Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie [Reprint 2018 ed.] 3110040506, 9783110040500

In der Reihe Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (BZAW) erscheinen Arbeiten zu sämtlichen Ge

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Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie [Reprint 2018 ed.]
 3110040506, 9783110040500

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
A. Prolegomena
I. Die Bisherigen Umweltstudien Zum Buche Kohelet In Grundzügen
II. Die Berechtigung Der Annahme Fremder Einflüsse Auf Kohelet Angesichts Ihrer Historisch Begründeten Wahrscheinlichkeit
III. Die Griechisch-Hellenistische Bildung Der Zeit Kohelets Und Ihre Gnomischen Und Populärphilosophischen Pessimistischen Überlieferungen
B. Literarische Analyse Des Buches Kohelet Im Hinblick Auf Mögliche Umwelteinflüsse
I. Sprachgeschichtliche Untersuchung Typischer Begriffe Und Wendungen Bei Kohelet
II. Motiv- Und Kompositionsanalyse Der Einzelsentenzen Bei Kohelet
III. Der Literarische Gesamtaufbau Des Buches Kohelet Im Vergleich Zu Den Literarischen Gattungen Der Frühhellenistischen Popularphilosophie
C. Koheiet Und Sein Verhältnis Zur Jüdischen Weisheit Und Griechischen Popularphilosophie Im Rahmen Der Auseinandersetzung Von Judentum Und Hellenismus
I. Kohelet Und Die Griechische Popularphilosophie Der Frühhellenistischen Epoche
II. Kohelets Stellung Im Judentum
III. Versuch Einer Skizzierung Der Persönlichkeit »Kohelet« Und Ihrer Geistesgeschichtlichen Bedeutung
Literaturverzeichnis

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Rainer Braun Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie

Rainer Braun

Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie

w G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1973

Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von Georg Fohrer 130

ISBN 3 11 0040Ö0 6 Library of Congress Catalog Card Number: 72—76043 1973 by Walter de Gruyter & Co. .vormals G.J.Göschen'scheVerlagshandlung—J.Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J.Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co.

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 1971 von der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. Sie ist als Versuch zu verstehen, eine bekannte Problematik unter neuen Aspekten zu betrachten. Dies gilt vor allem für den Bereich der sprachlichen, motivischen und formalen Bezüge. Auf die Darstellung sonstiger historischer Zusammenhänge wird aus der Überlegung heraus verzichtet, daß diese Betrachtungsweise oft genug früheren Bearbeitern Anlaß zur Spekulation bot. Außerdem würde sie über den Rahmen der Arbeit hinausgehen. Zu danken habe sich vor allem Herrn Professor D. Dr. Georg Fohrer DD., DD., der die Entstehung dieser Untersuchung von Anfang an in jeder Beziehung umsichtig und verständnisvoll gefördert und ihre Veröffentlichung in der Reihe »Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft« ermöglicht hat. Herrn Professor Dr. Martin Hengel danke ich für manchen wertvollen Hinweis und die Übernahme des Korreferates, dem Ev.-luth. Landeskirchenrat in München und der Dr. Dr. Zantner-Busch-Stiftung in Erlangen für ihr Entgegenkommen bei der Finanzierung der Druckkosten. Meinen Eltern und meiner Frau gilt mein Dank für ihre geduldige Mithilfe bei den Schreibarbeiten. Schließlich möchte ich auch an dieser Stelle meinem ersten theologischen Lehrer, Herrn Professor D. Eduard Ellwein, für alle persönliche Zuwendung und Verbundenheit danken. Würzburg, den 15. Februar 1973

Rainer Braun

Inhalt A. Prolegomena

1

I. Die bisherigen Umweltstudien zum Buche Kohelet in Grundzügen

1

II. Die Berechtigung der Annahme fremder Einflüsse auf Kohelet angesichts ihrer historisch begründeten Wahrscheinlichkeit 1. Die Möglichkeit eines ägyptischen Hintergrundes . . .

3 4

a) »Ägyptizismen« und ihre Berechtigung b) Ägyptische Lehr-, Tendenz- und poetische Schriften und die Wahrscheinlichkeit ihrer Wirkung auf Kohelet

4

2. Kohelet und die mesopotamische Weisheitsliteratur . .

8

a) Ludlul bei nemeqi b) Der sogenannte »Babylonische Kohelet« c) Sonstige mesopotamische Texte und ihre literarischen Topoi . .

9 10 11

3. Nordwestsemitische Einflüsse

5

13

III. Die griechisch-hellenistische Bildung der Zeit Kohelets und ihre gnomischen und popularphilosophischen pessimistischen Überlieferungen 14 a) b) c) d) e)

Der ältere griechische Pessimismus in Epos und Lyrik . . . . Der Pessimismus im Drama Pessimistischer Einfluß in der Komödie Der Pessimismus in der griechischen Philosophie Die Nachwirkung des antiken Pessimismus auf Bildung und Popularphilosophie des frühen Hellenismus aa) Die Institutionen der hellenistischen Bildung bb) Die Unterrichtsstufen und -gegenstände cc) Die geistesgeschichtliche Situation des frühen Hellenismus als Hintergrund der hellenistischen Bildung f) Die frühhellenistische Bildung und das palästinische Judentum

14 22 25 25 32 32 33 35 38

B. Literarische Analyse des Buches Kohelet im Hinblick auf mögliche Umwelteinflüsse 44 I. Sprachgeschichtliche Untersuchung typischer Begriffe und Wendungen bei Kohelet 44 1. Der Begriff Van 45 2. Der Begriff j n r v 47 3. Die Verwendung von Vn» bei Kohelet 48

X

Inhalt 4. » a w n n n n =

5. 6. 7. 8.

ünp mpa (Koh 8 10) und den von Galling herangezogenen allgemeinen, von Humbert speziell auf wbt (»Grab, Balsamierungsstätte«) 37 bezogenen ägyptischen Begriffen ab, da hier bei Kohelet, auch nach der Meinung anderer Ausleger38, eher der Tempel oder Jerusalem gemeint sind. Auch der von Galling als für K o h l 0 i 5 b - i 7 relevant erachtete demotische Text kann keine eindeutige Parallele abgeben 39 , da bei ihm griechische Einflüsse nicht ausgeschlossen sind40. Daß ferner hinter Koh 1015 b das ägyptische Lob des Schreibers steht, konnte Galling ebenfalls nicht zwingend nachweisen. So ist mit Loretz festzuhalten, daß die behandelten Vergleichsstellen zu Kohelet keine echten Parallelen darstellen, da weder genaue Analogien noch beide Aussagenbereiche verknüpfende Traditionen vorliegen. Demzufolge bleibt noch zu untersuchen, inwieweit zwischen größeren Aussageeinheiten der ägyptischen Lehr- und Tendenzschriften und Kohelets im Bezug auf die Zusammenstellung paralleler Topoi irgendeine Abhängigkeit vorliegen könnte. b) Ä g y p t i s c h e L e h r - , T e n d e n z - u n d p o e t i s c h e S c h r i f t e n u n d die W a h r s c h e i n l i c h k e i t i h r e r W i r k u n g a u f K o h e l e t Die ägyptischen Texte, die mit Kohelet gewöhnlich verglichen werden, sind nach Gese41 und Otto 42 mit Ausnahme der eindeutig als A. a. O. 69—72. Galling, K., Der Prediger, HAT 18 2 , Tübingen 1969, 100. 36 Loretz 75. 3« A. a. O. 76 f. 37 Vgl. Erman-Grapow, Wörterbuch, I 284. 38 So Hertzberg 173. 39 Vgl. Loretz 81 f. 40 Loretz 81 Anm. 194. 41 Gese, H., Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit, Tübingen 1958, 20. 33 34

6

Prolegomena

Lehrschrifttum gekennzeichneten Literatur nur sehr bedingt der Weisheitsliteratur zuzurechnen, weshalb ihre Aussageintention, welche an dieser Stelle vorläufig allgemein als »pessimistisch« definiert werden soll, auf die Motivation ihres Entstehens zu befragen ist. Ausgangspunkt für die zwei ältesten dieser Tendenzschriften, die »Mahnworte des Ipuwer«43 und das »Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba« 44 , die beide in die erste Zwischenzeit nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches ( = AR) anzusetzen sind, ist der Zweifel an gegenwärtigen Zuständen, der mit der weltanschaulichen Verunsicherung dieser Übergangszeit zusammenhängt. Beide Texte belegen je eine Alternativmöglichkeit der Auseinandersetzung mit einem neuen Lebensgefühl: Ipuwer polemisiert nach Spiegel45 gegen die sozialen Verhältnisse seiner Zeit, wobei er sich in der reaktionären Haltung eines vordem privilegierten Gesellschaftsgliedes gegen die Forderung »Gleichheit für alle« und die quietistische Gewaltlosigkeit des Interimsherrschers wendet46, gegen die gesellschaftliche Anerkennung der eben nach oben gelangten Neureichen wettert und ihre Maxime des Lebensgenusses ethisch disqualifiziert47. Demgegenüber fordert er, symbolisiert in der Wiederherstellung der alten Kultbräuche, die Restauration der Ständeherrschaft des AR, die Durchsetzung straffer Autorität von Seiten des Regenten 48 , dessen liberale Haltung von ihm als Schwäche gegeißelt wird49. Man kann demnach den Pessimismus Ipuwers durchaus als Zweckpessimismus bezeichnen, da die pessimistischen Momente bei ihm nur Vorwand für reaktionäre Tendenzen sind. Eine andere Beurteilung der Verhältnisse taucht im »Gespräch des Lebensmüden«60 auf: der Zerfall alter, versteinerter Ordnungen 42

43 44

45

46 47 48 49 50

Otto, E., Weltanschauliche und politische Tendenzschriften, in: HO 1/2, Leiden 1952, 111. Ubersetzung bei Erman, A., Die Literatur der Ägypter, Leipzig 1932, 130—148. Vgl. Erman a. a. O. 122ff.; Barta, W., Das Gespräch eines Mannes mit seinem Ba, MÄS 18, Berlin 1969. Spiegel, J., Soziale und weltanschauliche Reformbewegungen im alten Ägypten, Heidelberg 1950, 9—34. A. a. O. 21. A. a. O. 23. A. a. O. 28f. A. a. O. 31 bzw. 34. Uber das Verhältnis von Ipuwer zum Gespräch des Lebensmüden ist nachzutragen, daß eine Klassifizierung des Ipuwer als Angehörigen des Feudaladels im ausgehenden Alten Reich sowie des »Lebensmüden« als des Revolutionsherrschers dieser Ubergangszeit bei Ipuwer durch Spiegel sich aufgrund der von Schmid, H. H„ Wesen und Geschichte der Weisheit, BZAW 101, Berlin 1966, 40 Anm. 151, vorgetragenen Argumente nicht mehr behaupten läßt.

Die historische Wahrscheinlichkeit möglicher Umwelteinflüsse

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öffnet dem Verfasser dieses Textes den Blick für die Realität des Daseins. Zur Illustration sei die Interpretation von Barta in Kürze angeführt 51 : Der Dialog weist zwei konträre Standpunkte des Mannes und seines Ba auf, wobei der Mann aufgrund seines Scheitern im Diesseits sich vom Jenseits Besseres erhofft und den Ba von dieser Haltung überzeugen möchte, der Ba jedoch ihn angesichts der Unsicherheit der Jenseitsvorstellungen darauf hinweist, daß es sinnvoller sei, sich zunächst um eine Sinnerfüllung des Daseins im Diesseits zu kümmern, als schon vorzeitig zu resignieren. Der Standpunkt des Ba verkörpert demnach ein gewisses Fortschrittsdenken, das konventionelle Haltungen zwar gelten läßt, sie aber auf ihre Berechtigung angesichts der veränderten Realität hin überprüft. Trotzdem lehnt Barta es ab52, in der Schrift eine Auseinandersetzung zwischen »Tradition und Revolution«, »Orthodoxie und Hedonismus« zu sehen, sondern bezeichnet sie als Lehrgespräch, das religiöse Unsicherheiten beseitigen will. Es bleibt allerdings die Frage, ob diese mit aller exegetischen Vorsicht vollzogene Einordnung den in diesem Text angedeuteten Konflikt nicht unterbelichtet, da doch der Bewußtseinsstand des Ba etwas bewußtseinsmäßig wesentlich Neues gegenüber der Haltung des Mannes darstellt. Eindeutiger wird man die dem späten Mittleren Reich angehörenden Klagen des Cha-Cheper-Re-Seneb und das etwa gleichzeitige Harfnerlied 63 einem verstärkt skeptisch-euhemeristischen Lebensgefühl zuordnen dürfen, obwohl sie innerhalb gewisser Topoi die Daseinsanalyse des »Lebensmüden« wiederholen54 und sich gängiger literarischer Formen bedienen56. Die zunehmende Bemühung um das Diesseits im Mittleren Reich scheint auch in den figürlichen Darstellungen zur Geltung gekommen zu sein66, ebenso können wir in der Amarnazeit skeptische Tendenzen feststellen. Die pessimistischen Motive der Grabinschrift des Petosiris gehören bereits in die hellenistische Zeit67. Allerdings ist von einem echten 61

52 83 54

65 66 67

Barta, MÄS 18, 39—48, in derselben Arbeit auch ein kritischer Uberblick über ältere Deutungen, 101—121. A. a. O. 100. Vgl. Erman 149; Schmid, BZAW 101, 15. So etwa die Feststellung der Korruptheit der Zeit und der Schlechtigkeit der Menschen, die immer nur dasselbe tun, bei Cha-Cheper-Re-Seneb, vgl. Erman 150, die Feststellung der menschlichen Vergänglichkeit, der Unkenntnis des Todesgeschicks, die Aufforderung zum Genuß des diesseitigen Daseins im Harfnerlied, vgl. Erman 178. Schmid 15 Anm. 21 zu Cha-Cheper; Spiegel 64 bzw. 73. Vgl. Spiegel 72. Vgl. Otto, E„ Ägypten, Stuttgart 1953 3 , 258.

8

Prolegomena

Fragen, wie es aus der ältesten Zeit bekannt ist, hier nicht mehr viel zu spüren, da Petosiris die aus der Weisheit entlehnten Topoi von Gottesfurcht und Vergeltung verwendet. Ferner ist zu fragen, inwieweit die divergierenden Vorstellungen von der Unverfügbarkeit des Willens Gottes einerseits 68 und der weisheitlichen Kenntnis seines Willens andererseits erkennen lassen, daß hier verschiedene Denkbereiche, etwa auch die hellenistische Schicksalstheologie 59 , verwendet wurden. Auch beim so oft mit Kohelet verglichenen etwa gleichzeitigen Papyrus Insinger ist ein derartiger Einfluß nicht von vorneherein auszuschließen 60 . Festzuhalten ist also, daß verschiedene Topoi der behandelten Schriften sich mit den Topoi Kohelets überschneiden, daß jedoch ihr jeweiliger Sitz im Gesamtzusammenhang der Texte und die Motivationen ihrer Verwendung in diesen Texten mit Kohelet nicht verglichen werden kann. Zwar ist die historische Situation der ersten Zwischenzeit der Kohelets nicht unähnlich, jedoch kann man weder einen direkten Bezug von Kohelet zu den Texten dieser Zeit noch zu der von ihnen ausgehenden literarischen Tradition feststellen. Für die späteren Texte ist eher eine mit Kohelet zeitlich parallele, geistesgeschichtlich jedoch verschiedene Entwicklung anzunehmen 61 . So kann von einer direkten oder indirekten Abhängigkeit Kohelets von ägyptischer Literatur aufgrund der zu unmethodischen Auswahl der behaupteten Parallelen nicht die Rede sein. 2. Kohelet und die mesopotamische Weisheitsliteratur Die bisher umfangreichste Bearbeitung der Frage einer Abhängigkeit Kohelets von mesopotamischer Literatur legte Loretz vor 62 , der seine diesbezügliche Untersuchung 63 mit dem vorweggenommenen etwas apologetisch formulierten Ergebnis einleitete: »Daß Qohelet in erster Linie zu dieser Überlieferung (sc. der »geistigen Überlieferung der Semiten des Alten Orients«) zu zählen ist, ergibt sich nicht allein aus der Tatsache, daß er sein Werk in einer semitischen Sprache abgefaßt hat — unter der Hülle hebräischer Wörter könnten j a ägyp68 69 60

61 62

So Bissing, Fr. W. v., Altägyptische Lebensweisheit, Zürich 1955, 146 f. Vgl. Hengel 230 f. Zu dessen Datierung vgl. Loretz 84 Anm. 208; gegen die Ablehnung eines griechischen Einflusses auf Pap. Insinger bei Galling, T h R 6, 366, vgl. Anthes, R., Lebensregeln und Lebensweisheit der alten Ägypter, (Der Alte Orient X X X I I , 2) Leipzig 1932, 39 Anm. 33, der im Verfasser des Papyrus einen Vertreter hellenistischer Lebensweisheit sieht, dazu auch Baumgartner, W., Die israelitische Weisheitsliteratur, in T h R 5 (1933), 263. Vgl. Loretz 89. Vgl. oben Anm. 22.

63

A. a. O. 90—134.

Die historische Wahrscheinlichkeit möglicher Umwelteinflüsse

9

tische oder griechische Gedanken verborgen sein —, sondern auch aus seiner ganzen Art und Weise der Darstellung und seiner Probleme.«64 Diese Hypothese belegt er zunächst mit allgemeinen historischen Erwägungen über den möglichen Zusammenhang von mesopotamischer und israelitischer Schultradition und über die Vertrautheit atl. Schriftsteller mit mesopotamischer Weisheit vor allem in I Reg 5 10, den Proverbien und Hiob65. Wenn nach Loretz auch die Möglichkeit einer Beeinflussung des palästinischen Schulsystems vor der Einwanderung israelitischer Stämme denkbar ist66, kann dennoch nicht aus dem historischen Tatbestand des von politischen Wirren relativ unberührten Fortbestehens der Schulen in Mesopotamien gleiches hypothetisch für den westsemitischen Raum geltend gemacht werden, der zudem auch noch den verschiedensten anderen Einflüssen ausgesetzt war67. Es wäre ferner noch zu beweisen, daß die seltene Erwähnung von Schreibern und Schulen in den atl. Texten eine genaue Analogie zur mesopotamischen Nichterwähnung der Schule darstellt, ebenso hat I Chr 18 16 wohl kaum historischen Quellenwert für die Zeit Davids68, und daß David und Salomo in dieser Hinsicht kanaanäische Traditionen übernommen haben, besagt noch nichts über deren ursprünglich mesopotamische Herkunft, zumal auch unklar bleibt, inwiefern die von Loretz postulierte ursprünglich mesopotamisch beeinflußte Schule später nicht auch ägyptische Weisheit gelehrt haben soll, wie es jedenfalls für die Zeit Salomos durchaus denkbar ist69. Loretz verzichtet darauf, sich diesbezüglich genauer mit Begrich70 auseinanderzusetzen, ebenso auch darauf, darzustellen, wie er sich über allgemeine Analogien aller erwähnten Schultraditionen hinaus eine spezifisch mesopotamisch gefärbte israelitische Schultradition zwischen dem 18. Jahrhundert v. Chr. und Kohelet vorstellt. Im einzelnen sieht Loretz Gemeinsamkeiten zwischen Kohelet und folgenden Schriften: a) L u d l u l bei n e m e q i Der Text geht etwa in die Zeit von 1500—1200 zurück und wurde im 7. Jahrhundert noch gelesen71. Wie Kohelet ist er autobiographisch A. a. o. 90. 86 A. a. O. 91. A. a. O. 92. " A. a. O. 92 Anm. 256, wo Loretz selbst erwähnt, daß die Einführung neuer Schreibsysteme im phönizisch-palästinischen Raum an ägyptischen Einfluß denken läßt. 68 Gegen Loretz 93, zu I Chr vgl. (Sellin-) Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 1969 11 , 265. • 9 Vgl. Fohrer, G., Geschichte der israelitischen Religion, Berlin 1969, 121. 70 Begrich, J., Sofer und Mazkir, ZAW 58 (1940—41), 1—29. 71 Loretz 95. 64 86

10

Prolegomena

abgefaßt 72 , der Sprecher wird ähnlich wie Kohelet als Persönlichkeit der Oberschicht dargestellt. Es geht um das Problem: Aufstieg, Glück und Fall eines Großen angesichts der Wirklichkeit Gottes und das Problem der Theodizee im Zusammenhang von menschlichem Tun und Ergehen, was als Parallele zu Kohelet verstanden werden soll. Zu Beginn seiner Bearbeitung dieses Textes weist Loretz schon darauf hin73, daß Ludlul eher zur babylonischen Hiob-Literatur gerechnet werden muß, und auch später erweckt er eher den Eindruck, Kohelet in die Theodizeeproblematik eines Hiob einzwängen zu wollen. So ist bei Kohelet zwar von Ungerechtigkeit die Rede, er reflektiert aber in diesem Zusammenhang nicht über seine dem Gott dargebrachte Leistung, die Unerkennbarkeit des göttlichen Willens ist für Kohelet nicht Ergebnis, sondern Wirklichkeit, in der es sich einzurichten gilt74. Auch allgemein weisheitliche Topoi, wie die Warnung vor dem unbedachten Gotteseid, bösen Zungen, Neid usw.75, sprechen nicht für eine besonders nahe Beziehung beider Texte. Sehr richtig bemerkt Loretz76, daß durch die schließliche Rehabilitation des Angefochtenen durch den Gott seinem vorherigen Fragen der letzte Ernst genommen ist. So müssen wir trotz gelegentlich frappierender Gemeinsamkeit der Topoi doch eine entscheidende Verschiedenheit der Grundtendenzen feststellen: bei Ludlul die Klage als Folie der Theodizee, wie sie in der Hiob-Literatur allgemein als Modell verwendet wird, bei Kohelet die Erfahrung des Nichtigen als unabänderlicher Setzung Gottes, in der sich der Mensch zurechtfinden muß. So fehlt bezeichnenderweise bei Ludlul die Aufforderung zum carpe diem, die Kohelet als positive Empfehlung den meisten seiner Analysen beigibt. b) Der s o g e n a n n t e » B a b y l o n i s c h e K o h e l e t « Diese ebenfalls im babylonisch-assyrischen Raum sehr bekannte, vor allem in Schulkreisen gelesene Schrift 77 behandelt eigentlich genau wie Ludlul wieder mehr die Theodizeeproblematik: Konventionell-unreflektierter Götterglaube zerbricht an der Erfahrung der Wirklichkeit, was hier über Ludlul hinaus zu der Einsicht führt, daß die Fehlerhaftigkeit der Menschen Schuld der Götter sei, mit der man sich abfinden müsse78. Dieser Gedanke steht aber gerade zu Koh 7 29 in diametralem Gegensatz79. So ist es auch keine besonders auffällige 72 73 74 75 76 77 78

A. a. o . 96. A. a. o . 95. Gegen Loretz 99. A. a. O. 100. A. a. O. 101. A. a. O. 102 Anm. 298. A. a. O. 103.

79

Vgl. auch Loretz 105.

Die historische Wahrscheinlichkeit möglicher Umwelteinflüsse

11

Parallelität, wenn hier wie in Kohelet traditionelle Lehre angegriffen wird80, das Phänomen taucht auch im Lebensmüden, im Harfnerlied usw. auf und gehört allgemein zur pessimistischen Literatur, oder wenn auch hier der Topos vom gemeinsamen Todeslos aller Menschen auftaucht und von der Unerforschlichkeit göttlicher Ratschlüsse die Rede ist 81 . Es bleibt für Loretz auch hier wieder beim »besseren Einblick« in die Welt des Alten Orients82, jedoch erfahren wir nicht 83 , wie sie speziell auf Kohelet bezogen werden kann. c) S o n s t i g e m e s o p o t a m i s c h e T e x t e u n d i h r e literarischen Topoi Die sogenannten »Ratschläge eines Pessimisten«84 gehen zwar von einer Kohelet ähnlichen Daseinsbeurteilung aus und geben wie er Empfehlungen zu einem erfüllten Leben, beziehen aber ein noch ungebrochenes Verhältnis Mensch—Gottheit mit ein, das in seinem do ut des an weisheitliche Vergeltungtheologie erinnert. Auch der Fürstenspiegel, den Loretz heranzieht 85 , vermag nicht mehr als allgemeine Topoi pessimistischer Literatur beizutragen. Der »Dialog zwischen Herr und Diener«86 ist zwar u. U. pessimistisch in seinen Einzelmotiven, jedoch ist die Gesamtintention des Textes nicht eindeutig geklärt 87 , weshalb auch Loretz nicht auf einer direkten Beziehung zu Kohelet besteht 88 und aufgrund einiger beiden Texten gemeinsamer Topoi 89 kann zwar für die Texte ein etwa gleichgeartetes Verhältnis zur literarischen Überlieferung festgehalten werden, jedoch wird damit noch nichts über das Verhältnis beider Traditionen zueinander ausgesagt. Nicht mehr als parallele Topoi sind auch zwischen Kohelet und dem Gilgameschepos festzustellen, obwohl dieser Text auch für den palästinensischen Raum größere Bedeutung hatte 90 . So haben auch schon vor Loretz mehrere Exegeten hier Zusammenhänge besonders im Bezug auf das im Epos von der Götterschenkin dem Helden empGegen Loretz 103. A. a. O. 106. 82 A. a. O. 108. 83 Außer a. a. O. 107: kuschiru - ]VWD Koh 2 21. 84 Vgl. a. a. O. 108 f. 85 A. a. O. 110. 8« A. a. O. 111. 87 Ist sie pessimistisch im Sinne der älteren, oder satirenhaft im Sinne der jüngeren Interpreten? Vgl. dazu a. a. O. 112f. 88 A. a. O. 114. 89 Warnung vor der Frau a. a. O. 115, Vor- und Nachteile des guten Mahles und Todesschicksal der Menschen a. a. O. 116. 80 A. a. O. 117, besonders Anm. 370. 80

81

12

Prolegomena

fohlene carpe diem erblickt91. Jedoch steht dieses carpe diem in anderem Zusammenhang, denn seine Begründung ist, wie Loretz selbst bemerkt92, grundlegend verschieden: es geht von der Beurteilung des Menschenlebens aus, während bei Kohelet auch der Genuß dem Willen Gottes unterworfen ist. Auch die spezifisch weisheitliche Literatur, die Loretz mit dem Spruchgut Kohelets vergleicht93, besagt angesichts der Ähnlichkeit von Sprichworten in allen Weisheitsliteraturen nicht mehr, als daß man in Mesopotamien ähnliche Sprüche wie in der israelitisch-jüdischen Weisheit kannte. Eine gegenseitige Beeinflussung liegt durchaus im Rahmen des möglichen, wenn sie auch nicht notwendig angenommen werden muß. Für Kohelet ist jedenfalls eher ein direkter Bezug zur Spruchweisheit seines Volkes anzunehmen. Loretz versucht außerdem, wenn auch nicht apodiktisch, nachzuweisen, daß Kohelet in der Verwendung seines Zentralbegriffes Van vom Gilgameschepos abhängig sei, da hier wie dort das Tun der Menschen als »Windhauch« gekennzeichnet sei94, wobei er allerdings selbst zugesteht, daß bei Gilgamesch die Heldentat der Hauptfiguren vom Vergessenwerden ausgenommen und damit unvergänglich ist, und daß zwischen der Abfassung beider Texte immerhin zwölf Jahrhunderte vergangen sind, weshalb Kohelet wohl der biblische Gebrauch näher liegen dürfte95. Überdies weist Dahood96 darauf hin, daß als hebräisches Äquivalent für das akkadische sarü eher nn geeignet wäre. Ähnlich verhält es sich mit dem von Loretz97 eingebrachten Topos von »Name und Gedächtnis«98. Loretz konstruiert einen Zusammenhang von DB? und IDi", der vielleicht für den alttestamentlichen und akkadischen Gebrauch zutreffen mag, womit jedoch über die Verwendung von DE? bei Kohelet noch überhaupt nichts ausgesagt ist. Die entsprechenden Belege bei Kohelet, der bekanntlich jeden Gedanken an Nachruhm abweist100, besagen für n© einen anderen Bedeutungsinhalt101. 91

92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

G. Fohrer, H. W. Hertzberg, K. Galling, R. Gordis, vgl. a. a. O. 116 Anm. 366; 117 Anm. 368. A. a. O. 118. A. a. O. 122—126. A. a. O. 126ff. Vgl. unten 45. Rezension von Loretz in: Bibl. 46 (1965), 234. Loretz 128—132. A. a. O. 128. A. a. O. 230. Vgl. Koh 1 n 9 5 . In Koh 6 4 mit der Namenlosigkeit der Fehlgeburt die Wertlosigkeit ihres Seins (vgl. Hertzberg 134), ähnlich in 6 10 Name als Verfügtheit des Seins durch Gott

Die historische Wahrscheinlichkeit möglicher Umwelteinflüsse

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Zusammenfassung: Die von Loretz bearbeitete Literatur vermag zwar eine interessante Illustration zu manchen Gedanken Kohelets aus dem mesopotamischen Bereich zu geben, jedoch bleibt das Problem der verschiedenen Grundintention beider verglichenen Textbereiche nach wie vor bestehen, da es Loretz nicht gelingt, über gemeinsame, gelegentlich noch dazu allgemein weisheitliche oder pessimistische Topoi hinaus eine allgemeine Aussagemotivation und -form festzustellen. So ist es bezeichnend, daß die mesopotamischen Texte die Unvollkommenheit des irdischen Daseins zum Anlaß theologischer Reflexion nehmen, während Kohelet das Dasein als göttliche Gegebenheit hinnimmt, deren Phänomene er konstatiert und sich danach einrichtet. Auch die in Mesopotamien vorwiegende Dialogform bewahrt davor, hier allzu schnell Parallelen sehen zu wollen, da bei Kohelet ausschließlich der Monolog verwendet wird. Eine weitere Schwierigkeit, die Loretz selbst sieht 102 , ist die Frage der Vermittlung des von ihm bearbeiteten Textgutes über mehr als ein Jahrtausend hinweg. Der Hinweis auf die Schulüberlieferung bleibt zu pauschal, um als echtes historisches Argument gewertet werden zu können. Aufgrund dieses Materials wird keineswegs die behauptete ausschließliche Beziehung Kohelets zur geistigen Tradition seiner semitischen Umwelt 103 als gesichertes Ergebnis angenommen werden können, da über spätere Einflüsse gerade auf die hebräische Schul- und Weisheitstradition geschwiegen wird. 3. Nordwestsemitische

Einflüsse

In mehreren, vor allem sprachvergleichenden Studien 104 versuchte Dahood, die Abfassung des Buches in Phönizien bzw. Nordpalästina nachzuweisen. Jedoch läßt sich, wie Hengel zutreffend bemerkt 105 , dieser sprachliche Einfluß leicht aus dem Sachverhalt erklären, daß Palästina seit der Perserzeit unter phönizischem Kultureinfluß stand, wobei zu beachten ist, wie sehr diese Kultur sich fremden Einwirkungen geöffnet hatte 106 . Leider liegen bis jetzt keine umfangreichen Zeugnisse eines ugaritischen Pessimismus vor, die es Dahood ermöglichen könnten, über sprachgeschichtliche Hypothesen hinaus Verknüpfungen beider Gedankenkreise herzustellen 107 . (Hertzberg 144), in 7 l weisheitlich-daseinsbezogen der Wert des guten Rufes (vgl. Loretz 227 Anm. 47) gegenüber dem unweisen Gebrauch des Salböls. 102 103 104 106 106

Loretz 133 f. A. a. O. 134. Vgl. die Zusammenstellung in Bibl. 47 (1966), 264 Anm. 2. Hengel 235. 107 A. a. O. 61. Vgl. Dahood, Bibl. 46, 235.

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Prolegomena III. D I E G R I E C H I S C H - H E L L E N I S T I S C H E B I L D U N G D E R Z E I T K O H E L E T S UND I H R E GNOMISCHEN UND P O P U L Ä R P H I L O S O P H I S C H E N PESSIMISTISCHEN Ü B E R L I E F E R U N G E N

Trotz aller Abwehr griechischer Einflüsse auf Kohelet, die teilweise mit der in der Diskussion leider oft üblichen Ignoranz meist ohne genauere Kenntnis des Abgelehnten vor sich geht, ist der Sachverhalt nicht zu leugnen, daß Kohelet, der nach der Meinung der meisten Exegeten sein Werk Mitte bis Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. verfaßte, immerhin auf ein knappes Jahrhundert hellenistischer Bildung in seinem Bereich zurückblicken konnte 108 . Daß er, als Weisheitslehrer 109 , mit dieser Bildung in Berührung gekommen sein mußte, ist nicht nur aufgrund der Internationalität der Weisheitslehren anzunehmen 110 , sondern auch bei unvoreingenommenen Exegeten allgemein anerkannt. Leider wurde durch die ältere, fast nur subjektiv-eklektisch verfahrende Exegese, die den griechischen Bereich bearbeitete, aufgrund ihres mehr spekulativen Vorgehens keine Gesamtdarstellung derjenigen Literatur gegeben, die für einen Vergleich mit Kohelet in Frage kommt. Auch Ranston ging noch zu sehr auf die Suche nach Einzelparallelen, als daß er die Zusammenhänge wirklich verdeutlicht hätte. Demnach bleibt die Aufgabe, die auch Galling richtig gesehen hat 1 1 1 , im Rahmen einer übergreifenden Darstellung über das Verhältnis: Kohelet — griechischer Geist seiner Zeit nachzudenken. a) D e r ä l t e r e g r i e c h i s c h e P e s s i m i s m u s in E p o s u n d L y r i k Die Bedeutung der pessimistischen Anschauungen für das Daseinsverständnis der Griechen haben besonders Diels 112 und Nestle 113 untersucht. Sie behandelten dabei vor allem die Elegie, die mit ihrem Pessimismus auch andere Gattungen beeinflußt hat. Daneben sind für die Frühzeit des antiken Pessimismus Homer und Hesiod von Bedeutung. Homers pessimistische Partien finden sich vor allem dort, wo er seine Helden über das menschliche Dasein reflektieren läßt. Die Zur allgemeinen Darstellung hellenistischen Einflusses in Palästina vgl. Hengel Kap. I — I I I passim, für Kohelet speziell soll an anderer Stelle noch auf das hellenistische Bildungswesen eingegangen werden. 1 0 9 Vgl. Koh 12 9. no Vgl. Fichtner, J., Die altorientalische Weisheit in ihrer israelitisch-jüdischen Ausprägung, B Z A W 62 (1933), 24. 108

111 112 113

Vgl. oben 2, Anm. 16. Diels, H., Der antike Pessimismus, in: Schule und Leben, Berlin 1921. Nestle, W., Der Pessimismus und seine Überwindung bei den Griechen, in: Neues Jahrbuch für die klassische Altertumswissenschaft 24 (1921), 81—97.

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Menschen werden dabei als SsiAoi ßporroi bezeichnet, ihr Werden und Vergehen ist angesichts der Ewigkeit des Kosmos ebenso jammervoll wie die beschränkte Möglichkeit des Glücks, das Zeus nach Willkür seinen Günstlingen zuteil werden läßt 1 1 4 und das dann oft bezeichnenderweise in Lebens- und damit Leidverkürzung besteht 115 . Ihr Unglück ist schärfer als das Geschick der Tiere, da diese Not und Tod nicht gleichermaßen intensiv empfinden 116 . Die Generationenfolge ändert nichts: Die Söhne sind schlechter als die Väter, das jetzige Geschlecht dem früheren heroischen gegenüber minderwertig117. Dennoch ist das Dasein tiq>' f)Aico als Sklave dem tristen Königtum im Hades vorzuziehen. Für Homer kann deshalb von einem Stimmungspessimismus gesprochen werden, der auf die Schattenseiten einer heroisch-eristischen Existenz eingeht, die jedoch im übrigen in der Freude an Kampf und Abenteuer durchaus auch in ihren positiven Seiten geschildert wird 118 . Vertieft finden wir pessimistische Strömungen bereits bei Hesiod, der sich literarisch mit den sozialen Mißständen seiner Zeit auseinandersetzte. Die Unterdrückung, die er als Bauer vom Adel erfährt, führt er auf die allgemeine Situation der Menschheit zurück, die durch die Mißgunst der Götter 119 statt dem Guten das Böse bekam 120 , während sich die Götter das Glück reservierten. Einziges Mittel, das Leben sinnvoll zu gestalten, ist angesichts der fortschreitenden menschlichen Depravation 121 die Arbeit 122 . So zeigt sich der Pessimismus Hesiods als durch die menschliche Unzulänglichkeit motiviert, die sich aus der göttlichen Determinierung des Menschen herleitet. Die Götter, besonders Zeus, werden vom Dichter für die Verderbtheit der Welt verantwortlich gemacht, der Mensch kann sich ihnen gegenüber nur durch die Ausschöpfung seiner Möglichkeiten behaupten. Die meisten Vertreter des lyrischen Pessimismus sind in Jonien beheimatet. Dies ist nach Baumstark auf den dortigen orientalischen Einfluß in geistiger und kultureller Entwicklung zurückzuführen 123 , da besonders durch den Handel mit dem Orient früh eine Verfeinerung und Sättigung der Lebensart eintreten konnte. Besonders die "4 "5 u« ii' "8 ii® if®

A. a. O. 82. Horn. Od. 15, 246 f. Nestle ebd. Horn. Od. 2, 276f., II. 12, 449. Nestle 83. Vgl. Hesiod fr. 247 Rzach. Theogonie 585ff.; Erga 59ff. m m Erga 109ff. A. a. O. 311. 123 Vgl. Baumstark, A., Der Pessimismus in der griechischen Lyrik, Heidelberg 1898, 8, wo der Verfasser auf eine diesbezügliche Stelle in Plato, Laches 188 D, verweist.

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Insel Keos fällt als Heimat des jonischen Pessimismus ins Auge, die in der Antike dafür bekannt war, daß sich hier die alten Leute, die nichts mehr vom Leben zu erwarten hatten, durch Schierling ein vorzeitiges Ende verschafften 124 . Außerdem war sie die Heimat des Sophisten Prodikos, der im pseudoplatonischen Axiochos als typischer Pessimist fungiert 125 , sowie der pessimistischen Lyriker Simonides und Bakchylides 126 . Grundlage für die Lyrik wurde das ephemere Lebensgefühl 127 , das von dem Wechsel des Tagesgeschicks unterworfenen menschlichen Dasein her den Namen trägt. Was bei Homer noch mehr Umrahmung war, tritt in der Elegie in den Mittelpunkt. Als ältester Lyriker gilt Archilochos, der etwa 680—640 v. Chr. lebte 128 . Er begründet seine Forderung des Ertragens menschlicher Unzulänglichkeit damit, daß durch Tränen nichts besser, durch Genuß nichts schlimmer werde 129 , bezeichnet die Klage als weibisch130, preist die Geduld als Himmelsgeschenk 131 , Arbeit und geistige Betätigung des Menschen als Möglichkeit, sich zur rechten Zeit im Blick auf die überlegene Macht der Götter und auf tuxt| und poipa als unsichere Begleitumstände des Glücks eine positive Lebensmöglichkeit zu schaffen 132 . So kann man Archilochos als empirischen Pragmatiker bezeichnen, der aufgrund seiner Lebenserfahrung überkommene Ansichten relativiert: der Mensch soll sich nach ihm mit seinen Gegebenheiten abfinden, sein Handeln soll er nach seinem individuellen Wohlergehen richten, was die Absage an die Normen der episch-heroischen Dichtung bedeutet. Eine etwas anders geartete Kritik an diesen Normen übt die nachfolgende Generation der griechischen Elegiker. Semonides von Amorgos, Mimnermos und Hipponax gehören einer »philiströsen«133 jonischen Bürgerlichkeit an, welche die alte Vitalität der tragischen Traditionen im Epos durch negatives Hadern über die Unzulänglichkeit des Daseins und den damit verbundenen Wunsch nach ungestörtem Genuß der gottgewährten Güter ersetzt. Semonides formuliert seine Lehre als erster als Anrede an einen »Knaben« und führt damit den Typos der Lehrübermittlung von der 124

Nach Strabo X, 486; Val. Max. II, 68, vgl. auch Mimn. fr. 6D. Ax. 366 c. 126 Diels a. a. O. 20; Nestle a. a. O. 87. 127 Vgl. Frankel, H., Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums 2 , München 1962, 149. 128 Zur Chronologie vgl. Frankel 151 Anm. 11. 129 Vgl. fr. 10 D. 130 131 fr. 7 D. Ebd. 132 fr. 8, 14, 67 a, 68 D. 133 So Frankel 229. 126

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älteren auf die jüngere Generation in die Elegie ein134. Seine Topoi sind die geläufigen der pessimistischen Literatur: Zeus hat allein Übersicht über den Sinn alles Geschehens, der Mensch ist angesichts seiner Ephemerität ahnungslos wie das Vieh und hofft blind auf Besserung trotz Alter, Tod, Krankheit und Gefahren135. Die positive Folgerung ist bei Semonides leider nur in einem Vers enthalten: der Mensch soll sich durch all dieses die Lebensfreude nicht verderben lassen. An anderer Stelle136 empfiehlt er den unbedingten Lebensgenuß als Ergebnis aus der Tatsache der Lebenskürze und Todesbedrohtheit des Menschen. Auch mit dem hesiodischen Motiv des Weibes als Grund allen Übels beschäftigt er sich in seinem »Weiberspiegel«, wo er die Frauen abwertend mit verschiedenen Tierarten vergleicht, zum Abschluß aber das tugendhafte Weib lobt137. Das Fragment 6 ähnlichen Inhalts scheint fast identisch aus Hesiods Erga 720 f. übernommen zu sein138. Die Abneigung der Lehren dieser Zeit gegen die luxuriöse Frau ist seitdem als Topos nicht mehr aus dem antiken Pessimismus wegzudenken. Mimnermos, der um 600 in Kolophon lebte, war ähnlich wie Archilochos mehr Elegiker als der mehr satirische Semonides139. Sein Motivschatz enthält außer kriegerisch-heroischen Anklängen vor allem Liebesmotive, weshalb ihm später die Schöpfung der erotischen Elegie zugeschrieben wurde140: Sein Hauptthema ist der Gegensatz Fülle der Jugend — Entbehrung des Alters, das er lieber gar nicht erst erleben möchte 141 . Wie Archilochos und Semonides empfiehlt er, ohne Rücksicht auf das Gerede der Bürger dem eigenen Genuß nachzugehen142, denn das ist das gottgewollte Privileg der Jugend 143 . Das Alter läßt ohnehin die kurze Blüte in Sorgen um Krankheit, Vermögen und Tod ersticken144. So führt Mimnermos ein homerisches Motiv145, dem wir später im gleichen Rahmen noch begegnen werden, in Einzeltopoi über. Während für die anderen schon behandelten beiden Lyriker das Leben als ästhetisches Ereignis im Bereich des Eros oder der Kunst 134

A. a. O. 230. Vgl. fr. I D . 136 fr. 3. 135 fr. 7, Ubersetzung bei Frankel 232—234. 138 Frankel 235. 139 Vgl. Frankel 238; Baumstark a. a. O. 15. Schon hier kann, wie später für die jüngere Entwicklung, eine enge Verbindung beider Gattungen festgestellt werden. 140 Frankel 240. 141 fr. I D . 142 fr. 7 D. 143 fr. 2 D . 144 Ebd., vgl. Frankel 241. 145 II. 6, 146, vgl. Frankel 240. 135

B r a u n , Kohelct

2

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seinen Wert besitzt, ist es für Mimnermos der Lebensvorgang, das Tun, das nur im Moment des Geschehens Erfüllung bedeutet146, während ewiges Leben für ihn eher Fluch als Segen darstellt, wenn es nur im permanenten Greisentum besteht. So wird der Tod für ihn ähnlich wie für Anakreon147 zum Befreier aus der Last des Alters, allerdings fehlt der Gedanke, durch Selbstmord dem Zwang des Geschehens zu entgehen, den er mythisch vielleicht in der Mühsal des Helios abbildete148. Durch die Verpflanzung von Elegie und Jambos ins griechische Mutterland149, die mit der Übernahme der Aulodie von Jonien auf das Festland verbunden war und dort wie diese Musik bei den Nichtjoniern gemischtes Empfinden auslöste150, geriet auch Solon in den Bannkreis dieser Dichtung. Seine Auseinandersetzung mit Mimnermos, dem er eine zu negative Sicht des Alters vorwirft161, zeigt aber, daß er nicht bereit ist, diesen Anschauungen zu folgen, die er angesichts der cnraiBeucricc und Korruptheit seiner athenischen Mitbürger auch nicht auf göttliches Verhängnis152, sondern auf menschlichen Unverstand zurückführt und damit als behebbar ansieht163. Deshalb sieht er sich zu politischer Tätigkeit bis zum Alter gezwungen, erst in diesem Lebensabschnitt kann er sich dem carpe diem zuwenden154. Solon stellt deshalb einen gewissen Übergang dar: vom Pessimismus der Elegie abgehend stellt er dessen Ergebnisse als Folie seinen positiven Forderungen gegenüber. Obwohl er Elegie und Jambos also formal verwendet, ist die Intention seiner Aussage mehr philosophisch an der faideia seiner Umwelt interessiert, womit er Sokrates und Plato in gewissem Sinne vorgreift. Gleichzeitig zeigt sich aber daran, daß er noch mehr als die jonischen Dichter den Strukturen der Polis verhaftet ist. Der um 557 v. Chr. geborene Keer Simonides gilt als der Erfinder der nichtmythologischen Chorlyrik. Neben Preisliedern für nationale Helden verfaßte er besonders Gedichte für die Totenfeiern, die sogenannten Threnoi155. Die Totenklage wird die dichterische Form Frankel 242 f. fr. 43, 3—6. 1 4 8 fr. 10 D, vgl. Frankel 244. 1 4 9 Baumstark 17. 150 vgl. Pausanias X 7, 5f. 1 6 1 Frankel 250. 1 6 2 fr. 3D, vgl. Frankel 253. 1 5 3 Ebd. 3, 26, vgl. Fränkel 255. 1 6 4 fr. 20 D, vgl. Frankel 250. 1 6 6 Frankel 346. E t w a gleichzeitig tauchen Klagelieder verstärkt im exilischen Judentum auf, die von den späteren Ubersetzern mit dem gleichen griechischen Terminus versehen wurden, vgl. auch Baumstark 27. 146

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seines Pessimismus, der als Kritik an die positive Weisheit der »Alten« ergeht166. Besonders in drei Fragmenten relativiert er die überkommenen Werte mit folgenden Gedanken157: Tüchtigkeit und Größe sind der Gottheit vorbehalten 158 , bei den Menschen ist dagegen nichts dauerhaft 159 ; daher ist das »Nicht Schlechte« eigentlich schon gut160, das Morgen ist ungewiß161, die Menschen sind allgemein schlecht162, der Schein geht über die Wahrheit, weil die Gottheit den Menschen verblendet hat 163 . So wird menschliche Mühe zum fruchtlosen Kummer164, das Auf und Ab des menschlichen Lebens166 endet im unentrinnbar verhängten Tod166. Auch der Nachruhm des Tüchtigen ist Illusion, da sein Andenken ihn wie sein Grabmal nur kurze Zeit überdauert 167 . Simonides kommt von dieser Daseinsbetrachtung her zu einem Ergebnis, das er als Empfehlung auf die Verständigen einschränkt, da er die meisten nur als Toren bezeichnen kann 168 . Seine Überlegung geht weiter dahin: Da es keine Neutralität zwischen Qualitäten gibt, überwiegt die Qualität, deren Aporie geringer ist169, d. h. das Ziel ist nicht mehr das absolut Schöne und Gute, das den Göttern vorbehalten ist, sondern den Menschen ist es angemessen, sich mit der relativen Schattierung des Guten, dem Nicht-Häßlichen, zu begnügen. So bleibt auch die Gabe der dpeTr| den Gottgeliebten (QeöcpiAoi) vorbehalten, der menschlichen Leistung ist sie bei Simonides im Gegensatz zu Hesiod verschlossen170. Ergebnis menschlicher Leistung, die er mehr als Lebensklugheit auffaßt 171 , ist nicht mehr die Macht, das vergangene Ideal der archaischen Epoche172, sondern die Freude, der volle Genuß, der allerdings die Harmonie von Freude, Weisheit und Gesund158 167 168 159 1.0 161 162 183 181 186 188 187 188 189

179 1.1

172

fr. 57, vgl. Baumstark 26. fr. 5, 8, 57, vgl. Baumstark ebd. fr. 5, 58, 82. fr. 67, 62. fr. 5, 7, 19 ff. fr. 32, vgl. Frankel 347. fr. 2, 10—14. fr. 55; 76 bzw. 42. fr. 36; 39, l f . fr. 38; 39, 3f. fr. 65, Epigramm 122, 2. fr. 59, vgl. Frankel 349. Frankel 354. Nach dem Grundsatz des zeitgenössischen polaren Denkens des Parmenides, vgl. Frankel 355. fr. 10, vgl. Markus 10, 27 par. Auch sein Gott ist als Troc(Jnr)Ti$ eine Übersteigerung des TroAupriTis Odysseus, vgl. Fränkel 359. Fränkel 367 Anm. 34. 2*

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heit voraussetzt 173 , ohne den er sich aber auch das Leben der Götter nicht vorstellen kann. So finden wir in Simonides den ersten Vertreter eines reflektierten Pessimismus, denn er gelangt aufgrund der Verwertung eigener Erfahrungen zu einem Ergebnis, das zwar im gängigen pessimistischen Rahmen bleibt, jedoch um charakteristische Züge bereichert ist. Als erster großer Vertreter des Epigramms gewinnt er überdies die Bedeutung, nicht nur ein Vorläufer der pessimistischen Sophistik, sondern auch Begründer der pessimistischen Epigrammatik zu sein. Die unter dem Namen »Theognis« bekannte Sammlung von Elegien wird man schon wegen ihrer auf mehrere Jahrhunderte zu verteilende Entstehungszeit 174 und der Verschiedenheit ihrer Einzelaussagen 175 mit äußerster Vorsicht betrachten müssen. Wenn Galling von einer »aristokratischen« Grundtendenz des Werkes spricht 176 , hat er damit nur bedingt recht, da zwar von der Verachtung für die in blinder Hoffnung träumende Masse die Rede ist 177 , aber konstruktive Ideale 178 ebenso wie Paränese oder Mahnung zum Traditionsbewußtsein fehlen. Es fehlt das Verlangen nach Ruhm 1 7 9 ebenso wie die in Schilderung aristokratischen Mäzenatentums, aristokratischer Repräsentation, Bildung oder Kunst. Das Geld dient dem Genuß 180 ; Sport und Wettbewerb sind ebensowenig gefragt wie der Neid, die Begleiterscheinung überragender Größe. Konstitutiv für »Theognis« ist vielmehr der praktische Realismus eines degenerierten Kleinadels, der seine Bequemlichkeit pflegt, aber zu großer Leistung nicht mehr imstande ist 181 . So lehrt die Sammlung unter Verwendung der gängigen Topoi meist nur praktisches Verhalten im Hinblick auf die Unzuverlässigkeit und Schlechtigkeit der Menschen182. Das Handeln des Einzelnen wird dabei von der Einsicht bestimmt, daß der Mensch über das positive oder negative Ergebnis seines Tuns nicht verfügen kann und sich mit dem Genuß seiner begrenzten Möglichkeiten bescheiden soll. Bakchylides, neben seinem etwa vierzig Jahre älteren Verwandten Simonides bedeutsamster Vertreter griechischer Chorlyrik 183 , verwen73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

A. a. o . 367. Vgl. Aly, W., Art. »Theognis«, in: P W V A, 1972—1984, bes. 1979ff. Frankel 462 ff. T h R 6 (1934), 365. Was übrigens eher pessimistisch als aristokratisch erscheint, vgl. Semonides fr. 1. Mit Ausnahme von Theogn. 947. Mit Ausnahme von 865ff., 237ff., 409f. 903 ff. Frankel 460 spricht in diesem Zusammenhang von Opportunismus. Auf die noch spezieller im motivgeschichtlichen Teil einzugehen sein wird, vgl. 1 8 3 Fränkel 485. unten 56 ff.

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det pessimistische Motive nicht reflektiert, sondern als Ausdruck der elegischen Stimmung seiner gebildeten Zeit184. Ihm geht es mehr um die stimmungsvolle Ausgestaltung seiner in Liedform vorgetragenen Mythen, als um die Tiefe eigener Aussage. So gehen seine pessimistischen Gedanken nicht über das Bekannte hinaus: die poipa unterscheidet nicht zwischen Guten und Bösen185, der edle Mensch ist ihr Spielball, Segen oder Krieg ihr Werk186. Die dps-rr) bleibt wie bei Simonides den »Kindern der Glücklichen« vorbehalten, deren Glück darin besteht, daß sie sich für sie entscheiden können187. Im Siegeslied auf Hieron188, das um 476 entstand, finden sich die Motive von Götterneid189, von der Flüchtigkeit des irdischen Glücks190, der Gemeinsamkeit des über alle Menschen verhängten Aufenthalts im Hades191, und die bekannte Folgerung, daß Nichtgeborenwerden das Beste sei192. Sein etwas älterer Zeitgenosse Pindar zeichnet den Menschen ebenfalls in seiner Beschränkung 193 : Er ist der Moira unterworfen 194 und kann Verhängtem nicht aus dem Weg gehen, sondern muß es ertragen lernen195. Ein höherer Wille, der alles vollbringt196, ist der alleinige Urheber aller menschlichen Tüchtigkeit und Weisheit. Schwerer jedoch wiegen die Negativa: Selbst Freude enthält Leid197, der Mensch, als TTOAÜTTOVOS charakterisiert 198 , weiß nicht um seine Zukunft 199 und lebt von Neid und Tod bedroht dahin200. Nach dem Tod erwartet ihn aber, und das ist für Pindar entscheidend, die ausgleichende Gerechtigkeit und ewiges Leben. Pindar zeigt als einziger aller Lyriker die Möglichkeit der Uberwindung des Pessimismus im Jenseitsglauben 201 , zugleich war er der 184 185 186 187 188 189

Baumstark 27. XIV, 3f., vgl. Baumstark ebd. fr. 62, l f . Baumstark 30. A. a. O. 31. Dort Vers 36.

iso v. 50—55. 191 183

194 195 196 197 198 199 200 201

192 V. 63ff., 153ff. V. 160ff. Pindar, Ol. ( = Olympische Oden) I 143ff.; III 43ff.; Nem. ( = Nemeische Oden) IX, 46f.; Pyth. ( = Pythische Oden) III, 61 f.; Isth. ( = Isthmische Oden) V, 14ff.; zur Chronologie vgl. Frankel 484. Ol. II; X I I ; Pyth. III, 104f.; Nem. XI, 39 fr.; Isth. IV, 5f. Pyth. II, 88 f. 93; III, 62. Ol. XII, 83. Pyth. XII, 28 f. Nem. I, 33. Pyth. XII, 30; Nem. IV, 61; V, 40f.; XI, 42f. Ol. VI, 4; Pyth. XI, 29. 76 ff. Vgl. Baumstark 34.

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letzte bedeutende Chorlyriker, da die Chorlyrik nach seiner Zeit nur noch in der Tragödie eine untergeordnete Rolle spielte202. Auch die Elegie trat zurück und fand nur im Epigramm ein gewisses Nachleben, während der Pessimismus vor allem Eingang in die nachsokratische Popularphilosophie fand. b) Der P e s s i m i s m u s im D r a m a Die Geschichte pessimistischer Motive im griechischen Drama ist eng an die lyrische und philosophische Entwicklung geknüpft 203 , wobei man in ihr wie bei Lyrik und Epos zwischen verschiedenen Arten von Pessimismus unterscheiden kann: dem Stimmungspessimismus der Komödie und des Aischylos, der ihn als Folie seiner Theodizee verwendet204, zwar selten den Selbstmord erwähnt, jedoch den Tod, wie alle Pessimisten, als Retter aus den Mühen eines notvollen Lebens erachtet 205 , einerseits, den mehr im Zusammenhang mit dem Beginn der sogenannten »Griechischen Aufklärung«206 stehenden reflektierenden Pessimismus eines Sophokles und Euripides andererseits, der sich besonders auch mit den gnomischen Überlieferungen auseinandersetzt. Während also Aischylos durch seinen optimistischen Vergeltungsglauben die Konflikte zwischen Mensch und Gottheit noch mit den Modellen der Schulweisheit und des Hybrisgedankens 207 lösen kann, was sich aus seinem geistigen Verhaftetsein in die Strukturen der Polis erklären läßt, bezieht der in der athenischen Blüte lebende Sophokles die jonische Entwicklung mehr ein. Der Konflikt wird radikalisiert: Aischylos erweitert die Theodizee noch durch den Gedanken, daß auch bei Kollektivschuld der betroffene Einzelne durch seine Hybris das Götterurteil noch bestätigt, während Sophokles demgegenüber die automatische Schuld des Täters an seinem Vergehen in Frage stellt. Das Erleiden wird bei ihm zur Grunderfahrung der menschlichen Natur, der Unscheinbarkeit und Ohnmacht gegenüber göttlicher Größe208. Die tragische Größe des Menschen ist demgegenüber die Zustimmung zum Leiden209, die im »Oedipus Tyran202 203 204 205 206

207

208 209

Frankel 484. A. a. O. 577ff. Vgl. Schmid—Stählin I, 2; 271. A. a. O. 282. So Geffcken, J., Die griechische Aufklärung, Neue Jahrbücher 51 (1923), 15—31. Das nicht erklärliche Leid wird heroisch im Schaffen des Menschen, weisheitlich in seiner oxoqjpoaOvri, wo auch etwa der Gedanke der »Furcht als der Weisheit Anfang« auftaucht, oder auch im theologischen Hybrisgedanken bewältigt, vgl. Opstelten, J. C., Sophocles and Greek Pessimism, Amsterdam 1952, 26—28. Opstelten 49. A. a. O. 53.

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nos« ihre religiöse Deutung erhält. So steht bei Sophokles auch weniger die Reflexion über Fatum und Götter, als über das menschliche Dasein im Vordergrund210, womit auch auszuschließen ist, daß sein Pessimismus der orphischen Schilderung der irdischen Mühen vor dem Tode entnommen ist 211 , da er nicht von einem Endgericht redet212. So vertritt Sophokles einen Erziehungspessimismus213, der traditionell weisheitliche Motive aufnimmt214 und gegenüber der iroAuTrpaypiovia des Volkes und der Sophisten seine Forderung nach aristokratischer dnrpaypoCTUvri erhebt 2 1 5 .

Die Krise der Tradition, die bei Euripides ihre volle Entfaltung erfährt, bahnt sich demnach bei Sophokles schon an. Nicht nur, daß Sophokles als Asklepiospriester nicht mehr an den Vorstellungen der olympischen Religion festhält und seine Reflexion enttheologisiert218, sondern er zeigt sich wie keiner vor ihm den jonischen Einflüssen gegenüber stark aufgeschlossen, die in ihrem Individualismus das beinhalten217, was gemeinhin als eine Wurzel der Sophistik gewertet wird218. Diese Verstärkung der anthropologischen Reflexion zeugt auch vom »stillen Atheismus« seiner gebildeten Umwelt219 der Volksreligion gegenüber. So umfassen auch seine pessimistischen Hauptaussagen alle bis jetzt erwähnten Motive in verhältnismäßig großer Dichte 220 : Der Aufstieg des Nichtsnutzes und die Katastrophe der Wertvollen werden von den Göttern konserviert, deren Ungerechtigkeit die Leiden der Unschuldigen an der Korruptheit der Welt verursacht. Die Vergänglichkeit der Dinge und die Flüchtigkeit des menschlichen Daseins angesichts der Blindheit und Täuschbarkeit seines Geschlechts bringen den Menschen zum Lebensüberdruß und Selbstmord. Das alte pessimistische Motiv, das Euripides in Iph. Aul. 1252 »KOCKCO5 £fjv Kpeicrcrov f| KCCAGOS öavsiv« formuliert und das ursprünglich gegen die heroische Ausdeutung des Todes gerichtet war221, beantwortet Sophokles dahingehend, daß der Tod, bei ihm A. a. O. 57. A. a. O. 9ff. 2 1 2 A. a. O. 23. 2 1 3 A. a. O. 108. 2 1 4 Aufforderung zur oxo9poiarr|s bezeichnet wird253, verbunden, sondern haben mit ihnen auch den anthropozentrischen Ansatzpunkt gemeinsam. Aufgrund der Lebenserfahrung gelangen sie zur Erkenntnis der Wertlosigkeit der gewöhnlichen Meinung ihrer Umwelt in bezug auf das für den Menschen Gute254. Demzufolge können sie das Streben ihrer Zeitgenossen nach Reichtum, Ehre und Ruhm, ihre Todesfurcht und Habsucht, ihren Aberglauben und ihre Heuchelei255 angesichts der natürlichen Gegebenheiten und Bedürfnissen des Menschenlebens nur als TÜ