreißen einer Sache von ihrem Eigentümer oder ihrem Ort.5 Nach Lev 19,13 gehört Raub zu den besonders schwerwiegenden Vergehen, nach Prv 22,22 zieht er die Vergeltung JHWHs nach sich, nach Mi 2,2 ruft er das göttliche Gericht hervor. Damit ist Kohelet wieder im Zusammenhang von Konsequenzen für menschliche Vergehen, die eine Reaktion Gottes hervorrufen 1 Das Adjektiv ga¯b a¯h erscheint in seiner letzten Erwähnung im Plural, der hier Steigerung andeutet, vgl. R. Hentschke, ThWAT I (1973), 895. 2 Hier mit Qere: A. Schoors, Preacher 1, 34. 3 Wahrscheinlich hat die Erwähnung des Armen (rasˇ) V. 7 die Einschreibung von 4,14 motiviert. Zu den Stichwortanschlüssen vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 320. 4 M. Sæbø, ThWAT VII (1993), 445 – 449. 5 J. Schüpphaus, ThWAT I (1973), 999 – 1001.

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Koh 5,7 – 8

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werden – nach den Reflexionen des ersten Teils lässt sich aber kein theologischer Generalnenner für diese Reaktion Gottes benennen. Statt dessen fordert Kohelet seinen Zuhörer auf „Verwundere dich nicht“ bzw. „Erschrick nicht“ – welche Nuance hier im Vordergrund steht, lässt sich nicht sicher entscheiden.6 Mit „über diese Angelegenheit“ (h. e¯pæs. ) stellt Kohelet die Vorgänge wieder in den Horizont des Vorigen: Es gibt für jeden h. e¯pæs. seine Zeit, auch – so bitter das ist – für Unrecht und Ausbeutung. Begründet wird die Ermahnung jedoch mit einer Befehlskette. Über jedem „Hohen“ steht noch ein Höherer“. Kohelet kommt auf seine Beobachtung von 4,4 zurück: So wie dort gewissermaßen horizontal alles Handeln durch Neid motiviert ist, wird hier die Unterdrückung und Rechtsbeugung vertikal „nach oben durchgereicht“, weil jede Höherstehende von einem noch Höheren überwacht wird – ad infinitum.7 Dass Kohelet hier zeitgenössische Verhältnisse vor Augen hat, belegt der Begriff „Provinz“ (med na¯h). Es bezeichnet die kleinere oder größere Verwaltungseinheit innerhalb des persischen und hellenistischen Großreichs und meint hier vermutlich Juda.8 Die hierarchische Kontrolle (und Steigerung der Ausbeutung) bildet persische und hellenistische Verwaltungsstrukturen ab9. 5,8 scheint demgegenüber zumindest in politischer Hinsicht eine Alternative zu formulieren: Es kann einen (relativen) Gewinn geben, wenn es einen König gibt.10 Der Nominalsatz hat das Prädikat vor dem Subjekt11. Wie schon in 2,10 meint jitr n hier den tatsächlichen Ertrag einer Anstrengung. 3,8 steht in einem mehrfachen Gegensatz zum in V. 7 geschilderten System: Land statt Provinz, ein Herrscher statt eines anonymen hierarchischen Systems und schließlich ein König im Gegensatz zu den Höheren. Allem Anschein nach sieht Kohelet in der Monarchie einen Vorteil für das Land. Damit hat er jedoch nicht die gegenwärtige Herrschaftsform vor Augen. Wenn Kohelet vom König spricht, formuliert er nicht aus der Untertanen-, sondern aus der Herrscherperspektive. Außerdem bezeichnet er den Großkönig nicht als Mælæk12. So entwirft er als Ausweg aus der politisch und sozial unerträglichen Situation zumindest als Handlungsideal eine Rückkehr zum Königtum salomonischen Zuschnitts. 6 Vgl. T. Krüger, BK, 217; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 322. 7 Es wäre verführerisch und im Horizont des Vorigen auch sachlich naheliegend, dass der „Allerhöchste“ Gott ist, der am Ende dann doch für einen gerechten Ausgleich sorgen könnte. In dieser Linie liegt die traditionelle Interpretation des Verses. Doch lässt sich dies philologisch nicht sichern, vgl. zur Diskussion A. Schoors, Preacher 2, 310 f. 8 Ders., A.a.O., 359 f. 9 Zur Einführung dieses Systems unter den Achämeniden vgl. P. Briant, Cyrus, 302 – 355. Die hellenistischen Herrscher haben es im Großen und Ganzen übernommen: M. Hengel, Judentum, 32 – 54. 10 Zur Diskussion um den Vers vgl. T. Krüger, BK, 216. 11 Vgl. A. Schoors, Preacher, 1, 34. 12 N. Lohfink, Melek, 73.76.79 – 81.

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Was bleibt vom Reichtum?

Was bleibt vom Reichtum? Koh 5,9 – 6,9 5,9 Wer Geld liebt, wird nicht satt am Geld, und wer Wohlstand1 liebt, des Einkommens. Auch dies ist flüchtig. 5,10. Je mehr Gutes, desto mehr dessen Nutznießer. Und welchen Verdienst hat sein Besitzer2, außer dass seine Augen (es) sehen?3 5,11 Süß ist der Schlaf des Arbeiters4, ob er nun wenig oder viel zu essen hat. Aber die Sättigung des Reichen lässt ihn nicht in Ruhe schlafen. 5,12 Es gibt eine schlimme Krankheit, die ich unter der Sonne sah: Reichtum von seinem Besitzer beh tet f r sein Ungl ck5. 5,13 Und verloren ging dieser Reichtum durch ein schlechtes Gesch ft. Und gezeugt hatte er einen Sohn – und der hat berhaupt nichts. 5,14 Wie er hervorging aus dem Schoss seiner Mutter, nackt wird er wieder gehen, wie er gekommen ist. Und nichts tr gt er davon in seiner M he, das er weitergibt durch seine Hand. 5,15 Auch dies ist eine schlimme Krankheit: Genau so,6 wie er kam, muss er wieder gehen. Und welchen Ertrag hat der, der sich abm ht f r den Wind, 5,16 und auch alle seine Tage in der Dunkelheit zubringt, großen Verdruss hat, krank und zornig ist? 5,17 Siehe, was ich Gutes sah: dass es schön ist zu essen und zu trinken und Gutes zu sehen in aller seiner Mühe, mit der man sich abmüht unter der Sonne während seiner Lebenstage, die Gott ihm gegeben hat: Denn das ist sein Los. 5,18 Und jeder Mensch, dem Gott Reichtum und Vermögen gibt und ihn darüber verfügen lässt, indem er davon isst und seinen Anteil davonträgt und sich freut in seiner Mühe: das ist eine Gabe Gottes. 5,19 Denn er gedenkt nicht viel der Tage seines Lebens, wenn Gott ihn beschäftigt mit Freude seines Herzens. 6,1 Es gibt ein Übel, das ich unter der Sonne sah, und schwer lastet es auf dem Menschen: 6,2 Da ist ein Mensch, dem gibt Gott Reichtum und Vermögen und Ehre, und nichts fehlt seiner Seele an allem, was er begehrt. Aber Gott lässt ihn nicht darüber verfügen, indem er davon isst, denn ein Ausländer isst es. Das ist flüchtig und eine schlimme Krankheit. 6,3 Wenn ein Mann hundert Kinder zeugte und viele Jahre lebte und ein hohes Alter erreichte, aber seine Seele am Guten nicht satt würde, selbst wenn es kein Grab für ihn gäbe – Ich sage: Die Fehlgeburt hat es besser als er. 6,4 1 Zur Konstruktion des Akkusativs mit einer Präposition vgl. A. Schoors, Preacher 1, 192 f. 2 „Besitzer“ ist Intensivplural wie 5,5. Der Plural wird mit einem Singular fortgesetzt: A. Schoors, Preacher 1, 72. 3 Hier vermutlich Ketib (reBijjat) statt Qere (reB t), vgl. A. Schoors, Preacher 1, 35. 4 Hier das Partizip von Ca¯bad, „dienen“. Die alten Übersetzungen lesen überwiegen das Nomen „Sklave“, vgl. BHQ. 5 Oder : Von seinem Besitzer, zu dessen Schaden, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 64. 6 Zur Kompositpräposition k l-Cumat vgl. A. Schoors, Preacher, 1, 146.

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Koh 5,9 – 6,9

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Denn in Flüchtigkeit kommt sie und in Dunkelheit geht sie, und in Dunkelheit bleibt ihr Name verborgen. 6,5 Auch die Sonne sieht sie nicht und kennt sie nicht. Sie hat mehr Ruhe als jener. 6,6 Und wenn auch einer zweimal tausend Jahre lebte, aber nichts Gutes gesehen hätte – gehen nicht alle an denselben Ort? 6,7 Alle Mühe des Menschen ist für seinen Mund, und auch die Seele wird nicht voll. 6,8 Denn was ist der Vorzug des Weisen vor dem Toren? Was (ist der Vorzug) des Armen, der im Angesicht des Lebens zu wandeln versteht? 6,9 Besser das, was vor Augen ist, als der Seele freien Lauf zu lassen. Auch das ist flüchtig und Greifen nach Wind. 5,9 – 6,9 behandeln das Thema Reichtum und Tod: Da man von erwirtschafteten Gütern nichts in den Tod mitnehmen kann, lautet die Schlussfolgerung, das Gute im Leben als solches zu erkennen und zu genießen. Dies ist das menschliche Los und eine Gabe Gottes. Kohelet entfaltet diesen Gedanken in einem auffallend diskursiven Duktus: Er verwendet traditionelles Spruchgut (5,9.10a.11; 6,9), eigene Beobachtungen (5,12; 6,1), Fragen (5,10b.15; 6,8), Beispiele (5,12; 6,2) und hypothetische Fälle (6,3.6). Zudem greift er bereits Gesagtes auf und entwickelt es weiter. Vor diesem Hintergrund ist es umstritten, ob 5,9 – 6,9 eine (mehr oder weniger) geschlossene Komposition bildet oder ob hier mehrere Einzelsequenzen aufeinander folgen. Tatsächlich lässt sich eine geschlossene Komposition aus der Beobachtung von Sprechakten gut begründen. Demnach gliedert sich der Text folgendermaßen: 5,9 – 11 5,12 – 16: 5,17 – 19: 6,1 – 6: 6,7 – 9:

Sprichwörter „Ich sah eine schlimme Krankheit“ (negative Fälle) „Siehe, was ich Gutes sah“ (Positive Fälle) „Es gibt ein Übel, das ich sah“ (negative Fälle) Sprichwörter7

Außerdem ist der Abschnitt durch Stichwortbezüge thematisch durchgestaltet. Gleichwohl ist diese Komposition nicht in einem Zug entworfen. Es gibt gute Indizien dafür, 5,12 – 16 als eine Fortschreibung des vorgegebenen Zusammenhangs zu betrachten, die das Thema Reichtum und Tod auf ihre Weise weiter reflektiert hat. Die Salomofiktion ist hier insofern Bestandteil des Textes, als Kohelet weiterhin Beobachtungen weitergibt, die er im Lauf seines königlichen Lebens gemacht hat. 5,17 liegt auf der Linie von 2,3.10; 6,2 führt 2,26 weiter. Die 7 Diese Gliederung nach T. Krüger, BK, 224; vgl. ähnlich auch: F. J. Backhaus, Zeit, 188 – 200: 5,9 – 11.12 – 14.15 – 16.17 – 19; 6,1 – 2.3 – 9; A. A. Fischer, Skepsis, 56 – 86: 5,9 – 11.12 – 16.17 – 19; 6,1 – 6. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 326 – 359 betrachtet 5,9 – 11.12 – 16.17 – 19; 6,1 – 2.3 – 6.7 – 9 als Teilsequenzen innerhalb der Großeinheit 4,1 – 6,9.

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Abschlussfragen 6,8.9 greifen die Reflexion von 2,14 – 16 auf. Der argumentative Stil wandelt sich von der Anweisung zur Belehrung seines Zuhörers, der sich im Fortschritt des Textes immer mehr als der potentielle Nachfolger erweist. Inhaltlich sind die Gedanken und Sprüche über Reichtum mit Vorgaben aus dem Proverbienbuch verwandt. Es liegt demnach wieder Salomo als Lehrer vor, der seine Lehre aus den Erfahrungen seines Lebens entwickelt. Der Abschnitt wird in 5,9 – 11 mit einer Reihe von Sprüchen eröffnet, die die Fragwürdigkeit des Reichtums besprechen. „Essen“ (Ba¯kal), „satt werden“ (sˇa¯baC) und „sich vermehren“ (ra¯ba¯) werden als Leitworte in unterschiedlicher Zuordnung verwendet, V. 10b steht mit dem „Sehen“ (ra¯Bah) pointiert in der Mitte.8 Die Sprüche sind von Kohelet so bearbeitet und zusammengestellt worden, dass sich eine thematische Einheit ergibt: Der Genuss des Reichtums wird durch verschiedene Faktoren behindert.9 5,9 enthält einen Doppelspruch, bei dem das „Satt werden“ in der zweiten Vershälfte ausgelassen ist10. Form und Inhalt deuten auf einen traditionellen Spruch: Reichtum ist (oder macht) unersättlich (vgl. Prv 21,17; 27,20).11 Dabei geht es hier tatsächlich um Reichtum im Sinne von Geld, nicht etwa Vieh- oder Landbesitz (anders als 4,8). Verwendet ist Kæsæp, „Silber“12, das – stückweise oder in Münzen – als Zahlungsmittel und Währungseinheit verwendet wurde. Dabei diente der Umtausch eines Gutes in die entsprechende Menge Silber ursprünglich dazu, dass bestimmte Güter nicht über weite Strecken transportiert werden mussten: Das Gut wird in die entsprechende Silbermenge umgetauscht und am Bestimmungsort wieder zurückgetauscht (mit den entsprechenden Provisionen) – ein Beispiel bietet Dtn 14,24 – 26. Ab der assyrischen Zeit wurden Tribute und Steuern großenteils in Silber geleistet, in persischer und hellenistischer Zeit wurden Söldner und Handwerker auch mit Silber entlohnt (Esr 3,7; 2Chr 25,6). Da Geld universal einsetzbar ist und im Wert eher steigt, wird es mit der Zeit zum begehrten Objekt. Die beiden Parallelbegriffe „Wohlstand“ (ha¯m n)13 und „Einkommen“ (teb Ba¯h) gehören ebenfalls in monetäre Zusammenhänge. 5,10 bleibt bei der Metaphorik des „Satt werdens“ und schließt daran das „Essen“ an: Je mehr jemand hat, desto mehr wollen davon etwas abhaben, (wörtlich „essen“). Auch dieser Spruch ist traditioneller Herkunft, spielt mit 8 Sehr deutlich herausgearbeitet bei N. Lohfink, NEB, 43; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 327. Vgl. auch A. A. Fischer, Skepsis, 60. 9 Vgl. auch A. A. Fischer, Ebd; C. Klein, Kohelet, 71. 10 Sog. Apo-koinou-Konstruktion, vgl. C. Klein, Kohelet, 71. Das Pronomen „wer“ ist hier keine Fragepartikel, sondern fungiert als Indefinitpronomen, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 59; A. A. Fischer, Skepsis, 61; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 326. Anders T. Krüger, BK, 222; F. J Backhaus, Zeit, 188. 11 Es ist weniger wahrscheinlich, dass hier die Aussage „Geld macht nicht satt“ mitklingt, auch nicht als Nebenbedeutung (so aber L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 327). 12 Vgl. zum Folgenden D. Markl, Art. Silber: www.wibilex.de. 13 S. dazu A. Schoors, Preacher 2, 381 f.

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der unterschiedlichen Verwendung von ra¯ba¯h und ist sogar gereimt (birb t hat.t. ba¯h ra¯bb B kelæja¯h)14. Verständlicherweise steht damit der Ertrag in Frage. Für „Ertrag“ ist hier kisˇr n verwendet, was in 2,21; 4,4 „Geschick, Erfolg“ bedeutet. Damit klingt hier erneut an, dass für Kohelet jeder „Ertrag“ gezielt erarbeitet wird. Und wie schon in 2,21 besteht das Problem darin, dass jemand an den Gütern teilhaben will (oder darf), der nicht dafür gearbeitet hat. 10b dürfte damit eine Weiterführung durch Kohelet selbst sein15. Obwohl der Verweis auf den Augenschein hier im Duktus der Argumentation bleibt – ein Reicher kann seinen Reichtum nur noch betrachten – präludiert Kohelet hier bereits das „Sehen“ als Teil dessen, was er für gut hält. 5,11 liegt möglicherweise ein Traditionsspruch zugrunde („während der fleißige Arbeiter erquicklich schläft, kommt der Reiche nicht zur Ruhe“)16, er ist mindestens um das Essen in beiden Vergleichsgliedern erweitert worden17, wobei der Inhalt etwas unbestimmt wird: Kann der Reiche aus Sorge um seinen Reichtum nicht schlafen, oder weil er zuviel gegessen hat? Für beides gäbe es alttestamentliche Parallelen.18 5,12 – 16 sind formal und inhaltlich als Fortschreibung zu erkennen. Ähnlich wie 4,15 wird die These mit einer Beobachtung belegt; Kohelet selbst geht den umgekehrten Weg. In 5,12 gibt es nicht nur ein Objekt zu „ich sah“, sondern dies ist sogar mit einem „Es gibt“ Satz vorangestellt (es handelt sich um eine Nachahmung von Kohelets pendierendem Objekt) und verwendet mit dem adjektivischen Partizip h. la¯h, „Krankheit“ einen für Kohelet völlig untypischen Begriff.19 Krankheit als Metapher für Übel oder Missstände ist im Alten Testament äußerst selten (nur noch Hos 5,13; Jes 1,5; 57,10; Dtn 21,10).20 In V. 13 wird das „leidige Geschäft“ nicht nur nicht mit dem Weisheitserwerb verbunden, sondern ganz konkret als eine verfehlte wirtschaftliche Unternehmung verwendet. Das zeitliche und sachliche Verhältnis in V. 13 ist nicht ganz klar : Hatte der Reiche vor dem Verlust den Sohn gezeugt oder danach und in wessen Hand ist jetzt nichts mehr? V. 14 ist syntaktisch und demzufolge inhaltlich nicht recht zu durchschauen: Grammatisch bezieht sich die Aussage auf den Sohn, inhaltlich auf den Vater21. V. 15 hat die ungewöhnliche Kompositpräposition, erneut den „Krankheits“-Begriff, und greift dann aber eine typische KoheletFormulierung auf. Überhaupt ist in V.12 – 14 ein durchaus überlegter und an Kohelet 14 S. dazu C. Klein, Kohelet, 84 f. mit der kongenialen Übersetzung „Geht’s dir besser, kommen die Fresser.“ 15 Vgl. mit zusätzlichen stilistischen Beobachtungen A. A. Fischer, Skepsis, 62. 16 A. A. Fischer, Skepsis, 63. 17 S. dazu Ebd. 18 Diskussion bei A. A. Fischer, Skepsis, 63, der dafür plädiert, die Möglichkeiten offen zu halten. Für die zweite Möglichkeit: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 329; N. Lohfink, NEB, 43. Unentschieden: T. Krüger, BK, 228, der für die Übersättigung griechische Beispiele zitiert. 19 S. zu den sprachlichen Auffälligkeiten auch N. Lohfink, Kohelet und die Banken. Zur Übersetzung von Kohelet v 12 – 16, in: Ders., Studien, 144 f. 20 Vgl. K. Seybold, ThWAT II (1977), 968. 21 Vgl. dazu F. J. Backhaus, Zeit, 191; T. Krüger, BK, 229 f.

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orientierter Gestaltungswille zu erkennen.22V. 16 bringt einen neuen Gedanken ein, der lose an V. 11 (und wohl auch 6,4) anschließt. Gegenüber den knappen, aber aussagekräftigen Aussagen von Vv. 9 – 11 über die Gefahren des Reichtums sind Vv. 12 – 16 auffallend präzise, bringen aber sachlich nichts Neues: Der Tod stellt den materiellen Gewinn in Frage. Wohl aber liegt ein der Beispielerzählung vom gescheiterten Reichen ein anderes Problem vor als das, was Kohelet umtreibt: Es geht nicht darum, dass die nächste Generation unverdientermaßen erbt, sondern dass es gar nichts zu vererben gibt, dass also die nächste Generation nicht Profit macht, sondern einen Verlust verkraften muss. Dies wird in der (an Hi 1,21 erinnernden)23 anthropologischen Wahrnehmung aufgefangen, dass man so nackt geht wie man kommt. Sie lässt sich mit Kohelets Wahrnehmung des Todes in Einklang bringen, unterscheidet sich aber davon (vgl. 2,15 f.; 3,19 f.). Aufgrund der auffallend konkreten Schilderung der Beispielerzählung von V. 12 f. hat Norbert Lohfink einen ebenso konkreten Hintergrund erschlossen, nämlich die Problematik von Bank- und Spekulationsgeschäften24. Dies dürfte korrekt sein, obwohl mit Fischer der Vermögensverlust nur in Vv. 12 – 13 präsent ist und dann in zwei weisheitlichen Reflexionen unterschiedlich weitergeführt wird.25 Hinter 5,12 ff.; 6,2 stehen leidvolle Erfahrungen mit der Finanz- und Wirtschaftspolitik der hellenistischen Herrscher. Während einerseits der Übergang zur Geldwirtschaft und zum Bankwesen neue Wege zu Wohlstand und sozialem Aufstieg schuf, vermehrten sich damit auch die Risiken, zumal für solche, die in Geldgeschäften ungeübt waren26. Kohelets eher zeitlose Einsichten zu den Problemen des Reichtums werden an dieser Stelle durch einen zeitgemäßen Hinweis aktualisiert. Stilistisch ähnelt der Abschnitt 4,14 – 16.

5,17 – 19 setzt den ursprünglichen Zusammenhang fort und formuliert die Kontrastaussage zu den Gefahren des Reichtums in betonter Anrede an den Zuhörer. Die drei Verse bilden einen formalen und inhaltlichen Zusammenhang. Er bestimmt – zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit – das Gute als Genießen guter Dinge im Diesseits und bestimmt diese als „Los“ und „Gabe Gottes.“ Nach 3,10 – 15 und 4,17 – 5,6 ist dies die dritte genuin theologische Reflexion Kohelets, sie erwähnt viermal Gott.27 5,17 gibt Antwort auf Kohelets Untersuchungsfrage von 2,3: Was gut ist für die Menschen, das sie tun, besteht darin, zu essen, zu trinken und Gutes zu sehen. Die Einleitung ist mit Nachdruck formuliert: hinne¯ aBˇsær rBa¯ t Ba¯nB , wobei das eröffnende „hinne¯“, „Siehe“, eine außerordentlich starke Funktion Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 333. Vgl. Ebd. N. Lohfink, Banken, 148 f. Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 66. Vgl. immer noch grundlegend: M. Rostovtzeff, Gesellschaftsgeschichte I, 318 ff. Zuletzt: G. Shipley, The Greek World After Alexander 323 – 30 BC, Routledge 22014. 27 Vgl. N. Lohfink, Koh 5,17 – 19 – Offenbarung durch Freude, in: Ders., Studien, 159.

22 23 24 25 26

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hat. Es ist eine emphatische, die Aufmerksamkeit und den Blick lenkende Partikel, die hier tatsächlich einen Imperativ vertritt, in etwa „Pass auf!“28 Das Objekt „Gutes“ steht in betonter Schlussstellung. Daran schließt sich eine Näherbestimmung an. Die Relativpartikel stellt eine Beziehung zwischen dem „Guten“ und dem „Schönen“ dar : „Gutes, welches schön ist“. Damit wird das Gute nicht nur wie bislang in den Horizont der Lebensfreude gestellt (2,24; 3,12.13), sondern auch ausdrücklich mit dem korreliert, was in Kohelets Augen Schöpfung ist: Alles hat Gott schön gemacht zu seiner Zeit (3,11).29 Nach dieser präzisierenden und hervorhebenden Einleitung finden sich Aussagen zum Guten, die durch 2,24; 3,12.13 bereits vorbereitet sind: „Für einen … Menschen ist es nicht nur ,gut‘, sondern auch ,schön‘, wenn er sein Leben genießen kann. Es entspricht den Vorgaben … des Schöpfergottes. (…) Auf diesen ,Anteil‘ hat jeder Mensch einen ,Anspruch‘.“30 5,18 führt diesen Gedanken fort und ergänzt ihn um Reichtum und „Vermögen“. Hier liegt eine Anspielung auf die Salomotradition vor: Cos´ær neka¯s m ist Gottes Gabe an Salomo nach 2Chr 1,11.1231, die hier ausdrücklich auf „jeden Menschen“ ausgedehnt wird32. Dasselbe gilt für die Freude in der Mühe, die 2,10 abruft. Hat Kohelet solcherart im Grunde sein Untersuchungsziel von 2,3 erreicht, ergänzt er es in 2,19 um einen weiteren Gedanken: Der bewusste Genuss lässt ihn sogar seine Sterblichkeit vergessen, denn Gott „beschäftigt“ ihn in der Freude seines Herzens. Obwohl Canah bei Kohelet mit Mühsal verbunden ist (vgl. 1,13; 4,8; 5,13), wird diese doch nicht durch die Beschäftigung an sich verursacht, sondern durch Kohelets Einschätzung als „leidiges Geschäft“. 28 Vgl. dazu C. Hardmeier, Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel. Gütersloh 2003, 90 f. 29 Die Bestimmung des Guten als dem Schönen oder durch das Schöne wird bei N. Lohfink, NEB, 45; Ders., Offenbarung, 45; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 338 – 340; A. A. Fischer, Skepsis, 58 als Superlativ betrachtet, nämlich „das höchste Gut“ bzw. „das wahre Glück“. Die von Fischer beigebrachten Beispiele Sach 9,17; Ps 133,1 bilden aber einen schlichten Parallelismus „Wie gut und wie schön“. Die ungewöhnliche Formulierung von Koh 5,17 hat außerhalb des Buches nur noch eine Parallele in dem textlich schwierigen Vers Hos 12,9 „das Übel, welches Sünde ist“. Auch hier handelt es sich nicht um eine Steigerung, sondern eine Näherbestimmung. Von Koh 8,14 ergibt sich eine zwanglose Erklärung der Relativpartikel als Einführung eines präzisierenden Objektsatzes, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 139; D. Michel, Untersuchungen, 214. Es besteht die Möglichkeit, dass die Formulierung griechisch beeinflusst ist, als Hebraisierung des Begriffs to kalon philon (vgl. R. Braun, Kohelet, 54 f.). Doch dieser ist in seinen Belegstellen eine anthropologische Aussage, keine Aussage über das Glück oder das wahre Gute. Vor allem die Argumentation bei Schwienhorst-Schönberger ist von der LXX und der Übersetzung des Hieronymus (bonum, quod est optimum) hergeleitet, die ihrerseits die Aussage mit der stoischen Philosophie in Einklang bringt. Bei Kohelet ist das noch nicht angelegt. SchwienhorstSchönberger (340) ist aber darin Recht zu geben, dass die nachfolgende Rezeption kaum noch anders konnte, als Kohelet unter diesem Horizont zu lesen. Die Übergänge sind fließend. 30 T. Krüger, BK, 231. Krüger spricht indes von den „Vorgaben und dem Willen des Schöpfergottes“. Einen solchen erkennen zu können, leugnet Kohelet aber in 3,11. 31 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 257; A. A. Fischer, Skepsis, 68. 32 A. A. Fischer, Skepsis, 67 f.

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Schon die Beschäftigung mit der Ewigkeit in 3,10 kommt ohne negative Qualifizierung aus.33 Ebenso ist an dieser Stelle die Beschäftigung positiv,34 ohne dass Kohelet die Unverfügbarkeit göttlicher Gaben aus dem Blick verliert: „Der Akzent liegt ganz auf der Freude, die den Gedanken an schlechtere Zeiten zwar nicht völlig verdrängt, aber davon auch nicht getrübt wird.“35 Dass sie – wenn auch ausdrücklich unter salomonischen Vorzeichen! – dem Reichtum seinen theologischen Wert hinsichtlich der Freude zuspricht, dürfte davon motiviert sein, dass Kohelet sich hier von der „Armenfrömmigkeit“ abgrenzt36, die den sozialen Gegensatz von Arm und Reich in den religiösen Gegensatz umsetzt, nach dem die Armen (und nur diese) von Gott geliebt seien (vgl. Ps 35,10; 140,13).37 Da Armut im persisch-hellenistischen Juda weit verbreitet war, ist diese Haltung nicht einmal die einer kleinen Gruppe oder gar eines „Unterschichtszirkels“38, sondern – wie der Eingang der Armenfrömmigkeit in den Psalter zeigt – eine durchaus ernstzunehmende Strömung nachexilischer Literatur, die mit eschatologischen Erwartungen verbunden ist.39 Wenn Kohelet hier und an anderen Stellen Reichtum zu den guten Dingen des Lebens zählt, wird deutlich, dass er nicht schon an sich Indiz für ein frevelhaftes Leben sein muss. An den positiven Fall schließt sich in 6,1 – 6 eine Reihe von negativen Fällen an. Kohelet buchstabiert das Verhältnis von Lebensfreude, Reichtum und Tod noch einmal neu durch. Dabei geht er vom Einzelfall (V. 2) zum hypothetischen Fall (V. 3) zum völlig irrealen Fall (V. 6) Die Sequenz beginnt 6,1 mit einem pointierten Gegenfall zum Guten von 5,17. Kohelet sah auch Schlechtes, das in typischer Manier als Objekt vorangestellt wird. Dass es Kohelet hier um einen essentiellen Punkt geht, belegt die

33 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 428: „It should be mentioned that Qohelet never explicitly says that God afflicts people, only that he gives them hard situations to deal with.“ 34 A. A. Fischer, Skepsis, 81 f.; T. Krüger, BK, 233 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 341 f.; Es besteht kein Grund, Ca¯na¯h mit „plagen“ oder gar mit „unterdrücken“ (Ca¯na¯h II) zu übersetzen und in der Freude ein Narkotikum Gottes zu sehen (so H.-P. Müller, Qohälät, 517 f.; F. J. Backhaus, Zeit, 194; L. Schwienhorst-Schönberger, Nicht im Menschen, 149). Auf der anderen Seite lässt sich aber auch die Interpretation von N. Lohfink, Offenbarung, 156 – 158, nicht halten, nach der Ca¯na¯h hier „antworten“ (Ca¯na¯h I) meine und Koh 5,19 daher eine „Offenbarung durch Freude“ vertrete, die die Gottesfurcht überflüssig macht. Dies würde sich überhaupt nicht in Kohelets Wertung der Gottesfurcht fügen, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 83 f. Anders als Fischer andeutet, muss man 5,19 aber durchaus von 3,10 – 15 her lesen. 35 T. Krüger, BK, 234. 36 T. Krüger, BK, 230 vermutet dies als Hintergrund zu 5,12 – 16. 37 Vgl. dazu grundlegend R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkbäern, Göttingen 1992 (GAT 8/2), 569 – 576. 38 Ders., A. a. O., passim. 39 Zu den Psalmtexten grundlegend: C. Levin, Das Gebetbuch der Gerechten. Literargeschichtliche Beobachtungen am Psalter, in. Ders., Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament, Berlin/New York 2003 (BZAW 316), 291 – 313. Zum Zusammenhang mit dem priesterlichen Herrschaftsdiskurs s. R. Achenbach, König, 233 f.

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(seltene) Fortführung und Bekräftigung (wörtlich: „und groß ist es auf dem Menschen“). 6,2 führt das Gegenbeispiel zu 5,18 ein40, den Menschen, der trotz gottgegebenem Reichtum und Vermögen (ergänzt durch „Ehre“ und alles, was er begehrt) seine Güter nicht genießen kann. Im Gegensatz zu 5,18 ist es ein Einzelfall. Und zu diesem Einzelfall gehört auch, dass Gott ihn am Genuss seiner Güter hindert, während er in 5,18 allen Menschen die Möglichkeit gibt, zu genießen. Dabei ist signifikant, dass in beiden Fällen ein starker Bezug zum biblischen Salomo hergestellt wird. Seine Chancen kommen allen zugute, wohingegen seine Unglücksfälle sich nur auf einzelne erstrecken. Hier kommt (wie 2,21.26) die Unverfügbarkeit Gottes und seiner Gaben zum Vorschein41. Dass der Mensch seinen Teil beanspruchen darf, heißt bedauerlicherweise nicht, dass Gott diesen Anspruch auch immer erfüllt. Zu diesem Zweck wird das Gegenbeispiel eingeführt.42 Wie in Kap. 2 geht die Verfügung über die Güter auf einen anderen über. Der gut weisheitliche Topos (vgl. Prv 5,10), dass ein anderer das Gut des Reichen genießt, wird hier an einen „Fremden“ bzw. „Ausländer“ gebunden. Die Formulierung „Ausländer (B ˇs na¯kr ) begegnet im Alten Testament nur noch Dtn 17,15, dem Verbot, einen Ausländer als König in Israel einzusetzen. Hier sind also in seltener Eindeutigkeit zeitgenössische Verhältnisse im Blick, nach denen der (ausländische) Großkönig via staatlicher Finanzpolitik (Tribute, Steuern, Zölle etc.) jederzeit die Möglichkeit hatte, Israeliten zu enteignen.43 Ein Einzelfall dürfte dies realiter kaum gewesen sein, wird aber um der theologischen Argumentation willen als solcher geschildert. Berücksichtigt man, dass das alttestamentliche Recht alles tut, um Besitz in der Familie und/oder im Volk zu halten44, ist dieser Einzelfall ein Beleg für Kohelets Sicht auf die Kontingenz (vgl. 3,1 – 15). Alles rechtliche Planen und alle Vorsorge der Toragebote haben den Fall nicht vorhersehen können, dass eine fremde Politik alles zunichte macht. Hier verdeutlicht die doppelte Abschlussformel das inhaltliche Anliegen in sehr starker Weise. 6,3 konstruiert einen hypothetischen Fall – 100 Kinder sind auch bei langer Lebensdauer extrem unwahrscheinlich, liegen aber, wie die urgeschichlichen Genealogien (Gen 5; 11) zeigen, zumindest literarisch-theologisch nicht im Bereich des Undenkbaren. Überdies könnte die Zahl 100 eine schlichte Variation zu „viele“ sein.45 Entscheidend ist, dass unter den grundsätzlichen Vorzeichen eines erfüllten Lebens – langes Leben und viele Kinder – das Leben 40 Die Sätze sind eine weitgehende sprachliche Parallele, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 67. 41 A. A. Fischer, Skepsis, 68. 42 Weniger wahrscheinlich ist, dass es sich um die Ausnahme von der Regel handeln soll (so Ders., A. a. O., 67). 43 Ausführlich: T. Krüger, BK, 235. 44 Vgl. dazu ausführlich M. Köhlmoos, Ruth, Göttingen 2009 (ATD 9/2). 45 Möglicherweise bleibt Kohelet auch hier bei verdeckten Bezügen auf die Salomogeschichte. Bei einer vierzigjährigen Regierungszeit und 1000 Frauen sind hundert Kinder zumindest im Bereich des Möglichen.

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als unglücklich gelten muss, wenn man das Gute nicht als solches erkennt.46 Der hier geschilderte Mann richtet sein Verlangen („Seele“) auf immer mehr und kommt selbst im Grab nicht zur Ruhe.47 In ungewohnt autoritativer Form („Ich sage“) macht Kohelet hier deutlich, wie sinnlos ein solches Leben gewesen wäre. Die Alternative zu einem – im Endeffekt – unglücklichen Leben ist, gar nicht gelebt zu haben. 6,4 – 5 malen das glückliche Leben der Fehlgeburt breit aus und drehen dabei alle wichtigen Begriffe Kohelets (Sonne, Sehen, Erkennen, Ruhe) um. Kohelet greift hier den Gedanken von 4,2 – 3 auf. Dass die Fehlgeburt ein erstrebenswerteres Dasein hat als der, dessen Leben Unglück ist, schildert auch Hi 3,11 – 16. 6,6 bildet den völlig irrealen Fall eines zweitausend Jahre währenden Lebens. Wenn auch in diesem das Gute nicht erkannt (und genutzt) wird, ist auch das längste Leben genauso wertlos wie im vorigen Vers das kürzeste. Die abschließende rhetorische Frage schärft ein, dass sich die Qualität eines Lebens zeigt, wenn man es im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit lebt. 6,7 – 9 schließt die Komposition mit drei Sprichworten ab, die auf 5,9 – 11 zurückbezogen sind.48 6,7 steht in einer gewissen Spannung zum Vorangehenden, denn wenn V. 7 nun feststellt, das Verlangen des Menschen auf jeden Fall ungestillt bleibt, scheint dies die ganze vorangegangene Argumentation aus den Angeln zu heben.49 Die sog. „Zitatentheorie“, nach der in solchen Widersprüchen eine Gegenposition zitiert wird, die dann widerlegt werden soll, ergibt an dieser Stelle einen guten Sinn – V. 9 widerlegt V. 7 tatsächlich.50 Der ganze diskursive Duktus der Komposition 5,9 – 6,9 macht es auch strukturell wahrscheinlich, dass Kohelet hier zitiert. Andererseits hat er 4,4 deutlich gemacht, dass das unstillbare Verlangen des Menschen Erfolge überhaupt erst zustande bringt, und auch der Eröffnungsspruch von 5,9 geht in diese Richtung. 6,8 wird in seiner genauen Bedeutung kontrovers diskutiert. Es handelt sich in jedem Fall um eine Doppelfrage. Der erste Teil fragt nach dem Vorteil des Weisen vor dem Toren, hier ist die Antwort eindeutig: Dass er um seine Sterblichkeit weiß und demzufolge sein Leben entsprechend gestaltet, d. h. das Gute als Gutes erkennt. In dieselbe Richtung geht der zweite Teil. Auch hier geht es um jemanden, der weiß, wie er sein Leben gestalten muss51. Problematisch ist, dass es keine Vergleichsgröße gibt52 und dass „vor den Lebenden“ 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. auch T. Krüger, BK, 237. Zu diesem Verständnis von V. 3ab: A. A. Fischer, Skepsis, 71. Vgl. dazu Ders., A. a. O., 72; C. Klein, Kohelet, 86 f. T. Krüger, BK, 238. Vgl. dazu D. Michel, Untersuchungen, 150. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 22 f. 135.216. Vgl. zur Diskussion ausführlich D. Michel, Untersuchungen, 151 – 159. Die meisten Analysen greifen zum Mittel der Konjektur, vgl. auch A. Schoors, Preacher 2, 22 f.; A. A. Fischer, Skepsis, 73 f.

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nicht recht erklärt werden kann.53 Im Duktus von 5,9 – 6,9 ist Michels Lösung am plausibelsten:54 Der Arme versteht angesichts des künftigen Lebens zu wandeln – ob dies irgendeinen Vorteil bringt, ist aber fraglich. Es setzt voraus, dass Kohelet schon die Armenfrömmigkeit in ihrer eschatologischen Brechung voraussetzt, was aber nicht unwahrscheinlich ist. 5,9 bildet den Abschluss mit einem „Besser“-Satz, der wahrscheinlich 6,7 widerlegt und Kohelets Ausführungen bündig zusammenfasst: Es kommt darauf an, das Gute als Gutes zu erkennen, anstatt sich unerfüllten Sehnsüchten hinzugeben. Hier bezieht sich die Flüchtig-Aussage eindeutig auf den zweiten Teil des Satzes und verstärkt diesen.

53 Nægæd hat in der einzigen weiteren Belegstelle 4,12 einen feindlichen Bezug: D. Michel, Untersuchungen, 154. 54 D. Michel, Untersuchungen, 157 f.

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Gut und besser

Gut und besser Koh 6,10 – 7,14 6,10 Was geschieht, ist längst mit seinem Namen gerufen, und erkannt ist, was ein Mensch ist, dass er nicht rechten kann mit dem, der stärker ist1 als er.2 6,11 Denn es gibt eine Menge Worte, die das Flüchtige vermehren. Was ist der Vorteil für den Menschen? 6,12 Denn wer weiß, was gut ist für den Menschen im Leben, in seinen flüchtigen Lebenstagen? Er verbringt sie wie einen Schatten. Wer verkündet dem Menschen, was nach ihm sein wird unter der Sonne? 7,1 Besser ein Name als gutes Öl und [besser] der Tag des Todes als der Tag der Geburt. 7,2 Besser, in ein Haus der Trauer zu gehen als in ein Haus des Festmahls zu gehen, denn darin ist das Ende aller Menschen – und das mache der Lebende zu seiner Lebensaufgabe! 7,3 Besser Verdruss als Lachen, denn im traurigen Gesicht geht es dem Herzen gut. 7,4 Das Herz der Weisen ist im Haus der Trauer, und das Herz der Toren ist im Haus der Freude. 7,5 Besser, das Schelten des Weisen zu hören, als ein Mann, der das Lied der Toren hört. 7,6 Denn wie das Knistern der Dornen unter dem Topf, so ist das Lachen der Toren. Auch das ist flüchtig. 7,7 (…) Denn Unterdrückung lässt den Weisen irren, und eine Gabe richtet das Herz des Weisen zugrunde. 7,8 Besser das Ende einer Sache als ihr Anfang, besser langmütig als kurzatmig. 7,9 Sei nicht vorschnell mit dem Verdruss in deinem Geist, denn Verdruss ruht im Schoß der Toren. 7,10 Sprich nicht: „Wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als diese?“ Denn nicht aus Weisheit fragst du dies. 7,11 Gut ist Weisheit mit einem Erbteil und ein berschuss f r die, die die Sonne sehen. 7,12 Denn im Schatten der Weisheit – im3 Schatten des Geldes. Und der Ertrag der Erkenntnis: Die Weisheit erh lt ihren Besitzer am Leben. 7,13 Sieh das Werk Gottes: Denn wer kann gerade machen, was er ge1 Qere. 2 Nach der masoretischen Akzentsetzung ist der Vers auf diese Weise zu lesen und völlig verständlich. Die Lesung wird auch von der LXX bestätigt. Dass „Mensch“ indeterminiert ist, verdankt sich Kohelets unsystematischem Gebrauch des Artikels ebenso wie stilistischen Gründen (der Artikel würde eine zusätzliche Silbe in den Satz bringen). Es gibt daher keinen Grund, „Mensch“ zum zweiten Versteil zu ziehen (Diskussion bei F. J. Backhaus, Zeit, 214; D. Michel, Untersuchungen, 161). Vielmehr dürfte das Pronomen den Artikel vertreten. Die Lösung von Backhaus, Ebd., das Pronomen auf den Namen zu beziehen („und bekannt ist, dass er [der Name] Adam ist“) argumentiert schöpfungstheologisch, dass aber der Mensch je mit dem Namen „Mensch“ gerufen würde, kommt in den genannten Texten nicht vor. Ähnlich übersetzt auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 361 f. 3 Die Versionen haben die zweite Präposition in ke, „wie“, geändert; es handelt sich eindeutig um die lectio facilior, vgl. BHQ. Die Lesart wird aber allgemein akzeptiert.

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krümmt hat? 7,14 Am Tag des Guten sei guter Dinge und am Tag des Schlechten, siehe: Auch diesen wie jenen hat Gott gemacht. Darum kann der Mensch nichts herausfinden über die Zukunft nach ihm. In 6,10 – 7,14 befasst sich Kohelet mit praktischen Konsequenzen aus seinen theoretischen Einsichten: Im Wissen um die Begrenztheit des Lebens und die Undurchschaubarkeit einer Weltordnung empfehlen sich vor allem Ernst und Geduld. 6,10 – 7,14 bilden eine abgeschlossene Einheit.4 Sie ist gerahmt durch Reflexionen über Zeit und Geschichte (6,10 – 12; 7,13 f.). Diese geben die Themafrage vor (6,12) und münden in die Mahnung, im Wissen um das Werk Gottes das Leben richtig zu gestalten (7,13 – 14). Der Mittelteil 7,1 – 12 vermittelt im Modus des „Besser“-Spruchs Anweisungen für ein Leben in Weisheit. Der Abschnitt ist zwar nicht so stark instruktiv gestaltet wie 4,7 – 5,6, lässt aber auch hier die Situation der autoritativen Belehrung erkennen: 7,12 leitet mit einer Frage von der Reflexion zur Instruktion über, der Schlussteil gibt klare Anweisungen: „Sprich nicht“ (7,10) – „Sieh“ (7,13) – „Sieh“ (7,14).5 Kohelet gibt somit die Prinzipien seiner eigenen weisheitlichen Lebensführung an seinen Zuhörer weiter. Dementsprechend erscheinen sowohl die inhaltlichen Schlüsselworte seiner Untersuchung (Gutes, Freude, Lachen, Weisheit) als auch das „Herz“ als der Bezugspunkt weisheitlichen Lebens in diesem Text. 6,10 – 7,14 ist daher ein Lehrtext, sowohl formal als auch inhaltlich. In ihn wurde mit 7,11 – 12 ein zusätzlicher Gedanke eingeschoben. Als Gesamteinheit fällt 6,10 – 7,14 durch das hohe Maß an weisheitlichem Traditionsgut auf. Zwar ist kein Einzelspruch eindeutig als Zitat auszuweisen, die meisten Sätze sind auch von Kohelet mindestens bearbeitet, aber es ist doch eindeutig, dass Kohelet sich hier der Spruchweisheit, ihrer Inhalte und ihrer Formen bedient. Das heißt, im Rahmen der Salomofiktion befindet sich Kohelet in der Rolle des Lehrers und also in seiner Auseinandersetzung mit dem Sprüchebuch. Die Konzentration der Lehrinhalte auf Ernst und Geduld weist darüber hinaus in den Diskurshintergrund: Die Weisheit, die Kohelet hier empfiehlt, ist gegen eschatologische Kreise gerichtet, deren Sicht auf Zeit

4 In der Regel werden 6,10 – 12 als eigenständige Einheit betrachtet: F. J. Backhaus, Zeit, 214 – 219; L. Schwienhorst-Schönberger HThKAT, 361 – 366; T. Krüger, BK, 245 – 247; A. Schellenberg, Erkenntnis, 105 – 109. Dabei betont aber vor allem F. J. Backhaus, A. a. O., 217 – 220, die Scharnierfunktion des Abschnitts für die Gesamtkomposition des Buches. D. Michel, Untersuchungen, 159 – 165, sieht 6,10 – 12 mit 6,1 – 9 zusammen, betont aber ebenfalls (159) die Überleitungsfunktion zu Kap. 7. A. A. Fischer, Skepsis, 5 – 21, rechnet mit einer redaktionellen Herkunft des Stücks. 7,1 – 14 sind als Einheit betrachtet bei: F.-J. Backhaus, Zeit, 220 – 227; A. A. Fischer, Skepsis, 86 – 114; T. Krüger, BK, 248 – 254. D. Michel, Untersuchungen, 126 – 137; L. Schwienhorst-Schönberger HThKAT, 367 – 377 fassen 7,11 – 14 als eigenständige Einheit auf. A. A. Fischer, Skepsis, 86 – 114, betrachtet 7,1 – 22 als zusammengehörig. 5 Zur Komposition vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 90 – 97.

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Gut und besser

und Geschichte nicht Kohelets Ansicht entspricht und die er somit sogar als „Torheit“ betrachtet.6 6,10 – 12 bilden den einleitenden Abschnitt. Seine zentrale Rolle für das Buch Kohelet ist lange bekannt, tatsächlich bildet er numerisch die Mitte des Buches. Er ist vielfach mit dem Vorigen und dem Nachfolgenden verknüpft: V. 12 greift als Frage 2,3 wieder auf; V. 12b entspricht sachlich 3,22b. V. 11 hat seine Vorläufer in 2,22; 3,9; 6,8. Außerdem liegen Vorausbezüge zu 7,18; 8,7.15 vor. Der Abschnitt ist zweiteilig. An die einleitenden Thesen 6,10 – 11a schließen sich drei Fragen an (6,11b – 12). Die Frage nach „dem, was geschieht“ bildet 6,10a.12a den äußeren Rahmen. Die Themenworte sind „Mensch“ (6,10.11.12) und „erkennen“ (6,10.12). Der Mensch, die Geschichte, die Erkenntnis und das Gute sind hier eng miteinander verbunden.7 6,10 stellt zwei Thesen über die Geschichte, den Menschen und Gott hintereinander. Sie sind im Passiv formuliert, so dass das Subjekt verdeckt ist. Es zu ent-decken, ist Teil des Lehrprozesses, den Kohelet hier durchführt. Der Sache nach liegt ein Rückbezug auf 3,1 – 14 vor: Die Dinge liegen seit und für fernste Zeiten fest und sind im Prinzip bereits vorhanden. Einer Sache oder einem Menschen den eigenen Namen zu geben (wörtlich: „ihren bzw. seinen Namen rufen“), heißt im Alten Testament immer, sie zu dem zu machen, was sie sind. Indem sie in ihrem Namen zur Sprache gebracht werden, werden sie zur Welt gebracht und sind dann unveränderlich. In diesem Sinne benennen sowohl Gott als auch Adam die Dinge bei der Schöpfung (Gen 1,5.8.10 – dort ohne „Name“; 2,19 f.; 3,23), geben Eltern ihren Kindern „sprechende“ Namen (exemplarisch: Gen 29 – 30; Ex 3,10; Hos 1,4 – 10) und werden Orte benannt (z. B. Gen 28,16; Jo 4,2.12). Daneben aber tritt der Namengeber in eine Beziehung zu der Sache, der er benennt: Eltern erkennen ihre Kinder mit der Namengebung als legitim an und nehmen sie in die Familie auf. Theologisch wird dies transparent in Jes 43,1: Die Beziehung Gottes zu Israel/Jakob ist nicht (nur) durch Schöpfung und Erlösung gestiftet, sondern dadurch dass JHWH Israel bei seinem Namen ruft. Mit dem Namen sind die Dinge also nicht einfach „da“, sondern bekommen einen Platz in der Welt.8 In Koh 6,10 ist das Objekt der Namengebung jedoch nicht eine Sache oder eine Person, sondern „das, was geschieht“. Hier knüpft Kohelet an 3,14 an, benennt Gott aber nicht als den, der tut. Vielmehr wird jetzt das Objekt in den Vordergrund gestellt. Was geschieht, ist schon lange „da“ und liegt in seiner Eigenart und Beziehung schon lange fest. In theologischer Hinsicht klingt hier durchaus eine Determination der Welt durch Gott an, zumindest in dem Sinne, dass Gott einen

6 Ähnliches vermutet D. Michel, Untersuchungen, 136 f. 7 Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 106, die aufgrund der Häufigkeit des Begriffs „Mensch“ den Text primär als anthropologisch ausgerichtet bestimmt. 8 Vgl. dazu F.-L. Hossfeld/E.-M. Kindl, ThWAT VII (1993), 136 – 140.

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Plan mit der Welt hat.9 Darin stimmt Kohelet mit der gesamten Theologie des Alten Testaments überein. Sein theologisches Problem besteht jedoch darin, dass der Mensch diesem Plan keinen Sinn abgewinnen kann, weil er ihn nicht durchschaut. Dies erwägt er in 3,14 und ruft es in 6,10 noch einmal ab. Die Passivformulierung „ist gerufen bei seinem Namen“ trägt aber noch einen weiteren Aspekt, der für die Argumentation des Kapitels entscheidend ist. Wenn alles Geschehen der Sache nach schon „da“ und im Grunde „fertig“ ist, dann kommt es darauf an, selbst auch die Dinge beim Namen zu nennen. Man kann die Dinge nicht ändern – auch nicht, indem man sie neu benennt.10 Die Neubewertung und Fortschreibung einer theologischen Tradition durch das Motiv der Umbenennung kommt in den nachexilischen Texten des Alten Testaments vielfach vor. Bekannte Beispiele sind Abram/Abraham und Jakob/ Israel (Gen 17; 35). Kohelets Bezugspunkt sind aber wahrscheinlich die eschatologisch qualifizierten Umbenennungen vgl. Jes 62,2; 65,15.11 Die zweite These wendet sich dem Menschen zu. Das Passiv n da¯C ist als unpersönliche Formulierung aufzufassen: „man weiß“, „es ist bekannt“12. Vor dem Hintergrund der Breite alttestamentlicher Anthropologie muss dies aber präzisiert werden, dies geschieht durch den Hinweis auf die Unmöglichkeit des Rechtens. Auch hier erweist sich 6,10 als eine Fortsetzung des Vorigen, in diesem Fall 3,17: Wenn Gott Gerechte und Ungerechte nach seinen Maßstäben richtet, hat es wenig Sinn, mit ihm rechten zu wollen. Kohelet findet sich hier in sachlicher Übereinstimmung mit Deuterojesaja (vgl. Jes 45,9 – 12), nur dass dort explizit die Allmacht Gottes über Welt und Zeit ins Spiel gebracht wird.13 6,11 bleibt konsequent dabei, dass das Unabänderliche akzeptiert werden sollte: Viele Worte vermehren nur das Flüchtige. Der Satz ist mit Nachdruck formuliert (k je¯ˇs deba¯r m harbe¯ marb m ha¯bæl) und richtet sich daher deutlich gegen die „vielen Worte“. Geradezu unwillig wird die Frage nach dem Nutzen nachgeschoben, die hier der Tendenz nach rhetorisch ist („Was soll das?“, „Was bringt das?“). Angesichts der Menge der Flüchtigkeit ist eine weitere Vermehrung kaum wünschenswert. 6,12 stellt dann klar, dass solche Worte als „Kompetenzüberschreitungen“14 zu betrachten sind. Der Vers verbleibt im Modus der Frage, die beide Male mit „Niemand“ beantwortet werden muss. Die Frage, die Kohelet sich 2,3 stellt 9 Vgl. dazu A. A. Fischer, Skepsis, 110. Zur Frage nach einer Determinationsvorstellung in 6,10 auch A. Schellenberg, Erkenntnis, 106. 10 Vgl. T. Krüger, BK, 246. 11 Vgl. F.-L. Hossfeld/E.-M. Kindl, ThWAT VII, 141 f. 12 Vgl. A. Schoors, Preacher 1, 140; Ders., Preacher 2, 136. 13 Vgl. T. Krüger, BK, 246; A. Schellenberg, Erkenntnis, 107. Eine Deutung des „Stärkeren“ auf den Tod (D. Michel, Untersuchungen, 162 f.; ansatzweise auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 364) ist weniger wahrscheinlich. Dass man mit ihm streiten bzw. rechten könnte, ist kein alttestamentlicher Gedanke. R. Braun, Kohelet, 119 bringt griechische Beispiele, die vom Kampf mit Gott abraten. 14 A. Schellenberg, Erkenntnis, 107.

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„was gut ist für die Menschen, was sie tun…“ wird niemals in diesem Sinne beantwortet. Kohelet kommt immer nur zu Teilergebnissen, die ein Gutes für den Menschen im Horizont der von Gott gesetzten Zeiten feststellen. Niemand kann jedoch für das ganze Leben, das Leben als solches, sagen, was gut ist.15 Ebenfalls kann niemand dem Menschen sagen, was die Zukunft bringen wird – außer Gott selbst (vgl. Jes 41,26; 42,9; 45,21; 46,10, 48,3.5). Doch dieser hat die menschliche Fähigkeit begrenzt, über die Gegenwart hinauszublicken.16 Die Einleitung in 6,10 – 12 stellt die Frage nach dem Menschen in den Horizont der gesetzten Zeiten und der prinzipiellen Unveränderlichkeit der Welt: In betonter Anknüpfung an Kap. 3 beginnt Kohelet seinen Lehrabschnitt damit, dass er die Unveränderlichkeit der Welt reflektiert. Er „setzt voraus, dass Gott durch die determinierten Zeiten und ihren Wandel wirkt, der Mensch aber sein Walten nicht ändern …kann.“17 Den Bezug zu Gott muss der Zuhörer selbst herstellen. Das heißt aber nicht, dass man auf eine weise Lebensgestaltung verzichten muss. Deren Konturen werden im folgenden Abschnitt entfaltet. 7,1 – 9 ist eine Komposition aus sechs „Besser“-Sprüchen, die im Ganzen darstellen, unter welchen Prinzipien eine weise Lebensgestaltung möglich ist. Sie geben keine direkten Anweisungen, was zu tun ist. Vielmehr ist der „Besser“-Spruch „ein gedrängter Beweisgang, den der Angesprochene denkend mitvollziehen soll.“18 Grundlage ist eine Paradoxie: Der Zuhörer soll erkennen, dass die Dinge manchmal anders sind als sie von der allgemeinen Meinung bewertet werden19. Das Hebräische hat keine eigene Steigerungsform. Beim Vergleich wird vielmehr das unveränderte Vergleichswort mit der Präposition min verbunden.20 Beim „Besser“-Spruch ist „gut“ (t. b) das Adjektiv, so dass sich in Koh 7,1 – 9 sechsmal das Wort „gut“ an die Frage von V. 12 anschließt. Durch die didaktische Ausrichtung des „Besser“-Spruchs ergibt sich eine Antwort auf die Frage: Wer weiß, was gut ist? Kohelet weiß zumindest einige „Guts“, an deren Entdeckung er seinen Zuhörer teilhaben lässt. Gibt es vielleicht auch kein absolutes Gutes – zumindest für das gesamte Leben der Menschen – so gibt es doch einige Dinge, die besser sind als andere. Sie stimmen nur nicht unbedingt mit dem zusammen, was allgemein als Gutes gilt.21 In 7,1 – 9 wird dies so gestaltet, dass die Komposition durch zwei doppelte „Besser“-Sprüche gerahmt ist (V. 1.8) und dazwischen einzelne Sprüche 15 16 17 18 19 20

Dies., A. a. O., 108. T. Krüger, BK, 247. A. A. Fischer, Skepsis, 110. C. Klein, Kohelet, 95. Vgl. Ebd. Vgl. ausführlich: E. Jenni, Untersuchungen zur Komparation im hebräischen Alten Testament, in: Ders., Studien zur Sprachwelt des Alten Testaments III, Stuttgart 2012, 63 – 76. 21 Dass Kohelet das Gute immer nur in Relation darstellen kann, ist einer der Gründe, warum „Glück“ wahrscheinlich nicht im Fokus des Buches liegt. Allenfalls geht es um gelingendes Leben.

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jeweils mit einer Begründung aufgeführt werden. V. 6 bildet mit der „Flüchtig“-Formel einen gewissen Einschnitt.22 Der einleitende Spruch 7,1 ist ein Doppelspruch, bei dem das einleitende t. b für beide Glieder gilt. So enthält 7,1 – 9 zwar sechs Sprüche, aber sieben Sachverhalte. Das erste Spruchpaar ist vermutlich der Tradition entnommen, das zweite als dessen Weiterführung von Kohelet selbst formuliert23. Dabei ist der erste eine Meisterleistung hebräischer Spruchdichtung: „Er bildet eine Ellipse (ein t. b fehlt), enthält ein Wortspiel (sˇe¯m und ˇsæmæn) und ist chiastisch aufgebaut“.24. Da außerdem der „Name“ mit „gutem Öl“ verglichen wird, steht t. b pointiert am Anfang und am Schluss: t. b ˇse¯m misˇˇsæmæn t. b. Inhaltlich besagt er, dass ein guter Ruf besser ist als ein guter Geruch. Der Sache nach ist das gut traditionell (vgl. Prv 22,1). Mit dem „Öl“ ist hier das kosmetische Öl gemeint, das zur Körperpflege verwendet wurde. Haut und Haarpflege mit Öl und Salbe gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen zu biblischer Zeit, weil Öl dem Körper einen Schutz vor Sonne, Kälte und – im Nahen Osten – Sand verleiht.25 Das bescheidenste Pflegemittel ist einfaches Olivenöl. Angereichert mit weiteren Duft- und Wirkstoffen dient es hygienischen und medizinischen Zwecken: Es desinfiziert, schützt vor Mücken, Fliegen und Hautkrankheiten und verbreitet einen angenehmen Geruch.26 Als Luxusgut wurden kostbarere Öle verwendet und mit ebenso kostbaren Düften und Zusätzen versetzt (Zimt, Myrrhe, Balsam, Rosen etc.). Die Preise dafür konnten astronomisch sein.27 Öl wird außerdem im Kult und beim Krönungsritual verwendet: Die Gegenstände des Tempels, der König und der Hohepriester werden „gesalbt“ (Ex 29,7; 30,36; 1Sam 9,16).28 Wenn Kohelet hier das Öl statt des herkömmlicheren Reichtums (Prv 22,1) als Vergleichsgröße für den Namen verwendet, dann reißt er auch ein weiteres Spektrum seiner Aussage auf: Der Name – d. h. die Persönlichkeit – ist entscheidend, nicht die Rolle oder Funktion. Mit dem Namen ist an dieser Stelle nicht einfach nur das Ansehen gemeint, sondern der „gute Ruf“ einer Person, der sich ihrer persönlichen Integrität verdankt. In Prv 22,1 wird im Zusammenhang mit dem guten Ruf eingeschärft, dass JHWH alle Menschen geschaffen hat, und dass JHWH-Furcht die Quelle von Reichtum, Ansehen und Leben ist. Für Koh 7,1 ist die ganze Komposition Prv 22,1 – 1629 der Bezugspunkt: Ein guter Name

22 23 24 25 26

Zu dieser Komposition vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 90 f. Vgl. Ders., A. a. O., 91. C. Klein, Kohelet, 87. Vgl. R. Kratz, Art. Kosmetik: www.wibilex.de. Zumindest in Israel und Juda war Wasser knapp und kostbar, man wäscht sich daher nur sparsam. 27 Vgl. R. Kratz, Art. Kosmetik. 28 Nach L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 371, weist das Öl bereits auf das Begräbnis voraus. 29 Analyse: M. Sæbø, Sprüche, 264 – 268.

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ist nicht zufällig, sondern verdankt sich dem Bewusstsein der Angewiesenheit auf Gott. Hier bezieht sich 7,1 auf 6,10 zurück. Dieser erste „Besser“-Spruch wird weitergeführt durch einen zweiten, der eindeutig von Kohelet selbst stammt. Dass der Todestag besser sein könnte als der Geburtstag, ist eine Aussage, die nur individuell und unter dem Eindruck größten Leidens gemacht wird (Hi 3,1; Jer 20,14). Als grundsätzliche Aussage ist es dagegen kaum denkbar, weil mit dem Tod alle Möglichkeiten des Menschseins aufhören. Der Satz ist als Fortführung von 3,2 zu lesen: Wenn es auch für alles eine Zeit gibt, so gibt es doch unter menschlichem Gesichtspunkt gute und schlechte Zeiten. Ob jemand einen guten Namen (gehabt) hat, entscheidet sich erst am Ende seines Lebens.30 Vor dem Hintergrund von Kap. 3 ist aber sehr fraglich, ob ein solches Leben planbar ist, indem man einfach regelkonform lebt. Abgerechnet wird erst zum Schluss (vgl. Sir 11,27 f.). 7,1 hebt hervor, „dass der Mensch hilflos den fallenden Zeiten unterworfen und stets davon abhängig ist, ob sein intentionales Handeln und die von Gott qualifizierte determinierte Zeit zusammenstimmen.“31 Der zweite „Besser“-Spruch 7,2 ist exakt parallel formuliert und rhythmisch geformt. Er wird durch einen Kommentar fortgesetzt, der den Spruch in den Horizont der Gesamtargumentation stellt. Der eigentliche „Besser“Spruch äußert sich zu angemessenem Benehmen: Es gehört sich nicht, zum Feiern zu gehen, wenn in der Nachbarschaft getrauert wird.32 Das „Haus der Trauer“ bezeichnet den Haushalt, der einen Todesfall zu beklagen hat und in dem die üblichen Trauerriten durchgeführt werden.33 Im „Haus des Gastmahls“ hingegen findet eine Feier statt. Misˇtæh (abgeleitet von ˇsa¯ta¯h, „trinken“), bezeichnet jede Art von feierlicher Mahlzeit. Sie kann anlassgebunden (Gen 21,8), als Ausdruck der Gastfreundschaft (Gen 19,3) oder auch einfach aus Wohlbehagen stattfinden (1Sam 25,36).34 Auf jeden Fall ist es die Mahlzeit, die sich in dem, was verzehrt wird (vgl. Gen 18) und durch die Stimmung von normalen Mahlzeiten unterscheidet. Misˇtæh ist zumindest der Sache nach verbunden mit „essen, trinken und Freude“. Vor dem Hintergrund, dass auch das Feiern seine Zeit hat, ergibt sich ein Problem: Wieso ist die Anwesenheit bei der Trauer dann besser als die Anwesenheit bei der Feier? Vor einer Entscheidung kann man nur dann stehen, wenn beides gleichzeitig stattfindet und es darum geht, zu wissen, was jetzt angemessen ist. Wegen dieser Unsi30 Vgl. C. Klein, Kohelet, 88; A. A. Fischer, Skepsis, 92; T. Krüger, BK, 251.; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 371. Gleichwohl ist das Thema von 7,1 ff. nicht der Gegensatz zwischen Trauer und Freude (Ebd.). Dass 7,1 oder der ganze Text sich gegen einen apokalyptischen Pessimismus wenden, der den Tod höher schätzt als das Leben (D. Michel, Untersuchungen, 134 – 137), ist wenig wahrscheinlich. 31 A. A. Fischer, Skepsis, 110. 32 Ders., A. a. O., 92. 33 Vgl. M. Köhlmoos, Art. Trauer : www.wibilex.de. 34 Es bietet sich nicht an, das Gastmahl ausschließlich auf eine Geburtstagsfeier zuzuspitzen, um die Parallel zu V. 1 herzustellen (so L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 371 f.).

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cherheit präzisiert Kohelet den „Besser“-Spruch durch einen erklärenden Kommentar. Der Besuch im Trauerhaus wird dem Weisen zum „memento mori“: Im Trauerhaus ist das endgültige „Ende“ aller Menschen. In 2,14 – 16 hatte Kohelet anhand seines eigenen Lebens entwickelt, dass der Weise sich darin vom Toren unterscheidet, dass er um sein Todesgeschick weiß. Dem Tod im Trauerhaus zu begegnen, heißt demnach, das Todesgeschick des Menschen wahrzunehmen und dementsprechend das Leben zu gestalten. Kohelet bekräftigt dies mit einem Imperativ, der sogar über seinen Zuhörer hinausgeht: „Der Lebende gebe sein Herz darauf!“, d. h., wer lebt, soll es zu seiner Lebensaufgabe machen, Leben im Horizont des Todesgeschicks zu begreifen. Nach Kohelets Ansicht gelingt dies besser im Trauerhaus als im Festhaus. Jes 22,13 belegt, dass man das Fest durchaus als Memento Mori zu gestalten verstand.35 Israels ganze Festkultur mit ihrer Betonung der Freude gewinnt einen Großteil ihrer Eigenart daher, dass das Leben endlich ist und eine Begegnung mit Gott nur im Jetzt und Hier möglich ist. Die weisheitliche Lebensaufgabe zielt aber darauf, wahre Gottesfurcht zu verwirklichen. Im Horizont von Kap. 2 – 3 bedeutet das, das Leben vom Ende her zu gestalten und dann auch gelegentlich „gegen“ die Zeit zu leben. Auch 7,3 bezieht sich auf Kohelets Lebensprogramm zurück: Er stellt den „Verdruss“ (ka¯Cas, vgl. 1,18) dem „Lachen“ (s´a¯h. aq, vgl. 2,2) gegenüber. Da auch dieser Vergleich ungewöhnlich ist, erläutert er Kohelet ihn mit einer Begründung, die aber ebenso überraschend ist. Verdruss kommt jedoch durch das mühsame Geschäft des Weisheitserwerbs zustande, wohingegen Lachen Irrtum oder sogar Albernheit ist. Wem man den Verdruss ansehen kann, der zeigt also, dass sein Herz bei der Weisheit ist – und das lässt es dem Herzen gut gehen: „Die traurige Miene ist Zeichen einer guten, das heißt, richtigen Einsicht“.36 7,4 nimmt innerhalb der Argumentation eine Übergangsfunktion ein: Zum einen werden die Einsichten von Vv. 1 – 4 hier noch einmal gebündelt und präzisiert. Dem Trauerhaus den Vorzug vor dem Haus der Freude zu geben, ist das angemessene Verhalten des Weisen. Seit 7,2 steht implizit im Raum, dass es die Einsicht des Weisen in seine Endlichkeit ist, die hier zur Debatte steht. Dies wird hier jetzt explizit und noch einmal zugespitzt: Es geht nicht nur um die 35 C. Uehlinger, Qohelet, 229 – 235 votiert mit guten Gründen dafür, Kohelet als „Symposiarchen“ zu verstehen und seine Texte im Symposium zu verwurzeln. Tatsächlich hat das Memento Mori (unter anderem) hier eine gute Tradition. Gleichwohl scheint die die negative Haltung zum „Gastmahl“ in 7,2 eher dagegen zu sprechen. Zum Ablauf eines griechischen Symposiums s. „Gastmahl.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. 30 September 2014

First appeared online: 2006 36 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 372.

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jeweils physische Anwesenheit, sondern um die Ausrichtung des Herzens.37 D.h. der Weise hat das Trauerhaus mit allen seinen Implikationen stets im Herzen, der Tor hingegen setzt auf Freude. Mit dem Paar Weiser/Tor lenkt Kohelet aber schon zur nächsten Einheit über. Sind solcherart Kohelets Präzisierungen gegenüber allgemein geltenden Ansichten deutlich geworden, kann er in 7,5 eine ganz „klassische“ Äußerung treffen, vgl. der Sache nach Prv 13,1.8; 15,12. Die Formulierung ist allerdings weniger streng als die vorigen Sprüche. Der Gegensatz wird nicht durch die Parallele „Besser zu hören … als zu hören“ ausgedrückt, sondern „besser zu hören … als jemand, der hört…“. Auch die Semantik ist nicht so eindeutig wie in den vorigen Versen. ga¯Car ist der Zorn, der laut wird, etwa „ein Donnerwetter los lassen“ (Gen 37,10)38 und kann die Belästigung (Ru 2,16) und die Drohung (Jes 30,16) mit einschließen.39 Sˇ r, das „Lied“ hat eine große Bedeutungsbreite vom Preislied bis zum Kriegsgeschrei.40 Da ga¯Car weisheitlich den Tadel bezeichnet, scheint das Lied auf den Lobpreis zu weisen, auf jeden Fall ist die Lautstärke mitzuhören41. Obwohl das Wort inhaltlich eindeutig ist, wird es in 7,6 durch ein Bildwort verdeutlicht. Die „Dornen“ und der „Topf“ (beides s r) bilden ein Wortspiel mit dem „Lied“ (sˇ r), außerdem besteht eine Assonanz zwischen hass r m („Dornen“) und kes l m („Toren“).42 Derjenige, der dem Toren zuhört, ist also so nutzlos wie die Dornen, die man nur als Zunder benutzt, gleichzeitig ist auch das „Lachen“ des Toren bloß kurzfristiges Knistern. Hier passt die „Flüchtig“-Aussage bruchlos in den Kontext und zwar so, dass Kohelet hier einer traditionellen Weisheit mit dem „Flüchtig“ zustimmt.43 Die Formel schließt den Gedankengang ab, der mit allen Mittel herausgearbeitet hat, dass Torheit völlig nutzlos ist. 7,7 sticht aus dem Gedankengang heraus, weil er eine Begründung gibt, ohne einen vorangehenden „Besser“-Spruch zu kommentieren. Der Inhalt ist einigermaßen klar : „Unterdrückung“44 lässt selbst Weise irren, und eine „Gabe“ vernichtet die Ausrichtung ihres Herzens. Die Gabe muss eine Bestechungsgabe meinen. Da aber die Gabe Gottes bei Kohelet eine wichtige Rolle spielt, hängt der Satz in der Luft – ihm fehlt der Bezug. Es ist schon immer vermutet worden, dass in 7,7 ein einleitender „Besser“-Satz im Verlauf der Textüberlieferung ausgefallen sein könnte, weil sich kein logischer An-

37 Vgl. Ebd.; A. A. Fischer, Skepsis, 92. 38 Überwiegend wird die Wurzel in theologischen Zusammenhängen verwendet, bei denen Gott gegen seine Feinde laut wird, Vgl. A. Caquot, ThWAT II (1977), 53 – 55. 39 Vgl. A. Caquot, ThWAT II, 51 – 53. 40 Vgl. H.-J. Fabry u. a., ThWAT VII (1993), 1259 – 1296. 41 A. Caquot, ThWAT II, 53; A. Schoors, Preacher 2, 378. 42 Vgl. C. Klein, Kohelet, 116. 43 Vgl. A. A. Fischer, 93. 44 Hier ist die Konnotation „Terror“ mitzuhören, vgl. den Kommentar zu 4,1 – 6.

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schluss von V. 7 an V. 6 geltend machen lässt.45 Der Textbefund von 4QQoha scheint dies zu unterstützen, dort findet sich am Anfang von V. 7 eine Textlücke.46 7,8 bildet den Abschluss der Reihe mit einem Doppelspruch. Er enthält in beiden Sätzen das „Gut“; hier sind zwei ursprünglich unabhängige Sätze zu einem „Doppelsprichwort“ verbunden worden47. Dabei ist die erste Hälfte strenger und rhythmischer als die zweite. 7a kehrt zum Ausgangspunkt der Reihe und zur Einleitung zurück: Der wahre Charakter eines Sachverhalts ergibt sich aus menschlicher Perspektive erst am Schluss. Damit sind nicht nur das Leben und der Tod gemeint, sondern es gilt allgemein von allem. Es muss damit nicht zwangsläufig auch verbunden sein, dass sich am Ende eine Sache als gut herausstellt, die am Anfang weniger gut erschien.48. Thematisch vergleichbare Sätze in Prv 14,12; 23,31 f; 29,21 zeigen sogar das Gegenteil: Was am Anfang gut erscheint, stellt sich am Ende als tödlich heraus. Im Unterschied zu den Werken Gottes 3,11 können die Dinge im Leben von Anfang bis Ende wahrgenommen werden und sind von ihrem Ende zu bewerten. Dem schließt sich der zweite „Besser“-Spruch an, der bereits zu den Instruktionen von V. 9 – 14 überleitet. Er formuliert die Konsequenz aus der allgemeinen Wahrnehmung mit anthropologischem Schwerpunkt: Besser ein langer Atem als ein „hoher“, d. h. einer, der rasch in die Höhe steigt und dort verpufft. Der Satz entspricht unserer Maxime „Erst einmal tief durchatmen“. In den sechs (sieben) „Besser“-Sprüchen wird deutlich, dass die Weisheit einen praktischen Nutzen haben kann. Der Weise ist sich seiner Begrenztheit bewusst und so ergibt sich, dass ein Leben in Ernst und Geduld besser ist als eines, das dem Impuls des Augenblicks nachgibt – selbst dann, wenn scheinbar die Zeit der Freude und des Lachens da ist. 7,9 – 14 setzen diese Einsichten in praktische Ermahnungen um. Sie binden die vorigen Erkenntnisse nicht nur an das Handeln, sondern stellen sie am Schluss wieder in den Horizont theologischer Betrachtung. 7,9 beginnt mit einem verneinten Imperativ an den Zuhörer, der die Einsicht des letzten „Besser“-Spruchs in eine Ermahnung umsetzt. Auch der Zuhörer soll langmütig bleiben, indes – und das ist überraschend – im Hinblick auf den „Verdruss“ (ka¯Cas). Da Kohelet diesen in V. 3 scheinbar für gut erklärt hat, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Aussagen. Indes ist auf die Relationen zu achten: Kohelet behauptet in V. 3 nicht, dass Verdruss gut sei, nur dass er besser sei als Lachen. Überdies ist er nach 1,18 der Preis der Weisheit. Gleichwohl gilt auch hier, dass die Dinge ihre Zeit brauchen und man 45 Die Interpretationen von T. Krüger, BK, 252; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 375, die ohne diese Annahme auskommen, überzeugen nicht recht. Die Analyse von D. Michel, Untersuchungen, 127, operiert mit einer Textänderung, die gute Tradition hat (Vgl. BHQ *90 f.). 46 Diskussion bei D. Michel, Untersuchungen, 130 – 132. A. A. Fischer, Skepsis, 94 f. Vgl. dazu jetzt E. Ulrich, Qumran Cave 4/XI, Oxford 2000 (DJD XVI), 221 – 228. 47 C. Klein, Kohelet, 90. 48 So L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 376.

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Gut und besser

dem Verdruss nicht vorschnell nachgeben sollte. Die nachfolgende Begründung unterstützt dies: Der „Schoß“ (h. e¯q) bezeichnet das Innerste des Menschen, den Sitz der Leidenschaften und der sexuellen Lust. Negative Emotionen an dieser Stelle des Körpers wirken zerstörerisch (Hi 19,27; Ps 89,5), d. h. der Tor lässt sich von seinem Verdruss „auffressen“, anstatt ihn produktiv zu nutzen.49 In 7,10 folgt ein zweiter verneinter Imperativ : Die Frage nach den früheren Zeiten soll nicht gestellt werden. Hier führt Kohelet tatsächlich eine Auseinandersetzung mit einer Gegenposition, die seinem Zuhörer in den Mund gelegt wird. Die Frage ist in klassischem Hebräisch sehr elegant formuliert und wirkt mit Rhythmus, Reim und Alliterationen (Betonte Silben unterstrichen: mæ ha¯ja¯h // ˇsæhajja¯m m ha¯riBˇs n m ha¯j t. b m me¯Be¯llæh) fast wie tatsächlich öffentlich vorgetragen. Es dürfte sich daher um eine prominente Ansicht handeln, die Kohelet hier zurückweist. Das bessere „Früher“ findet sich der Formulierung (aber ohne „Tage“) nach in Jes 1,26; Hos 2,9; Mi 4,8; Hag 2,3; 2Chr 17,3. Der Sache nach ist dies das Anliegen der Geschichtstheologie vor allem dtr. Prägung: Die Gottesbeziehung der gründenden Urzeit Moses und Josuas ist seit Josuas Tod für immer verloren, Israel hat sich nicht bewährt. Aber unabhängig davon, wer mit welcher Autorität die Befolgung der Gebote JHWHs durchsetzt, dürfte es doch die Meinung der überwiegenden Mehrzahl der zeitgenössischen Theologen gewesen sein, dass die Zeiten früher besser waren, weil in diesen Tagen die Gebote (bzw. bei Tritojesaja: die Gerechtigkeit) missachtet werden.50 Gleichzeitig ist die Ansicht von der Geschichte als Verfallsgeschichte auch in der griechischen und hellenistischen Philosophie weit verbreitet und wird als Zeitalterlehre reflektiert.51 Besonders populär war die Version, die Aratos von Soloi (310 – 245 v. Chr.) in seinen Phainomena gibt. Kohelet könnte diesen weit verbreiteten Lehrtext gekannt haben. Die Entgegnung ist scharf: Die Frage nach den früheren Zeiten hat nichts mit Weisheit zu tun. An kaum einer Stelle im Buch grenzt sich Kohelet so eindeutig und eindrücklich von seinem Umfeld ab wie in 7,10. An dieser sensiblen Stelle sind die 7,11 – 12 als Fortschreibung eingetragen worden. Für eine Einschreibung sprechen sprachliche, formale und sachliche Gründe. Kohelet spricht nie vom Guten, ohne es näher zu bestimmen, in V. 11 erscheint aber ein absolutes „Gut“. Die Präposition Cim, „mit, bei“ muss hier wohl komparativ aufge49 Ähnlich A. A. Fischer, Skepsis, 95. Anders T. Krüger, BK, 253; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 377, die in V. 8 einen diametralen Gegensatz zu V. 3 sehen. 50 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 377, unterschätzt die Dominanz dieser Theologie ganz erheblich. 51 „Zeitalter.“ Der Neue Pauly. Herausgegeben von: Hubert Cancik, Helmuth Schneider (Antike), Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2014. Reference. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main Johann Christian Senckenberg. 30 September 2014

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fasst werden („Weisheit ist so gut wie Besitz“), was nicht typisch für Kohelet ist.52 „Die Sonne sehen“ erscheint bei Kohelet nur im Singular (6,5) oder in verbaler Formulierung (11,7), nicht aber als Synonym für die Lebenden. Nah. a¯la¯h, „Erbbesitz“ wird nur hier verwendet. V. 12 wird vom „Schatten“ gesprochen, der wohl positiv gemeint ist. Die anderen Belege bei Kohelet (6,12; 8,13) sind aber negativ besetzt und außerdem metaphorisch. Auch die elliptische Formulierung „Im Schatten der Weisheit – im Schatten des Geldes“ ist schwierig zu verstehen. Jitr n wird bei Kohelet nicht mit „Erkenntnis“ verbunden. Auch inhaltlich entsprechen die Verse nicht ganz dem, was für Kohelet typisch wäre. Das gilt vor allem für V. 12b: Dass Weisheit einen Besitzer hat, den sie am Leben erhält, liegt kaum im Horizont seines Denkens. Weisheit ist in diesem Leben sinnvoll, aber nicht für dieses Leben. Die Zusammenschau von Weisheit und Besitz ist ebenfalls unerwartet, selbst wenn hier umlaufende Sprüche aufgegriffen werden. Und schließlich formuliert Kohelet seine Erkenntnisse nie unpersönlich („Ertrag der Erkenntnis“), sondern sagt „Ich erkannte“; „Erkenntnis“ steht zudem immer in Parallele zu „Weisheit“. Formal sperren 7,11 – 12 den Zusammenhang zwischen 7,10.13 und tragen eine Digression ein. Auf der anderen Seite greifen die Verse erkennbar Kohelet-Vokabular und –stil auf. Die Beobachtungen sind vor allem in der älteren Forschung intensiv diskutiert worden53. Ob 11 – 12 tatsächlich so typisch weisheitlich sind, wie Podechard und Buzy behaupten, sei dahingestellt. Gleichwohl wird Besitz hier geschätzt und gleichzeitig unterstrichen, dass die Weisheit einen Vorrang hat, sogar zum Leben führt. Das liegt in etwa auf der Linie von Prv 1,19; 3,14; 7,27. Dass hier ein Ausgleich zwischen Kohelet und dem Sprüchebuch vorgenommen wurde, ist gut denkbar. Unklar ist allerdings, was den Eintrag ausgerechnet an dieser Stelle veranlasst haben mag. In den vorigen Abschnitt (5,9 – 6,9) würde sie sich besser einfügen. Einen plausiblen Vorschlag zur Interpretation macht Fischer : Sowohl Weisheit als auch Besitz sind nur in diesem Leben von Nutzen, und die Weisheit kann ihrem Besitzer eben dieses Leben auch erhalten. D.h. die Einschreibung ist von den Überlegungen zur Endlichkeit her motiviert,54 enthält aber wohl ebenfalls eine weisheitliche Entgegnung an eine eschatologische Armenfrömmigkeit.

7,13 führt den ursprünglichen Gedankengang fort und setzt der negativen Aufforderung eine positive entgegen: Statt unweise zu fragen (und sich an Schriftgelehrte zu wenden), soll der Zuhörer unmittelbar das Werk Gottes betrachten. Eine Frage an den Sinn der Geschichte ist damit zwar unmöglich (vgl. 3,11), wohl aber die Erkenntnis, dass Gott alles schön gemacht hat zu seiner Zeit. In den Termini der Argumentation von 6,10 – 7,13 heißt das, die Erkenntnis zu gewinnen, dass die Dinge alle bereits bei ihrem Namen gerufen sind – von Gott, wie erst jetzt ausdrücklich festgestellt wird. Kohelet bekräftigt dies mit dem Rückgriff auf das Sprichwort von 1,15. Von 7,13 aus wird deutlich, dass jeder Versuch, die Dinge zu ändern, in die Kategorie „Irrtum“ 52 Vgl. A. Schoors, Preacher 1, 201 f.; Ders., Preacher 2, 403. 53 Vgl. dazu D. Michel, Untersuchungen, 101 f. 54 A. A. Fischer, Skepsis, 96.

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und „Torheit“ fallen würde. Nicht nur, dass die Dinge nicht zu ändern sind, sondern Gott hat sie so gemacht. Die Frage „Wer kann gerade machen…“ impliziert die Antwort „niemand“ – und das ist auf seine Weise eine Erkenntnis Gottes wie der Welt.55 7,14 schließt die Einheit ab. Sie beginnt mit einer Aufforderung: Am guten Tag sei guter Dinge. Auffallenderweise gibt es keine Aufforderung, wie der „böse Tag“ zu gestalten sei. Statt dessen fordert Kohelet seinen Zuhörer erneut zur Betrachtung dessen auf, was Gott macht – den bösen Tag wie den guten. Der letztere lässt sich auch nicht mit einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft relativieren. Der Sache nach greift die letzte Bekräftigung auf 6,12 zurück, formuliert aber anders. Der Mensch kann die Zukunft nicht „finden“. Die auffallend präzise Formulierung scheint außer einer Abgrenzung gegenüber eschatologischen Hoffnungen noch einen weiteren Horizont aufzureißen. Schon die Gegenüberstellung des „guten“ und des „schlechten“ Tages erinnert an die Hemerologie, die „Tagewählerei“.56 Auch sie geht von der Voraussetzung aus, dass die Tage qualitativ von Gott festgelegt sind. Die teils astronomische, teils spekulative Wissenschaft der Hemerologie versucht aber, dem Geheimnis der Tage auf die Spur zu kommen. In spezifisch jüdischer Brechung wird diese uralte Wissenschaft vor allem vom (astronomischen) Henochbuch rezipiert, in dem Henoch auf dem Weg der Himmelsreise Einsicht in die himmlische Welt und ihre Ordnungen erhält und somit die kultischen und geschichtlichen Zeiten verstehen lernt.57 Wie schon in 3,11 (und 6,12) verteidigt Kohelet hier den Anspruch einer „salomonischen“, d. h. historisch verifizierbaren und aufs praktische Leben zielenden Weisheit gegen den Anspruch der – vor allem an Henoch orientierten – spekulativen Offenbarungsweisheit, die sowohl die Erkenntnis- als auch die Lebensgrenzen überschreitet.

55 Nach demselben Muster verfahren die Fragen JHWHs an Hiob Hi 38 – 39, vgl. dazu M. Köhlmoos, Auge, 328 f. Vgl. auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 380; A. A. Fischer, Skepsis, 105. Dass es einen Zusammenhang zwischen Koh 7,13 und dem Hymnus des Kleanthes von Assos gibt, wie Fischer annimmt, ließe sich erwägen. 56 Vgl. dazu K. Stuckrad, K., Art. Tagewählerei, Der Neue Pauly XI (2001), 1220 – 1223. 57 Ausführlich: M. Albani, Astronomie und Schöpfungsglaube. Untersuchungen zum astronomischen Henoch Neukirchen-Vluyn 1994 (WMANT 68); vgl. auch K. Koch, Die Anfänge der Apokalyptik und die Rolle des astronomischen Henochbuchs, in: Ders, Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn, 1996, 3 – 44.

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Alles in Maßen? Koh 7,15 – 22 7,15 Alles sah ich in meinen flüchtigen Tagen: Es gibt einen Gerechten, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit. Und es gibt einen Frevler, der lange lebt mit seinem Frevel. 7,16 Sei nicht übermäßig gerecht und sei nicht überaus weise. Warum willst du erschreckt werden? 7,17 Frevle nicht übermäßig und sei kein Tor. Warum willst du sterben vor deiner Zeit? 7,18 Gut ist es, wenn du das eine ergreifst und vom andern deine Hand nicht lässt. Denn der Gottesfürchtige entgeht ihnen allen. 7,19 Die Weisheit macht den Weisen stärker1 als zehn Machthaber, die in der Stadt sind. 7,20 Denn es gibt keinen Menschen auf der Erde, der so gerecht ist, dass er nur Gutes tut und nicht sündigt. 7,21 Auch auf alle Worte, die man so redet, richte nicht dein Herz, damit2 du die Schmähungen deines Knechtes nicht hörst. 7,22 Denn viele Male – dein Herz weiß es – hast du andere geschmäht. In 7,15 – 22 erteilt Kohelet weitere Ratschläge an seinen Zuhörer. Sie werden aus einer Beobachtung abgeleitet und betreffen Gerechtigkeit und Frevel. Diese bestimmen sich an Weisheit und Gottesfurcht. 7,15 – 22 bilden einen geschlossenen Abschnitt. Die Einleitung V. 15 setzt den Text von der vorigen Reflexion ab. Das Ende wird durch die Aufforderung 7,21 markiert.3 Der Text ist eine Instruktion, die mit einigem Nachdruck zu richtigem Verhalten auffordert. Mit den Stichworten „Gerechtigkeit“ und „Frevel“ bezieht sich Kohelet auf seine entsprechenden Beobachtungen in Kap. 4 – 5 zurück und zieht aus den dortigen Reflexionen die praktischen Konsequenzen. Der zentrale Satz ist 4,204. Er ist ein Zitat von 1Kön 8,46. Durch ihn wird der Abschnitt in die Salomofiktion integriert. 7,15 – 18 bilden den ersten Teil. Er ist sorgfältig aufgebaut. Aus der Beobachtung (V. 15) gehen zwei Anweisungen hervor, die gleichartig gestaltet sind: Doppelte Anweisung – Frage (Vv. 16 – 17). V. 18 zieht die ebenfalls als An1 Die meisten Versionen lesen das Verb transitiv : ta¯Cz r, „stärkt“, vgl. BHQ. MT hat lectio difficilior, eventuell mit intransitiver Bedeutung (ist stärker), vgl. zur Diskussion A. Schoors, Preacher 2, 407 f.; F. J. Backhaus, Zeit, 229. 2 Der Satz wird mit einer Relativpartikel angeschlossen, die final (so die Mehrzahl) oder kausal bzw. explikativ (so N. Lohfink, NEB; D. Michel, Untersuchungen, 239 f.; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 351) aufgefasst werden kann. Das finale Verständnis ist kontextuell am sinnvollsten, vgl. zur Diskussion A. Schoors, Preacher 1,143; D. Dieckmann, Worte, 217. 3 A. A. Fischer, Skepsis, 97 – 102, zieht die Verse sachlich und kompositorisch zum vorigen Abschnitt. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 394 – 396, betrachtet Vv. 21 – 22 als Einzelsequenz. 4 F. J. Backhaus, Zeit, 229.

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weisung gestaltete Folgerung. „Gerechtigkeit“/„Frevel“, „Weisheit/„Torheit“ und „langes Leben“/„Sterben“ sind in kunstvoller Weise miteinander verknüpft. „Gottesfurcht“ ist der Bezugspunkt.5 7,15 beginnt mit einer Beobachtung, die Kohelet im Laufe seines Lebens als König gemacht hat. Nach den intensiven Reflexionen über Zeit und Sterblichkeit verwundert es nicht, dass er diese in die Beobachtung integriert („in meinen flüchtigen Tagen“). Das bedeutet aber auch, dass der Zusammenhang von Weisheit und Sterblichkeit – also Kohelets „eigentliche“ Weisheit – in diesen Sprechakt eingebracht wird.6 Die Beobachtung wird mit einem betonten „alles“ eingeleitet, schildert dann aber zwei exemplarische Fälle.7 Sie sind streng parallel gestaltet und formulieren durch die Partizipien einen zeitlosen Dauerzustand. Der Sache nach ist es eine Antithese: Der Gerechte geht zugrunde (Ba¯bad), der Frevler lebt lange (Ba¯rak). Die Wahrnehmung stellt die Grundannahme vor allem der älteren Weisheit auf den Kopf, wonach es genau umgekehrt ist (exemplarisch: Prv 10,3.24 f.27 f.30, aber auch Hi 4,7 – 11; Ps 1). In diesen „klassischen“ Sätzen ist vorausgesetzt, dass der Gerechte „durch“ bzw. „wegen“ seiner Gerechtigkeit lange lebt, während sich der Frevler durch seinen Frevel zugrunde richtet. Dies ist das Phänomen des sog. „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, nach dem sich – mit oder ohne Gottes Zutun – eine Tat am Täter vollendet.8 Man kann ihn als Paradigma nicht nur alttestamentlichen, sondern altorientalischen Denkens bezeichnen. Er beruht auf der (empirischen) Beobachtung, dass eine Ursache eine Wirkung hat, und dass man (häufig) von der Wirkung auf die Ursache zurückschließen kann. Auf dem Tun-Ergehen-Zusammenhang fußen außer der Weisheit auch Geschichtstheologie, Prophetie und Recht: Gutes wirkt Gutes; Böses wirkt Böses. Während die pädagogisch ausgerichtete Weisheit diesen Zusammenhang – bei Wahrnehmung seiner Kontingenzen und Grenzen – als funktionierende Ordnung beschreibt, die durch weises Verhalten in Gang gehalten wird, und das Recht durch Sanktionen vor allem die negative Seite in Grenzen hält, befassen sich Prophetie und Gebet mit jenen Situationen, in denen er scheinbar nicht funktioniert. Dass die Gerechten leiden müssen, während die Frevler scheinbar von ihrem Frevel profitieren, hat die alttestamentliche 5 Zur Komposition vgl. grundlegend: R. Lux, Der „Lebenskompromiß“ – ein Wesenszug im Denken Kohelets? Zur Auslegung von Kohelet 7,15 – 18, in: J. Hausmann/H.J. Zobel (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und biblische Theologie (FS H.D. Preuß), Stuttgart 1992, 267 – 278. 6 Anders A. A. Fischer, Skepsis, 97. 7 Das voranstehende Objekt Bæt-hakkol wird in der Regel als „beides“ aufgefasst, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 5. Das ist möglich, es handelt sich aber bei den beobachteten Fällen nicht um Grenzfälle (so A. A. Fischer, Skepsis, 96). 8 Klassisch: K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament, in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1., hg. B. Janowski und M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 65 – 103; B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167 – 191. zuletzt: G. Freuling, Grube.

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Theologie immer gewusst, reflektiert es aber nicht in der Weisheit, sondern im Gebet (vgl. z. B. Ps 10; 12; 36; 37; 53; 94; 140).9 Psalmen und Prophetie setzen darauf, dass Gottes kontingentes Eingreifen einen gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhang wieder in Kraft setzt;10 Recht, Tora und Weisheit schärfen dem Menschen und den Institutionen ein, ihn durch rechtes Verhalten aufrecht zu erhalten. Mit der ersten Möglichkeit hatte sich Kohelet schon 3,16 – 22 auseinandergesetzt. Menschliches Handeln und göttliche Zeit sind nicht konvergent. Kann man also durch eigenes Verhalten dazu beitragen? An die Beobachtungen schließen sich in 7,16 zwei Aufforderungen an, die scheinbar zum Maßhalten auffordern. Vor allem die erste ist irritierend. Alttestamentlich ist Gerechtigkeit ein Superlativ. Ein mehr oder weniger gerecht kann es nicht geben. Wer nicht hinreichend gerecht ist, ist ein Frevler. Kann es also eine „moderate“ Gerechtigkeit geben? Und wie müsste sie aussehen?11 Die Frage wird nicht sofort beantwortet, sondern die Antwort ergibt sich schrittweise mit jedem neuen Argument. Bereits die zweite Aufforderung gibt hier die Richtung vor. Der verwendete Verbalstamm von h. a¯kam, „weise sein“, drückt die Anstrengung aus12. Die Formulierung mit der Partikel j te¯r kennzeichnet in 2,15 den Durchbruch zu Kohelets weisheitlicher Grunderkenntnis. Die Mahnung zielt also darauf, dass der Zuhörer sich nicht um ein Übermaß an Weisheit bemühen soll, ohne die Sterblichkeit zu berücksichtigen. Die sich anschließende Frage schärft dies ein: Ohne diese Einsicht kommt es zu dem Erschrecken, das Kohelet in den Lebenshass getrieben hatte.13 Seine Instruktionen wollen dem Zuhörer gerade diese Erfahrung ersparen und ihn gleich am richtigen Punkt beginnen lassen. Das heißt aber im Rückschluss auf die Gerechtigkeit, dass auch sie die Sterblichkeit und das Gericht Gottes von 9 Die Infragestellungen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs durch das Hiobbuch, Kohelet und einige späte Psalmen sind daher nicht notwendigerweise ein spätes Phänomen noch ein Indiz dafür, dass eine „optimistische“ Weisheit an ihr Ende gelangt sei. Wie mit dem Tun-ErgehenZusammenhang umgegangen wird, hängt von dem Diskurs ab, in dem er thematisiert wird, vgl. dazu G. Freuling, Grube. 10 Vgl. B. Janowski, Tat, 190. 11 Die Anweisungen in Koh 7,15 ff. werden in der Regel als Empfehlung der „Via Media“ gelesen, also als Anweisungen zu einem vernünftigen und sinnvollen Maßhalten im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, vgl. besonders L. Schwienhorst-Schönberger, Via Media. Koh 7,15 – 18 und die griechisch-hellenistische Philosophie, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 181 – 204; Ders., HThKAT, 383 f. Ältere Literatur bei A. A. Fischer, Skepsis, 99. Mit Einschränkungen auch Ders., A. a. O., 100 f.; T. Krüger, BK, 257. Dass diese Deutung wenig wahrscheinlich ist, hat anhand des Sprachbefundes nachgewiesen K. Ehlich, Die Verwendung der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistisch-philologische Untersuchungen zum hebräischen deiktischen System, Teil 2, Frankfurt/Main 1979 (Forum linguisticum 124), 850: „Beides nicht übermäßig zu sein, wäre also die Empfehlung Qohäläts – eine absurde Empfehlung für einen Weisheitslehrer, dessen ganzes Handlungssystem auf der Ausschließlichkeit beider Handlungsweisen aufbaut.“ 12 A. Schoors, Preacher 2, 24; M.V. Fox, Time, 264. 13 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 230.

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vornherein berücksichtigen muss. Nicht im Übermaß gerecht zu sein, heißt dann, unter „eschatologischem Vorbehalt“ gerecht zu sein. 7,17 hat dieselbe Struktur. Die Anweisung, nicht im Übermaß zu freveln, bleibt vorerst in der Luft hängen, und auch sie ist unmöglich. „Ein bisschen Frevel“ gibt es nicht.14 Dagegen sagt die zweite Anweisung klar und unmissverständlich „sei kein Tor“. Torheit ist anders als Frevel völlig vermeidbar – und sollte es natürlich auch sein.15 Auch hier bringt die Frage die Klärung. Der Tor stirbt vor seiner Zeit, weil er die Erkenntnis der fallenden Zeiten nicht hat – für ihn wird daher jeder Tod unzeitig sein. Das gilt dann auch im Ergebnis für den Gerechten und den Frevler : Wer nicht begriffen hat, dass intentionales Handeln und Gottes Zeiten nicht zusammenstimmen, wird immer zum falschen Zeitpunkt sterben, zu lange oder zu kurz leben. Von hier aus stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Gerechten und Frevlern überhaupt sinnvoll sein kann. 7,18 bildet den Abschluss dieser Instruktion. Er ist sprachlich und sachlich anspruchsvoll, denn Kohelet fordert dazu auf, etwas zu tun, obwohl er vorher nur Verbote ausgesprochen hat. Da er vom Übermaß an Weisheit und von der Torheit nachdrücklich abgeraten hatte, kann sich das Ergreifen nur noch auf Gerechtigkeit und Frevel beziehen, die der Zuhörer gleichzeitig und tatkräftig anpacken soll.16 Obwohl es sich nicht um einen „Besser“-Spruch handelt, formuliert diese Aufgabe doch ein ähnliches Paradox wie diese. Der Zuhörer soll zwei Dinge gleichzeitig tun, die sich gegenseitig ausschließen. Die Lösung des Paradoxes formuliert der schwierige Satz am Abschluss des Verses. Der Gottesfürchtige entgeht allen Gefahren: Zum einen der (falschen) Alternative von Gerechtigkeit und Frevel, zum anderen den Konsequenzen des Erschreckens und des frühen Todes.17 Gemeint ist Gottesfurcht in Kohelets Definition: Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, Wissen um Undurchschaubarkeit des göttlichen Plans. In dieser Argumentation wird Weisheit mit Gottesfurcht identifiziert, und Gottesfurcht ersetzt Gerechtigkeit.18 An dieser Stelle befindet sich Kohelet in einer Auseinandersetzung mit der Weisheit des Proverbienbuches. Sie kommt zu ähnlichen Ergebnissen, verzichtet aber nicht auf das Konzept der Gerechtigkeit, im Gegenteil. Der gottesfürchtige Weise (Prv 1,1 – 7) ist der Gerechte (Prv 10 ff.) Diese Identifikation wird durch Kohelets Entwurf nachhaltig problematisiert.19 Damit befindet sich Kohelet in derselben Problemkonstellation wie das Hiobbuch. Auch dort werden die Aporien der theologischen Leitdifferenz Gerechtigkeit/Frevel durchbuchstabiert. Das

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Vgl. M.V. Fox, Time, 260. Dies betont besonders T. Krüger, BK, 257. Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 100. Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 388 f. F. J. Backhaus, Zeit, 231. Vgl. T. Krüger, BK, 258.

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Ergebnis ist im Hiobbuch eine Gott-Mensch-Relation, die in der Anerkenntnis des allmächtigen Schöpfers mündet.20 7,19 gibt einen weiteren Bezugspunkt des Diskurses an. Das Verb Ca¯zaz („stark sein“) ist in der Weisheit sehr beliebt, um die Vorzüge der Weisheit zu schildern (Prv 10,5; 18,19; 21,22; 24,5; 31,17). Gleichzeitig ist es ein Begriff für Macht.21 Sˇa¯lat. (hier in der Nominalform ˇsall t.) bezeichnet bei Kohelet Herrschaft mit der Möglichkeit zur Tyrannei. Weisheit erweist sich dadurch erneut als echte Herrschertugend, so dass Kohelet an dieser Stelle den „König“ gegen den „Machthaber“ ausspielt. Die Formulierung „in der Stadt“ weist dabei auf Jerusalem. D.h. die Maxime zielt auf Jerusalemer Machthaber, die in der Frage von Gerechtigkeit und Frevel eine andere Position vertreten.22 Sehr wahrscheinlich ist hier der Hohepriester im Blick, dessen Herrschaft genau die Gerechtigkeit verkörpert, die vorexilisch durch den König gewährleistet wurde (vgl. Jes 61,1 – 10).23 In hellenistischer Zeit wird Gerechtigkeit mehr und mehr mit Tora-Gehorsam identifiziert (vgl. Ps 1; Mal 3,13 – 21).24 Wie schon früher wird deutlich, dass Weisheit keine individuelle Angelegenheit ist, sondern sich in der Öffentlichkeit bewähren muss.25 7,20 bleibt in diesem Duktus und bekräftigt die Argumentation mit einem autoritativen Kausalsatz. Es handelt sich um ein Zitat aus Salomos Tempelweihgebet 1Kön 8,24 = 2Chr 6,36. Anders als dort aber bestimmt Kohelet die Sünde (h. a¯t.a¯B) nicht von einem Normenkatalog her, sondern bezieht sich auf seinen eigenen Sündenbegriff von 2,26 zurück: Was Sünde ist, wird durch Gott definiert. Unter diesem Horizont kann kein Mensch frei von Sünde sein. Wenn dieser Gedanke auch anderswo im Alten Testament erscheint,26 wird er doch hier mit der salomonischen Autorität abgesichert. Die Argumentation wird 7,21 mit einer Ermahnung abgeschlossen. Der Zuhörer soll die Worte Anderer nicht zu seiner Herzensangelegenheit machen. Es handelt sich um eine Aufforderung zu einer „ideologiekritischen“ Haltung.27 Der Beachtung im Sinne einer Lebensaufgabe wert sind nur Kohelets Worte, nicht die der anderen (Ba¯mar, „sprechen“ ist unpersönlich formuliert). Die Äußerungen des Knechts sind recht allgemein bezeichnet. Qa¯lal, wörtlich „leicht machen“, reicht von der verächtlichen Bemerkung bis zum Fluch.28 Berücksichtigt man das Gewicht, das die „Lebensaufgabe“ für Kohelet hat, Vgl. ausführlich M. Köhlmoos, Auge. Vgl. S. Wagner, ThWAT VI (1989), 1 – 14. Vgl. ähnlich auch F. J. Backhaus, Zeit, 229. S. dazu ausführlich R. Achenbach, König. Zu dieser Interpretationslinie ausführlich: L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 388 f. Aus diesem Grund handelt es sich bei 7,19 nicht um ein Zitat der traditionellen Weisheit, das von Kohelet widerlegt wird (so A. A. Fischer, Skepsis, 100 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 391). 26 Z. B. Ps 14,1.3 vgl. dazu T. Krüger, BK, 259 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 391 f. 27 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 394. 28 Vgl. dazu J. Scharbert, ThWAT VII (1993), 40 – 49.

20 21 22 23 24 25

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Alles in Maßen?

kann es sich kaum um einen Ratschlag zur Gelassenheit gegenüber dem Murren Untergebener handeln.29 Hier schlägt erneut die Königsfiktion durch. Den König zu beleidigen, zu schmähen oder gar zu verfluchen, ist ein Majestätsverbrechen, das eigentlich mit dem Tod bestraft wird. In 1Kön 2,8 weist der sterbende David Salomo an, an Schimi die Todesstrafe zu vollziehen, die David nicht durchgeführt hat: „Du aber sollst ihn nicht ungestraft lassen, denn du bist ein weiser (!) Mann, und du weißt, wie du mit ihm zu verfahren hast.“ Es geht also auch in 7,21 um die Frage nach dem Umgang mit Normen im Zusammenhang mit Weisheit bzw. Gottesfurcht: Eine Beschimpfung als Verbrechen zu klassifizieren, das in entsprechender Weise geahndet wird, hieße, den fallenden Zeiten und dem Gericht Gottes entgegen zu arbeiten. Sollten die Schmähungen des Knechts daher verbrecherisch sein, muss dies aus einer weisheitlichen Untersuchung hervorgehen. 7,22 kehrt zur Verdeutlichung die Perspektive um. Gemessen an Normen der Tora oder der Gerechtigkeit hat auch der Zuhörer schon oft Schmähungen ausgesprochen, die strafwürdig sind. Das heißt, nach menschlichen Maßstäben ist auch der Zuhörer bereits dem Gericht unterworfen. Im Sinne Kohelet’scher Weisheit und Gottesfurcht ist es daher lebensförderlich, nicht auf die Worte der anderen zu achten. Der Fluchtpunkt ist aber nicht primär Gerede, sondern Worte, die definieren, wann Gerede durch Handlungen beantwortet werden muss.

29 So Ders., A. a. O., 43.

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Koh 7,23 – 29

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Was Kohelet nicht fand Koh 7,23 – 29 7,23 Alles dies berpr fte ich mit Weisheit: Ich sprach: „Ich will weise werden!“ – Sie aber blieb fern von mir. 7,24 Fern ist, was geschah, und tief, tief. Wer kann es finden? 7,25 Ich wandte mein Herz, um zu erkennen und zu erforschen und zu suchen Weisheit und Ergebnis. Und zu erkennen: Frevel ist Torheit und Torheit ist Irrtum. 7,26 Und ich fand: „Bitterer als der Tod ist die Frau, sie ist eine Schlinge, ihr Herz ein Netz, Fesseln sind ihre H nde. Gut ist der vor Gott, der vor ihr fl chtet. Und der S nder wird von ihr gefangen.“ 7,27 Sieh, dies habe ich gefunden, sprach (der) Kohelet1: Eins nach dem anderen (pr fend)2 ein Ergebnis herauszufinden 7,28 das meine Seele st ndig suchte, aber ich fand (es) nicht. Einen Menschen fand ich unter Tausenden, aber eine Frau unter allen fand ich nicht. 7,29 Nur – sieh – dies fand ich: Dass Gott den Menschen rechtschaffen gemacht hat. Sie aber suchten nach vielen K nsten. 7,23 – 29 ist einer der schwierigsten und umstrittensten Abschnitte des Buches. Gleichzeitig ist er sachlich einer der bekanntesten, denn er hat Kohelet den Ruf des unverbesserlichen Frauenfeindes eingebracht. Dabei sind die Äußerungen zur „Frau“ nicht wirklich in den Kontext des Buches eingebunden. Aber auch ihre Rolle im Argumentationsgang von 7,23 – 29 ist schwer zu bestimmen. Der Abschnitt bietet einen Rückblick und ein Ergebnis von Kohelets Bemühungen um Weisheit und Erkenntnis. (Vv.23 – 25). Die Einsicht über die Frau ist das erste Ergebnis der Mühen (V. 26). Der Gedankengang wird in 3. Person wiederholt (Vv. 27 – 28). V. 29 schließt den Abschnitt ab mit der Weitergabe einer theologisch-anthropologischen Grunderkenntnis.

1 MT liest das Verb hier in der Femininform. Im Hinblick auf die Thematik des Kapitels sind die Versuche bestechend, hier mit MT einen Geschlechtertausch zu lesen, vgl. exemplarisch K. Butting, Die Buchstaben werden sich noch wundern. Innerbiblische Kritik als Wegweisung feministischer Hermeneutik, Knesebeck 32003, 111. Nimmt man an, dass es sich um eine Fortschreibung des Buches handelt, ist ein Eintrag durch eine oder mehrere Frauen auch sachlich nicht unmöglich. Die klassische Lösung des Problems besteht in der Annahme einer Verschreibung: Der Artikel vor dem Namen Kohelet ist an das Verb gefügt worden, so die Mehrzahl der Kommentare. 2 Die Infinitivkonstruktion verlangt zumindest für die Übersetzung ein finites Verb, die Übersetzung mit A. Schellenberg, Erkenntnis, 151.

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Was Kohelet nicht fand

7,23 – 29 ist eine geschlossene Einheit.3 Sie ist als fortlaufender Erkenntnisprozess gestaltet, der an 1,13 – 2,3 anknüpft und die bisherigen Ergebnisse zusammenfasst: Ich überprüfte (V. 23) – Ich wandte mein Herz um (V. 25) – Ich finde (V. 26) – ich fand (V. 27) – Ich fand (V. 29). Eine Zäsur liegt bei V. 27: Die Erkenntnisse werden im Modus der Aufforderung weitergegeben. In diesem Vers wird Kohelet in 3. Person zitiert, so dass der zweite Teil des Abschnitts (wie 1,3 – 11) eindeutig aus zweiter Hand formuliert. Die formal und semantisch dichte Gestaltung des Abschnitts4 spricht aber dafür, die gesamte Sequenz als Kohelet-Zitat aufzufassen, obwohl das eindeutige Zitat erst in der Mitte steht. Somit ist 7,23 – 29 als eine Interpretation der Reden Kohelets gestaltet, die wie 1,3 – 11; 12,8 Kohelet als zitable Autorität betrachtet und seine Worte für einen späteren Diskurs nutzt. Der Abschnitt sitzt an einer Gelenkstelle des Buches und zielt mit zahlreichen Rückverweisen mindestens auf einen vorläufigen Abschluss des bisher Gesagten.5 Sind Gestaltung und Vokabular des Abschnitts in Vielem typisch für Kohelet, so bestehen doch gute Gründe zu der Annahme, dass es sich hier um ein Stück handelt, das von einem Bearbeiter konzipiert wurde6. Dafür spricht zunächst einmal die Zitationsformel in V. 27. Hinsichtlich des Wortgebrauchs ist festzuhalten, dass Kohelet „überprüfen“ (na¯sah) in 2,1 auf Freude bezieht, nicht aber auf Weisheit. Das Leitwort des Abschnitts, ma¯´sa¯B, „herausfinden“ ist bei Kohelet sonst nicht auf eigene Erkenntniswege bezogen, sondern bezeichnet lediglich den Überblick über den Plan Gottes (3,11; 8,17). Das Resultat (h. æsˇb n) erscheint nur hier und in dem – möglicherweise zitierten – Vers 9,10. Es gibt einige stilistische Andersartigkeiten. Kohelet setzt in 1,13 ff. seine Weisheit voraus, während sie in 7,23 als Plan dargestellt wird. Auch, dass ihm die Weisheit fern geblieben sei (V. 23), liegt nicht auf Kohelets Linie, der zwar Grenzen der Weisheit akzeptiert, aber keine prinzipielle Unerreichbarkeit der Weisheit behauptet.7 Dass der Mensch hinsichtlich der Weisheit dem Schöpferwillen Gottes nicht entspricht, ist ebenfalls eher untypisch für Kohelet. Schließlich überschneiden sich in 7,23 – 29 in eigenartiger Weise die Einsichten über die Weisheit mit denen über die Frau. Gleichwohl steht 7,23 – 29 nicht im Widerspruch zum restlichen Buch, sondern bildet vielmehr eine Neuinterpretation oder Verlängerung. Koh 7,23 – 29 reflektiert die Möglichkeiten der Weisheit im Stile Kohelets, aber unter dem Eindruck einer Diskussion um die Weisheit als solcher. Die Technik des Ab3 So die Mehrzahl der Ausleger, s. dazu T. Krüger, BK, 265; A. Schellenberg, Erkenntnis, 150 f. F. J. Backhaus, Zeit, 234. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 396 – 409, gliedert in die Einzelsequenzen Vv. 23 – 24; 25 – 29. N. Lohfink, Frauenfeind, lässt den Abschnitt bis 8,1 reichen. 4 Vgl. A. Schellenberg, 150 – 152; T. Krüger, BK, 265 f. 5 Ausführlich: N. Lohfink, Frauenfeind, 41 – 48. 6 Vgl. zum Befund H. Spieckermann, Suchen, 107 jedoch mit der (weitgehenden) Zuweisung zum Grundbestand. 7 Aus diesen Gründen bestimmt A. A. Fischer, Skepsis, 9. 7,23 f., als redaktionelle Überleitung.

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schnitts entspricht in etwa der Bearbeitung Z, ist aber von dieser unterschieden. 7,23 – 26 bildet den ersten Teil des Abschnitts. Kohelet formuliert ein weiteres Erkenntnisprojekt; die Sequenz ruft das Programm von 1,13 – 2,3 auf und präsentiert einen neuen Fund, der die Frau betrifft. In Übereinstimmung mit den vorigen Texten ist dieser Erkenntnisweg ein Projekt des Herzens. „Weisheit“ als Leitwort ist hier dem „Finden“ zugeordnet, das den ganzen Abschnitt organisiert. In 7,23 formuliert Kohelet sein neues Projekt. Der Untersuchungsgegenstand bleibt offen. „All dies“ kann sowohl rückbezüglich verwendet sein als auch vorausweisen. Ein vorausweisendes Verständnis auf Vv. 23b und 24 ist jedoch wahrscheinlicher8. Im Hinblick auf 23b ist das „mit/durch Weisheit“ redundant9. „Überprüfen“ (na¯sa¯h) bezeichnet in 2,1 die Untersuchung einer Annahme. Hier scheint es mehr das Untersuchen zu meinen, das sonst mit dem Verb t r bezeichnet wird. V. 23b bildet eine Parenthese, die im Stile Kohelets als Sprechakt formuliert ist. Kohelet greift einen Entschluss auf, weise zu werden, d. h. es wird eine Situation inszeniert, die noch vor 1,13 liegt, wo seine Weisheit bereits vorausgesetzt ist. In ebenfalls der Sache nach bekanntem Duktus benennt Kohelet dann das Ergebnis: Die Weisheit bleib ihm fern. Syntaktisch ist die Formulierung sperrig, insofern das Pronomen „sie“ (Weisheit) über den Sprechakt hinweg auf 23a zurückgreift. V. 23 als Ganzes scheint also einen erneuten Versuchsaufbau wie 2,3 zu formulieren: „Zwischen die generelle Feststellung, er habe es mit der Weisheit versucht (V. 23a) und die abschließende Bemerkung über die Vergeblichkeit dieser Versuche (V. 23bb) schiebt Qohelet – sozusagen zwischen Gedankenstrichen – eine beispielhafte Verdeutlichung, in der er einen dieser ,Versuche‘ näher erläutert. Sowohl diese Verdeutlichung als auch das abschließende Resultat zeigen rückwirkend, wie nissit bah. kma¯h zu verstehen ist, nämlich als Versuch, Weisheit zu erlangen.“10 Diese Weisheit bleibt ihm aber zunächst fern. 7,24 greift das Stichwort „fern“ auf, bezieht es aber nicht auf Weisheit, sondern auf das „was geschieht“. Auch damit wird noch am ehesten das Programm von 1,13 aufgerufen11, allem Anschein nach aber als wesentlich schwerer zu verwirklichen gefasst. „Was war“ erscheint bei Kohelet nur noch 6,1012, dort jedoch als bereits festliegend. Hier ist die Vergangenheit unerreichbar fern und damit offenbar als Grenze des Erkennens bezeichnet. Dies knüpft an 6,10 ff. an, insofern die menschliche und göttliche Perspektive auf das, was geschieht, fundamental unterschieden sind. Dient dies bei Kohelet 8 F. J. Backhaus, Zeit, 235. Zum Problem auch A. Schellenberg, Erkenntnis, 152. 9 Zudem ist nicht deutlich, ob in 23a Weisheit das Untersuchungsmittel (wie 1,13) ist oder – wie die Fortsetzung nahe legt – der Untersuchungsgegenstand (so etwa A. Schellenberg, Erkenntnis, 150). 10 Dies., A. a. O., 153. 11 Vgl. Dies., A. a. O., 153 f. 12 Die Formulierungen, die es mit „was sein wird“ ergänzen (1,9; 3,15) stammen vom Bearbeiter Z.

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aber zu einer Neudefinition der Weisheit, wird diese in 7,23 f. als ebenso unverfügbar bezeichnet wie die Vergangenheit. Die Frage „Wer kann es/sie herausfinden?“13 setzt also dem weisheitlichen Bemühen dieselben Grenzen wie dem Erkennen eines göttlichen Plans oder Sinnes. Damit liegt Koh 7,23 auf der Linie von Hi 28.14 Hinter dem Textabschnitt stehen somit unterschiedliche Konzepte dessen, was Weisheit ist. Kohelet wird aber mit diesen einleitenden Worten zum Anwalt einer prinzipiellen Kritik an menschlicher Weisheit. Dies ist gegenüber dem Bisherigen ein neuer Aspekt.15 Folgerichtig inszeniert 7,25 ein vollständig neues Lebensprojekt für Kohelet. Er „wendet sein Herz um“. Dies impliziert eine Richtungsänderung im Denken. Indes handelt es sich nicht um eine Betrachtung des Lebensweges unter einem neuen Gesichtspunkt wie in Kap. 2, sondern um eine „Herzenswende“. 7,25 ersetzt 1,13 – 2,3: Ausgehend von der Erkenntnis, dass Weisheit ohnehin nicht möglich ist, soll die begrenzte Weisheit noch einmal neu bestimmt werden. Gegenüber 1,13 – 18 sind Erkenntnisweg und –ziel genau umgekehrt. 1,13 – 18 gehen von der Anwendung praktischer Weisheit zur Bestimmung der theoretischen Erkenntnis über. 7,23 – 25 stellen die Unmöglichkeit der theoretischen Weisheit fest und versuchen dann einen Blick auf das Praktische. Hier finden sich teils die Termini aus 1,16 – 18 (Weisheit, Irrtum, Torheit), aber auch zwei signifikant andere Begriffe. Als Parallelbegriff zu „Weisheit“ steht hier nicht „Erkenntnis“, sondern h. æsˇb n. Das Wort (im Alten Testament nur bei Kohelet)16 bezeichnet das Resultat denkerischer Bemühungen, d. h. die Weisheit wird allenfalls in ihren Resultaten erkennbar.17 Es folgen zwei weitere parallele Paare: Frevel ist Torheit (kæsæl), und Torheit (sikl t, vgl. 2,3.12.13) ist Irrtum. Für Kohelet überraschend ist die Identifikation von Torheit und Frevel. Frevel hat sonst bei Kohelet einen moralischen Bezug. Die Paarung der beiden Begriffe ist von 7,17 her beeinflusst, macht aber anders als dort deutlich, dass Torheit bereits Frevel in sich trägt18. Dies ist in klassisch weisheitlichen Bahnen gedacht – steht aber unter dem Vorbehalt, dass Weisheit im Vollsinne nicht zu erreichen ist. Mit den vorigen Texten über Weisheit, Torheit und Frevel stimmt 7,25 insofern überein, als eine bestimmte Definition von Weisheit auch eine bestimmte Definition von Frevel bei sich hat. Im Unterschied zum Vorigen ist Frevel aber rein weisheitlich bestimmt. 7,26 ist die einzige Stelle im Koheletbuch, in an der eine Erkenntnis im Partizip formuliert wird. Es handelt sich entweder um einen zeitlosen Vorgang, der alle weiteren Erkenntnisprozesse begleitet oder um ein Präsens. Möglich ist vom Sprachbefund her beides.19 Berücksichtigt man, dass V. 25 ein 13 14 15 16 17 18 19

Der Bezug des Suffixes ist unklar, vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 154. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 399; T. Krüger, BK, 264. Anders L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 399. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 445 – 447. Ders., A. a. O., 169: „Weisheit und Ergebnis“ ist ein Hendiadys. Ob dies auch umgekehrt gilt, bleibt offen, vgl. Ders., Ebd. Frequentativ : L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 402; F. J. Backhaus, Zeit, 238 „und

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neues Projekt Kohelets formuliert hat (in Ergänzung zu den vorigen oder als deren Ersatz), hat das präsentische Verständnis die höhere Wahrscheinlichkeit bei sich. Kohelet teilt eine neue Erkenntnis mit, besser gesagt, einen neuen Fund. Er ist im Zusammenhang mit der Aufgabe mehr als irritierend, denn es ist nicht deutlich, was dieser Fund mit Weisheit, Torheit und Frevel zu tun haben sollen.20 Unter der Perspektive des argumentativen Duktus des Abschnitts, der Weisheit und deren Resultate als Herzensprojekt Kohelets ausweist, ist die Formulierung metasprachlich aufzufassen. Dann fand Kohelet nichts über Frauen heraus, sondern er fand eine Ansicht über Frauen.21 Diese besagt, dass eine Frau im Stande ist, einen Mann verhängnisvoll zu umgarnen. Die Flucht vor dieser Frau führt zur Anerkenntnis vor Gott, wohingegen ein Sünder sich von ihr umgarnen lässt und von Gott entfernt wird. Als Ansicht bzw. theologische Position findet sich dieses Bild der Frau vor allem in den Personifikationen von Weisheit und Torheit in Prv 1 – 9; Sir 24; 6.22 Während in den ersten drei Bezugstexten Frau Torheit diejenige ist, die umgarnt und zum Tod führt, sind in Sir 6,23 – 31 die Verführungskünste der Frau Weisheit zugewiesen; von ihr gefesselt zu werden, führt zum Leben. 7,26b lässt jedoch eher an Frau Torheit denken, die hier als Gefahr für den Sünder präsentiert wird. In diesem Fall würde Kohelet in den Diskurs des Proverbien- und des Sirachbuches eingeholt. 7,27 stellt dem Fund des vorigen Verses eine zweiten an die Seite. Er trägt das Hauptgewicht, denn er formuliert im Modus des Imperativs („Sieh!“). Im Unterschied zum Vorigen ist der Fund im Perfekt formuliert, ist also ein Ergebnis der lebenslangen Forschung Kohelets. Dass wir es hier mit dem eigentlichen inhaltlichen Schwerpunkt zu tun haben, belegt die Unterbrechung des Vortrags durch die Zitationsformel durch „sprach Kohelet“. An dieser Stelle ist demnach der autoritative Sachinhalt zu finden, für den der Name Kohelet steht. Und tatsächlich ist der Anschluss des Erkenntnisprozesses sachlich – jedoch nicht der Formulierung nach – eher im Horizont dessen, was für Kohelet typisch ist: Untersuchen, um zu einer Schlussfolgerung zu finden. Das Ergebnis „ein Resultat finden“ ist nichtsdestoweniger eher nicht im Stile Kohelets formuliert. 7,28 schließt an das „Resultat“ noch eine Näherbestimmung an. Kohelet unternimmt sein Suchen mit „Leidenschaft“. An dieser Stelle ist næpæsˇ dichter am allgemein alttestamentlichen Gebrauch, nach dem die „Seele“ in dauernd finde ich“. Präsentisch: T. Krüger, BK, 262; A. Schellenberg, Erkenntnis, 151: „und nun finde ich“. Zum Befund: A. Schoors, Preacher 1, 184 f. 20 T. Krüger, BK, 265. 21 So L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 403. Dies muss nicht zwangsläufig mit einem frequentativen Verständnis des Verbs verknüpft werden, sondern funktioniert auch mit einem präsentischen Partizip. 22 Vgl. T. Krüger, BK, 267 – 269. Zu diesem Motivkomplex s. grundlegend: G. Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1 – 9: traditionsgeschichtliche und theologische Studien, Tübingen 1996 (FAT 16).

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etwa dem Herzen als Zentrum des Selbst entspricht (vgl. exemplarisch Dtn 6,5). Sonst ist næpæsˇ bei Kohelet eher der Wille und die Motivation, an dieser Stelle ist hat der Begriff ein stärkeres anthropologisches Gewicht.23 Überraschenderweise stellt Kohelet aber heraus, dass er das so leidenschaftlich gesuchte Resultat eben nicht fand.24 Stattdessen findet er ein dem vorigen Fund widersprechendes Ergebnis, nämlich überhaupt keine Frau, weder bitter noch überhaupt. Damit deutet sich an, dass V. 26 durch V. 28 korrigiert wird. Kohelet distanziert sich von der Tradition der Personifizierung von Weisheit und Torheit mit allen ihren problematischen Implikationen und stellt fest, dass man bei der „Suche nach Weisheit und Torheit nie auf eine Frau stoßen wird“.25 Vielmehr findet Kohelet einen Menschen26, der so ist, aber eben keine Frau. So oder so sind Menschen, die „bitterer als der Tod“ sind, ausgesprochen selten. Das Verhältnis 1:1000 deutet eine verschwindende geringe Menge an. Die Personifizierung der Weisheit (und ihr Gegenüber in der fremden bzw. Torheit repräsentierenden Frau) rechnet mit einer Mittlerfigur zwischen Gott und dem Menschen. Dabei gehört diese Denkfigur in den Horizont jener Entwicklung, die theologische Funktionen des Königs auf andere Figuren zu überträgt.27 Doch selbst unter der Perspektive einer nahezu unerreichbaren Weisheit gilt, dass diese durch keinen anderen repräsentiert werden kann als durch den König Kohelet. Wenn aber überhaupt, dann ist der tödliche Verführer eher ein Mann als eine Frau.28 7,29 fügt einen weiteren Fund nach, der ebenfalls im Modus des Imperativs eine wichtige Erkenntnis weitergibt. Wie in 3,11 stellt Kohelet seine Erkenntnis in den Horizont der Schöpfung. Die Bezeichnung des Menschen als Geschöpf Gottes ist in dieser Eindeutigkeit singulär im Buch Kohelet, fügt sich aber der Sache nach in dessen Argumentation. So, wie er ist, entspricht der Mensch dem Schöpferwillen Gottes. Wie in 3,11 formuliert Kohelet dies nicht in vollständiger Übereinstimmung mit Gen 1. Ist in 3,11 das ganze Werk Gottes „schön“ statt gut, so ist der Mensch hier ja¯ˇsar, „rechtschaffen, aufrichtig“. Dieses Prädikat steht in der Weisheit in nächster Nähe zu „weise“ und „gerecht“29 und drückt so auf die typische Weise Kohelets Zutrauen in die Güte und Vollständigkeit der Schöpfung aus. Innerhalb dessen hat der Mensch zweifellos seine Grenzen, das macht ihn aber in keiner Weise defizitär. Er ist 23 Vgl. T. Zimmer, Tod, 10. 24 Der Satz ist grammatisch-syntaktisch etwas uneben: Das Subjekt von „suchen“ ist die „Seele“, das Subjekt von „finden“ ist „Ich“. 25 A. Schellenberg, Erkenntnis, 158; vgl. auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 406; T. Krüger, BK, 269; D. Michel, Untersuchungen, 229 – 231. 26 Mit M.V. Fox, Time, 242; A. Schoors, Preacher 2, 45 muss Ba¯da¯m hier vermutlich mit „Mensch“ übersetzt werden. 27 S. dazu G. Baumann, Weisheitsgestalt, 303 – 311. 28 Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 158; T. Krüger, BK, 270. 29 Prv 11,3.6.11; 12,6; 14,9.11; 15,8.19; 16,17 u. ö., vgl. H. Spieckermann, Suchen, 109.

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weder auf eine außermenschliche Mittlergestalt angewiesen noch auf anderes. Diesen Gedanken deutet der Schlusssatz an: Sie aber erkundeten viele h. isˇˇse¯b n t. Der Begriff ist mit dem „Denkresultat“ h. æsˇb n lexikalisch verwandt, bedeutet aber nicht dasselbe. Die einzige weitere alttestamentliche Belegstelle des Begriffs bezeichnet damit „kunstvoll erdachte Kriegsmaschinen“ (2Chr 26,15).30 Der Sache nach ergibt sich hier eine Berührung mit der urgeschichtlichen Tradition, die sich in unterschiedlicher Weise einerseits in der Henoch-Literatur, andererseits in Gen 6,1 – 4 niedergeschlagen hat: Bestimmte Aspekte der Weisheit – unter anderem Wissenschaft und Technik – sind dem Menschen nicht mit der Schöpfung mitgegeben, sondern entstehen durch den Missbrauch der göttlichen Gaben: Hen 6 – 11 betrachten Wissenschaft und Technik als Gabe der gefallenen Engel. Diese Tradition ist eine Verlängerung jenes Wissens um die Unerreichbarkeit der Weisheit, die sich in Hi 28 und eben auch Koh 7,24 findet. Während sich aber Hi 28 und Koh 7 mit dieser Einsicht zufrieden geben können, suchen Prv 1 – 9 nach einer Offenbarung der Weisheit als quasi-göttlicher Gestalt (Prv 3; 8), und Sir 24 identifiziert die wahre Weisheit mit dem Gesetz. Hier positioniert sich Hen 6 – 11 mit einem tiefen Misstrauen gegenüber jeder Art menschlicher Erkenntnis.31 Obwohl Koh 7,29 nicht soweit geht, technische Errungenschaften für dämonisch zu erklären, nimmt er Stellung in diesem Diskurs und positioniert die salomonische Weisheit zwischen Prv 1 – 9 und Hen 6 – 11. Diese Weisheitskritik wird in 8,16 – 17 verlängert. Diese Klärung des theoretischen Konzepts der Weisheit grenzt in 4,17 – 10,20 einen ersten Teil (4,17 – 7,22) von einem zweiten (81,–10,20) ab.

30 HAL, 347a. 31 S. dazu K. Koch, „Adam, was hast du getan?“ Erkennntnis und Fall in der zwischentestamentlichen Literatur, in: Ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Gesammelte Aufsätze Bd. 3, hg. von U. Glessmer und M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1996, 187 – 193.

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Das Wort des Königs

Das Wort des Königs Koh 8,1 – 8 8,1 (Wer ist wie der Weise, und wer kennt, die Deutung einer Sache? Die Weisheit des Menschen erleuchtet sein Gesicht, und die H rte seines Gesichts lçst sich.) 8,2 Gehorche1 dem Befehl des Königs, denn2 Gott hat einen Eid geschworen3. 8,3 Geh nicht vorschnell von seinem Angesicht weg, bleibe nicht bei einer schlechten Sache, denn alles, was ihm gefällt, kann er tun. 8,4 Denn das Wort des Königs hat Macht, und wer könnte zu ihm sagen: „Was tust du da?“ 8,5 Wer das Gebot beachtet, kennt keine schlechte Sache, Zeit und Gericht erkennt das Herz des Weisen. 8,6 denn für jedes Vorhaben gibt es Zeit und Gericht, (denn die Bosheit des Menschen lastet schwer auf ihm). 8,7 Denn man weiß nicht, was sein wird. Denn wer verkündet, was sein wird? 8,8 Kein Mensch ist Herr über den Wind, (so dass er den Wind aufhalten könnte)4. Und es gibt keine Macht über den Tag des Todes. Und es gibt keine Entlassung im Krieg, und dem Übel entgeht sein Besitzer nicht. 8,1 – 8 reflektiert das Verhältnis von Wissen und Macht. Wiewohl dem König politische Macht zugestanden wird, der man gehorchen muss (Vv. 2 – 4), hat seine Macht doch Grenzen, die von Gott gesetzt sind, und um die der Weise weiß (Vv. 5 – 8). Das relativiert am Ende auch die Macht des Königs. Der Abschnitt formuliert keine Erkenntnisprozesse, sondern eine Instruktion. Sie wird mit einer Sentenz über den Weisen eingeleitet (8,1), spricht

1 MT hat am Textbeginn ein beziehungsloses Ba¯n , „ich“. Es ließe sich als elliptische Aussage lesen („ich sage“, so N. Lohfink, NEB) oder als Antwort auf die Fragen von V. 1 verstehen (so P. Beentjes, Some Notes on Qohelet 8,1 – 15, in: A. Schoors (Hg.), Qohelet in the Context of Wisdom, Leuven 1998 (BEThL 136), 304 f. Beides ist wenig wahrscheinlich. Mit den Versionen ließe sich Ba¯n zu Bæt korrigieren (vgl. BHQ). Zum Vorschlag von D. Michel, Untersuchungen, 94 vgl. T. Krüger, BK, 278. 2 Der syntaktische Anschluss mit Cal dibrat („und zwar, wegen“) ist nicht ganz eindeutig. Die Phrase kann sowohl den Imperativ fortsetzen als auch den Imperativ von V. 3 vorbereiten. Die Gestaltung der Vv. 2.3 spricht eher für die erste Möglichkeit. 3 Wörtlich „wegen des Gottesschwurs“. Die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten sind ausführlich diskutiert bei T. Krüger, BK, 276 – 278. 4 Es handelt sich um eine erklärende Glosse, vgl. C. Klein, Kohelet, 82.

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dann Anweisungen für den Umgang mit dem König aus (8,2 – 4) und stellt diesen Einsichten über den Weisen und die Weisheit gegenüber (8,4 – 8). 8,1 – 8 sind eine geschlossene Einheit, bei der vor allem der Abschnitt 4 – 5.6 – 8 außerordentlich sorgfältig gestaltet sind: Die dort verwendeten Leitworte entsprechen einander spiegelbildlich.5 Vv. 2 – 3 bereiten die Argumentation mit der Anweisung vor, dem Königswort zu gehorchen. Der prononcierte Beginn mit „Beachte“ (sˇem r) parallelisiert den Abschnitt mit 4,17 – 5,8. War es dort das Verhältnis von Gottesfurcht und Weisheit, das im Horizont des Kultes entfaltet wurde, ist es hier das Verhältnis von Erkenntnis und Recht im Horizont menschlicher Macht. Ziel ist wie in 4,17 – 5,6 eine Neuausrichtung des Herzens des Zuhörers, so dass hier ein neuer „Salomo“ herangebildet wird. Das Thema Königtum wird dabei in doppelter Perspektive entfaltet. Zum einen bleibt Kohelet im Rahmen der Salomofiktion, argumentiert also „historisch“. Zum anderen ist die Sequenz mit Blick auf die aktuelle Herrschaft in Juda-Jerusalem formuliert. Welche Autorität und welche Kompetenzen hat der König im Sinne des „weltlichen“ Herrschers? Der Abschnitt beginnt in 8,1 mit einer Sentenz über den Weisen und dessen Kompetenzen. Der Vers ist zweiteilig: 1a enthält zwei Wissensfragen, 1b einen Kunstspruch. Form, Inhalt und Formulierung erweisen ihn als Satz aus der Schulweisheit.6 Dabei ist unklar, ob 1b als Antwort auf die beiden Fragen aufzufassen ist oder eine zusätzliche Erkenntnis formuliert. Die erste Frage verweist auf den Weisen als „Gattung“7, ohne die spezifischen Eigenarten des Weisen im Kontext des Koheletbuches näher zu konturieren. Die zweite Frage scheint den Weisen dadurch zu präzisieren, dass er ein Wort/eine Sache zu deuten versteht. Als Frage ist 1b jedoch vom Wesen des Weisen unabhängig.8 Erst die Zusammenstellung der beiden Fragen macht den Weisen als den kenntlich, der eine Sache zu deuten/erklären versteht. Pe¯ˇsær, wörtlich „Lösung“ bezieht sich im Alten Testament und in Qumran auf die Deutung von Träumen und die kommentierende Aktualisierung verbindlicher Texte.9 Es ist wahrscheinlich der Bezug zur Traumdeutung, der die Einfügung des Textes vor 8,2 – 9 veranlasst hat. Daniels und Josephs Fähigkeit, Träume zu deuten, lässt Weisheit in die Nähe des (ausländischen) Königs gelangen (Gen 40,8,16,22; 41,8.12 f, 15; Dan 2,4 – 7.9.16.24 – 26; 30,36,45; 4,3 f.6.15 f.21; 5,7 f.12.15 – 17.26; 7,16). Über die Traumdeutung ist 8,1 auch mit 4,17 – 5,6 verknüpft. Diese Kontextualisierung ist aber der Doppelfrage möglicherweise nicht inhärent. 1b hebt auf die Wirkung der Weisheit ab. Er ist vermutlich in Anlehnung an Prv 15,13; 27,19 formuliert. Da er in gewissem Widerspruch zu 7,3 steht und keinen echten Kontextbezug aufweist, hat die

5 Vgl. T. Krüger, BK, 274. 6 Vgl. C. Klein, Kohelet, 75. 7 Vgl. T. Krüger, BK, 272. Zum Problem der fehlenden Assimiliation des Artikels s. A. Schoors, Preacher 1, 43 f. 8 Vgl. A. Schoors, Preacher 1, 206 f. 9 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 466 f.

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Textüberlieferung verschiedene Alternativlesarten entwickelt, um diesen Kontextbezug herzustellen.10 Überdies ist der Satz analog zu 7,19. 8,1 ist der Sequenz 8,2 ff. wahrscheinlich redaktionell vorangestellt worden, um den Übergang zwischen 7,23 – 29 und 8,2 – 9 zu glätten und den Abschnitt noch stärker auf die Parallele mit 4,17 – 5,6 hin zu gestalten.

8,2 fordert den Zuhörer zum Gehorsam gegenüber dem König auf. Da Kohelet das Wort mælæk, „König“ nur verwendet, wenn er aus der eigenen Herrscherperspektive spricht,11 geht es nicht um den Gehorsam gegenüber irgendeinem König, sondern dem, der dem Königsideal Kohelets entspricht. Darauf verweist der Bezug auf den „Gottesschwur“. Damit spielt der Text auf die Verheißungen Gottes an David und Salomo an und zwar in ihrer chronistischen Fassung. 1Chr 17; 28 verheißen nicht mehr den ewigen Bestand der Dynastie, sondern JHWHs Beistand für die Könige aus dem Davidshaus, sofern sie sich an JHWHs Willen orientieren.12 Die kultische Zuspitzung dieser Theologie hat Kohelet bereits in 4,17 – 5,6 behandelt: Dort ist die Kompetenzverteilung zwischen König und Priesterschaft grundsätzlich geklärt worden. In 8,1 – 8 geht es um Belange außerhalb des Kultes, d. h. um die Frage, wie sich aktuelle Herrschaft zu Weisheit verhält. Damit steht die Frage im Raum, wie sich Herrschaft und Gebot JHWHs zueinander verhalten. 8,2 formuliert zunächst allgemein, dass – aufgrund der göttlichen Verheißung – der König Gehorsam einfordern kann. 8,3 schließt weitere Mahnungen an. Auch hier ist die Parallele zu 4,17 – 5,6 zu beachten. Nach der Mahnung „Beachte“ folgt hier wie in 5,1 die Anweisung „Sei nicht vorschnell“ – d. h. im Umgang mit dem König gilt wie im Gebet (und auch sonst) das Wissen um den rechten Zeitpunkt. Die Wahl des Verbs ba¯hal verweist wie in 5,1 darauf, dass es hier um theologisch qualifizierte Begegnungen handelt. Dem König kommt vom Gott gegebene Autorität zu, die es auch dann zu berücksichtigen gilt, wenn seine Rolle inzwischen von einem ausländischen Großkönig oder einem „bürgerlichen“ Statthalter eingenommen wird. Das heißt, dass die Regeln zum Verhalten in seiner Anwesenheit nicht aufgrund anderer Normen gebrochen werden können.13 Gleichwohl heißt das nicht, dem Befehl des Königs blind zu folgen: Mit schlechten Dingen soll sich der Hörer gleichwohl nicht abgeben. Dass dies ins Dilemma führen

10 Vgl. ausführlich A. Schoors, Preacher 1, 98 f.; T. Krüger, BK, 278 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 411. 11 Vgl. N. Lohfink, Melek, 75 f. 12 Vgl. dazu W. Oswald, Staatstheorie, 270 – 272. 13 Zum Verhalten in der Gegenwart des Königs liegt eine sachliche Parallele im demotischen Papyrus Insinger vor. Der Text aus dem 2. Jh. v. Chr. ist möglicherweise sowohl von Kohelet als auch von Sirach rezipiert worden, vgl. dazu D. Michel, Untersuchungen, 95 f.; P. Beentjes, Notes, 307 f. Übersetzung und Kommentar zu PInsinger jetzt bei M. Lichtheim, Ancient Egyptian Literature: Volume III: The Late Period, Berkeley/Los Angeles 2006, 184 – 197.

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kann, zeigt die Begründung: er verwirklicht jedes Vorhaben – dies steht eigentlich nur Gott zu (vgl. 3,1.10; Ps 115,3; 135,6). 8,4 problematisiert die Macht des Königs. In seinem Wort ist „Macht“. Die Wurzel ˇsa¯lat. hat bei Kohelet immer die Obertöne des möglichen Machtmissbrauchs (2,19; 5,18; 6,2; 7,19; 10,5). Die Macht des Königs wird da zum Problem, wo sie keiner Kontrolle mehr unterliegt. 4b zitiert eine Aussage hinsichtlich der Macht Gottes (Hi 36,22 f.). 3b – 4 mahnen daher sowohl zum Gehorsam als auch zur Vorsicht gegenüber dem König.14 Das stellt die Frage, nach welchem Maßstab das Königtum und das Verhalten im Angesicht des Königs ausgerichtet sind. 8,5 formuliert zwei Aussagen zur Erkenntnis. Das Subjekt der ersten Aussage bleibt unbestimmt. „Der das Gebot beachtet“ (sˇa¯mar Part.) kann sowohl der König als auch der Zuhörer sein15. Diese Doppeldeutigkeit ist im Rahmen der Argumentation gewollt. Wenn sich der König an das „Gebot“ hält, weiß er um richtig und falsch. Dann wird er Schlechtes entweder nicht tun, oder man kann – auf Grundlage der Norm – mit ihm darüber reden. Bezieht sich das Partizip auf den Zuhörer, ist dieser darauf gewiesen, jede Handlungsnorm mit dem Wissen um die Zeitgebundenheit allen Handelns zu korrelieren. Dies macht 8,5b deutlich, indem er die Herzenskompetenz des Weisen benennt (3,1 – 15.16 – 22). Das heißt, Königtum steht hier im Horizont der Gottesfurcht im Sinne Kohelets. Mis. wa¯h, „Gebot“ kann zwar prinzipiell auch Anordnungen des Königs meinen, da aber der Befehl des Königs in V. 2 anders bezeichnet wird und das Subjekt des Partizips offen bleibt, ist es plausibler, mis. wa¯h auf das Gebot der Tora zu beziehen.16 Dtn 5,29; 6,2; 8,6; 13,5; 31,12 parallelisieren das Halten der Gebote mit Gottesfurcht. Dtn 17,19 wendet diese Gleichung auf den König an: Der ideale König liest im Torabuch und wendet dessen Gebote an. Die Verheißungen an David und Salomo in 2Sam 7; 1Kön 3 formulieren dasselbe Programm. Gleichwohl bleibt in Kohelets Sicht ein weiser König genauso wie jeder Weiser darauf gewiesen, Toragebot und Gottesfurcht in seinem Sinne zu korrelieren. 8,6 greift die Stichworte „Zeit und Recht“ von V. 5 auf und verbindet sie mit dem „Vorhaben“ (h. e¯pæs. ) von V. 3. Im Rahmen der Reflexion über das Königtum sind 3,1 – 22 präsent, so dass erneut unterstrichen wird, dass auch menschliche Herrschaft ein Teil der göttlichen Ordnung ist – die ein Gericht Gottes mit einschließt.

14 T. Krüger, BK, 278 f. 15 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 299. 16 Anders Ders., A. a.O., 362 f. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 416 verweist auf 1Kön 2,43. Sollte dieser Vers im Hintergrund von Koh 8 stehen, dann bezieht er sich auf Salomo vor der Gabe seiner Weisheit. Dass diese jede andere Norm relativiert, wird dadurch nur umso deutlicher.

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8,6b behauptet eine grundsätzliche Schlechtigkeit des Menschen, von der Kohelet nicht spricht. Angeregt durch das Stichwort „Gebot“ und den eschatologischen Horizont des folgenden Verses hat sich hier der Verfasser von 12,14 eingeschrieben.

8,7 setzt die Argumentation bruchlos fort: Über die Zukunft gibt es kein sicheres Wissen (vgl. 3,11), so dass auch normengeleitetes Handeln im Horizont der endgültigen Entscheidung Gottes steht. Erneut grenzt sich Kohelet hier auch gegen prophetisch-eschatologische Erwartungen ab. 8,8 bildet den Abschluss der Argumentation mit einer Reihe von Sprichworten. Sie formulieren die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber bestimmten Sachverhalten: Den unberechenbaren Wind, den festgesetzten Tag des Todes (vgl. 3,2), den nach bestimmten Regeln ablaufenden Krieg (vgl. 3,8) und das endgültige Gericht. Diese Reihe entspricht der Didaktik des gestaffelten Zahlenspruchs, sie könnte daher im Ganzen aus der Schul- bzw. Erfahrungsweisheit stammen.17 Falls das der Fall ist, ist es möglicherweise die Wurzel ˇsa¯lat. die Aufnahme begünstigt haben, vielleicht ist sie aber auch durch Kohelet eingetragen. Mit dieser Schulweisheit rundet Kohelet die Argumentation ab, die die Macht (sˇa¯lat.) des Königs durch die Weisheit und ihre Einsichten relativiert.

17 Vgl. C. Klein, Kohelet, 81 f.

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Gerechte und Frevler Koh 8,9 – 15 8,9 Alles dies sah ich, indem ich jedes Werk, das unter Sonne getan wird, zu meiner Lebensaufgabe machte: Eine Zeit, in der ein Mensch über einen Menschen Macht hat, ist schlecht für ihn. (8,10 Und dann sah ich: Frevler wurden begraben und kamen zur Ruhe. Aber vom heiligen Ort gingen und wurden in der Stadt vergessen, die richtig handelten.1) Auch das ist flüchtig. 8,11 Wenn das Urteil über eine schlechte Tat nicht schnell gefällt wird2, dann ist das Herz der Menschen voll damit, Schlechtes zu tun. 8,12 Der Sünder tut hundert schlechte Dinge3 und lebt lange. Aber auch ich habe erkannt, dass es gut ist für die Gottesfürchtigen, dass sie sich vor ihm fürchten. 8,13 Und nicht gut ist es für den Frevler – und er lebt nicht länger als ein Schatten – wenn er sich nicht fürchtet vor Gott. 8,14 Es gibt eine Flüchtigkeit, die getan wird auf der Erde: Dass es Gerechte gibt, die es trifft, als hätten sie wie Frevler gehandelt, und es gibt Frevler, die es trifft, als hätten sie wie Gerechte gehandelt. Ich sprach: Auch dies ist flüchtig. 8,15 Und ich pries die Freude, denn nichts ist besser für den Menschen unter der Sonne als zu essen und zu trinken und sich zu freuen. Das begleitet ihn in seiner Mühe alle Tage seines Lebens, das Gott ihm gegeben hat unter der Sonne. In 8,9 – 15 kommt Kohelet auf das Thema Gerechte und Frevler zurück, das er schon 3,16 – 22; 7,15 – 22 behandelt hatte. Die dort gewonnenen Ergebnisse sind vorausgesetzt, werden aber unter zwei Aspekten erneut verhandelt: Herrschaft und Lebensfreude. Die Einheit ist als Reflexionsprozess gestaltet. Kohelet bindet die Ausführungen an sein Lebensprogramm an (8,9 – 10) und lässt sie in die Aufforderung zur Lebensfreude münden (8,15). Die Leitworte der Reflexion sind „Schlechtes“ (Vv. 9.11.12.) und „Gutes“ (Vv. 12.13).

1 Der Vers ist grammatisch und inhaltlich schwierig und hat schon in der Textgeschichte zu vielen Konjekturen geführt, vgl. BHQ und zur Diskussion A. Schoors, Preacher 1, 208 f. Die (näherungsweise) Übersetzung folgt MT, vgl. auch T. Krüger, BK, 284 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, 422 – 424. 2 MT (Trennung zwischen „Urteil“ und „Tat“): „Wenn das Urteil nicht vollstreckt ist, ist die Bosheit schnell am Werk“. Die Punktation zerreißt die Constructus-Verbindung, vgl. T. Krüger, BK, 285. 3 So im Anschluss an Hieronymus, vgl. BHQ und T. Krüger, BK, 285.

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Gerechte und Frevler

8,9 ruft nach langer Unterbrechung wieder das vollständige Programm Kohelets auf. Die Formulierung bezieht sich auf die bisherigen Beobachtungen seit 4,17 zurück und ruft in Erinnerung, dass Kohelet menschliches Handeln daraufhin untersuchen wollte, ob es gut sei. Er formuliert ein (Teil-) Ergebnis: Macht von Menschen über Menschen ist schlecht. Der unbestimmte Bezug von „für ihn“ bezieht sich sowohl auf den Herrscher wie auf den Beherrschten. Sˇa¯lat. bezeichnet bei Kohelet immer jene Verfügungsgewalt bzw. Herrschaft, die nicht durch Weisheit bestimmt ist. So kann er im Anschluss an die vorigen Überlegungen zusammenfassen, dass eine Zeit unweiser Herrschaft schlecht für beide ist. Wiewohl als Rückblick Kohelet-Salomos gestaltet, hat Kohelet dabei doch die zeitgenössischen Verhältnisse im Blick. Da kein Herrscher weise in seinem Sinne ist, muss jede Herrschaft – priesterlich, durch Älteste oder großköniglich – als schlecht bezeichnet werden. Mit dem hochsignifikanten Wort Ce¯t, „Zeit“ wird 3,1 – 15 aufgerufen, mit dem Ergebnis, dass der Mensch nicht nur den fallenden Zeiten Gottes unterworfen ist, sondern es auch Zeiten gibt, in denen Menschen Menschen schutzlos ausgeliefert sind4. Weil diese Machtausübung aber unweise ist, kann und muss er das als schlecht betrachten. Der Sache nach ist das ein vorläufiger Abschluss der Reflexionen über Macht und Gerechtigkeit.5 Gleichwohl schließt sich eine weitere thematische Entfaltung dieses Zusammenhangs an. Die „Flüchtig“-Formel von V. 10 bildet vermutlich den ursprünglichen Abschluss der Einleitung. Eine Einschreibung bildet der schwierige Vers 8,10. Folgt man MT, dann wird der Sachverhalt geschildert, dass Frevler ein ehrenvolles Begräbnis (und damit einen Erinnerungsort) erhielten, während solche, die Recht taten, vergessen wurden. Die Formulierungen sind für Kohelet jedoch untypisch. Die Beobachtung wird – völlig singulär – mit dem ungewöhnlichen Adverb beke¯n (nur noch Est 4,16; Sir 13,7) eingeleitet.6 Die Aufeinanderfolge eines Partizips („begraben werden“) und eines Perfekts („kommen“) ist grammatisch-syntaktisch schwer aufzulösen und ebenfalls nicht typisch für Kohelet.7 „Gehen“ liegt in einer merkwürdigen Piel-Form vor8, „die Recht getan hatten“ ist ein auffälliges Plusquamperfekt9, der Bezug der Relativpartikel ist unklar.10 Inhaltlich ist auffällig, dass die Frevler nicht – wie sonst – den Gerechten gegenübergestellt werden.11 „Stätte“ ist bei Kohelet sonst nicht mit „heilig“ verbunden. Tod und Grab sind bei Kohelet anders besetzt. 4 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 421. 5 Insofern sind die Gliederungsentwürfe im Recht, die 8,9 zum vorigen Abschnitt ziehen (z. B. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 410 – 421; T. Krüger, BK, 272 – 283; F. J. Backhaus, Zeit, 245 – 251). Die Zäsur bei 8,9 hier mit W. Zimmerli, ATD, 214. Diskussion bei A. A. Fischer, Skepsis, 14, der 8,9 als redaktionellen Klammervers betrachtet. 6 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 102. 7 Ders. A. a. O., 208 f. 8 Ders., A. a. O., 94. 9 Ders., A. a. O., 90. 10 Ders., A. a. O., 142. 11 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 423.

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Diethelm Michel, Franz Josef Backhaus und Panc Beentjes folgen im Wesentlichen den unterschiedlichen Vorschlägen der Textüberlieferung und lesen: „Daraufhin betrachtete ich: Frevler nähern sich und treten ein, und von heiliger Stätte gehen sie wieder weg und rühmen sich in der Stadt, dass sie so gehandelt haben“.12 Auch dies gibt einen kohärenten Text, aber auch für ihn gilt, dass er sich sprachlich und sachlich nicht zu Kohelet fügt. Ähnlich wie im Falle von 4,14 – 16 scheint auf einen konkreten Vorfall angespielt zu sein, der sich nicht mehr recht aufhellen lässt und der zur Aktualisierung der Kohelet’schen Reflexion eingefügt wurde. Falls die Lesung von Michel, Backhaus und Beentjes das Richtige trifft, könnte ein Sakrileg im Hintergrund stehen.

8,11 verlängert die Frage nach der Macht auf die aktuelle Rechtsprechung: Ein verzögertes Urteil ist kontraproduktiv. Zugrundegelegt ist die Einsicht über die fallenden Zeiten. Auch das Urteil muss seine Zeit haben, sonst ist es falsch. Da ein Urteil aber auf die Tat bezogen ist, wird die Einsicht über die Zeiten verhindert, wenn Tat und Urteil auseinanderklaffen. Derjenige, der das Urteil spricht, erweist sich damit als unweise. Im Grunde liegt hier derselbe Gedanke vor wie bei der Anweisung 5,1, nur dass hier schnelles Handeln angezeigt ist, wohingegen Kohelet in 5,1 Besonnenheit empfiehlt. Die Folge eines verzögerten Urteils ist indes, dass sich die menschliche Neigung verstärkt, Schlechtes zu tun. In dem Falle würden intentionales Handeln und fallende Zeiten völlig auseinandertreten, und es kommt zu Zuständen wie in 3,16 – 22; 4,1 – 6.Wer also nicht rechtzeitig urteilt, ist ein Tor im Sinne von 4,6. Kohelet verwendet für „Urteil“ das persische Lehnwort pitga¯m, das auch „Erlass“ (Est 1,20) oder „Antwort“ (Dan 3,16; Esr 5,11) bedeuten kann und im offiziellen Aramäisch breit belegt ist.13 Wie bei Sˇa¯lat. sind zeitgenössische Verhältnisse vor Augen. Da pitga¯m nicht kultisch konnotiert ist, sondern im Kontext der großköniglichen bzw. offiziellen Verwaltung verwendet wird, richtet sich hier die Kritik auf „weltliche“ Gerichts- oder Verwaltungsvorgänge. Der rechte Herrscher weiß also auch in diesem Bereich, recht zu handeln. Und auch hier scheint durchaus die Königsfiktion durch: Als weiser und gerechter Richter ist der Salomo in der Tradition durch 1Kön 3,16 – 28 vertreten. Ab 8,12 wird die Argumentation wieder grundsätzlich. Der Übergang ist dadurch motiviert, dass der konkrete Fall mit seinen Folgen die Frage wieder aufwirft, ob es eine theologische Grundunterscheidung zwischen guten und schlechten Menschen gibt: Wenn ein verzögertes Urteil die Menschen zum Bösen motiviert, welche Konsequenzen hat das dann für die theologische Anthropologie, die in 7,15 – 22 entfaltet wurde? Nicht zufällig beginnt Kohelet mit seinen eigenen anthropologischen Grundunterscheidungen „Sünde“ und „Gottesfurcht“. Was ein Sünder ist, 12 So die Übersetzung von D. Michel, Untersuchungen, 217 – 220. Ähnlich auch F. J. Backhaus, Zeit, 251 f.; P. Beentjes, Notes, 312 – 315. 13 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 413 f.

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unterliegt seit 2,26 der Definition Gottes, und seit 7,20 gilt, dass prinzipiell jeder zur Sünde fähig ist. Kohelet schärft noch einmal ein, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Ethik und der Lebenszeit eines Menschen gibt: Selbst, wenn jemand viel Böses tut, hat das keinen Einfluss auf seine Lebensdauer, weil diese von den fallenden Zeiten abhängt. Gleichwohl folgt daraus keine ethisch-theologische Indifferenz. Die Gottesfurcht, d. h. die Einsicht in Zeit, Sterblichkeit und menschliche Grenzen (vgl. 3,1 – 15) ist gut. Sie erst bricht ja den Trugschluss auf, dass „Gerechtigkeit“ oder „Sünde“ irgendeinen Einfluss auf das Leben hätten. Vielmehr befreit die Gottesfurcht zu einem bewussten – und daher richtigen – Handeln. Umgekehrt gilt (8,13), dass, wo Gottesfurcht fehlt, immer wieder der Trugschluss entsteht, dass Lebenszeit und ethische Gesinnung in einem Zusammenhang stünden. Nach 6,12 ist das menschliche Leben ohnehin schattengleich. Also gilt: „Unrecht vermag den Menschen ebenso wenig vor Kontingenz und Vergänglichkeit zu bewahren wie Gerechtigkeit und Frömmigkeit.“14 Unter diesem Horizont wird deutlich, dass die Motivation moralischen Handelns nicht von seinen vermuteten – und normativ bestimmten – Folgen her erfolgen kann.15 Entscheidend ist und bleibt Gottesfurcht. Angewandt auf die Frage des Urteils zur rechten Zeit heißt dass, nur richtiges Handeln (des Herrschers) schlechtes Handeln (der Menschen) verhindern kann.16 8,14 bleibt konsequent in dieser Linie. Unter Zugrundelegung der Leitdifferenz von „Gerechtem“ und „Frevler“ gerät man immer wieder in die Aporie, dass Tun und Ergehen eben nicht zusammenfallen. Die doppelte „Flüchtig“Aussage am Anfang und am Schluss weist hier darauf hin, dass man sich in theologisch fruchtlosen Bahnen bewegt. Gleichwohl lässt die seltene Formulierung am Anfang („Flüchtiges, das unter der Sonne getan wird“, nur noch 8,16) aufhorchen: Dass es solche gibt, die als Gerechte gelten können und trotzdem das Schicksal von Frevlern erleiden (und umgekehrt), wird hier in den Horizont menschlichen Handelns gestellt. Für den Missstand ist dann nicht nur verfehltes Denken verantwortlich zu machen, sondern auch menschliches Handeln. Wenn aufgrund eines falsch verstandenen Menschenbildes Gerechte wie Frevler behandelt werden und umgekehrt, kommt es zu Zuständen wie 3,16 – 4,12; 8,11. Dass dies moralisch und theologisch falsch ist, hat Kohelet mehrfach dargelegt. So dient 8,14 erneut der Unterweisung, es zu solchen Skandalen nicht kommen zu lassen.17 14 T. Krüger, BK, 289. 15 Ebd. 16 Vgl. ausführlich auch Ders., A. a. O., 287 – 289. Die „Zitatentheorie“, die damit rechnet, dass in Vv. 12 – 13 eine „orthodoxe“ Meinung (im Sinne eines funktionierenden Tun-Ergehen-Zusammenhangs) aufgenommen und kritisch kommentiert werde (vgl. auch F. J. Backhaus, Zeit, 254 – 251; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 424 – 430) geht zum einen von einer unpassenden Übersetzung des „es ist nicht gut für…“ aus und berücksichtigen zum anderen den Duktus der Gesamtargumentation zu wenig. 17 Vgl. T. Krüger, BK, 289.

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Koh 8,9 – 15

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8,15 bildet den Abschluss dieser Reflexion. Sie ist in betonter Antithese zum Abschluss von V. 14 formuliert („Ich sprach: Auch das ist flüchtig“ – „Ich pries die Freude“)18. Gleichzeitig kommt hier ein langer Spannungsbogen zu einem Abschluss: In 1,18 hatte Kohelet gefragt, was Freude bewirkt. Die Antwort von 8,15 lautet: Lebensgenuss in der Gegenwart und das ganze Leben lang: „Wer das Gute in der befristeten Zeit seines Lebens ebenso wie diese selbst als Gabe Gottes annimmt und genießt, muss nicht mehr nach einer Verlängerung seines Lebens streben.“19 Damit leitet Kohelet bereits zum folgenden Abschnitt über.

18 Ebd. 19 Ders., A. a. O., 290.

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Das Werk Gottes

Das Werk Gottes Koh 8,16 – 17 8,16 Als ich es zu meiner Lebensaufgabe machte, Weisheit zu erkennen und das Gesch ft zu sehen, das auf der Erde getan wird – weder bei Tag noch bei Nacht gibt es Schlaf f r die Augen – 8,17 sah ich das ganze Werk Gottes: dass1 der Mensch das Werk, das unter der Sonne getan wird, nicht herausfinden kann. Auch wenn der Mensch sich m ht, es zu suchen, findet er es doch nicht heraus. Und auch, wenn der Weise sagt, dass er es erkennte: Er kann es nicht finden. 8,16 – 17 formuliert eine erste Bilanz des Forschungsprogramms Kohelets. Im Rückblick auf seine Lebensaufgabe stellt er fest, dass nicht nur die Erkenntnis des Werkes Gottes ihre Grenzen hat, sondern dass auch die Erkenntnis dessen, was Menschen tun, nie vollständig sein kann. Die beiden Verse bilden eine geschlossene Einheit. Sie setzt mit dem Rekurs auf die Lebensaufgabe ein (V. 16), berichtet von dem Teilbereich der Untersuchung (V. 17) und schließt mit einer Aussage über die Möglichkeiten des Weisen (V. 17). 8,16 – 17 stammen nicht von Kohelet, sondern aus einer anderen Hand. Wie bei den meisten Fortschreibungen des Buches wird auch hier aus dem sprachlichen und sachlichen Repertoire Kohelets eine neue Aussage komponiert.2 8,16 ruft Kohelets Lebensaufgabe ins Gedächtnis, die er in 1,13.17 formuliert hatte. Die Formulierung ist jedoch anders. Kohelets Beobachtungen ergeben eine fortlaufende Narration. Ein Perspektivwechsel wird in die Narration integriert (4,1.7). Mit der Tempusgestaltung von 8,16 befindet sich Kohelet wieder ganz am Anfang („Als ich mir vornahm … sah ich“), so dass man 8,16 gleichzeitig mit 1,13 – 2,3 lesen muss. Bereits hier wird erkennbar, dass 8,16 – 17 als Ergänzung des Kohelet-Textes konzipiert sind. Im Unterschied zu 1,13 ist hier überdies das „Geschäft“ (Cinja¯n) das Objekt der Untersuchung. „Auf der Erde“ ist ein Anschluss an 8,14, nicht aber an Kohelets Programme. Der Bezug auf die Schlaflosigkeit stammt aus 2,23, bezieht es aber anders als dort auf die Augen. 8,17 präsentiert das Ergebnis. Der Formulierung nach schließt es an 6,11 an, ruft aber auch 3,11 auf. Inhaltlich wird jedoch ein anderer Akzent gesetzt. Nach 8,17 ist nicht das Werk Gottes unerforschlich, sondern das Handeln der 1 Vgl. dazu A. Schoors, Preacher 1, 215 f. 2 Vgl. auch A. A. Fischer, Skepsis, 10 f.

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Menschen – und diese Unerforschlichkeit ist eine Gabe Gottes. Dabei ist die Unmöglichkeit, etwas über das Menschenwerk herauszufinden, geradezu obsessiv wiederholt.3 8,16 – 17 sind sprachlich und sachlich mit 7,23 – 29 verwandt. In diesen Texten grenzt sich Kohelet von einer Weisheit ab, die entweder in den ToraOptimismus oder eine Spekulation mündet. Der Eintrag ist als aktualisierende Einleitung zum folgenden Abschnitt konzipiert.

3 Vgl. Ders., A.a.O., 11.

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Das Ergebnis der Forschung

Das Ergebnis der Forschung Koh 9,1 – 10 9,1 (Denn alles dies)1 machte ich zu meiner Lebensaufgabe, alles dies zu untersuchen2 : Die Gerechten und die Weisen und ihre Werke sind in Gottes Hand. Sei es Liebe, sei es Hass: der Mensch erkennt nicht, was vor ihm liegt.3 9,2 Alles, wie es allen zukommt, ist ein Geschick: für den Gerechten wie für den Frevler4, den Reinen und den Unreinen, den der Schlachtopfer bringt und den, der keine Schlachtopfer bringt. Wie den Guten, so den Sünder ; den, der schwört und den, der sich fürchtet, zu schwören. 9,3 Dies ist schlecht bei allem, das unter der Sonne getan wird: dass ein Geschick für alle gilt. Und auch, dass das Herz der Mensch voll mit Schlechtem ist. Und Irrtum und Torheit sind in ihren Herzen ihr Leben lang. Und danach – zu den Toten! 9,4 Denn wer zu den Lebenden gehört5, für den gibt es Gewissheit. Denn ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe. 9,5 Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen gar nichts. Und sie haben keinen Lohn mehr, denn die Erinnerung an sie ist vergessen. 9,6 Ihre Liebe, ihr Hass und ihr Neid sind längst vergangen. Kein Los für sie in Ewigkeit an allem, was getan wird unter der Sonne. 9,7 Geh, iss mit Freude dein Brot und trink mit fröhlichem Herzen deinen Wein, denn schon längst hat Gott Gefallen an deinem Werk.

1 Bæt ka¯l zæh doppelt sich in diesem Vers, das einleitende k ist untypisch. Wahrscheinlich ist der Versanfang durch die Verbindung mit 8,16 zustande gekommen, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 15. Anders: F. J. Backhaus, Zeit, 263; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 439 f. Die Wiedergabe des Verses durch die Versionen versucht, den sperrigen Satz zu glätten, vgl. BHQ; A. Schoors, Preacher, 1, 28. 2 Der Infinitiv tritt für das finite Verb ein, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 180. Möglicherweise ist b r eine Verschreibung des üblicheren (vgl. 1,13; 7,25; 2,3) t r, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 115. Anders A. Schoors, Preacher 2, 354. 3 Versabgrenzung und Übersetzung sind außerordentlich umstritten. MT bietet für 1b: Auch Liebe, auch Hass – nicht erkennt der Menschen alles vor ihnen (Numerusinkongruenz). LXX liest statt „alles“ ein „Flüchtig“ am Anfang von V. 2. Zur vorgenommenen Abgrenzung und Übersetzung vgl. auch T. Krüger, 298 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 440. Anders A. A. Fischer, Skepsis, 115. Diskussion bei D. Michel, Untersuchungen, 166 – 175. 4 Die Versionen fügen hier noch ein „und den Bösen“ ein, vgl. BHQ. Wahrscheinlich ist „der Gute“ aber eine Dittographie aus V. 4, vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 115; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 440. 5 Mit Q, vgl. BHQ.

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9,8 Zu jeder Zeit seien deine Kleider weiß, und an Öl für dein Haupt sei kein Mangel. 9,9 Sieh das Leben mit der Frau, die du liebst, alle Tage deines flüchtigen Lebens, das er dir gegeben hat unter der Sonne (…)6 denn dies ist dein Los im Leben und in deiner Mühe, mit der du dich mühst unter der Sonne. 9,10 Alles, was deine Hand zu tun findet, tue es mit deiner Kraft. Denn nicht Tun noch Resultat noch Erkenntnis noch Weisheit sind im Totenreich, in das du gehst. Mit 9,1 – 10 wird das Finale des zweiten Buchteils eingeleitet. Kohelet zieht die Bilanz seiner Erkenntnisbemühungen und fasst die Ergebnisse bündig zusammen. Gott ist der souveräne Herrscher über die Menschen und ihre Taten. Jeder (denkerische) Versuch, mit theologischen Mitteln Herrschaft über das Leben zu gewinnen, muss daran scheitern, dass am Ende jeder sterben muss. So gilt hier erneut und vollständig, dass gelingendes Leben nur jetzt und hier möglich ist. 9,1 – 10 ist eine geschlossene Einheit.7 V. 1 bildet die Einleitung, die aus These (V. 1ab) und Gegenthese (V. 1b) besteht. Vv. 2 – 6 reflektieren diese These unter den Stichworten „Geschick“ und „Wissen“. Der erste Teil der Reflexion umfasst V. 2 – 4, hier ist „Geschick“ Thema wie Leitwort8 ; Vv. 7 – 10 bilden daraus abgeleitete Anweisungen. 9,1 beginnt wie 8,1 mit der Anknüpfung an die Lebensaufgabe. Indes verweist Kohelet jetzt nicht auf einen Beobachtungsgegenstand, sondern er richtet sein Herz auf die Untersuchung einer Meinung. Diese Meinung ist in V. 1b zitiert. Dass es sich hierbei um eine fremde Ansicht handelt, legt sich durch das Vokabular nahe: Die „Werke“ (Ca¯bad)9 wären bei Kohelet eher „Taten“ (maCas´æh) und die „Hand Gottes“ wird nicht im Sinne der Macht bzw. Gewalt Gottes verwendet. Auch inhaltlich entspricht der Satz nicht dem Denken Kohelets: Dass nur die Weisen und Gerechten und ihre Werke Gott unterstehen, zeichnet diese in einer Weise aus, die bisher gerade nicht zu finden ist. Zu überprüfen ist demnach die These, nach denen Gerechten, Weisen und ihren Werken bei Gott eine bestimmte Rolle zukommt.10 Dabei dürfte kaum an eine Vergeltung nach dem Tode zu denken sein.11 6 Die Wiederholung „alle deine flüchtigen Tage“ dürfte eine Doppelschreibung aus der vorigen Zeile sein, vgl. BHQ. 7 A. A. Fischer, Skepsis, 117 – 119; T. Krüger, BK, 299 lassen den Text bis 9,12 reichen; F. J. Backhaus, Zeit, 263 – 270 gliedert 9,1 – 9.10; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 438 f.: 9,1 – 6.7 – 10. Einen zusammenhängenden Abschnitt analysiert auch D. Michel, Untersuchungen, 166 – 183. 8 Zur Gliederung vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 124 f. 9 Es handelt sich um einen Aramaismus, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 60 f.; Ders., Preacher 2, 455. 10 Vgl. D. Michel, Untersuchungen, 166 – 183; A. A. Fischer, Skepsis, 119 – 123; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 441 – 443; T. Krüger, BK, 300 f. 11 Die entsprechende Annahme von D. Michel, Untersuchungen, 166 – 183 ist bei F. J. Backhaus, Zeit, 406 – 408 ausführlich widerlegt.

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Im Blick sind vielmehr jene Zeitgenossen, die das Buch Jesus Sirach vertritt. Sie versuchen, Weisheit und Gerechtigkeit im Toragehorsam verwirklichen und sind sich der Liebe Gottes so gewiss, wie sie sich seinem Willen unterwerfen (vgl. Sir 2,16 – 18; 3,17 – 4,9; 15,11 – 17).12 Hinzu kommt, dass sich im Sirachbuch die Ansicht findet, durch Weisheit und Gerechtigkeit Erkenntnis über Gottes Handeln gewinnen zu können (vgl. Sir 4,11 – 29). Schließlich behauptet Sirach ein festgelegtes Geschick für Böse und Gute (Sir 33,7 – 17)13 9,1b setzt der Haltung der Frommen die Ansicht Kohelets schroff entgegen. Kein Mensch ist fähig, hinsichtlich Gottes irgendetwas zu erkennen. Das Objekt „vor ihm“ (lipne¯hæm) ist bewusst vieldeutig. Versteht man es räumlich, muss gelten, dass der Mensch weder sein eigenes Tun durchschaut, noch das Verhalten Gottes – weil von den fallenden Zeiten abhängig. Versteht man es zeitlich, ist es auf die Vergangenheit14 gerichtet und bezieht sich auf Liebe und Hass. Diese sind in jedem Fall als Haltungen Gottes dem Menschen gegenüber gemeint, was ihnen aber vorausgegangen sein könnte, weiß der Mensch eben auch nicht.15 9,2 richtet seine Aussage vor allem gegen die Selbstwahrnehmung der Gerechten und Weisen, ein besonderes Los erwarten zu können.16 Vielmehr kommt allen dasselbe Geschick zu. Wie in Kap. 2 wird dieses Geschick nicht benannt, es ist inzwischen ohnehin klar, dass es sich um den Tod handeln muss. Kohelet unterstreicht seine Aussage, dass alle das gleiche Geschick trifft, dadurch, dass er einen ungewöhnlich ausführlichen Katalog von Menschen aufführt. Ähnlich wie in 3,1 – 8 wird eine Reihung von Gegensatzpaaren vorgeführt, die trotz ihrer Gegensätzlichkeit unter einer Einheit zu betrachten sind. Hier handelt es sich um fünf Paare, die die mögliche Breite religiöser Praxis unter Kohelets Zeitgenossen abdeckt.17 Gerechte und Frevler sind aus Kohelets Argumentation bereits hinreichend bekannt. Der „Reine“ (t.a¯h r) und der „Unreine“ (t.a¯me¯B) bilden eine ähnlich paradigmatische Leitdifferenz wie Gerechtigkeit/Frevel; Weisheit/Torheit. Sie entstammt priesterlicher Theologie: Reinheit ist die Voraussetzung für die Nähe Gottes, für seinen Segen, aber ebenso für die Möglichkeit sich Gott zu nahen.18 Somit ist der Tempel der Ort, an dem Reinheit und Unreinheit die größte Rolle spielen, sie entscheiden darüber, ob eine Person überhaupt kultfähig ist oder nicht.19 An 12 Zur Theologie Sirachs im Zusammenhang der späten Weisheit und im Zusammenhang mit Kohelet vgl. H. Spieckermann, Der betende Weise. Jesus Sirach, in: Ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie, Tübingen 2014 (FAT 91), 116 – 140. 13 Vgl. dazu auch T. Krüger, BK, 302 f. 14 Weil Vergangenheit im hebräischen Denken „vor“ dem Menschen liegt. 15 Vgl. T. Krüger, BK, 301. 16 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 125 f. 17 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 126 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 445. 18 R. Deines, Art. Rein und unrein: Calwer Bibellexikon, Bd. 2 (2003), 1126. 19 Überblick: B. Ego, Art. Reinheit/Unheinheit/Reinigung (AT): www.wibilex.de

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Priester und Tempelpersonal wurden zwar die höchsten und differenziertesten Reinheitsansprüche gestellt, aber die Differenz bezieht sich auch auf Laien (Lev 7,19; 12,4; 22;4; Jes 66,20; Mal 1,11). In späten weisheitlichen Texten wird diese Leitdifferenz auch in den ethischen Bereich übernommen: Prv 20,9 versteht Reinheit als Sündlosigkeit; Hi 4,17; Sir 38,10 identifizieren den Reinen mit dem Gerechten. Kohelet hatte bereits in 4,17 – 5,6 gezeigt, dass er den Kult durchaus nicht ablehnt und seinen Hörer angewiesen, die entsprechenden Regeln zu beachten. Aber auch diese Differenzierung wird im Blick auf das allgemeine Todesgeschick hinfällig. Kohelet bleibt im kultischen Diskurs und nennt das Schlachtopfer. Schon 5,1 war zu erkennen, dass die theologische Signifikanz des Schlachtopfers zu Kohelets Zeiten umstritten war. Auch hier gilt, dass der Tod die unterschiedlichen Positionen einebnet. Mit dem „Guten“ und dem „Sünder“ ordnet Kohelet seine eigene theologisch-anthropologische Differenzierung in den Katalog ein. Das Thema „Schwören“ schließt die Liste ab. Hierbei handelt es sich nicht um eine Leitdifferenz. Der Schwur (sˇeb Ca¯h) ist eine verbreitete Praxis von hoher theologischer Bedeutung.20 Man verpflichtet sich beim Schwur einer Gottheit, deswegen ist der Meineid ein schwerwiegendes Vergehen (vgl. Ex 20,7; Lev, 19,12). Der Schwur ist vor allem im politischen Bereich von Bedeutung: Politische Verträge, aber auch Vasallität, familien- und besitzrechtliche Belange werden mit Schwüren besiegelt. Dabei sind außerhalb Juda-Jerusalems zwangsläufig auch andere Gottheiten beteiligt. Damit wird der Schwur theologisch zu einer sensiblen Sache. Eine Kontroverse um den Schwur zeichnet Sir 23,7 – 11. Die Qumrangemeinde und ihre Vorläufergruppen vermieden das Schwören (vgl. CD VI, 15; XVI, 13 – 16).21 Kohelet nimmt diese Kontroverse in seine Argumentation auf. Es zeigt sich also, dass vor dem Hintergrund des einen Geschicks sämtliche religiös-theologischen Differenzierungen sinnlos werden: Keine der genannten Haltungen (einschließlich Kohelets eigener) ist in der Lage, Gottes Plan zu durchschauen und daher behaupten zu können, mehr in Gottes Hand zu sein als andere. Er artikuliert vielmehr die Gegenposition zu Sir 39,27.22 Obwohl Kohelet sich inzwischen vielfach mit Tod und Sterblichkeit befasst hat (und sogar unter dem Druck unerträglicher Verhältnisse die Toten beneiden kann), ist doch in 9,3 deutlich ausgedrückt, dass der Tod nichts Gutes hat. Im Gegenteil: dass alle sterben müssen ist „eine schlimme Sache“. Berücksichtigt man, dass in 2,15 diese Erkenntnis Kohelet in Klage und Lebenshass getrieben hat, muss man hier vielleicht übersetzen: eine bittere Sache.23 Mit dieser Wahrnehmung erkennt Kohelet auf seine Weise die grundsätzliche Berechtigung aller theologischen Versuche an, Ordnung ins Leben zu bringen, wenn er sie auch theoretisch für unweise hält. 20 21 22 23

Vgl. A. Flury, Art. Eid/Schwur: www.wibilex.de. Vgl. dazu A. A. Fischer, Skepsis, 127. Vgl. T. Krüger, BK, 303. Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 127.

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Der zweite Gedanke in diesem Vers befasst sich mit der Konsequenz dieser Haltung: Wenn aufgrund des einen Geschicks alle Differenzierungen sinnlos sind, muss sich daraus nicht eine ethische Indifferenz ergeben? Kohelet weicht dieser Frage nicht aus und stellt fest, dass das Herz der Menschen voll Bösem und Irrtum ist. Bosheit (und Irrtum) verdankt sich also nicht dem Plan Gottes (so aber Sir 33,11 – 15). Vielmehr übernimmt Kohelet hier die Position von Gen 6,5, nach der das menschliche Herz – das heißt, sein Verstand und Wesen – voll mit Schlechtem sind. Gott hat die Welt schön geschaffen, trotzdem gibt es auch Schlechtes in ihr, und zwar aus menschlichem Willen und menschlicher Verblendung. Kohelet bleibt bei diesem Gedanken. Weder weicht er auf eine „Sündenlehre“ aus (wie etwa Gen 2 – 3) noch auf eine Vorbestimmung der Menschen (wie etwa Sir 33). Er bleibt ein unbestechlicher Realist – und kommt in dieser Wahrnehmung einer Theodizee sehr nahe.24 Der Vers schließt wie 2,15 mit einem Ausruf, der das Geheimnis des einen Geschicks preisgibt. Der Tod wird formal wuchtig eingeführt:25 Der Satz ist ein Anakoluth, man müsste in etwa übersetzen „und danach26 – ab zu den Toten!“. Hier kommt die Auseinandersetzung mit der Gegenposition zum Ende. Versteht auch keiner, was „vor ihm“ liegt (d. h. in der Vergangenheit), so weiß doch jeder was „hinter ihm“ kommt – nämlich der Tod. Es ist charakteristisch, dass Kohelet hier nicht vom Tod noch gar vom Totenreich spricht, sondern personal von „den Toten“. Es bleibt so die Perspektive auf die Gleichheit aller erhalten. Auch nach dem Leben gibt es keine Differenzierung.27 9,4 – 6 bilden den zweiten Teil der Reflexion, in der Kohelet deutlich macht, dass die einzige wirklich tragende anthropologische Differenzierung nicht zwischen Gerechtem und Frevler usw. vorgenommen werden kann, sondern zwischen Lebenden und Toten.28 9,4 nimmt die Lebenden in den Blick. Die Formulierung verwendet für die Zugehörigkeit das Verb h. a¯bar, „verbinden, zusammenfügen“, das zugehörige Nomen bezeichnet in 4,10 den Gefährten. Die Lebenden sind also – ungeachtet aller Unterschiede – Gefährten und Verbündete. Ihre Gemeinsamkeit gründet in bit.t.a¯h. n, „Gewissheit“. Das zugrundeliegende Verb ba¯t.ah. bezeichnet das 24 Vgl. dazu T. Krüger, 303 f. A. A. Fischer, Skepsis, 127 f., will V 3b als sekundäre Einfügung streichen, die den Tod als Strafe für Schuld betrachtet. Das Hauptargument besteht darin, dass raC in V. 3 mit unterschiedlicher Konnotation verwendet wird: in 3a im Kohelet’schen Sinn als „schlimm“, in 3b hingegen als „böse“. Außerdem sei das gam („und auch“) adversativ aufzufassen. Die Beobachtungen sind keineswegs zwingend. Vor allem das Nebeneinander von raC und Irrtum ist eher charakteristisch für Kohelet. Zum adversativen gam vgl. A. Schoors, Preacher 1, 131 f. Vgl dazu auch T. Krüger, BK, 304 und ausführlich: Ders., Das menschliche Herz und die Weisung Gottes, in: R.G. Kratz/T. Krüger, Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld, Freiburg/Göttingen 1997 (OBO 153), 65 – 92; C.C. Forman, Qohelet’s Use of Genesis: JJSt 5 (1960), 256 – 263. 25 Vgl. zur Analyse S. Fischer, Aufforderung, 69. 26 Zum adverbialen Bah. a¯ra¯w vgl. A. Schoors, Precher 1, 118 f. 27 Zum Gedanken der Gleichheit im Tod vgl. auch Hi 3. 28 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 128.

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Vertrauen.29 Es ist vielfach in der Gebetssprache verwendet (vgl. exemplarisch Ps 13,8; 28,7).30 Dieses Vertrauen kann aber auch falsch sein, wenn es sich auf die falschen Objekte richtet.31 Kohelet lässt hier noch offen, was er mit der Gewissheit meint – es kann sowohl die Gewissheit sein, auf jeden Fall sterben zu müssen, als auch die, im Tod belohnt oder gerechtfertigt zu werden. Die Offenheit der Aussage wird mit einem traditionellen „Besser“-Spruch bekräftigt, der eine Denkaufgabe darstellt. Der Hund ist im Alten Testament und im Alten Orient kein geachtetes Tier, am deutlichsten formuliert, hier Prv 26,17.32 Demgegenüber ist der Löwe bei aller Gefährlichkeit geachtet – er symbolisiert den König wie Gott.33 Die Bilderopposition läuft also auf ein „Besser lebendig als tot!“ hinaus. Damit ist aber die Aufgabe noch nicht vollständig gelöst, denn mit dem Tod könnte sich ja noch eine positive Hoffnung verknüpfen. 9,5 löst die Aufgabe auf. Erneut setzt Kohelet mit den „Lebenden“ an. Ihre Gemeinschaft besteht darin, dass sie wissen, dass sie sterben müssen. Die Toten hingegen wissen gar nichts. Der Mensch weiß bzw. erkennt daher nichts hinsichtlich der Vergangenheit (V.2) – aber hinsichtlich der Zukunft (Vgl. V. 3). Der einzige Vorzug der Lebenden – aller Lebenden! – vor den Toten besteht demnach in der Gewissheit, sterben zu müssen.34 Erst hier kommt die Auseinandersetzung mit der Gegenposition zum Abschluss. Die Basisdifferenz unter den Menschen ist die zwischen Lebenden und Toten und dies gilt hinsichtlich der Gewissheit des Todes an sich. Alle anderen Differenzierungen sind demgegenüber sinnlos und bedeutungslos.35 9,5b – 6 ist eine Fortschreibung durch den Bearbeiter Z. Sowohl den Formulierungen als auch dem Inhalt nach sind die beiden Verse mit 1,3 – 11 verwandt. Die Verse leugnen jede Form der Erinnerung und auch irgendeinen Bezug zu jeglicher Zeit. Der negierte Begriff „Lohn“ (s´a¯kar) lässt hier an eine Leugnung einer Auferstehung denken. Die Tendenz geht jedoch in eine andere Richtung: „Unaufhörliches Andenken galt den Frommen als ihr erworbener und von Gott gegebener Lohn auf Erden“.36 Auch für diese Ansicht ist Sirach der Bezugspunkt, der im Lob der Väter (Sir 44,1 – 15) genau diesen Gedanken entfaltet. Obwohl Kohelet in Bezug auf heilsgeschichtliche Theologien eher skeptisch ist, sind die Begriffe „Erinnern“ und „Vergessen“ in diesem Zusammenhang doch nicht typisch für ihn.

29 Dass die häufig verwendete Übersetzung „Hoffnung“ hier nicht angemessen ist, zeigen A. Schoors, Preacher 2, 374 f.; A. Schellenberg, Erkenntnis, 90 f. 30 Vgl. A. Jepsen, ThWAT I (1973), 608 – 615. 31 Vgl. A. Schellenberg, Erkenntnis, 91. 32 Vgl. dazu P. Riede, Art. Hund: www.wibilex.de. 33 Vgl. dazu Ders., Art. Löwe: www.wibilex.de. 34 Vgl. dazu C. Klein, Kohelet, 83 f. 35 Zu griechischen Parallelen s. A. A. Fischer, Skepsis, 129; R. Braun, Kohelet, 104. 36 A. A. Fischer, Skepsis, 132.

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9,7 – 10 gehen nach diesem ebenso didaktischen wie wuchtigen Reflexionsgang unvermittelt zur Anweisung über. Die Aufforderung zur Lebensfreude ist hier erstmalig in aller Vollständigkeit formuliert und enthält neben Essen, Trinken und Freude auch weitere Dinge des guten Lebens. Der Absatz ist planvoll gestaltet: „Gehen“ (ha¯lak) bildet den äußeren Rahmen (Vv. 7.10), „Tun“ (Ca¯´sah) den inneren (Vv. 7.10). Es wechseln sich in regelmäßiger Folge Imperative (Vv 7a.8 – 9a.10a) mit Begründungssätzen ab (Vv. 7b.9b.10b) ab. Eine Traditionsvorlage ist gut möglich.37 9,7 beginnt mit die Aufforderung „Auf! Geh!“ (le¯k), mit dem Kohelet 2,1 sein Experiment mit der Freude einleitete. Da sie semantisch leer ist, verstärkt sie die beiden echten Imperative „iss“ und „trink“. Die beiden Aufforderungen werden ergänzt durch „mit Freude“ und „mit frohem Herzen“ (wörtlich: mit gutem Herzen). So werden die guten Gaben des Lebens physisch (iss, trink) und psychisch (mit Freude, mit frohem Herzen) miteinander verknüpft.38 Unter dieser Voraussetzung – dass die guten Gaben des Lebens in vollem Bewusstsein, d. h. vernünftig, genossen werden – wagt Kohelet sogar den Satz, dass Gott diesem Werk immer schon wohlwollend gegenübersteht. Hintergründig wird hier der Gedanke aufgegriffen, dass Freude eine Gabe Gottes ist (vgl. 5,18). Das hier verwendete Verb für „Gefallen haben“ (ra¯s. ah) kennzeichnet das Wohlwollen, das aufgrund eines Geschenks erworben wird (deswegen ist es auch ein Terminus der Opfertheologie: Lev 1,3).39 Gottes Gabe als solche zu ergreifen, ist somit seinerseits eine Gabe an Gott, der daran Gefallen hat. Der Gedanke erinnert an 5,18 f. 9,8 enthält zwei weitere Aufforderungen. Im Anschluss an 3,1 – 15; 6,10 – 14 meint „zu jeder Zeit“ hier „zu jeder passenden Zeit“.40 Die weißen Kleider sind als Festkleidung Est 8,15 belegt. Im Kult symbolisiert Weiß Reinheit, deswegen in Priesterkleidung weiß (Ex 26,1; 27,9). An ein kultisches Fest ist aber kaum gedacht. Weiß bei Festgewändern hat in Ägypten alte Tradition41. Da weiße Kleider schwierig herzustellen42 und aufwendig zu pflegen sind, sind sie einem feierlichen Anlass angemessen. Kostbares oder zumindest pflegendes Öl ist schon 7,1 erwähnt.43 In 9,9 ist die Formulierung zu beachten: „Sieh das Leben mit der Frau, die du liebst“ ist nicht nur ein Aufruf, mit ihr zusammen das Gute zu genießen,44 sondern bezieht das ganze Leben mit ein. Kohelet denkt an eine Partnerschaft, 37 Vgl. S. Fischer, Aufforderung, 72. A. A. Fischer, Skepsis, 137 – 146 rechnet im Anschluss an O. Loretz mit einer umfangreichen Bearbeitung eines israelitischen Trinkliedes. 38 Vgl. Ders., A. a. O., 74. 39 Vgl. ausführlich H.M. Barstad, ThWAT VII (1993), 640 – 652. 40 Vgl. S. Fischer, Aufforderung, 74; A. A. Fischer, Skepsis, 144. 41 Vgl. H. Ringgren, ThWAT III (1984), 453. 42 Ein weißes (bzw. ungefärbtes) Gewand setzt voraus, dass man nur Wolle von weißen Tieren verwendet bzw. das kostbare und seltene Leinen verwendet oder aufwendig bleicht. 43 Die beiden Aussagen stehen in keinem sachlichen Zusammenhang 44 So etwa S. Fischer, Aufforderung, 74; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 462.

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wobei offen bleiben muss, ob es sich um eine Ehefrau, eine Partnerin außerhalb der Ehe oder um jede Frau handelt.45 Entscheidend ist, dass sie „mit“ dem Angesprochenen ist und dass er sie liebt. Kohelets Reflexionen über den Wert der Gemeinschaft (4,9 – 12) werden hier in Richtung auf Partnerschaft weitergedacht. An dieser Stelle blitzt auch die Salomofiktion wieder auf. Nach 1Kön 11,1 – 3 hatte Salomo viele Frauen und „hing an ihnen mit Liebe“. In seinem Königsexperiment wurde dieser Teil der Salomotradition nicht angesprochen, hier wird sie aufgegriffen und positiv gewendet: Das gemeinsame Leben mit der Geliebten gehört zu den guten Dingen. Dass die Frau das Herz auf Abwege führt, wie 1Kön 11,4 ff. Salomo vorwirft, wird hier gerade nicht behauptet. Überdies bezieht sich die Liebe zu der Frau auf die theologische Argumentation von 9,1 zurück: Die Liebe Gottes in (heils-) geschichtlicher Dimension ist nicht erkennbar – die gegenwärtige Liebe zur Ehefrau schon. Wie zerbrechlich gerade diese Dimension des Guten im Leben ist, schärft Kohelet damit ein, dass er hier die Flüchtigkeit des Lebens einschiebt.46 Den Abschluss bildet eine Begründung, die an 2,10 erinnert: Lebensfreude in Weisheit kann des Menschen Los sein – wenn er sich darum bemüht, steht es ihm zu. Er kann damit rechnen, ohne es be-rechnen zu können, und es wiegt auch das Geschick nicht auf. Als Gabe Gottes ist es unverfügbar. 9,10 bildet den Abschluss mit einer Mahnung, die über die Lebensfreude hinausgeht. Sie fordert zum Tun dessen auf, was nötig und möglich ist und zwar mit ganzer Kraft.47 Weise Lebensgestaltung schließt aktive Gestaltung der Gesellschaft keinesfalls aus. „Deine Hand“ steht hier im prononcierten Gegensatz zur „Hand Gottes“ aus V. 2, der die Frommen und Gerechten vertrauen. Es geht um eine „Haltung, die ins Handeln führt und sich den Herausforderungen des Lebens stellt.“48 Diese Möglichkeit zur Aktivität unterscheidet das Diesseits vom Totenreich (SˇeB l), die dadurch gekennzeichnet ist, dass in ihr gar nichts möglich ist: Kein Handeln, kein Denken, nicht Weisheit noch Erkenntnis. Kohelets Totenreich ist damit grundsätzlich unterschieden von jenem machtvollen Raum, den vor allem die Psalmen kennen und fürchten (vgl. exemplarisch Ps 88). Kohelets Unterwelt ist das definitive Aufhören alles dessen, was das Leben kennzeichnet. Umso wichtiger wird ist es, das Leben bewusst zu gestalten.

45 Diskussion bei S. Fischer, Aufforderung, 75. 46 Vgl. Ebd. Dass damit die Mahnung zur Treue verbunden ist (vgl. T. Krüger, BK, 307), ist weniger wahrscheinlich. 47 Vgl. M.V. Fox, Time; T. Krüger, BK, 307; S. Fischer, Aufforderung, 75. 48 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 463.

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Nicht die Schnellen gewinnen das Rennen

Nicht die Schnellen gewinnen das Rennen Koh 9,11 – 12 9,11 Und ich wandte mich um und sah1 unter der Sonne: Nicht die Schnellen gewinnen das Rennen und nicht die Helden den Krieg, auch nicht die Weisen das Brot, auch nicht die Einsichtigen Reichtum, auch nicht die Wissenden Gunst: denn Zeit und Zufall trifft sie alle. 9,12 Denn der Mensch kennt seine Zeit eben nicht. Wie Fische, die vom Wurfnetz2 ergriffen werden, wie Vçgel, die von der Falle ergriffen werden, so werden sie geschnappt, die Menschen, zur schlimmen Zeit, wenn sie sie plçtzlich berf llt. 9,11 – 12 führt das Thema des vorigen Abschnitts fort. Das eine Geschick des Todes wird hier unter dem Aspekt der Zufälligkeit und Plötzlichkeit ausgeführt. Auch darin, dass keiner um seine Todesstunde weiß, gleichen sind die Menschen. Der Abschnitt ist bildet formal und thematisch eine geschlossene kleine Einheit3. Sie bildet erneut eine Bilanz aus Kohelets Lebensprojekt. 9,11 formuliert die Beobachtung, 9,12 die Schlussfolgerung. Die beiden Verse sind durch zwei katalogartige Aufzählungen parallel gestaltet. Das Themawort ist „Zeit“. Gegenüber den bisherigen Überlegungen zu Zeit und Geschick bietet 9,11 – 12 einen neuen Aspekt: Aus menschlicher Perspektive betrachtet, ist der Tod Zufall und kann durch Geschick oder Weisheit nicht berechnet werden. Dieser Gedanke ist im Rahmen der bisherigen Überlegungen nicht nur neu, sondern wird auch inhaltlich in einer Weise ausgestaltet, die bislang keine Rolle spielte: Der Tod ist tückisch. Sprachlich sind einige Unterschiede zum Rest des Buches zu verzeichnen. Die Programmformulierung 9,11 unterscheidet sich charakteristisch von 4,1.7: Sˇabt , „ich wandte mich zurück“, wird hier asyndetisch angeschlossen, es fehlt das betonte „ich“, und das Verb mit einem Infinitiv fortgesetzt4 Kohelet redet sonst weder von „Einsichtigen“ noch von „Wissenden“. Das Verb qa¯ra¯h, „treffen“, wird sonst mit miqræh fortgesetzt, nicht mit pægaC 1 Der Infinitiv vertritt das finite Verb. 2 Das Adjektiv „böse, schlecht“ am Satzschluss ist Dittographie aus V. 12b, vgl. BHQ. 3 A. A. Fischer, Skepsis, 133 – 137; T. Krüger, BK, 299.210 – 312, ziehen die Verse zum vorangehenden Abschnitt. Trotz sachlicher Verwandtschaft muss aber geltend gemacht werden, dass die Einleitung bei Kohelet immer auf die Eröffnung einer neuen Sequenz zielt. Kompositorisch eröffnen 9,11 – 12 den Großabschnitt 9,11 – 10,20 (L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 472 f.; F. J. Backhaus, Zeit, 274 f.), sind mit diesem aber sachlich wenig verbunden. So ist es am sinnvollsten, hier mit einer Einzelsequenz zu rechnen, vgl. auch S. Fischer, Aufforderung, 79. 4 Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 274.

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Koh 9,11 – 12

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(Zufall). Dass man seine Zeit nicht kennt, wird sonst entweder unpersönlich (8,7) oder in Form der Frage formuliert (6,12).5 So spricht vieles dafür, dass 9,11 – 12 eine Fortschreibung im Sinne Kohelets sind. Der Sache nach passt 9,11 – 12 am ehesten zum Bearbeiter Z: Dass menschlicher Erfolg grundsätzlich fraglich ist, ist sein Gedanke (1,3; 3,9). Auch der Naturvergleich passt zu ihm (vgl. 1,4 – 8). Zu 9,11 lassen sich Parallelen zu Menander geltend machen.6 Andererseits fehlen die für Z charakteristischen Begriffe „Ertrag“ und „Erinnerung“. So ist die Entscheidung über die Herkunft der Sequenz schwer zu treffen. 9,11 beginnt wie 4,1.7 mit der Aussage „ich wandte mich zurück“. Wie dort ist damit die Rückkehr zum Ausgangspunkt der Untersuchungen bezeichnet, so dass Kohelet nach den vorigen Reflexionen erneut von vorn beginnt. Seine Beobachtungen richten sich auf die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen Handeln und Erfolg gibt. Die Beobachtung reiht fünf Fälle auf, in denen der Erfolg sich nicht einstellt. Ähnlich wie der Handlungskatalog in 9,2 – 3 und die „Besser“-Sprüche stellt diese Reihe vermeintliche Gewissheiten in Frage. Möglicherweise liegt der Reihe Traditionsgut zugrunde, die den ausbleibenden Erfolg zum Sonderfall macht: Die Schnellen gewinnen nicht immer das Rennen. Die Einbindung in den Kontext verfolgt diesen Gedanken aber gerade nicht, sondern macht den ausbleibenden Erfolg unter dem Horizont von Zeit und Zufall zum Normalfall.7 Die Reihe beginnt mit dem Wettkämpfer. Der „Wettlauf“ (me¯r s.) ist ein Hapaxlegomenon8 und von r s., „schnell laufen“ abgeleitet. Gemeint ist wahrscheinlich der sportliche Wettkampf, der in hellenistischer Zeit in Juda populär wurde (vgl. 1Makk 1,14). Der Gedanke, dass der Schnelle (wörtlich „der Leichte“) nicht „das Rennen macht“, findet sich noch Am 2,15, dort aber vor dem Hintergrund des Gerichtshandelns am Tag JHWHs: Auch der Schnellste kann ihm nicht entkommen. Als zweites nennt 9,11 den „Helden“ bzw. „Starken“ (gibb r), der trotz seiner Stärke den Krieg bzw. die Schlacht nicht gewinnt. Auch dies ist in Am 2,15 reflektiert.9 Gleichzeitig steht im Hintergrund, dass die hellenistische Politik das Berufssoldatentum – auch und gerade für Juden – zu einer wichtigen Karrieremöglichkeit gemacht hatte.10 Das dritte Beispiel hebt darauf ab, dass Weisheit nicht zwangsläufig den Lebensunterhalt sichert. „Brot“ (læh. æm) steht hier – wie in 9,7 und häufig im Alten Testament pars pro toto für Nahrung.11 Dieser Gedanke ist ungewöhnlich im Buch: Dass Weisheit ein Weg des Broterwerbs sein könnte, ist bislang noch nicht erwogen worden. Im Hintergrund steht das Konzept der Weisheit 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 131 – 133. Vgl. R. Braun, Kohelet, 87. Vgl. dazu A. A. Fischer, Skepsis, 117.133 f. A. Schoors, Preacher 2, 465. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 473, verweist auf 1Sam 17. Vgl. M. Hengel, Judentum, 21 – 32. Vgl. W. Dommershausen, ThWAT IV (1983), 538 – 547.

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als Professions- oder Fachwissen.12 Bereits hier deutet sich aber die Richtung der Argumentation an: Die Weisen sind genauso dem Zufall ausgeliefert wie alle anderen Fachkundigen. Der Gedanke wird durch die beiden nächsten Aussagen fortgesetzt. Die „Verständigen“ (nebon m, von b n, „unterscheiden“) gewinnen keinen Reichtum und die „Wissenden“ keine Gunst, d. h. politischen Einfluss.13 Die drei letzten Beobachtungen sind auf Steigerung angelegt und enden mit dem Zusammenhang von Weisheit und Herrschaft. Die ganze Reihe hat zwei Schwerpunkte. Zum einen ruft sie die Erfolgs- und Karrieremöglichkeiten in hellenistischer Zeit auf und stellt fest, dass keinerlei Tüchtigkeit zuverlässig zum Erfolg führt.14 Der Anklang der beiden ersten Beobachtungen an Am 2,15 macht bereits deutlich, dass Gott in solchen Kalkulationen ein Wort mitzureden hat. Indes weisen die drei letzten Beobachtungen in eine andere Richtung: Dass Weisheit zuverlässig auch zum materiellen Erfolg führt, findet sich schon vielfach im Proverbienbuch (vgl. exemplarisch Prv 16,16), wird aber in Sir 51,23 – 29 geradezu zum Programm.15 In gewisser Weise ist die weisheitskritische Reihe von 9,11 eine Selbstkorrektur Kohelets. Von 2,3 – 12 her gelesen, kann durchaus der Eindruck entstehen, dass dem Weisen die ganze Welt und ihre Güter offen stehen – bis hin zur Königsherrschaft selbst. Kohelet muss vor dem Eindruck konkurrierender Konzepte deutlich machen, dass dem nicht so ist, zumindest nicht mit einer Weisheit, die nicht seinem Konzept entspricht. Dies unterstreicht er mit dem nachdrücklich – geradezu als Merksatz – formulierten Schlusssatz: Denn Zeit und Zufall trifft sie alle (k Be¯t wa¯pægaC jiqræh Bæt-kulla¯m). Es gibt keine Kontrolle über das eigene Leben, weder durch Frömmigkeit (vgl. 9,2) noch durch Kompetenz. Die „Zeit“ wird hier durch den „Zufall“ ergänzt. Der Begriff pægaC (von pa¯gaC, „fallen, treffen“) ist mit qa¯ra¯h/miqræh verwandt, deswegen wird das Verb hier auch verwendet. Gleichwohl hat das Nomen eine etwas andere Konnotation als das für Kohelet übliche Geschick.16 Stärker als dieses betont es die Kontingenz, es bezeichnet mehr den Zufall als das Schicksal, jedoch nicht zwangsläufig das Missgeschick oder den Schicksalsschlag.17 Der einzige weitere biblische Beleg für pægaC ist 1Kön 5,18. Dort leitet Salomo die Vorbereitungen für den Tempelbau mit der Feststellung ein: „Jetzt hat JHWH mir Ruhe verschafft ringsherum, es gibt keinen Feind noch bösen Zufall.“ Der Begriff hat in der Salomotradition also Vgl. dazu M. Köhlmoos, TRE 35 (2003), 486. Vgl. dazu N. Lohfink, NEB, 71. Vgl. Ebd., L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 473; T. Krüger, BK, 310 f. Vgl. dazu T. Krüger, BK, 311; N. Lohfink, NEB, 71. Sir 51 ist eine Rede der Weisheit. Die dort in Aussicht gestellten Güter können daher durchaus metaphorisch gemeint sein. Insofern muss man das sehr konkrete Verständnis der drei Kommentatoren relativieren, dass sich Kohelet hier konkret gegen eine elitäre Bildungsweisheit richtet. Das ist möglich, von Sir 51 her aber nicht völlig eindeutig. 16 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 410. 17 So aber A. A. Fischer, Skepsis, 134. 12 13 14 15

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Koh 9,11 – 12

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seinen Haftpunkt und unterstreicht, dass nur der rechte Umgang mit der Kontingenz einen Erfolg herbeiführen kann – in diesem Fall den Tempelbau, der die in der Beispielreihe aufgeführten Erfolgsmöglichkeiten um einiges übersteigt. Echte Weisheit führt damit nicht zu Gunst bei den Herrschenden, sondern zur Herrschaft selbst. 9,12 verwandelt das weisheitliche Beispiel in eine allgemein anthropologische Aussage. Kein Mensch kennt „seine“ Zeit. Handelt es sich um einfach geeignete Zeiten (vgl. 3,1 – 8) oder um den Tod? Im Duktus des Buches ist beides möglich. Der Anschluss geht aber eher in Richtung des Todes. Zwei Bilder aus der Jagd verdeutlichen die Problematik des Zufalls. Es wird beide Male das Verb Ba¯h. az, „ergreifen“, verwendet, beide Male in passiven und daher unpersönlichen Verbformen. Da „Fische“ maskulin und „Vögel“ feminin sind, wird derselbe Ausdruck variiert.18 Das Klappnetz (pah. ) beim Vogelfang verweist auf die klassische Jagdmethode: Das Klappnetz wird aufgestellt und mit Ködern versehen. Geht der Vogel hinein, zieht sich „das kleine, um zwei Bügel gespannte Klappnetz … durch eine Mechanik von selbst zusammen“.19 Diese Technik wird bei der Jagd auf kleine Vögel angewandt. Das „Wurfnetz“ (mas. d) erscheint in der Femininform in Ez 12,13; 17,20 und bezeichnet dort das Fischnetz, das ins Wasser geworfen wird und sich beim Herausholen zusammenzieht. Während der Fischfang im Alten Testament nicht metaphorisch erwähnt wird, weil Fische importiert wurden20, hat der Vogelfang eine breite Tradition als Bild für Gefahren: sowohl individuelle als auch politische Feinde werden als Jäger dargestellt, die ihren Opfern auflauern.21 Auch die Verführungskünste der „Frau Torheit“ (Prv 7,1 – 27) operieren mit diesem Bild (vgl. auch Koh 7,23). Diese Todesmetaphern stehen in gewissem Gegensatz zu der stillen Scheol des vorigen Kapitels. Gut alttestamentlich wird hier die Dynamik des Todes im Bild eingefangen; die Verwendung der Jagdmetaphern geben ihm über die Kontingenz hinaus den Aspekt der Tücke. Der Versschluss unterstreicht dies: Die Menschen werden „geschnappt“ zur bösen Zeit, die unvorhersehbar über sie herfällt. Die Tendenz der Aussage von V. 12 geht vor allem dahin, deutlich machen, dass der Tod nicht nur Geschick ist, das nicht planbar ist, sondern seine eigene Dynamik hat. Im Unterschied zum Proverbienbuch verstrickt der Mensch sich also nicht selbstverantwortlich in den Tod,22 im Unterschied zum Sirachbuch ist er aber auch nicht von vornherein so festgelegt, dass er nur den Frevlern zum bösen Schicksal gereicht. Diese ungewohnt ausführliche Schilderung des Todes als böses Geschick ist 18 A. A. Fischer, 117, verdeutlicht dies mit einem schönen Reim: „Wie Fische ins Wurfnetz gegangen und wie Vögel im Klappnetz gefangen“. 19 K. Koenen, Art. Jagd: www.wibilex.de. 20 Vgl. P. Riede, Art. Fisch: www.wibilex.de. 21 Vgl. ausführlich: O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1972, 75 – 99. 22 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 136.

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Nicht die Schnellen gewinnen das Rennen

möglicherweise deswegen an den vorigen Abschnitt gefügt, um deutlich zu machen, dass die Aufforderung zur Lebensfreude nicht auf einen naiven Hedonismus im Stile von Jes 22,13 zielt.23 Das Missverständnis liegt nahe und ist mit Hinweis auf die völlige Kontingenz des tückischen Todes auszuhebeln. Gleichzeitig weist der Abschnitt erneut jeden Versuch ab, durch (weises) Handeln Einfluss auf Leben und Tod zu nehmen.

23 Vgl. S: Fischer, Aufforderung, 79. Zum Problem auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 464 – 466.

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Koh 9,13 – 10,20

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Sprüche Kohelets Koh 9,13 – 10,20 9,13 Auch dies sah ich – eine Weisheit unter der Sonne – und sie erschien mir groß: 9,14 Eine kleine Stadt und nur wenig Männer darin, und es zog gegen1 sie ein großer König und belagerte sie und baute gegen sie große Belagerungstürme2. 9,15 Und er fand in ihr einen armen, weisen Mann, und der rettete die Stadt durch seine Weisheit. Und niemand erinnerte sich an diesen armen Mann. 9,16 Und ich sprach: Besser Weisheit als Stärke, aber die Weisheit des Armen wird verachtet, und seine Worte werden nicht gehört. 9,17 Weise Worte in Ruhe werden eher gehört als das Geschrei eines Herrschers unter den Toren. 9,18 Besser Weisheit als Kriegsgerät, und ein Sünder richtet viel Gutes zugrunde. 10,1 Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken (und gären)3. Wertvoller als Weisheit, als Ehre4 ist wenig Torheit.5 10,2 Der Weise hat das Herz zur Rechten, der Tor hat das Herz zur Linken. 10,3 Und auch unterwegs6 fehlt es dem Toren an Verstand. Er aber spricht von jedem: „Ein Tor ist das!“ 10,4 Wenn der Geist eines Herrschers sich gegen dich erhebt, gib deinen Platz nicht auf. Denn Gelassenheit deckt große Sünden zu. 10,5 Es gibt etwas Schlechtes, das ich unter der Sonne sah: Eine echte Verirrung7, die von8 einem Machthaber auszugehen pflegt9 : 10,6 Die Torheit10 ist eingesetzt in hohe Würden, und Reiche sitzen unten. 10,7 Ich sah Sklaven auf Pferden und Edle, die gingen wie Sklaven auf der Erde. 10,8 Wer eine Grube gräbt, fällt hinein, und wer eine Mauer einreißt, den

1 Bæl („zu“) ist hier, wie häufig im Alten Testament als Cal („gegen“) zu lesen, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 200 f. 2 So mit den Versionen, vgl. BHQ. 3 Das zweite Verb wird in vielen Versionen nicht gelesen und könnte eine Glosse sein, vgl. BHQ. 4 MT ist doppeldeutig. Die asyndetische Fügung me¯h. kma¯h mikka¯b d lässt sich im vorgeschlagenen Sinne lesen, aber auch als „Weisheit ohne Ansehen“. Das erste Verständnis ist wahrscheinlicher, deswegen fügen die meisten Versionen ein erleichterndes „und“ ein, vgl. BHQ. 5 Zur Übersetzung vgl. T. Krüger, BK, 314 f. 6 Vgl. BHQ. 7 Probleme bereitet die Präposition ke vor ˇsega¯ga¯h. Mit A. Schoors, Preacher 1, 110 handelt es sich nicht um ein „wie“, sondern ein Kaph veritatis, also eine Bekräftigung. 8 Zur Konstruktion des Verbs mit der Präposition vgl. A. Schoors, Preacher 1, 123. 9 Vgl. A. Schoors, Preacher 1, 152. 10 Die Versionen korrigieren zu „der Tor“ bzw. „die Toren“, vgl. BHQ. Wahrscheinlich handelt es sich um ein abstractum pro concreto: A. Schoors, Preacher 2, 195.

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Sprüche Kohelets

beißt eine Schlange. 10,9 Wer Steine bricht, kann sich dabei wehtun, wer Holz spaltet, bringt sich dabei in Gefahr. 10,10 Wenn das Eisen stumpf wird und man schärft seine Schneide nicht, braucht man mehr Kraft. Und der Ertrag des Kundigen ist Weisheit. 10,11 Wenn die Schlange vor der Beschwörung beißt, hat der Beschwörer keinen Ertrag. 10,12 Die Worte des Mundes des Weisen sind Charme, aber die Lippen des Toren verschlingen11 ihn. 10,13 Der Anfang der Worte seines Mundes ist Torheit und das Ende seines Mundes ist schlimmer Irrtum. 10,14 Und der Tor vermehrt die Worte. Der Mensch weiß nicht, was geschehen wird, und was nach ihm sein wird – wer verkündet es ihm? 10,15 Den Toren ermüdet seine Mühe, den Weg zur Stadt findet er nicht12. 10,16 Weh dir, Land, dessen König ein Jüngling ist und dessen Vornehme am Morgen essen. 10,17 Glücklich, du Land, dessen König ein Edler ist und dessen Fürsten zur rechten Zeit essen, (in Kraft und nicht im Besäufnis)13. 10,18 Bei grosser Tr gheit senkt sich das Geb lk, und bei m ssigen H nden wird das Haus undicht. 10,19 Zum Lachen machen sie das Essen, und Wein erfreut die Lebenden und Geld bezahlt das alles. 10,20 Auch in Gedanken schmähe nicht den König und in deinen Schlafkammern schmähe nicht den Reichen. Denn die Vögel des Himmels könnten das Geräusch forttragen, und was Flügel hat, könnte das Wort verkünden. 9,13 – 10,20 enthält Reflexionen und Mahnungen über den Zusammenhang zwischen Weisheit und Macht. Sie sind als Abschluss des zweiten Buchteils konzipiert. Der Abschnitt ist thematisch durchaus zusammenhängend, bildet aber eine eher lockere Komposition.14 Wieviel Material Kohelets hier noch zu finden ist, ist unklar. Charakteristisch für die ganze Einheit ist das hohe Maß an Spruchgut. Da sich die Texte aber sinnvoll in Kohelets bisherige Argumentationen fügen, werden sie ihm hier – trotz einiger stilistischer und sprachlicher Eigenarten – zugewiesen. Unter Berücksichtigung der Sprechakte lässt sich der Abschnitt in drei Teile gliedern:

11 Die Übersetzung ist trotz ba¯laB II, „verwirren“ (Jes 3,12; 9,15; 19,3; 28,7; Hos 8,8; Ps 107,27; Hi 37,20) wahrscheinlicher, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 375. 12 Der Vers ist schwierig und kann nur näherungsweise übersetzt werden: Auf das Maskulinum „Mühe“ bezieht sich die Femininform „ermüden“; diese hat ein Singularsuffix, das kein Bezugswort hat. Der Relativsatz steht ebenfalls beziehungslos und ist inhaltlich rätselhaft. Die Diskussion ist dargestellt bei D. Michel, Untersuchungen, 242 – 244. Die Übersetzung mit T. Krüger, BK, 314 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 495 f. Anders: A. Schoors, Preacher 1, 74.80 – 85; Ders., Preacher 2, 135.144.154.170; D. Michel, Untersuchungen, 244. 13 „Stärke, Kraft“ hier im Sinne von Selbstbeherrschung. Die Phrase, die den Parallelismus durchbricht, ist möglicherweise eine Glosse, die den Vers an Jes 5,22 angleicht, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 504. 14 Vgl. T. Krüger, BK, 316; F. J. Backhaus, Zeit, 275 – 296; S. Fischer, Aufforderung, 80 f.

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Koh 9,13 – 10,20

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9,13 – 10,4: Die Weisheit und der große König 10,5 – 15:

Die Irrtümer des Machthabers

10,16 – 20: Chancen und Grenzen des Königtums15

Die beiden ersten Abschnitte werden durch Beobachtungen Kohelets eingeleitet; der letzte Abschnitt beginnt mit einem – als Abschluss konzipierten – Weheruf bzw. Makarismus. Kohelet nimmt hier das Verhalten der und das Verhältnis zu bestimmten Machthabern in den Blick: Dem Großkönig, dem M ˇse¯l und dem Sˇall t. . Sie bezeichnen bestimmte politische Führungsrollen zu Kohelets Zeit, d. h. Weisheit im Dienste der Herrschaft lässt sich an ihnen zeigen. Dabei integriert Kohelet diese Anweisungen aber immer noch in den Zusammenhang seiner eigenen inszenierten Salomo-Imagination. So ergibt sich als Perspektive für seinen Zuhörer, in welchem Rahmen er selbst an der Gestaltung des Gemeinwesens Teil haben kann. 9,13 – 10,4 beginnt mit einer Beobachtung Kohelets, die eine Beispielerzählung bietet. Zum ersten (und einzigen) Mal im Buch zieht Kohelet einen konkreten Vorgang heran, um seine Reflexionen zu begründen. Obwohl in die Narration seiner Beobachtungen eingeordnet, wird nicht deutlich, wie sich das Ereignis zu seinem Leben verhält. Der Abschnitt gliedert sich in drei Teile: 9,13 – 18 schildern die Beobachtung und die daraus gezogene Schlussfolgerung („Ich sah“ – „Ich sprach“); 10,1 – 3 schließen sich verschiedene Weisheitssprüche an; 10,4 formuliert eine Mahnung. Der Abschnitt setzt die politische Verfassung Judas seit der Perserzeit voraus: Der (ausländische) Großkönig ist der Herrscher des Landes, die untere und unterste Ebene der Provinzen wird von verschiedenen Amtsinhabern (M ˇse¯l) verwaltet. In seiner Königsmaske gibt Kohelet Ratschläge, wie unter diesem System Herrschaft gelingen kann. 9,13 leitet mit dem bekannten „ich sah“ eine neue Beobachtung Kohelets ein. Ungewohnt ist jedoch die Kennzeichnung des Objekts als „Weisheit“. Es handelt sich also um ein Beispiel für Weisheit. Damit nimmt Kohelet die Interpretation des Kommenden vorweg. Der Satz ist so gestaltet, dass die „Weisheit“ als explizierende Apposition zum einleitenden „auch diese“ fungiert16, eine recht ungewöhnliche Konstruktion, die aber Kohelets Stileigen15 T. Krüger, BK, 316 gliedert aus thematischen Erwägungen in die Abschnitte 9,13 – 10,1; 10,2 f.; 10,4 – 7; 10,8 – 11; 10,12 – 15; 10,16 – 20. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 438.492 – 507, legt ebenfalls thematische Kriterien zugrunde und gliedert: 9,13 – 16; 9,17 – 10,1; 10,2 – 3; 10,4 – 7; 10,8 – 11; 10,12 – 15; 10,16 – 20. S. Fischer, Aufforderung, 80 f.: 9,13 – 16; 9,17 – 10,1; 20,2 – 7; 10,8 – 11; 10,12 – 15; 10,16 – 20. F. J. Backhaus, Zeit, 275 – 277 grenzt 9,13 – 16; 10,5 – 7 aufgrund der einleitenden Wendungen ab und bestimmt 9,17 – 10,4; 10,8 – 11; 10,12 – 15; 10,16.17; 10,18 – 20 unter semantischen Gesichtspunkten als Teilsequenzen. A. A. Fischer, Skepsis, 252, betrachtet den Abschnitt als Komposition aus Einzeltexten. 16 F. J. Backhaus, Zeit, 276; A. Schoors, Preacher 1, 200.

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Sprüche Kohelets

tümlichkeiten aufgreift. Zusätzlich wird die beobachtete „Weisheit“ noch qualifiziert. Die Formulierung „und groß war sie bei mir“ muss im Sinne von „und sie erschien mir bedeutend“ übersetzt werden.17 Typischer für Kohelet wäre eine eindeutige Aussage (vgl. 4,7; 5,17; 6,1). Die Formulierung erinnert an 5,12.15, sodass hier mit einigem Nachdruck formuliert wird. Es schließt sich eine kleine Erzählung an, die man nach der Einleitung als Beispiel- oder Lehrerzählung charakterisieren muss.18 Die Erzählung umfasst 9,14 – 15 und schildert die Rettung einer kleinen Stadt vor einer massiven Kriegsmaschinerie durch einen armen Mann und dessen Weisheit. Dieser Weise wurde aber vergessen.19 Die Pointe der Erzählung liegt zunächst im Gegensatz des massiven Kriegsaufwands zur der Tat des armen Weisen. Das Bild vom Krieg ruft 9,14 aktuelle Sachverhalte ab. „Großkönig“ ist seit assyrischer Zeit (vgl. Ps 48,3) der hebräische Begriff für den Fremdherrscher. Die Belagerungsmaschinen sind ebenfalls seit assyrischer Zeit bekannt, wurden aber auch von den späteren Mächten kontinuierlich verbessert und eingesetzt (vgl. auch Ez 26,8 – 14). In der altorientalischen und antiken Kriegführung wurden Städte häufig belagert, um sie durch Aushungern und Abschneiden von der Wasserversorgung zum Aufgeben zu zwingen; gerade in Israel und Juda ist dies häufig das Mittel der Wahl. Unterstützt wird die Belagerung durch (hölzerne) „Türme“, aus denen die Belagerer auf die Verteidiger schießen konnten, um womöglich die Verteidigung zu schwächen.20 9,15 erzählt die Rettung der Stadt durch den „armen, weisen Mann“. Die Formulierung greift 4,13 auf, bezeichnet aber hier einen Erwachsenen. Unklar ist, wer ihn findet.21 Sollte er vom König gefunden werden, dann kann er den König dazu überreden, die Belagerung abzubrechen.Sollte er sich in der Stadt befinden, dann ist die Erzählung eine Paraphrase von Ri 9,50 – 57.22 Auf jeden Fall greift der Text den Gedanken von 7,19 auf (vgl. auch Prv 16,32; 21,22), überbietet ihn aber in gewisser Weise auch, weil sich hier die Weisheit – worin immer sie bestehen mag – sogar als stärker erweist als die Kriegskunst des Großkönigs. Das heißt, Weisheit ist auch im Verhältnis zum Großkönig eine sinnvolle und notwendige Eigenschaft. Die eigentliche Pointe liegt jedoch im Erzählschluss: Trotz dieser Rettungstat wurde der Mann vergessen. Das prononcierte „und niemand gedachte“ unterstreicht die Pointe. Za¯kar, „erinnern, 17 Vgl. T. Krüger, BK, 314. 18 Ebd. 19 Es ist nicht nötig, die Tat des Weisen als Irrealis zu lesen („der hätte die Stadt retten können“, so etwa L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 476 f.), vgl. dazu M.V. Fox, Time; T. Krüger, BK, 317. 20 Vgl. dazu B. Obermayer, Art. Krieg (AT): www.wibilex.de . 21 Häufig wird das Subjekt von „finden“ unpersönlich aufgefasst, vgl. etwa L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 478. Von Kohelet würde dies jedoch mit „Es gab“ formuliert werden, vgl. T. Krüger, 317. 22 Auch eine Kriegslist ist Weisheit.

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gedenken“, gehört zu den Schlüsselworten alttestamentlicher Theologie:23 Dass Israel sich nicht der Großtaten JHWHs erinnert, ist Gegenstand von Nehemias großem Bußgebet (Neh 9,17). Das sich daraus ergebende Dilemma reflektiert 9,16 in Form einer autoritativen Aussage: Weisheit ist besser als Stärke, aber eben auch an die Person des Weisen gebunden. Die Behauptung einer besonderen Stärke der Weisheit wird gleichzeitig bestätigt und relativiert.24 Wie 4,13 – 16 scheint der Abschnitt dafür zu votieren, dass Weisheit auch in konkretem (politischen) Handeln eingesetzt werden muss. Derjenige, der als Armer keinen Handlungsspielraum hat, kann mit seiner Weisheit nicht viel anfangen. Dementsprechend ist seine Weisheit auch wenig nützlich, selbst wenn sie eine Stadt vor der Eroberung rettet. 9,16 hat die politisch-administrativen Verhältnisse der persisch-hellenistischen Zeit vor Augen: Die Ortschaften wurden von Ältesten oder anderen Funktionsträgern geleitet, von deren politischem Geschick viel abhing.25 In diesen Kontexten muss sich Weisheit bewähren. Hier wird noch einmal der Sinn der Salomofiktion des Buches deutlich: Sich als Verantwortlicher an Salomo zu modellieren, heißt die Zustände seiner Herrschaft zu wiederholen. Einem Mittellosen kann das nicht gelingen. 9,17 gibt im Modus des Sprichworts einen Ratschlag. Der Form wie dem Inhalt nach ist er zur Aneignung gestaltet (dibre¯ h. aka¯m m benah. at nisˇma¯C m mizzaCaqat m ˇse¯l bakkes l m), dabei wiederholt nisˇma¯C m („werden gehört“) das Schlusswort von 9,16. Ähnlich wie 4,13 wird hier ein mehrfacher Gegensatz formuliert: Worte

weise Ruhe

Geschrei Herrscher unter Toren

Zur Weisheit des Ratschlags gehört demnach auch die Art des Vortrags26. Da za¯Caq, „schreien“, mit Aufregung verbunden ist27, klingen hier die Reflexionen über den Umgang mit Zeiten mit: Zur weisheitlichen Kompetenz gehört das Wissen darum, ob sich die Aufregung lohnt. Auch hier ist öffentliches Handeln der Fluchtpunkt des Ratschlags: M ˇse¯l bezeichnet sehr allgemein den Amtsinhaber, „höhere Beamte, zivile Amtsinhaber (wie etwa Steuerpächter), Militärs, sogar … sakrale Autoritäten“.28 Der Ratschlag besteht also darin,

23 Vgl. H. Eising, ThWAT II (1977), 571 – 593. 24 Vgl. T. Krüger, BK, 318. 25 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 478 f. Eine Auseinandersetzung mit der Elitenweisheit des Sirachbuchs ist an dieser Stelle weniger wahrscheinlich (so aber T. Krüger, BK, 318 f.). 26 Die Übersetzung von L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 480, berücksichtigt den Versaufbau zu wenig. 27 Vgl. T. Krüger, BK, 319. 28 N. Lohfink, Melek, 81.

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Funktionsträgern im Sinne der öffentlichen Ordnung weise, aber durchaus selbstbewusst entgegenzutreten. 9,18 schließt den Gedanken mit einem „Besser“-Spruch ab, der die Beispielerzählung aufgreift. Die Weiterführung formuliert bringt den „Sünder“ ein. Hier gilt Kohelets Sündenbegriff: Schon ein einziger, der einen Fehler macht, kann Gutes zunichte machen – und dies ist eine allgemein menschliche Gefahr.29 10,1 – 3 bilden eine lockere Spruchkomposition, die weitere Aspekte von Weisheit und Torheit nachträgt. 10,1 beginnt mit einem Bild aus dem Handwerk. Ungeziefer im Öl verdirbt dieses vollständig, obwohl die Fliege scheinbar unbedeutend ist. Die daraus gezogene Schlussfolgerung lautet, die Torheit so gering wie möglich zu halten, wobei „wenig“ hier möglichst gar keine meint.30 10,2 dürfte ein umlaufendes Sprichwort sein, das wegen der Bedeutung des Herzens aufgegriffen wurde. Die rechte Seite gilt im Alten Israel als „glückliche“, die linke als „unglückliche“ Seite (Gen 48,14)31. Der Verstand des Weisen führt ihn also auf den richtigen Weg, wohingegen der Tor dazu neigt, in die Irre zu gehen (vgl. auch 2,11 ff.). 10,3 spitzt dies noch zu. Während 10,2 dem Toren immerhin noch Verstand unterstellt, hält V. 3 fest, dass der Tor überhaupt keinen Verstand hat: Welchen Weg er auch wählt, es ist der falsche, und er lässt sich nicht einmal belehren (vgl. Prv 12,23).32 Von hier aus ergibt sich eine Rückbindung an 9,17: Von einem, der über Toren gebietet, muss entweder viel erwartet werden, oder aber er erweist sich selbst als (gefährlicher) Oberste der Toren. 10,4 wendet sich mit einer direkten Anrede an den Zuhörer. Der Sache nach weist er ihn an, dem Unmut eines Amtsträgers (M ˇse¯l) standzuhalten. Der Sache nach erinnert das an 7,5, könnte aber auch ganz konkret darauf zielen, dass der Zuhörer seine Position verteidigen soll. In jedem Fall verhindert Gelassenheit (vgl. auch 9,17) eine Fehleinschätzung des Geheimnisses der Zeit und verhindert daher „Sünde“. 10,5 – 15 bildet die nächste Sequenz dieser Komposition. Sie besteht aus drei Teilen. 10,5 – 7 berichten von einer Beobachtung, 10,8 – 11 fügen eine Spruchreihe nach, 10,12 – 15 ziehen prinzipielle Schlussfolgerungen. Auch hier ist das Verhalten des Machthabers der Ausgangspunkt. Im Zentrum steht hier der Sˇall t. . Von ihm wird Kompetenz eingefordert. 10,5 beginnt mit der Beobachtung eines „Übels“. Bei Kohelet hat die Wurzel ˇsa¯lat. (2,3; 5,18; 6,2; 7,19; 8,4.8.9) immer die Konnotation von Machtmissbrauch und Tyrannei. Allem Anschein nach bezeichnet der Sˇall t. einen hö29 Vgl. T. Krüger, BK, 319. 30 Vgl. T. Krüger, „Wertvoller als Weisheit und Ehre ist wenig Torheit“ (Kohelet 10,1): BN 89 (1997), 62 – 75. 31 Vgl. T. Krüger, BK, 320; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 485. 32 Ebd.

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herrangigen Machthaber als den M ˇse¯l. Dies legen schon die biblischen Belege nahe (vgl. Est 9,1; Neh 5,15; Gen 42,6; Sir 9,13). Im Blick ist vor diesem Hintergrund der von der Großmacht beauftragte Herrscher Judas bzw. Jerusalems, d. h. der Hohepriester und/oder der Statthalter.33 Ihm wird eine Verirrung (sˇega¯ga¯h) vorgeworfen. Das Wort bezeichnete 5,5 das „Versehen“, das kultisch korrigiert werden kann, wenn es aus Fahrlässigkeit geschieht. Die Einleitung macht aber deutlich, dass es sich nicht um eine Kleinigkeit handelt. Die Ausführung 10,6 bleibt auf dieser Linie: Die Torheit wird in hohe Würden eingesetzt. In Kohelets Denksystem ist dies ein schwerer Fehler. Indes bleibt offen, was genau gemeint ist. Zum einen ist die Formulierung unpersönlich und abstrakt, zum anderen ist die Fortsetzung – die Erniedrigung der Reichen – in diesem Zusammenhang wenig klärend. Liest man die Aussage über die Behandlung der Reichen vor dem Hintergrund von 2,24; 5,18 dann ist es ungerechtfertigt, „weisen“ Reichen nicht mit der ihnen gebührenden Achtung zu begegnen. Die Verwendung des kultisch konnotierten Begriffs ˇsega¯ga¯h könnte darauf zielen, dass der Hohepriester im Visier der Kritik ist. Für seine Handlung könnte er den ˇsega¯ga¯h –Brauch geltend machen, insofern er nicht an die Beachtung von Weisheit oder Reichtum gebunden ist, sondern für ihn andere Regeln zum Umgang mit Menschen gelten. Kohelet rät indes zur Vorsicht im Hinblick auf dieses Instrument (5,5). Der Machthaber bevorzugt in seinem Umfeld offenbar Menschen, die für Kohelet unter das Verdikt Torheit fallen. Die Beobachtung von 10,7 gehört noch in diesen Zusammenhang: Sie beklagt eine verkehrte Welt: Sklaven auf Pferden und Vornehme zu Fuß. S´ar34 bezeichnet in der israelitischen Ämterhierarchie einen der höchsten Funktionsträger, in Prv 8,16 ist es der Parallelbegriff zu „König“. In Jos 5,13 – 15; Dan 10,13 hat der Begriff eine militärische Konnotation. Die Erlaubnis zum Reiten ist (vgl. Est 6,8) eine hohe Auszeichnung, der Erhebung in den Adelsstand vergleichbar. Der ganze Zusammenhang beklagt offenbar eine völlig inkompetente Besetzung von Ämtern und Funktionen durch den Sˇall t. . Eine solche undurchsichtige Personalpolitik ist vor allem für das frühe 2. Jh. v. Chr. belegt, als die Hohepriester und Tempelvorsteher zwischen den Ansprüchen der Seleukiden und Ptolemäer auf Jerusalem und Juda mehrfach die politischen Seiten wechselten und dabei traditionelle Ansprüche auf Führung völlig außer acht ließen. Möglicherweise spielt der Text darauf an.35 Ob die Erhebung der Sklaven wörtlich oder bildhaft zu verstehen ist, muss offen bleiben, auf jeden Fall moniert der Text die Verdrängung kompetenter Personen aus der politischen Verantwortung.36 33 Vgl. N. Lohfink, Melek, 84 f. 34 Vgl. dazu H. Niehr, ThWAT VII (1993), 855 – 879. 35 Vgl. zum Überblick über die Ereignisse seit Onias III. (196 – 175): M. Hengel, Judentum 486 – 503. 36 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 491.

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10,8 – 11 stellen eine Reihe von Sprichworten hintereinander, die traditionelles weisheitliches Wissen aufrufen. Sie alle zielen auf Vorsicht, Risikoeinschätzung und allgemeine (Berufs-) Kompetenz. 10,8 ist im Alten Testament in mehreren Varianten präsent (vgl. Prv 26,27; Sir 27,26; Ps 7,16; 9,16; 35,8; 57,5). Anders als in den sonstigen Belegen geht es aber hier nicht um die Warnung davor, anderen Schaden zuzufügen, sondern um die Vermeidung eines „Arbeitsunfalls“.37 In dieselbe Richtung geht die zweite Hälfte (vgl. auch Am 5,19). In Israel nisten Schlangen in Mauerritzen und –löchern und sind daher von außen nicht erkennbar. Beim Hausbau ist demnach mit Vorsicht zu agieren38. 10,9 warnt vor Gefahren weiterer Tätigkeiten. 10,10 geht darüber hinaus. Für kompetentes Handeln sind nicht nur die inhärenten Gefahren zu kalkulieren. Vielmehr ist auch eine Strategie festzulegen. Mit stumpfem Werkzeug zu arbeiten, hat unnötigen Kräfteverbrauch zur Folge. Weisheit im Sinne technischen Berufswissens bringt also garantierten Erfolg. Wie in 2,14 ist dies nur relativ aufzufassen. 10,11 bringt ein weiteres Beispiel. Wie die beiden Tätigkeiten in 10,9 das Wort über das Eisen motiviert haben dürften – Eisen ist das Werkzeug für beide Tätigkeiten –39, ist das Beispiel des Schlangenbeschwörers von V. 8 her veranlasst. Der Schlangenbeschwörer übt eine durchaus populäre und bewunderte Tätigkeit aus. Angesichts des hohen Symbolwerts der Schlange40 ist das auch kaum verwunderlich. Koh 10,11 bezeichnet den Beschwörer als „Herrn der Zunge“ – wahrscheinlich eine Anspielung auf das Musikinstrument, mit dem er das Tier scheinbar hypnotisiert.41 Macht er dabei einen Fehler und wird gebissen, geht ihm der Verdienst verloren. Ob es bei der Beschwörung um eine Form der Unterhaltung geht oder ob professionelle Schlangenbeschwörer zu medizinischen Ritualen42 oder auch im Hausbau zum Einsatz kamen, lässt sich nicht ermitteln. Während 10,5 – 7 eher verdeckt anmahnen, bei der Herrschaft die Kompetenz bestimmter hochstehender Personen angemessen zu berücksichtigen, machen die Sprüche von 10,8 – 11 dagegen deutlich, dass selbst die alltäglichen Arbeiten nur mit Weisheit im Sinne praktischer Vernunft durchzuführen sind. Falls nicht, droht der Verlust des Lebensunterhalts oder sogar des Lebens selbst. In dieser Sequenz wird typisch weisheitliches Argumentieren erkennbar : Von einer Ordnungsparzelle soll auf die anderen geschlossen und so Weltgestaltung denkend nachvollzogen werden. Der ganze Abschnitt zielt so auf weisheitliche Klugheit,43 die sich in diesem Fall in politischem Handeln zu bewähren hat. Dass gerade an dieser Stelle geradezu „Binsenweisheiten“ zum 37 38 39 40 41 42 43

Ders., A. A.O., 494. Vgl. H. Frey-Anthes, Art. Schlange: www.wibilex.de. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 494. Vgl. H. Frey-Anthes, Art. Schlange. Ebd. Ebd. Vgl. C. Klein, Kohelet, 171.

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Zuge kommen, verdankt sich der Salomofiktion. Salomo steht mit seinem Namen gerade auch für diese Art von Weisheit. Die eher spekulativ-ethische Weisheit des späteren Sprüchebuchs läuft Gefahr, das zu vergessen. So zielt (mindestens) 10,5 – 11 nicht nur auf politische Eliten und ihre verfehlte Politik, sondern auch auf Kohelets weisheitliche Kollegen, die diesen Aspekt außer Acht lassen. 10,12 – 15 argumentieren wieder theoretischer, in dem Sinne, dass Weisheit und Torheit reflektiert werden. Vv. 12 – 14 heben dabei auf die Worte der Weisen und der Toren ab. 10,12 beginnt mit einem typischen Kunstspruch, der die Worte des Weisen mit den Lippen des Toren kontrastiert.44 Auch inhaltlich ist er gut weisheitlich (vgl. Prv 12,18). Vor allem der erste Teil macht deutlich, welche Wertschätzung mit der Wortkunst der Weisen verbunden wird. H. e¯n bezeichnet die äußere Erscheinung, die Wohlwollen hervorruft, aber mehr ist als die optische Schönheit: Charme, Liebreiz, Anmut.45 Im persönlichen Gegenüber bewirkt der Charme die Gunst (ebenfalls H. e¯n) des Anderen.46 Demgegenüber bewirkt das Gerede des Toren nicht nur Ungutes, sondern schadet ihm nur selbst. Die zweite Hälfte liegt auf der Linie von 4,5, vgl. auch Prv 14,1.3; 18,7.47 10,13 führt dies weiter, indem er in scharfen Worten die Rede des Toren als von Anfang bis Ende dumm und sinnlos geißelt. 10,14 weist auf den Hintergrund: Der Zusammenhang von vielen Worten und der Ungewissheit der Zukunft stammt aus 6,11 – 12. Noch einmal richtet sich Kohelet also gegen Worte, d. h. Theologien, die behaupten, eine Einsicht in die Weltläufe zu haben, die es nach Kohelets Reflexionen gar nicht geben kann. In Kap. 6 waren damit eschatologische (Neu-) Deutungen der Geschichte im Visier. Im Kontext der hier vorliegenden herrschaftskritischen Gesamtlinie könnten messianische Rezeptionen von Herrscherlegitimationen gemeint sein, wie sie etwa in der Tempelrolle, aber auch in Jes 9; 11 vorliegen.48 Stärker als in Kap. 6 unterliegen diese Versuche dem Verdikt der Torheit. 10,15 schließt den Gedankengang mit einem Spruch ab, der recht ätzend formuliert: Der Tor im Sinne der vorigen Verse ist so damit beschäftigt, seine

44 Vgl. C. Klein, Kohelet, 79. 45 Vgl. D.N. Freedman/J. Lundbom, ThWAT III (1982), 28. 46 Vgl. I. Willi-Plein, H. e¯n. Ein Übersetzungsproblem. Gedanken zu Sach 12,10: VT 23 (1973), 90 – 99. Insofern ist die Frage von L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 497; D. Dieckmann, Worte, 221, ob die Formulierung nun auf Charme oder Gunst zu beziehen sei, verfehlt. Das Konzept bezeichnet gleichzeitig beides. Die meisten Ausleger entscheiden sich für den Effekt („bringen Gunst“): N. Lohfink, NEB; M.V. Fox, Time, 307; T. Krüger, BK, 314. Ein Widerspruch zu 9,11 besteht durchaus nicht, insofern sich die dortige Negation auf einen bestimmten theoretischen Horizont von Weisheit bezieht. 47 Es ist völlig unnötig, anzunehmen, auch der Weise könne durch die Rede des Toren verschlungen werden, auch wenn dies grammatisch möglich ist, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 498, anders D. Dieckmann, Worte, 221. 48 Vgl. dazu R. Achenbach, König, 241 f.

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Torheiten zu bedenken, dass er sich auf dem Weg in die Stadt verläuft. Das Stichwort „Stadt“ kontrastiert diesen Toren mit dem Weisen aus 9,13 – 14. 10,16 – 20 sind als Abschluss des Buches konzipiert. Noch einmal – zum letzten Mal – nimmt Kohelet den König in den Blick und stellt die Chancen einer weisen Herrschaft den Gefahren einer unweisen Herrschaft gegenüber. Hier findet gewissermaßen eine Amtsübergabe statt: der Zuhörer soll als Mitverantwortlicher für öffentliche Ordnung die Zustände verwirklichen, die unter Salomo geherrscht haben. Der Abschnitt besteht aus zwei Teilen: 10,16 – 18 stellen die Alternative zwischen ge- und misslingender Herrschaft vor Augen und erläutern sie durch weitere Beispiele. 10,20 schließt mit einer Mahnung zur Verschwiegenheit. Der Weheruf 10,16 (hier B , sonst häufiger Boj: Jes 5,8ff; Am 5,18; Hab 2,6 ff.) entstammt der Totenklage. In der Prophetie wird er verwendet, um zu verdeutlichen, dass die Angeredeten bereits tot sind.49 Berücksichtigt man die Bedeutung des Todes für die Argumentation Kohelets, wird deutlich, dass er unter den geschilderten Umständen – wie die Propheten – im Grunde keine Chance auf Besserung mehr sieht. Zwar beklagt der Satz das Land, das eigentliche Ziel ist jedoch der König. Sein Handeln macht das Land tot, d. h. unbewohnbar. 10,16 ist außer 5,8 die einzige Stelle im Buch, wo Kohelet vom König spricht und nicht sich selbst meint. Der kritisierte König wird als „Jüngling“ bezeichnet (naCar). Es ist der Begriff für einen jungen Mann, der noch nicht selbständig ist und sich gewissermaßen in der Ausbildung befindet, auch und gerade im Umfeld des Königshofes (vgl. 1Sam 14; 2Sam 13).50 So macht schon seine Unerfahrenheit diesen König eigentlich zur Herrschaft ungeeignet, vgl. auch Jes 3,4; 66,4. In der Regel wird 10,5 auf Ptolemaios V. bezogen.51 Er ist indes mit fünf Jahren zur Herrschaft gelangt, zu jung für einen naCar. Die weitere Anklage, dass nämlich die Vornehmen (S´a¯r m, vgl. V. 7) sich nicht ihrem Amt entsprechend verhalten, hat seine nächsten Parallelen in Jes 5,11.22 – auch dies ein Weheruf.52 Während bei Jesaja das Gelage dem erforderlichen sozialen und politischen Engagement entgegengesetzt wird, formuliert Kohelet kürzer. „Essen am Morgen“ ist als Verdichtung Kohelet’scher Reflexionen gemeint und verweist auf richtiges Handeln zur richtigen Zeit. Es ist kaum die simple Mahlzeit gemeint, sondern „essen“ ist eine Verkürzung feierlicher – und daher anlassgebundener – Mahlzeiten. Selbst Momente der Lebensfreude haben damit ihre Zeit und sollten nicht einfach aus purer Lust am Leben erfolgen. 10,17 stellt dem Weheruf den Makarismus entgegen. Die direkte Aufeinanderfolge der beiden Spruchgattungen begegnet alttestamentlich nur hier. 49 Vgl. dazu M. Köhlmoos, Der Tod als Zeichen. Die Inszenierung des Todes in Amos 5: BN 107/108 (2001), 65 – 77. 50 Vgl. H. Fuhs, ThWAT V (1986), 510 – 518; A. Schoors, Preacher 2, 384. 51 N. Lohfink, Melek, 78; T. Krüger, BK, 331. 52 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 503.

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Der Makarismus53 findet sich sonst in den Psalmen (Vgl. Ps 1) und im Proverbienbuch (Vgl. Prv 3,13; 14,21; 16,20, 29,18). Die einleitende Formel Basˇre¯ (glücklich, selig) ist gleichermaßen ein Wunsch wie eine performative Aussage: Der Gepriesene ist glücklich und möge (weiterhin) so sein, meist ist die Bedingung des Glücks – wie hier – durch einen Relativsatz näher erläutert. „Glücklich“ überschneidet sich mit „gut“ und „gesegnet“ (vgl. Prv 16,20; Jer 17,7; Ps 128, 4). Es wird damit gleichermaßen ausgedrückt, dass das Wohl, das jemand zu schaffen im Stande ist, durch diese Anerkennung weiter wirkt, wie auch, dass Gott der eigentliche Urheber dieser Möglichkeit ist.54 Die Bedingungen des Wohls für das gepriesene Land werden in exakter Parallele zum Weheruf gestaltet. Der Gegenbegriff zum naCar ist der „Sohn der Edlen“ (bænh. r m). Da die Formulierung mit „Sohn von“ im Hebräischen das Exemplar einer Gattung bezeichnet, ist hier einfach ein Edler gemeint. H. r m erscheint im Alten Testament nur im Plural (Jer 27,20; 39,6; Neh 2,16; 4,8.13; 5,7; 6,17; 7,5; 13,17; Sir 10,25; 1Kön 21,8.11). Da es meist gemeinsam mit „Ältesten und Priestern“ steht, ist wahrscheinlich eine weitere Funktionselite gemeint. Auch ohne genaue Spezifizierung ist hier derjenige gemeint, der selbständig handeln kann und nicht mehr unter einer (Lehr-) Autorität steht.55 Seine „Vornehmen“ handeln zur rechten Zeit – was voraussetzt, dass der König von Weisen umgeben ist, die ihm gleichen, oder die er entsprechend angeleitet hat. In diesem Sinne findet sich ein Makarismus in der Salomoüberlieferung: 1Kön 10,4 – 8 im Munde der Königin von Saba: „Glücklich sind deine Männer, glücklich diese deine Knechte, die ständig vor dir stehen, die deine Weisheit hören!“ – Dies dürfte auch der Fluchtpunkt des Makarismus von 10,17 sein. Darüberhinaus ist auch hier der Verweis auf die rechte Zeit eine Verdichtung dessen, was mit der Seligpreisung thematisch verbunden wird: Die Befolgung der Tora, ohne dem Rat der Frevler zu folgen (Ps 1,1; Prv 29,18), Recht und Gerechtigkeit verwirklichen (Ps 106,3), Mitleid mit den Bedrückten haben (Prv 14,21) und Gottesfurcht (Ps 112,1; 128; Prv 28,14). Auffallenderweise ist der Makarismus eine Form, die bei der Komposition des Psalters von Bedeutung geworden ist. Er begegnet an prominenter Stelle in redaktionell wichtigen Texten (Ps 41,2; 89,16; 106,3) und in der programmatischen Psaltereröffnung Ps 1: „Das Wort ist ein liturgischer Zuruf, und die späte Verbindung mit dem Verb Ba¯ˇsar deutet auf einen Akt der Glücks-Suche der Gläubigen hin“.56 Dabei ist der Psalter in seiner späten Gestalt in Kohelets Umkreis vor allem als eine Art Kompendium alttestamentlicher Theologie konzipiert, der die Theologien von Tora und Propheten im Gebet bündelt.57 Kohelet macht also seine Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Theo53 54 55 56 57

Vgl. dazu J. Steinberg, Art. Seligpreisung: www.wibilex.de. Ebd. Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 384. Vgl. A. Cazelles, ThWAT I (1973), 482. Vgl. R.G. Kratz, Die Tora Davids, 309 f.

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logie gleichzeitig mit seiner Eigeninterpretation deutlich. Sie ist im Kontext seines Buches auf Handeln in öffentlicher Verantwortung zugespitzt. Die im Alten Testament singuläre Parallele eines Weherufs mit einem Makarismus formuliert eine Alternative: falsches Handeln führt (das Land!) in den Tod, richtige Handeln bewirkt Wohl für das Land. Die weitere Befolgung dieser Anweisung liegt nicht mehr in der Hand Kohelets, sondern muss von den nächsten Generationen verwirklicht werden. Mit dieser Alternative inszeniert sich Kohelet-Salomo in derselben Weise (und mit derselben Autorität) wie Mose in seiner programmatischen Abschiedsrede Dtn 30,15 – 20. Die beiden anschließenden Verse sind Nachträge, die ein wenig isoliert im Kontext stehen. 10,18 greift noch einmal den Gedanken der schädlichen Faulheit auf, vgl. 4,7 – 9. Es handelt sich hier um ein Doppelsprichwort58, das zwei Vorgänge aus dem Haushalt aufruft: Ein Haus bedarf ständiger Pflege und Ausbesserung, um nicht Schaden zu leiden. Die erste Hälfte hebt darauf ab, dass die hölzerne Dachkonstruktion eines Hauses stabil gehalten werden muss, damit das Dach nicht herunterfällt.59 Die „Trägheit“ (Ce¯s. æl) ist hier im Dual formuliert, entweder zur Steigerung oder als Hinweis auf die Hände (vgl. auch 5,7).60 Die zweite Hälfte mahnt zum regelmäßigen Ausbessern des Dachbelags (vgl. Prv 27,15; 19,13). Im Kontext von Worten im Zusammenhang von Politik und Herrschaft sind diese alltäglichen Weisungen gelegentlich als deplaciert empfunden worden.61 Aus diesem Grunde beziehen die meisten Exegeten es auf die politische Metapher des „Staates“ als Haus sowohl im alttestamentlichen als auch im hellenistischen Kontext.62 Das ist möglich, ähnlich wie im vorigen Abschnitt könnte jedoch die „Binsenweisheit“ dazu dienen, dass Weisheit eigentlich selbstverständlich sein müsste. In jedem Fall aber schwächt das Wort die Wirkung des wuchtigen Wehe-Wohl-Rufes ab und greift eine andere Bildsprache auf und dürfte daher nachgetragen sein, um 10,16 – 20 noch stärker mit 10,5 – 15 zu verbinden. V. 19 stammt nicht aus derselben Hand wie 10,18. Sowohl grammatisch-syntaktisch steht der Satz recht beziehungslos in seinem Kontext, greift aber zumindest das Stichwort „essen“ auf. Dadurch bleibt offen, ob der Satz nur das falsche Handeln von V. 16 kritisiert oder sich auch auf V. 17 bezieht.63 Außerdem ist unklar, ob der Vers unernste Gelage nach Art von Arist 187 – 294 kritisiert64 oder unangemessene Geldaufwendungen im Zusammenhang mit Festen und Feierlichkeiten. Falls V. 19a nicht politische Satire auf die verschwenderische Hofhaltung der Ptolemäer und 58 59 60 61 62

C. Klein, Kohelet, 90. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 504 f. Vgl. zur Form auch C. Klein, Kohelet, 92; A. Schoors, Preacher 1, 70 f.; Ders., A. a. O., 494. Vgl. C. Klein, Kohelet, 93; N. Lohfink, 78; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 505; T. Krüger, BK, 333. Zum philosophischen Hintergrund vgl. auch K. Lehmeier, Art. Haus/Haushalt: www.wibilex.de. 63 Vgl. T. Krüger, BK, 333. 64 Ders., A. a. O, 332.

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Koh 9,13 – 10,20

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Seleukiden ist,65 könnte es sich auf das außerordentlich undurchsichtige Finanzgebaren der Jerusalemer Führungsschichten im Zuge der Heliodor-Affäre und der Einsetzung des Menelaos zum Hohepriester handeln (vgl. 2Makk 3 – 4).

10,20 bietet eine letzte Mahnung. Zwei Aufforderungen werden mit zwei Begründungssätzen fortgeführt. Inhaltlich transportiert der Vers eine Mahnung zu Vorsicht und Verschwiegenheit. In 7,21.22 hatte Kohelet zur Umsicht im Umgang mit „Schmähungen“ geraten: Was eine justiziable Schmähung ist, unterliegt der Kompetenz eines Richters, jeder einzelne ist zur Schmähung fähig. Hier ist die Richtung der Schmähung umgekehrt, der Zuhörer ist selbst in der Rolle des Untergebenen, der die Schmähung ausspricht. Dies sollte im Blick auf den König nicht einmal in Gedanken66 geschehen. Das läuft in letzter Konsequenz darauf hinaus, dass der Zuhörer den König überhaupt nicht schmähen soll. Berücksichtigt man, dass „König“ bei Kohelet immer den Herrscher bezeichnet, der weise im Sinne Kohelets ist, gäbe es dafür auch keinen Anlass. So gesehen, ist es eine letzte Mahnung zu einer Weisheit, die das Handeln sehr überlegt gestaltet. Stärker ausgestaltet ist die Mahnung zur Verschwiegenheit im Hinblick auf den Reichen. Hier wird das Schmähen nicht komplett untersagt, sondern Kohelet mahnt zu absoluter Vorsicht. Selbst im scheinbar ungestörten Schlafzimmer gibt es immer noch Zuhörer im Sinne der modernen Redewendung „Wände haben Ohren“. Bei den beengten Wohnverhältnissen in der Antike ist dies eine recht alltägliche Mahnung, deswegen ist Verschwiegenheit eine weisheitliche Tugend. Die Zuspitzung auf den „Reichen“ – also einen, der in der Gestaltung des Gemeinwesens ein Wort mitzureden hat – scheint indes konkret auf eine Warnung vor Spionage und Denunziantentum hinauszulaufen. Ptolemaios V. wird in dieser Hinsicht besondere Aktivität unterstellt.67 Indes war das Spitzelwesen seit assyrischer Zeit ein Mittel der Großmachtspolitik, es handelt sich daher um eine durchaus zeitlose Mahnung. Die Begründung mit dem Bild der Vögel weist in eine weitere Richtung. Im Alten Orient gelten Vögel als Überbringer von Botschaften – sowohl öffentlicher wie geheimer.68 Die Mahnung klingt daher wie eine palästinische Adaption der Midas-Legende, in der die geheime Botschaft von Wind und Schilf fortgetragen wird. In ihr wird der unweise König lächerlich gemacht. Möglicherweise macht Kohelet hier von diesem Stoff Gebrauch.69 Es ist auf jeden Fall eine ernst gemeinte Warnung, die dazu mahnt, sich nicht um Kopf und Kragen zu reden: „Wenn Worte nicht anmutig sind, 65 Ders., A. a. O., 334 im Anschluss an R. Braun, Kohelet, 55. 66 Mada¯C ist trotz vielfacher Versuche, eine Parallele mit dem Schlafzimmer von V. 20b in diesem Sinne zu verstehen, vgl. ausführlich A. Schoors, Preacher 2, 392 f. 67 Vgl. N. Lohfink, NEB, 75; T. Krüger, BK, 333; L. Schwienhorst-Schönberger, 507. 68 Vgl. ausführlich O. Keel, Vögel als Boten. Studien zu Ps 68,12 – 14, Gen 8,6 – 12, Pred 10,20 und dem Aussenden von Botenvögeln in Ägypten. Mit einem Beitrag von Urs Winter zu Ps 56,1 und zur Ikonographie der Göttin mit der Taube, Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1977, (OBO 14), 93 – 102 69 Vgl. J. Scherf: Art. Midas: Der Neue Pauly (DNP) VIII (2000),154 f.

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Sprüche Kohelets

sondern einen Herrschenden verfluchen, kann man sich durch sie nicht nur selbst verwirren, sondern auch um Kopf und Kragen reden, so dass man zu jenen Dummen gehört, die zu viele Worte machen und durch ihre eigenen Lippen verschlungen werden70. Das ist ein passender Schluss für den zweiten Teil des Buches.

70 D. Dieckmann, Worte, 223 f.

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Koh 11,1 – 6

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Lebenskunst Koh 11,1 – 6 11,1 Wirf dein Brot aufs Wasser, denn nach langer Zeit wirst du es finden. 11,2 Gib dein Los an sieben oder acht, denn du erkennst nicht, was Schlechtes kommen wird auf der Erde. 11,3 Wenn die Wolken voll sind, gießen sie Regen1 auf die Erde. Und fällt ein Baum nach Süden oder nach Norden: wohin der Baum fällt, da ist er2. 11,4 Wer auf den Wind achtet, sät nicht. Und wer auf die Wolken schaut, erntet nicht. 11,5 Wie du nicht erkennst den Weg des Windes noch die Gebeine3 im Leib der Schwangeren, so erkennst du nicht das Werk Gottes, der alles gemacht hat. 11,6 Am Morgen säe deinen Samen, und bis zum Abend lass deine Hand nicht ruhen, denn du weißt nicht, was gedeihen wird, dieses oder jenes, oder ob beides gut gerät. 11,1 – 6 eröffnet den dritten und letzten Teil des Buches. Er besteht ausschließlich aus Anrede, Kohelets „Ich“ tritt nicht mehr in Erscheinung. In diesem dritten Teil werden Mahnung zur Lebensgestaltung ausgesprochen. Königtum und Herrschaft spielen keine Rolle. Vielmehr befassen sie sich mit weiser Lebensgestaltung angesichts der Ungewissheiten des Lebens. 11,1 – 6 sind eine geschlossene Einheit4. Die beiden Aufforderungen Vv. 1 – 2a; 6 mit der Begründung „du weißt nicht“ (V. 2b.6) bilden den äußeren Rahmen; Vv. 3 – 5 sind als Mittelteil gestaltet, der aus einer Beobachtung (V. 3) und zwei Schlussfolgerungen besteht (Vv. 4 – 5). V. 5b bildet mit seinem Hinweis auf das Werk Gottes den inhaltlichen Bezugspunkt. Durch Leitworte und Stichwortanschlüsse ist der kleine Text zu einer dichten Einheit ausgestaltet. Die Salomofiktion erscheint in diesem Textteil nicht mehr explizit. Viel1 Nach der masoretischen Versteilung: Wenn die Wolken voll Regen sind, gießen sie (ihn) auf die Erde 2 Mit der Mehrzahl der hebräischen Handschriften und den Versionen (vgl. BHQ) ist ein Imperfekt von ha¯wa¯B zu lesen, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 42 f. 3 Mit MT, vgl. BHQ. 4 Die Abgrenzung der einzelnen Teile innerhalb von Koh 11 – 12,8 ist umstritten. Tatsächlich sind die Einheiten thematisch und semantisch eng aufeinander bezogen. Gleichwohl ist die Beobachtung der Sprechakte auch hier hilfreich und leitend für die Untergliederung. Die hiesige Abgrenzung auch bei L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 508 – 526. N. Lohfink, Grenzen und Einbindung des Kohelet-Schlussgedichts, in: Ders., Studien, 167 – 180. H. Witzenrath, „Süß ist das Licht“. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung zu Koh 11,7 – 12,7, Stuttgart 1979 (ATSAT 11): 11,1 – 6; 11,7 – 12,8. So auch: M. V. Fox, Time; F.J. Backhaus, Zeit, 270 – 272. 297 – 317; A. Reinert, Salomofiktion, 762 – 74. Für eine Einheit des Schlussteils votieren A. A. Fischer, Skepsis, 149 – 182; T. Krüger, BK, 335 – 335 (mit den Teilsequenzen 11,1 – 6; 11,7 – 12,7).

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mehr sind die Aussagen und Reflexionen an die vorigen Teile des Koheletbuches angebunden. Mindestens in Vv.3 und 4 liegt Traditionsgut vor.5 11,1 – 2 bilden die erste Sequenz des Abschnitts. In ihm werden zwei Aufforderungen hintereinander gestellt, die jeweils mit einem „Denn“-Satz fortgesetzt werden.6 V.2b fungiert dabei als Begründung für beide Aufforderungen. Dies wird angezeigt durch die Parallele „auf das Wasser“ – „auf der Erde“. Inhaltlich formulieren die beiden Aufforderungen ein Paradox: Das, was man loslässt (V. 1) bzw. verringert (V. 2), wird sich auszahlen. 11,1 bildet für die Auslegung bis heute ein Rätsel. Umstritten ist, ob man das Wort konkret verstehen soll, zumindest in Teilen einen übertragenen Sinn annehmen muss (in dem Sinne dass „Brot“ für Lebensunterhalt oder Vermögen steht), oder ob es sich um eine vollständig metaphorische Aussage handelt. In jedem Fall handelt es sich um einen Satz, der interpretierender Arbeit bedarf. Er ist darum nicht eine reine Anweisung, sondern hat ein didaktisches Ziel. Konkret verstanden, widerspricht die Anweisung nicht nur der Weisheit, sondern der Physik: Aufs Wasser geworfenes Brot geht irgendwann unter. Es mag sich für einige Zeit voll saugen und daher (scheinbar) größer werden, ist dann aber ungenießbar und irgendwann verschwunden. Gleichwohl formuliert der Vers Mut zum Risiko. Die traditionelle Lesart – schon durch das Targum und Hieronymus vertreten – liest hier eine Aufforderung zur Großzügigkeit. Eine ähnliche Formulierung mit dieser Zielrichtung findet sich in der ägyptischen Lehre des Anch-Scheschonqi,7 also in mit Kohelet zeitgleicher ägyptischer Weisheit, ähnliche Paradoxien weist auch das gleichzeitige „Demotische Weisheitsbuch“ auf.8 Im Unterschied zu diesen paradoxen Formulierungen sind die Aufforderungen zu Großzügigkeit zu Barmherzigkeit und Großzügigkeit in der Tora (Vgl. Dtn 15,7; 24,19) und in der Weisheit (vgl. Prv 28,27) mit der Erwartung des eigenen Wohlergehens verbunden. Es handelt sich dabei kaum um fromme Berechnung, sondern um die praktische Umsetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs: Gutes wirkt Gutes.9 Bei Sirach werden gebotskonforme und weise Barmherzigkeit identifiziert (vgl. Sir 29,8 – 11).10 Mit seiner geradezu absurden Anweisung macht Kohelet demgegenüber deutlich, dass kein Verhalten Einfluss auf Leben und Tod hat. Damit liegt die Anweisung auf der Linie seiner bisherigen Instruktionen (vgl. 8,9 – 15).11 Wahrscheinlich geht 5 6 7 8 9

Vgl. C. Klein, Kohelet, 93. Vgl. F. J. Backhaus, Zeit, 270. Vgl. T. Krüger, BK, 340. Vgl. C. Uehlinger, Qohelet, 226 – 228. Es handelt sich um die soziale Dimension des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, die sog. „konnektive Gerechtigkeit“, vgl. dazu B. Janowski, Tat, 265 f. 10 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 511 f.; T. Krüger, BK, 341. Krüger verweist außerdem auf Tob 2,15 – 18; 4,11; 12,9, wonach Almosengeben zum ewigen Leben führt. Diese Texte dürften später sein als das Koheletbuch. 11 Die ebenfalls vertretene Interpretation, nach der 11,1 zu geschicktem Umgang mit dem eigenen

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Kohelet aber darüber noch hinaus: In dem völlig sinnlosen Wagnis, das Lebensnotwendige geradezu zu verschwenden, wird auch ein Vertrauen darauf erkennbar, dass bei aller Undurchschaubarkeit und aller Todesgewissheit doch auch eine positive Kontingenz möglich ist.12 9,2 leitet dazu an, den eigenen H. e¯læq, „Anteil“, sieben oder acht anderen zu geben. Die Begründung macht die Anweisung fast so absurd wie den vorigen Ratschlag: Inwiefern sollte die Aufteilung des Eigenen eine Vorsorge für schlechte Zeiten sein? Wenn H. e¯læq hier konkret das eigene Erbteil bezeichnet, das – entgegen üblicher Erbrechtsregelung – möglichst breit verteilt werden soll, dann ist die Vermeidung von Familienkonflikten im Horizont der Aussage. Die Begrifflichkeit von V. 2 hat bei Kohelet signifikant andere Bedeutungsnuancen. H. e¯læq verweist in 2,10.21; 3,22; 5,17 f.; 9,7 – 9 auf das „Los“ der Freude, das dem Weisen aufgrund seiner Weisheit zufällt. Na¯tan, „Geben“, bezeichnet entweder die Gaben Gottes (1,13; 2,26; 3,10.11; 5,17.18; 6,2; 8,15; 9,9) oder die Lebensaufgabe (1,13.17; 7,21; 8,9.16) – die miteinander korreliert sind. Gerade mit Blick auf die Ungewissheit der schlechten Zeiten empfiehlt Kohelet somit die Weitergabe des „Freuden“-Loses an andere. Hier führt er den Gedanken von 4,9 – 12 zu Ende: „Das Wagnis des Vertrauens, welches das eigene Leben und das anderer umgreift, ist Lebensgestaltung angesichts von … Unabänderlichkeit und Undurchschaubarkeit.“13 Dabei sind die „Sieben oder Acht“ noch eine Steigerung der „Zwei und Drei“ von 4,9 – 12. Der positive, persönliche Gewinn weiser Lebensgestaltung kann Vielen zu Gute kommen, auch ohne dass es eine Motivation durch Segen Gottes oder Erfüllung der Tora geben muss. 11,3 – 5 führen einen neuen Gedankengang ein. Im Anschluss an die Ungewissheit über das Kommende (V. 2.3a schließen mit „auf der Erde“)14 wendet sich Kohelet wieder den fallenden Zeiten zu. Die Verse sind durch die Stichwortkette „Wolken“, „Wind“, Erkennen“ miteinander verknüpft.15 Die Argumentation der Verse läuft darauf hinaus, das Handeln nicht durch Berechnung bzw. Beachtung von Zeiten bestimmen zu wollen. D.h., dieser Abschnitt bildet das Korrelat zu 3,1 – 15; 7,13 – 14 und macht deutlich, dass ein Planen nicht sinnvoll sein kann. 11,3 formuliert zwei Aussagen, die traditioneller Herkunft sein könnten,

12 13 14 15

Vermögen auffordert und eine Ermutigung zur Beteiligung am Seehandel beinhaltet (vgl. T. Krüger, BK, 340; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 510; A. A. Fischer, Skepsis, 165 – 167), scheint dagegen weniger wahrscheinlich. Obwohl Kohelet damit rechnet, dass seine Hörer vermögend sind, liegt der Umgang mit ihrem Reichtum kaum auf seiner Linie. Vgl. auch H. Spieckermann, Suchen, 110 f. Vgl. dazu H. Spieckermann, Suchen, 110. N. Lohfink, NEB, 79; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 513 vermuten demgegenüber ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Eigeninteresse bei der Mahnung zur Wohltätigkeit. H. Spieckermann, Suchen, 112. Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 509. Ebd.

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jedoch wohl von Kohelet miteinander verbunden sind. Beide sind für sich suffizient und auch ohne Kontext verständlich: In der Natur gilt, dass die Dinge kommen, wie sie kommen. Damit steht vor allem V. 3a in Kontrast zu V. 1. Während der erste Vers die Naturgesetze auf den Kopf stellt, konstatiert 3a ihre Gültigkeit. Es handelt sich bei V. 3a um eine simple physikalische Beobachtung, die verrät, dass der Wasserkreislauf in Israel bekannt war. Anders als Hi 36,26 – 29 ist aber der Wasserkreislauf und die Phänomene der Wolken und des Regens in keiner Weise theologisch aufgefangen. Weder ist Gott an sich der Herr des Regens (vgl. Hi 36), noch drücken sich in Wolken und Regen Theophaniemotive, Fruchtbarkeit als Segen oder Wasserfluten als Zeichen des göttlichen Zorns aus.16 Gæsˇæm bezeichnet eigentlich den Sturzregen, der für den Ernteertrag, Leib und Leben gefährlich sein kann (Ez 13,11.13.13; Gen 7,12; 8,2), wird aber überwiegend für jede Art von Regen verwendet (Jes 44,14; Jer 14,4; 1Kön 17,7.14) verwendet.17 Die auffallend nüchterne Beschreibung des Regens könnte erneut (vgl. 7,10) auf eine Kenntnis der Phainomena des Aratos hinweisen.18 V. 4b formuliert inhaltlich genauso lapidar „wo der Baum hinfällt, da bleibt er liegen“. Gemeint ist vermutlich der von sich aus fallende Baum, keiner, der von Menschenhand gefällt wird. Wie in V. 1 ist aber auch hier die Begrifflichkeit auffallend. „Süden“ und „Norden“ werden wie in 1,6 mit den mythischen Begriffen der Himmelsrichtungen bezeichnet, der „Ort“ verwendet das bei Kohelet hochsignifikante ma¯q m (1,5.7.16.20; 6,6; 8,10).19 Es ist daher gut möglich, dass hier auf Orakelpraktiken angespielt wird, nach dem das Fallen eines „Holzes“ (Ce¯s. bedeutet sowohl „Baum“ als auch „Holz“) zur Vorhersage verwendet werden kann. Das erlaubt dann auch einen Rückschluss auf 3a: „Aus den Wolken kann man nicht mehr ersehen, als, ob es Regen geben wird, und aus dem Fallen eines Baumes oder Holzes ist für die Zukunft schlicht gar nichts zu entnehmen.“20 10,4 zieht daraus fast schon polemisch den Schluss, dass, wer sich um die Zeichen bemüht, zu keiner Arbeit kommt – und somit auch zu keinem Ergebnis. Der Vers ist streng parallel formuliert, die Abfolge von Partizip und verneintem Imperfekt drückt einen generellen Sachverhalt aus.21 Form und Inhalt entsprechen somit durchaus traditioneller Spruchdichtung, die Kontextverknüpfung macht aber eine Herkunft von Kohelet selbst wahrscheinlich. In 3,1 – 8 hatte Kohelet hinreichend deutlich gemacht, dass es für jede Tätigkeit einschließlich der Landwirtschaft den geeigneten Zeitpunkt gibt, den man wissen oder verpassen kann. Die zusätzliche Beobachtung von Zeichen liefert hier keinen sichereren Erfolg als die schlichte Berufskompetenz. Vielmehr Vgl. dazu S.Grätz, Art. Wetterphänomene: www.wibilex.de. H.-J. Zobel, ThWAT IV (1984), 828. Vgl. T. Krüger, BK, 343. Dass die Himmelsrichtungen und der Ort auch noch mit derselben Terminologie in 1,3 – 11 erscheinen, spricht nicht für Herkunft aus derselben Hand. 20 T. Krüger, BK, 342. 21 F.J. Backhaus, Zeit, 271. 16 17 18 19

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„spürt man die für Kohelet fundmentale Überzeugung, dass der Mensch handeln muss, obwohl er das göttliche Walten insgesamt nicht erkennen kann.“22 10,5 thematisiert in der Form der Anrede die Grenzen der Erkenntnis. Da der Zuhörer hier direkt angesprochen wird, werden die allgemeinen Fälle auf den Zuhörer appliziert. Auch hierbei ist die Zielrichtung didaktisch: So unwissend ein anderer im Hinblick auf Zeichen und Zeiten sein mag, so unwissend ist der angesprochene Weise im Hinblick auf weitere Erkenntnismöglichkeiten. Dabei geht es in V. 5a zunächst um weitere natürliche Phänomene: den Weg des Windes (vgl. auch 1,6; 8,8) und die Entstehung des Menschen. Beides hängt von der Eingangsformulierung „so wie du nicht erkennst…“ ab.23 Die Unberechenbarkeit des Windes ist bereits in ähnlichem Zusammenhang verhandelt worden. Erkannt werden kann außerdem nicht, was während der Schwangerschaft geschieht. Die Formulierung lautet wörtlich: „Wie du nicht weißt … die Gebeine im Leib der Schwangeren“. Cæs. æm, Knochen, (hier im Plural) wird in der Regel mit einem weiteren Organ parallel gesetzt und bezeichnet dann den ganzen Menschen (Prv 3,7 f.: „Fleisch“; 15,30 „Herz“).24 Hier steht es allein. Anscheinend ist vorausgesetzt, dass der Embryo im Leib in Stufen von innen nach außen wächst (vgl. auch Ps 139,13 – 16; Hi 10,8 – 11). Tatsächlich gelten diese Vorgänge als besonderes Geheimnis und werden daher mit der Angewiesenheit auf Gott verbunden, der allein den ganzen Vorgang kennt. Die Schwangere (hammele¯Ba¯h) klingt an die Wolken von V. 3 an (wörtlich „Die Volle“), dies hat aber wohl nur stilistische Gründe.25 Geht es in Vv. 3 – 4 um Unvorhersagbarkeit der Dinge, so hier um ihre Undurchschaubarkeit. Konsequenterweise ist das Werk Gottes das Ziel des Vergleichs. In Variation von 3,11; 17,13 bestimmt Kohelet die Grenzen der Erkenntnis im Werk Gottes, der alles geschaffen hat. Wie schon früher gilt: Ein Sinn und Plan ist nicht erkennbar. 10,6 greift das „Säen“ und das „Wissen“ auf und schließt den Abschnitt mit einer begründeten Aufforderung: Aus beiden Aspekten der Ungewissheit folgt nicht, dass man untätig bleiben soll. Die Bestimmungen „am Morgen“ – „am Abend“ bilden den gesamten Vorgang der Saat ab: Am Morgen wird die Saat ausgebracht, und für den restlichen Tag wird sie (mit dem Saatpflug) untergepflügt, so dass ein Bauer mit diesem Teil der Landwirtschaft (mindestens) einen Tag lang beschäftigt ist.26 Gleichwohl – selbst unter Beachtung der 22 A. A. Fischer, Skepsis, 168. 23 Die Übersetzung mit den Versionen „Wie du nicht kennst den Weg des Atems in die Gebeine im Leib der Schwangeren…“, (A. A. Fischer, Skepsis, 149; J. A. Loader, Polar Structures, 68), ist nicht nötig, vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 508. 24 Vgl. K.-M. Beyse, ThWAT VI (1986), 326 – 332. 25 L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 514, will einen mythischen Zusammenhang zwischen Regen und Fruchtbarkeit erkennen. Dann müsste aber die „Fülle“ der Schwangeren irgendwie im Zentrum der Aussage stehen und nicht das Wachstum des Kindes in ihr. 26 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 169.

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rechten Zeit und des erforderlichen Arbeitsaufwands – ist der Erfolg nicht sicher. Die Selbstverständlichkeit des Bildes unterstreicht hier die Motivation: Kein Bauer ist sich seines Ertrags sicher, gleichwohl wird er sein Werk tun – in der Hoffnung oder dem Vertrauen, dass es gelingt. So entspricht letztlich auch der alltägliche Vorgang des Säens der Risikobereitschaft oder dem Vertrauen der scheinbar so absurden Handlungen von Vv. 1 – 2.

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Koh 11,7 – 8

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Süß ist das Licht Koh 11,7 – 8 11,7 Süß ist das Licht, und gut ist es für die Augen, die Sonne zu sehen. 11,8 Denn wenn der Mensch viele Jahre lebt, freut er sich an ihnen allen und gedenkt der Tage der Finsternis, denn sie sind zahlreich. Alles, was kommt, ist flüchtig! 11,7 – 8 schließen sich an den vorigen Abschnitt an, indem sie ihn mit einer Reflexion über den Wert des Lebens fortsetzen. Er ist nicht als Anrede formuliert, sondern als allgemeine anthropologische Einsicht. 11,7 – 8 bilden eine eigene kleine Teileinheit. Sie ist zwar durch das Stichwort „Gut“ mit dem vorigen Abschnitt verbunden und auch mit einem „und“ direkt mit V. 6 verknüpft, doch formal und thematisch liegt ein eigener Gedankengang vor. Ausgehend von einem Sprichwort reflektiert Kohelet Leben und Lebensfreude im Horizont der Flüchtigkeit. „Licht“ und „Finsternis“ bilden den äußeren Rahmen, in dessen Innern „viele Jahre“ und „zahlreiche Tage“ einander zugeordnet sind.1 Auch in diesem Abschnitt ist – wie im vorigen – die Salomofiktion nicht explizit vorhanden. Indes greift auch er auf wichtige Aussagen zurück, die bisher gemacht wurden. Der Bezugstext für 11,7 – 8 ist vor allem 2,12 – 16.2 Unter Rückgriff auf die Stichworte „Licht“ und „Finsternis“ und die damit verbundene Erkenntnis des Todesgeschicks kommt Kohelet zu seiner abschließenden Wertung eines Lebens in Weisheit. 11,7 greift ein Sprichwort auf. Es ist kontextunabhängig und formal überaus kunstvoll gestaltet: „Für die Augen“ bildet eine übergreifende Sinneinheit, die schon in die erste Aussage passt, aber erst in der zweiten verwendet wird (Enjambement). Der Klang hat viermal ein „o“ in der betonten Silbe (ma¯t q ha¯B r wet. b laCe¯najim lirB t hasˇˇsæmæsˇ)3, die Betonung führt zu einer besonderen Hervorhebung der Begriffe „Süß“(ma¯t q), „Licht“ (ha¯B r), „Gut“ (t. b) und „Sehen“ (ra¯Bah). Die beiden letzteren sind Schlüsselworte Kohelets, auch das Licht spielte schon eine wichtige Rolle. Kohelet hat demnach wahrscheinlich eine umlaufende Sentenz aufgegriffen. Für sich betrachtet, ist sie für Kohelet ungewöhnlich. Dass das Licht „süß“ sei und die Metapher „die Sonne sehen“ für das Leben kommen bei ihm sonst nicht vor. Die Verbindung mit Kohelets Reflexionen ergibt sich eher auf dem Weg des lesenden und 1 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 517 f. Das einleitende „Und“ in V. 7 muss nicht als Indiz für eine organische Verbindung mit dem vorigen Abschnitt aufgefasst werden (so aber A. A. Fischer, Skepsis, 155 f.), vgl. A. Schoors, Preacher 1, 206; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 516; F.J. Backhaus, Zeit, 298; C. Klein, Kohelet, 150. 2 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 517 f.; etwas anders: T. Krüger, BK, 345. 3 Vgl. C. Klein, Kohelet, 82.

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Süß ist das Licht

hörenden Mitvollzugs. „Licht“ (B r) erscheint nur noch 2,13, dort ebenfalls im Kontext einer weisheitlichen Sentenz. Dort wurde der Vorzug des Lichts vor der Finsternis mit dem Vorzug der Weisheit verknüpft und auf den Vorrang des Weisen vor dem Toren zugespitzt. D.h. die Schönheit des Lichts und die Güte des Lebens werden von Kohelet vor dem Hintergrund des Todesgeschicks aufgegriffen. Nur wer weiß, was das Todesgeschick bedeutet, kann das Licht als „süß“ empfinden und die Sonne sehen, d. h. im Vollsinne leben (das Gegenbild in 4,3; 6,4 – 5). In „süß“ klingen alle die Dinge an, die Kohelet sonst unter dem Stichwort „gut“ verhandeln kann: Feste (vgl. Jes 24,8), Schlaf (vgl. Jer 31,26 und Koh 5,11), Getränk (vgl. Am 9,13), die Stimme der Geliebten (vgl. Hld 2,14), gutes Essen (vgl. Prv 9,17; 16,24) und die Liebesfreude überhaupt (Hld 2,3; 5,16).4 In Verbindung mit 2,13 ergibt sich für Kohelet auch eine „Süße“ der Weisheit. Diese Linie wird weiter ausgezogen, wenn in 7b die „Augen“ angesprochen werden. Im Horizont von 2,13 ergibt sich: der Weise lebt ein gutes Leben, weil und nachdem er erkannt hat, dass er dasselbe Geschick teilt wie der Tor.5 7,8 wendet die Sentenz in eine allgemeine anthropologische Aussage6. Dabei ist die erste Hälfte selbstverständlich: Wer lange lebt, erlebt dies als Freude. Die zweite Hälfte drückt dieser Aussage den Stempel Kohelets auf: Freude im Leben kann nur in dem Bewusstsein seiner dunklen Seite empfunden werden. Der Tod selbst ist wohl noch nicht im Blick, wohl aber, die (zahlreichen!) schlechten Tage (7,14), Tage, an denen nichts gelingt (vgl. 5,19). Sie sind in einem langen Leben zahlreich, wiegen aber an Qualität ein gut gelebtes Leben nicht auf. Im Gegenteil: Ein Leben ist dann weise gelebt, wenn es gerade diese Dialektik bedenkt.7 Die kleine Einheit schließt ungewöhnlich und überraschend. Zum einzigen Mal im Buch Kohelet bezieht sich das Hæbæl-Urteil auf das, „was kommt“, also auf die Zukunft. Der Tod kann nicht gemeint sein, denn dieser ist in Kohelets Sicht ewig. Flüchtig ist in Kohelets Darstellung das Leben selbst, die Erkenntnisbemühungen, Reichtum und Erfolg. Das Wissen um die Flüchtigkeit lässt sich jedoch ertragen, wenn man das Gute als das erkennt, was es ist und dementsprechend genießt. Was kommt, ist der Nachfolger bzw. der Zuhörer, der seinen Weg zu weisem Leben und weiser Herrschaft noch finden muss. Auch Kohelets Ermahnungen werden ihm die Erfahrung der Flüchtigkeit (und die damit verbundene Frustration) nicht ersparen. Auch sein Erfolg wird flüchtig sein. Kohelet kann nicht einmal wissen, ob seine Mahnung Erfolg 4 Vgl. B. Kedar-Kopfstein, ThWAT V (1986), 112 – 117. 5 Es handelt sich daher bei 11,7 durchaus nicht um einen isolierten „Gedankensplitter“, so C. Klein, Kohelet, 82. 6 Es handelt sich bei keinem der beiden Verben um einen Jussiv, wie z. B. L. SchwienhorstSchönberger, 516; A. A. Fischer, Skepsis, 156 f. F.J. Backhaus, Zeit, 297; A. Schoors, Preacher 2, 321. vorschlagen. Eine Anweisung an „den Menschen“ ist nicht Teil der Strategie Kohelets, vgl. T. Krüger, BK, 345 f. 7 Vgl. S. Fischer, Aufforderung, 111.

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Koh 11,7 – 8

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haben wird (vgl. 2,18 f.26; 6,2). Sowohl die Fügung in die Flüchtigkeit als auch die Weitergabe ihrer Erkenntnis sind Kohelets letztes Wort.

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Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto)

Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto) Koh 11,9 – 12,8 11,9 Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und dein Herz lasse es dir gut gehen1 in den Tagen deines Jünglingsalters Geh die Wege deines Herzens und dessen, was deine Augen sehen2 ! Und erkenne, dass wegen aller dieser Gott dich ins Gericht bringen wird. 11,10 Wende dein Herz ab von Verdruss und halte Schlechtes fern von deinem Fleisch! Denn Jugend und schwarzes Haar sind flüchtig. 12,1 Und gedenke deines Schöpfers/deiner Grube3 in den Tagen deines Jünglingsalters, bevor die schlechten Tage kommen und Jahre sich nahen, von denen du sagst: „Ich habe kein Gefallen an ihnen!“ 12,2 Bevor sich die Sonne verfinstert und das Licht und der Mond und die Sterne und die Wolken wiederkehren nach dem Regen. 12,3 Der Tag, an dem die Wächter des Hauses zittern und die starken Männer sich krümmen und die Müllerinnen ruhen, weil sie nur noch wenige sind und dunkel werden, die aus den Fenstern schauen, 12,4 und die Türen zur Straße geschlossen werden, während das Geräusch der Mühle leise wird. Man erhebt sich zum Gesang der Vögel, und es verklingen alle Lieder. 12,5 (Auch vor der Anhöhe fürchtet man sich, und Schrecknisse sind auf dem Weg.)4 Der Mandelbaum blüht, und die Heuschrecke wird schwer, und die Kaper bricht auf. Ja – der Mensch geht in sein ewiges Haus, und auf der Straße zieht der Trauerzug.

1 Mit MT als Hif (vgl. BHQ), wenn auch in ungewöhnlicher Form, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 96. 2 Ein Teil der Texttradition liest diese Aussage negiert. 3 Partizip Plural mit Suffix 2. Singular von ba¯raB, „schaffen“. Die Form ist singulär im Alten Testament, regulär wäre „der dich geschaffen hat“; der Singular wird auch von den Versionen bezeugt (vgl. BHQ) und wäre auch nur eine Schreibvariante. Wahrscheinlich ist der Plural aus Gründen des Reims und des Wortspiels gewählt (B rBæka¯ statt boraBka¯), ein Intensivplural könnte vorliegen (vgl. A. Schoors, Preacher 1, 73 f.) 4 Der Satz ist im Kontext schwer deutbar. Während die erste Hälfte unproblematisch ist, ist die zweite schwieriger. H. ateh. att m ist abgeleitet von h. a¯tat, das in Poesie und Prophetie das Erschrecken, überwiegend in eschatologischen Kontexten bezeichnet (Vgl. T. Krüger, BK, 355). Das verbindet 5a mit den Endzeitbildern von V. 2, hat aber wohl keine selbständige Dimension in dieser Richtung. Im Kontext der vorigen Aussage weist der Satz auf die Gefahren der Nacht, aber auch dies unterbricht den Zusammenhang. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Glosse, vgl. A. A. Fischer, 151.

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Koh 11,9 – 12,8

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12,6 Bevor die silberne Schnur zerreißt5, und die goldene Schale zerbricht6 und der Krug an der Quelle zerspringt und das Schöpfrad zerbricht7 in den Brunnen. 12,7 Und der Staub zurückkehrt8 zur Erde, wie er gewesen ist Und der Geist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat. 12,8 „Überaus flüchtig“, sprach Kohelet, „überaus flüchtig, alles ist überaus flüchtig“ 11,9 – 12,8 ist eine poetisch gestaltete Mahnung zur Lebensgestaltung im Angesicht von Alter und Tod. Nur an dieser Stelle wird der buchinterne Zuhörer direkt – als junger Mann – angesprochen und dazu aufgerufen, seine Jugend zu genießen. Das Gedicht schließt das Buch ab. 11,9 – 12,7 bilden eine geschlossene Einheit, die durchgängig als Anrede gestaltet ist. Sie gliedert sich in zwei unterschiedlich lange Teile: 11,9 – 10 („Freue dich, Jüngling in deiner Jugend“); 12,1 – 7 („Gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugend“). Beide entfalten denselben Gedanken. 12.8 bildet mit dem Buchmotto den Abschluss. Das (variierte) Hæbæl-Urteil bildet den äußeren Rahmen der Gesamteinheit. Die beiden Teile sind formal und inhaltlich unterschiedlich gestaltet. Das Schlussgedicht greift Gedanken und Mahnungen Kohelets auf, wendet sie jedoch in eigenständiger Form an. Die Mahnung an den Jüngling stammt nicht mehr von Kohelet, sondern vom Bearbeiter Z. Sie bildet das Gegengewicht zum Prolog von 1,2 – 11. Dabei formuliert der erste Teil eine Mahnung zur weisen Lebensgestaltung im Anschluss an die Reflexionen Kohelets. Sie dürfte von Z selbst verfasst sein. 12,1 – 7 besteht aus einer eigenwilligen Gestaltung von Traditions- und eigenem Gut.9 11,9 – 10 bilden die erste Einheit. Sie besteht aus einer Kette von Imperativen, die mit einem variierten Hæbæl-Urteil abgeschlossen werden. „Jugend“ und „Herz“ sind die Leitworte der kleinen Komposition. 11,9b sind eine weitere Einschreibung in den Zusammenhang. Sprachlich und sachlich entspricht der Text nicht dem, was für Kohelet typisch ist. Das zeigt sich vor allem an der Rolle des Herzens. Die Freude des Herzens wird 2,10 mit ´sa¯mah. (froh sein) ausgedrückt, hier mit ja¯t.ab (gut sein), wobei das Herz sogar eine aktive Rolle spielt. Das „Herz“ ist hier stärker emotional konnotiert als in den vorigen Texten des Buches, die „Wege des Herzens“ erscheinen nur hier. „Verdruss“ (Ka¯Cas) wird bei Kohelet nicht mit 5 Mit den Versionen jinna¯te¯q statt jira¯he¯q, vgl. BHQ und zur Diskussion A. Schoors, Preacher 1, 39 f. 6 Ta¯ras. Nif. statt Qal, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 95. 7 Eine Änderung des Perfekt in ein Imperfekt ist nicht nötig, vgl. N. Lohfink, Freu dich, 198 f. 8 Es handelt sich nicht um einen Jussiv, sondern die Vokalisierung ist gewählt, um eine Assonanz mit dem vorigen Verb herzustellen, vgl. ausführlich A. Schoors, Preacher 1, 28 und L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 524. Anders T. Krüger, BK, 339. 9 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 178 f.; N. Lohfink, Freu dich, 208 f.

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Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto)

dem „Herzen“ verbunden und erscheint nur hier und 5,16 als Verb. Das Zurückhalten des Herzens wird in 2,10 mit ma¯naC konstruiert, hier mit s r. Darüber hinaus steht „das, was die Augen sehen“ hier im Plural, 6,9 dagegen im Singular.10 Inhaltlich fällt der Stellenwert der Jugend auf. Die Betonung der Flüchtigkeit der Jugend gibt dem Hæbæl-Urteil noch einmal einen neuen Akzent. Nicht nur das Leben an sich ist flüchtig, sondern darin gibt es noch einmal eine besonders flüchtige Zeit. Darin klingt das Thema der vergehenden Generationen von 1,3 an, das hier offenbar in sozial-anthropologischer Perspektive angesprochen wird. Die privilegierte Rolle der Jugend bzw. des jungen Mannes in diesem Abschnitt spricht sehr dafür, in diesem Text eine Selbstreflexion des Verfasser Z zu sehen. Hier thematisiert sich die Zweite Generation nach Kohelet in dem, was Kohelet zu ihr spricht. Es wird also eine konkrete Amtsübergabe inszeniert, damit gleichzeitig aber auch die Akzentverschiebung dieser Texte gegenüber dem vorigen Buch durch „Kohelet“ selbst autorisiert. Der Text lässt sich mit der Salomotradition korrelieren. In seiner Bitte um Weisheit 1Kön 3 thematisiert Salomo seine Jugendlichkeit und demzufolge seine mangelnde Vorbereitung auf das Königsamt (1Kön 3,7). An diese Vorgabe knüpft Koh 11,9 – 12,7 an und lässt jetzt den „alten“ KoheletSalomo seine – von Gott verliehene – Weisheit an den jungen Mann weitergeben. 11,9 besteht aus zwei Aufforderungen: Der Freude in und an11 der Jugend (9a) und einer Aufforderung zu rechtem Handeln (9b). Die erste ist streng parallel gestaltet, bei der zweiten regiert der Imperativ „Geh“ beide Näherbestimmungen (apo-koinou-Konstruktion). Alliterationen und Assonanzen lassen diese Aufforderung sehr dicht erscheinen. In 9a liegt der besondere Schwerpunkt auf dem „Jüngling“ und seiner „Jugend“. Obwohl das Biblische Hebräisch eine ganze Reihe von Termini für „Jugend“ verwendet, ist nicht ganz klar, welches Alter damit gemeint ist und was die Jugend vom Erwachsenenalter unterscheidet.12 Überblickt man die Belege, ist mit „Jugend“ das Alter gemeint, in dem die ethische Verantwortlichkeit noch herangebildet und die Erziehung abgeschlossen wird – je nach Kontext beginnt die vollgültige Erwachsenenzeit dann (für junge Männer) zwischen zwanzig und dreißig Jahren.13 Mit der Jugend setzt die ethische Verantwortlichkeit ein, wie vor allem Gen 8,21 feststellt: „Die Pläne des menschlichen Herzens (!) sind böse von Jugend an“; gleichzeitig aber machen Hi 13,26; Ps 25,7 geltend, dass Gott Verfehlungen der Jugend nicht anrechnen möge.14 Von einer besonderen Verlockung der Jugend durch Spiel, Sport und Vergnügen ist

10 11 12 13 14

Möglicherweise handelt es sich um einen Schreibfehler, vgl. A. Schoors, Preacher 1, 24. Die Präposition be ist in beide Richtungen offen. Vgl. ausführlich: A. Kunz-Lübcke, Art. Jugend: www.wibilex.de. Ebd. Ebd. Zu diesem Gedanken gibt es ägyptische Parallelen.

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Koh 11,9 – 12,8

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zwar in ägyptischen und griechischen Texten die Rede, nicht jedoch im Alten Testament.15 Die Wurzel ba¯h. ar wird an betonter Stelle des ersten Stichos (ba¯h. r, „Jüngling“) und des zweiten (ba¯h. ræka) verwendet. Der Begriff ist ungewöhnlich. Im Kontext der weisheitlichen Ermahnung würde man eine Anrede an den „Sohn“ erwarten, bei Kohelet kommt sonst für den zu Erziehenden entweder naCar (10,16) oder jælæd (4,13) vor. Ba¯h. r hängt mit ba¯h. ar, „erwählen“ zusammen und kennzeichnet vor allem im Zusammenhang mit dem Königtum oder dem Priesteramt den sorgfältig ausgewählten und von vornherein geeigneten jungen Mann.16 Zwar kann es schlicht als Synonym für „Jüngling“ verwendet werden. Gleichwohl dürften die Obertöne der Erwählung mitgesetzt sein. Der Angeredete ist demnach nicht nur jung, sondern auch erwählt – und diese Erwählung soll ihm Gegenstand der Freude und des Selbstbewusstseins sein. Es ist möglich, dass in dieser Anrede sich die Distanz Kohelets (und seiner Schüler) vom herkömmlichen Lehrbetrieb ausdrückt17. Dann wäre im Ba¯h. r greifbar, dass Kohelet für die Ausbildung von Führungsschichten schreibt. Die tatsächliche Jugend ist der Gegenstand der Freude in 9a – wobei die von Kohelet in Aussicht gestellte Weisheit des „Kindes“ von 4,13 mitklingen mag. 9b formuliert auffällig: Statt zur Freude ruft der Satz dazu auf, das Herz recht zu gebrauchen, bzw. wünscht, dass das Herz den jungen Mann recht leiten möge. Vor allem der zweite Teil der Weisung gibt somit das Ideal des herzgeleiteten Kohelet an die nächste Generation weiter. 9b bleibt zunächst auf dieser Line, wenn er in gut weisheitlicher Diktion anweist, dem Weg des Herzens zu folgen. Die Ergänzung „und dem, was deine Augen sehen“ bezieht sich zurück sowohl auf 2,10; 6,9: dem zu folgen, was die Augen sehen, ist gut, wenn durch Weisheit bestimmt. Wenn auch in etwas unterschiedlicher Diktion, ist 11,9 noch auf der Linie des Denkens Kohelets. 11,9bb ist eine Einschreibung im Sinne von 12,14 und evtl. 3,17. Sie unterbricht die formale Struktur der kurzen Mahnungen, die Wendung „ins Gericht bringen“ erscheint nur noch 12,14; Hi 14,3. Vor allem aber hat das Sätzchen im ganzen Textgefüge überhaupt keine Funktion und erweist sich dadurch als Nachtrag18. Es muss dabei nicht unbedingt an ein (doppeltes) Jenseitsgericht gedacht sein. Gleichwohl ist das Gericht Gottes in 3,17; 8,6 anders konturiert und dient gerade nicht zur Fluchtlinie einer Aufforderung zur Freude.19

11,10 setzt die Reihe der Aufforderungen fort, diesmal mit negativen Bestimmungen. Das Fernhalten oder Fernbleiben (s r) ist eine beliebte For15 16 17 18 19

Ebd. Vgl. H. Seebass, ThWAT I (1973), 596 – 599. So L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 527. Vgl. ausführlich N. Lohfink, Freu dich, 186 – 188. Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 152; D. Michel, Untersuchungen, 166.

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mulierung der Weisheit und in Prv 13,14; 15,24 damit motiviert, dem Tod zu entgehen. Insgesamt konnotiert s r ein entschiedenes Fernhalten; es ist in der deuteronomistischen Literatur mit Götzendienst verknüpft.20 Die starke Formulierung überrascht, umso mehr als Kohelet dem Verdruss 1,18; 2,23; 5,16; 7,3.9 einen gewissen Sinn zuspricht. Wahrscheinlich ist hier die Linie von 7,9 fortgesetzt: Das Herz des jungen Mannes soll dem törichten Verdruss fernbleiben.21 Wie in 2,3 wird hier neben die Aktivität des Herzens das „Fleisch“ gesetzt, was in der Gesamtheit eine Aussage über den ganzen Menschen ergibt.22 Wörtlich lautet die Aufforderung „Lass das Schlechte an deinem Fleisch vorüberziehen“. Bleibt man im Interpretationshorizont von 2,3, dann enthält der Satz die Mahnung, mit den Genüssen des Lebens vorsichtig umzugehen. Die genaue Bestimmung bleibt aber offen.23 10b bietet die Begründung der ganzen Reihe. Der Satz ist mit einigem Nachdruck formuliert (k jald t wehasˇˇsah. ar t ha¯bæl), mit dem gereimten Themapaar in der Mitte (vgl. zum Stil auch 1,2; 12,8). Sˇah. ar t scheint ein Synonym zu „Jugend“ zu sein, ist in dieser Form aber alttestamentlich nicht belegt. Vergleichbar sind die Belege für „schwarzes Haar“ (Lev 13,31.37; Sach 6,2.6; Hi 30,30; Hld 1,5.6; 5,11; Klgl 4,8). Mit Jugend wird es jedoch nirgends in Verbindung gebracht, allenfalls mit Schönheit (Hld). Das Nomen ˇsa¯h. ar bezeichnet außerdem die Morgenröte, als Begriff für Jugend würde es dann in etwa der deutschen Metapher „Jugendblüte“ entsprechen. Diese Ableitung fügt sich gut in den Kontext der Licht- und Finsternismetaphorik des vorigen Abschnitts24 und passt auch zum kosmologischen Interesse von Z. Wenn diese Etymologie richtig ist, dann wird an dieser Stelle unter allen Flüchtigkeiten der Jugendzeit besondere Flüchtigkeit zugesprochen, so dass ihre Chance, zur Gestaltung der Welt als gering betrachtet wird. Im Kontext der Zeitlehre des Koheletbuches schärft der Satz ein, die Gegenwart zu genießen – die in diesem Fall in der Jugend besteht. Während die Mahnungen Kohelets ins Grundsätzliche zielen, formuliert hier die Nachfolgegeneration ihr Programm. 12,1 – 7 weitet die Mahnung zur Weisheit in der Jugend theologisch aus. Dabei enthält der Abschnitt ein merkwürdiges Ungleichgewicht. Beginnt 12,1 mit der Aussage, sich des Schöpfers zu freuen, entfaltet der restliche Text ausschließlich die Frage, wann das geschehen soll (vor den bösen Tagen) und geht dann in eine Rätselrede über das Alter über. Dass die Jugend die Zeit des Gedenkens an den Schöpfer ist, tritt mehr und mehr zurück hinter dem unwiderruflich herannahenden Tag des Alters und des Todes.25 In gleicher Weise 20 21 22 23

Vgl. L.A. Snijders, ThWAT V, (1986), 807 f. Vgl. T. Krüger, BK, 348. Vgl. T. Zimmer, Tod, 17. Dass es sich lediglich um die Mahnung „pass auf, dass du nicht krank wirst“ handelt, erwägt L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 530. 24 Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 159 f. 25 Vgl. dazu ausführlich H. Witzenrath, Süß ist das Licht, 10 – 20; N. Lohfink, Freu dich, 205 – 210. Außerdem T. Krüger, BK, 352 f.

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verschwindet der in 11,7; 12,1 so prominent angesprochene Jüngling, bis am Ende die Rede vom Menschen ist.26 Sowohl diese kommunikative Strategie als auch die Bild- und Formsprache des Schlussgedichts knüpfen somit an den Anthropologie des Prologs an (1,3 – 11); sie bilden ab, was dort mit dem Kommen und Gehen der Generationen begrifflich ausgedrückt wurde. Möglicherweise wird auch in 12,1 – 7 ein Traditionstext aufgegriffen. Einiges an Bildsprache und Tonfall erinnert an ägyptische Texte, die Lebensfreude angesichts des Todes thematisieren, aber auch den Tod selbst. Eine Gliederung in Abschnitte lässt sich an dem Text nicht durchführen. Zwar ist er durch bestimmte syntaktische und Sinneinheiten rhythmisiert, bildet aber ein in sich geschlossenes Ganzes.27 12,1 bildet die Einleitung. Sie formuliert einen langen Satz, der aus einer Aufforderung (1a) und zwei adverbialen Zeitbestimmungen (1b) besteht, die die „Tage des Jünglingsalters“ näher bestimmen. Die Satzstruktur ist ebenso eindrucksvoll wie komplex; sie reicht bis V. 4.28 Die Aufforderung ist ähnlich gestaltet wie 11,9, enthält sogar dieselben Reime und das so bedeutsame b me¯ ba¯h. ræka, „in den Tagen deines Jünglingsalters“. Dies wird jedoch nicht mit einem parallelen Synonym ergänzt, sondern das Reimwort zu „Jünglingsalter“ ist „dein Schöpfer“. Die Rede vom Schöpfer ist singulär im Buch Kohelet und überrascht besonders in einem Text von Z, der sonst nicht von Gott spricht. Der Terminus verdankt sich einem Wortspiel, denn „dein Schöpfer“ ist – vor allem in dieser Gestalt – homophon mit „deine Grube“, d. h. dein Grab. Es ist denkbar und sogar wahrscheinlich, dass dies die eigentliche Aussage ist, denn sie gibt dem Text eine wesentlich stimmigere inhaltliche Linie. Die Lesart auf den Schöpfer hin ist in der Textgeschichte aber fest verankert. Bis zum Ende des Gedichts in V. 7 muss hier „Grube“ gelesen werden, erst V. 7 macht das Wortspiel offenkundig29. Mit „Gedenke“ (zek r) greift Z den Faden auf, nach dem es keine Erinnerung an die vorigen Generationen gibt (1,11; 2,16). Gedenken gibt es (vorerst) nur an das, was jedem bevorsteht, nämlich das Grab. Dies wird unterstrichen durch die sich anschließenden adverbialen Zeitbestimmungen „bevor“ (wörtlich „bis dass“), die in V. 1 zwei Verben regiert und sich in V. 2 noch einmal wiederholt. Durch die eigenartige Struktur des Gedichts ist der Imperativ „Gedenke“ das einzige Hauptsatzprädikat des gesamten Textes. Das Verb za¯kar ist im Biblischen Hebräisch überwiegend auf die Vergangenheit gerichtet.30 Wenn es hier auf die Zukunft zielt, die allein im Tod besteht, ist noch einmal eine prononcierte Distanz zu allen eschatologischen Heilserwartungen ausgedrückt, die auch schon den Prolog prägt. Von hier aus bekommt auch der für Z so 26 27 28 29 30

Ders., A.a.O., 206 f. Vgl. ausführlich N. Lohfink, Freu dich, 194 – 204. Vgl. N. Lohfink, Freu dich, 195. Vgl. N. Lohfink, Freu dich. Vgl. ausführlich H. Eising, ThWAT II (1977), 571 – 593.

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typische Gedanke der Wiederkehr (vgl. 1,9; 2,12) seine Pointe. Was sich wiederholt – und daher allein gedenkenswürdig ist – ist das Sterben. Die Zeit des Gedenken-Könnens wird in 12,1a zunächst mit der Jugend benannt, dann aber noch näher eingegrenzt durch die schlechten Tage (1ba) und die Jahre, an denen der Angeredete keinen Gefallen haben wird (1bb). 1a und 1ba stehen in einem Kontrastverhältnis: den „Tagen deiner Jugend“ entsprechen die „Tage des Schlechten“.31 Was die „schlechten Tage“ schlecht macht und an den Jahren Missfallen erregen könnte, wird noch nicht gesagt. Die Parallelformulierung mit dem fingierten Zitat verwendet das bei Kohelet signifikante Wort h. e¯pæs. . In 3,1.17; 8,6 bezeichnet es das Vorhaben bzw. die Tat, die ihre festgelegte Zeit hat. In 5,3 ist es das kultisch konnotierte Gefallen Gottes. Hier tendiert es auf das profane Gefallen, spricht aber zumindest als Oberton mit an, dass die fallenden Zeiten und die persönliche Befindlichkeit auseinander treten. In 12,2 wird erneut die Zeitbestimmung „bevor“ verwendet. D.h. grammatisch wird der Satz von 12,1 fortgesetzt und den dortigen Ergänzungen werden weitere beigesellt, die die „schlechten Tage“ erläutern. Hier gibt es indes keine Wertung mehr, sondern die Handlung steht für sich. Die Reihe Finsternis – Sonne – Licht greift auf 11,7 – 9 zurück, die Wolken und der Regen auf 11,3. Inhaltlich schildert V. 2a aber die kosmische Katastrophe des Tages JHWHs, der „die gewohnte Erfahrungswirklichkeit umstürzt und die Grundlagen der Schöpfung (vgl. Gen 1,3) rückgängig macht (vgl. auch Jer 4,23).“32 Die Metaphorik ist breit belegt, vgl. auch Jes 13,10; Jo 2,10 und für den Einzelnen (Frevler) z. B. Hi 18,5 f.18. Am engsten verwandt mit 12,2 ist Jer 13,16. Indes ist die (prophetische) Eschatologie hier insofern gebrochen, als lediglich der Vorgang des Endes geschildert wird, nicht aber das Gerichtswirken Gottes. Das unvorhersehbare Ausbrechen des Endes liegt durchaus auf der Linie Kohelets. Z grenzt sich in 1,9 – 11 zwar gegen eine Neuschöpfung ab, lässt die Frage nach einem Weltende aber offen.33 Hier ist es angesprochen und grenzt damit die individuelle Lebenszeit als einzigen Raum ein, in dem Lebensgestaltung möglich ist. Das Ende (individuell und kosmisch) ist dann die ultimative Konkretion der schlechten Tage.34 Eine Berechnung entzieht sich dies aber weiterhin – 12,2 bleibt bei einer „Ferneschatologie“.35 31 32 33 34

Vgl. N. Lohfink, Freu dich, 195. T. Krüger, BK, 353; vgl. auch M.V. Fox, Time, 64 f. Vgl. T. Krüger, BK, 49. Diese Interpretation ist wahrscheinlicher als jene, die die Bilder von 12,2 – 7 konsequent als Allegorie auf Altern und Tod lesen, so etwa N. Lohfink, Freud dich; F.J. Backhaus, Zeit, 312; H. Witzenrath, Süß ist das Licht, 22 – 24; A. A. Fischer, Skepsis, 173 f. Die Schnelligkeit des geschilderten Phänomens widerspricht dem langsamen Alterungsprozess. L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 533, findet hier den Tod in apokalyptischen Bildern beschrieben, die auf den königlichen Hochmut von 1,12 – 2,26 reagieren. A. A. Fischer, Skepsis, 174, liest konkret: nach meteorologischen Beobachtungen „ist der winterliche Himmel in Palästina oft wolkenverhangen und trübe, bis der nächste Regen folgt. Gleichzeitig ist das Wetter unbeständig, da Sonnen- und Regentage oft wechseln. Zudem machen Nässe und Wetterumschwünge den

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Mit 12,2b kehrt der Text in die von 1,3 – 11 her vertrauteren Gedanken von Z zurück. Nach dem Regen kehren die Wolken zurück – hier greift der Text die Wiederkehr kosmischer Phänomene aus 1,4 – 8 auf, die das Gegenbild zur linearen Geschichte der Menschen bilden. Dabei geht die Gerichtsmetaphorik fließend in die kosmischen Phänomene über. Unter Anbindung an V. 1 wird somit deutlich, dass ein aktives Gedenken – und damit eine aktive Lebensgestaltung – nur jetzt und hier möglich ist. Mit 12,3 beginnt die Schilderung eines „Tages“, an dem verschiedene Geschehnisse stattfinden. Die Aufzählung reicht bis V. 4. „Der Tag“ steht in Apposition zu „Bevor“. Indes enthält der Satz kein Verb. Deswegen ist fraglich, ob dieser Tag einer ist, der sich wiederholt – wofür der grammatisch-syntaktische Anschluss der Verses an V. 2 spricht – oder, ob es sich um einen (oder mehrere) einmaligen Tag handelt – dafür spricht das prononcierte bajj m.36 Da der Verfasser Z von einer Wiederholung nur im Bereich kosmischer Phänomene spricht, scheint hier ein einmaliger Tag wahrscheinlicher, an dem sich die vier (mit V. 4: fünf) Ereignisse abspielen. Damit liegt dann auch nahe, dass die Ereignisse aufeinander bezogen sind. Ansprechend ist die allegorische Deutung, nach der hier der alternde oder sterbende Körper im Bild eines verlassenen oder baufälligen Hauses poetisch verrätselt wird: Die Torwächter repräsentieren die Arme, die „starken Männer“ die Beine, die Müllerinnen die Zähne und die (Frauen), die aus dem Fenster schauen, die Augen. 12,4 setzt die Schilderung fort und schließt die Reihe mit den Türen ab, die für die Ohren stehen. Die Bilder für sich sind auch in andere Richtungen deutbar ; so setzt sich der gleitende Übergang aus der eschatologisch-apokalyptischen in die Altersmetaphorik mit dem Bild von den zitternden Starken fort.37 Gleichwohl ergibt die Altersallegorie für alle fünf Bilder eine befriedigende Lösung.38 Diese Allegorie könnte ein didaktisches Rätsel aus dem Schulbetrieb aufgreifen.39 Nach dem Bild der geschlossenen Türen wechselt die grammatische Gestalt der folgenden Bilder. Das leiser (wörtlich „tiefer“) werdende Geräusch der Mühle ist ein Infinitiv, der mit dem Schließen der Türen gleichzeitig ist. Die „Mühle“ ist nach V. 2 mit dem Mund verbunden, so dass hier an die Stimme oder die Zunge zu denken ist. Ausgedrückt ist: Wenn das Gehör nachlässt, ändert sich die Stimme40 bzw. das Sprechen fällt schwer. Der Moduswechsel

35 36 37 38 39 40

Winter zu einer Jahreszeit, unter der die krankheitsanfälligen Alten besonders zu leiden haben. Daher eignet sich der Winter vorzüglich als Metapher für das beschwerliche Alter.“ Die Lesarten setzen voraus, dass mit der Zeit nach der Jugend automatisch das Alter gemeint sein muss. Vgl. T. Krüger, BK, 49 f. Vgl. zur Problematik N. Lohfink, Freu dich, 197. Vgl. T. Krüger, BK, 354. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 533 f.; H. Witzenrath, Süß ist das Licht, 21 – 30. Vgl. C. Klein, Kohelet, 154 f., der diese Deutung aber ablehnt; A. A. Fischer, Skepsis, 177. A. A. Fischer, Skepsis, 177 verweist auf einen entsprechenden sumerischen Text. A. A. Fischer, Skepsis, 177.

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Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto)

und das leicht brüchige Bild deuten auf eine selbständige Weiterbildung des Bildes durch Z (vgl. 1,4 – 8). Mit V. 4b liegt ein Subjekt- und ein Tempuswechsel vor. In Imperfekten und mit unpersönlichem Subjekt wird eine neue Handlung geschildert. Nach dem Bild des Alterns/Sterbens gehen die Bilder zum Tages- und Jahresablauf über, die Imperfekte indizieren wiederholte Handlungen. V 4b fasst einen Tag in das Bild des auf- und abschwellenden Vogelgesangs41. Mit dem Vogelgesang steht „man“ auf.42 Der Abend ist wahrscheinlich ebenfalls mit dem Vogelgesang verbunden. Das Verb bedeutet in etwa „gedämpft werden“, die „Töchter des Gesangs“ dürften einen poetischen Ausdruck für Singvögel darstellen.43 12,5 bleibt in der Tempusstruktur und gibt in kurzen Schlaglichtern drei Bilder für die Jahreszeiten. Der rosa oder weiß aufblühende44 Mandelbaum (vgl. Jer 1,11 f; Hld 2,10) repräsentiert den frühen Frühling.45 Die Heuschrecke frisst sich im Frühsommer voll46 und wird dick (wörtlich „belädt sich“). Trotz ihrer Einbindung in den Jahreskreislauf, ist auch hier ein leiser Anklang an das Eschatologiemotiv gewahrt, insofern die Heuschrecke zu den Gerichtsmetaphern gehört (vgl. Am 7; Jo 1 – 2). Mit der aufplatzenden Kaper ist der Kapernapfel gemeint, die Frucht des Kapernbaums, die im Hochsommer platzt und geerntet werden kann.47 Die drei Bilder – der Winter fehlt – kennzeichnen die sich wiederholenden Jahreszeiten. Sie werden im Gesamtverlauf und unter Einbeziehung des Tages mit der Rätselallegorie auf das Alter verbunden: Der Mensch wird schwach und immer schwächer, der Tag spielt sich ab zwischen auf- und abschwellendem Vogelgesang, die Natur vollzieht ihren Kreislauf. Dort, wo das Leben des Menschen abbricht, setzt der Zeitzyklus an.48 V. 5b macht dies deutlich und entschlüsselt zumindest die Rätselallegorie von Vv. 3 – 4. Das Partizip bei „Gehen“ deutet die zeitlose Dauer an. Der Mensch – jeder Mensch – ist eigentlich nur unterwegs ins Grab. Dies ist mit „Haus der Ewigkeit“ bezeichnet. Kohelet verwendet „Stätte“ oder „Scheol“. Die hier benutzte Formulierung ist ägyptischer Provenienz und liegt noch in zeitgenössischen ägyptischen Weisheitstexten vor.49 Gleichzeitig mit diesem ewigen Todesweg „winden sich“ (sa¯bab, 1,5 für den Wind) die Trauernden auf 41 Die grammatische Struktur von V. 4b bereitet Probleme. Das Subjekt von „erheben“ ist 3.m.Pl. , der Vogelgesang kann aber nicht das Subjekt sein, weil er erstens im Singular steht und zweitens durch die Präposition. Wenn man nicht den Text ändern will (vgl. BHQ) ist die Annahme eines unpersönlichen Subjekts am sinnvollsten, zumal sich dies in V. 5 wiederholt. 42 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 534. 43 Das kollektive s.ipp r, „Vögel“, ist ein Femininum. 44 Na¯s.as. Hif., vgl. A. Schoors, Preacher 2, 405. 45 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 534. 46 Ebd. Vgl. auch P. Riede, Art. Heuschrecke: www.wibilex.de. Der verwendete Begriff h. a¯ga¯b bezeichnet eine bestimmte Heuschreckenart, welche, ist jedoch unklar. 47 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 534. Anders T. Krüger, BK, 355, der die Bilder auf einen verwilderten Garten bezieht. 48 Vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 534. 49 Belege bei S. Fischer, Aufforderung, 98.

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Koh 11,9 – 12,8

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der Straße. So ergibt sich: „Während die Natur ein Zurück zum Leben kennt, hat der Mensch unerbittlich seinen Weg zum Tod zu gehen.“50 Mit anderen Bildern und in anderer Anordnung, aber im Duktus identisch, zeigt Z auch am Ende des Buches, dass der Mensch erlischt, während es für die Natur ein ständiges Zurückkehren gibt. Vv. 3 – 5 sind damit – unter Rückgriff auf eine wohl vorliegende Rätselallegorie, die den Kern bildet – als Parenthese zwischen Vv. 2 – 6 gestellt worden, um verschiedene gedankliche Aspekte im Zusammenhang mit dem Tod zu entfalten. Sowohl sachlich als auch sprachlich handelt es sich um einen der anspruchsvollsten Texte des Alten Testaments. 12,6 greift die Formulierung „Bevor auf“ und bindet den Abschluss des Gedichts an seinen Anfang zurück. Der Satz reicht bis V. 7 und besteht aus zwei Bildern und einer Konkretion auf den Tod hin. Das erste Bild beschreibt „eine an der Decke befestigte Lampe, deren silberne Kordel zerreißt, so dass ihr vergoldetes Ölgefäß am Boden zerspringt.“51 Das Bild ist lose mit der Altersallegorie verbunden52, aber selbständig53. Hintergründig ist damit das Verfinstern des eschatologischen Motivs in V. 2 wieder präsent, wie auch die leicht gewalttätigen Verben in diese Richtung deuten. Das Erlöschen des Lebenslichts – das man hier bei der zerbrechenden Lampe mitdenken muss – verweist auf einen beliebten Topos für den Tod des Frevlers (Hi 18,16; 21,17; Prv 13,9; 20,20; 24,20).54 Gleichzeitig aber wird die Gewaltmetaphorik durch ein Wortspiel durchbrochen: Schnur (h. æbæl) ist fast identisch mit „Flüchtig“ (hæbæl)55. Der Tod als Ergebnis der Flüchtigkeit und der Tod durch (gewaltsamen) Abbruch des Lebens werden hier zusammengedacht. Das zweite Bild schildert, wie das Schöpfrad „hinabstürzt und mit dem Krug im Brunnenschacht zerschellt“56. Gedacht ist an eine Zisterne (B r), in der Regenwasser gesammelt wird57. Über ihr ist ein Rad befestigt, über das ein Seil mit dem Krug läuft.58 Bei aller Kostbarkeit des Wassers in Palästina wird hier doch ein „alltägliches“ Bild neben das Bild der kostbaren Lampe gesetzt, so dass jetzt auch der Tod als sozialer Gleichmacher mitklingt. Am Ende von 12,6 kommt der Leseprozess an ein vorläufiges Ende. Der Jüngling soll an seinen Tod denken, solange es noch Zeit ist. Sowohl das (eschatologische) Ende (V. 2), das Alter (Vv. 3 – 4), als auch jeder Tod (Vv. 6) können sein Leben beenden. Vor dem Hintergrund der Argumentation Kohelets, nach der nur das Wissen um den Tod zu Weisheit führt und hand50 51 52 53 54 55 56 57 58

T. Krüger, BK, 355. Vgl. auch L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 535. A. A. Fischer, Skepsis, 174. T. Krüger, BK, 355 A. A. Fischer, Skepsis, 174; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 536 f. Vgl. A. A. Fischer, Skepsis, 174 f. Vgl. dazu L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 535. A. A. Fischer, Skepsis, 175. S. dazu K. Koenen, Art. Wasserversorgung: www.wibilex.de. Vgl. dazu T. Krüger, BK, 355.

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Bevor die schlechten Tage kommen (Epilog und Motto)

lungsfähig macht, heißt es hier, dass man gar nicht früh genug an den Tod denken kann. Parallel damit läuft der Gedanke, dass der Mensch ohnehin dem Schwinden geweiht ist. 12,7 schildert abschließend, wie der Mensch nach seinem Tod zerfällt: Der Staub kehrt zur Erde zurück, wie es immer schon war. Der Geist/Atem steigt zu Gott auf, der ihn gegeben hat. Hier geht Z unerwartet theologisch über Kohelet hinaus.59 Z spricht von einer Rückkehr des Atems zu Gott. Beide Gedanken machen Gebrauch von Gen 2,7; 3,19, wobei dort jedoch mit dem Atem Gottes die Lebendigkeit des menschlichen Wesens angezeigt wird. Koh 12,7 zerlegt den Menschen in seine Bestandteile: Staub zur Erde, Atem zu Gott. Das ist kein positiver Tod im Sinne einer ewigen Gottesgemeinschaft, noch weniger einer Auferstehung. Während aber Kohelet selbst mit einer absoluten Endgültigkeit vom Tod redet, kann Z wenigstens einen Teil des Menschen am Ende bei Gott denken. 12,8 schließt mit dem Motto ab, das wörtlich 1,2 wiederholt. Gegenüber Kohelet selbst hat Z mit seinen Meditationen über den Tod Kohelets Todesbild präzisiert und damit dem hæbæl-Motiv mehr anthopologischen Nachdruck verliehen. Noch einmal gibt es eine nachhaltige Distanzierung von eschatologischen, eventuell apokalyptischen Entwürfen: Anscheinend liegt die Intention von Z „darin, die Erwartung (als Hoffnung oder Befürchtung) eines ,Weltuntergangs‘ auf die Erwartung des individuellen Todes zu reduzieren. (…) Eine auf Weltuntergang und Weltgericht ausgerichtete Eschatologie wird damit in Koh 12,1 – 7 in ähnlicher Weise kritisch ,dekonstruiert‘ wie schon in 1,9 – 11. Sie wird …aber zugleich auch auf eine vernünftige Weise kritisch ,rekonstruiert‘: Was die Propheten über das universale Gericht Gottes sagen … ist – recht verstanden – in den universalen Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens jederzeit erfahrbar : darin nämlich, dass alle Menschen der Kontingenz und dem Tod ausgesetzt sind.“60 Mit dieser Präzisierung des menschlichen Lebens in Kosmos und Natur, zwischen Negation einer Neuschöpfung und Leugnung eines Endgerichts rahmt Z das Buch Kohelet und dessen Mahnungen. Damit ist endgültig aus einer königlichen Lebenslehre für die Einweisung in eine sinnvolle Herrschaft eine anthropologische Reflexion im Namen „Salomos“ geworden.

59 3,19 ist ein Zusatz, der aber auch nur von einem Aufsteigen des Atems „nach oben“ spricht. 60 T. Krüger, BK, 356 f.

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Koh 12,9 – 14

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Nachwort Koh 12,9 – 14 12,9 Im Übrigen: Kohelet war ein Weiser, und außerdem lehrte er das Volk Erkenntnis. Und er überprüfte, komponierte und ordnete viele Sprüche. 12,10 Kohelet suchte gefällige Worte zu finden. Er schrieb1 die Wahrheit richtig auf.2 12,11 Worte von Weisen sind wie Ochsenstacheln und wie Nägel, eingeschlagen von Versammlungsleitern. Gegeben sind sie von einem Hirten. 12,12 Und darüber hinaus – mein Sohn, lass dich warnen! – ist kein Ende des vielen Büchermachens und viel Studieren ermüdet den Leib. 12,13 Am Ende des Wortes hçren wir3 all dies: Gott f rchte, seine Gebote bewahre! Denn dies gilt f r alle Menschen. 12,14 Denn alle Taten bringt Gott ins Gericht ber alles Verborgene, sei es gut oder schlecht. 12,9 – 14 bilden das Nachwort und damit den Abschluss des Buches Kohelet. Es gibt Informationen über Kohelet (12,9 – 10), reflektiert über den Wert der Weisheit und das Lernen (12,11 – 12) und schließt mit einer theologischen Schlussmahnung (12,13 – 14). In dem Abschnitt überlagern sich mehrere Gliederungselemente: Die Satzeinleitungen V. 9. 12. 13 bilden eine Kette von „Nachträgen“ und gliedern den Text in drei Teile. Hinsichtlich der Sprechakte finden sich zwei Teile: 12,9 – 11 formuliert in 3. Person über Kohelet und die Weisheit; 12,12 – 14 ist als Anrede gestaltet. Der Angeredete wird mit „mein Sohn“ angesprochen und unterscheidet sich damit von dem „jungen Mann“ von 12,1. Auffallend ist außerdem die 1. Person Plural in 12,13. Schon die Rede über Kohelet in 3. Person weist darauf hin, dass sich hier ein anderer Verfasser äußert. Die Anordnung der Nachworte lässt auf zwei Verfasser schließen: 12,9 – 12 trägt mit „Im Übrigen“ notwendige Zusatzinformationen nach. 12,13 – 14 ist ein eindeutiges Postskriptum. In diesem wird in der 1. Person Plural eine weitere Sprecherstimme erkennbar. So ist 12,13 – 14 von einem weiteren Verfasser angefügt.4 1 MT hat Part. Pass., wahrscheinlich liegt aber ein finites Verb bzw. ein Infinitiv absolutus in Funktion des finiten Verbs vor, vgl. BHQ; A. Schoors, Preacher 2, 372. 2 Zur Diskussion um Syntax und Grammatik des Satzes vgl. ausführlich A. Schoors, Preacher 1, 45 f.169 f.179.190. 3 So mit V; eine Lesung mit MT (Part. Pass) würde nichts am Sachgehalt ändern, vgl. A. Schoors, Preacher 2, 209; T. Krüger, BK, 365. 4 Zu dieser Gliederung vgl. auch M.V. Fox, Time, 350. Die meisten Analysen, die mit zwei Nachträgen rechnen, setzen die Zäsur bei V. 12 und gliedern 12,9 – 11.12 – 14, so A. A. Fischer, Skepsis, 20 f.; F. J. Backhaus, Zeit, 346 – 351; N. Lohfink, NEB, 85 f.; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 544 f.; A. Reinert, Salomofiktion, 42 f. Zu einem Nachwort tendiert T. Krüger, BK, 365 f.

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Nachwort

Trotz dieser Unterscheidung handelt es sich um eine sachlich zusammengehörige Einheit. Beide Teile setzen sich mit Kohelets Autorität auseinander und ziehen Folgerungen daraus. 12,9 – 12 bildet das erste Nachwort des Buches. Es gliedert sich in die beiden Teile 12,9 – 11 und 12,12, die als Zusätze eingeführt sind. Sie bilden einen sachlich fortlaufenden Zusammenhang: Die Würdigung Kohelets (Vv. 9 – 10), die Würdigung der Weisheit (V. 11) und die Mahnung an den Zuhörer (V. 12). Die Auseinandersetzung mit Kohelet wird somit zu einer Anleitung zum Umgang mit weisen Worten und Texten. Weisheit wird an Kohelet gemessen, der zum exemplarischen Weisen erklärt wird. Diese hohe Wertschätzung der Weisheit Kohelets spricht für Z als Verfasser von 12,9 – 12. Im Unterschied zu seinen Rahmentexten 1,2 – 11; 11,9 – 12,8 spricht er jetzt nicht mehr mit dessen Stimme, sondern nimmt seine Würdigung selbst vor. In für das Alte Testament einzigartiger Weise wird in 12,9 – 11 ein Schriftsteller und Lehrer gewürdigt. Gleichzeitig aber wird Kohelet so in die Weisheitstradition eingeordnet, dass er als Person kaum in Erscheinung tritt. Seine Einzigartigkeit ist nur ein Beweis für das weise Wort und seine Wirkung. Obwohl 12,9 – 11 von Kohelet als Weisem sprechen, bleiben sie im Rahmen der Salomofiktion. Kohelets schriftstellerische Tätigkeit in V. 9 ist aus 1Kön 5,15 heraus entwickelt. Der Beginn von V. 11 ist an die Teilüberschriften des Proverbienbuches angelehnt (vgl. Prv 24,24). Die Anrede „mein Sohn“ stammt aus Prv 1,8 (vgl. Prv 2,1; 3,1.21; 4,20; 5,1; 6,1.20; 7,1). Das deutet darauf hin, dass das Buch Kohelet in seiner Fassung durch die Z-Bearbeitung als Korrelat (oder Anhang) zum Proverbienbuch konzipiert wurde und für die weitere Ausbildung genutzt werden sollte.5 12,9 beginnt mit dem prononcierten wej te¯r ˇsæha¯ja¯h, wörtlich: „Der Überschuss dessen, was geschah“. Es handelt sich um eine metasprachliche Aussage, die Informationen über das hinaus ankündigt, was bisher verhandelt wurde6. Die Formulierung ist eine Nachahmung der in den Könige- und Chronikbüchern verkommenden Formel „Und was sonst noch über X zu berichten ist“ (vgl. für Salomo 1Kön 11,41).7 Im Folgenden wird die Weisheit Kohelets in einer Weise beschrieben, die bislang nicht thematisiert wurde. Dabei geht es erstens um seine Lehrtätigkeit. Sie wird mit C d, „Fortsetzung“, eingeführt, so dass Kohelets Lehre als Folge und Form seiner Weisheit zur Diskussionen bei: A. Reinert, Salomofiktion, 40 f.; C. Dohmen, Der Weisheit letzter Schluss? Anmerkungen zur Übersetzung und Bedeutung von Koh 12,9 – 14: BN 63 (1992), 12 – 18; K. Koenen, Zu den Epilogen des Buches Kohelet: BN 72 (1994), 24 – 27. 5 Vgl. auch N. Lohfink, NEB, 12 – 14 (allerdings ohne 12,12). 6 Vgl. N. Lohfink, Satzeröffnungen, 131. 7 Im Buchcorpus hat j te¯r die Bedeutung von „Vorzug, Vorteil, Überschuss“, adverbial auch „überaus“ (vgl. 2,15; 6,8.11; 7,11.16). Im Rahmen dieses Bedeutungsspektrums muss man annehmen, dass Kohelet als „mehr als ein gewöhnlicher Weisheitslehrer“ gewürdigt wird (L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 545). Die syntaktische Struktur ist hier jedoch anders. Zur Formel in den Königebüchern vgl. M. Köhlmoos, Die übrige Geschichte.

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Sprache kommt.8 La¯mad Pi, „lehren“ ist ein Schlüsselwort der Weisheit und des Deuteronomiums. Die Grundbedeutung hebt nicht auf die kognitive Wissensaneignung ab, sondern verweist auf „Erfahrungen machen“ bzw. „Einüben“.9 Als Lehrer treten im Alten Testament Gott selbst (z. B. Ps 94,10 mit „Erkenntnis“), Esra (Esr 7,10, „Recht und Gesetz“), Josaphat (2Chr 17,7.9, „Gesetz“) und vor allem Mose auf (Dtn 4,1.5.10.14; 5,31; 6,1; 31,19.22). So zieht die Angabe jene Linie des Buches aus, die die Weisheit Kohelets in eine gewisse Konkurrenz zur Mose-Tora bringt. Kohelet wird – wie Mose – als Lehrer etabliert.10 Dieser Tendenz verdankt sich auch die Angabe, Kohelet habe „das Volk“ (Cam) gelehrt. Diese Angabe ist fiktiv bzw. inszeniert. Wenn Lehre eine Wirkung haben soll, muss sie über den einzelnen hinaus gehen (vgl. Dtn 11,19; 31,19; Sir 37,22 – 26). Dass Kohelet sich tatsächlich ans „einfache Volk“ gerichtet hätte, ist angesichts der sprachlich und sachlich anspruchsvollen Gestalt seiner Lehre völlig ausgeschlossen.11 Allenfalls ließe sich denken, dass sich hinter „Volk“ die Selbstbezeichnung der Schüler Kohelets verbirgt. Dafür ist der Begriff Cam im nachexilischen Israel aber zu stark auf das Gottesvolk hin zugespitzt. Kohelet soll als Alternative zu Mose dargestellt werden, seine Lehre besteht in „Erkenntnis“ statt in „Satzungen und Geboten“ wie im Dtn. Damit klingt Prv 1,2 an, nach dem die Sprüche Salomos dem Erkennen dienen. Ist so der weise Kohelet-Salomo mit seiner Lehre als Alternative zu Mose und der Tora etabliert, folgt in im Schlussteil des Verses eine Beschreibung seiner Tätigkeit. Drei assonante Verben werden dem Objekt „viele Sprüche“ vorangestellt. Sie kennzeichnen auf einzigartige Weise die Arbeit Kohelets. BA ¯ zan ist vermutlich von „abwägen“ hergeleitet12 und bezeichnet die sorgfältige und kritische Evaluation eines Sachverhalts. Angesichts des Umgangs mit der Tradition, die sich im Buch Kohelet zeigt, ist dies eine sachgemäße Würdigung seiner Tätigkeit. H. a¯qar, eigentlich „überprüfen“, muss in diesem Kontext mit „komponieren“ übersetzt werden. Es handelt sich um die Überarbeitung und neue Abfassung13 – auch dies erfasst die literarische Eigenart des Buches Kohelet. Das letzte Verb ist asyndetisch an die beiden vorigen angeschlossen. Eine schlichte Reihung der Verben ist möglich, ebenso aber auch eine Modifikation der beiden vorigen durch das dritte.14 Inhaltlich ist die Anordnung gemeint und dadurch die „Richtigstellung“. Der Fluchtpunkt sind die „vielen Sprüche“ (meˇsa¯l m harbe¯h). Ma¯ˇsal, wörtlich „Gleichnis“, ist der 8 Vgl. M.V. Fox, Time, 350. 9 Vgl. S. Kapelrud, ThWAT IV (1986), 577. 10 Möglicherweise macht 12,9 auch Anleihen bei Ps 132,11 – 12, nach dem die Herrschaft der Könige aus dem Davidshaus an die Befolgung dessen gebunden ist, was JHWH sie gelehrt hat. Zu Ps 132 vgl. M. Saur, Königspsalmen, 225 – 248. 11 So aber M.V. Fox, Time, 350; L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 546; T. Krüger, BK, 367. 12 Vgl. A. Schoors, Preacher 2, 456. 13 Vgl. Ders., A.a.O., 386 f.; M. Tsevat, ThWAT III (1982), 159; ähnlich auch T. Krüger, BK, 368; L. Schwienhorst-Schönberger, 546 f. (mit der Übersetzung „prüfen“). 14 Zur Diskussion s. A. Schoors, Preacher 2, 450 f. M.V. Fox, Time, 349 – 352.

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Nachwort

Terminus Technicus für den Weisheitsspruch und seine weiteren Formen: Sentenz, Rätsel, Lehrrede etc.15 Es ist die Gattung, die fast exklusiv Salomo zugeschrieben wird (Prv 1,1; 1Kön 5,15) und zwar in großer Menge. Auffallend ist, dass die Lehre und die Traditionsaneignung Kohelets in keinem sachlichen Verhältnis zueinander stehen. Trotzdem muss man annehmen, dass seine Lehre in der kritischen Aneignung der Weisheitstradition besteht. Denn die Würdigung der Weisheit (und Lehre) Kohelets besteht in der „Fähigkeit zur kritischen Reflexion von Traditionen“16. Das ist nichts grundsätzlich Neues, vielmehr erweist sich damit ein Weiser als Weiser hoher Schule. Dabei deuten die betont am Schluss stehenden Meˇsa¯l m darauf, dass Kohelet sich vor allem die Weisheitstradition aneignete – nicht die Tora und auch keine anderen Worte. 12,10 würdigt Kohelet als Forscher und Schriftsteller. Die erneute Nennung seines Namens zeigt einen neuen Aspekt seiner Tätigkeit an. Ba¯qasˇ, „suchen“, indiziert die Suche nach einem materialen Objekt. Hier jedoch wird die Suche zum Gegenstand ihrer selbst: Kohelet suchte zu finden – nämlich gefällige Worte. Die Mühe des weisheitlichen Sprechens wird hier in einzigartiger Weise reflektiert. Meˇsa¯l m und Worte fallen dem Weisen nicht in den Schoß und sind auch nicht einfach gesprochen, sondern das Ergebnis mühsamer Suche.17 Das Ergebnis sind „gefällige Worte“ (dibre¯-h. e¯pæs.). Wie in 12,1 ist hier zunächst das teils emotionale, teils kognitive „Gefallen“ angesprochen; im Kontext des Buches klingt jedoch auch mit, dass es sich um passende Worte und solche, die Eindruck machen handeln muss. Die Schlusswürdigung Kohelets besteht in der Anerkennung seines Textes. Das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der Tradition und der eigenen Formulierung ist die richtige (d. h. überprüfbare) Niederschrift von „Wahrheit“ (wörtlich „Worte der Wahrheit“). BÆmæt, „Wahrheit“, bezeichnet nicht die philosophisch-intellektuelle Wahrheit moderner Prägung, sondern die absolute Zuverlässigkeit und Gültigkeit18. Die Formulierung erscheint so in 1Kön 10,6 im Mund der Königin von Saba; in Dtn 13,15; 17,4 als gerichtlich zweifelsfrei festgestellter Sachverhalt. Beide Male werden auf diese Weise Worte und Sachverhalte als „wahr“ qualifiziert, die eigentlich unglaublich sind und nicht sein dürften.19 In Parallele zu h. e¯sæd („Liebe“) ist Bæmæt eine Eigenschaft Gottes. J ˇsær, „richtig“, (wörtlich „gerade“) meint hier die materiale, d. h. sprachliche Korrektheit. Dem Text des Koheletbuchs wird somit – durch ihn selbst – Wahrheit und Richtigkeit, d. h. Autorität zugeschrieben. Das Buch Kohelet wird zum normativen Text, der seine Autorität und Legitimation von Kohelet her gewinnt. Hier kommt Kohelets Würdigung an ihr Ende: Lehrer der Erkenntnis (daCat) – 15 Vgl. ausführlich C. Klein, Kohelet, 16 – 62. 16 T. Krüger, Kohelet, 368. 17 Vgl. eindrücklich C. Klein, Kohelet, 59. Möglicherweise hat diese Formulierung die Einschaltung von Koh 7,23 – 29 motiviert. 18 Das liturgische „Amen“ ist von derselben Wurzel hergeleitet. 19 Vgl. A. Jepsen, ThWAT I (1973), 335.

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Koh 12,9 – 14

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Prüfer der Tradition (meˇsa¯l m) – Verfasser von Worten der Wahrheit (Dibre¯ Bæmæt). Ohne vollständig aus der Salomofiktion auszubrechen, steht jetzt der Text des Buches Kohelet nicht nur neben Mose, sondern auch neben dem Sprüchebuch. 12,11 bildet einen Neuansatz. Von jetzt an spielt Kohelet keine Rolle mehr. Z bleibt aber im Zusammenhang der Autoritätsfrage. Die Kette „gefällige Worte“ – „wahre Worte“ aus dem vorigen Vers wird um das Glied „Worte von Weisen“ (dibre¯ h. akam m) verlängert.20 Sie sind aus Prv 22,17 entlehnt, die ebenfalls „Wahre Worte“ (Bimre¯ Bæmæt) ankündigen (Prv 22,21). Die „Worte von Weisen“ regieren grammatisch zwei Vergleiche und eine Passivformulierung. Sie werden erstens mit „Ochsenstacheln“ verglichen (da¯rb n t)21. Gemeint sind lange, schmale Stöcke mit einer Spitze am Ende. Sie werden verwendet, um Rinder beim Pflügen anzutreiben und in der Furche zu halten. Ri 3,31 wird ein solches Gerät als Waffe verwendet; 1Sam 13,21 gehört es zu den lebensnotwendigen Werkzeugen des Bauern. Er fügt dem Tier Schmerz zu, wenn es sich widersetzt, tut es sich aber noch mehr weh. Mit diesem Bild wird auf die schwere Arbeit sowohl des Weisheitslehrers als auch Weisheitsschülers angespielt, was bei Kohelet im „schweren Geschäft“ (V. 1,14 f.) zur Sprache kommt. Das Gerät ist aufgrund des Anklangs an „Worte“ (dibre¯) gewählt. Die Worte treiben also an. Zweitens werden die Worte der Weisen mit Nägeln verglichen, die eingeschlagen (wörtlich „gepflanzt“) werden. So halten sie etwas fest, so dass es nicht wackeln kann (vgl. Jer 10,4). Die Schreibweise masˇmer t22 generiert ein Wortspielt mit ˇsa¯mar, „beachten“.23 Damit ist zumindest der Sache nach der Weisheit ein ähnlicher Stellenwert eingeräumt wie der Tora. Die „Herren der Versammlung“ (Ba¯saf, nicht qa¯hal!) weist wahrscheinlich auf Schulleiter oder – wie der Anfang des Verses zeigt – auf Tradenten von Weisheitsliteratur.24 Den „Worten der Weisen“ – die wohl pars pro toto für die Weisheitsüberlieferung stehen – wird somit ein hoher Wert zugestanden, gleichzeitig werden sie gegenüber den Worten Kohelets in die zweite Reihe gerückt: Sie sind „nur“ Werkzeuge und von einer qualitativ anderen Versammlung gegeben als Kohelets geschriebene Worte der Wahrheit. Der Schlusssatz des Verses formuliert im Passiv, damit der Urheber der Worte betont am Schluss stehen kann. Der „Hirte“ bleibt in der Verlängerung der „Ochsenstacheln“.25 Obwohl der Hirte auf den König (vgl. Jer 23) und auch auf Gott (vgl. Ps 23,1) weisen kann, liegt ein wörtliches Verständnis am ehesten 20 Vgl. D. Dieckmann, Worte, 231. 21 Vgl. K. Koenen, Epiloge, 26 mit der kongenialen Übersetzung „Der Weisen Sprechen ist wie ein Stechen“. 22 Gegenüber der sonst üblichen Schreibweise masmer t. 23 Vgl. K. Koenen, Epiloge, 26. 24 Die genaue Bestimmung muss offen bleiben, vgl. auch T. Krüger, 369 f.; L. SchwienhorstSchönberger, HThKAT, 542 f.; M.V. Fox, Time, 353 f. 25 Vgl. M.V. Fox, Time, 355.

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Nachwort

in der Fluchtlinie des Verses: Im Vergleich zu Kohelets Worten sind Worte der Weisen nur (schmerzhafte, aber nützliche) Werkzeuge dessen, der seine Schüler hütet.26 12,12 setzt den Gedanken der Wertigkeit der Worte fort, wechselt aber jetzt die Rolle und die Perspektive. Das zweite wej te¯r ist als Folgegedanke zu dem Gedankengang von V. 11 formuliert. Vor den eigentlichen „Nachtrag“ tritt aber die Anweisung „mein Sohn, lass dich warnen!“ Za¯har greift 4,13 auf: Wer sich nicht warnen, bzw. beraten lässt, ist töricht. Mit der konventionellen Weisheitsanrede „mein Sohn“ inszeniert sich Z als neuer Weisheitslehrer, der die nächste (jetzt: dritte) Generation anweist. Die Formulierung „Bücher machen“ (nicht: schreiben) weist zurück auf die Rolle des Tuns im Buch Kohelet (vgl. 1,13): Es handelt sich um Menschenwerk, das der kritischen Überprüfung unterliegt. Nicht jedes Buch als Buch ist automatisch gut, die Vervielfältigung der Bücher ist der Warnung vor den „vielen Worten“ (5,1) unterworfen.27 Die „Bücher“ bezeichnen unterschiedslos „Bücher, die anderen Traditions- und Denkzusammenhängen entstammen“28 und die dem geschriebenen Wort der Wahrheit und dem immerhin noch nützlichen Wort der Weisen deutlich nachgeordnet werden. Die Anrede in der traditionellen Weisheitsform stellt hier die Weisheit – und darin die Weisheit Kohelets – deutlich über die anderen Bücher. Dies wird durch den Schlusssatz unterstrichen. Ha¯ga¯h, „studieren“ verweist auf das charakteristische Lesen der antiken Zeit, das halblaute Vor-lesen der Worte.29 Ps 1,2; Jos 1,8 und Sir 50,28 wird für Psalter, Tora und das Sirachbuch diese Aneignung anempfohlen und mit Erfolg, in Ps 1 und Sir 50 sogar mit einer Seligpreisung verknüpft. Koh 12,12 formuliert lapidar, dass dies nur den Leib „ermüde“. Damit verweist Z zurück in (seine) Mahnung 11,10: Wahre Weisheit ist eine Beschäftigung des ganzen Menschen. 12,13 gibt sich durch die Einleitung als Nachwort zu erkennen (vgl. Dan 7,28)30. In der 1. Person Plural artikuliert sich eine weitere Sprechergruppe, die ihr eigenes Resummee formuliert. Sie setzt sich nicht nur durch die Selbstthematisierung vom vorigen Abschnitt ab, sondern auch dadurch, dass sie das „Hören“ des Wortes ins Zentrum stellt, wohingegen vorher von dessen Produktion und Wirkung die Rede war. So mutet – trotz der Verankerung des Postskripts in der Schrifttradition – die Einleitung von 12,13 wie ein Chorschluss an. Denkbar ist, dass der Ertrag aus der Lektüre durchaus auch ausgesprochen wurde. Ob die nachfolgenden Imperative weiterhin an eine Einzelperson gerichtet, oder im kollektiven Du zu verstehen sind, bleibt offen. Die Gottesfurcht als Ertrag des Koheletbuches ist vollständig auf dessen Linie 26 27 28 29 30

So M.V. Fox, 355 f. Anders L. Schwienhorst-Schönberger, HThKAT, 548 f. Vgl. T. Krüger, BK, 370 f. Ders., A.a.O., 371. Zur Diskussion vgl. A. Schoors, Preacher 2, 463 – 465. Ägyptische Beispiele bei T. Krüger, BK, 371.

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(Vgl. 5,6b); zum Halten der Gebote Gottes geht Kohelet zwar auf Distanz, aber „an keiner Stelle wird das Halten der Gebote kritisiert“31. Für 12,14 gilt, dass Kohelet ein Gericht Gottes, zumindest in der Zeit kennt (vgl. 3,17). Die entsprechenden Einschreibungen in 3,17; 11,9 sind keinesfalls Korrekturen, sondern Verlängerungen des Denkens Kohelets. 12,14 bleibt mit dem Hinweis auf das „Verborgene“ im Horizont Kohelets. So bildet 12,13 – 14 den Abschluss des Buches mit der Anerkenntnis der Lehre Kohelets: „Als solche kann sie über eine elementare Frömmigkeit und Ethik nicht hinausführen, aber zu ihrer kritischen Selbstklärung beitragen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen.“

31 T. Krüger, BK, 372.

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