Inmitten der Extreme. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin und Salomo Friedlaender [1. ed.] 9783770567683, 9783846767689

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Inmitten der Extreme. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin und Salomo Friedlaender [1. ed.]
 9783770567683, 9783846767689

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Passage I – Polare Denkfiguren und Haltung:
Ein komplementärer Zugang zum Politischen der Literatur
bei Benjamin
1. Benjamin und die „Haltung des Materialisten“
1.1 „Dic, cur hic?“
1.2 Politik und Literatur
1.3 Geschichte und Aktualität
II. Hauptteil A – Zeitdiagnostische Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren: Problemgeschichtliche Konstellationen
2. Aktualität – Rekurs – Funktion. Elemente einer Problemgeschichte polarer Denkfiguren
2.1 Zwischen Bild und Begriff. Zum epistemologischen Schwebezustand der Polarität um 1800 (Kant, Schelling, Novalis)
2.2 Polarität – eine moderne Differenzfigur um 1900? (Ricarda Huch)
2.3 Dezisionistische Rhetoriken: Polarität und Zeitdiagnostik in den 1920er und 1930er Jahren
3. Schreiben in Masken: Friedlaenders Verfahren einer zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren
3.1 Polarität und Thermodynamik: ‚Geistesblitz‘ und nüchterne Synchronisierungsversuche in Friedlaenders J.R. Mayer-Biographie
3.2 Kritische Genealogien: Nietzsches „Form der Polarität“ und Friedlaenders Nietzsche-Biographie
4. „Polarität als Schlüssel“. Benjamins zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren zwischen Goethe und Friedlaender
4.1 Benjamins Rezension einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre (1928)
4.2 Wohlbold vs. Friedlaender – Benjamins Inszenierung einer Debatte
4.3 „Die Polarität als Schlüssel“ für eine kritische Zeitdiagnostik (Boucke, Simmel, Friedlaender)
4.4 Benjamin und die Schöpferische Indifferenz
III. Passage II – „Der Anspruch auf unmittelbar politische Wirkung wird sich nicht allein als ein Bl
5. Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918
5.1 „Das Problem der Politik für den Intellektuellen“
5.2 „Wort und Tat“ – Walter Benjamin und Kurt Hiller
5.3 „hinzuführen auf das dem Wort versagte“ – Walter Benjamin und Martin Buber
IV. Hauptteil B – „Arbeit über Politik“: Benjamin, Friedlaender und das Spannungsverhältnis zwischen
6. Benjamins Arbeit am Politischen nach 1918. Vorbemerkungen zu einem intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang
7. Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘ und Friedlaenders ‚Anti-Bloch‘ im Verhältnis zu Ernst Blochs Geist der Utopie
7.1 Kritik der Figur eines utopisch-apokalyptischen ‚Dritten‘: Die Denkfiguren der Polarität und Intensität in Benjamins ‚Fragment‘
7.2 Friedlaenders ‚medialer Nihilismus‘: Neutrale Grenze, polare Intensität und latente Äquilibristik
7.3 Benjamins „Methode Nihilismus“: Gibt es eine ‚mittelbare messianische Intensität‘?
8. Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“: Humor, Heiterkeit und Technikutopie in Benjamins Scheerbart-Lektüren
8.1 „Geistig hat er bei mir seine zweite Metamorphose durchgemacht“ – Paul Scheerbart in Benjamins Schriften
8.2 „[…] daß der Pallas die beste aller Welten sei.“ – Benjamins Lektüre des Lesabéndio
8.3 „Aufknacken der Naturteleologie“: „Zweite Technik“, Natur und Humor (Paul Scheerbart und Charles Fourier)
8.4 Exkurs: „Heiterkeit“ und „zweite Technik“ in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
8.5 ‚Heitere Entmenschung‘ und kollektiver Leib
9. Politik des Humors: Benjamin – Scheerbart – Friedlaender – Bloch
9.1 Humor und Utopie: Eine intertextuelle Debattenkonstellation zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch
9.2 Exkurs: Der Humor als Energiereservoir der Utopie. Don Quijote in Ernst Blochs Geist der Utopie
9.3 „Auflösung in nichts“ und „Humor der Extreme“: Friedlaenders Humorkonzeption zwischen Kant und Scheerbart
9.4 Humor vs. Vorschein: Benjamins Unterscheidung zwischen „sprechen“ und „zeugen“
9.5 Kritik und Synthese. Das ‚Gedichtete‘, das ‚Ausdruckslose‘ und der ‚Humor‘ (Hölderlin, Goethe, Scheerbart)
V. Passage III – Schreiben inmitten der Extreme
10. Haltung und Indifferenz
10.1 Grenze, Intensität, Latenz
10.2 Haltung des Wartens? Typologien und Reflexionsfiguren prekärer Selbstverortung
10.3 „Allure“/„Haltung“ – Gehen/Unterbrechung. Benjamins „etymologische Betrachtung“ über den Begriff der Haltung
Schluss
Danksagung
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register

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Inmitten der Extreme

Kevin Drews

Inmitten der Extreme Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin und Salomo Friedlaender

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Professur für Neuere deutsche Literatur/Theaterforschung der Universität Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl. Dissertation (2021) zur Erlangung des Grades des Doktors der Philosophie (Dr. phil.) an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg im Promotionsfach Germanistik. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6768-3 (hardback) ISBN 978-3-8467-6768-9 (e-book)

Für Lorina

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi

I. Passage I – Polare Denkfiguren und Haltung: Ein komplementärer Zugang zum Politischen der Literatur bei Benjamin 1.

Benjamin und die „Haltung des Materialisten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 „Dic, cur hic?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Politik und Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.3 Geschichte und Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

II. Hauptteil A – Zeitdiagnostische Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren: Problemgeschichtliche Konstellationen 2.

Aktualität – Rekurs – Funktion. Elemente einer Problemgeschichte polarer Denkfiguren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1 Zwischen Bild und Begriff. Zum epistemologischen Schwebezustand der Polarität um 1800 (Kant, Schelling, Novalis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.2 Polarität – eine moderne Differenzfigur um 1900? (Ricarda Huch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.3 Dezisionistische Rhetoriken: Polarität und Zeitdiagnostik in den 1920er und 1930er Jahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

3.

Schreiben in Masken: Friedlaenders Verfahren einer zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren . . . . 103 3.1 Polarität und Thermodynamik: ‚Geistesblitz‘ und nüchterne Synchronisierungsversuche in Friedlaenders J.R. Mayer-Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.2 Kritische Genealogien: Nietzsches „Form der Polarität“ und Friedlaenders Nietzsche-Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

viii 4.

Inhalt

„Polarität als Schlüssel“. Benjamins zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren zwischen Goethe und Friedlaender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1 Benjamins Rezension einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre (1928)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4.2 Wohlbold vs. Friedlaender – Benjamins Inszenierung einer Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.3 „Die Polarität als Schlüssel“ für eine kritische Zeitdiagnostik (Boucke, Simmel, Friedlaender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.4 Benjamin und die Schöpferische Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

III. Passage II – „Der Anspruch auf unmittelbar politische Wirkung wird sich nicht allein als ein Bluff […] erweisen.“ 5.

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918 . . . . . . . 235 5.1 „Das Problem der Politik für den Intellektuellen“ . . . . . . . . . . . . 235 5.2 „Wort und Tat“ – Walter Benjamin und Kurt Hiller . . . . . . . . . . . 248 5.3 „hinzuführen auf das dem Wort versagte“ – Walter Benjamin und Martin Buber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

IV. Hauptteil B – „Arbeit über Politik“: Benjamin, Friedlaender und das Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Politik 6.

Benjamins Arbeit am Politischen nach 1918. Vorbemerkungen zu einem intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

7.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘ und Friedlaenders ‚Anti-Bloch‘ im Verhältnis zu Ernst Blochs Geist der Utopie . . . . . . 313 7.1 Kritik der Figur eines utopisch-apokalyptischen ‚Dritten‘: Die Denkfiguren der Polarität und Intensität in Benjamins ‚Fragment‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 7.2 Friedlaenders ‚medialer Nihilismus‘: Neutrale Grenze, polare Intensität und latente Äquilibristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 7.3 Benjamins „Methode Nihilismus“: Gibt es eine ‚mittelbare messianische Intensität‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Inhalt

ix

8.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“: Humor, Heiterkeit und Technikutopie in Benjamins Scheerbart-Lektüren . . . . . . . . . . 367 8.1 „Geistig hat er bei mir seine zweite Metamorphose durchgemacht“ – Paul Scheerbart in Benjamins Schriften . . . . 367 8.2 „[…] daß der Pallas die beste aller Welten sei.“ – Benjamins Lektüre des Lesabéndio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 8.3 „Aufknacken der Naturteleologie“: „Zweite Technik“, Natur und Humor (Paul Scheerbart und Charles Fourier) . . . . . . . . . . 390 8.4 Exkurs: „Heiterkeit“ und „zweite Technik“ in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit . . . . . . . . . . . 396 8.5 ‚Heitere Entmenschung‘ und kollektiver Leib . . . . . . . . . . . . . . . 411

9.

Politik des Humors: Benjamin – Scheerbart – Friedlaender – Bloch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 9.1 Humor und Utopie: Eine intertextuelle Debattenkonstellation zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 9.2 Exkurs: Der Humor als Energiereservoir der Utopie. Don Quijote in Ernst Blochs Geist der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . 435 9.3 „Auflösung in nichts“ und „Humor der Extreme“: Friedlaenders Humorkonzeption zwischen Kant und Scheerbart  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 9.4 Humor vs. Vorschein: Benjamins Unterscheidung zwischen „sprechen“ und „zeugen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 9.5 Kritik und Synthese. Das ‚Gedichtete‘, das ‚Ausdruckslose‘ und der ‚Humor‘ (Hölderlin, Goethe, Scheerbart) . . . . . . . . . . . 504

V. Passage III – Schreiben inmitten der Extreme 10. Haltung und Indifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 10.1 Grenze, Intensität, Latenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 10.2 Haltung des Wartens? Typologien und Reflexionsfiguren prekärer Selbstverortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 10.3 „Allure“/„Haltung“ – Gehen/Unterbrechung. Benjamins „etymologische Betrachtung“ über den Begriff der Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

x

Inhalt

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605

Einleitung Denn es kommt darauf an, dem Gegensatz seine Schärfe, die ja das ganze Problem erst aufgibt, zu erhalten und nun erst eine Brücke zwischen seinen Polen zu schlagen […]. Georg Simmel1



Walter Benjamin und das Politische der Literatur: Zugang zu einer produktiven Spannungsbeziehung zwischen Text und Kontext

Ob als intellektuelle Abenteuergeschichte, problematische Liaison oder vitaler Schreibimpuls aller Schriften, Aufzeichnungen und Schreibexperimente: die Frage nach Walter Benjamins Verhältnis zum Politischen gehört von jeher zu den umstrittensten Themen in der Benjamin-Forschung. Zur Diskussion stehen dabei sowohl die politischen Implikationen in Benjamins Schreibweisen und ästhetischen Darstellungsverfahren als auch Benjamins politische Selbstpositionierung als kritischer Intellektueller inmitten des „Zeitalter[s] der Extreme“2. Beide Seiten stehen in seinen Schreibprojekten in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis und verlangen eine kontextspezifische Bestimmung ihrer konkreten reziproken Reaktionsweisen. Bereits als junger Student formuliert Benjamin die Dringlichkeit, den eigenen Denk- und Schreibort „[i]m Komplex meiner Gesinnungen, die ja im Politischen in bestimmter Richtung zusammenzuziehen sind“ (Br I, 83.)*, zu bestimmen. Der bevorzugte Schauplatz dieses ‚Zusammenziehens‘ ist bei Benjamin jene Interferenzzone, in der sich politische und ästhetische Zeitphänomene und -fragen berühren. Im Zuge seines politischen Engagements in der Jugendbewegung und seiner Suche nach einer kritisch-distanzierten Position innerhalb der zionistischen Debatten in seinem Umfeld wird er diese ‚Zone‘ zunächst als das entscheidende „Problem der Politik für den Intellektuellen“ (ebd., 81) adressieren. Späterhin wird er sie dann als konkreten „Weg der Politisierung der Intelligenz“ (WB III, 225) perspektivieren und zugleich, mit Blick auf unterschiedliche Intellektuellen- und Gelehrtenkulturen 1 Georg Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910]. Berlin/New York 91989, S. 103. 2 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. * Zitate von Walter Benjamin und Salomo Friedlaender werden durchgehend im Fließtext nachgewiesen. Zur Zitierweise der Werke vgl. das Siglenverzeichnis im Anhang.

xii

Einleitung

unter dem Vorzeichen einer „Geschichte der ‚Gebildeten‘“ (WB VI, 310), historisch problematisieren. Beide Seiten – die ästhetische Darstellungsfrage gleichermaßen wie die Reflexion auf die Rolle des kritischen Schriftstellers und Intellektuellen – schließt er zudem früh bereits in dem bisher in der BenjaminForschung kaum untersuchten Begriff der ‚Haltung‘ zusammen: Als „eigentliche Haltung des Dichters“ (WB II.1, 125) im Hölderlin-Aufsatz von 1914/15; als die einer interessenlosen, „gelassene[n], kontemplative[n] Haltung“ (WB II.2, 467) des Historikers entgegengesetzte „Haltung des Materialisten“ (Br IV, 19; Herv. i. O.); oder als konkret praktizierte ‚schreibende Haltung‘ (vgl. WB II.2, 696) in seinen späteren Versuchen über Brecht. Benjamins Schreibprojekte entzünden sich demnach immer wieder an den Knotenpunkten von politischen und ästhetischen Problemstellungen der Zeit und er zielt dabei darauf, dieses Schnittfeld als solches theoretisch begreifbar zu machen und praktisch zu vermessen. Die Spannbreite dieser Vermessungsarbeit, in der sowohl die ästhetischen als auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Konfigurationen potentieller Schreibpositionen beobachtet werden, erstreckt sich über historische Arbeiten zu Baudelaire, Hebel, Keller und Stifter, den literarischen Porträts etwa von Proust, Kafka und Kraus bis zu Arbeiten beispielsweise über den Surrealismus, Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers oder der Kritik am Expressionismus und der ‚Neuen Sachlichkeit‘ in dem Text Linke Melancholie.3 Daneben sind unter anderem die wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit den Schriften des George-Kreises zu nennen, deren esoterische Gemeinschaftsidee genauso wie das kultische Dichterbild Benjamin immer wieder zu politischer und ästhetischer Kritik veranlassen. Auffällig ist in all diesen Arbeiten auf der einen Seite, dass Benjamin mit seinen Versuchen einer Verhältnisbestimmung von Politik und Literatur sowohl in Bezug auf die Reflexion über den Ort des kritischen Intellektuellen und Schriftstellers als auch in Bezug auf die Mobilisierung unterschiedlicher ästhetischer Darstellungsverfahren weder einen unvermittelten Gegensatz noch ein reibungsloses Ineinanderaufgehen forciert. Auf der anderen Seite sucht man allerdings vergeblich nach einer stringenten Formel oder einer präzisen Definition des Politischen der Literatur in Benjamins Schriften. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese definitorische Un(ter)bestimmtheit programmatischen Charakter hat, setzt er doch den konkreten Bezug von Politik und Literatur keineswegs als von vornherein gegeben voraus. 3 Dass in die Reihe der wichtigen Auseinandersetzungen mit einzelnen Schriftstellern auch der bisher in der Benjamin-Forschung kaum berücksichtigte Schriftsteller Paul Scheerbart gehört, wird der Hauptteil B der vorliegenden Arbeit zeigen.

Einleitung

xiii

Das Nachdenken über mögliche Verhältnisbestimmungen profiliert sich vielmehr an einem allenthalben in seinen Schriften dokumentierbaren Problemdenken: Von der Differenz zwischen dem Politischen und der Literatur ausgehend wird die Frage nach Bezüglichkeitsformen bei Benjamin allererst als gleichermaßen erkenntnistheoretisches und darstellungspraktisches Problem aufgerufen und auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin befragt. So kritisiert er etwa in einem Brief von 1913 an dem von Franz Pfemfert in Die Aktion publizierten Artikel Unsere Hoffnung: „Ich vermisse durchaus eine Brücke vom kulturell-politischen Wollen dieser Leute zu ihren Dichtungen.“ (Br  I, 85)4 Die Suche nach diesem ‚Brückenkopf‘ im Spannungsverhältnis von Literatur und Politik ist auch dort zu beobachten, wo ein an marxistischmaterialistischem Denken orientiertes Schreiben einsetzt, heißt es doch 1934 im Vortrag Der Autor als Produzent in vergleichbarer Weise: „Zeigen möchte ich Ihnen, daß die Tendenz einer Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt.“ (WB II.2, 684) So unterschiedlich die intellektuellen Debatten und politischen Kontexte sind, in denen die erste Aussage von 1913 und die zweite von 1934 stehen, verbindet sie doch, dass sie beide das Verhältnis von Politik und Literatur weniger von einem transgressiven Denkund Schreibmodus her bestimmen als vielmehr von einer problematischen Spannungsbeziehung aus in den Blick nehmen.5 In diesem Sinne ist auch das der Einleitung vorangestellte Motto Georg Simmels zu verstehen: „Denn es kommt darauf an, dem Gegensatz seine Schärfe, die ja das ganze Problem erst aufgibt, zu erhalten und nun erst eine Brücke zwischen seinen Polen zu schlagen […].“6 Erst die deutliche Markierung der polaren Spannung ermöglicht eine differenzielle Verhältnisbestimmung zwischen Literatur und Politik. Dieses polare Spannungsverhältnis bezeichnet bei Benjamin dann nicht zuletzt auch den produktiven Ort des Nachdenkens über die krisenhafte Signatur der eigenen Zeit und wird so zum Ausgangspunkt seiner 4 Was Benjamin hier an Pfemferts ‚Leitartikel‘ stört, bezieht sich vor allem auf dessen Forderung nach „Ehrfurcht vor dem Geist“, die er der deutschen Jugend ins Stammbuch schreibt. (Franz Pfemfert: Unsere Hoffnung. In: Die Aktion 2 (1912) [11.12.1912], Sp. 1573-1574, hier: Sp. 1574) Benjamins kritische Distanz gegenüber ‚logokratischen‘ Politikverständnissen begründet insbesondere die Distanz zu Kurt Hiller. Der damit zusammenhängende Aufsatz Geist und Politik ist leider nicht überliefert. (vgl. hierzu insgesamt auch Kap. 5.2). 5 Als ein „transgressive[s] Denken“, und damit explizit im Anschluss an Michel Foucaults ‚Bataille-Hommage‘ Préface à la transgression (1963), hat Karlheinz Barck die „Einheit des Benjaminschen Programms als eines philosophischen“ charakterisiert. (Karlheinz Barck: Schrift/Schreiben als Transgression. Walter Benjamins Konstruktion von Geschichte(n). In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 1. München 1999, S. 231-251, hier: S. 232). 6 Georg Simmel, Hauptprobleme der Philosophie, S. 103.

xiv

Einleitung

vielschichtigen Schreibprojekte, die er immer auch – ungeachtet der tatsächlichen Distributions- und Wirkradien – als konkrete Interventionsformen des „premier critique de la littérature allemande“ (Br III, 502) verstanden wissen wollte, der er zu sein wünschte und zu dem er dann nachträglich durch die intensive Rezeption gewissermaßen auch noch geworden ist. Vor diesem Hintergrund liegt der erkenntnisleitende Untersuchungsfokus der vorliegenden Arbeit auf den gleichermaßen theoretischen und darstellungspraktischen Ausgestaltungen des produktiven Spannungsverhältnisses von Literatur und Politik in Benjamins Schriften. Im Zentrum stehen die folgenden untersuchungsleitenden Fragen: Welche Begriffe, Bildformeln, Motive, Denkfiguren setzt Benjamin ein, um die produktive Spannung zwischen Literatur und Politik erkennbar und darstellbar zu machen? Welche Modelle kritischer Autorschaft stehen bei Benjamin im Verhältnis zu diesem Spannungsgefüge? Welches Konzept kritischer Intellektualität und welche Reflexionen über den eigenen Standort des Schreibens inmitten dieser Spannungen schließen sich bei ihm an diese Verhältnisbestimmungen an? Die Variationsdynamiken und kontextabhängigen Spezifizierungen in Benjamins Umgang mit jenen hier zunächst sehr global befragten Problemstellungen erschließen sich, so die Grundannahmen der vorliegenden Arbeit, weder in methodischer Hinsicht durch eine ausschließliche Konzentration auf einzelne Schriften und/oder werkinterne Zusammenhänge noch in inhaltlicher Hinsicht über die Vorstellung einer mit dem ‚Melancholiker Benjamin‘ häufig assoziierten „esoteric function of the intellectual“7. Die Situierung (nicht nur) der politischen Schreibprojekte Benjamins inmitten konkreter politischer Debatten, intellektueller Kommunikationsnetzwerke und strategisch inszenierter intertextueller Beziehungsgeflechte verlangt vielmehr, so die zugrundeliegende Annahme, eine methodische und inhaltliche Zugangsweise, die auch den Kontexten der konkreten Denk- und Schreibmodi des problemorientierten Bezüglichkeitsdenkens zwischen Politik und Literatur in Benjamins Texten gerecht wird. Vergleichbare Fragestellungen haben die Benjamin-Forschung bereits seit den 1960er Jahren beschäftigt und bestimmen eine anhaltend kontroverse Rezeptionsgeschichte, die sich zwischen philologischen Detailanalysen, dem Bestreben, neuere Theorien des Politischen auf Benjamins Werk zu beziehen und dem Versuch, ein stringentes, systematisches Denken freizulegen,

7 Anson Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley 1997, S. 32.

Einleitung

xv

aufspannt.8 Vor dem Hintergrund dieser Omnipräsenz des Politischen in der Benjamin-Forschung scheint es auf den ersten Blick einigermaßen überraschend, dass Uwe Steiner unlängst konstatierte, Politik gehöre „derzeit nicht zu den Themen, mit denen sich die Benjamin-Forschung bevorzugt befasst“9. Steiners Anmerkung impliziert allerdings einen kritischen Impuls gegenüber der Rezeptionsgeschichte, den es ernst zu nehmen gilt. Denn Steiner bezieht sich weniger auf den Verlust von politischen Aneignungsversuchen, wie ihn Norbert Bolz dreißig Jahre zuvor und vor dem Hintergrund einer anderen Forschungslage als „Tendenzwende“ kritisierte, durch die Benjamin in neueren Forschungsansätzen „um seinen Begriff hochpolitischen Stils gebracht“10 werde. Stattdessen geht es Steiner um die nach wie vor eher marginale Berücksichtigung jener konkreten diskursiven Zusammenhänge und intertextuellen Geflechte, von denen Benjamins Arbeiten am Politischen anheben. Und was Steiner hier vornehmlich für die frühen Schreibversuche zu Beginn der 1920er Jahre betont, kann auch für die späteren Arbeiten geltend gemacht werden. Denn sowohl die Verkürzung auf die bekannte Formel von der „Politisierung der Kunst“ (WB I.2, 469), die Benjamin an das Ende seiner Arbeit über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit setzt,11 als auch die unspezifische Annahme, in Benjamins Texten artikuliere 8

Die Frage nach dem Politischen im Denken Benjamins hat in der Rezeptionsgeschichte mehrere Etappen durchlaufen. Aus der ‚heißen Phase‘ politischer Lektüren in den 1960er Jahren, die vor allem von dem Versuch einer politischen Aneignung des Werkes getragen waren und eher selten das Politische expressis verbis in philologischer Rekonstruktionsarbeit und historischer Kontextualisierung zum Gegenstand hatten, resultierte vor allem ein (politisierter) Streit, der sich zunehmend zu Lagerbildungen verhärtete. Diese Lagerbildungen haben lange Zeit die Frage nach der Politik bei Benjamin bestimmt, indem die festgefahrenen Dichotomien (Theologie vs. Marxismus, Adorno oder Scholem vs. Brecht) immer wieder reproduziert wurden. Auch wenn sich die Rezeption in den letzten drei Jahrzehnten stärker auf andere Aspekte konzentrierte, etwa auf Gedächtnis- und Erinnerungskultur, dekonstruktive Lektüren, Medientheorie und Kulturwissenschaft, blieb die Frage nach dem Politischen stets aktuell. (Zu den verschiedenen diskursiven Rahmenbedingungen dieser Rezeptionsphasen vgl. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt a.  M. 1999, S. 130-142). 9 Uwe Steiner: Walter Benjamins ‚Wendung zum politischen Denken‘. In: Christine Blättler/ Christian Voller (Hg.): Walter Benjamin. Politisches Denken. Baden-Baden 2016, S. 33-72, hier: S. 33. 10 Norbert Bolz: Einleitung. Links schreiben. In: ders./Richard Faber (Hg.): Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik. 2. verm. und verb. Aufl. Würzburg 1985, S. 9-33, hier: S. 10. 11 In den letzten Jahren hat vor allem Jacques Rancière wiederholt diese Formel zum Ausgangspunkt seiner Kritik an Walter Benjamin gemacht. (vgl. Jacques Rancière: Die ästhetische Revolution und ihre Folgen. Erzählungen von Autonomie und Heteronomie.

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Einleitung

sich letztlich stets eine messianische Hoffnung, bleiben unzureichend und verkürzend, wenn sie nicht an den konkreten Einsatzpunkten in der diskursiven Gemengelage und an den konkreten intellektuellen Debatten gemessen werden, in denen Benjamins zeitkritische Schreibprojekte verortet sind. Hier scheint sich in letzter Zeit eine Tendenz abzuzeichnen, Benjamin wieder verstärkt in seine konkreten Produktionskontexte zurückzuversetzen. Vor dem Hintergrund etwa von Sigrid Weigels Untersuchungen zu Benjamins „Modell der Lektüre und der Lesbarkeit“12, vor allem aber im Anschluss an Alexander Honolds Studie über den Leser Walter Benjamin, die mit der Aufforderung verbunden ist, den „Spurenelementen nach[zu]geh[en], den Kristallisationspunkten und Reibungsflächen, an denen sich das Denken entzündet und entwickelt“13 hat, ist ein Interesse daran zu beobachten, das vielfältige Ensemble intertextueller Beziehungen, direkter sowie diskreter Verweise und Korrespondenzen nochmal neu in den Blick zu nehmen. Damit scheint sich zum einen dort, wo man Benjamins Umgang mit seinen „Quellen“14 fokussiert, unweigerlich die (auch in literaturtheoretischer Hinsicht) problematische Frage nach ‚Einflüssen‘ erneut aufzudrängen. Zum anderen wurde unlängst vor dem Hintergrund neuerer materialitätstheoretischer Ansätze der Versuch unternommen, Benjamins Begriffs- und Methodenentwicklungen von seiner konkreten ‚Arbeit am Material‘15 aus in den Blick zu nehmen. Mit der Untersuchung der intertextuellen Beziehungen zwischen Walter Benjamin und Salomo Friedlaender wählt die vorliegende Arbeit ebenfalls In: Ilka Brombach/Dirk Setton/Cornelia Temesvári (Hg.): ‚Ästhetisierung‘. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis. Zürich 2010, S.  23-40; vgl. in diesem Zusammenhang auch ders.: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin 22008, S. 50-55). 12 Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt a. M. 1997, S. 13. 13 Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 16. 14 So im Sammelband von Jessica Nitsche und Nadine Werner (Hg.): Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen. Paderborn 2019. Der Sammelband nimmt den von Burkhardt Lindner geprägten Begriff der ‚Entwendung‘ zum Ausgangspunkt, der ein Verfahren beschreiben soll, durch das Benjamin seine ‚Quellen‘ „auf ganz unterschiedliche Weise entstellt.“ (Jessica Nitsche/Nadine Werner: Der Jäger und das Scheue Wild. Über Walter Benjamins Entwendungstaktik. In: ebd., S. 1-6, hier: S. 3). 15 Frank Voigt et al. (Hg.): Material und Begriff. Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins. Hamburg 2019. Im Vorwort der Herausgeber heißt es programmatisch: „[…] eine Forschungsprämisse, die eine ‚Originalität‘ ohne Vergleich und Kontext voraussetzt, muss sich an ihm [W.  Benjamin, K.  D.] blind starren.“ (dies.: Vorwort. In: ebd., S. 9-13, hier: S.10). Außerdem ist an dieser Stelle das Forschungsprojekt Walter Benjamins publizistische Netzwerke unter der Leitung von Carolin Duttlinger und Daniel Weidner zu erwähnen, das sich explizit um kontextuelle Lektüren und zeitgenössische Debatten bemüht.

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einen Zugang, der das Ziel verfolgt, sowohl den Zusammenhang von politischem Schreibimpuls und ästhetischen Darstellungsverfahren als auch Benjamins politische Selbstpositionierung als kritischer Intellektueller aus den konkreten Kontexten ihrer Entstehung herauszuarbeiten. Dabei ist Jessica Nitsche und Nadine Werner zuzustimmen, dass bei Benjamin im Umgang mit anderen Autoren „[a]ktiver Gebrauch, Handhabbarmachung und Aktualisierung […] an die Stelle der Inventarisierung“16 treten und zudem generell „Benjamins Ver- und Entwendung anderer Autoren […] bislang keine systematische Aufarbeitung erfahren“17 habe. Neben der Tatsache, dass in dem von Nitsche und Werner herausgegebenen Sammelband zu Benjamins „Quellen“ aber nach wie vor überwiegend bekannte Referenzgrößen der großen Diskurslinien behandelt werden, gilt der Fokus von Burkhardt Lindners ‚Entwendungs‘These letztlich ausschließlich Benjamins Verwertungs- und Appropriationspraktiken. Die Aufgabe der nachfolgenden Untersuchungen besteht darin, neben Benjamins Praktiken der entwendenden Aneignung auch andere intertextuelle Bezugsformen einzubeziehen und zu differenzieren.

Walter Benjamin und Salomo Friedlaender: Rezeptionsgeschichtliche und methodische Vorüberlegungen zur Untersuchungskonstellation

Mit der intellektuellen Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender steht ein Geflecht aus persönlichen Bekanntschaften, intertextuellen Beziehungen, politischen Debatten der Weimarer Republik und diskursiven Rahmenbedingungen im Zentrum der vorliegenden Arbeit, das bisher allenfalls beiläufig registriert wurde. Zählt doch der 1871 in Gollantsch (Posen) geborene und 1946 im Pariser Exil verstorbene jüdische Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedlaender im Rahmen der ohnehin problematischen Bestimmung des politischen Schreibens Walter Benjamins nicht gerade zu den prominenten Figuren in der Benjamin-Philologie.18 16 Jessica Nitsche/Nadine Werner: Der Jäger und das Scheue Wild, S. 4. 17 Ebd., S. 3. 18 Beispielhaft für diese marginale Position Friedlaenders in der Benjamin-Forschung ist Jean-Michel Palmiers monumentale Studie, die in ihrem Untertitel darauf hinweist, dass sie das Verhältnis von Ästhetik und Politik bei Benjamin verhandelt. Die Studie zeichnet sich in besonderer Weise dadurch aus, die kleinteiligen Diskurs- und Debattenzusammenhänge minutiös aufzuarbeiten. Friedländer [sic!] indes taucht hier nur an einer unbedeutenden Stelle in einer Aufzählung als ein Autor auf, den Benjamin „bewunderte […], ohne je in Verbindung mit ihm zu treten.“ (Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Berlin 2009, S. 961) Unabhängig von der falschen Schreibweise mit dem Umlaut ä, die

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Das intellektuelle Figurenensemble, das in der Benjamin-Forschung aufgerufen wird, wenn es um Benjamins Denken des Politischen geht, besteht meist aus weitaus bekannteren Bezugsgrößen wie Ernst Bloch, Georges Sorel, Karl Marx, Bertolt Brecht und Theodor  W.  Adorno oder – im Sinne „gefährliche[r] Beziehungen“19 – Carl Schmitt und Martin Heidegger. Friedlaender ist hier höchstens am Rande als Philosoph und Schriftsteller wahrgenommen worden, der für Benjamins Denken des Politischen relevant sein könnte. Er gehört vielmehr zu jener „kleinräumigen Topographie des Intellektuellen Walter Benjamin jenseits der großen Diskurslinien“, für die Heinrich Kaulen angemahnt hat, dass hier „noch reichlicher Forschungsbedarf“20 bestehe. Ähnlich wie Steiner bemängelt auch Kaulen, dass häufig eine präzise Erörterung von „Publikations-, Medien-, Wissenschaftskontexte[n], biografisch-soziale[n] Kontexte[n], historische[n] und politische[n] Kontexte[n] etc.“21 sowohl in Benjamin-Editionen als auch in der Forschung zugunsten „großflächige[r] Diskursnetze“, die „in der Regel von denselben dominanten Instanzen besetzt“22 sind (gemeint sind auch hier: Adorno, Scholem Brecht), vernachlässigt werden.23

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Benjamin selbst bisweilen verwendete, ist die Aussage nicht korrekt. Zwar gibt es keine briefliche Korrespondenz, aus Benjamins Briefen an Scholem geht aber hervor, dass sie sich mindestens zweimal persönlich begegnet sind. (vgl. Br II, 128 und 152). Susanne Heil: Gefährliche Beziehungen. Walter Benjamin und Carl Schmitt. Stuttgart 1996. Heinrich Kaulen: Texte und Kontexte. Zur Bedeutung des Kontextwissens für die BenjaminEdition. In: Daniel Weidner/Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien, Bd. 1. München 2008, S. 161-173, hier: S. 172. Ebd., S. 161-162. Ebd., S. 166. Kaulens Kritik steht im Zusammenhang mit einer breiten Diskussion um die Neuedition der Schriften Benjamins in der seit 2008 erscheinenden kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß. Zur grundlegenden Kritik an der Konstruktion von Texten dort, wo eigentlich Entstehungsprozesse und -bedingungen sichtbar gemacht werden sollten, vgl. die Argumentation bei Davide Giuriato: Kritische Überlegungen zur neuen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins. In: Daniel Weidner/Sigrid Weigel (Hg.): BenjaminStudien, Bd. 2. München 2011, S. 335-339. Für einen Überblick über die Kritikpunkte an klassischer editionsphilologischer Praxis vgl. auch die Auflistung bei Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und seiner sachlichen Klärung. In: editio 22 (2008), S. 22-46, hier: S. 23-24. Eine Konsequenz aus der Beobachtung der konkreten Publikationskontexte und intellektuellen Beziehungen liegt auch in der Revision des Bildes von Benjamin als einsamer, lebensunfähiger Melancholiker. In seinem editorischen Nachwort zur Neuausgabe der Kritiken und Rezensionen betont Kaulen: „Das seit Ende der 1960er Jahre etablierte, eine ganze Generation von Wissenschaftlern prägende und zur Identifikation verlockende Stereotyp des aufgrund seiner

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In diesen „konkreten sozialen, publizistischen und intellektuellen Kontexten“24 ist auch der Name Salomo Friedlaender zu verorten. Dabei deutet bereits der Anlass des ersten persönlichen Kontakts zwischen beiden an, dass die Bedeutung Friedlaenders für Benjamin vor allem im Kontext seiner frühen Schreibversuche zum Politischen einzuordnen ist, begegnen sich doch beide im Rahmen einer Vorlesung Erich Ungers, dessen Abhandlung Politik und Metaphysik Benjamin für „die bedeutendste Schrift über Politik aus dieser Zeit“ (Br II, 127) hält.25 In diesen Zeitraum fallen einige der wichtigsten Schriften Benjamins zum Politischen. Unter anderem auch die auf drei Teile angelegte, aber nur teilweise ausgeführte bzw. überlieferte „Arbeit über Politik“ (Br II, 127), zu der auch der prominente Text Zur Kritik der Gewalt gehört. Im dritten Teil dieser Arbeit, der als eine gleichermaßen ästhetische und politische Auseinandersetzung mit Paul Scheerbarts Roman Lesabéndio konzipiert war, sollte Salomo Friedlaender dann, wie ausführlich nachzuweisen sein wird, eine gewichtige Rolle spielen. (vgl. Hauptteil B) Und obwohl Benjamin auch später noch an verschiedenen Stellen in seinen Schriften ausdrücklich auf die Bedeutung Friedlaenders, allen voran auf dessen polaritätsphilosophisches Werk Schöpferische Indifferenz (1918) hingewiesen hat, ist seine „hohe[…] Schätzung“26 dieses Werkes und damit die Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender ein weitgehend unbearbeitetes Forschungsfeld geblieben.27 Die vorliegende Arbeit beansprucht, diese Forschungslücke zu schließen. kritischen Haltung marginalisierten, lebensunfähigen und melancholisch scheiternden Linksintellektuellen, der seinen Geldgebern angeblich ohnmächtig ausgeliefert war und geradezu zwangsläufig an der fatalen Übermacht der Verhältnisse zerbrechen mußte, ist vor dem Hintergrund der skizzierten sozialen Vernetzung, wenn nicht völlig zu revidieren, so doch zumindest in erheblichen Teilen zu relativieren.“ (Heinrich Kaulen: Nachwort. Walter Benjamin als Literaturkritiker und Rezensent. In: WuN 13.2, S. 972-1009, hier: S. 978). 24 Heinrich Kaulen, Texte und Kontexte. Zur Bedeutung des Kontextwissens für die BenjaminEdition, S. 166. 25 Für Benjamins Beziehung zu Erich Unger vgl. Manfred Voigts: Walter Benjamin und Erich Unger. Eine jüdische Konstellation. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd.2. München 1999, S. 839-855. 26 Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a. M. 1975, S. 62. 27 Eine Ausnahme bilden hier Uwe Steiners Arbeiten zum politischen Denken Benjamins. Indem Steiner u.a. darlegt, inwiefern Benjamins frühe Arbeit zur Politik „in den Kontext der Nietzsche-Rezeption im Umkreis des Früh-Expressionismus zu stellen“ ist, macht er jenes „Umfeld transparent“, in dem auch Benjamins frühe Rezeption Friedlaenders einzuordnen ist. (Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25/2 (2000),

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Eine philologische Spurensuche, die sich erstens um die konkreten intertextuellen Beziehungen der Schriften Friedlaenders zu Benjamins frühen politischen Schreibprojekten zu Beginn der 1920er Jahre und zweitens um Vergleichspunkte mit Friedlaenders Polaritätsphilosophie auch in Benjamins späteren Schriften bemühen wollte, konnte lange Zeit nur auf einen sehr spärlich erschlossenen Textbestand zurückgreifen. Dass der „philosophische[…] Outsider[…]“28, wie Lorenz Jäger Friedlaender unlängst in seiner BenjaminBiographie bezeichnet hat, mehr als nur im Schatten der kanonisierten Bezugsgrößen steht und dass ihm in der Forschung kaum Aufmerksamkeit zuteilwurde, lag zweifelsohne an dieser problematischen Publikationssituation der Schriften Friedlaenders.29 Mit der durch Detlef Thiel seit 2005 besorgten Ausgabe der Gesammelten Schriften, die auf über 30 Bände angelegt ist, ändert sich allmählich die Zugänglichkeit der Texte Friedlaenders.30 Damit kann nun endlich eine Wiederentdeckung des Philosophen und Schriftstellers beginnen, der – als zugleich eigenwilliger Kantianer und skurriler GroteskenSchriftsteller unter dem Pseudonym Mynona (rückwärts für: Anonym) – in S. 48-92, hier: S. 67). Vgl. für diesen Debatten-Zusammenhang den Hauptteil B der vorliegenden Arbeit. Detlef Thiel wiederum hat in seiner Friedlaender-Studie erstmals „alle bisher bekannten Dokumente versammelt“ und das „Gespräch“ zwischen beiden erneut eröffnet. (Detlef Thiel: Maßnahmen des Erscheinens. Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling, Husserl, Benjamin und Derrida. Nordhausen 2012, S.  8). Diese Interpretationsangebote und auch andere Studien, die sich meist eher am Rande mit der Konstellation Benjamin-Friedlaender beschäftigt haben, wird die Arbeit an gegebener Stelle diskutieren. 28 Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Berlin 2017, S. 131. Lorenz zitiert zudem zwei wichtige Stellen aus Friedlaenders Schöpferische Indifferenz und hält fest, dass Benjamin „[e]rste Hinweise auf eine Logik des Extremismus“ (ebd.) bei Friedlaender findet, die Lorenz dann im Trauerspielbuch verarbeitet sieht. Für die in der vorliegenden Arbeit zu leistende zeithistorische Einordnung der Konstellation Benjamin-Friedlaender in ihre diskursiven Kontexte ist Lorenz’ Resümee zur Bedeutung von Friedlaenders polarer Denkformen inmitten gesellschaftlicher, politischer und ästhetischer Polarisierung/Extremisierung ab 1918 bemerkenswert: „Das war eine Philosophie, die erkennbar ihre Zeit auf den Begriff brachte.“ (ebd.). 29 Eine Ausnahme bildet hier Friedrich Kittlers Analyse der Groteske Goethe spricht in den Phonographen (1916), durch die Friedlaender kurzeitig unter mediengeschichtlichen Gesichtspunkten wahrgenommen wurde. (vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 93-122). 30 Seit 2009 ist als Band  10 der Gesammelten Schriften auch Friedlaenders Schöpferische Indifferenz wieder einfacher zugänglich und damit jenes Werk, das bereits vor seiner (weltkriegsbedingt späten) Publikation 1918 durch vorabgedruckte Auszüge und Vorarbeiten an einschlägigen Orten wie Kurt Hillers Ziel-Jahrbüchern oder in der auch von Benjamin rezipierten expressionistischen Monatsschrift Die weißen Blätter in intellektuellen Kreisen eine intensive Rezeption erfahren hat.

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der Berliner Literatur- und Intellektuellenszene um 1900 und in der Weimarer Republik eine bemerkenswerte und bekannte Figur war. Friedlaender hatte nach 1933 im französischen Exil – zunehmend isoliert und abgeschnitten von Publikationsmöglichkeiten – selbst geahnt, dass er in Vergessenheit geraten könnte. Schwankend zwischen bissig-resignativem Spott und ungebrochener Zuversicht, gepaart mit der für ihn typischen humoristischen Selbstüberhöhung (Stichwort ‚Auferstehung‘), notiert er in einem Brief von 1934: „Vielleicht erstehe ich posthum?“ (F/M 26, 520) Inwiefern mit der neuen Publikationslage der „noch in Konstruktion befindliche[…] Autor“31 Friedlaender – auch über die Bedeutung für Benjamin hinaus – ‚aufersteht‘ und stärker in den Fokus der Forschung tritt, bleibt abzuwarten. Die vorliegende Arbeit konnte jedenfalls auf die neue Ausgabe der Schriften Friedlaenders zurückgreifen und so erstmals systematisch die Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender vor dem Hintergrund eines umfangreichen Textbestandes untersuchen. Indem die Arbeit eine Forschungslücke in der Benjamin-Philologie schließt, möchte sie zugleich auch einen Beitrag zu dieser Wiederentdeckung leisten.

31 Detlef Thiel: Maßnahmen des Erscheinens, S.  8. Dass diese Konstruktion – um einen zentralen und prominenten Gedanken Benjamins aufzurufen – Destruktion (hier im Sinne von Rezeptionsmissverständnissen und Fehlurteilen) voraussetzt (vgl. WB V.1, 587), zeigen die biographischen und sachlichen Aufräumarbeiten, die Thiel in den Einleitungen zu den einzelnen Bänden der Gesamtausgabe leistet. Dort heißt es an einer Stelle zur Rezeption Friedlaenders: „Kaum einen Philosophen und Schriftsteller hat ein so dichtes und zähes Gestrüpp von Unkenntnis, Irrtümern, Verzerrungen, daher Desinteresse überwuchert wie ihn.“ (Detlef Thiel: Stiche in Wespennester. Mynona dekonstruiert die Moderne (Remarque/Tucholsky). In: F/M 11, S. 9-88, hier: 9). Dass auch die Rezeptionsgeschichte Benjamins eine „Aneignungsgeschichte“ ist, die „zugleich eine Geschichte der Konstruktion und Konstituierung des Autors (und Menschen) Benjamins darstellt“ (Thomas Küpper/Timo Skrandies: Rezeptionsgeschichte. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 17-56, hier: S. 18), ist bereits selbst Teil der Forschung geworden (vgl. Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus). Wenn es nachfolgend mit der Konstellation Benjamin-Friedlaender darum geht, Benjamin in jene Kontexte zurückzuversetzen, in denen seine Schriften entstehen, läuft unterhalb der untersuchungsleitenden Fragestellungen immer auch eine kritische Reflexion auf diese Rezeptionsgeschichte mit. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. außerdem v.  a. Klaus Garber: Stationen der Benjamin-Rezeption 1940-1985. In: ders.: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin. Tübingen 1987, S. 121-193; Michael Rumpf: Walter Benjamins Nachleben. In: DVjs 52/1 (1978), S.  137-166; Gerhard Wagner: Zum Bilde Benjamins. Aspekte der neueren Rezeption seines kulturhistorischen und geschichtsphilosophisch-ästhetischen Werkes in Westeuropa 1978-1987. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 1492-1513; Michael Opitz: Reflexion und Vergegenwärtigung. Anmerkungen zu Positionen der Benjamin-Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik 6/1 (1996), S. 128-143.

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Nicht nur unter dem Vorzeichen einer solchen Wiederentdeckung, sondern vor allem hinsichtlich der Konstellation mit Benjamin gilt es hier zwei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens ist Friedlaenders Polaritätsphilosophie der ‚schöpferischen Indifferenz‘ ein großangelegtes metaphysisches Projekt, das in „34 selbständigen Publikationen“32 und unzähligen kleineren Arbeiten und Aufsätzen entfaltet wurde. Dieses heterogene Œuvre kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend in den Blick genommen werden. Im Sinne des nachfolgend noch darzustellenden Erkenntnisinteresses wird der Fokus durchgängig auf die Konstellation mit Benjamin und der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Ästhetik und Politik konzentriert bleiben, was notwendig mit einer Selektion der Texte verbunden ist. Zweitens gilt es zu berücksichtigen, dass Friedlaender auch schon vor und abseits der Veröffentlichung seiner Schöpferischen Indifferenz durch einige durchaus einflussreiche Publikationen hervorgetreten ist. Im Umkreis des expressionistischen Zirkels Der Neue Club, in der daraus hervorgegangenen Veranstaltungsreihe Neopathetisches Cabaret sowie in den Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion spielte Friedlaender eine diskursprägende Rolle, die auch in der Forschung bereits teilweise wahrgenommen wurde. Allen voran mit seinem 1911 publizierten Buch Friedrich Nietzsche. Eine intellektuale Biographie hat er maßgeblich die frühexpressionistische Nietzsche-Rezeption geprägt.33 Zwar erinnert sich Scholem, dass Benjamin und Friedlaender bereits „seit der Zeit der Neopathetiker bekannt“34 gewesen seien und Benjamin schon damals „öfters recht positiv“35 über Friedlaender gesprochen habe. Wie 32 Detlef Thiel, Maßnahmen des Erscheinens, S. 7. 33 Stellvertretend sei hier auf Gunter Martens verwiesen, der festhält, dass Friedlaender „eine bedeutsame Rolle in der Vermittlung Nietzschescher Positionen zukam.“ (Gunter Martens: Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd.  2: Forschungsergebnisse. Tübingen 1978, S.  35-82, hier: S.  47). Für weitere in diesem Zusammenhang relevante Forschungsarbeiten vgl. das Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit. Neben einerseits den bereits aufgeführten Arbeiten von Detlef Thiel und andererseits einer kleinen Anzahl von Untersuchungen, die sich eher am Rande mit Friedlaenders Rolle zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigen, gibt es nur noch wenige größere Forschungsarbeiten zu Friedlaender: Peter Cardorff: Friedlaender (Mynona) zur Einführung. Hamburg 1988; Lisbeth Exner: Fasching als Logik. Über Salomo Friedlaender/Mynona. München 1996; Rolf Schütte: Die Mitte der Differenz. Vernunft und Groteske. Polaritätsphilosophie und literarische Phantastik im Werk von Salomo Friedlaender/Mynona. Herrsching 2016. Außerdem hat Detlef Thiel unlängst auch kleinere Forschungsarbeiten zusammengetragen: Detlef Thiel (Hg.): ‚Tummel dich, mein Publikum! Hier sind noch schöne Aufgaben zu lösen.‘ Berichte und Forschungsbeiträge aus 100 Jahren. Herrsching 2015. 34 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 63. 35 Ebd.

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intensiv Benjamin jedoch die in diesem frühexpressionistischen Kontext zirkulierenden Texte Friedlaenders wahrgenommen und rezipiert hat, kann nur vermutet werden.36 Sicher ist nur, dass Benjamin durchaus in kritischer Distanz zum Expressionismus und dessen „weit eher pathologisch[er] als kritisch[er]“ (WB VI, 177) Reaktion auf die Zeit stand.37 Für die nachfolgende Untersuchung stellt sich daher auch ganz grundsätzlich die Frage, wie sich überhaupt das Werk des Philosophen und Grotesken-Schriftstellers, der sich selbst als eine „gewisse Synthese aus Kant und Clown“ (F/M 25, 172) bezeichnet hat, zu Benjamins politischem Schreiben verhält, das sich seit Mitte der 1920er Jahre an marxistischer Theorie schärft.38 Wollte man jedoch vor allem eine solche (ideologische oder ästhetische) Kluft betonen, bliebe die Bedeutung Friedlaenders für Benjamin tatsächlich eine Marginalie und die Idee der ‚schöpferischen Indifferenz‘ würde sich auf den Status eines produktiv entwendeten Stichwortes reduzieren.39 36 Die Liste der Lektüren aus den Jahren 1912 bis 1916/17 fehlt in Benjamins Verzeichnis der gelesenen Schriften. Das Verzeichnis ist erst ab der Nr. 462 erhalten. (vgl. WB VII.1, S. 437) Brendan Moran vermutet, dass Benjamin schon vor der Lektüre von Schöpferische Indifferenz mit früher publizierten Texten aus dem Entstehungsumfeld des Buches vertraut gewesen sein könnte: „Schöpferische Indifferenz is made up partly of older published texts, so Benjamin might have been acquainted those earlier texts.“ (Brendan Moran: Politics of Creative Indifference. In: Philosophy Today 55/3 (2011), S. 307-322, hier: S. 309). 37 In Benjamins Generalabrechnung mit der linksliberalen bürgerlichen Intelligenz in Linke Melancholie von 1931 heißt es dann: „Der Expressionismus stellte die revolutionäre Geste, den gesteilten Arm, die geballte Faust in Papiermaché aus.“ (WB III, 281) Vgl. vor diesem Hintergrund auch Benjamins kritischen Vergleich von Expressionismus und Barock im Trauerspielbuch (WB I.1, 234-236). Auch Scholem und Adorno sind sich einig, dass Benjamin zum literarischen (!) Expressionismus „nie ein positives Verhältnis gefunden“ (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S.  85) bzw. „von Anfang an Distanz gehalten“ hat (Theodor  W.  Adorno: A l’écart de tous les courants [1969]. In: ders.: Über Walter Benjamin, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1990, S. 101-103, hier: S. 101). Vgl hierzu die Kap. 5.1 und 5.2. Dieser Zusammenhang wird auch nochmals im Hauptteil B der Arbeit anhand der Auseinandersetzung mit Ernst Blochs expressionistischem Werk Geist der Utopie gestreift. 38 Dass eine Überbetonung sowohl des Metaphysischen als auch des Avantgardistischen (im Sinne eines exklusiven Zirkels) in Hinblick auf Friedlaender nicht besonders weit trägt, zeigen die verschiedenen populärwissenschaftlichen und pädagogischen Publikationen wie die noch zu untersuchende Julius Robert Mayer-Biographie (vgl. Kap.  3.1) oder das Buch Kant für Kinder. Fragelehrbuch zum sittlichen Unterricht (1924). Mit diesen Publikationen hat Friedlaender immer auch versucht, seine philosophischen Arbeiten zu popularisieren und für eine konkrete praktische Lebensführung wirksam zu machen. 39 Als Stichwortgeber erscheint Friedlaender u.a. bei Norbert Bolz. In seiner Arbeit über den philosophischen Extremismus in der Weimarer Republik hat Bolz die Schöpferische Indifferenz herangezogen und diesen „Grundbegriff der Philosophie Salomo Friedlaenders“ in ein assoziatives Verhältnis zu Benjamins „Begriff historischer

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Um auch andere Formen des Bezugs zwischen Benjamin und Friedlaender in den Blick zu bekommen, wird die Aufgabe der vorliegenden Arbeit darin bestehen, unterschiedliche Modi und Grade der intertextuellen Bezüglichkeit zwischen Benjamin und Friedlaender zu differenzieren. Dabei laufen diese intertextuellen und kontextuellen Lektüren jedoch keineswegs darauf hinaus, Benjamin in diesen Kontexten aufgehen zu lassen. Die notwendige detaillierte philologische Rekonstruktion und die Öffnung der Texte Benjamins auf ihre disparaten, stetig im Wandel befindlichen Kontexte schließt keineswegs aus, zugleich auch ein systematisches Interesse zu verfolgen und diese konkreten Kontexte auf werkimmanente Konsequenzen hin zu befragen. Uwe Steiner hat in diesem Sinne und anlässlich des 100. Geburtstages Walter Benjamins resümiert, dass sich die verschiedenen (methodischen und theoretischen) Herangehensweisen an die Texte und Schreibweisen Benjamins nicht widersprechen müssen: „In dem Bemühen um eine kohärente, seine zentralen Themen integrierende Lektüre des Werkes und in der in einer Vielzahl von Studien dokumentierten Absicht, Benjamin im Kontext (Burkhardt Lindner) zu lesen, zeichnen sich zwei einander ergänzende Wege ab […].“40 Diese sich ergänzenden Perspektiven markieren den doppelten Einsatzpunkt der vorliegenden Arbeit: Zwischen kontextueller Lektüre und systematischem Interesse lässt sich in der Konstellation ‚Benjamin – Friedlaender‘ ein bemerkenswerter ‚intertextueller Resonanzraum‘ zu Tage fördern, der sowohl ganz konkrete ‚Einflüsse‘ vor allem im Umfeld von Benjamins erster systematischer Arbeit an einer größeren Schrift zur Politik zwischen 1918 und 1923 umfasst als auch auffallende erkenntnistheoretische Korrespondenzen

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Erfahrung als Resultat dialektischer Polarisation“ gesetzt. (Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1989, S. 137) Allerdings sucht Bolz nicht nach intertextuellen Resonanzen, sondern bestimmt das Verhältnis einseitig zugunsten Benjamins: „Benjamin emanzipiert dann diesen Gedanken [der ‚schöpferischen Indifferenz‘, K.D.] aus seinem versponnen-aphoristischen Kontext und bestimmt die Ideen als Konstellationen des Einmalig-Extremen.“ (ebd., S.  10) Über die stichwortartige Verbindung zu der hier mit dem „Einmalig-Extremen“ anzitierten ‚Ideenlehre‘ aus dem Trauerspielbuch hinaus scheint es für Bolz keine Verbindungen zu Friedlaender zu geben. Sami R. Khatib wiederum geht davon aus, dass sich eine „verdeckte[…] Rezeption Friedlaenders […] unter dem Stichwort der ‚schöpferischen Indifferenz‘“ sogar über Benjamins „gesamtes Werk erstreckt […].“ (Sami R. Khatib: ‚Teleologie ohne Endzweck‘. Walter Benjamins Ent-Stellung des Messianischen. Marburg 2013, S. 232) Auch Uwe Steiner, der sich in mehreren Studien sehr nachdrücklich und präzise um die Rekonstruktion des geistesgeschichtlichen Entstehungskontext der frühen Arbeiten zur Politik bemüht hat, scheint bisweilen dazu zu tendieren, Friedlaender als Stichwortgeber zu betrachten (vgl. Uwe Steiner: Walter Benjamin. Stuttgart 2004, S. 75). Uwe Steiner: Vorbemerkungen. In: ders. (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag. Bern u.a. 1992, S. 7-8, hier: S. 7.

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und methodische Interferenzen bis hinein in die produktive Auseinandersetzung mit Friedlaenders Polaritätsphilosophie der Schöpferischen Indifferenz in Benjamins späteren Arbeiten bereithält. Mit dem Begriff des ‚intertextuellen Resonanzraums‘ ist an dieser Stelle jedoch noch kein konkreter methodischer Zugang benannt. Es handelt sich hier zunächst um eine provisorische Bezeichnung, denn die Aufgabe der vorliegenden Arbeit wird darin bestehen, die konkreten Beziehungsformen allererst sukzessive zu entfalten und in ihren unterschiedlichen Intensitätsgraden zu differenzieren. Dabei bilden die einflussphilologische Fragestellung auf der einen Seite und der Begriff der „Entwendung“41, den Burkhardt Lindner für Benjamins spezifischen Umgang mit anderen Texten geprägt hat, auf der anderen Seite gewissermaßen die extremen Pole dieses Untersuchungsfeldes, das konkrete intertextuelle Bezugnahmen, intellektuelle Nachbarschaftsverhältnisse und ferne theoretische Echos gleichermaßen umfasst. Ob Benjamin dann tatsächlich nicht nur „25 Jahre lang ein intensiver und origineller Leser F[riedlaender]/M[ynona]s“42 war, sondern es darüber hinaus auch eine „Tendenz“ bei ihm gibt, Friedlaender „nicht zu zitieren, aber von ihm zu zehren“43, wie Detlef Thiel behauptet, lässt sich nur vor dem Hintergrund der konkreten Berührungspunkte, intertextuellen Beziehungsgeflechte sowie den näher zu verfolgenden theoretischen und darstellungspraktischen Korrespondenzen klären.

Die erkenntnisleitenden Vergleichsperspektiven

Benjamins Entdeckung des Philosophen und Schriftstellers Friedlaender vollzieht sich gewissermaßen in zwei Etappen. Noch bevor sich Benjamin mit dem Philosophen Friedlaender zu beschäftigen begann, kam er mit dem GroteskenSchriftsteller Mynona in Berührung. Gershom Scholem, der Mynonas 1913 veröffentlichte Grotesken-Sammlung Rosa, die schöne Schutzmannsfrau als „unübertroffene[s] Werk dieser Gattung“44 bezeichnet, berichtet, dass Benjamin sich dann allerdings schnell auch für „[d]ie philosophischen

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Burkhardt Lindner: Benjamins Transformationen der Psychoanalyse. Eine Rekonstruktion. In: Jessica Nitsche/Nadine Werner (Hg.): Burkhardt Lindner: Studien zu Benjamin. Berlin 2016, S. 353-468, hier: S. 385. Vgl. hierzu auch Jessica Nitsche/Nadine Werner, Der Jäger und das Scheue Wild, S. 1-6. Detlef Thiel, Maßnahmen des Erscheinens, S. 8. Ebd., S. 108. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 62.

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Hintergründe dieser Geschichten“45 zu interessieren begann. Benjamin hat somit wohl schon sehr früh den doppelten Schreibimpuls des „ernsthafte[n] Philosoph[en] und Humorist[en] in Personal-Union“ (F/M 26, 461) registriert, der seinen Schreibstil explizit auf dieses Wechselspiel zwischen polaritätsphilosophischer Denkarbeit und literarischer Schreibweise verpflichtet hat. In einem Brief an seinen Schwager, dem Rabbiner Salomon Samuel, führt Friedlaender zu der schwierigen Rezeption seiner Schriften aus: „Es liegt wohl auch an mir, am Stil, da ich in ihm Theorie, Kunst, Praxis nicht trenne und Philosophie nicht nur wissenschaftlich, sondern immer lebendig betreibe. Wiederum ist für Laien daher mein Stil zu abstrakt. Mein Ideal ist immer die Formulierung, die das Intellektuelle, das Sinnliche, das Ästhetische zusammen bringt. Da nun die meisten Leute Spezialisten sind, werden sie dadurch verwirrt, und ich mache es Niemandem recht […].“ (F/M 29, 401)

Anhand dieser Selbstbeschreibung lässt sich ein erster grundsätzlicher Berührungspunkt zwischen Benjamin und Friedlaender anzeigen. Denn Benjamins besonderes Interesse an diesem ‚grenzgängerischen Schreibstil‘ dürfte sich gleichermaßen aus seinen ästhetiktheoretischen Überlegungen begründen, die unter den erkenntnistheoretischen Vorzeichen einer „Zertrüm­ merung der Lehre vom Gebietscharakter der Kunst“ (WB VI, 218f.) stehen, als auch aus seiner eigenen erkenntnistheoretisch begründeten Affinität für eine 45 Ebd. Das scheint jedoch nicht gleichermaßen auch für Scholem selbst zu gelten. Zwar erinnert sich Scholem, dass Benjamin ihm Friedlaenders Schöpferische Indifferenz, ein Werk, „von dem er viel hielt“ (ebd., S. 129), geschenkt habe, doch zu einer weiteren Diskussion über Friedlaender kam es anscheinend nicht. Jedenfalls blieben Benjamins mehrfach wiederholten brieflichen Aufforderungen zur Mitteilung über Lektüreeindrücke offenbar unbeantwortet. Nebenbei ist an dieser Stelle außerdem Scholems historische Einordnung nicht nur der Grotesken Friedlaenders, sondern der ganzen Gattung bemerkenswert. Denn bei Scholems Ausführungen darüber, dass diese Grotesken eine „nach Hitler unmöglich gewordene[…] und heute kaum mehr zugängliche[…] Literaturform“ (ebd.) sei, besteht doch eine offenkundige Analogie zu Adornos berühmtem Satz, dass ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben barbarisch sei. (vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.  10/1, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, S. 11-30, hier: S. 30; vgl. auch die spätere Reflexion darüber in ders.: Negative Dialektik. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.6, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 355) Ob das eher marginale Interesse an Friedlaender nach 1945 auch aus dieser nachvollziehbaren historischen Unzugänglichkeit des Grotesken resultiert, wäre an anderer Stelle genauer zu untersuchen. Im Übrigen konnte man aber auch bei Adorno kaum ein weiteres Interesse an der Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender erwarten. Bei Adorno findet sich nur ein kurzer, auf das Philosophische bezogene, sehr negativer Hinweis zum „Altkantianer Mynona“ und seinem „Idealismus als Hybris“ (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, S. 392).

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Schreibweise, die ästhetische Darstellungsprinzipien und nicht-propositionale Aussageformen zum konstitutiven Bestandteil philosophischer Denkarbeit macht.46 Friedlaender hat diesen Schreibstil nicht nur praktiziert, sondern eigens zum Gegenstand der Reflexion über das grundsätzliche Verhältnis von sinnlicher und begrifflicher Erkenntnis erhoben. Angelegentlich einer Ausstellung Alfred Kubins im Kunstverein Hamburg 1931 schreibt Friedlaender: „Ohne den philosophischen Geist bleibt der Künstler blind, aber der Philosoph, der die Sinnlichkeit vernachlässigt, ein hohler hegelisierender Abstraktionskopf.“ (F/M 3, 843)47 Offenkundig spielt diese beinahe schon programmatische Formulierung auf die bekannte Formel aus Kants Kritik der reinen Vernunft an: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“48 Während es Kant um die transzendentallogische Bestimmung der wechselseitigen Abhängigkeit von sinnlicher Anschauung und begrifflicher Verstandestätigkeit geht, übersetzt Friedlaender dieses apriorische Verhältnis in eine aus ästhetischer Bildproduktion und begrifflichem Denkkalkül bestehenden Schreibpraxis, bei der die Namen Friedlaender und Mynona zwei wechselseitig aufeinander angewiesene Sprechpositionen bezeichnen. Und während bei Kant die genannte Wechselbeziehung von Anschauung und Begriff auf die Idee einer ‚Vereinigung‘49 zuläuft, besteht Friedlaender indes viel stärker auf die Spannung als solche, die er aktiv hervorzutreiben sucht und an der sich sein Schreiben entzündet. Anders auch als der Kant-Leser Friedrich Schiller, auf den er sich immer wieder einmal beruft, sieht Friedlaender in dieser doppelten Schreibweise keine problematische „Zwitter-Art“50. Wo Schiller das ‚Schweben‘ „zwischen dem 46

Benjamin und Friedlaender machen beide ihre ersten philosophischen Schritte in einem neukantianischen Umfeld. Dass sich ihr vergleichbares ‚grenzgängerisches‘ Schreiben auch als Reaktion auf eine als zu eng empfundene neukantianische Wissenschaftslehre auffassen lässt, führt das Ende von Kap. 2.3 etwas näher aus. 47 Friedlaender und Kubin verbindet ein jahrelanger intensiver brieflicher Austausch über Friedlaenders Philosophie; außerdem illustrierte Kubin mehrere von Friedlaenders Büchern. Kubins phantastischer Roman Die andere Seite (1909) wurde auch von Benjamin hochgeschätzt. 48 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd.1. In: ders.: Werkausgabe, Bd. III, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 98 [B75]. 49 Nach dem oben zitierten Satz heißt es bei Kant weiter: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ (ebd. [B75-B76]). 50 Friedrich Schiller an Johann Wolfgang v. Goethe, Brief vom 31.8.1794. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, hg. v. Emil Staiger, rev. Neuausgabe von Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. M. 2005, S. 43.

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Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie“51 als synkretistische Gefahr wahrnimmt,52 insistiert Friedlaender gerade auf diesen Schwebezustand zwischen Philosophie und Dichtung als Ort produktiver Spannungsbeziehungen: „Mynona war und ist ein wohlthuendes Gegengewicht gegen den Verfasser der Schöpferischen Indifferenz, die Zerstreuung zu dieser Anspannung […].“ (F/M 24, 631) In dieser Selbstbeschreibung verweist Friedlaender zugleich auf das zentrale Moment seiner Philosophie und Dichtung. Denn Anspannung und Zerstreuung, Attraktion und Repulsion (Kant), Systole und Diastole (Goethe) bilden jene gegenstrebigen und dennoch konstitutiv aufeinander bezogenen Begriffspaare, zwischen den sich ein dynamischer Motiv- und Denkraum aufspannt, den Friedlaender unter dem Begriff der Polarität zum Zentrum seines Philosophie- und Schreibprojektes machen wird. In einem späten Brief resümiert er über dieses Spannungsverhältnis von ästhetischer Darstellung und philosophischer Begriffsarbeit: „Schon in meinen grünsten Jahren fiel mir ‚Polarität‘ als die beste Vermittlung zwischen Intellekt und Sinnlichkeit auf.“ (F/M 30, 546) Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Denken, Bild und Begriff sind damit zwei Ausdrucksweisen, die bei Friedlaender gerade in ihrer polaren Spannung zueinander ihr Erkenntnispotential entfalten. Dass gerade die polare Spannung aus Bilddenken und Begriffsarbeit auch einschlägig für Benjamins Schreib- und Darstellungsweise ist, wurde bereits in mehreren Studien und aus verschiedenen Perspektiven intensiv erforscht. So hat Sigrid Weigel Benjamins theoretische Schreibweise grundsätzlich von dem „Feld seines Bilddenkens, das die spezifische Praxis seiner Theoriebildung profiliert“53, bestimmt und das Benjaminsche ‚Denkbild‘ als das erkenntnistheoretische ‚Dritte‘ „jenseits des Gegensatzes von poetischer Sprache und philosophischem Diskurs“54 beschrieben. Dass sich Benjamins Bilddenken vor allem hinsichtlich seiner geschichtsphilosophischen Polarisierung etwa von Mythos und Aufklärung, Natur und Geschichte oder Magie und Wissenschaft nicht bloß in einem abstrakten Theoriezusammenhang 51 Ebd. 52 Dazu heißt es weiter bei Schiller: „[…] denn gewöhnlich übereilt mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktionen und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“ (ebd.). 53 Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, S. 15. 54 Ebd., S. 62. Für die damit zusammenhängende polare Spannung hat Weigel im bekannten Engel der Geschichte aus der neunten geschichtsphilosophischen These das paradigmatische Beispiel einer bildlichen Darstellungslogik identifiziert, die gerade über eine Textbewegung verläuft, „die in der Konstellation einer gegenstrebigen Fügung mündet.“ (ebd., 64).

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artikuliert, sondern im Zusammenhang mit virulenten zeithistorischen Fragestellungen und konkreten intellektuellen Beziehungen steht, hat Cornelia Zumbusch anhand des Denkraums dargelegt, der sich zwischen Benjamin und Aby Warburg aufspannt. Zumbusch hat in ihrer Vergleichsstudie über die methodischen Voraussetzungen von Aby Warburgs ‚Mnemosyne-Atlas‘ und Benjamins ‚Passagenwerk‘ gezeigt, dass Benjamin im dialektischen Bild eine symbolische Erkenntnisform entwickelt, die weder auf symbolische Präsenz noch auf reine Arbitrarität abgestellt ist, sondern auf „eine dritte Form“55 zwischen diesen beiden Symbolbegriffen zielt. Dabei identifiziert Zumbusch in den „Goethesche[n] Schlüsselbegriffe[n] Polarität und Steigerung“56 das Vorbild des Polaritätsdenkens bei Benjamin und Warburg und bindet die ‚Übernahme‘57 zurück auf den konkreten wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der Diskussion um die entstehende ‚Erste Kulturwissenschaft‘, in der die Konstellation zwischen Benjamin und Warburg vor allem an den „Übergängen zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen einer Wissenschaft von den Bildern und einer Wissenschaft in Bildern“58 verortet ist. Heinz Brüggemann wiederum betont anhand von Benjamins frühen Aufzeichnungen und Notizen zur Ästhetik den „Entstehungsprozeß einer Polarität […], die für Benjamin […] als Konstellation von Extremen das Spannungsfeld der ästhetischen Moderne bestimmt.“59 55 Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk. Berlin 2004, S. 17. 56 Ebd., S. 29. 57 „Nicht nur Benjamin, sondern auch Warburg übernimmt Gedankenfiguren aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften.“ (ebd., S.  308.) Als Zentrum der „produktive[n] Aneignung Goethescher Gedankenfiguren“ (ebd.) bestimmt Zumbusch den Begriff der Anschauung über den sich die „symbolische[…] Verfaßtheit des dialektischen Bildes“ (ebd., 307) erkennen lässt. 58 Ebd., S. 30. (Hervorhebung im Original) 59 Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 220. Exemplarisch macht Brüggemann das an der Gegenüberstellung von kindlicher Phantasie, die sich im reinen Medium der Farbe abspielt, und der schöpferischen Einbildungskraft als aktive Formgestaltung (vgl. WB VI, 109-129; WB VII.1, 19-26 und WB VII.2, 562-564) fest. Vor diesem Hintergrund bespricht Brüggemann auch kurz die Bedeutung des „von Benjamin außerordentlich geschätzte[n] Hauptwerk[s]“ (Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 120) Friedlaenders und untersucht anhand des kurzen Textes Gespräch über dem Corso (vgl. WB IV.2, 763-771), inwiefern Berührungspunkte zwischen Friedlaenders Schöpferischer Indifferenz – hier allerdings in problematischer Weise als „identitätsphilosophische[r] Grundgedanke[…]“ (Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 120) bezeichnet – mit der Idee kindlicher Unschuld in Benjamins Text auszumachen sind. „Polarität ist“, so Brüggemann weiter, „charakteristisch auch für Benjamins Modellbildungen, d.h. für seine um Extrem konstituierten Konstellationen in der Kunstgeschichte“ (ebd., S.  122)

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Diese Forschungsarbeiten zeigen, dass polares Denken und Schreiben bei Benjamin auch vor und abseits der intellektuellen Begegnung mit Friedlaender zentral sind.60 Deshalb mag auch Benjamins grundsätzliche Affinität für polare Denkfiguren die naheliegendste Erklärung für die produktive Rezeption der Schriften Friedlaenders sein.61 Nun geht es den nachfolgenden Untersuchungen allerdings weder darum, die bereits intensiv erforschte Spannung aus Bilddenken und Begriffsarbeit als solche in Benjamins Schreibweise nochmals zum zentralen Gegenstand zu machen, noch die verstreuten direkten Verweise auf Friedlaender bürokratisch zu registrieren, um die Forschungsbefunde zu bestätigen. Stattdessen wird der Blickwinkel hier durch die Konstellation mit Friedlaender stärker als bisher auf den zeitdiagnostischen Einsatzpunkt polarer Denkfiguren bei Benjamin verschoben. Damit richtet die Untersuchung ihren Blick zugleich auf die Vorgeschichte von Benjamins spezifischer dialektischer Arbeitsmethode, die er im ‚dialektischen Bild‘ und der Vorstellung von einer ‚Dialektik im Stillstand‘ konzipiert. Dem ‚dialektischen Bild‘ sowie der ‚Dialektik im Stillstand‘ liegt ein grundsätzliches Denken in polaren Spannungen zugrunde. So betont Benjamin beispielsweise im Konvolut N der Passagen-Aufzeichnungen, dass die dialektische Darstellung der Geschichte historische Tatbestände in eine Vor- und und findet sich im Corso-Text dort wieder, wo „Unschuld aufgeht in der Fähigkeit, sich in den Extremen (des Zarten und des Ungeschlachten etc.) und durch die Extreme hindurch zu erhalten.“ (ebd., S. 119). 60 Eli Friedlander hebt den Akt der Polarisierung bei Benjamin ebenfalls besonders hervor. Dabei scheint die Herstellung von Polaritäten sogar systematische Bedeutung zu bekommen, schließlich verfolgt Eli Friedlanders Studie ein systematisches Interesse an einer „Einheit des Denkens“. (Eli Friedlander: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München 2013, hier: S. 8; für die Bedeutung der Polarisierung bei Benjamin vgl. ebd., S. 82). 61 Der Begriff der ‚polaren Denkfigur‘ wird in der Arbeit zunächst als provisorische Bezeichnung für die bei Benjamin und Friedlaender gleichermaßen zu beobachtende Denk- und Schreibweise an der Grenze von Bild und Begriff verwendet. Caroline TorraMattenklott hat einerseits zurecht angemahnt, dass man „deskriptive Möglichkeiten […] verschenkt, wenn ‚Denkfigur‘ zu einem unreflektierten modischen Synonym für ‚Topos‘, ‚Motiv‘ oder ‚Idee‘ verblasst.“ (Caroline Torra-Mattenklott: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Paderborn 2016, S.  61) Anderseits bleibt eine der eigentlichen Untersuchung vorangestellte Definition des Begriffs abstrakt. Daher begründet die vorliegende Arbeit die Verwendung erst im Rahmen ihrer historischen Untersuchung zur Geschichte polarer Denkfiguren, indem gezeigt wird, dass sowohl der erkenntnistheoretische Schwebezustand zwischen Bildlichkeit und Begrifflichkeit als auch die seit der Zeit um 1800 erkennbaren Anstrengungen um eine zeitdiagnostische Funktionalisierung der Polarität nahelegen, von einer ‚Denkfigur‘ der Polarität in Anlehnung an Erich Kleinschmidts Studie zur ‚Denkfigur der Denkfigur‘ zu sprechen. (vgl. hierzu Kap. 2.1).

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Nachgeschichte polarisiere. (Vgl. WB V.1, 587) Bislang lag der Schwerpunkt der Forschung zu Benjamins dialektischer Methode allerdings meist auf der Frage nach Benjamins spezifischer Auseinandersetzung mit materialistischen Theorien, und hier insbesondere – vermittelt über Georg Lukács – mit Marx (und Hegel). Mit Blick auf Benjamins zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren wählt die vorliegende Untersuchung einen anderen Zugang, indem sie die Perspektive umdreht: Nicht die Hinwendung zu einer materialistisch-dialektischen Position ist ausschlaggebend für sein Denken in Polaritäten. Erst die Bedeutung der Polarität als grundlegende Denkfigur bei Benjamin erklärt seine sehr spezielle materialistisch-dialektische Schreibweise. Dabei finden sich Auseinandersetzungen mit polarem Denken schon sehr früh bei ihm. In einer frühen Debatte mit Martin Buber, in der es um die Frage eines politisch wirksamen Schreibens geht, versucht Benjamin beispielsweise seine eigene Position mithilfe polarer Denkfiguren zu profilieren. (vgl. Kap. 5.3) Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass zur Entwicklung dieses Denkens in Polaritäten ganz wesentlich auch die Beschäftigung mit den Schriften Salomo Friedlaenders gehört. Zudem erprobt Benjamin die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren häufiger zunächst in kleinen, in der Forschung eher marginalisierten Formen wie den Kritiken und Rezensionen. (vgl. Kap 4). In ihnen experimentiert Benjamin mit den Möglichkeiten einer kritischen Zeitdiagnostik aus polarer Perspektive, die er in seiner ebenfalls auf eine kritische Gegenwartserkenntnis ausgerichteten Geschichtsphilosophie und seinem dialektischen Bilddenken später weiterentwickelt. Vor diesem Hintergrund ist das Erkenntnisinteresse an der intellektuellen Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender durch zwei grundsätzliche Vergleichsperspektiven bestimmt, die unter unterschiedlichen Gesichtspunkten und hinsichtlich verschiedener konkreter Debattenkonstellationen in allen Kapiteln der Arbeit untersuchungsleitend sind und dabei die eingangs dargelegten Fragen sowohl nach Benjamins ästhetischen Darstellungsverfahren im Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Politik als auch nach seiner Reflexion über den eigenen Schreibort als kritischer Intellektueller betreffen. Erstens wird sich die Untersuchung des intertextuellen Bezugsfeldes zwischen Benjamin und Friedlaender in seinen unterschiedlichen Intensitätsgraden dort als besonders produktiv erweisen, wo beide in vergleichbarer Weise polare Denkfiguren in ihren Schreibpraktiken als zeitdiagnostisches Erkenntnismedium einsetzten. Zweitens geht mit diesem zeitdiagnostischen Einsatz bei beiden ein durchgängig zu beobachtendes Interesse an Figuren einher, die auf die latente Position inmitten derjenigen Extreme verweisen, die durch den Einsatz polarer Denkfiguren allererst als Elemente eines

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Spannungsgefüges inszeniert werden. Das kann die eigene Schreibposition genauso wie den prekären Ort der Gegenwart in ihrem spannungsgeladenen, krisenhaften Status betreffen, auf die unterschiedliche Kräfte einwirken. Beide Aspekte reagieren in Benjamins und Friedlaenders Schriften permanent aufeinander, sollen aber hier einleitend getrennt voneinander skizziert werden. Zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren Mit der Untersuchung der vielfältigen Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren lässt sich nicht nur Benjamins grundsätzliche Affinität für polares Bezüglichkeitsdenken verdichtend beschreiben. Mehr noch kann Benjamins Denken des Politischen und seine eigene Standortbestimmung konstitutiv von der ästhetischen Darstellungslogik des Polaren her bestimmt werden. Benjamin und Friedlaender mobilisieren in vergleichbarer Weise polare Denkfiguren als ästhetisches Darstellungsprinzip in ihren zeitdiagnostischen und -kritischen Schreibprojekten, um sowohl die politischen Krisensymptome, philosophischen Problemstellungen und kulturellen sowie medientechnischen Umbrüche des beginnenden 20. Jahrhunderts auf ihren Begriff zu bringen als auch die darin latent angelegten messianischen Energien, politischen Hoffnungen und kritischen Interventionsmöglichkeiten des Intellektuellen zum Ausdruck zu bringen. Mit dieser gleichermaßen philologischen und systematischen Perspektive zeigt sich, wie Benjamins erkenntniskritisch und ästhetisch orientierte Standortbestimmung entlang des Rückgriffes auf polare Denkfiguren eine kritische Theoriearbeit am Politischen der Literatur und des kritischen Intellektuellen inmitten der Extreme generiert. Ein Ziel der Arbeit ist es daher, den spezifischen Denkraum in der Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender am Maßstab des erkenntniskritischen Einsatzes polarer Denkfiguren für ihre zeitdiagnostischen wie politischen Schreibweisen auszumessen. Bei Friedlaender ergibt sich dieses besondere Interesse für polare Spannungsbeziehungen unmittelbar aus dem Grundgedanken seines ‚Hauptwerkes‘62 Schöpferische Indifferenz: „Das allerallgemeinste Merkmal jedes irgend möglichen Phänomens ist der Unterschied, die Differenz, welche bis in Extreme gehen kann.“ (F/M 10, 98) Friedlaenders erkenntniskritische und darstellungsästhetische „polare Perspektive“ (ebd., 433) zielt darauf, aus den 62

Detlef Thiel diskutiert diese Bezeichnung als Hauptwerk kritisch und geht davon aus, dass das Werk eher als eine entscheidende „Phase der Philosophie Friedlaender/Mynonas“ zu charakterisieren ist. (Detlef Thiel: Einleitung: Friedlaender/Mynonas ‚Hauptwerk‘?. In: F/M 10, S. 9-87, hier: S. 10) Aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht hat die Schöpferische Indifferenz jedoch die größte Wirkung in ihrer Zeit gehabt und wird daher nachfolgend – wirkungsgeschichtlich betrachtet – als Hauptwerk bezeichnet.

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unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen, ästhetischen Zeitfragen und Krisensymptomen Konfliktlinien und Problemstellungen herauszuarbeiten, die gerade in ihren extremen Ausprägungen einen zeitdiagnostischen und -kritischen Erkenntniswert erhalten. Damit versucht die Arbeit gerade diejenigen theoretischen Überlegungen zu einer kritischen Gegenwartserkenntnis bei Friedlaender herauszuarbeiten, die bisher kaum untersucht worden sind.63 Die Problemzusammenhänge und Krisenbeschreibungen ergeben sich aus den konkreten Spannungsverhältnissen der eigenen Gegenwart. Für den kritischen Intellektuellen sind sie von besonderer Bedeutung in dem Moment, wo er die politischen Dynamiken und Tendenzen dieser Spannungsverhältnisse kritisch zu beobachten strebt und sie auf den Begriff zu bringen versucht. Allen voran sind damit die politische Polarisierung in extreme Parteien und Ideologien in den Krisenjahren der Weimarer Republik 1923 und ab 1929 und die damit zusammenhängenden ökonomischen Krisen und Verwerfungen gemeint. Die Spannungen betreffen aber auch ganz grundlegend die unterschiedlichsten politischen, sozialen, technischen und epistemischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Spannung zwischen einem ungebrochenen wissenschaftlich-technischen Fortschritt und einer anhaltenden Grundlagenkrise der Wissenschaften; die Spannung zwischen einer demokratischen Gesellschaftsordnung und den mannigfaltigen Restbeständen monarchistisch-wilhelminischer Einstellungen, Ideale und Verhaltensformen; die Spannung zwischen dem Ideal bürgerlicher Individualität und den neuen Massenphänomenen in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen; die Spannung zwischen ‚klassischen‘ intellektuellen Ausdrucksmedien (Buch, Zeitung) und der zunehmenden Bedeutung neuer 63

Uwe Steiner hat als Erster den konkreten Einfluss Friedlaenders auf Benjamins frühen politischen Arbeiten untersucht. Da Friedlaender für Steiner aber „kein genuin politisches, sondern erklärtermaßen ein umfassend metaphysisches Anliegen“ (Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 70) verfolge, konzentriert er sich mehr auf den allgemeinen Debattenzusammenhang zwischen Friedlaender, Benjamin und Erich Unger. (vgl. hierzu auch Kap. 7.1) Detlef Thiel wiederum hat gezeigt, dass Friedlaender vor allem als Unterzeichner von Petitionen und Aufrufen politisch aktiv war, wodurch sich ein enges Wechselverhältnis zwischen „theoretischer und praktischer Haltung“ aufzeigen lasse. (Detlef Thiel: Philosophischer Polarismus: Zum sozialen und politischen Engagement Salomo Friedlaenders. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 19 (2011), S. 147-196, hier: S. 152) Die vorliegende Arbeit nimmt hier gewissermaßen eine Zwischenposition ein, indem sie die konkreten politischen Interventionen und zeitdiagnostischen Kritiken Friedlaenders auf die für Benjamins Rezeption entscheidende Frage zurückbindet, wie dort die kritischen Erkenntnismöglichkeiten der Gegenwart aus gleichermaßen politischer und ästhetischer Sicht überhaupt reflektiert werden.

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Medien (Rundfunk, Film); die Spannung zwischen der literarischen und philosophischen Tradition und der Notwendigkeit, neue kritische Denkmodelle und ästhetische Beschreibungsformen für die unterschiedlichen gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Veränderungen der Zeit entwickeln zu müssen; die Spannung zwischen der Idee eines ungebundenen, engagierten Schreibens inmitten dieser Veränderungen und der prekären ökonomischen Lage der „freischwebende[n] Intelligenz“64 vor allem auf dem literarischen Büchermarkt und inmitten der neuen Medienkonkurrenz. Friedlaender zielt jedoch nicht darauf, nur extreme Ausprägungen der Zeit als solche zu beschreiben, sondern den prekären und krisenhaften Status von Gegenwart als Produkt des Aufeinandertreffens solcher Spannungen in den Blick zu bekommen. Denn, so Friedlaender weiter, „[o]hne Gegenseitigkeit fehlt den Extremen (Polen) aller Zusammenhang.“ (F/M 10, 143) Friedlaenders Anstrengung, als „kritische[r] Kommentator seiner Zeit“65 polare Denkfiguren als kritisches Instrument der Zeitanalyse einzusetzen, korrespondiert mit einem vergleichbaren Darstellungsverfahren, das bei Benjamin an unterschiedlichen Stellen zu beobachten ist. Denn auch bei Benjamin entzündet sich gerade am Einsatz polarer Denkfiguren der immer wieder neu einsetzende Versuch, sowohl die politische und ästhetische Signatur der Zeit als auch die eigene Schreibposition inmitten der polaren Spannungsbeziehungen erkenn- und darstellbar zu machen. In seinen Arbeiten bemüht Benjamin für diese differenziellen Bezüglichkeitsformen einen vielfältigen Imaginationsraum polarer Denkfiguren, der u.a. das Verhältnis von Bild und Begriff, Geschichte und Gegenwart oder politischer und literarischer Tendenz betrifft. Im Kunstwerk-Aufsatz spricht er von einem „gewisse[n] Oszillieren zwischen den beiden polaren Rezeptionsarten“ (WB I.2, 483) „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ (ebd., 482); für seinen auf dem Begriff des Ursprungs statt auf linearen Entwicklungslogiken basierenden Geschichtsbegriff spricht er von der „fruchtbaren Polarität“ zwischen „Geschichtliche[m]“ und „Politsche[m]“ (WB VI, 443); gegenüber Adornos Insistieren auf dialektische Vermittlung seiner ‚Urgeschichte der Moderne‘ setzt er – möglicherweise in der Tradition herakliteischen Polaritätsdenkens – das Bild von einem Bogen ein, der gespannt werden müsse, um die Dialektik zu bezwingen (vgl. Br V, 145);66 seine 64 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt a. M. 92015, S. 135. 65 Manfred Kuxdorf: Der Schriftsteller Salomo Friedlaender/Mynona: Kommentar einer Epoche. Eine Monographie. Frankfurt a. M. 1990, S. 75. 66 „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinne zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“ (Heraklit: Fragment 52. In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 27.) Benjamin erklärt gegenüber Adorno außerdem, dass seine beiden ‚Entwürfe‘ zum ‚Passagen-Werk‘

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frühen sprachphilosophischen Überlegungen aufgreifend, verpflichtet er das Verhältnis zwischen Schreiben und Politik auf die Reflexion der „Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein“ (WB VI, 331); im ‚Passagen-Werk‘ benutzt er wiederum den „apollnischen Schnitt“ (WB V.1, 588) für die Polarität von Vor- und Nachgeschichte und ruft damit (möglicherweise) den maßästhetischen Motivraum der proportio divina auf.67 Diese vergleichbare Affinität für polare Denkfiguren bei Benjamin und Friedlaender ist in den einzelnen Untersuchungsteilen zurück zu beziehen auf den auch historisch zu beobachtenden problematischen Status polarer Denkfiguren als zeitdiagnostisches Erkenntnismedium. Das betrifft insbesondere die von beiden favorisierte Schreibweise im Spannungsfeld aus Bilddenken und Begriffsarbeit. Bei Nietzsche klingt dieses Problem bereits an: In seiner Darstellung von Heraklits dynamischer ‚Philosophie des Werdens‘ spricht Nietzsche explizit von der „Form der Polarität“68 und rekurriert damit auf den erkenntnistheoretischen Schwebezustand dieser „Form“ zwischen Bildlichkeit und Begrifflichkeit, den er in Heraklits Fragmenten erstmals und für das abendländische Denken in paradigmatischer Weise formuliert findet. Denn bezeichnenderweise artikuliert sich bereits im berühmten 52. Fragment des Heraklit der allen späteren Diskursen über Polarität zugrundeliegende Grundgedanke in einer bildlichen Analogie: „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinne zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“69 Dieses Changieren polarer Denkfiguren zwischen begrifflicher und bildlicher Erkenntnisform ist auch bei Benjamin und Friedlaender stets präsent, so dass die Problematisierung gesellschaftlicher, politischer und ästhetischer Zeittendenzen in polaren Denkfiguren stets mit der Problematisierung dieser Denkfiguren selbst einhergeht. Anders formuliert: Die erkenntnistheoretische Uneindeutigkeit zwischen begrifflicher Explikation nicht aufeinanderfolgen, sondern ein „polares Verhältnis“ (Br  V, 143) zwischen ihnen besteht. Weiter schreibt er in auffälliger Ähnlichkeit zu Heraklits Bild: „Nun habe ich die beiden Enden des Bogens – aber noch nicht die Kraft, sie zu spannen.“ (ebd.) (vgl. zu Heraklit auch das Kap. 3.2). 67 Zur Diskussion des apollinischen Schnittes vgl. Giorgio Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt a. M. 2006, S. 62-66. Eli Friedlander geht davon aus, dass es sich hier um eine Metapher für den goldenen Schnitt handelt (Eli Friedlander, Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait, S. 83). Für die Diskussion um die ‚goldene Mitte‘ vgl. Kap 10.3. 68 Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 799-872, hier: S. 825. 69 Heraklit: Fragment 52. In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 27.

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und einem vielfältigen Imaginationsraum polarer Denkfiguren hält bei beiden stets die Frage präsent, inwiefern Polarität für eine Erfahrung der Gegenwart funktional eingesetzt werden kann. Die erkenntniskritische Aufgabe, die beide formulieren, besteht somit in der wiederkehrenden Prüfung der Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes polarer Denkfiguren, zu der Friedlaender schreibt: „Polarität ist keine auf eine vorhandene Empirie anwendbare Formel, sondern sie erschafft allererst Empirie; es ist eine schöpferische ‚Anwendung‘.“ (F/M 10, 524) Mit diesem gleichermaßen (erkenntnistheoretisch) problematischen wie (darstellungsästhetisch) ‚schöpferischen‘ Anwendungscharakter wird der Blick auf den Einsatz jener Denkbilder – Spannungsbogen, Schwebezustand, Kraftfelder, Oszillation – gelenkt, die den neuralgischen Punkt für die Frage nach dem erkenntniskritischen Potential anzeigen. In der konkreten Schreibpraxis und der ästhetischen Realisierung polarer Spannungsgefüge muss sich die Möglichkeit des Einsatzes polarer Denkfiguren für veränderte Wahrnehmungsweisen ästhetischer und politischer Zusammenhänge stets erneut erproben. Denn Polarität sei letztlich, so Friedlaender weiter, ein „heuristische[s], konstitutive[s], regulative[s] Prinzip“, das in „ungezählten Variationen“ (F/M 10, 232) immer erneut die Frage der polaren Bezüglichkeit zwischen verschiedenen Phänomenen auf den Prüfstand stellt. Diese probende Schreibpraxis in polaren Denkfiguren und die erkenntniskritische Reflexion über polare Denkfiguren gilt es an verschiedenen Texten von Benjamin und Friedlaender vergleichend zu untersuchen. Latente Figuren des Inmitten der Extreme Um den zweiten Vergleichspunkt kenntlich zu machen, muss kurz auf Friedlaenders ‚Konzept der Indifferenz‘ eingegangen werden. Die zentrale Bedeutung des Begriffs der Indifferenz wird bereits im Titel von Friedlaenders Hauptwerk Schöpferische Indifferenz deutlich. In einem kurzen autobiographischen Text, der 1921 in der Frankfurter Zeitung erschien, und in dem er seinen intellektuellen Werdegang resümiert, schreibt Friedlaender zu dieser zentralen Stellung der Indifferenz: „Mein Hauptaugenmerk aber richtete ich auf die Indifferenz dieser Pole, auf das innerste Selbst, welches sich dermaßen polar als Welt äußert. Indem ich, durch einen rein geistigen Akt, mich nicht mehr mit meinem Menschen, sondern mit jener Indifferenz identifizierte, gewann ich in der Folge die Freiheit wieder.“ (F/M 3, 704)

Die Freiheit dieser Indifferenz, von der Friedlaender spricht, ist weder der antiken Tradition einer epikureischen Ataraxie oder stoischen Apathie verpflichtet noch als prototypische Vorwegnahme postmoderner ‚Gleich-gültigkeit‘

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lesbar: „Wie viele sind dieser sehr flachen Ansicht, Indifferenz habe nichts zu tun, sei leblos.“ (F/M 10, 131) Friedlaender bestimmt die Indifferenz stattdessen von ihrer erkenntnistheoretischen Funktion aus als Voraussetzung für den Blick auf die Extreme. Im Anschluss an Kant bildet die Indifferenz gewissermaßen das erkenntnistheoretische und wahrnehmungsästhetische Reflexionszentrum für die Bedingungen der Möglichkeit polarer Erkenntnis. Zunächst sind es die konventionellen erkenntniskritischen Oppositionen wie Sinnlichkeit und Intelligibilität oder Anschauung und Begriff, auf die Friedlaender mit dem Begriff der Indifferenz reagiert. Anders jedoch als Kants Versuche der Synthese wird die Indifferenz als merkmalloses Moment der Unterscheidung zu einem latenten ‚Dritten‘ polarer Differenzbildungen. Erst durch die Bestimmung einer invarianten, von allen Differenzen freien Perspektive lassen sich, so Friedlaenders Grundüberlegung, polare Differenzen herstellen. Zugleich wird die Indifferenz als ‚schöpferisch‘ qualifiziert, was allerdings nicht auf die Vorstellung von einer souveränen creatio ex nihilo zurückgebunden ist. Denn erst durch die Produktion extremer Polaritäten soll die Indifferenz selbst beschreibbar sein: „[…] ohne Äußerung ist das innere Prinzip funktionslos; und obgleich die Äußerung das differenziert, was an sich keine Differenz kennt, so ist eben dieses doch ohne Äußerung so gut wie gar nichts.“ (ebd., 275) Die Indifferenz konstruiert damit zum einen eine polare Perspektive, ist zum anderen aber nur durch diese Extreme hindurch selbst als solche erkennbar. Das weist auf ihren eigenen prekären Ort inmitten der Extreme. Benjamin beruft sich an unterschiedlichen Stellen auf die ‚schöpferische Indifferenz‘ und dürfte Friedlaenders spezifische Charakterisierung der Indifferenz vor allem als Gegenmodell zu einem ‚absoluten Indifferenzpunkt‘ wahrgenommen haben. Diesen ‚absoluten Indifferenzpunkt‘ hatte Benjamin als den souveränen ‚Entspringungsort‘ des Denkens und Selbstbewusstseins bei Fichte und den Frühromantikern in seiner Dissertation über den frühromantischen Begriff der Kunstkritik nicht nur als deren „bestimmte[…] Eigentümlichkeit im Reflexionssystem selbst“ (WB I.1, 38) bezeichnet, sondern zugleich auch hinsichtlich des daraus resultierenden „radikalen mystischen Formalismus“ (ebd., 21) in seiner Geltung für einen gegenwärtigen Kritikbegriff problematisiert.70 70 Zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des frühromantischen Kritikbegriffs heißt es: „Erst mit der Reflexion entspringt das Denken, auf das reflektiert wird. Darum kann man sagen, jede einfache Reflexion entspringe absolut aus einem Indifferenzpunkt.“ (WB I.1, 39) Der Unterschied zwischen Fichte und der frühromantischen Kunstkritik bestehe hier allerdings, so Benjamin weiter, darin, dass insbesondere beim frühen

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Während also Friedlaenders auf den ersten Blick paradox erscheinende Doppelcharakterisierung der Indifferenz – sie soll einerseits zwar Erkenntnisvoraussetzung polarer Spannung sein, andererseits geht sie der polaren Differenzierung aber nicht als souveräne Erkenntnisposition voraus – weder in direkter Tradition zu antiken Lebensführungskonzepten steht noch unmittelbar vom frühromantischen Reflexionsbegriff zu denken ist, lässt sich seine Konzeption an einen anderen Debattenzusammenhang anschließen: Bei genauerer Betrachtung der zahlreichen Beschreibungs- und Definitionsversuche erfüllt Friedlaenders Indifferenz auf spezifische Weise jene beiden Kriterien von modernen ‚Figuren des Dritten‘, die eine kulturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren intensiv erforscht hat. Das erste Kriterium hat Albrecht Koschorke als ein Kriterium der Problematisierung von binären Unterscheidungen bezeichnet. Denn ‚Figuren des Dritten‘ entstehen differenztheoretisch betrachtet immer dann, „wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird.“71 Dass die erkenntnistheoretische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer polarer Differenzierung zum wesentlichen Faktor des zeitdiagnostischen Einsatzes polarer Denkfiguren in der Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender wird, wurde bereits im Zusammenhang mit der ersten Vergleichsperspektive dargelegt. Zu der differenztheoretischen Problematisierung grundlegender Unterscheidungsoperationen, die ‚Figuren des Dritten‘ auf den Plan ruft, tritt dann ein zweites Kriterium hinzu, das den ontologischen Status dieser Figuren selbst betrifft. Es besteht darin, dass diese Figur „[…] keine eigene Position innehat, aber die Positionen auf beiden Seiten der Unterbrechung ins Verhältnis setzt, indem sie sie zugleich verbindet und trennt: ein Drittes, das binäre Codierungen allererst möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen bleibt.“72

Friedlaenders Indifferenz erfüllt auch dieses zweite Kriterium. Sie ist – als gleichermaßen erkenntniskritische Voraussetzung und Problematisierung polarer Differenzierungen – selbst „nichts Demonstrables“ (F/M 10, 106), „gar nichts Objektives“ (ebd., 107), kommt selbst „nicht zur Erscheinung“ (ebd., Schlegel das Zentrum der aus der Indifferenz entspringenden unendlichen Reflexionsbewegung nicht das Ich, sondern die Kunst sei. 71 Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften. In: Eva Eßlinge et. al (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010, S. 9-31, hier: S. 11. 72 Ebd.

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99), sondern bleibt verborgen: „individuum ineffabile“ (ebd., 126). Daher versteht Friedlaender unter Indifferenz auch keine Person, kein individuelles Subjekt, „kein Mensch, sondern das Prinzip aller Unterscheidung“ (ebd., 379). In Absetzung von klassischen modernen Subjektbegriffen sowie souveränen Autorschaftskonzepten besteht Friedlaenders Schöpferische Indifferenz in dem in immer neuen Anläufen vorgetragenen Versuch, diesen prekären Ort der Indifferenz als Schauplatz seiner eigenen kritischen Schreibexperimente zwischen den Extremen zu profilieren. Angelehnt an Nietzsche wird Friedlaender dieses ‚Verborgene‘ der Indifferenz als ein Spiel mit Masken vorführen. In einer Groteske von 1922 formuliert Friedlaender gewissermaßen programmatisch seinen Schreibstil: „Prof. Friedlaender hat einen ungeheuren Zulauf; er hat ein Maskenverleihinstitut […].“ (F/M 7, 606) Und an anderer Stelle führt Friedlaender aus, dass er gerade vom „Erlebnis Nietzsche […] unter dem Namen Mynona ein Lachkabinett auf[schloß]“ (F/M 10, 503).73 Hier ergibt sich ein weiterer wesentlicher Vergleichspunkt, der in den Untersuchungen aufgegriffen wird: In Benjamins Vorstellung von einer „Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren“ (WB V.1, 572) und Friedlaenders ‚Schreiben in Masken‘ begegnen sich zwei Schreibprojekte, für die der Dialog mit anderen Texten genauso wie ihre spezifischen Verwertungspraktiken konstitutiv sind. Hinsichtlich der beiden genannten Kriterien ist die Indifferenz durchaus mit anderen ‚Figuren des Dritten‘74, die im 20. Jahrhundert auftauchen, vergleichbar. Auch Friedlaenders Indifferenz ist nicht mehr im klassischen Sinne als Figur eines Übergangs in einem auf binäre Oppositionen abgestellten Denkverfahrens konzipiert, sondern wird zu einer eigenständigen Größe. Sie vermittelt nicht Gegensätze, Dualismen, Oppositionspaare, sondern problematisiert sie in ihren Spannungen zueinander. Jedoch ist sie von solchen ‚Figuren des Dritten‘ abzuheben oder zumindest dahingehend zu spezifizieren, dass ihr ‚Verborgenen-Sein‘ eigentlich als ‚Status des latenten Inmitten‘ charakterisiert werden muss. Denn schließlich eignet der ‚schöpferischen Indifferenz‘ – im Gegensatz eben zu einem souveränen Schöpfungsakt – paradoxerweise eine konstitutive Nachträglichkeit: Die „labyrinthischen Möglichkeiten seiner Latenz“ (F/M 10, 168) erfährt das ‚Schöpferische‘ erst im Akt 73 Die Vorstellung von Nietzsche als ‚Philosoph mit der Maske‘ zieht sich wiederum durch Friedlaenders gesamte Nietzsche-Biographie. Exemplarisch heißt es dort zum Zarathustra: „Wiederum wie jedes Werk ein Außenwerk, eine Maske dieses so schamhaften wie tiefen Geistes, der auch die Nacktheit noch wie einen Schleier zu tragen liebte.“ (F/M 9, 156). (vgl. zur Inszenierung von ‚Schreibmasken‘ auch das Kap. 3 sowie 4.3 und 4.4 und zum Motiv der Nacktheit das Kap. 9.3). 74 Koschorke nennt den Trickster, den Boten, den Dolmetscher, den Parasiten und den Rivalen. (vgl. Albrecht Koschorke, Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften, S. 10-11).

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der Herstellung polarer Bezugsformen. Erst zwischen den Extremen wird die „indifferente Latenz“ (ebd., 135) als prekärer Ort des Inmitten ersichtlich. Damit problematisiert Friedlaender aber nicht nur binäre Unterscheidungsoperationen, wie es für ‚Figuren des Dritten‘ allgemein charakteristisch ist, sondern zugleich die Latenz der eigenen Indifferenz als eine prekäre Mitte: „Der ideale Fall liegt also gar nicht im Extrem, sondern inmitten“ (ebd., 135), schreibt Friedlaender hierzu. Dieser ‚Idealfall‘ des Inmitten bleibt allerdings permanent in der Schwebe. Dieses Schweben, das Friedlaender in unzähligen Varianten beschreibt, lässt die ‚schöpferische Indifferenz‘ zugleich als eigenwillige Ausprägung moderner Balancefiguren erscheinen. Moderne Formen äquilibristischer Lebensführung zeichnen sich durch einen „beständig aufgeschobenen Gleichgewichtsverlust“75 aus, den Schopenhauer als „‚ein stets gehemmtes Fallen‘“76 bezeichnet hat. Friedlaender unterlegt dieses Bild Schopenhauers, von dem auszugehen ist, dass er es spätestens seit seiner Doktorarbeit über Schopenhauer und Kant gekannt haben dürfte, mit einer spezifischen Deutung: Der ‚Schwerpunkt‘ enthält bekanntlich das ganze Geheimnis des Gleichgewichts. Aber schon der Ausdruck ‚Schwerpunkt‘ ist irreführend; es ist vielmehr eine ganz indifferente, zentrale, neutrale Bestimmung. […] [E]r ‚steht‘ nirgends, hängt nirgends ab; schwebt wesentlich zwischen Extremen, welche ihn mit Sturz nach entgegengesetzter Richtung bedrohen. Er würde wirklich, wie er es scheinbar tut, stürzen, wenn nicht der Allerweltsschwerpunkt, die ewig indifferente Persönlichkeit ihm die Mitte zum Zwang machte. Daher ist aller Sturz kein Sturz aus dem Gleichgewicht, bloß der aus einem ins andre. […] Bloß die persönlich hergestellte Mitte ist echte, schwebende Mitte […].“ (ebd., 336)

Dieses Gleichgewicht ist weder prästabiliert noch letztgültig zu erreichen, sondern bleibt die Aufgabe einer „Kultivierung in jedem Augenblicke“ (ebd., 131), mithin „ewige Balancierübung“ (ebd., 183), da sie sich stets erneut mit den Extremen auseinanderzusetzen hat. In einer paradoxen Wendung nennt Friedlaender diesen Ort inmitten der Extreme auch einen „harmonische[n] Zwiespalt“ (ebd., 101), der nicht von einer maßästhetischen Harmonie- und Proportionslehre her gedacht ist. Im Gegenteil: „schweben lernen“ (ebd., 151), so lautet die programmatische Devise der ‚schöpferischen Indifferenz‘, die ihr eigenes Zentrum allerdings immer wieder verfehlt: „Wie aber soll sich der Kreis einstellen, wenn sein Zentrum verfehlt wird?“ (F/M 18, 88) Vor diesem Hintergrund hat der expressionistische Dichter Walter Rheiner in einer Rezension 75

Eckart Goebel/Cornelia Zumbusch: Einleitung. In: dies. (Hg.): Balance. Figuren des Äquilibriums in den Kulturwissenschaften. Berlin/Boston 2020, S. 7-34, hier: S. 11. 76 Ebd.

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Friedlaenders Schöpferische Indifferenz als „Versuch einer Revolutionierung des menschlichen Denkens, des menschlichen Seins“77 charakterisiert. Detlef Thiel wiederum bezeichnet sie auch als „polaristische Fundamentalethik“78. Die näheren Angaben zu Friedlaenders Überlegungen zeigen, dass seine Idee von einer ‚schöpferischen Indifferenz‘ je nach Kontext als subjektphilosophische Reflexion, kritisches Autorschaftsmodell, ästhetische Wahrnehmungskonfiguration, äquilibristisches Lebensführungskonzept oder ethische Handlungsmaxime lesbar ist. Benjamins Interesse für diese latente Figur der Indifferenz resultiert indes vor allem aus zwei zusammenhängenden Themenkomplexen. Zum einen betrifft es Benjamins Bemühen um eine erkenntniskritische Position, bei der Literatur und Politik weder zusammenfallen noch ineinander aufgehen. Im Spannungsfeld zwischen den Extremen von einerseits einer materialistischen Parteiliteratur, deren objektivistischer Anspruch von Georg Lukács 1932 programmatisch unter dem Titel der „Parteilichkeit“ formuliert wurde,79 und andererseits einer Vermischung der Grenzen zwischen Leben und Dichtung in avantgardistischen Ästhetiken bzw. einer Ästhetisierung des Lebens (etwa in den Dichtungen des GeorgeKreises) erprobt Benjamin mit Hilfe polarer Denkfiguren vielmehr Schreibund Darstellungsweisen, in denen Politik und Literatur in ihrer produktiven Spannungsbeziehung zueinander erkennbar werden und die Grenze zwischen beiden Seiten die conditio sine qua non von Verhältnisbestimmungen bleibt. Vor diesem Hintergrund perspektiviert Benjamin die Grenze vor allem in seinen frühen ästhetischen Schriften immer wieder als eine prekäre Mitte zwischen zwei Polen: als das „Gedichtete“ im Hölderlin-Aufsatz, das als „Grenzbegriff in doppelter Hinsicht“ (WB II.1, 106) einerseits Inhalt und Form, Geistiges und Anschauliches, Leben und Dichtung voneinander trennt und andererseits zugleich auch die „Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten“ (ebd.) zwischen beiden Seiten ermöglicht; oder als das „Ausdruckslose“ in Goethes Wahlverwandtschaften, das als die „Grenze“ (WB I.1, 182) zwischen Schein und Sein der Schönheit „mitteninne gestellt“ (ebd., 186) ist, mithin die „Mitte der Dichtung“ (ebd.) bezeichnet. Den programmatischen Hintergrund dieses besonderen Interesses an latenten Figuren der Mitte bilden wiederum Benjamins sprachkritischen Überlegungen zur Sprache als Medium einer „Mitteilbarkeit schlechthin“ (WB II.1, 145f.), die in seinem frühen Aufsatz 77 Walter Rheiner: Philosophie des Dionysismus. Bei Gelegenheit von S.  Friedlaender: ‚Schöpferische Indifferenz‘. In: Neue Blätter für Kunst und Dichtung  1 (1919), S.  264-265; Wiederabgedr. in und zit. nach: F/M 10, S. 581-584, hier: S. 581. 78 Detlef Thiel, Einleitung: Friedlaender/Mynonas ‚Hauptwerk‘?, S. 35. 79 Vgl. Georg Lukács: Tendenz oder Parteilichkeit [1932]. In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, S. 109-121.

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Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen vor allem auf das Spannungsverhältnis von geistigem und sprachlichem Wesen bezogen ist und später dann im Rahmen von Debatten über die politische Wirksamkeit von Literatur explizit auf die problematische „Polarität aller sprachlichen Wesen: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein“ (WB VI, 331), bezogen wird. Diese Beispiele zeigen, dass Benjamins Affinität für den Einsatz polarer Denkfiguren zugleich an ein besonderes Interesse an Figuren der Mitte, der Grenze bzw. ‚Schwellen‘80 gebunden ist. Die latente Mitte als eine mediale Grenze zwischen den Polen wird bei Benjamin zudem häufig mit einem ‚Unaussprechbaren‘ assoziiert, was wiederum einen Vergleich mit Friedlaender erlaubt, der zur Indifferenz schreibt: „Vor allem ist ja das ‚Dritte‘ objektiv so durchsichtig, so sehr nur medium, reinste Angrenzung, ein Treffer unter Millionen Nieten, das Schweigen der Sprachen, Ruhen der Bewegung, das Nichts des (polaren) Alls […].“ (F/M 10, 151) Anhand der intertextuellen Beziehungen und methodischen Korrespondenzen zu Friedlaender werden sich in der Passage II (Kap. 5) sowie dem Hauptteil B (Kap. 6-9) mit der „Sphäre des Wortlosen“ (Br I, 326), der „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) und der Konzeption eines medialen Humors weitere Figuren dieser latenten Mitte aufzeigen lassen, deren Bedeutung bisher weniger stark als das „Gedichtete“, das „Ausdruckslose“ oder die Medialität der Sprache wahrgenommen wurden, aber insbesondere für Benjamins frühe Arbeiten an der Schnittstelle von Politik und Ästhetik aufschlussreich sind. Sie stehen, so wird die Arbeit zeigen, in direktem Zusammenhang mit Benjamins Rezeption von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz. Der zweite Aspekt, unter dem Friedlaenders Figur der latenten Indifferenz in seinem prekären Status zwischen den Extremen aufschlussreich für Benjamins Schreib- und Darstellungspraxis der Spannung zwischen Politik und Literatur ist, betrifft die Reflexion über den eigenen Schreibort. Im Rahmen einer Rezension zu einer graphologischen Studie von Anja und Georg Mendelssohn schreibt Benjamin mit direktem Bezug auf Friedlaender: „Standort solcher 80 Unter dem Stichwort ‚Schwellenkunde‘ hat Winfried Menninghaus bereits betont, dass Benjamins Inszenierung und Dramaturgie von Schwellen ein Denken in Extremen zeitigen, das nicht von vorausgesetzten Extremen ausgeht, sondern diese allererst produziert. (Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos. Frankfurt a. M. 22015, hier: S. 55) Anhand der Konstellation mit Friedlaender lässt sich zeigen, dass diese Inszenierung von Schwellen ebenso wie die besondere Aufmerksamkeit auf eine medial gedachte Mitte bzw. auf „Gestalten des Zwischen“ (ebd.) rückgekoppelt werden müssen sowohl auf ihre konkreten Einsatzpunkte in den historischen Kontexten der 1920er Jahre als auch in eine Problemgeschichte der Polarität, auf die Benjamin und Friedlaender sich in vergleichbarer Weise beziehen.

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schöpferischen Indifferenz ist natürlich niemals auf der goldenen Mittelstraße zu suchen.“ (WB III, 138) In kritischer Distanz sowohl zur aristotelischen Tradition einer aurea mediocritas als auch in strikter Abgrenzung von der Vorstellung eines absoluten Ursprungs wie er dem frühromantischen Begriff der Indifferenz eignet, ist Friedlaenders Standortbestimmung eben eine, die, so Benjamin weiter, immer nur als ein prekäres Inmitten von „extrême milieu[s]“ (ebd.) gedacht werden kann. Mit dieser Verortung innerhalb von „extrême milieu[s]“ liest Benjamin die ‚schöpferische Indifferenz‘ implizit als Gegenmodell zu einem bürgerlichen ‚juste milieu‘, in dem jenes bürgerliche Standpunktdenken seinen angestammten Platz hat, gegen das Benjamin seinen eigenen Begriff der Haltung profiliert. (vgl. Kap.  1 sowie Kap.  10.3) Der Begriff der Haltung wird hier erstmals als zentraler Begriff in Benjamins Schreibprojekten ausgewiesen. In diesem Zusammenhang lassen sich die Begriffe Haltung und Indifferenz grundsätzlich als vergleichbare Reaktionen auf die Polarisierungstendenzen der Zeit lesen. Beide betreffen den prekären Ort des kritischen Intellektuellen und Schriftstellers. In der darstellungsästhetischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren schreiben Benjamins und Friedlaender ihre eigenen Positionen als Wahrnehmende, Denkende, Schreibende immerzu mit ein. Und mit den Begriffen der Haltung bzw. der Indifferenz versuchen beide nicht weniger, als den prekären historischen Ort des eigenen Schreibens erkennbar zu machen, den sie vor allem als zwischen den Polen einer aus Restbeständen traditioneller gesellschaftlicher Strukturen und einer auf die Zukunft weisenden Aufbruchstimmung changierende Schwellensituation ausweisen. Dabei dienen die Begriffe der Haltung und der Indifferenz dazu, den eigenen Ort als einen dynamischen zu charakterisieren, an dem Schreibprozesse des Differenzierens immer erneut ansetzen, um verschiedene politische, gesellschaftliche und ästhetische Zeitphänomene in den Blick zu bekommen, ohne sich selbst auf einen souveränen Standpunkt zu verpflichten. Als „dynamische Mitte“ (F/M 10, 179) sind Haltung und Indifferenz die zentralen Reflexionsfiguren kritischer Zeitgenossenschaft bei Benjamin und Friedlaender und bilden so, wie Benjamin in seiner Charakterisierung der ‚schöpferischen Indifferenz‘ zusammenfasst, den „Bannkreis eines Geschehens, Kraftfeld einer Entladung“ (WB III, 138) zweier Schreibprojekte inmitten der Extreme.

Aufbau der Arbeit

Die Arbeit besteht insgesamt aus fünf Teilen: den Hauptteilen A und B sowie den drei kleineren als ‚Passagen‘ bezeichneten Teilen. In allen Teilen steht der

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Zusammenhang der beiden dargelegten Vergleichsperspektiven im Mittelpunkt, also der zeitdiagnostische Einsatz polarer Denkfiguren sowie die Reflexionen auf die latente Mitte zwischen den Extremen. Während sich der Hauptteil A den Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren bei Benjamin und Friedlaender aus einer diskurs- und problemgeschichtlichen Perspektive nähert, stellt der Hauptteil B eine differenzierte (einfluss)philologische Untersuchung dar und widmet sich Benjamins erstem größeren Projekt einer „Arbeit über Politik“ (Br II, 127) zu Beginn der 1920er Jahre und der darin nachweisbaren Bedeutung Friedlaenders. Die drei Passagen wiederum entwickeln exemplarische Lektüren von Benjamins Texten und haben unterschiedliche Funktionen: Passage I fungiert als systematische Exposition zu dem Verhältnis von Polarität und Haltung bei Benjamin. Passage II zeigt, wie der Einsatz polarer Denkfiguren bereits beim frühen Benjamin erprobt wird. Die Passage III fragt vor dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchungsteilen nach dem systematischen Ort des Begriffs der Haltung in Benjamins Schriften. Nachfolgend werden die einzelnen Teile kurz vorgestellt. Anhand einer exemplarischen Diskussion um Benjamins eigenen Schreibort, zu der ihn der Schweizer Literaturkritiker Max Rychner im Frühjahr 1931 veranlasst, führt die Passage I in die bislang nur skizzierten Vergleichspunkte ein. Rychner fragt Benjamin 1931 sehr direkt, wo er sich inmitten der literarischen Debatten der Zeit gleichermaßen methodisch als auch politisch verorte. Anhand von Benjamins zögernder Reaktion lässt sich exemplarisch das Wechselverhältnis zwischen dem Einsatz polarer Denkfiguren und der Reflexion auf den eigenen Denk- und Schreibort inmitten der Extreme aufzeigen. Der Hauptteil A widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes polaren Denkfiguren unter diskurs- und problemgeschichtlichen Gesichtspunkten. Polare Denkfiguren haben seit der Zeit um 1900 in unterschiedlichen kulturkritischen Programmen Konjunktur. In den 1920er und 30er Jahren ist dann eine notorisch wiederholte und durch alle Diskurse zirkulierende Rede über Extreme und Polaritäten bzw. Extremisierungs- und Polarisierungstendenzen zu beobachten, zählt doch der Blick auf die Extreme zur „gängige[n] politische[n] wie philosophisch[n] Münze“81 in den unterschiedlichsten zeitdiagnostischen Schreibweisen dieser Zeit. Diese allgemeine diskursive Konjunktur seit 1900 verlangt eine historische Einordung der spezifischen zeitdiagnostischen Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren

81 Sonja Asal/Ethel Matala de Mazza: Zum Thema. In: Zeitschrift für Ideengeschichte  2 (2008), Heft 3: Extremes Denken, S. 4.

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bei Benjamin und Friedlaender, die erst durch diese Kontextualisierung an Profil gewinnen. Auf der einen Seite ermöglicht die Einordung der Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender innerhalb dieser allgemeinen Konjunktur polarer Denkfiguren, ein Kapitel politisch-ästhetischer Diskursgeschichte der Weima­ rer Republik aufzuschließen. Die Arbeit zielt allerdings nicht darauf, Benjamin und Friedlaender in einer Art symptomatologischer Lektüre als Repräsentanten allgemeiner diskursiver Redeweisen vorzustellen. Der problemgeschichtliche Blick auf die Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender ermöglicht vielmehr, die spezifischen Funktionalisierungsweisen beider von anderen Anschauungsweisen und Rhetoriken des Polaren zu unterscheiden. Ein entscheidender Faktor in der Konstellation BenjaminFriedlaender und damit auch das Differenzkriterium zu allgemeinen diskursiven Redeweisen liegt in der reflexiven Rückbindung der zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren auf die erkenntniskritisch motivierte Frage ihrer ästhetischen Darstellungsverfahren. Es macht eben einen entscheidenden Unterschied, ob dem gesellschaftlichen status quo nur allgemein Polarisierungstendenzen attestiert werden, oder ob Polarität als ästhetisches Darstellungsverfahren im Akt des Schreibens selbst reflektiert wird. Diese gleichermaßen erkenntniskritische und darstellungsästhetische Problematisierung profiliert sich bei beiden in vergleichbarer Weise an der Frage nach der Aktualisierbarkeit unterschiedlicher historischer Traditionen polarer Denkfiguren, die von Heraklit, über Kant, der frühromantischen Naturund Kunstphilosophie und Goethe bis hin zu Nietzsche reichen. Den funktionalen Einsatz polarer Denkfiguren bei Benjamin und Friedlaender auf eine bisher Forschungsdesiderat gebliebene Begriffs-, Metaphern- und Diskursgeschichte polarer Denkfiguren zurückzubinden, macht deutlich, wie dieser Einsatz bei beiden durchgehend von dem Versuch getragen ist, den Aktualitätswert einer solchen Tradition für eine zeitdiagnostische und politische Schreibarbeit hervorzutreiben. Eine umfassende Begriffs-, Metaphern- und Diskursgeschichte polarer Denkfiguren wird die Arbeit allerdings nicht leisten können. Stattdessen soll an mehreren problemgeschichtlichen Aspekten dargelegt werden, wie der Versuch eines aktualistisch begründeten Einsatzes polarer Denkfiguren bereits seit der Zeit um 1800 immerzu an Rekursen auf ältere Polaritätsmodelle geknüpft ist. Dabei rekurriert die Verwendung des Begriffs der Funktionalisierung hier lose auf Ernst Cassirer, der den Wechsel vom Substanz- zum Funktionsbegriff dargestellt hat.82 Neben Cassirer ließen sich insbesondere für Benjamin die von 82

Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. In: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, hg. v.

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Brecht hergeleitete Idee einer „Umfunktionierung“ (WB II.2, 691; WB VI, 182) sowie zeitgenössische soziologische, ethnologische oder auch architekturtheoretische Funktionalismus-Diskurse anführen. Diese Diskurse spielen für eine grundsätzliche funktionale Perspektive auf verschiedene virulente Zeitfragen zweifellos eine prägende Rolle. Die vorliegende Arbeit verfolgt die Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren indes aus der Geschichte polaren Denkens selbst. Denn Funktionalisierungen älterer Polaritätsmodelle für zeitaktuelle Debatten und Problemstellungen sind mindestens seit der Zeit um 1800 konstitutiv für die Geschichte polarer Denkfiguren. Sie gehören dabei aber nicht nur zur Geschichte polarer Denkfiguren, sondern bestimmen darüber hinaus wesentlich den Rhythmus aus einerseits Filiationen, Vergleichspunkten und Bezugnahmen und andererseits den Brüchen und Diskontinuitäten im Einsatz polarer Denkfiguren. Das lässt sich für die Zeit um 1800 exemplarisch an einem Eintrag aus Novalis’ Das Allgemeine Brouillon (Kap. 2.1), für die Zeit um 1900 an Ricarda Huchs Romantik-Buch (Kap. 2.2) und für die 1920er Jahre an neusachlichen Schreibweisen (Kap.  2.3) zeigen. Im Zentrum steht dabei jeweils die entscheidende Frage, wie überhaupt aus einem Denkmodell an der epistemischen Schnittstelle von Naturphilosophie resp. Naturspekulation und Naturwissenschaft eine zeit- und kulturdiagnostische Denkfigur werden kann. Diese Frage betrifft auch Benjamins und Friedlaenders zeitdiagnostische Funktionalisierungen polarer Denkfiguren. Anhand von Benjamins Rezension der von Hans Wohlbold 1928 im Rahmen der im Eugen-Diederichs-Verlag erschienenen Reihe Gott-Natur. Schriftenreihe zur Neubegründung der Naturphilosophie herausgegebenen Neuauflage von Goethes Farbenlehre kann abschließend gezeigt werden, wie Benjamin das Problem der ‚Übersetzung‘ von der Naturphilosophie in die Zeitdiagnostik explizit zum Gegenstand macht, und zwar unter Berufung auf Salomo Friedlaender. Die Passage II bildet buchstäblich einen Übergang zwischen den beiden Hauptteilen, indem untersucht wird, in welche Debatten über das Verhältnis von Politik und Literatur und über die Stellung des kritischen Intellektuellen der frühe Benjamin vor 1918 involviert ist. Es handelt sich hierbei um ernstzunehmende Vorgeschichten zu Benjamins systematischer Arbeit am Politischen nach 1918, die wiederum den Untersuchungsgegenstand des Hauptteils B bildet. Denn noch bevor Benjamin zwischen 1918 und 1923 seine systematischen Überlegungen zum Politischen in einer größeren „Arbeit über Politik“ (Br II, 127) zusammenzutragen versucht, führt er erstens unter dem Eindruck seines frühen Engagements in der Wickersdorfer Schulreformbewegung Gustav Birgit Recki. Hamburg 2000.

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Wynekens und zweitens im Umfeld der jüdischen Jugendbewegung und der zionistischen Debatten der Zeit intensive Diskussionen über Fragen des politischen Schreibens und der konkreten politischen Praxis. Diese Debatten werden hier exemplarisch anhand von Benjamins Auseinandersetzungen mit Kurt Hiller (Kap.  5.2) und Martin Buber (Kap.  5.3) dargestellt. Insbesondere Benjamins gegenüber Buber fast schon programmatisch vorgetragener Versuch, das Spannungsverhältnis von „Wort und Tat“ (Br  I, 326), „Erkenntnis und Tat“ (ebd.), „Wort“ und „wirkliche[m] Handeln“ (ebd., 327) auszumessen, bildet eine wichtige Vorstufe für spätere polare Argumentationsstrategien. Die „Sphäre des Wortlosen“ (ebd., 326), auf die der Brief an Buber dabei hinzudeuten versucht, greift Benjamin in seinen Überlegungen nach 1918 wieder auf und macht sie als latente Mitte systematisch zum Ort der Verhältnisbestimmung zwischen Politik und Literatur. Der Hauptteil B widmet sich dann der erwähnten „Arbeit über Politik (Br II, 127), die nur teilweise überliefert ist. Die (einfluss)philologische Untersuchung legt hier nicht den Fokus auf die Rekonstruktion eines abgeschlossenen Werkes, sondern nähert sich Benjamins Versuchen einer systematischen Arbeit am Politischen über das intertextuell angelegte Ensemble aus verschiedenen experimentellen Aufzeichnungen, Notizen, Selbstverständigungstexten der Zeit. Durch die Untersuchung dieser Textkonstellationen kann eine Lektüre von Benjamins frühen politisch-ästhetischen Schriften entwickelt werden, die einige der dort eingelagerten und entscheidenden, aber bisher kaum wahrgenommenen politischen Debattenzusammenhänge und konkreten Arbeitsund Produktionskontexte aufschlüsselt, wobei der Fokus insbesondere auf den Rezeptionsspuren, Einflüssen und theoretischen Korrespondenzen zwischen Benjamin und Friedlaender liegt. Anhand der intertextuellen Beziehungen und methodischen Korres­pon­ denzen zu Friedlaender werden sich dabei zwei Figuren der latenten Mitte aufzeigen lassen, die bisher in der Forschung nicht systematisch untersucht wurden. So wird sich zeigen, dass zum einen die „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204), auf die das teilweise enigmatische Theologisch-politische Fragment zuläuft und die gar als „unklassifizierbar[…]“83 bezeichnet wurde, als Figur der latenten Mitte zwischen den Polen des Profanen und des Messianischen konzipiert ist. (Vgl. Kap.  7.3) Um die „Methode Nihilismus“ als eine solche Figur lesbar zu machen, gilt es, die Rezeptionsspuren ernst zu nehmen, die im Zeitraum der Entstehung des Fragments zu Friedlaender und dessen 83 Irving Wohlfarth: Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins ‚Theologischpolitischem Fragment‘. In: Ashraf Noor/Josef Wohlmuth (Hg.): ‚Jüdische‘ und ‚christliche‘ Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert. Paderborn 2002, S. 141-214, hier: S. 182.

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vergleichbarer Konzeption eines Nihilismus als „mediale[…] Grenzscheide“ (F/M 10, 381) führen, die bei ihm ebenfalls „immer eine Art Mitte, Grenze, Brücke“ (ebd., 383) bildet.84 (Vgl. Kap. 7.2) Durch eine kleinteilige synoptische Lektüre etwa zeitgleich entstehender Texte Benjamins und Friedlaenders lässt sich hier eine neue Perspektive auf jene zentrale, gleichermaßen politische wie ästhetische, Theoriefigur des ‚Nihilismus‘ entwickeln, die bisher entweder meist unterschätzt bzw. gar ignoriert oder vorwiegend als bloßer Ausdruck einer anarchistischen Gesinnung des jungen Benjamins erklärt wurde. Die zweite Figur, die sich an diese Lektüre anschließt, findet sich in den überlieferten Texten Benjamins zu Paul Scheerbarts Asteroidenroman Lesabéndio, dessen Analyse den dritten Teil seiner „Arbeit über Politik“ (Br II, 127) bilden sollte. Im Zuge der Arbeit an seinem politisch-ästhetischen Kommentar zu diesem Roman entdeckt Benjamin eine Rezension von Friedlaender über Ernst Blochs Geist der Utopie und beschließt, diese von ihm sehr geschätzte Rezension in seine Lesabéndio-Analyse zu integrieren. An dem sich daraus ergebenden verschachtelten Arbeits- und Produktionszusammenhang zeigt sich, wie Benjamins weniger in sich abgeschlossenen als vielmehr in einem permanenten status nascendi befindlichen Schreibprojekte im Schnittfeld von Politik und Ästhetik durch teilweise kontingente Textentdeckungen und Neulektüren geprägt sind. Vor allem aber lässt sich in der Auseinandersetzung mit Bloch, die erst durch Benjamins Entdeckung von Friedlaenders Rezension zu einem Bestandteil des dritten Teils der Politik-Arbeit wird, die Konfrontation von Utopie und Humor, die zum zentralen Argument der Lesabéndio-Analyse werden sollte, als eine kritische Debatte um eine Figur des Dritten zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch rekonstruieren, die auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis von Profanem und Messianischem (Benjamin) bzw. Immanenz und Transzendenz (Friedlaender) zurückweist. In kritischer Absetzung von Blochs Vorstellung der Kunst als eines ‚Vor-Scheinens 84 Eine Einschränkung sei hier in Bezug auf diese Vergleichsperspektive bereits vorausgeschickt: Die Frage nach der Rolle des Judentums gäbe einen bemerkenswerten Untersuchungsgegenstand und Vergleichspunkt zwischen Benjamin und Friedlaender ab. Die von Benjamin selbst bisweilen als „Teilrolle“ (Br  I, S.  83) bezeichnete Bedeutung, die er dem Jüdischen in seinem Denken zugesprochen hat, ist bereits zentraler Gegenstand kontroverser Debatten und vielfältiger Forschungen geworden. Die Bedeutung von Friedlaenders Bekenntnis – „[…] ich bin Jude, das läßt sich nicht leugnen“ (F/M 24, S.  77) – ist hingegen noch nicht systematisch untersucht worden. Im Zuge der Untersuchung werden anhand der Differenz von Profanem und Messianischen zwar jüdische Denktraditionen aufgerufen und diskutiert. Ein systematischer Vergleich beider Autoren in Bezug auf genuin jüdische Denktraditionen würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen und bleibt damit einer späteren Studie vorbehalten.

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des Utopischen‘ entwickeln Benjamin und Friedlaender vergleichbare Konzepte des Humors. (Vgl. Kap. 9.3 und 9.4) In Benjamins und Friedlaenders Konzeptionen des Humors ist das Utopische nicht ästhetisch antizipiert, sondern wird zwischen dem sprachlich Ausdrückbaren und dem konstitutiv Unsagbaren latent gehalten. Mit dieser ‚Dreieckskonstellation‘ lässt sich zeigen, dass die Kritik am ‚Schein des Ästhetischen‘, die dann vor allem in der Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften zentral werden sollte, von Benjamin hier bereits im strikten Sinne als Medium der Verhältnisbestimmung von Politik und Ästhetik vorgeprägt wird. Von dieser Kritik her wird zudem ersichtlich, dass Benjamins frühe Bemühung um die Vermessung des Schnittfeldes von Politik und Ästhetik nicht zuletzt von einer – das stereotype Bild vom melancholischen Intellektuellen irritierenden – ‚Politik des Humors‘ getragen wird. Die Passage III wird dann abschließend die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Benjamin und Friedlaender aus dem in den vorhergehenden Konstellationen untersuchten doppelten Interesse sowohl an dem zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren als auch an Figuren der latenten Mitte zwischen polaren Extremen, vergleichbare Konsequenzen für die Reflexion auf die eigene Schreibposition als „lebendig bewegliche[s] Inmitten“ (F/M 10, 207) der Extreme ziehen. In den Begriffen der Haltung (Benjamin) und der Indifferenz (Friedlaender) zielen beide auf einen gegen unterschiedliche Formen souveräner Selbstpositionierung gerichteten prekären Schreibort des kritischen Intellektuellen und Schriftstelle als eine „schwebende[…] Mitte“ (ebd., 328) ab. Die Arbeit beansprucht, den von Benjamin vielfältig eingesetzten Begriff der Haltung erstmals auf seinen systematischen Gehalt sowohl als Reflexionsfigur für sein eigenes Schreiben als auch in seiner methodischen Profilierung als literaturkritische Analysekategorie schriftstellerischer Standortbestimmung zu überprüfen. Im Kern dieses Vorhabens liegt allerdings eine einzukalkulierende Paradoxie. Benjamins Selbstverständnis als kritischer Intellektueller und Schriftsteller zeichnet sich schließlich gerade dadurch aus, dass es nicht auf einen einzigen Nenner, eine starre Formel zu bringen ist. Die Beobachtung der Bedeutung des Begriffs der Haltung als Reflexionsfigur für die Frage kritischer Autorschaft inmitten der Extreme besteht darin, herauszuarbeiten, wie gerade der Begriff der ‚Haltung‘ zu einem Knotenpunkt für ein solches dynamisch konzipiertes Autorschaftskonzept wird, das seine disparaten Selbstauslegungen, seine stetig wechselnden Schreibpositionen, seine mannigfaltigen, teils widerspruchsvollen und enigmatischen Selbstbeschreibungen, aber auch das Problematische und Prekäre in der Bestimmung des eigenen Schreibens

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überhaupt gewissermaßen ‚auf den Begriff bringt‘. Noch paradoxer formuliert: ‚Haltung‘ soll als bisher weitgehend unbeachtete systematische Reflexionsfigur für eine konstitutiv unsystematische Schreibweise ausgewiesen werden. In ihr reflektiert Benjamin die, mit einem Darstellungsprinzip aus der Vorrede des Trauerspiel-Buches gesprochen, „intermittierende[…] Rhythmik“ (WB I.1, 208) seiner in den konkreten Schreibpraktiken manifestierten Selbstpositionierung als kritischer Intellektueller im Spannungsverhältnis von Ästhetik und Politik.

I. Passage I – Polare Denkfiguren und Haltung: Ein komplementärer Zugang zum Politischen der Literatur bei Benjamin

Kapitel 1

Benjamin und die „Haltung des Materialisten“ 1.1

„Dic, cur hic?“ Wo liegt meine Produktionsanstalt? Walter Benjamin (Br IV, 25)

Im Frühjahr 1931 schickt der Schweizer Literaturkritiker Max Rychner seine Rezension zu Bernard von Brentanos Buch Kapitalismus und schöne Literatur (1930) an Walter Benjamin. In der Rezension, die unlängst in der von ihm selbst herausgegebenen Neuen Schweizer Rundschau erschienenen war, rechnet Rychner mit der aus seiner Sicht doktrinären Programmatik marxistischer Literaturkritik ab.1 Seine scharfe Kritik zielt vor allem auf Brentanos Thesen über die „Stellung der Schriftsteller zu unserer Zeit und das ist in unserer Gesellschaftsordnung“2. Rychner nimmt das Buch dann „zum Anlaß, um einige Betrachtungen grundsätzlicher Natur“ über das Verhältnis von „marxistische[r] Ideologie“3 und Literaturkritik bzw. -soziologie im Besonderen und über Literatur und Politik im Allgemeinen anzustellen. 1 In der Zeitschrift, zu der Benjamin in seinem ersten Brief an Rychner schreibt, dass er sie „seit langem kenne und sehr schätze“ (Br III, 296), sind folgende Texte von Benjamin erschienen: Die Denkbilder Weimar (Oktober 1928), Marseille (April 1929) und Kurze Schatten (November 1929) sowie der Essay über Julien Green (April 1930). 2 Bernard von Brentano: Kapitalismus und schöne Literatur. Berlin 1930, S. 6. Gegenstand der Abhandlungen von Brentano ist die Frage, welche politische Rolle der Schriftsteller in der Weimarer Republik haben kann. Der Titel eines Unterkapitels bringt das deutlich zum Ausdruck: „Über die Wirkung, welche ein Schriftsteller heute haben kann“ (ebd., 28). Brentanos Aufforderung zur Darstellung der „Wirkungen (Zustände) […] von Ursachen (Gesetzen), welche allgemein bekannt sind“ (ebd., 38) bezieht sich allerdings weder auf rein poetologische Reflexionen (Ulrike Hessler: Bernard von Brentano – Ein deutscher Schriftsteller ohne Deutschland. Tendenzen des Romans zwischen Weimarer Republik und Exil. Frankfurt u.a. 1984, S. 15) noch auf das Ideal einer Autorschaft als „moralische[…] Kontrollinstanz der gegebenen politischen Strukturen“ (Eike Rautenstrauch: Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik. Zur Kulturkritik in den Kurzessays von Joseph Roth, Bernard von Brentano und Siegfried Kracauer. Bielefeld 2016, S.  170). Brentano geht es um eine grundsätzliche Veränderung der Schreibweise, die aus dem an Charakterstudien orientierten Romancier einen „forschenden Schriftsteller“ (Brentano, Kapitalismus und schöne Literatur, S. 15) macht, der sich um die Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände bemüht; ein Schriftseller also, der nicht Individuen, sondern Strukturen abzubilden habe. 3 Max Rychner: Anmerkungen [Kapitalismus und schöne Literatur]. In: Neue Schweizer Rundschau. Wissen und Leben 24 (1931), S. 81-94, hier: S. 81.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_002

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Kapitel 1

Für Benjamin ist diese Auseinandersetzung von grundlegendem Interesse, sucht er in seinen Schriften doch selbst nach einer materialistischen Arbeitsund Schreibweise, die sich mit seinem metaphysisch fundierten „besonderen sprachphilosophischen Standort“ (Br IV, 18) vermitteln lässt. Als Einstieg in die Untersuchungen ist die Zusendung dieser Rezension aber noch aus einem anderen Grunde besonders aufschlussreich. Rychner versieht die Zusendung der Rezension mit einer, wie Gershom Scholem treffend formuliert hat, zwar „nur […] kurze[n] wenn auch inhaltsschwere[n] Frage“4, die Benjamin zu einer für ihn auch Jahre später noch gültigen pointierten Stellungnahme über seine eigene Schreibposition inmitten des Spannungsfeldes von Literaturkritik und Politik veranlassen wird. Rychner fügt der Sendung die Frage an: „Dic, cur hic?“ (Br IV, 21) Hans Mayer übersetzt sie „sinngemäß“ und ins „saloppe[…] Alltagsdeutsch“ mit: „‚Was hast Du bei Denen zu suchen?‘“5 Was aber hat es mit dieser Frage auf sich? Ihr Imperativ drängt offensichtlich zur Stellungnahme, zur Selbsterklärung, mithin zum politischen Bekenntnis, vor allem aber zu einer methodischen Auskunft. Ob sie für Benjamin, der in solchen Standpunktfragen vorzog, „[i]mmer radikal, niemals konsequent […] zu verfahren“ (Br III, 159), provokativ oder gar bedrängend wirkte, kann nur vermutet werden. In einer brieflichen Auseinandersetzung mit Gershom Scholem über die methodischen Voraussetzungen der 1928 erschienenen Einbahnstraße hatte Benjamin jedenfalls schon einmal mit Nachdruck betont: „Im Grunde ist es mir bitter, mich theoretisch resümieren zu sollen […].“ (Br III, 158) Mehr noch scheint sich in Rychners Frage aber eine freundschaftlich gemeinte Warnung zu artikulieren, die sich auf die politischen und ästhetischen Tendenzen in Benjamins neueren Publikationen bezieht.6 4 Walter Benjamin und Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, hg. v. Gershom Scholem. Frankfurt a. M. 1980, S. 148. 5 Hans Mayer: Der Zeitgenosse Walter Benjamin. Frankfurt a. M. 1992, S. 50. 6 Daher ist es auch denkbar, dass Rychner mit der Frage auf André Gides Paludes anspielt. Gide hat seiner Satire das ‚Dic, cur hic‘ als Motto vorangestellt und in seinem kurzen Vorwort zudem noch ausgeführt: „[…] wenn wir auch wissen, was wir sagen wollten, so wissen wir doch nicht, ob wir nur das gesagt haben.“ (André Gide: Paludes. In: ders.: Der schlechtgefesselte Prometheus (und andere Erzählungen), hg. v. Raimund Theis. München 1999. S. 83-151, hier: S.  85). Dann käme die Frage einer Aufforderung gleich, die eigene Position stärker abzugrenzen und konkreter zu formulieren, um Missverständnissen vorzubeugen. Sehr lose würde der Verweis dann auch an die Frage anknüpfen, die sich motivisch durch Gides Satire zieht: „Warum schreiben Sie?“ (ebd., 89) Eine weitere Anspielung auf die Satire, die hier aber nicht weiterverfolgt werden kann, läge möglicherweise auch noch im politischen Gehalt, den die Metaphorik von den Sümpfen (das wäre im Sinne Rychners dann die marxistische Ideologie) und dem Polder (als Schutzdämme in der eigenen Methodik) haben könnten. Wenngleich Rychner Gides Satire nicht erwähnt, verweist er aber in seiner Brentano-Rezension an einer Stelle unmittelbar hintereinander auf Benjamin und Gide, so dass die Anspielung auf

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Benjamin hatte immerhin jüngst sowohl in der Einbahnstraße und in dem Essay über den Surrealismus als auch im ostentativen „Einverständnis mit der Produktion von Brecht“ (Br IV, 299) seine „Wendung zum politischen Denken“ (Br III, 60) deutlicher als zuvor hervorgehoben und damit die Suche nach einer eigenen materialistischen Schreib- und Darstellungsweise eingeleitet. Rychner sah in diesen Produktionen offenbar die Gefahr einer Angleichung an jene Positionen, die er am Beispiel seines Brentano-Verrisses entschieden kritisiert.7 Er ist aber auch nicht der Erste, der hier Aufklärung verlangt. Scholem, der in diesem Zusammenhang häufiger Klärungsbedarf anmeldete, wenngleich er die Frage „nicht so hübsch zu formulieren gewußt“ hatte, wird die Gefahr „einer der kommunistischen denkbar angenäherten Phraseologie“ sogar in noch weitaus deutlicherer Form vortragen, indem er Benjamin „Selbstbetrug“ vorwirft.8 Rychners Frage zielt insbesondere auf jenes Spannungsverhältnis von Marxismus und Theologie resp. Metaphysik, auf das sich auch die BenjaminForschung lange Zeit konzentriert hat. Dabei tendierten die kontroversen Debatten mitunter dazu, einen aporetischen Gegensatz aufzubauen, aus dem eine kaum produktive Trennung zwischen einem ‚esoterischen‘ und einem ‚politischen‘ Autor Benjamin resultierte. In Benjamins Antwort an Rychner lässt sich hingegen deutlich erkennen, wie er diesen starren Gegensatz unterläuft. Rychners Frage taucht in der Benjamin-Forschung immer wieder auf, wobei jedoch die konkreten Kontexte der sich aus der Frage ergebenden Debatte Gides Satire zumindest denkbar ist. (vgl. Max Rychner, Anmerkungen, S. 86) Ob Benjamin diese Anspielung dann auch wahrgenommen hat, bleibt fraglich, denn die Lektüre von Paludes wird in seinem Verzeichnis der gelesenen Schriften erst auf Mai-Juli 1932 datiert (vgl. WB VII.1, 465). Zu Gide vgl. auch das Kap. 10.3. 7 In diesem Sinne übersetzt Hans Mayer die Frage in einem früheren Aufsatz „frei mit Goethes Gretchen […]: Es tut mir lang schon weh, / Daß ich dich in der Gesellschaft seh!“ (Hans Mayer: Walter Benjamin und Franz Kafka. Bericht über eine Konstellation. In: Barbara Elling (Hg.): Kafka-Studien. New York u.a. 1985, S. 95-120, hier: S. 98). Anders als Hans Mayer vermutet, läuft Benjamins Erklärung über die eigenen theoretischen Prämissen im noch darzustellenden Antwortbrief jedoch nicht auf einen „theologisierten Marxismus“ (ebd., 104) zu. 8 Die Zitate stammen aus einem längeren Brief, den Scholem an Benjamin richtete, nachdem dieser ihm eine Kopie seines Antwortbriefes an Rychner zukommen ließ. Scholem empfand sich als „Mitadressat[…]“ und antwortet drastisch: „Seitdem ich mehr oder weniger umfangreiche Proben jener Betrachtung von Angelegenheiten des Schrifttums im Geiste des dialektischen Materialismus aus Deiner Feder kenne, befestigt sich in mir auf eine klare und bestimmte Weise die Einsticht, daß Du in dieser Produktion auf selten intensive Art Selbstbetrug begehst […]. […] es ist für jeden nicht ganz gottverlassenen Leser Deiner Arbeiten klar, daß Du Dich in den letzten Jahren […] auffallend, verzeihe wenn ich sage: sogar krampfhaft, bemühst, Deine z.T. sehr weitreichenden Einsichten in einer der kommunistischen denkbar angenäherten Phraseologie vorzutragen […]“ (zit. nach Br. IV, 27).

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kaum genauer in den Blick genommen wurden. Das betrifft insbesondere Rychners kritischen Text zu gegenwärtiger Literaturtheorie, der den Anlass zur Frage nach Benjamins Selbstpositionierung darstellte. Ein genauerer Blick auf Rychners Text und auf Benjamins Antwortbrief wird exemplarisch veranschaulichen können, worum es in den nachfolgenden Untersuchungsteilen gehen wird: Benjamin löst den „ungeheuerliche[n] Konflikt der Kräfte (meiner individuellen)“ (Br III, 39), der sich im „ganzen widerspruchsvollen Fundus“ (Br IV, 408) seiner Texte manifestiert, bewusst nicht auf, finden doch seine Reflexionen über die eigene Haltung ihren Ausdruck ohnehin weniger in prätentiösen politischen Lippenbekenntnissen als in der konkreten Schreibarbeit am jeweiligen Material. Benjamin inszeniert diesen neuralgischen Punkt seines Schreibens allen voran in der Spannungsbeziehung von Literatur und Politik vielmehr als produktiven Ort eines ästhetischen Darstellungsprinzips, in deren Zentrum der funktionale Einsatz polarer Denkfiguren als heuristisches Medium für politische und ästhetische Problemzusammenhänge steht. 1.2

Politik und Literatur

Am 7.3.1931 antworte Benjamin Rychner mit einem längeren Brief. Anhand der Reaktion, die Rychners Frage hervorgerufen hat, lassen sich einige grundsätzliche Aussagen über die Register treffen, in denen Benjamin das Spannungsverhältnis von Politik und Literatur problematisiert. Dabei unterläuft Benjamin gleich zu Beginn seines Antwortbriefes den oben erwähnten aporetischen Gegensatz von Politik und Theologie resp. Metaphysik, indem er die Perspektive auf Rychners Frage auffällig verschiebt. Denn Benjamin lenkt zunächst von der erhofften deutlichen Antwort ab und richtet den Fokus stattdessen auf den „Sektor“ (Br IV, 17), in dem sich die Kontroverse abspielt. Damit übersetzt er seine Antwort in ein anderes topographisches Bildfeld. Nicht an der Anzeige eines einzigen Standpunktes ist es Benjamin gelegen, vielmehr geht es ihm offensichtlich um das intellektuelle Spannungsfeld als solches und die darin möglichen Positionen. Sein eigener ‚Schreibsektor‘ liege dabei, so führt Benjamin weiter aus, zu demjenigen Brentanos „eher entgegengesetzt; aber freilich im gleichen Kreis“ (ebd., 18).9 9 Es muss allerdings fraglich bleiben, ob Benjamin Brentanos Buch überhaupt gelesen hat. Das Buch, das Brentano selbst als „Broschüre“ (Bernard von Brentano, Kapitalismus und schöne Literatur, S.  5) bezeichnet hat und das Benjamin in seiner Antwort auch als eine solche benennt (vgl. Br IV, 18), ist eine Zusammenstellung von Essays, die bereits im Feuilleton der

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Benjamin macht anschließend deutlich, dass es auf dem Weg zu diesem ‚Sektor‘ „nicht marxistischer Gedankengänge bedurfte“ (ebd.), sondern dieser bereits in der „metaphysischen Grundrichtung meiner Forschung“ (ebd.) angelegt war. So habe er in seiner Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels zwar noch keine materialistische Perspektive eingenommen, aber bereits dialektisch gearbeitet. Entgegen des oben genannten aporetischen Gegensatzes von Marxismus und Theologie besteht für ihn damit durchaus eine Vermittlung von seinem „besonderen sprachphilosophischen Standort […] zur Betrachtungsweise des dialektischen Materialismus“ (ebd.). Allerdings fügt Benjamin anschließend in diese kurze Genealogie des eigenen Schreibens eine Parenthese ein, die durchaus programmatisch verstanden werden muss: es besteht für ihn sehr wohl ein Zusammenhang von metaphysischen und politischen Schreibweisen, aber als „eine – wenn auch noch so gespannte und problematische – Vermittlung“ (ebd.). Wenngleich dieser Einschub im Brief zunächst als Eingeständnis gegenüber den vorgetragenen Vorbehalten Rychners und Scholems erscheinen mag, erkennt die vorliegende Arbeit im ‚Gespannten und Problematischen‘ der Vermittlung vielmehr das produktive Zentrum von Benjamins Arbeits- und Schreibweise. Denn Benjamins spezifische dialektische Methode besteht nicht darin, dass er das ‚Problematische‘ dieser ‚Vermittlung‘, d.h. des Spannungsverhältnisses in einer synthetischen Theorie aufzuheben versucht, mithin in einer Theorie, die er möglicherweise noch entwickelt hätte, aber letztlich – etwa im ‚PassagenWerk‘ – durch eine „biographisch bedingte Fragmentarizität des gesamten Werkes“10 nur in Bruchstücken hinterlassen konnte. Das ‚Problematische‘ der Beziehung sowohl von Metaphysik und Politik als auch von Literatur und Politik wird ganz im Gegenteil zum Austragungsort produktiver Frankfurter Zeitung abgedruckt wurden. Als Publizist und Mitarbeiter dieses Feuilletons ist anzunehmen, dass Benjamin die Texte zumindest teilweise gekannt haben dürfte. Außerdem stand er mit Brentano nicht nur als Chef der Berliner Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung, sondern vor allem als einem Vertrauten von Brecht in einem freundschaftlichen Verhältnis. In einem Brief von 1939 bezeichnet er ihn als „mon ami“ (Br VI, 339). Weiterhin zitiert er 1939 in einem Brief an Brentano dessen „schöne[n] Satz ‚sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles‘ […].“ (Br VI, 301) Anders als die Herausgeber der Gesammelten Briefe in ihrem Kommentar vermuten, stand der Satz nicht „entweder in Brentanos nicht erhaltenem Brief oder in einem Voroder Nachwort zu der […] Keller-Ausgabe [von Brentano, K.D.]“ (ebd.). Er stammt vielmehr aus einem Essay, der in Kapitalismus und schöne Literatur publiziert wurde (vgl. Bernard von Brentano, Kapitalismus und schöne Literatur, S. 27). Anders übrigens als die politischen Schriften, lobte Benjamin Brentanos 1939 erschienenen Roman Die ewigen Gefühle nachdrücklich als „fascinierend“ (Br VI, 389). 10 Detlev Schöttker, Konstruktiver Fragmentarismus, S. 12.

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Spannungsverhältnisse, an denen sich Benjamins dialektische Schreibmethode entzündet. Im Zentrum steht eben nicht die Aufhebung, sondern die Herausarbeitung von Spannungsgefügen. In dieser zentralen Bedeutung der Konstruktion polarer Spannungsbeziehungen liegt dann auch begründet, warum Benjamin im Brief an Rychner seinen ‚Schreibsektor‘ als einen dem ‚Sektor‘ Brentanos entgegengesetzten bezeichnet. Dass Benjamin sich im Verlauf seiner Antwort an Rychner nicht auf die Seite Brentanos schlägt, liegt allerdings weniger an einer Affirmation von Rychners Verriss. Vielmehr ist das darin begründet, dass Brentano den Weg zur Verhältnisbestimmung von Literatur und Politik auf problematische Weise abkürzt. Brentano hält sich nicht damit auf, das Verhältnis zwischen Literatur und Politik näher zu bestimmen, für ihn ist ihre Verschränkung bereits erwiesen: „[…] da aber die Verbindung von Literatur und Politik längst evident ist, soll die Verbindung von Politik und Literatur immer deutlicher gezeigt und immer enger geknüpft werden.“11 Während es Brentano vor dem Hintergrund des für ihn selbstevidenten Verhältnisses von Literatur und Politik nur mehr um die Steigerung der Intensität der Verbindung geht, ist für Benjamin zunächst die Spannung zwischen Literatur und Politik als solche zu problematisieren. Daher verwehrt er sich auch gegen einen bei Brentano lancierten Literaturbegriff, der allein die Abbildung von ökonomischen Verhältnissen zum Gegenstand von Literatur macht. Dass Benjamin in Brentanos selbstevidenter Bestimmung außerdem eine allzu simple Abkürzung der virulenten Frage nach den konkreten Interventionsformen kritischer Intellektueller und Schriftsteller sieht, schlägt sich auch in ganz praktischen Debattenzusammenhängen nieder. Denn es scheint unter anderem Brentanos Arbeit an marxistischer Literaturkritik gewesen zu sein, die den Grund dafür abgab, warum sich Benjamin von der Herausgeberschaft des Zeitschriftenprojekts Krisis und Kritik zurückzog, die er mit Brecht plante. Auf der einen Seite führt Benjamin Brentano im Memorandum zu dieser Zeitschrift in der Liste potentieller Mitarbeiter auf. Auf der anderen Seite begründet er dann gegenüber Brecht seinen Rückzug von der Herausgeberschaft (nicht jedoch der gelegentlichen Mitarbeit) u.a. mit der mangelnden Qualität dreier Texte, die dort publiziert werden sollten und ihm wohl angezeigt haben dürften, welche Richtung das Projekt zu nehmen drohte. Neben Texten von Alfred Kurella und G.W. Plechanow nennt Benjamin eben auch einen Text von Brentano. (Vgl. Br IV, 15) Sein Rückzug hat programmatische Gründe und betrifft die Ausrichtung der Zeitschrift. Es sollte sich eigentlich um ein Zeitschriftenprojekt handeln, das sich mit 11

Bernard von Brentano, Kapitalismus und schöne Literatur, S. 16.

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„der kritischen Grundsituation der heutigen Gesellschaft“ (WB VI, 619) auseinandersetzt; nicht jedoch durch parteipolitische Stellungnahmen, sondern dadurch, dass in ihr „die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft von den Forderungen und den Einsichten“ (ebd.) über die eigenen kritischen Interventionsmöglichkeiten inmitten polarisierter gesellschaftlicher Verhältnisse gibt. Als Auswahlkriterium für die Mitarbeit nennt Benjamin Intellektuelle, die „sich in ihrer Haltung unbestechlich erwiesen haben.“ (ebd.) Wo er also eine Zeitschrift aufbauen wollte, die zwar der „Propaganda des dialektischen Materialismus durch dessen Anwendung auf Fragen dienen [sollte], die die bürgerliche Intelligenz als ihre eigensten anzuerkennen genötigt ist“ (ebd.), aber nicht in parteilicher Dogmatik münden oder bloßen Absichtserklärungen stecken bleiben sollte, ahnte er durch die Texte der drei genannten Autoren die Gefahr einer bloßen „Unterzeichnung eines Aufrufs“ (ebd., 16). Die „theoretische Haltung“ (WB VI, 621), von der nach Benjamin kritisch Rechenschaft abzulegen sei, betrifft gerade keinen dogmatischen (Klassen-) Standpunkt, sondern zielt vielmehr auf eine Reflexion über den eigenen Ort innerhalb der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse.12 Denn im Zentrum der forcierten Debatten innerhalb der Zeitschrift habe die Frage zu stehen, wie „unter den heutigen Umständen eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion im Gegensatz zu der üblichen willkürlichen und folgenlosen“ (ebd., 619) aussehen kann. Das betrifft zuallererst die Stellung des Schriftstellers und kritischen Intellektuellen zu seinen eigenen Produktionsmitteln. In seinem Vortrag Der Autor als Produzent verweist Benjamin dazu auf Brecht und formuliert den politischen Impuls bzw. die politische Hoffnung dieser Selbstbefragung: „Er [Brecht, K.D.] hat als erster an den Intellektuellen die weittragende Forderung erhoben: den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne ihn zugleich, nach Maßgabe des Möglichen, im Sinne des Sozialismus zu verändern.“ (WB II.2, 691). Die ‚Maßgaben des Möglichen‘ bemessen sich erst auf der Grundlage der grundsätzlichen Reflexion über die eigene ‚Haltung‘ in der Zeit, die in vielen Texten Benjamins direkt verhandelt und so zum Gradmesser für die Frage nach dem Reflexionsgrad des kritischen Schriftstellers 12

Nebenbei sei hier bemerkt, dass Benjamin in diesem Zeitschriftenprojekt auch eine ganz praktische Polarität erkennt. Die Zeitschrift, so erklärt er gegenüber Scholem, verhalte sich zu dem früheren Projekt einer Zeitschrift mit dem Namen Angelus Novus „gänzlich polar“ (Br II, 510). Was das praktisch genau bedeuten soll, führt Benjamin nicht weiter aus und belässt es „bei dieser rätselhaften Bemerkung“ (ebd). Wenn das Projekt der ersten Zeitschrift stärker auf metaphysische Zusammenhänge und das zweite Projekt stärker auf politische Zusammenhänge gerichtet ist, kann jedoch angenommen werden, dass sich hier in Benjamins Deutung jene Polarität wiederholt, die weiter oben bereits als grundsätzliche produktive polare Spannung ausgewiesen wurde.

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über die konkreten Bedingungen des eigenen Schreibens wird. Dass das Projekt der Zeitschrift als „Organ, in dem Fachmänner aus dem bürgerlichen Lager die Darstellung der Krise in Wissenschaft und Kunst unternehmen sollten“ (Br IV, 15), letztlich scheitert, scheint u.a. auch mit solchen problematischen Literaturbegriffen zusammenzuhängen, wie Benjamin sie exemplarisch in den Arbeiten Brentanos (sowie Kurellas und Plechanows) ausgedrückt findet. Die unterschiedlichen Auffassungen von Politik und Literatur sowohl hinsichtlich der ästhetischen Darstellungsprinzipien als auch der Reflexionsform über den eigenen Ort des Schreibens begründen also, warum Benjamin seine eigene Position als derjenigen Brentanos „eher entgegengesetzt“ (ebd., 18) bezeichnet. Ein Gegenbeispiel zu Brentanos Vorstellung von einer selbstevidenten Beziehung zwischen Politik und Ästhetik hat Benjamin dann offensichtlich in Sigfried Kracauers Studie Die Angestellten (1930) erkannt. Bevor Benjamins Antwort auf Rychners ‚Dic-cur-hic-Frage‘ weiterverfolgt wird, soll zunächst kurz auf Benjamins Rezension zu Kracauers Studie eingegangen werden, weil hier angezeigt werden kann, wie Benjamin das Interesse an Extremen mit der Reflexion auf die Stellung des Intellektuellen – vor allem auch in Abgrenzung zu Literaturbegriffen wie demjenigen Brentanos – kurzschließt. Kracauer Erkenntnisinteresse ist auf die Extreme als heuristisches Prinzip seiner Untersuchung der neuen Angestelltenkultur, ihrer ökonomischen Verhältnisse, weltanschaulichen Einstellungen, ihrer alltäglichen sozialen Umgangsformen sowie ihrer kulturellen Interessen und Bedürfnisse gerichtet: „Nur von ihren Extremen her kann die Wirklichkeit erschlossen werden.“13 Zwei methodische Entscheidungen begründen hier den Fokus auf das Extreme: Erstens geht es Kracauer explizit nicht um die mimetische Abbildung der gesamten Arbeits- und Lebensverhältnisse der Angestellten in Deutschland, die vielmehr durch eine quantitativ umfassendere Studie geleistet werden müsste. Die ausschließliche Fokussierung auf die Berliner Angestelltenkultur resultiert vielmehr aus der Überzeugung, dass dort sowohl die ökonomischen Verhältnisse als auch die habituellen und kulturellen Praktiken als „exemplarische Fälle der Wirklichkeit“14 dienen können, in denen gesellschaftliche Entwicklungstendenz wie unter einem Brennglas sichtbar werden. Die Entscheidung für diesen erkenntnisleitenden Fokus basiert auf der Vorstellung des diagnostischen Potentials der Extreme. Und zweitens geht es Kracauer nicht um die bloße Applikation einer politischen Theorie – Kracauer 13 14

Sigfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland [1930]. Frankfurt a. M. 1971, S. 7. Ebd.

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verwehrt sich hier vor allem einem platten Basis-Überbau-Modell, das die Bewusstseinsstrukturen der unteren Mittelschicht rein ökonomischdeterministisch erklären will –, sondern um die Beobachtung kleinbürgerlicher Bewusstseinsformen und realökonomischer Verhältnisse an konkreten Alltagsphänomenen. Aus beiden Aspekten zusammen resultiert ein Darstellungsverfahren, das die Extreme überhaupt erst sichtbar macht, und das Benjamin in seiner Rezension besonders hervorhebt: „Der Wirklichkeit wird so sehr zugesetzt, daß sie Farbe bekennen und Namen nennen muß.“ (WB III, 221) An die Betonung der erkenntnistheoretisch reflektierten Perspektivierung der Extreme bindet Benjamin allerdings zugleich die Frage nach der „politische[n] Wirkung“ (ebd., 224), auf die seine Rezension zuläuft und die den eigentlichen Fokus bildet. Das wird gewissermaßen bereits durch den Titel seiner Rezension (Ein Aussenseiter macht sich bemerkbar) angedeutet. Die Studie sei, so Benjamin, kein auf unmittelbare politische Wirkung zielendes Pamphlet, sondern ein wirklicher „Markstein auf dem Weg der Politisierung der Intelligenz“ (ebd., 225), weil die eigene Position stets in der ästhetischen Darstellungsweise mitreflektiert werde. Dadurch lasse sich überhaupt erst der „literarische Wert politscher Praxis“ (ebd.) bestimmen. Die „Politisierung der eigenen Klasse“ (ebd.) könne eben nicht dadurch erreicht werden, dass man sich als eine Art ‚intellektueller Proletarier‘ inszeniert, da eine solche „proletarische Mimikry“ (ebd., 280), die Benjamin neusachlichen Autoren vorwirft, den eigenen Ort des Schreibens eher verblendet als aktiv reflektiert. Nur die Reflexion auf die vor allem ökonomischen Produktionsbedingungen erzeugt die Möglichkeit einer „Umfunktionierung“ derselben, wie Benjamin später an verschiedenen Stellen, in Anlehnung an Brecht, formulieren wird („Die Umfunktionierung als spezifische Aufgabe des Intellektuellen“, WB VI,  182). Diese Formen „indirekte[r] Wirkung“ (WB III, 225), die Benjamin hier vor allem als Resultat von Kracauers „konstruktive[r] theoretische[r] Schulung“ (ebd., 225), mithin aus der darstellungsästhetischen Entscheidung für die Extreme begreift, hat er selbst bereits zu Beginn der Einbahnstraße als den modus operandi seiner eigenen literarischen Schreibweise im Feld des Politischen bestimmt. Benjamin setzt dort mit einer Reflexion auf die politische Funktion des kritischen Intellektuellen unter dem Titel Tankstelle ein und bildet eine Analogie, die einige Fragen aufwirft: „Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß.“ (WB IV.1, 85)

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Handelt es sich bei dem Bild vom wirkungslosen Übergießen der Maschine möglicherweise um ein profanes Echo auf das neutestamentarische ‚Perlen vor die Säue‘? Und müsste man dann nicht auch folglich das anschließende Bild von den „verborgene[n] Nieten und Fugen“ und damit überhaupt Benjamins schriftstellerisches Engagement im Felde des Politischen – trotz seines Bemühens, gerade mit der Einbahnstraße „die aktualen und politischen Momente in meinen Gedanken nicht wie bisher altfränkisch zu maskieren, sondern zu entwickeln, und das, versuchsweise, extrem“ (Br II, 511) – unter den Vorzeichen einer „esoteric function of the intellectual“15 lesen? Die Analogie deutet indes auf anderes, und zwar gerade dadurch, dass sie Irritation stiftet. Denn das Bild scheint, so man es denn auf die dem Intellektuellen eignende „revolutionäre Energie“ (WB VI, 311) beziehen möchte, schief. Müsste man nicht eher Sand in das Getriebe des Riesenapparates streuen, um diesen zum Stottern zu bringen? Mit der Analogie ist hier weniger ein esoterischer, exklusiver Intellektualismus angezeigt als vielmehr ein Modus diskreten und bedachten Engagements. Angelehnt an die neusachliche Faszination für Maschinen, geht es um die Frage der präzisen Intervention an spezifischen Stellen. Dabei zielt Benjamins Metaphorik hier vor allem auf Überlegungen über Möglichkeiten und Grenzen „literarische[r] Wirksamkeit“ (WB IV.1, 85), die den veränderten Strukturen der politischen Öffentlichkeit und des literarischen Markts in der Weimarer Republik Rechnung tragen. Hierbei führt Benjamin zwei Aspekte zusammen: Erstens fordert er immer wieder, dass auch die „unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches“ (ebd.) für eine diskrete Wirkweise politischer Intervention des kritischen Intellektuellen bedacht werden müssen. Neben den von Benjamin hier genannten „Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikel und Plakaten“ hat er diese Arbeit vor allem in seinen (teilweise randständige Themen behandelnden) Rezensionen aufgenommen. (Vgl. hierzu Kap.  4) Damit zusammenhängend stellt sich bei ihm zweitens immer auch die Frage nach den konkreten Darstellungsformen, in denen sich nicht nur Kritik zum Ausdruck bringen lässt, sondern den Kritiker selbst und seine Refle­ xion auf den konkreten Einsatzpunkt der eigenen Schreibarbeit miteinbezieht. Wie Benjamin dieses ‚Einbeziehen‘ der eigenen Schreibposition im Begriff der ‚schriftstellerischen Haltung‘ zuspitzt, zeigt sich auch im weiteren Verlauf seines Antwortbriefes an Rychner. Wenn Benjamin dort aber zunächst neben dem topographischen Bildraum der ‚Schreibsektoren‘ zugleich die 15

Anson Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley 1997, S. 32. Zur These vom „[e]soteric intellectualism“ vgl. auch ebd., S. 62.

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Formel des alten Herrn von Briest aus Fontanes Roman aufruft und von einem „weite[n] Feld“ (ebd., 17) spricht, in das Rychners ‚cur-hic-Frage‘ führe, meint dies nur vordergründig die Tatsache, dass eine präzise Antwort einer längeren, problemorientierten Ausführung bedarf, die „bei weitem die Möglichkeiten einer schriftlichen Darlegung überschreiten“ (ebd., 18) würde. Dass es sich nur um eine „Improvisation“ (ebd., 20) handeln könne, ist weder ausschließlich der Kommunikationssituation geschuldet noch deutet sich hier der Versuch an, sich einer klaren Antwort zu entziehen. Benjamins Zauderstrategie ist vielmehr inhaltlich begründet: Denn das ‚hic‘ in Rychners Frage suggeriert, dass sich eine feste Position angeben ließe, mithin ein gesicherter, souveräner Standpunkt, von dem aus man als „Bekenner“ (ebd., 19) auftreten könnte. Benjamins erkenntniskritische Suche nach einem eigenen materialistischen Arbeits- und Schreibverfahren steht dieser festen Positionierung allerdings entgegen. (Vgl. Kap. 10.3) In einem anderen, aber thematisch verwandten Kontext erklärt er gegenüber Siegfried Kracauer, dass es eine allgemeingültige Antwort auf Fragen nach der Beurteilung der Haltung von Autoren in politischen und moralischen Angelegenheiten nicht geben kann: „An eine Möglichkeit, das allgemein zu beantworten glaube ich hier ebensowenig, wie bei jeder anderen, konkreten, moralischen Frage.“ (Br III, 168) Aussagen über das Politische der Literatur knüpft Benjamin weder an überzeitliche moralische Maßstäbe noch an parteipolitische Bekenntnisse. Vielmehr geht er davon aus, dass sowohl das Politische der Literatur als auch die strategische Position des Autors vor dem Hintergrund der konkreten Zeitumstände betrachtet werden müssen. Allen voran sind diese Überlegungen gegen ein Denken in souveränen Standpunkten gerichtet. Dieses Denken in festen Standpunkten beschreibt Benjamin in der Einbahnstraße als ein Phänomen bürgerlicher Intellektueller, als „Verfall des Intellekts“ (WB IV.1, 96), und sieht darin die krisenhafte „Verfassung der Gesamtheit deutscher Bürger“ (ebd.) dokumentiert. Unter der Überschrift Reise durch die deutsche Inflation läuft die kritische Bestandsaufnahme bürgerlicher Verhaltensweisen, ihrer politischen Überzeugungen und ihres Selbstbildes dann direkt auf die Kritik dieses Standpunktdenkens zu: „Der blinde Wille, von der persönlichen Existenz eher das Prestige zu retten, als durch die souveräne Abschätzung ihrer Ohnmacht und ihrer Verstricktheit wenigstens vom Hintergrunde der allgemeinen Verblendung sie zu lösen, setzt sich fast überall durch. Darum ist die Luft so voll von Lebenstheorien und Weltanschauungen, und darum wirken sie hierzulande so anmaßend, weil sie am Ende fast stets der Sanktion irgendeiner ganz nichtssagenden Privatsituation gelten. Eben darum ist sie auch so voll von Trugbildern, Luftspieglungen einer trotz allem über Nacht blühend hereinbrechenden kulturellen Zukunft, weil jeder auf die optischen Täuschungen seines isolierten Standpunktes sich verpflichtet.“ (ebd., 98f.)

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Die durch Ideologien und Lebenstheorien sanktionierten Standpunkte verblenden, so Benjamins Argumentation, in ihren „Täuschungen“ die Sicht auf die prekäre Lage und die Krisensituation in der sich die bürgerlichen Intellektuellen politisch wie sozial befinden. Es handelt sich dabei um eine ‚optische‘ Täuschung, was zeigt, dass Benjamin diese Frage nicht nur auf einer erkenntniskritischen, sondern auch auf einer wahrnehmungspraktischen Ebene verhandelt. Die Aufgabe des kritischen Intellektuellen und Schriftstellers besteht dann nach Benjamin im Gegensatz zu dem bürgerlichen Standpunktdenken darin, die eigene prekäre Position inmitten der politischen Spannungsverhältnisse im Schreiben selbst erkennbar zu machen. In einem seiner Versuche zu Brecht schreibt er in diesem Sinne: „Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? Möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen?“ (WB II.2, 686) Dieses ‚in ihnen‘ betrifft bei Benjamin die Probe von Schreibweise inmitten des spannungsgeladenen, differenziellen Bezuges zwischen der Literatur und dem Politischen und wird bei ihm konsequent ausschließlich von der ästhetischen Realisierung selbst her gedacht: „Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas macht: nämlich schreibend.“ (WB II.2, 696) Die Spannungsverhältnisse, die sich aus den gleichermaßen ökonomischen wie politischen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur ergeben, interessieren Benjamin auch immer wieder in einer historischen Perspektive. Scholem hat das sehr präzise auf den Punkt gebracht: „Was eigentlich die Phantasie der Autoren, denen er sich verschrieb, indem er über sie zu schreiben scheint, konstituierte, und wo der Quellpunkt ihrer Phantasie jeweilig mit der besonderen Spannung zusammenhängt, die den geschichtlichen und gesellschaftlichen Standort bezeichnete, der ihre Produktion bestimmte – das war es, was ihn faszinierte.“16

Als ‚Quellpunkt‘ der Phantasie strahlt dieses Interesse in mehrere Richtungen: Es reicht von den historischen Studien beispielsweise über Baudelaire, in denen Benjamin untersucht, wie die Befreiung aus persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen gegenüber einem Souverän als Auftragsgeber einhergeht mit der ökonomischen Notwendigkeit, fortan auf dem freien Markt zu bestehen, bis hin zu den, sich vor allem in seinen Kritiken und Rezensionen niederschlagenden, Beobachtungen über die, aus den medientechnischen Veränderungen resultierenden, neuen „Produktionsverhältnisse auf dem Büchermarkt“ (WB VI, 162) in der eigenen Zeit. Dabei schließt Benjamin 16

Gershom Scholem: Walter Benjamin [1964]. In: ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. Frankfurt a. M. 1992, S. 9-34, hier: S. 18f.

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stets die Frage nach den konkreten gesellschaftlichen „Lebensbedingungen der Kunst der Gegenwart“ (Br  V, 199) mit der Beobachtung der konkreten Haltung des Schriftstellers als Ausdruck der jeweiligen Intensität der Reflexion über die gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen ästhetischer Produktion zusammen. Benjamins kritischer Blick auf die Mechanismen des literarischen Marktes wird besonders deutlich in seiner scharfen Abrechnung mit den Autoren der ‚Neuen Sachlichkeit‘ in seiner Rezension Linke Melancholie. Benjamin nimmt dort den Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft (1930) von Erich Kästner zum Anlass, um das Wie des Inmitten-der-Produktionsverhältnisse-Stehens für das ‚Literaturnetzwerk‘ der ‚Neuen Sachlichkeit‘ zu sezieren: „Ihre Funktion ist, politisch betrachtet, nicht Parteien sondern Cliquen, literarisch betrachtet, nicht Schulen sondern Moden, ökonomisch betrachtet, nicht Produzenten sondern Agenten hervorzubringen.“ (WB III, 280)

Damit reproduzieren diese Autoren, so schlussfolgert Benjamin, auf politischer, literarischer und ökonomischer Ebene diejenigen Produktionsverhältnisse, die es eigentlich nach der „Maßgabe des Möglichen“ (WB II.2, 691) zu verändern gilt. Ihre Position bezeichnet er als eine des spannungslosen „Nihilismus“ (WB III, 282), durch den ihre literarischen Werke nicht „aus der Spannung zwischen jenen beiden Polen [von Berufs- und Privatleben, K.D.] hervorgehen“ (ebd., 283), deren Reflexion Benjamin einfordert. Besonders scharf greift Benjamin dabei die Inszenierung eines kritischen Gestus an, der Gesellschaftskritik in „Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsements“ (ebd., 281) verwandle. Das literarische Netzwerk, das sie durch ihr „Routiniertsein“ (ebd., 280) schaffen, mache Kritik zu einem marktkonformen Gegenstand und produziere bei den Rezipierenden eine passive Konsumhaltung. Benjamin hätte seine Besprechung gerne in der Frankfurter Zeitung unter der „Rubrik ‚Zur Kritik der symptomatischen Zeiterscheinungen in der Literatur‘“ (Br III, 545) veröffentlicht gesehen. Der Text wurde allerdings abgelehnt. JeanMichel Palmier vermutet, dass das durchaus an einer „gewisse[n] Ungerechtigkeit“17 gegenüber den besprochenen Autoren gelegen haben dürfte. Dass Benjamin sich hier allerdings der „ziemlich dogmatischen Auffassung anzunähern [scheint], die kommunistische Zeitschriften wie die Linkskurve über diese Autoren verbreiteten“18, ist hingegen weniger plausibel. Denn Benjamin geht es weniger um einen persönlichen Angriff, sondern um den Versuch einer 17 18

Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein, S. 393. Ebd., S. 588.

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kritischen Analyse bestimmter „Typ[en]“ (WB III, 283), Rollen und Funktionen auf dem Büchermarkt. Das zeitdiagnostische und -kritische Interesse an konkreten Publikationsbedingungen auf dem Büchermarkt der Weimarer Republik und an verlagsstrategischen Inszenierungsformen einzelner Autoren teilt Benjamin dabei in auffälliger Weise mit Salomo Friedlaender. Ein Jahr vor Benjamins Rezension erscheint Friedlaenders „satirische[…] Apotheose“ (F/M 11, 94) Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Eine Denkmalenthüllung, in der Friedlaender durch satirische Mimikry der Biographie des Bestsellerautors Remarque „in das Wespennest der triumphierenden Mittelmäßigkeit [zu] stechen“ (ebd., 93) versucht. Auch Friedlaender legte den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf den Begriff der ‚Clique‘, hier: der „Ullsteinclique“ (ebd., 96) und somit auf ein kommerziell ausgerichtetes Netzwerk aus Produzenten, Verlagen und Rezipienten. Ähnlich wie Benjamin greift Friedlaender also nicht Remarque selbst an, sondern den Schriftstellertypus, der von diesem repräsentiert werde und der vor allem ein Produkt verlegerischer Inszenierungsstrategien sei. Dieser Schriftstellertypus verhindere, so Friedlaender, eine kritische Kommunikation zwischen Literatur und Publikum: „Ohne Verullsteinerung vermag kein Genius mehr, sich mit den Zeitgenossen zu verständigen.“ (ebd., 104) Ein wichtiger Bezugspunkt in dieser vergleichbaren Kritik besteht bei Benjamin und Friedlaender aber nicht in den Theoremen einer marxistischen Literatursoziologie, die Rychner in seinem Brief an Benjamin als Gefahr markiert hatte, sondern in der von beiden geschätzten Studie Die Genesis des Ruhmes (1914) von Julian Hirsch: Benjamin spricht von einer „vorzügliche[n] Studie“ (WB III, 80), Friedlaender wiederum von einer „famose[n] soziologische[n] Arbeit“ (F/M 29, 401).19 Hirsch unterscheidet in seiner Studie verschiedene verlegerische Strategien der ‚Ruhm-Erzeugung‘, etwa „Reklame“20, „Volksausgabe[n]“21 oder auch ‚Gruppenbildungen‘22, die Benjamin und Friedlaender für eine kritische Gegenwartsanalyse produktiv zu machen versuchen. Damit teilen Benjamin und Friedlaender nicht nur den Versuch, als Akteure auf dem literarischen Markt etwa durch (gescheiterte) Zeitschriftenprojekte ein ‚gegenöffentliches‘ Organ für eine kritische Gegenwartsanalyse zu etablieren. Beiden gemeinsam ist zudem der kritische Blick auf das ökonomische Netzwerk unterschiedlicher Literaturakteure. 19 20 21 22

Auch Thiel weist kurz auf Julian Hirsch hin, vgl. Detlef Thiel, Maßnahmen des Erscheinens, S. 114. Julian Hirsch: Die Genesis des Ruhmes. Ein Beitrag zur Methodenlehre der Geschichte. Leipzig 1914, S. 191. Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 195f.

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Dass bei Benjamin in diesem Zusammenhang zunehmend der Begriff der ‚Haltung‘ zu einer zentralen Analysekategorie wird, zeigt sich beispielhaft an dem 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsatz Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, in dem es um „die Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft“ (WB II.2, 778) geht. In einer späteren Zusammenfassung bezeichnet er die Arbeit als „une analyse de l’attitude des écrivains français contemporains“ (WB II.3, 1516). Der „point de vue social“ (ebd.), von dem aus die Haltung untersucht werden soll, ergibt sich für Benjamin aus den politischen Ereignissen 1933, der Zeit also, in der er (wie auch Friedlaender) ins Exil gezwungen wird und den Essay verfasst.23 Im Aufsatz selber bezeichnet Benjamin dies als „die gesellschaftliche Verfassung des Imperialismus, in der die Position der Intellektuellen immer schwieriger geworden ist.“ (WB II.2, 777) Die konkrete Reflexion des Schriftstellers verpflichtet er auf den je spezifischen Ort der Kunstproduktion inmitten der konkreten Produktionsbedingungen. Haltung ist dann der Begriff, an dem Benjamin den konkreten Umgang der Schriftsteller mit diesen Bedingungen in seiner Literatur ausmisst. Im Zentrum steht dabei die Beobachtung der jeweiligen kritischen Reflexion, die, so Benjamins Vorstellung, in dem Produkt als ihr spezifisches Produziert-Sein selbst zum Ausdruck kommen müsse. In diesem Zusammenhang lässt sich die Betonung, dass auch die Rolle des größten Dichters nur im Zusammenhang mit den „Funktionen, die sein Werk in der Gesellschaft hat“ (ebd., 789) bestimmt werden kann, auch als verspätete Antwort auf die ‚cur hic‘-Frage Rychners (und Scholems) auffassen. Eine ‚Vorform‘ dieses Textes war schließlich ursprünglich für Rychners Zeitschrift geplant.24 23

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Die Reflexion auf den Zusammenhang von ‚Haltung‘ und Produktionsbedingungen erhält durch die Exilerfahrung dann auch eine ganz praktisch-biographische Dimension: Benjamin beklagt an mehreren Stellen die schwierigen Schreibvoraussetzungen durch den Verlust seiner Bücher, wodurch er, „abgeschnitten von allen Produktionsmitteln“ (Br IV, 213), Texte nur unter „den schwierigsten Verhältnissen“ (ebd., 223) fertigstellen kann. Bereits Ende 1927, ganz zu Beginn ihres Briefverkehrs, hat Rychner Benjamin um einen Artikel „zu dem gegenwärtigen Stand der deutschen Belletristik“ (Br III, 296) für seine Zeitschrift gebeten. Benjamin sah in diesem Auftrag die Chance „vor einem schweizerischen Publikum, welches von Haus aus für deutsche Geistesbewegungen einen freieren und kritischeren Blick hat“ (ebd.) sich über diese Dinge auszusprechen. Dass er dennoch zögerlich reagierte und um zeitlichen Aufschub der Abgabe bat, lag vor allem an seiner „reservierten Stellung zu dieser Produktion“ (ebd.) Der Aufsatz kommt letztlich auch nicht zustande. Die Auftragsarbeit Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers kann aber durchaus auch als späte Antwort auf Rychner verstanden werden. Auch in der Auseinandersetzung mit Scholem wiederholt sich die ‚Cur-hic‘-Diskussion anhand dieses Aufsatzes. Eine Auseinandersetzung, die „in der

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Parallel zur Frage nach der kritischen Haltung des Schriftstellers tritt bei Benjamin die Frage der kritischen Haltung des Literaturkritikers und -wissenschaftlers. Denn eine zeitkritische Perspektive schreibt Benjamin auch einer kritischen Literaturwissenschaft ins Stammbuch, die ihren „musealen Charak­ ter“ aufzugeben habe, um „Wirkliches“ (WB III, 288) an seine Stelle zu setzen. Dabei betont er allerdings, dass das ‚Wirkliche‘ als „Sachgehalt nie außerhalb des Wortes“ (ebd., 289) liege. Diese Grundprämisse leitet Benjamins eigenes spezifisches Lektüreverfahren an. In einem seiner Lebensläufe bringt er das für seine Arbeit über Charles Baudelaire auf den Punkt: „Meine letzte Arbeit ‚Über einige Motive bei Baudelaire‘ […] ist ein Bruchstück aus einer Folge von Untersuchungen, die sich die Aufgabe stellen, die Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts zum Medium seiner kritischen Erkenntnis zu machen.“ (WB VI, 228) Auch der Zugang zum politischen und ökonomischen Gehalt von Literatur verläuft nur über die immanenten Zusammenhänge der Werke, stellt sich nur in der konkreten literarischen Produktion dar und wird erst so zum ‚Medium kritischer Erkenntnis‘.25 In kritischer Distanz gegenüber Brentanos Vorstellung von einem selbstevidenten Verhältnis von Politik und Literatur proklamiert Benjamin hier also nicht bloß eine mimetische Abbildung zeitspezifischer Polarisierungen, sondern legt den Fokus auf die Art und Weise, wie die gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Spannungen zur Darstellung kommen. Dass gerade der Schriftsteller diese Spannungen in seinen Schriften zum Ausdruck bringen muss, nimmt Benjamin auch für sein eigenes Schreibverfahren in Anspruch. Das wird etwa in einem Brief von 1926 an Hugo von Hofmannsthal deutlich, in dem er ein polares Darstellungsprinzip für die Einbahnstraße reklamiert: „Denn es stellt ein Heterogenes oder vielmehr Polares

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Sache beiderseits ziemlich scharf war.“ (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 245). Scholem reagiert auf diesen Aufsatz mit scharfer Ablehnung und fragt: „Soll das ein kommunistisches Credo sein? […] Ich muß Dir gestehen, daß ich in diesem Jahr überhaupt nicht mehr weiß wo Du stehst.“ (Benjamin/Scholem, Briefwechsel 1933-1940, S. 136) Schon wieder eine Frage nach dem Ort, diesmal – 1934 – nicht mehr als Frage, sondern beinahe resignativ gegenüber dem vermuteten Credo. Benjamin reagiert deutlich ob des Bildes, dass hier von ihm gezeichnet wird: „Ich denke, daß das meinige [Bild, K.D.] in Dir nicht das von einem Manne ist, der leicht und ohne Not sich auf ein ‚Credo‘ festlegt.“ (Br IV, 408). Dass das nicht gleichzusetzen ist mit einer rein ‚immanenten Kritik‘, erschließt sich aus Benjamins Ausführungen zum frühromantischen Kritikbegriff, in der er zwar die historische Leistung der Etablierung dieser Kritikform als Befreiung von dogmatischen Kunstregeln anerkennt, zugleich aber auch einschränkt: „[…] die Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien, ist auf Grund romantischer Theorien gewonnen, welche gewiß in ihrer reinen Gestalt keinen heutigen Denker völlig befriedigen.“ (WB I.1, 72).

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dar, als dessen Spannung vielleicht gewisse Blitze zu grell, gewisse Entladungen zu polternd hervorgehen.“ (Br III, 208) Was zunächst als Bedenken gegenüber der Struktur des noch im Entstehen begriffenen Buches erscheinen mag, ist im selben Brief jedoch vor allem gegen eine Literaturwissenschaft gerichtet, die „als spannungs- und interessensloser Ausdruck des Zeitgeschmacks“ (ebd.) eben diese gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Spannungsbeziehungen der Zeit nicht auf ihren Begriff zu bringen vermag. Für die Abkehr sowohl von dieser ‚spannungslosen Literaturwissenschaft‘ als auch von dem damit zusammenhängenden bürgerlichen Standpunktdenken bringt Benjamin ebenfalls den Begriff der Haltung in Anschlag. Gegenüber Rychner betont er, dass er sich nicht als „Vertreter des dialektischen Materialismus als eines Dogmas“ verstehe, sondern ihm die „Haltung des Materialisten wissenschaftlich und menschlich in allen uns bewegenden Dingen fruchtbarer […] als die idealistische“ erscheine. (Br IV, 19, Herv. i. O.)26 Diese ‚Haltung des Materialisten‘ steht bei ihm in unmittelbaren Zusammenhang mit der Erprobung von Schreibverfahren, die einer ‚spannungsgeladenen Literaturwissenschaft‘ eignen könnten, einer Literaturwissenschaft, die sich nicht den ahistorischen, idealistischen Kategorien bzw. der „Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß“ (WB III, 286) verschreibt, sondern in ihrer Analyse herauszuarbeiten versucht, wie sich die konkreten Spannungsverhältnisse, Konflikte und Krisen der Zeit in der Haltung des Schriftstellers manifestieren und zugleich in der konkreten ästhetischen Konstruktion darstellen. Dass Benjamin erstens die Frage nach seinen methodischen Prämissen auf den Begriff der ‚Haltung‘ des Schriftstellers zu seinen eigenen Produktionsbedingungen zuspitzt und zweitens als Reaktion auf das ‚Dic, cur hic?‘ zudem die „Haltung des Materialisten“ – weit eher als provisorische Bezeichnung denn als dogmatisches Selbstverständnis – für sich beansprucht, ist aber nicht nur einseitig gegen Brentanos Literaturverständnis gerichtet. Vielmehr manifestiert sich hierin zugleich auch eine kritische Distanz gegenüber Rychner. Allerdings reagiert Benjamin auf Rychners Text aus anderen Gründen reserviert, die im 26

Benjamin macht hier nochmals deutlich: Seine Hinwendung zu materialistisch informierten Arbeitsweisen resultiere aus der Abneigung „gegen die abscheuliche Öde dieses offiziellen und inoffiziellen Betriebs“ (Br IV, 18). Als Repräsentanten dieses Betriebs nennt Benjamin neben Ernst Bertram auch Friedrich Gundolf, mit dem er sich bereits in seinem Wahlverwandtschafts-Essay kritischen auseinandergesetzt hat. Benjamin verweist hier auf Gundolf, weil Rychner Gundolf für seine „Darstellung der geschichtlichen und der geschichtswirkenden Kräfte an der großen Persönlichkeit“ (Max Rychner, Anmerkungen, S. 82) besonders positiv hervorhebt.

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Zusammenhang mit literaturkritischen Methodenfragen stehen. Rychner hatte Brentanos Buch als „Kampfschrift“27 bezeichnet, die ihren restriktiven ideologischen Impetus gerade dort entlarve, wo ästhetische Reflexionen in die Proklamation von „Kunstregeln“28 münden, die allein „marxistische[…] Manifest-Dogmen als a priori-Wahrheiten kritiklos“29 gelten lassen.30 Damit greift Rychner vor allem die Vorstellung einer strikten Basis-ÜberbauKausalität an, in der alle gesellschaftlichen, politischen, kulturellen Phänome auf ökonomische Verhältnisse zurückgeführt werden sollen. Was Rychner hier als „Marxens doktrinäre Systematisierung“31 strikt abwertet, markiert für Benjamin hingegen das entscheidende und weithin ungelöste Problem materialistischer Theoriebildung überhaupt.32 Noch ein paar Jahre später wird er in seinem Essay über Eduard Fuchs betonen, dass hier eine Klärung nicht nur „noch aussteht“, sondern jede materialistische Kunsttheorie mit dieser Frage vor immensen „Aporien der Theorie“ (WB II.2, 469) steht. In der Forschung wurde bereits allgemein festgehalten, dass Benjamins Umgang mit den Aporien materialistischer Theorie und damit auch sein genui­ ner Zugang zum Politischen der Literatur jenseits der „methodologischen[n] Alternative eines deterministisch-mechanistischen Kausalitätsdenkens einer­ seits (‚Vulgärmarxismus‘) und eines dialektischen Vermittlungsdenkens andererseits (‚Hegelmarxismus‘)“33 zu suchen ist. Im ‚Passagen-Werk‘ wird 27 28 29 30

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Max Rychner, Anmerkungen, S. 88. Ebd., S. 85. Ebd., S. 90. Rychner fasst hier wohl Sätze ins Auge wie: „Der Schrifsteller muß wissen, was gespielt wird. Also muß er, wenn das nicht offenkundig ist, sondern verborgen, wie in unseren Zeiten, es in Erfahrung zu bringen suchen. Das genügt.“ (Brentano, Kapitalismus und schöne Literatur, S.  10). Oder: „Wohin man blickt: man sieht nichts als Zustände. Also mögen die Schriftsteller von ihnen berichten.“ (ebd., S. 26). Max Rychner, Anmerkungen, S. 84. Das Basis-Überbau-Problem scheint in der Diskussion zwischen Rychner und Benjamin zentral gewesen zu sein. In seinen Erinnerungen beschreibt Rychner eine Begegnung mit Benjamin und Bloch, in der Benjamin behauptet habe „es krache im Unterbau, und da müsse sich im Oberbau sogleich alles verändern.“ (Max Rychner: [ohne Titel]. In: Über Walter Benjamin. Mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Rychner, Gershom Scholem, Jean Selz, Hans Heinz Holz und Ernst Fischer. Frankfurt a. M. 1986, S. 24-29, hier: S. 26). In Rychners Erinnerung erscheint Benjamin als strikter Vertreter eines kausalen Verhältnisses von Basis und Überbau. Erst am Ende seiner Erinnerung wird das durch eine Anekdote über ein gemeinsames Mittagessen zugunsten von Benjamins metaphysischer Grundhaltung aufgebrochen. Sami Khatib: Walter Benjamins ‚trans-materialistischer‘ Materialismus. Ein Postskriptum zur Adorno-Benjamin-Debatte der 1930er Jahre. In: Carolin Duttlinger/Ben Morgan/ Anthony Phelan (Hg.): Walter Benjamins anthropologisches Denken. Freiburg 2012, S. 149178, hier: S. 152.

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Benjamin dies Aporie später mit der Idee vom „Ausdruckscharakter“ (WB V.1, 574) zu lösen versuchen, der nicht einseitig durch einen Kausalzusammenhang bestimmt ist. Zuvor wirkt Benjamins konkrete Reaktion auf die durch Rychner angestoßene Debatte über materialistische Literaturtheorie indes doch einigermaßen überraschend. Denn gegen die unproduktive Alternative von einer einseitigen Basis-Überbau-Logik oder einer teleologisch-zweckmäßigen Bewegungslogik gehorchenden Denkweise des Politischen erklärt Benjamin gegenüber Rychner, er habe nie anders „forschen und denken können als in einem, wenn ich so sagen darf, theologischen Sinn – nämlich in Gemäßheit der talmudischen Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle.“ (Br IV, 19f.). Im Kontext des Briefes impliziert dieses bekannte, aber meist aus dem Zusammenhang gerissene, Zitat zwei Absetzungsbewegungen zugleich, die sich zwar aufeinander beziehen, aber analytisch dennoch unterschieden werden müssen. Zunächst deutet die Stelle offensichtlich auf eine klare Distanz gegenüber einfachen marxistischen Kausalitätsmodellen. Was sich im Verweis auf die Sinnpluralität der Thorastellen ankündigt, besteht allerdings weniger in der Absage an eine materialistische Schreibhaltung als vielmehr darin, die materialistische Theorie in ein polares Verhältnis zur Theologie zu setzen, um aus den sich daraus ergebenden Spannungen Kräfte freizusetzen, die es ermöglichen, Fluchtlinien aus dem nur scheinbaren Zwang zur Wahl falscher Alternativen zu schlagen. Dieser Impuls zur Herstellung produktiver Spannungsbeziehungen zwischen Politik und Theologie wird sehr deutlich an Benjamins Äußerungen zu den theoretischen Grundlagen der Einbahnstraße. Das Buch sei, so Benjamin in einem Brief an Scholem, „[…] ein Versuch […], die rein theoretische Sphäre zu verlassen. Dies ist auf menschliche Weise nur zwiefach möglich: in religiöser oder politischer Observanz. Einen Unterschied dieser beiden Observanzen in ihrer Quintessenz gestehe ich nicht zu. Ebensowenig jedoch eine Vermittlung. Ich spreche hier von einer Identität, die sich allein im paradoxen Umschlag des einen in das andere (in welcher Richtung immer) […] erweist […]. Die Aufgabe ist eben darum hier nicht ein für alle Mal, sondern jeden Augenblick sich zu entscheiden.“ (Br III, 158)34

Die Erklärung des „paradoxen Umschlag[s]“ ist selbst paradox, soll es sich doch hier um eine „Identität“ handeln, die sich gerade dadurch herstellt, dass 34

Später wird Benjamin gegenüber Scholem noch deutlicher wiederholen, dass für ihn die Spannung zwischen Politik und Religion „in ihrer Alternativen Form unlösbar ist.“ (Br III, 520). Scholem hatte ihn erneut aufgefordert, dass er sich „Klarheit verschaffen soll, sowohl wohin du gehörst als wo du stehst.“ (ebd., 524).

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Religion und Politik in zwei verschiedene „Richtung[en]“ streben. „Identität“ scheint hier durch Gegenläufigkeit gedacht. Das erinnert stark an Heraklits Bild der „gegenstrebige[n] Vereinigung“35, das ein ‚Ur-Bild‘ polarer Denkfiguren darstellt. Im Hauptteil B der Arbeit wird noch näher zu untersuchen sein, wie Benjamin im Theologisch-politischen Fragment ebenfalls das Bild von zwei Pfeilen nutzt, die sich qua Gegenstrebigkeit befördern sollen, um das Verhältnis von profaner Politik und Messianismus zu bestimmen. (vgl. Kap.  7) Die oben zitierte theoretische Auskunft ist also exemplarisch für Benjamins Reflexionen über seine spezifische dialektische Methodik, weil sie eine grundlegende Spannung offenbart. Auf der einen Seite scheint am Ende des Zitats eine dezisionistische Dringlichkeit vernehmbar, die an die politischen Polarisierungsrhetoriken der Zeit erinnert (vgl. dazu Kap. 2.3). Auf der anderen Seite unterläuft Benjamin allerdings jede existentialistische Notwendigkeit einer einmaligen Entscheidung zugunsten eines strategischen Kalküls: „nicht ein für alle Mal, sondern jeden Augenblick“. Die damit angezeigte Beweglichkeit vervielfältigt die ‚paradoxen Umschlagspunkte‘ und steht somit quer zu einer linearen dialektischen Vermittlungslogik.36 Das Paradoxe in dieser Vervielfältigung weist auf das Problematische der Vermittlung und erinnert an die eingangs zitierte Passage aus Benjamins Brief an Rychner, an der er in seine kurze Genealogie des eigenen Schreibens eine Parenthese einschiebt: Im Rückblick sei ihm, so schreibt Benjamin an Rychner, klar geworden, „daß von meinem besonderen sprachphilosophischen Standort aus es zur Betrachtungsweise des dialektischen Materialismus eine – wenn auch noch so gespannte und problematische – Vermittlung gibt“ (Br IV, 18). Hier steht weniger ein dezisionistisches Pathos im Zentrum als vielmehr das erkenntniskritische Interesse für die Konstruktion dialektischer Spannungsverhältnisse. In diesem Sinne wird Benjamin noch in seiner Diskussion mit Adorno gegen dessen Forderung zur dialektischen Vermittlung seiner ‚Passagen-Arbeit‘ auf das Bild vom Bogen insistieren, den er in seinen Schriften spannen müsse, um die Dialektik bezwingen zu können. (vgl. Br V, 145) Was Martin Seel als „alte[n] Vorsatz dialektischer Gelassenheit“ bezeichnet hat, beschreibt vor diesem Hintergrund sehr präzise Benjamins ‚Schreibsektor‘: „Dialektik […] als die Kunst des unterscheidenden Zusammendenkens

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Heraklit: Fragment 52. In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 27. Diese Beweglichkeit korrespondiert auf der Ebene von Benjamins Reflexionen über den eigenen Schreibort inmitten der Extreme mit dem Begriff der Haltung, dem ebenfalls eine solche Dynamik eignet (vgl. Kap. 10.3).

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zugehöriger Momente, die ineinander nicht aufgehen.“37 Präzisierend muss für diese ‚dialektische Gelassenheit‘ bei Benjamin noch hinzugefügt werden: Momente, die in Benjamins dialektischen Schreibverfahren nicht nur nicht im Rahmen einer geschichtsphilosophischen (zwangsläufigen) Dynamik vermittelt werden oder ineinander aufgehen, sondern ihren differenziellen Bezug zueinander und ihren Erkenntniswert gerade dadurch erhalten, dass er sie als Momente eines polaren Spannungsgefüges inszeniert.38 Diese ‚Gelassenheit‘ in Bezug auf die nicht in Einklang zu bringenden Pole, die zugleich das Erkenntnisinteresse bestimmen, beschreibt Benjamins Schreibverfahren besser als jeder Versuch, seine Methodik entlang einer strikten marxistischen Dialektik oder der hegelianische Dialektik zu bestimmen, die im ‚qualitativen Sprung‘ den Umschlagspunkt einer teleologischen Entwicklungslogik erkennt.39 In Benjamins Schreibweise werden funktional eingesetzte polare Denkfiguren nicht zu Agenten einer solchen vermittelnden dialektischen Bewegung. Gleichzeitig insistiert Benjamin im Zusammenhang mit der oben zitierten Aussage zu den theoretischen Grundlagen der Einbahnstraße auch darauf, die Paradoxien des ‚Umschlagens‘ nicht in einer eklektizistischen Methodik und Darstellungsweise zu einer unzutreffenden „materialistischen Metaphysik“ (Br III, 159) zu vermischen, um sie irgendwie ineinander übergehen zu lassen. Diese Kritik sowohl an Formen teleologisch motivierter Dialektik als auch an unzulänglichen Methodenvermengungen lässt sich auch bei Friedlaender beobachten, wobei Friedlaender seine Absage an eine hegelianische Dialektik um ein Vielfaches schärfer formuliert: Für Friedlaender ist sie schlichtweg „Scheinlogik, Sophistik“ (F/M 3, 834), die konkrete Problem- und Konfliktkonstellationen

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Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a. M. 1997, S. 39. In seiner fünfbändigen Problemgeschichte der Dialektik hat Hans Heinz Holz betont, dass die Dialektik „von ihren Anfängen her zwischen zwei Polen ausgespannt“ ist: Die eine Rezeptionslinie, die aus den ewigen Ideen die phänomenale Mannigfaltigkeit deduziert, führe von Parmenides über Platon zu Hegel. Die andere Linie führe hingegen von Heraklit und Aristoteles über Leibniz zu Marx und steht diesem Deduktionsdenken entgegen: Hier „wird die phänomenale Vielheit als universaler Weltgehalt hingenommen und ihre Einheit als das Verhältnis der Gegensätze, als Logos des Widerspruchs konstruiert.“ (Hans Heinz Holz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Sein und Werden. Problemgeschichte der Dialektik in der Antike. Darmstadt 2011, S. 225). Wollte man Benjamins Position hier überhaupt eintragen, ist die zweite Rezeptionslinie aufschlussreicher für seine diakeltische Methode. Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Wissenschaft der Logik. Bd.1. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 438).

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der Gegenwart allzu schnell in einer teleologischen Zwecklogik auflöst.40 In diesem Zusammenhang insistiert Friedlaender zudem immer wieder darauf, dass sich das ‚Schöpferische‘ der Indifferenz jenseits von genieästhetischen Überlegungen „nüchtern in der mühselig zu erforschenden Sprache der Bedingungen zu äußern“ (F/M 10, 115) habe, die in den polaren Spannungsbeziehungen besteht. Die ‚dialektische Gelassenheit‘ bzw. das ‚Nüchterne‘ im Friedlaender-Zitat sind anschlussfähig vor allem an die Stellung, die Hölderlin in den Schriften beider einnimmt. Denn sowohl Benjamin als auch Friedlaender rekurrieren jeweils an mehreren Stellen auf Hölderlins Überlegungen zu einer „abendländische[n] Junonische[n] Nüchternheit“41, mit der Hölderlin auf die Polarität zwischen einem griechischen „heiligen Pathos“42 und der, wie Hegel es genannt hat, modernen „Prosa der Verhältnisse“43, die in Konflikt mit der „Poesie des Herzens“ steht, reagiert. An dieser Idee der Nüchternheit entspinnt sich bei Hölderlin die Möglichkeit, jenseits mimetischer Wiederholung antiker Kunstregeln oder Konzepte wie des enthousiasmós einen „freie[n] Gebrauch des Eigenen“44 und damit eine spezifische moderne poetische Erkenntnisform zu entwickeln.45 Benjamin wird Hölderlins „abendländische Junonische Nüchternheit“ vor allem dort aufrufen, wo es ihm um die Technik der „Zäsur“ (WB I.1, 182 und WB II.1, 125f.) geht, mit der Hölderlin „jenseits aller Erhebung im Erhabenen“ (WB II.1, 125) und jenseits mythischer Zwangszusammenhänge sowohl jeder Form der unkritischen Vermischung etwa von Leben und Dichtung (bei Benjamin dann: Politik und Ästhetik) entgegentritt 40

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Dort, wo Friedlaender dann dennoch bisweilen das Wort von einer ‚polaren Dialektik‘ (vgl. F/M 10, 321) führt, fällt er nicht hinter seine eigene Kritik zurück. Vielmehr ist diese Redeweise sehr genau mit der oben für Benjamin in Anschlag gebrachten ‚dialektischen Gelassenheit‘ vergleichbar, die zuallererst die Spannungen, Extreme selbst deutlich hervorzuarbeiten versucht. Friedrich Hölderlin: Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, 4.12.1801. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hg. v. Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt. Frankfurt a. M. 1992, S. 459-462, hier: S. 460. Ebd. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 3 (1817–1829). In: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 393. Friedrich Hölderlin, Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, 4.12.1801, S. 460. Den Grundgedanken der Polarität als solchen leitet Hölderlin allerdings wiederum an berühmter Stelle im Hyperion von Heraklit ab: „Das große Wort, das εν διαϕηρον εαυτο (das Eine in sich selber unterschiedene) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie.“ (Friedrich Hölderlin: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. In: ders.: Sämtliche Werke (Kleine Stuttgarter Ausgabe), Bd. 3, hg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart 1958, S. 85).

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als auch die Möglichkeit eines differenziellen Bezugs zwischen beiden Seiten ermöglicht. Friedlaender wiederum, der in einem späten Brief kundgab: „Hölderlin interessiert mich immer“ (F/M 30, 280), beruft sich auf Hölderlins Nüchternheit – abwechselnd mit Nietzsches „Pathos der Distanz“ (F/M 10, 284) –, um an ihr in ähnlicher Weise wie Hölderlin eine Epochenschwelle zu markieren, die bei ihm den nüchternen Umgang mit polaren Denkfiguren selbst betrifft. Denn, so führt Friedlaender aus, „[j]ede romantische Befassung mit Polarität führt zum Irrsinn. Jede menschlich nüchterne zur Technik, zum Beispiel zur modernen Elektrotechnik.“ (ebd., 437) Der zeitgemäße Einsatz polarer Denkfiguren habe sich also an den je neuen (natur-)wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen zu schärfen.46 Wir werden später noch beobachten können, wie Friedlaender diese nüchterne Synchronisierung der Polarität mit gegenwärtigen Entdeckungen ganz konkret am ersten thermodynamischen Satz in seinem populärwissenschaftlichen Buch über das Leben und Wirken Julius Robert Mayers erprobt. (vgl. Kap. 3.1) Gegenüber dem, im Hauptteil A der Arbeit noch darzustellenden, Pathos von Gefahr und Gefährlichkeit, das sich vor allem in den 1920er und 30er Jahren an die zirkulierenden Redeweisen über Polarisierungen und Extremisierungen anschließt (vgl. Kap.  2.3), insistieren Benjamin und Friedlaender in ihren Rekursen auf Hölderlins Nüchternheit im Rahmen ihrer Inszenierungen unterschiedlicher polarer Spannungsfelder zudem auf ein Darstellungsprinzip, das sich in seinem kalkulierten Einsatz selbst sowohl hinsichtlich des zeitdiagnostischen Index als auch der geschichtsphilosophischen Signatur zu erkennen gibt.47 46

47

Darauf wird Friedlaender auch später immer wieder zurückkommen. In einem Brief von 1935 wiederholt er nochmals: „Seit alters haftet an der Polarität eine solche Menge Romantik, daß es schwer ist hier nüchtern genug zu bleiben; und daß die errungene Nüchternheit zu trocken anmutet. Aber daß Polarität eigentlich und sachlich, nüchtern traktiert, eine Disziplin abgeben kann, zeigt ja die Elektrotechnik u. dgl.“ (F/M 27, 36) Und dass Friedlaender in Hölderlins Überlegungen zur Nüchternheit vor allem das besondere Bewusstsein für die historische Eigenständigkeit der Gegenwart wahrgenommen hat, wird aus einem anderen Brief deutlich, in dem er auf ‚Hyperions Schicksalslied‘ aus dem zweiten Band von Hyperion oder Der Eremit in Griechenland verweist: „[…] Hölderlin träumt hier mythologisch die nüchterne Richtigkeit, daß das Ich der zentrale Funktionär der Zeit ist, ihr neutraler Herr, nicht, wie es den frappantesten Anschein hat, ihr unterliegend.“ (F/M 28, 413). Auf die Transparenz der Verfahrensweise scheint es Benjamin in seinen mehrfachen Anmerkungen zu Hölderlins Rede von der Nüchternheit besonders anzukommen. In seiner Dissertation etwa zitiert er eine längere Passage aus Hölderlin Ödipus-Anmerkungen, in denen es heißt: „Auch andern Kunstwerken fehlt, mit den griechischen verglichen, die Zuverlässigkeit; wenigstens sind sie bis jetzt mehr nach Eindrücken beurteilt worden, die sie machen, als nach ihrem gesetzlichen Kalkül und sonstiger Verfahrungsart, wodurch

26

Kapitel 1

Neben der grundsätzlichen Diskussion um eine spannungsgeladene Dialektik reagiert Benjamin mit seinem oben zitierten Verweis auf die „talmudische[…] Lehre von den neunundvierzig Sinnstufen jeder Thorastelle“ weiterhin noch ganz konkret auf Rychner. Es geht dabei um die Art und Weise, wie Rychner in seinem Text die geistesgeschichtliche sowie die literarische Tradition für seine Form der Literaturkritik in Anschlag bringt. Als Gegenmodell zu einem platten Materialismus imaginiert Rychners Text eine „deutsche[…] Substanz“48, mit der im Geistigen der Dichtung der Ort einer „letzten Weltsublimierung“49 und damit ein von allen irdischen Verwerfungen entbundenes Ideenreich behauptet wird. Hier ruft Rychner neben Jean Paul und Stifter auch Martin Heidegger als Zeugen auf. Der Dichter wird hier als Repräsentant „seelisch-geistige[r] Wesenheiten“50 vorgestellt. Deutlicher kann der Unterschied kaum sein sowohl zu der konkreten Reflexion auf die ökonomischen, sozialen und auch ästhetischen Produktionsbedingungen, die Benjamin in der Fokussierung auf die ‚schriftstellerische Haltung‘ zuspitzt, als auch zu seiner polar-differenziellen Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Theologie. Diese Rekurse auf unterschiedliche literarische Traditionen, mit denen Rychner seine tendenziell idealistische Argumentation gegen materialistische Literatur(-theorie) unterlegt, sind ebenfalls in Bezug zu seiner an Benjamin gerichteten ‚cur-hic‘-Frage zu lesen. Die Debatte über die Bedeutung materialistischer Theorieprogramme verlagert sich damit auf die Frage nach der Bedeutung der literarischen Tradition für eine kritische Gegenwartserkenntnis. Es ist nicht unerheblich, dass sich Benjamins kritische Distanz zu Rychner am entschiedensten entlang dieser Frage der literarischen Tradition zum Ausdruck bringt. Das nachfolgende Kapitel wird zeigen, dass Benjamins Versuch einer Antwort auf Rychners ‚cur-hic-Frage‘ weniger in der Angabe einer stringenten materialistischen Literaturtheorie erfolgt, sondern vielmehr die Frage der Aktualisierung von Tradition zum Gradmesser einer aktuellen literatur- und gegenwartskritischen Haltung macht.

48 49 50

das Schöne hervorgebracht wird.“ (zit. n. WB I.1, 104). Hölderlins Forderung, das „Handwerksmäßige[…]“ (ebd., 105), die „Art des Machens“ als „Zeugnis […] bewußte[r] Tätigkeit“ (ebd.) in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, scheinen Benjamin und Friedlaender in vergleichbarer Weise auch auf ihren eigenen zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren zu übertragen. (vgl. hierzu Kap. 9.4). Max Rychner, Anmerkungen, S. 87. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87.

Benjamin und die „Haltung des Materialisten“

1.3

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Geschichte und Aktualität

Wie bereits angemerkt, protestiert Rychner nachdrücklich gegen eine simplifizierende Basis-Überbau-Kausalität, die jeden literarischen Ausdruck auf ökonomische Ursachen zurückführen will und so die „komplexen Zusammenhänge[…]“51 ausblendet. Daher weist er auch jenen „apodiktisch vorgetragene[n] reformatorische[n] Grundgedanke[n]“52, wonach Literatur nun endlich diese ökonomischen Zustände darzustellen habe, als anachronistische Forderung zurück. Denn bereits bei Balzac, Flaubert, Maupassant oder Zola seien höchste literarische Gestaltung und Gesellschaftsbeschreibung und -analyse gegenseitig durchdrungen. In der unumstößlichen Zuversicht und dem Glauben an die ungebrochene Gültigkeit dieses Kanons polemisiert Rychner gegen Brentano und mahnt in einem durchaus unverhüllten elitären Gestus: „Ein bißchen Lektüre kann man bei aller humanen Gesinnung denen nicht ersparen, die sich als Kritiker etablieren.“53 Als Pendant zu dieser kritischen französischen Tradition führt Rychner dann für die deutsche Literatur zunächst Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf an. Dem Vergleich mit den französischen Schriftstellern halten bei ihm letztlich aber nur Gottfried Keller und Theodor Fontane stand, die er emphatisch als Zeugen gegen Brentano und die marxistisch orientierte Literaturkritik aufruft. Im Anschluss wird dann auch Walter Benjamin vom Schweizer Literaturkritiker in, wie Benjamin selbst feststellt, „schöner und ehrender Weise“ (Br IV, 19) genannt, indem auf ihn als „Kritiker hohen geistigen Ranges“54 Bezug genommen wird. Benjamin habe, so Rychner, in seinem 1927 erschienenen Essay über Gottfried Keller von dessen „unverminderte[r] Bedeutung […] Zeugnis abgelegt.“55 Was hier auf den ersten Blick lediglich als Ausdruck intellektueller Wertschätzung erscheinen mag, bekommt durch das ‚cur hic‘ der Zusendung erst besondere Brisanz. Denn durch den Argumentationsverlauf in Rychners Besprechung und die strategische Position, die die Benjamin-Referenz darin erhält, wird diesem bereits eine bestimmte Position zugeschrieben. Der Verweis auf Benjamin dient der Bekräftigung, dass auch gegenwärtig Literaturkritik möglich ist, die sich auf die von Rychner stark gemachte und letztlich ungebrochene Tradition beruft. Damit legt Benjamin in Rychners 51 52 53 54 55

Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86. Ebd.

28

Kapitel 1

Argumentation nicht nur Zeugnis für die Aktualität Gottfried Kellers ab; er wird darüber hinaus selbst zum Zeugen gegen eine marxistische Literaturkritik gemacht, die diese Tradition entweder vergessen hat, ignoriert oder gar nicht kennt. Hat Rychner damit seine ‚Cur-hic-Frage‘ also selbst bereits beantwortet? Zunächst bekommt die Frage damit noch eine weitere Dimension. Denn in ihr ist dann auch die Forderung an Benjamin angelegt, die eigene Intention als Kritiker abzugleichen mit der Rolle, die Rychner ihm in der Rezension bereits zugeteilt hat. Wenngleich Benjamin am Ende seiner Antwort osten­ tativ nüchtern darauf eingeht, ließe sich gerade in dieser Beiläufigkeit auch ein kritischer Seitenhieb gegenüber Rychner entdecken: „Vielleicht darf ich auch annehmen, daß Sie mir die Frage stellten, an die das hier Gesagte locker anschließt, es nicht geschah, ohne daß Sie im Stillen zumindest einige Lösungs­ versuche bei sich erwogen hatten.“ (Br IV, 19) Obwohl Benjamin sonst eher zögerlich über seine gleichermaßen ästhetischen wie politischen „Überzeugung[en]“ (ebd., 408) Auskunft gibt, wird er in Bezug auf die strategische Funktion, die sein Keller-Essay bei Rychner einnimmt, sehr deutlich: „Sie nehmen an einer Stelle Ihrer Arbeit auf meinen Keller-Aufsatz in schöner und ehrender Weise Bezug. Aber sie werden mir zugeben: auch in diesem Aufsatz war es mein exaktes Bemühen, die Einsicht in Keller an den wahren Stand unseres gegenwärtigen Daseins zu legitimieren.“ (ebd., 19)

Hierin lässt sich offensichtlich ein Gegenmodell zu Rychners BenjaminReferenz erkennen. Im Gegensatz zu Rychner begründen sich die Einsichten in das Werk Kellers nicht aus dessen ‚unverminderter Bedeutung‘, wie Rychner es nannte, sondern in einer aktualisierenden Lektüre. Wo Rychners Rekurs auf die literarische Tradition eine kontinuierende Wirksamkeit behauptet, der man unmittelbar durch Lektüre gewahr werden könne, steht Benjamins Lektüre indes im Zeichen einer kritischen Erfahrung der Gegenwart im Medium der Literatur, die immerzu die „Spannung […] im historischen Bereiche […] von Gegenwärtigem und Gewesenem“ (WB III, 288) als Erkenntnisbedingung voraussetzt. Der Bezug zwischen Keller und dem „wahren Stand unseres gegenwärtigen Daseins“ besteht demnach nicht in einem ungebrochenen Traditionszusammenhang. Eine potentielle Aktualisierung verläuft bei Benjamin vielmehr über einen konstitutiven Bruch, den er zwischen Vergangenheit und Gegenwart einschaltet. Unter dem Titel Problem der Tradition I notiert Benjamin im Zusammenhang mit seinen Aufzeichnungen zu den geschichtsphilosophischen Thesen: „[…] die Vorstellung des Diskontinuums [ist] die Grundlage echter Tradition“ (WB I.3, 1236). Oder im ‚Passagen-Werk‘:

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„Damit ein Stück Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen.“ (WB V.1, 587) Diese Überlegungen zu einer historischen Perspektive, die in seinen späteren Arbeiten in der Theorie vom dialektischen Bild zusammengeführt werden, macht Benjamin immer wieder auch für die Verhältnisbestimmung von Literatur und Politik geltend. Dieser spezifische Zugang zur Tradition kündigt sich bei Benjamin schon sehr früh an, beispielsweise 1923 in einem Brief an Florens Christian Rang: „Mich beschäftigt nämlich der Gedanke, wie Kunstwerke sich zum geschichtlichen Leben verhalten.“ (Br II, 392) Für Benjamins Lektüre- und Schreibverfahren bedeutet dies, dass Literatur zum kritischen Medium der Erkenntnis erst dann werden kann, wenn die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart selbst zur Darstellung gebracht wird. Für die kritische Auseinandersetzung um die ‚Cur-hic-Frage‘ ist es entscheidend, dass Benjamin sein, an der Aktualität ausgerichtetes, historisches Erkenntnisinteresse auch ausführlich in jenem Keller-Essay vorträgt, den Rychner für eine Argumentation in Anschlag bringt. Ein spezifisch historisches Interesse bestimmt aber auch schon seine frühesten Keller-Lektüren. Bereits in den frühen Jahren rechnet Benjamin Kellers Werke „zu den zweideutigsten und gefährlichsten Produkten der Literatur“ (Br I, 488). Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten in Benjamins subtilen essayistischen Versuch eingehen zu können, Keller als modernen Autor gerade in jenem Moment zu profilieren, „als Kellers Werk in der Heimatliteratur aufzugehen drohte“56, sei hier zumindest darauf verwiesen, dass es ihm um einen materialistischen Ansatz geht, der dem Bild vom Heimatdichter „Hinweise auf einen anderen übersehenen Keller“ (Br III, 285) entgegenhält.57 Der spätere Essay wird dann von Benjamin explizit in einen Zusammenhang mit dem „Aufriß eines Geländes“ gebracht, das ihn „Jahre hindurch immer wieder in sich hineinzog“ (Br III, 308). 56 57

Ursula Amrein: Walter Benjamins geschichtsphilosophische Lektüre. In: dies. (Hg.): Gottfried Keller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 22018, S. 404-407, hier: S. 404. Benjamin zielt damit insbesondere auf den Gottfried Keller des Martin Salander, den er als „einen anderen Pol“ (Br III, 285) gegenüber dem Autor des Grünen Heinrichs bezeichnet. Benjamins Arbeiten zu Keller werden nachfolgend nicht mehr Gegenstand der Arbeit sein. Allerdings sei hier zumindest angemerkt, dass ein Kernelement der KellerEssays später wiederauftaucht: Benjamin hebt in seinem Essay vor allem die besondere Bedeutung des Humors bei Keller hervor und gibt dabei eine Definition des Humors, die er bereits in seinen früheren Arbeiten und Aufzeichnungen entwickelt hat: Der Humor sei „eine Rechtsordnung. Er ist die Welt der urteilslosen Vollstreckung, in der Verdikt und Gnade im Gelächter laut wird.“ (WB II.1, 287; vgl. auch WB VI, 130f.) Dieser Definition im Zusammenhang mit ihren politischen Implikationen wird die Arbeit im Kap. 9.4 anhand von Benjamins Texten zu Paul Scheerbart nachgehen.

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Kapitel 1

Das betrifft unmittelbar den Versuch, einen Zugang zur Literatur von einer ‚materialistischen Haltung‘ zu entwickeln, der weder einer vulgären BasisÜberbau-Kausalität verpflichtet ist noch sich in ein teleologisches Entwicklungsmodell einschreibt, das die Vergangenheit bloß als bereits in einem dialektischen Prozess Aufgehobenes und damit im kulturellen Archiv Abgelagertes sieht. Diese großen literaturtheoretischen Debatten werden bei Benjamin nicht in einem abstrakten Theorieraum ausgetragen, sondern entzünden sich an ganz konkreten Fragestellungen. Denn die Suche nach einer eigenen Stellung zum Werke Kellers – und damit in exemplarischer Weise zur literarischen Tradition überhaupt – entzündet sich an einer konkreten editionsphilologischen Fragestellung: Der Anlass des ursprünglich als kleine Rezension geplanten Essays ist das Erscheinen der von Benjamin als „bemerkenswert“ (WB II.1, 294) bezeichneten kritischen Keller-Ausgabe von Jonas Fränkel im Eugen Rentsch Verlag. Die Ausgabe bringe, so Benjamin, erstmals „die Abweichungen der früheren Fassungen“ (ebd.) und ermögliche so ein kritisches historisches „Studium“, das „an sich ein Vergnügen ist“ (ebd.). Das in dieser Ausgabe realisierte, „philologisch betrachtet, kühne Verfahren im wissenschaftlichen Gebrauch“ (ebd.) bringe einen kritischen Geist zum Ausdruck, der, wie Benjamin bezeichnenderweise schon 1929 in einem Brief an Rychner formuliert, „so trockene[n] Nebelwesen wie diesen Ermatinger“ (Br III, 493) abgeht. Die „Ermantingersche[…] Ausgabe von Kellers Leben und Briefen“ (ebd.) hatte Benjamin nämlich vorher konsultiert. An dieser Ausgabe bemängelt Benjamin allen voran, dass sie weit eher auf eine an der „Aura“ (ebd.) des Werkes ausgerichtete literaturhistorische Inventarisierung statt auf kritische Aktualisierung zielt. Das scheint Benjamin in seinem Antwortbrief zur ‚Cur-hic-Frage‘ durchaus auch gegen Rychners Traditionsbezug einzuwenden. Dieser editionsphilologische Debattenkontext berührt ganz grundsätzliche literaturwissenschaftliche Methodenfragen. Das zeigt sich allein schon daran, dass Benjamin die bereits weiter oben zitierte Kritik an der „Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß“ (WB III, 286) in seinem Text Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft explizit gegen das von Emil Ermatinger herausgegebene „neuste repräsentative Sammelbuch“ (ebd.) Philosophie der Literaturwissenschaft (1930) richtet. In diesem Sammelband, so Benjamins kritischer Einwand, versuchen zwar „die deutschen Literarhistoriker der Gegenwart sich Rechenschaft von ihrer Arbeit zu geben“ (ebd.). Jedoch verfehlen sie gerade dadurch einen zeitgemäßen Literaturbegriff, dass sie in ihrem „geile[n] Drang aufs große Ganze“ (ebd.) und in der

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Tradition eines „synkretistischen Ritus“ (ebd.) weit eher überzeitliche Werte verkünden als die eigene Methodik am, wie Benjamin es gegenüber Rychner formulierte, „wahren Stand unseres gegenwärtigen Daseins zu legitimieren“ (Br IV, 19) versuchen. In Abgrenzung zur Vorstellung von Keller als Heimatdichter betont Benjamin dann in seinem großen Keller-Essay explizit das Politische, das „ganz leise bei Keller“ (WB II.1, 284) zu vernehmen sei. Benjamin zitiert dafür eine Stelle aus Kellers umfangreichen Aufsatz über Jeremias Gotthelf. (Vgl. ebd., 286) Es lohnt sich, etwas genauer den Kontext der zitierten Stelle in Kellers Arbeit über Gotthelf in den Blick zu nehmen, ergeben sich doch hier einige auffällige Schnittmengen zwischen Benjamin und Keller hinsichtlich der Reflexionen auf das Verhältnis von Politik und Literatur, die wiederum Benjamins kritische Distanz zu Rychner begründen. So betont Keller im Kontext der von Benjamin zitierten Stelle einerseits, dass „heute […] alles Politik“58 sei bzw. mit ihr zusammenhänge. Andererseits könne die Aufgabe der Literatur aber nicht darin bestehen, so Keller weiter, mit „kecken Gepolter“59, „nutzlose[m] Geträtsche“60 und „unpoetische[n] Manifeste[n]“61 „ästhetische Tendenznovelle[n]“62 zu produ­ zieren, die zwar die Gesinnung des Autors offenbaren, aber nicht zum Kunstwerk taugen. Das wirft Keller zumindest teilweise Gotthelf dort vor, wo dieser gegen den bürgerlichen Liberalismus dogmatisch polemisiere. Keller gesteht zwar ein, dass Gotthelfs „Parteiseitenhiebe gegen manche Narrheiten und Lumpereien des Liberalismus“ mitunter nicht ungerechtfertigt sind, allerdings dort zum Problem werden, wo Gotthelf „das Menschenschicksal ausschließlich abhängig macht vom Bekenntnis dieses oder jenes Parteistandpunkts“63. Kellers kritische Durchsicht der Gotthelf’schen Werke läuft genau auf die Kritik eines solche ‚Standpunktdenkens‘ zu, wobei er zugleich anmerkt, dass Gotthelf seine Polemik gegen die bürgerlich-demokratischen Zeittendenzen in anachronistischen Registern vorträgt. Wo Gotthelf „so sehr an der Vergangenheit hängt“, dass ihm literarische Beschreibungen gelingen, in denen „[das] Leben auf den alten großen bernerischen Bauerngehöften“ „mit schöner Wehmut“ dargestellt werden und dabei „etwas ungemein Ehrwürdiges“64 58 59 60 61 62 63 64

Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf [Nr.  15-18]. In: ders.: Sämtliche Werke (HistorischKritische Ausgabe). Bd.  15: Aufsätze, hg. v. Thomas Binder u.a. Basel/Frankfurt a.  M./ Zürich 2012, S. 67-121, hier: S. 100. Ebd., S. 83. Ebd., S. 99. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 102. (Herv. v. K.D). Ebd., S. 88.

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Kapitel 1

enthalten, kehre sich diese Perspektive im Politischen zu einem „schlechten Stil“65, der diese Zeit verklärt. Die Dichotomie von ‚schlechtem Zeitgeist‘ und einer am Naturzustand orientierten ‚goldenen Zeit‘ lässt Keller nicht gelten: „Jeremias Gotthelfs ‚Zeitgeist und Bernerzeit‘ enthält eine polemisierende Schilderung der Berner Zustände vor jenem Umschwunge und den Anfang dieses Umschwungs, indem er das erwachte politische Leben mit den schwärzesten Farben ausmalt und es den Zeitgeist nennt; während die Rückkehr zum Besseren, zu patriarchalischen religiösen Zuständen, der Bernergeist sein soll.“66

Da Benjamin gerade explizit einen Teil aus Kellers Aufsatz zitiert, der in direktem Zusammenhang mit dieser Kritik an Gotthelf steht, scheint Benjamin damit insbesondere auf Kellers nüchterne, aber dennoch entschiedene Abkehr von anachronistischen „Hiebe[n] auf die Gegenwart“67 aufmerksam machen zu wollen. Gleichermaßen lakonisch und klar resümiert Keller dann auch die unumgängliche historische Verlaufsform: „Aber alle Formen wechseln auf Erden, und ebendieser Wechsel ist es, welcher das Vergangene mit einem verklärenden Lichte bestrahlt. Es würde vor unseren Augen vergehen und verdunkeln, wenn unsere Sehnsucht erfüllt würde und wir wirklich zurückkehren könnten. Hin ist hin!“68

Die Rückschau auf Vergangenes legitimiert sich bei Keller nur so lange wie sie nicht gegen die Gegenwart in einer simplen Verfallsgeschichte ausgespielt wird. Hierin sieht Benjamin Kellers Modernität begründet. Was Benjamin an Kellers nüchtern abwägender Kritik besonders zu interessieren vermochte, scheint erstens mit einem ästhetischen und zweitens mit einem methodischen Argument bei Keller zusammenzuhängen. Erstens betont Keller, dass die Aufgabe der Literatur in Zeiten der von ihm attestierten Allgegenwart von Politik nur in einer literarischen Verarbeitung der Zeitumstände liegen kann und nicht in Manifesten, Gesinnungserklärungen und dogmatischen Standpunkten. Keller schreibt dazu: „[…] als Bürger und Parteimann hat er [Gotthelf, K.D.] diese Pflicht [Kunstwerke zu schaffen, K.D.], weil ein wohlproportioniertes und schön gebautes Werk seinen Zweck besser erreicht als das entgegengesetzte, und gerade beim Volke allerst.“69 Die dem schönen Werk entgegengesetzten Werke sind für Keller jene, die 65 66 67 68 69

Ebd., S. 85. Ebd., S. 105. Ebd., S. 85. Ebd., S. 88. Ebd., S. 100.

Benjamin und die „Haltung des Materialisten“

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bloß die politische Gesinnung und den einzelnen Standpunkt des Autors tendenziös zum Ausdruck bringen. In Kellers Prosa sieht Benjamin hingegen eine literarische Durcharbeitung, die noch im kleinsten Weltausschnitt die politischen Zusammenhänge exemplarisch mitkommuniziert und verarbeitet.70 Zweitens konnte Benjamin eine analytische Dimension bei Keller entdecken, die möglicherweise auch ein Orientierungspunkt für seine eigene historische Perspektive auf den Schriftsteller inmitten zeithistorischer Spannungsverhältnisse geboten haben könnte. Denn Keller kommt am Ende seiner Rezension nochmals auf die Einseitigkeit in Gotthelfs Liberalismuskritik zurück und fasst für dessen politisches Schreiben zusammen, dass „also in allem diesem der beste Beweis liegt, daß Gotthelf als Seher und Dichter nicht über den Gegensätzen stand, sondern tief in ihnen und unter ihnen steckte.“71 Die Reflexion auf dieses „tief in ihnen und unter ihnen“ wird Benjamin selbst, wie bereits erwähnt, zum Gradmesser schriftstellerischer Haltungen machen.72 Beide Aspekte, sowohl die Darstellung politischer Zusammenhänge in und durch die literarischen Darstellungen selbst als auch die Perspektive auf den Schriftsteller inmitten der gesellschaftlichen und politischen Spannungen, kulminieren für Benjamin in Kellers eigener Haltung zu seiner Zeit. Denn im „Materialismus und […] Atheismus Kellers“ (WB II.1, 284) erkennt Benjamin eine moderne Schreibhaltung, die nicht nur danach strebt, sich permanent mit der eigenen Gegenwart zu synchronisieren, sondern diese Zeit auch explizit auf ihren Begriff zu bringen versucht. Mit dieser Perspektive wird 70

71 72

Exemplarisch drückt sich das für Benjamin in der Analogie aus, wonach „jede kleinste Zelle Welt soviel wie der Rest aller Wirklichkeit [wiegt].“ (WB II.1, 288) Ein ähnliches Argument führt Benjamin auch für den politisch-historischen Gehalt der Kalendergeschichten Johann Peter Hebels an. Dort ist es die Haltung des Chronisten der Kleinstadt, die diesen analogischen Zusammenhang herstellt: „Denn der echte Chronist schreibt mit seiner Chronik zugleich dem Weltlauf sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf spiegelt.“ (WB II.2, 639f.) Vgl. hierzu auch Kevin Drews: Zwischen Beharrung und Beschleunigung. Johann Peter Hebel als Chronist der Kleinstadt. In: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.): Kleinstadtliteratur. Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne. Bielefeld 2020, S. 141-166, hier: S. 145. Gottfried Keller, Jeremias Gotthelf [Nr. 15-18], S. 116f. Damit ist hier bereits angedeutet, dass in Benjamins Reflexionen auf den Begriff der Haltung vielfältige Ursprünge und Rezeptionsfäden eingelagert sind. Am deutlichsten rekurriert Benjamin in seinen Versuchen über Brecht auf diesen Begriff, weil dieser selbst den Begriff der Haltung für seine theatertheoretischen und -praktischen Überlegungen einsetzt. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Haltung in den Brecht-Essays stellt sich allerdings bei genauerer Betrachtung nicht als genuiner Ursprung, sondern als eine spezifische Ausprägung des Interesses am Begriff der Haltung dar. (vgl. hierzu das Kap. 10.3).

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Kapitel 1

bei Benjamin aus dem Heimatdichter ein moderner Schriftsteller, dessen Werk als ‚kritisches Erkenntnismedium‘, ähnlich wie Benjamin es für Baudelaire anführt, aufschlussreich für das 19. Jahrhundert ist. Mehr noch: Keller dient nicht nur einer anderen Perspektive auf dieses Jahrhundert, sondern in seinem Werk – getragen vor allem durch seinen Materialismus – scheint für Benjamin diese veränderte, nicht-idealistische Perspektive selbst schon angelegt. Zu ihrer Erkenntnis benötige es aber, so Benjamin weiter, einen anderen literaturwissenschaftlichen Zugang als denjenigen einer bürgerlichen Literaturgeschichte mit ihren idealistischen Kategorien: „Erstmalig gültige Einsicht in Kellers Werk ist an eine allgemach fällige Umwertung des neunzehnten Jahrhunderts gebunden, die allein mit den Verlegenheiten der Literarhistoriker aufzuräumen imstande sein wird. Wem müßte nicht heute schon der grundverschiedene Wertakzent auffallen, den dies Jahrhundert in der bürgerlichen und in der materialistischen Literatur hat? Und wem nicht sicher sein, daß Kellers Werk einer Betrachtung aufbehalten bleibt, die den historischen Grund, auf dem es erbaut ist, für ihr Erbe erklären kann?“ (WB II.1, 284)73

Diese „Umwertung des neuzehnten Jahrhunderts“ wird Benjamin selbst in seinen Arbeiten über Baudelaire und vor allem im ‚Passagen-Werk‘ vorzunehmen versuchen. Seine Konfrontation von „bürgerliche[r] und[…] materialistischer Literatur“ zeigt aber bereits in der zitierten Passage an, dass diese Umwertung unmittelbar die Gegenwart selbst betrifft. Denn wo das „Erbe“ von der ‚bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung‘ nicht angetreten werden könne, weil ihr die Einsicht in den Materialismus und Atheismus Kellers fehle, erkennt Benjamin in einem materialistischen Ansatz die Möglichkeit einer notwendigen Perspektivverschiebung sowohl in politischer als auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Was Benjamin mit dieser Perspektivverschiebung meint, wird an einer Stelle seiner Kritik Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft dort deutlich, wo er sich überraschenderweise auf Franz Mehring beruft. Was Benjamin dort für Mehring, trotz seiner sonstigen Reserviertheit diesem gegenüber, in Anschlag bringt, gilt auch für seine eigene Perspektive: „Seine Tendenz geht auf Marx, seine Schulung auf Kant zurück.“ (WB III, 287) Dadurch, so Benjamin, werde Mehrings Anstrengung deutlich, das historische Erbe für die Gegenwart zu sichern: „So ist das Werk dieses Mannes, der ehern an der Überzeugung festhielt, es müßten ‚die edelsten Güter 73

Dass die hier schon anklingende Kritik am Historismus später von Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen auch gegen Keller selbst gewendet wird, gehört nicht mehr in den Zusammenhang dieser hinführenden Überlegungen und kann daher an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. (vgl. WB I.2, 695)

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der Nation‘ unter allen Umständen ihre Geltung behalten, viel eher ein im besten Sinne konservierendes als umstürzendes.“ (ebd.) Wo Mehring allerdings eine klare Methodik verfehle, richtet Benjamin die ‚Haltung des Materialisten‘ auf eine erkenntniskritische Methodik aus, deren Grundprämisse darin liegt, dass Konservierung und Bewahrung notwendigerweise eine kritische Theorie der Aktualisierung der Tradition verlangen. Konservierend kann der Blick auf die Tradition, und damit auf das oben angeführte „Erbe“ nur dann sein, wenn keine Kontinuität zur eigenen Gegenwart behauptet wird. Vielmehr müsse der Aktualitätswert dieser Tradition an der Gegenwart gemessen werden.74 Vor diesem Hintergrund kann Benjamin dann auch nicht einverstanden sein mit der Funktion, die sein Keller-Essay in Rychners Rezension erhält. Wo Keller und auch Fontane bei Rychner zu Vorbildern avancieren, an denen sich auch gegenwärtiges Schreiben messen lassen müsse, ist Benjamins Lektüreverfahren auf Gegenwartserkenntnis abgestellt, die die Tradition auch an der Fähigkeit bemisst, zum kritischen Medium dieser Erkenntnis zu werden. Deshalb meldet Benjamin in seinem Antwortbrief auch entschiedenen Einspruch gegen Rychner an. Rychners Vorstellung von einem tendenziell ‚ungebrochenen bzw. allzeit verfügbaren Traditionszusammenhang‘ blendet für Benjamin gerade die konstitutive Involviertheit des gegenwärtigen Erkenntnisinteresses des Lesenden und Forschenden an der Tradition aus.75 Mit diesem perspektivischen Erkenntnisinteresse beansprucht Benjamin die zeitgemäßere geschichtsphilosophische Schreibarbeit in und an der Gegenwart, die „nicht sowohl an die Terminologie als an ihren Standort gebunden ist“ (Br  V, 98). Und die Reflexion auf den eigenen Standort sieht Benjamin eher in einer an gegenwärtigen Problemen interessierten materialistischen als 74

75

Als „Theorie einer Polarisierung im Bild“ hat Cornelia Zumbusch diese „Konfrontation von Altem und Neuem“, die nicht auf einen ‚ungebrochenen Traditionszusammenhang‘ im Sinne Rychners zielt, sondern auf eine kritische Konstellation, die nach den Möglichkeiten der Aktualisierung von Tradition und Geschichte fragt, bereits für Benjamins spezifisches Bilddenken detailliert herausgearbeitet. (Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S.  125). Im Kapitel  4 wird sich an einem exemplarischen Fall zeigen, dass Benjamin diese polarisierende Aktualisierung permanent mit einer erkenntniskritischen Debatte über die Polarität als Erkenntnisprinzip als solchem parallelisiert. Als zweiten Aspekt, der die kritische Distanz zu Rychner begründet, ist hier noch Benjamins Überlegung zur ‚Erfahrungsarmut‘ zu nennen, die er in seinem Text Erfahrung und Armut auf die Epochenzäsur durch den Ersten Weltkrieg zurückbindet. Diese historische Zäsur habe zu einem radikalen Bruch mit allen bisherigen Erfahrungen und also auch mit allen Traditionszusammenhängen geführt, den es auch für eine neue, zeitgemäße Theorie des Traditionsbezuges einzukalkulieren gilt. Da auf den Themenkomplex ‚Erfahrungsarmut‘ noch an mehreren Stellen im Verlauf der Arbeit einzugehen sein wird, bleibt dieser Aspekt hier zunächst unausgeführt.

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Kapitel 1

in einer an überzeitlichen Ideen orientierten idealistischen Literaturwissenschaft realisiert: „Daß die historische Größe einen Standindex hat, kraft deren jede echte Erkenntnis von ihr zur geschichtsphilosophischen – nicht psychologischen – Selbsterkenntnis des Erkennenden wird – das mag eine recht unmaterialistische Formulierung sein, ist aber eine Erfahrung, die mich den hanebüchenen und raubeinigen Analysen eines Franz Mehring immer noch eher verbindet, als den tiefsinnigsten Umschreibungen des Ideenreiches wie sie heute aus Heideggers Schule hervorgehen.“ (Br IV, 19)76

Die geschichtsphilosophische Notwendigkeit, die ‚Selbsterkenntnis des Erken­ nenden‘, die Benjamin immer konsequenter im Begriff der Haltung analy­ siert, als konstitutiven Bestandteil einer kritischen erkenntnistheoretischen Position in die konkrete Darstellung einzuschreiben, richtet sich also nicht nur gegen Rychners Funktionalisierung von Benjamins Keller-Essay, sondern auch gegen die bürgerliche Literaturwissenschaft im Allgemeinen. In seiner Kritik Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft bemängelt Benjamin gerade die mangelnde „Durchdringung von historischer und kritischer Betrachtung“ (WB III, 289). Sowohl gegen die idealistische Methodik der Literaturwissenschaft als auch gegen Rychners Annahme einer kontinuierenden, zeitlosen Bedeutsamkeit der literarischen Tradition setzt Benjamin die Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart als Bedingung der Möglichkeit einer „fruchtbaren Durchdringung des Ehemaligen“ (ebd., 288) im Rahmen kritischer Gegenwarterkenntnis: „Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.“ (ebd., 290)

Diese programmatische Formulierung über die Gegenwart als kritischer Zeitpunkt einer je spezifischen Erkenntnismöglichkeit weist bereits voraus auf die erkenntnistheoretischen Überlegungen, die in den Passagen-Auszeichnungen niedergelegt sind. Sie stehen im Zusammenhang mit Benjamins „sehr esoterisch gehandhabten Begriff des ‚Jetzt’s der Erkennbarkeit‘“ (Br  V, 171). Dieses „Jetzt der Erkennbarkeit“ setzt bei Benjamin einen konstitutiven Bruch mit jenem von Rychner betonten Traditionszusammenhang voraus, den es durch Destruktion aktiv hervorzutreiben gilt, damit anschließend dann in 76

Dass Benjamin diese Einsicht in seine geschichtsphilosophischen Thesen dann später scheinbar gegen Keller selbst wenden wird, kann hier nicht weiterverfolgt werden. (vgl. WB I.2, 695).

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einem konstruktiven polaren Spannungsverhältnis eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zur Darstellung gebracht werden kann, die nur einmalig und in jeder Gegenwart erneut herzustellen ist. Oder wie Benjamin selbst schreibt: „Die ‚Konstruktion‘ setzt die ‚Destruktion‘ voraus.“ (WB V.1, S.  587)77 Erst aus diesem Zusammenspiel von Destruktion und Konstruktion – dessen darstellungspraktisches Werkzeug allen voran einerseits in der ‚destruierenden‘, d.h. aus dem Kontext reißenden Technik des Zitats bzw. in der „Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren“ (ebd., 572) und andererseits in der konstruktiven Methode der „literarische[n] Montage“ (ebd., 574) besteht – ergibt sich die Möglichkeit, unterschiedliche Phänomene in einer polaren Konstruktion neu zu arrangieren. Aus dieser Darstellungslogik folgert Benjamin dann für die polare Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart:

77

Anhand der Auslegung dieses Satzes könnte man eine ganze Geschichte der BenjaminForschung schreiben. Ob dekonstruktive Lektüren des (allegorischen) Sinnentzugs, medienphilosophische Interpretationen über die mediale Vermittlung der Dinge oder das politische Ablesen einer Kritischen Theorie des Aufbrechens von Verblendungszusammenhängen: dieser Satz hat immer neu Leseweisen herausgefordert und war häufig Gradmesser und produktiver Schauplatz für (literaturwissenschaftliche) Theoriebildungen. Mit der Frage, ob über die Beobachtung polarer Denkweisen Benjamins Schreib- und Darstellungsmodus gebündelt betrachtet werden kann, soll nicht von vornhinein eine dieser Lesarten favorisiert werden. Die unterschiedlichen Forschungszweige haben gezeigt, dass sie auf ihre Art jeweils plausible Erklärungen und Deutungen hervorrufen können, sodass hier die Entscheidung für dekonstruktive, medienphilosophische oder hermeneutische Herangehensweisen am je konkreten Untersuchungsgegenstand entschieden werden. Dieser sachbezogene Methodenpluralismus steht im Dienste der erkenntnisleitenden These, wonach in allen Phasen des Benjamin’schen Werkes Denkfiguren der Polarität zu erkennen sind, die je an unterschiedlichen Phänomenen und Themen eingesetzt werden. Je nach Gegenstand entscheidet sich daher nachfolgend auch die konkrete methodische Zugangsweise. Diese Verfahrensweise resultiert vor allem aus einer gleichermaßen methodischen Vor- und Rücksicht. Bevor hier eine Theorie auf das Werk appliziert wird, soll dargestellt werden, ob und wie Benjamin selbst methodisch vorgeht. Dabei steht die Arbeit dann vor jenem Problem, das sich immer stellt, wenn zu Benjamin geforscht wird: Lassen sich anhand der von Benjamin verhandelten Gegenstände methodische und theoretische Rückschlüsse auf die Arbeitsweise ziehen? Funktioniert etwa eine bruchlose Übersetzung von der Ebene der thematischen Verhandlung der Allegorie auf die Ebene allegorischer Lektüre durch Benjamin selbst? (vgl. hierzu die kritischen Anmerkungen zur ‚allegorischen Lektüre‘ bei Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 12-13). Die Aporie für das Verständnis des Werkes liegt dann bisweilen in einem problematischen Zirkelschluss: Benjamin wird zum argumentativen Zeugen seiner eigenen theoretischen Arbeitsweise, die eigentlich das zu Erklärende darstellt. (vgl. zu dieser Diskussion auch das Kap. 10.3).

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Kapitel 1 „Die Vor- und Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheint kraft seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt. Und so polarisiert der historische Tatbestand sich nach Vor- und Nachgeschichte immer von neuem, nie auf die gleiche Weise.“ (WB V.1, 587; Herv. v. KD).

Wenngleich Benjamin erst im ‚Passagen-Werk‘ die wohl deutlichste erkenntnistheoretische Formulierung für seine polare Darstellungslogik von Vergangenheit und Geschichte findet, scheint er diesen „immer von neuem“ einsetzenden Schreibakt in polaren Spannungsbeziehungen bereits im Antwortbrief an Rychner im Sinn gehabt zu haben: Als Idee von einer möglichen Aktualität der literarischen Tradition (hier: des Werkes Gottfried Kellers), deren „Kraftfeld“ allein dadurch in die Gegenwart hineinreicht, dass der Aktualitätswert aktiv hervorgetrieben wird. An diesem ‚aktiven Hervorbringen‘, das, wie noch zu zeigen sein wird, weit vor das ‚Passagen-Werk‘ oder den Brief an Rychner zurückreicht (vgl. Kap. 5), entzündet sich dann auch allererst das Interesse an materialistischer Theorie. Es steht im Zusammenhang mit einer erkenntniskritischen Perspektive, die Benjamin sucht, um als Forscher „die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegenüber aufzugeben“ und „um der kritischen Konstellation sich bewußt zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befindet.“ (WB II.2, 467f.) Dieser kritische Augenblick qua polarer Differenzbestimmung ist bei Benjamin von einer das eigene Erkenntnisinteresse an dieser Spannungsbeziehung aktiv einbringenden, kritischen „Haltung des Materialisten“ (Br IV, 19) her gedacht. Damit lässt sich letztlich aber auch resümieren, dass Benjamins Reaktion auf Rychners ‚Cur-hic-Frage‘ nicht dort am deutlichsten wird, wo strictu sensu über marxistisch-materialistische Literaturtheorie diskutiert wird, zu deren oben angeführten theoretischen Aporien Benjamin selbst ein spannungsvolles, ambivalentes Verhältnis beibehält, sondern dort, wo es um die, vor allem an literaturwissenschaftlichen Methodenfrage ausgetragene, Debatte um den Aktualitätswert literarischer Tradition für eine kritische Erkenntnis der Gegenwart geht. Die darstellungspraktische Perspektive auf polare Spannungsbeziehungen, die von der Vorstellung eines aktiven, von Folgen begleiteten, eingreifenden Denkens in der Gegenwart her bestimmt ist, begründet allererst das Interesse an theoretischen Überlegungen zum Materialismus und führt so zu einer spezifischen Form der Dialektik bei Benjamin. Und im Zusammenhang seiner Antwort auf Rychner bedeutet das auch, dass Benjamin weniger

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auf eine stringente Theorie des Politischen der Literatur zielt als vielmehr auf ihre produktive Polarität. Diese auch die nachfolgenden Untersuchungsteile bestimmende Perspektive hat außerdem Auswirkungen auf die Art, wie Benjamins Schaffen in seinem internen Zusammenhang betrachtet wird. Denn wenn in den nachfolgenden Untersuchungen an unterschiedlichen Texten gezeigt werden soll, wie Benjamin gerade in seiner Darstellung des Verhältnisses von Politik und Literatur ganz gezielt polare Denkfiguren operationalisierbar zu machen versucht, wird damit zugleich auch ein Perspektivwechsel für Benjamins Texte über das Politische vorgeschlagen: Statt die Frage nach der Bedeutung des Polaritätsdenkens erst vor dem Hintergrund einer ‚Wende zum Politischen‘ zu lesen, die Rychner und Scholem als Gefahr wahrnahmen, behauptet die vorliegende Arbeit eine Kontinuität polarer Denkfiguren als spezifische „Werkschicht“ in den Schriften Benjamins, die allererst ihre spätere politische Funktionalisierung ermöglicht.78 Nicht die Hinwendung zu materialistisch-dialektischen Denken ist ausschlaggebend für ein Denken in Polarisierungen. Erst die Bedeutung der Polarität als grundlegende Denkfigur bei Benjamin erklärt seine sehr spezielle materialistisch-dialektische Schreibweise. Für Benjamins Einsatz polarer Denkfiguren scheint es daher auch wenig produktiv, die „kommunistischen Signale“ (Br II, 511), die er 1924 von Capri aus erstmals an Scholem sendet und 78

Den Begriff der „Werkschicht“ hat Norbert Otto Eke im Zusammenhang mit seiner Studie über Heiner Müller entwickelt, um eine Alternative zur „idealtypischen Konstruktion relativ konsistenter und ästhetisch-thematisch kohärenter Phasen“ in einem Gesamtwerk zu entwickeln. (Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989, S.  15) Ekes Herangehensweise an das Problem des Werkcharakters gilt der Anstrengung, einem heterogenen (oder fragmentierten) Werk gerecht zu werden, ohne dabei in ein „chronologische[s] Periodisierungsmodell[…]“ (ebd., S. 12) zurückzufallen oder eine Haltung des anything goes einzunehmen, von der aus dann kaum noch ein wissenschaftlicher Zugriff möglich wäre. Er geht davon aus, dass solchen heterogenen/fragmentarischen Werken mit dem Begriff „Werkschichten“ viel sinnvoller beizukommen sei, als es die Vorstellung von „Werkphasen“ (ebd., S. 15) vermag. Der Begriff der Schicht hat zwei wesentliche Vorteile: Zum einen kann er ein „chronologisch offene[s] Rezeptionsmodell[…]“ (ebd.) behaupten und gleichzeitig ein „Ensemble“ (ebd., S.  14) von intra- und intertextuellen Bezügen herstellen, die nicht in die Vorstellung einer entwicklungsgeschichtlich fundierten Werkeinheit münden müssen. Wenn mit dem Begriff der Schicht weder eine Teleologie noch eine Totalität angesprochen wird, bedeutet das jedoch nicht, dass Schichten absolut isolierend wirken. Schichten sind immer nur relational, in einem Feld von Relationen und Verweisen erkennbar. Somit lassen sich immer auch Verweise zu anderen Schichten in Benjamins Schriften einschalten. Zu Benjamins eigenen Verwendung eines ‚Schichtenmodells‘ vgl. das Denkbild Ausgraben und Erinnern (WB IV.1, 400-401).

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Kapitel 1

die im Zusammenhang mit seiner Beziehung zur lettischen Theatermacherin Asja Lācis stehen, als Ausdruck einer werkinternen Bruchlogik zu lesen.79 In der Benjamin-Forschung waren diese Signale sowie Benjamins „Berührung mit einer extremen bolschewistischen Theorie“ (ebd.) jedoch häufiger schon Anlass dafür, eine politische Wende im Werk zu markieren, durch die dann das metaphysisch orientierte Frühwerk von dem Mitte der 1920er Jahre einsetzenden politischen Werk getrennt wurde. Die vorliegende Arbeit geht hingegen davon aus, dass sich in den bereits im Frühwerk erkennbaren polaren Denkfiguren eine systematische Schaltstelle im Denken des Politischen bei Benjamin erkennen lässt, die sich über mögliche werkgenetische Einteilungen hinaus durchhält. Späterhin wird diese politische Dimension, wie Benjamin es in dem angeführten Brief selbst betont, jedoch im Zusammenhang mit der Hinwendung zu marxistischen Theorieelementen offensichtlicher forciert: „Auch die kommunistischen Signale […] waren zuerst Anzeichen einer Wendung, die in mir den Willen erweckt hat, die aktualen und politischen Momente in meinen Gedanken nicht wie bisher altfränkisch zu maskieren, sondern zu entwickeln, und das, versuchsweise, extrem.“ (Br II, 511)

Gegen die Vorstellung von einer einfachen Bruchlogik zwischen metaphysischem Frühwerk und späterem politischem Werk ist hier Uwe Steiner zuzustimmen, der hinsichtlich der Selbstverpflichtung zur ‚Demaskierung‘ betont, dass damit gerade nicht gemeint sein kann, „sich von überkommenen Motiven seines Denkens abzuwenden, sondern vielmehr, sich ihnen nunmehr ungeteilt zuzuwenden, um sie unter neuen Umständen produktiv weiterzudenken.“80 Jenseits aller Einteilungen des Werkes in „Phasen“81 oder in ein vormarxistisches und ein marxistisch orientiertes Politikverständnisses veranschlagt die Arbeit mit der Feststellung ubiquitärer Zirkulation polarer Denkfiguren in Benjamins Schriften auf der anderen Seite wiederum keineswegs eine Kontinuitätsthese in dem Sinne, dass die Untersuchung damit auf die Idee eines einheitlichen ‚Werkganzen‘ zuläuft. Wiederaufnahmen von Gedankengängen, 79 80 81

Vgl. etwa Michael Jennings: Trugbild der Stabilität. Weimarer Politik und Montage-Theorie in Benjamins ‚Einbahnstraße‘. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 1. München 1999, S. 517-528. Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 49. Rainer Rochlitz hat beispielsweise „drei Phasen der Benjaminschen Kunsttheorie“ ausgemacht, die sich entlang der drei Paradigmen Sprachphilosophie, politisches Engagement und Geschichtsphilosophie unterscheiden sollen. (vgl. Rainer Rochlitz: Drei Ästhetik-Paradigmen bei Benjamin. Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 1. München 1999, S. 161-187, hier: S. 164 und S. 187).

Benjamin und die „Haltung des Materialisten“

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Motiven, Argumentationsformen, Denkfiguren stehen bei Benjamin nicht im Zeichen eines dem konkreten Schreibanlass vorgelagerten Systems, sondern entfalten ihre Wirksamkeit stets in ihren je spezifischen aktua­lisierenden Umschriften und Übersetzungen in neue Kontexte und Problemzusammenhänge. Das hat auch Auswirkungen auf Benjamins Position als kritischer Intellektueller, kann doch auch die Reflexion auf die eigene Position inmitten der Spannungsbeziehungen nicht als fester Standpunkt erscheinen, sondern muss sich in immer neuen Schreibzusammenhängen erst bilden. Anhand des oben aus den Passagen-Aufzeichnungen zitierten Schreibaktes des „Immer-erneut-Ansetzens‘ des polaren Darstellungsprinzips für eine kritische Erkenntnis der eigenen Gegenwart lässt sich abschließend auch eine weiter entscheidende grundsätzliche erkenntnistheoretische und darstellungspraktische Korrespondenz zwischen Benjamin und Friedlaender anzeigen, die den Ausgangspunkt der Untersuchungen im nachfolgenden Hauptteil A bildet. Denn die Darstellung der Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart als polares Spannungsverhältnis findet sich auch bei Friedlaender. Ähnlich wie Benjamin betont Friedlaender, dass eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nur hergestellt werden kann, wenn die Gegenwart als das spannungsgeladene Kraftfeld des Aufeinandertreffens verschiedener Zeiten betrachtet wird. Während Benjamin allerdings an diesen kritischen Augenblick, vor allem in den geschichtsphilosophischen Thesen, eine an der jüdischen Tradition messianischer Hoffnung orientierte Idee der Revolution als „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“ (WB I.2, 697) bindet, bleibt Friedlaender nüchtern bei der Bezeichnung ‚Zukunft‘ als Gegenpol zur Vergangenheit. Friedlaender schreibt zu dieser kritischen Lage der Gegenwart: „Es heißt, entgegengesetzte Kräfte, die mit gleicher Gewalt auf einen Punkt einwirken, legen einander in diesem Punkte lahm. Ein Wagen, der von einem Pferd nach vorn, vom andern nach hinten gezogen wird, kommt nicht von der Stelle. Ein ähnlicher Wagen ist der gegenwärtige Mensch, der die Zügel aller Vergangenheiten und Zukünfte in Händen hält und über den Wagen Gegenwart, den er kutschiert, dennoch so wenig Macht bekommt, weil er jene tollen Pferde nicht polar zu beherrschen weiß. Daß es nämlich außer seinem Vorwärts und seinem Rückwärts noch Geistesgegenwart gebe, als beider lebendig bewegliches Inmitten; daß diese anders bewegt sein wolle als avant oder retour; daß sie avant mit retour polar kombiniere […].“ (F/M 10, 207)

Um diese Position des Inmitten-Seins gleichermaßen politisch sowie zeit- und kulturdiagnostisch beschreibbar machen zu können, wird bei beiden das Verhältnis zwischen den Zeiten als ein polares hergestellt. An einer anderen Stelle heißt es bei Friedlaender dazu: „Zukunft und Vergangenheit sind nur Pole der Gegenwart, des wahren Heut, das noch nicht besteht.“ (F/M 22, 178) Die

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Kapitel 1

Gegenwart ist dann derjenige prekäre Mittelpunkt, an dem die Spannungsintensität extrem wird: „Man sehe sich den Punkt an, in dem gleiche Kräfte nach entgegengesetzten Richtungen dringen: er birst ja fast vor Kraftanspannung, er lechzt nach Wirksamkeit.“ (F/M 10, 207) Diese mögliche Wirksamkeit inmitten der extremen polaren Spannungen der Gegenwart erkennt man auch in Benjamins ‚Passagen-Werk‘. Auch hier dient die Polarität dazu, „die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.“ (WB V.1, 588) Mit dieser kritischen Position der Gegenwart, in der das „Geschehen in Vor- und Nachgeschichte polarisiert“ (ebd.) ist, wird keine entwicklungsgeschichtliche Perspektive behauptet, die die polare Ambivalenz in eine zeitenumspannende Teleologie auffängt. In einer solchen dialektischen Perspektive wäre das Spannungsverhältnis immer schon nur relativ gefasst und in Bezug auf ihre Aufhebung in einem Dritten eingeschränkt; der Spannungsboden ließe sich damit nicht in seiner vollumfänglichen Dimension als konkret-aktuelle Spannung fassen. Er wäre immer schon in eine historische Verlaufsform eingebettet, in der er nur ein kurzes Momentum innerhalb eines Prozesses zu Höherem wäre. Daher dient die Polarisierung bei beiden vielmehr zunächst dazu, ein kritisches Bild der Gegenwart zu konstruieren, durch das dieses Spannungsverhältnis erkennbar wird. Und ähnlich wie Benjamin, der die aktive Herstellung der Polarisierung an das im Begriff der Haltung zusammengefasste Erkenntnisinteresse an der Gegenwart bindet, betont auch Friedlaender mit dem Begriff der Indifferenz den konkreten Akt der Herstellung dieser kritischen Perspektive auf die Gegenwart: „‚Von selbst‘ bringt sich keine Uhr ins Gehen, kein Pendel ins Schwingen, kein Wagen ins Rollen, keine Ruhe in Bewegung.“ (F/M 10, 207). Diese Bewegung und Konfrontation der Zeiten ist offensichtlich „keineswegs ohne Oszillation“ (ebd.) zu haben, wobei erst der Akt der Polarisierung das Verhältnis der Zeiten zueinander „ins Schwingen“ bringt. Wenngleich die „Pendelamplitude“ (ebd.) der Gegenwart dann kurzeitig „sogar gleich null“ (ebd.) ist, sorgen die Kräfte, die von der Vergangenheit und von der Zukunft aus auf diesen Punkt einwirken dafür, dass er immer erneut in Schwingung gerät. Die Gegenwart bleibt damit konstitutiv eine prekäre Mitte zwischen den Zeiten, ein immer wieder erneut auszugleichender kritischer ‚Schwebezustand‘, den es aktiv hervorzubringen gilt. Für diesen prekären Zustand der Gegenwart zwischen ‚Schweben‘ und ‚Stillstehen‘ nutzt Benjamin in einem Brief von 1935 das Bild von einer Waage: „Denn jede geschichtliche Erkenntnis läßt sich im Bilde einer Waage vergegenwärtigen, die einsteht und deren eine Schale mit dem Gewesenen, deren andere mit der Erkenntnis der Gegenwart belastet ist.“ (Br V, 199) Diese Waage steht bei Benjamin nicht immer schon im Gleichgewicht, sondern muss in

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jedem kritischen Augenblick erneut austariert werden. Der kritische Augenblick des möglichen Zusammentreffens, den Benjamin mit dem „Jetzt der Erkennbarkeit“ beschrieben hat, ist als Kairos (καιρός) bereits in der antiken Ikonographie durch eine Waage symbolisiert. Das momentane Einstehen der Waage ist an einen kritischen Moment gekoppelt, einer kurzzeitigen, plötzlichen Einsicht, die ebenso schnell wieder verschwindet: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei.“ (WB I.2, 695). Dabei sind die Gewichte auf beiden Seiten ziemlich unterschiedlich. Gegenüber der ‚schwerwiegenden‘ Tradition steht auf der anderen Seite „die kleine Münze des ‚Aktuellen‘“ (WB II.1, 219), mit der zu rechnen ist.82 Der sich im Bild von der Waage manifestierende erkenntniskritische Schwebezustand der Gegenwart als latente Mitte zwischen den Zeiten betrifft in gleichem Maße auch Benjamins methodischen Schwebezustand zwischen Theologie/Metaphysik und Politik, Literatur und Politik und damit die eigene prekäre Schreibhaltung. In einem längeren Brief, den Scholem Benjamin schickt, nachdem dieser ihm seinen Antwortbrief an Rychner gewissermaßen als eine auch an ihn andressierte Antwort übermittelt hatte, schreibt Scholem zur Unentschiedenheit Benjamins zwischen Politik und Theologie/Metaphysik: „Ich glaube fast, Du willst diesen Schwebezustand, wenn ich auch eigentlich jedes Mittel begrüßen müßte ihn zu beenden.“83 In den nachfolgenden Untersuchungen wird sich an unterschiedlichen Text- und Debattenkonstellationen zeigen, dass Scholem hier mit dem Bild des ‚Schwebezustandes‘ – wenngleich widerstrebend und mahnend zugleich – den Kern des Zusammenhangs von Benjamins Einsatz polarer Denkfiguren und dem Begriff der Haltung benannt hat. Inmitten der polaren Extreme nutzt Benjamin den Begriff der ‚Haltung‘ für eine Analyse des Orts des kritischen Intellektuellen und seiner konkreten Schreibpraxis und versucht so, die Latenz dieses Schwebezustandes auf den Begriff zu bringen. Benjamins Konzeption der Gegenwart als ein prekärer Schwebezustand und kritischer Augenblick ist mit Friedlaenders zahlreichen Einlassungen über eine dynamische Mitte vergleichbar, die ebenfalls auf diesen kritischen Gegenwartsmoment zielen. Auch bei ihm findet sich das Bild der Waage in Bezug auf den Erkenntniswert durch polare Denkfiguren:

82 83

Ein vergleichbares Bild nutzt Benjamin auch noch im Surrealismus-Essay, wenn es dort heißt, dass die Surrealisten „ihr Mienenspiel in Tausch gegen das Zifferblatt eines Weckers [geben], der jede Minute sechzig Sekunden lang anschlägt.“ (WB II.1, 310). Zit. nach Br IV, 28.

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Kapitel 1 „Der Mißverstand strebt ins Unendliche von einem Extrem zum andern; der vernünftige Verstand strebt nach der Balance der Extreme; und wegen der Enormität der Waagebalken bleibt die auch in der Vollendung noch Disziplin. Skalen sind stets polar von einer Indifferenz aus zu entwerfen. Das Ideal liegt entgegengesetzt an zweierlei Enden, deswegen die Realisation inmitten, kraft der Indifferenz, in einem harmonischen Symbol, das den Gegensatz beibehält, aber in einer ausbalancierten Differenz.“ (F/M 10, 135f.)

Einen endgültigen Ausgleichspunkt auf der Waage der geschichtlichen Erkenntnis kann es auch bei Friedlaender nicht geben, sondern nur ein immer erneuter Versuch, den kritischen Moment ihres Zusammentreffens in Form eines polaren Differenzdenkens herzustellen.84 Benjamin und Friedlaender treffen sich hier in einer geschichtsphilosophischen Perspektive, die eine kritische Erkenntnis der Gegenwart aus dem Spannungsverhältnis mit der Vergangenheit heraus zu gewinnen versucht. In der nachfolgenden problemgeschichtlichen Untersuchungskonstellation (Hauptteil A) wird zu beobachten sein, wie sich der funktionale Einsatz polarer Denkfiguren für diese kritische Gegenwartserkenntnis bei beiden zugleich an unterschiedlichen Formen von – selbst wiederum spannungsgeladenen – Aneignungsversuchen der Geschichte polarer Denkfiguren für ihre zeitdiagnostischen Schreibweisen profiliert.

84

Auf die in der zitierten Passage anklingenden symboltheoretischen Überlegungen Friedlaenders kann an dieser Stelle noch nicht weiter eingegangen werden. Im Hauptteil B der Arbeit wird sich zeigen, dass sich Friedlaenders Überlegungen zum Symbol in einer Konzeption einer medialen Grenze niederschlagen, die sich mit Benjamins frühen Überlegungen zur „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) aus dem Theologisch-politischen Fragment vergleichen lassen. (vgl. die Kap. 7.2 und 7.3).

II. Hauptteil A – Zeitdiagnostische Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren: Problemgeschichtliche Konstellationen

Kapitel 2

Aktualität – Rekurs – Funktion. Elemente einer Problemgeschichte polarer Denkfiguren Wo und wann wir immer anfangen, überall sind wir mittendrin, und nie bei dem Beginn des Erkennens. Ludwik Fleck1

Salomo Friedlaenders Schöpferische Indifferenz ist getragen vom „Leitmotiv der Polarität“ (F/M 10, 168), wobei sich bereits bei einer ersten Lektüre des Werkes zwei Beobachtungen geradezu aufdrängen, die den erkenntniskritischen Schreibgestus des Buches betreffen. Erstens: Obwohl Friedlaender dieses ‚Motiv‘ mittels Analogie („Wie unerschöpflich läßt sich dies analogisieren!“, ebd., 142) auf unterschiedlichste philosophische, ästhetische, politische, ethische, anthropologische Problemstellungen anwendet, ist der konkrete Einsatz polarer Denkfiguren bei ihm dennoch von einer permanenten Sorge und damit von einer erkenntniskritischen Bemühung begleitet, Polarität nicht zu einem starren Deutungssystem oder zu einem universal applizierbaren „plumpe[n] Schema“ werden zu lassen.2 Es scheinen insbesondere die um 1900 in einer Art Kompensationslogik gegenüber den Ambivalenzen, Paradoxien und Widersprüchen moderner Gesellschaften auftauchenden Rekurse auf spätromantische Polaritätsmodelle zu sein, die Friedlaender veranlassen, verstärkt auf den erkenntnistheoretischen Problemstatus polarer Denkfiguren zu insistieren.3 Noch Ende der 1930er Jahre – also nach immerhin vierzigjähriger Beschäftigung mit diesen Denkfiguren – wird Friedlaender in seinem Tagebuch notieren: „Polarität ist nicht auszulernen; es bleibt immer ein dunkler Rest […]. 1 Ludwik Fleck: Zur Krise der ‚Wirklichkeit‘. In: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle. Frankfurt a. M. 1983, S. 46-58, hier: S. 47. 2 In einem Tagebucheintrag vom 29. April 1935 heißt es: „Was der Entdeckung & Erkennung der allgemeinen Polarität am hinderndsten im Wege steht: das plumpe Schema. Die beiden Pole, die beiden Seiten sind einander nicht immer gleich oder ähnlich, obgleich einander immer äquivalent: – gleich, ähnlich ist diese. Davon abgesehen, kann der eine Pol dem anderen so unähnlich sein, daß man ihn eben gar nicht als Gegenpol erkennt. Ja, weil die Dualität, die Differenz als solche schon Polarität bedeutet, wird man viele Phänomene für ‚unitarisch‘ halten. Kurzum, man faßt die Polarität verflucht viel zu eng.“ (zit. nach Detlef Thiel: Experiment Mensch. Friedlaender/Mynona Brevier. Herrsching 2014, S. 48). 3 Zu diesen Rekursen auf die Spätromantik um 1900 vgl. das Kap. 2.2.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_003

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Kapitel 2

Bis auf ihren Grund klar kann Polarität nie werden.“4 Und in einem anderen Brief aus derselben Zeit legt er offen: „Nierenprüfe ich mich im innersten Gewissen, so muß ich gestehen, meiner Sache noch nicht niet- und nagelfest sicher zu sein.“ (F/M 26, 513) Zweitens: Friedlaender betont schon in seinen frühen Überlegungen zur Polarität, dass mit ihr zwar einerseits „[e]ine große dynamische Lehre“ (F/M 24, 78) geprägt werden könnte, ihm diese andererseits aber bisher nur „in einem Bilde vorläufig“ (ebd.) gegenwärtig sei. Damit führt er uns die, in unterschiedlichen historischen Ausprägungen zu beobachtende, grundsätzliche „polaristische[…] Definitionsproblematik“5 vor, die einerseits darin liegt, polare Differenzbestimmungen in einem dynamischen Definitionsprozess immer wieder zugunsten von neuen Differenzen aufzuheben und die anderseits den Problemstatus der Polarität im Zwischenbereich von Bildlichkeit und Begrifflichkeit betrifft. In diesem prekären Status der Polarität als Denkfigur sieht Friedlaender aber keineswegs eine erkenntnistheoretische Aporie, sondern erkennt darin ganz im Gegenteil das produktive Zentrum einer dynamischen Philosophie, die sich der Festsetzung in ein stabiles System immer wieder durch eine erneute Differenzierungsbewegung entzieht und seine zwischen philosophischer Reflexion und ästhetischer Darstellungslogik changierende Schreibweise antreibt.6 Um diese gleichermaßen auch für Benjamin charakteristische changierende Schreibweise als Schauplatz eines produktiven erkenntniskritischen Problemdenkens ausweisen zu können, genügt es allerdings nicht, wie Giorgio Agamben es nahegelegt hat, Friedlaenders ‚schöpferische Indifferenz‘ bloß als „ein von Benjamin mit Vorliebe zitiertes Bild“7 zu bezeichnen, ohne näher darauf 4 Zit. nach Detlef Thiel, Experiment Mensch, S. 55. 5 Rolf Schütte, Die Mitte der Differenz, S. 96. 6 Dass die proto-dekonstruktive Bewegung des immer erneut ansetzenden Differenzierens an Derrida erinnert, hat Detlef Thiel bereits zum Ausgangspunkt einer Untersuchung über Verbindendes und Trennendes zwischen Friedlaender und Derrida gemacht. Er geht dabei in folgender Aussage sehr weit: „Ich behaupte: Fast der ganze Derrida steht bereits bei F[riedlaender]/M[ynona]!“ (Detlef Thiel: Maßnahmen des Erscheinens, S. 163). Diese Spur zu Derrida wird hier nicht weiterverfolgt werden können. Ein direkter Vergleich hätte ohnehin zunächst zu überlegen, wo Derrida explizit polare Denkfiguren als solche benennt. Die deutlichste Spur scheint hier zu Derridas Schrift Chōra zu führen. (vgl. Jacques Derrida: Chōra, hg. v. Peter Engelmann. Wien 1990) Dort setzt sich Derrida mit einer Studie von Jean-Pierre Vernant auseinander, in der Vernant dem Mythos eine „Logik der Ambiguität, Mehrdeutigkeit und Polarität“ attestiert. (Jean-Pierre Vernant: Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland. Frankfurt a. M. 1987, S. 242). 7 Giorgio Agamben: Nymphae. Berlin 2005, S.  31. Agamben selbst hatte das Changieren zwischen Bild und Begriff resp. Poesie und Philosophie bereits in seiner Studie Stanzen explizit unter dem Begriff der Polarität gefasst und daran die Diagnose der abendländischen „Vergessenheit einer Spaltung“ geknüpft. (Giorgio Agamben: Stanzen. Wort und Phantasma in

Aktualität – Rekurs – Funktion

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einzugehen, was überhaupt an dem Begriff ‚schöpferische Indifferenz‘ nun genau bildhaft sei und wie sich dieser Schwebezustand polarer Denkfiguren auf die konkreten Schreibweisen auswirkt. Ein historischer Blick verrät hier vielmehr, dass der gleichermaßen epistemologische und ästhetische Schwebezustand polarer Denkfiguren bereits um 1800 zum produktiven Faktor ihrer diskursiven Relevanz wird. So hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Erkenntnis der in der Natur wirkenden Grundkräfte in ihrer polaren Spannung auf einen „focus imaginarius“8 verwiesen, der das Wechselspiel von sinnlicher Anschauung und begrifflicher Verstandestätigkeit bestimmt. Benjamins und Friedlanders darstellungsästhetischen Reflexionen auf den zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren sind von diesen Debatten beeinflusst. Mehr noch: Wo sie sich auf polare Denk- und Schreibweisen bei Kant und Goethe, den Frühromantikern oder Nietzsche berufen, geschieht dies ebenfalls stets in einem erkenntniskritischen Modus, der die Möglichkeiten, aber auch Grenzen, solcher Aktualisierungen ins Zentrum rückt. Damit gewinnen ihre polaren Denk- und Schreibverfahren aber erst vor diesem historischen Hintergrund an Profil. Darüber hinaus sind Benjamins und Friedlaenders Einsatzpunkte polarer Denkfiguren in die Diskurse und konkreten Debattenkonstellationen zu verorten, weil sie selbst Akteure der diskursiven Konjunktur der Polarität zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind. Um sowohl diese verwickelten historischen Spuren als auch die je zeitspezifischen Einsatzpunkte polarer Denkfiguren vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlagen der Zeit und der diskursiven Voraussetzungen erfassen zu können, hätte eine Begriffs-, Metaphern- und Diskursgeschichte der Polarität zunächst in einer extensiven Quellenstudie die jeweiligen Aussageregeln und diskursiven Funktionszusammenhänge in den zeitspezifischen Redeweisen über Polarität auszufalten. Anschließend wären dann auch die verwickelten Transformations- und Übersetzungsdynamiken en détail zu untersuchen, durch die sich jeder aktuelle Einsatzpunkt immer auch auf die Geschichte polarer Denkfiguren bezieht. Eine solche Diskursgeschichte, an der auch der historische Einsatzpunkt bei Benjamin und Friedlaender abzulesen wäre, ist allerdings ein Forschungsdesiderat.9 Die der abendländischen Kultur. Zürich 2005, 2010, S. 11.) Vor allem der Acedia attestiert er dabei eine „doppelsinnige negative Polarität“ (ebd., 26) und dem Melancholiker eine „Polarität der Extreme“ (ebd., 28 und S. 44). 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2. In: ders.: Werkausgabe, Bd. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 565 [B 672]. 9 Wenngleich eine Geschichte des Polaritätsdenkens bisher fehlt, lassen sich Elemente einer solchen Diskursgeschichte doch zumindest indirekt rekonstruieren, etwa über wissenschaftshistorische Studien zum Magnetismus. So lässt sich etwa in der Arbeit von Albert

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Kapitel 2

vorliegende Arbeit kann dieses Desiderat nicht einlösen. Um Benjamins und Friedlaenders Funktionalisierungen polarer Denkfiguren historisch verorten zu können, sollen stattdessen nachfolgend unter drei aufeinander bezogenen problemgeschichtlichen Gesichtspunkten Schlaglichter auf einige markante Stationen in der Geschichte polarer Denkfiguren seit der Zeit um 1800 geworfen werden. Unter dem Begriff der Problemgeschichte sind hier aber keine überzeitlichen, allgemeinmenschlichen Probleme adressiert.10 Unter den drei Gesichtspunkten treten vielmehr ganz konkrete, zeitaktuelle Probleme auf und werden zu produktiven Faktoren der Geschichte polarer Denkfiguren. Sie ermöglichen es, zu beschreiben, wo sich im Schnittfeld aus zeitaktuellen Indienstnahmen und aktualisierenden Rückbezügen auf begriffs- und bildgeschichtliche Traditionsbestände einerseits Filiationen, Vergleichspunkte und Bezugnahmen aufdrängen, und wo andererseits Brüche und Diskontinuitäten dokumentiert werden müssen. 1. Aktualistischer Einsatzpunkt: Der Einsatz polarer Denkfiguren bestimmt sich immer durch zeitspezifische Fragen und Problemstellungen. Es lässt sich beobachten, dass epistemische, politische, soziale und ästhetische Umbruchszeiten besonders häufig polare Wahrnehmungsweisen befördern. Damit ist der primäre Einsatzpunkt polarer Denkfiguren immer aktualistisch begründet. Bei Friedlaender heißt es dazu „Wir sind erst im Beginn des Zeitalters der Polarität.“ (F/M 26, 517) Der historische Auftakt, den Friedlaender hier 1934 in einem Brief aus dem Exil verkündet, ist allerdings einigermaßen überraschend. Denn die Schöpferische Indifferenz ist immerhin bereits beinahe 20 Jahre zuvor angetreten, um zu beweisen, dass „es an der Zeit“ (F/M 10, 168) sei, die Indifferenz und das „Leitmotiv der Polarität“ (ebd.) zu entdecken. Friedlaenders wiederholtes Insistieren auf die Zeitgemäßheit ist jedoch Kloss, der die Entdeckungs- und Erfindungsgeschichte des Magnetismus von der vorsokratischen Naturphilosophie bis zu den magnetischen Informationsspeichern erzählt, herauslesen, wie das Prinzip gegenstrebiger Kräfte zu unterschiedlichen Zeiten interpretiert wurde. Vgl. Albert Kloss: Geschichte des Magnetismus. Berlin/Offenbach 1994. 10 Für einen einführenden Überblick zur Geschichte der Problemgeschichte vgl. das Kapitel ‚Begriffsgeschichte und Problemgeschichte‘ in Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin 2016, S. 84-93. Zur jüngeren literaturwissenschaftlichen Debatte vgl. Dirk Werle: ‚Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie‘. In: Scientia Poetica 13 (2009), S. 255–303, hier: S. 298; Carlos Spoerhase: ‚Dramatisierung und Entdramatisierung der Problemgeschichte‘. In: Riccardo Pozzo/ Marco Sgarbi (Hg.): Eine Typologie der Formen der Begriffsgeschichte (=Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 7). Hamburg 2010, S. 107-123, hier: S. 121.

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nicht singulär, sondern gewissermaßen ein kontinuierendes Moment in der ansonsten diskontinuierlichen Geschichte polarer Denkfiguren. Der hohe legitimatorische Aufwand, der betrieben wird, und der wiederholt zu beobachtende Dringlichkeitsgestus, mit dem emphatisch vorgetragen wird, dass Polarität Anspruch darauf erheben könne, in das Bewusstsein der Gegenwart zu gelangen, ist ein wiederkehrendes Moment in der Geschichte des Polaritätsdenkens und findet sich bereits bei F.  W.  J.  Schelling. Dieser hatte 1798 in seiner Schrift Von der Weltseele das Kapitel zur Reflexion über den naturphilosophischen Polaritätsbegriffs mit dem Satz eingeleitet: „Es ist Zeit die Polarität genauer zu bestimmen.“11 Auch dort, wo Polaritätsdenken in eine lange Traditionslinie gestellt wird, die bis zu Heraklit und den Vorsokratikern reichen soll, scheint das Denken in Polaritäten keine Selbstverständlichkeit. Dies zeigen die rhetorischen Strategien, die Otto Köhn in seiner systematischen Einführung in die Polaritätstheorie nutzt, um Polarität philosophisch zu nobilitieren und um zu beweisen, dass „die Zeit der Polarität […] gekommen [ist]“12. Verbirgt sich hinter dieser durchgängig beobachtbaren Forderung nach Wahrnehmung diskursiver Relevanz womöglich eher der Legitimierungsdruck eines unzeitgemäßen Konzepts? Das wiederkehrende Insistieren darauf, dass Polarität nun ‚an der Zeit‘ sei, ist jedenfalls zunächst ein starker Indikator für eine diskontinuierliche Geschichte des Begriffes mit rezessiven Phasen, Abbrüchen und pathetisch inszenierten Renaissancen. Das Pathos der Zeitgemäßheit kann auch soweit hervorgetrieben werden, dass Polarität als Modell selbst eine transitorische Wirksamkeit zugesprochen wird. So etwa bei Novalis: Denn auf der einen Seite entzündet sich in Das Allgemeine Brouillon an „[p]olare[n] Entgegensetzungen“13 wie denjenigen von Körper und Seele oder Denken und Fühlen eine epistemologische Dynamik, die dem enzyklopädischen Projekt einer „Combinationsl[ehre] der wissenschaftlichen Operationen“14 dient. Dabei werden polare Spannungsverhältnisse zu einem allgemeinen Ordnungsmodell erweitert, mit dem sich „‚System‘ und ‚Gegensystem‘, ‚Verständliches‘ und ‚Unverständliches‘ in einen 11 12 13

14

F.W.J. Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus [1798]. In: ders.: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Reihe I/Bd. 6, hg. v. Jörg Jantzen, u. M. v. Thomas Kisser. Stuttgart 2000, S. 167. Otto Köhne: Polarität. Einführung in die Polaritätstheorie. Mannheim 1981, S. 15. Novalis: Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99. In: ders.: Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd.  3: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel, in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz. Stuttgart u.a. 1968, S. 207-478, hier: S. 263 [Nr. 123]. Ebd., S. 361 [Nr. 552].

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Kapitel 2

Wirkungszusammenhang“15 bringen lassen und letztlich eine ‚Erkenntnistheorie in Konflikten‘ stiften.16 Auf der anderen Seite bezeichnen diese polaren Spannungsverhältnisse selbst aber wiederum nur ein Zwischenstadium: „Polaritaet entsteht durch Zersetzung eines Grads in seine Elemente. Hier tritt Quantität und Qualität auseinander – die Merckmale des Grades treten positiv und negativ gegeneinander. Polarit[aet] ist eine Unvollkommenheit – es soll keine Polaritaet einst seyn. Sie tritt in System ein, eh es vollk[ommen] ist. Wenigstens wird sie einst nur Mittel, nur transitorisch seyn dürfen.“17

Da das Erkenntnisinteresse an der Polarität nicht mehr ausschließlich von ihrem ‚An-der-Zeit-Sein‘ ausgeht, sondern zugleich die Forderung einschließt, sie solle „einst“ nicht mehr „seyn“, haben wir hier gewissermaßen die andere Seite der Medaille, die die Geschichte der Polarität bestimmt. Wenngleich bei Novalis mit der Aufhebung der Polaritäten in ein System weder ein endgültiger Stillstand angezeigt wird noch eine stabile Systemharmonie gemeint ist, zeigt sich am Allgemeinen Brouillon doch, wie polare Konzepte gerade durch die Inszenierung ihrer besonderen Zeitgemäßheit selbst zu Übergangsmodellen mit ausschließlich zeitlich begrenztem heuristischem Wert werden können. Das ist auch späterhin immer wieder zu beobachten. Denn auch unter geschichtsphilosophischen bzw. zeitdiagnostischen Vorzeichen scheint die Halbwertszeit polarer Denkfiguren zu schwanken. Während in den 1920er und 30er Jahren „[d]as ‚Polaritätsdenken‘ […] plötzlich in Reinkultur als Schema auf den Plan [tritt]“18 und in zeitdiagnostischen Schriften allenthalben vorzufinden 15 16

17 18

Gerhard Neumann: Ideenparadies. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 388. Neumann führt zu dieser ‚konfliktösen Erkenntnisform‘ aus: „Was sich ‚direkt‘ nicht fassen läßt, wird durch die Fiktion des Gegenteils erreicht: die Umkehrung erst eröffnet einen Verstehensraum. Der Gang zum ‚System‘ führt über die Beobachtung des unvergleichlichen Einzelnen, der Gang zum Detail über das vollständige System; freilich nicht im Sinne einer Harmonisierung. Die Form solchen Erkennens ist der Konflikt.“ (ebd., 389). Novalis, Das Allgemeine Brouillon, S. 342 [Nr. 479]. Helmut Lethen: Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik. In: Bernhard Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918-1933 (=Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 8). München 1995, S. 317445, hier: S. 406. Betrachtet man die Bedeutung polarer Denkfiguren seit der Zeit um 1900 kann von ‚Plötzlichkeit‘ allerdings kaum die Rede sein. In seiner Studie über Verhaltenslehren der Kälte betont Lethen dann, dass „im neusachlichen Jahrzehnt […] das ‚Polaritätsdenken‘ (Theodor Lessing) Konjunktur hat“. (Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994, S. 42) Welche Stellung die Referenz auf Lessing in der Klammer hier hat, bleibt unklar. Indem nachfolgend die spezifischen Formen des Rückbezugs auf die Geschichte polarer Denkfiguren seit der Zeit um 1900 dargelegt wird, kann der Konjunktur, die Lethen verschiedenen Schreibweisen

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ist, scheint es wenige Jahre später nicht nur seinen „ästhetischen Reiz“19 verloren zu haben. So führt etwa Hermann Broch in seiner Studie zu Hofmannsthal und seine Zeit aus den Jahren 1947/48 aus, dass die „in der Geschichtsauslegung so beliebten Polaritäten wie eben rational-irrational, kollektiv-individuell, klassizistisch-romantisch, präsentistisch-historisierend usw.“20 zwar nützlich seien, um grundlegende Tendenzen im Lebensstil, Denkart und Kunst einer Zeit darzustellen, jedoch in ihrer allzu schematischen Frontstellung den „verschiedene[n] Schwankungszeiten“21 und „mannigfachsten Kombinationen“22 nicht gerecht werden können. Auch für künstlerische Produktionen erweisen sich „Polaritäten […] immer wieder als unzuverlässig“23. Die Popularität, die polare Denkfiguren noch gut 15 Jahre zuvor genossen, ist hier einer Skepsis gegenüber einem komplexitätsreduzierenden Schema gewichen, das nurmehr unter Vorbehalt eingesetzt wird. Zweierlei lässt sich für die Geschichte polarer Denkfiguren aus diesem kursorischen Blick sowohl auf die pathetisch inszenierten Appelle an die Zeitgemäßheit und Dringlichkeit als auch auf die Überlegungen zu ihrer bloß zwischenzeitlichen Geltung bzw. ihrer Unzeitgemäßheit schlussfolgern: Erstens hat diese Geschichte offensichtlich keinen linearen Verlauf, keine Entwicklung mit allmählichen, sanften Übergängen innerhalb eines ideengeschichtlichen Kontinuums, sondern ist an unterschiedliche, begrenzte Konjunkturphasen gebunden. Und zweitens scheint es gerade deshalb nahezuliegen, diese unterschiedlichen Konjunkturphasen und diskursiven Karrieren ebenso wie die rezessiven Phasen in der Geschichte polarer Denkfiguren unmittelbar aus den je konkreten zeitspezifischen Einsatzpunkten zu begründen und als Reaktion auf gesellschaftliche, politische, epistemologische und ästhetische Krisen- und Umbruchszeiten zu lesen. Allerdings gilt es zugleich auch zu betonen, dass der Einsatz polarer Denkfiguren keineswegs in einem bloßen Abbildungsverhältnis zu gesellschaftlichen Strukturen im Allgemeinen und den epistemischen,

19 20 21 22 23

in den 1920er und 30er Jahren attestiert, eine historische Tiefendimension hinzugefügt werden. Zu den polaren Denk- und Schreibweisen in den 1920er und 30er Jahren vgl. auch weiter unter das Kap. 2.3. Ebd. Hermann Broch: Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie. Frankfurt a. M. 2001, S. 9. Ebd. Ebd. Ebd., 13. Broch beginnt seine Studie selbst mit einigen polaren Gegenüberstellungen, indem er für den eklektizistischen Lebensstil und die Kunstproduktion im Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Spannungen zwischen Pomp und Solidität, Stickigkeit und Sicherheit, Rationalismus und Lebensgenuss, Dekoration und Zynismus betont, die durch Schein, Verklärung und Vertuschung überdeckt würden. (vgl. ebd., S. 7-10).

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Kapitel 2

politischen, technischen, ästhetischen Entwicklungstendenzen im Besonderen steht, sondern immer schon eine spezifische Übersetzungsleistung in das Feld kritischer intellektueller Deutungsversuche anzeigt. Und so lässt sich für die historisch vielfältigen Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren geltend machen, was Wolfgang Bialas für die Theoretisierung politischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Zeittendenzen durch Intellektuelle im Allgemeinen hervorgehoben hat: „Intellektuelle artikulieren Stimmungen und Befindlichkeiten, in denen sie versuchen, den Geist ihrer Zeit auf den Begriff zu bringen. Im günstigen Fall gelingt es ihnen, solche Stimmungen zu Situationsbeschreibungen mit assoziationsfähigen Wiedererkennungseffekten bei ihrem Publikum zu verdichten. Gleichzeitig eröffnet die theoriesprachliche Übersetzung gesellschaftlicher Problem- und Konfliktlagen intellektuelle Diskurse, in denen deren Spannung auf ein Terrain ganz eigener soziokultureller Dynamik übertragen wird. Es findet ein Terrainwechsel statt, durch den die originären Probleme mit intellektuellen Deutungen und Bedeutungen aufgeladen werden, die zu eigenen Problemkonfigurationen führen. Die Eigengesetzlichkeit intellektueller Diskurse und ihre Verortung in theoriegeschichtlichen Kontexten und Traditionen sichert, daß sich in ihnen etwas herstellt, das nicht rückstandslos auf die vorreflexiven Ausgangslagen übertragbar ist. Probleme, die in gesellschaftspraktischen Kontexten stehen, werden nicht lediglich intellektuell artikuliert. Sie stellen sich in theoretischen Kontexten neu. Gesellschaftspraktische Probleme werden so nicht einfach intellektuell verhandelt, sondern in theoretische Probleme übersetzt.“24

Bezieht man den ‚übersetzenden Terrainwechsel‘, den Bialas hier für die intellektuelle Theoretisierung von Zeitfragen beschreibt, auf den zeitaktuellen Einsatz polarer Denkfiguren, geht dieser Einsatz zwar ebenfalls einerseits weiterhin von der konkreten Wahrnehmung gesellschaftlicher, politischer, epistemologischer oder ästhetischer Polarisierungstendenzen aus. Der Akt intellektueller Verarbeitung bemisst sich aber an Übersetzungsprozesse in ein Textfeld, einen sprachlichen Zusammenhang, in dem rhetorische Strategien, der Einsatz von unterschiedlichen Bildern und Motiven, symbolische Ausdrucksformen und Darstellungen über die (vorsprachliche) Wahrnehmung bzw. die „artikulierten Stimmungen“ und „vorreflexiven Ausgangslagen“, wie es bei Bialas heißt, hinausweisen. In diesem Sinne hat auch Helmut Draxler nachdrücklich betont, dass „Polaritäten […] nicht einfach gegeben“ sind, sondern „konkrete, polarisierende Akte voraus[setzten], die systematisierend,

24

Wolfgang Bialas: Einleitung. In. ders./Georg G. Iggers (Hg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1996, S. 7-11, hier: S. 9.

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performativ oder politisch vorgehen können.“25 Damit liegt der Fokus in der Untersuchung zeitspezifischer Funktionalisierungsformen polarer Denk­ fi­guren weder auf ontologischen Behauptungen noch auf einer rein subjek­ tiven Willkür. Von Interesse sind vielmehr jene kritischen Reflexionen auf die Möglichkeiten und Grenzen der Polarität innerhalb einer konkreten histo­ rischen Situation, in denen Polarität als „Argumentationsfigur“ aktualisiert wird: „Entscheidend ist jedoch, dass sie [die Polarisierungen, K.D.] strukturell abhängig von der jeweiligen Einschätzung des politischen Moments bleiben. Polarisierungen bedürfen der Dringlichkeit und der Notwendigkeit ihres Einsatzes. Sie sind letztlich nur aktualistisch zu rechtfertigen […].“26

Diese Betonung der Dringlichkeit und die Form des ‚aktualistischen Einsatzes‘ lassen sich auch bei Benjamin und Friedlaender beobachten.27 Benjamin bestimmt in seinen erkenntnistheoretischen Passagen-Aufzeichnungen den kritischen Augenblick der Gegenwart als „Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit“ (WB V.1, 578) dadurch, dass darin das „Geschehen in Vor- und Nachgeschichte polarisiert“ (ebd., 588) wird. Der historische Index betrifft nicht nur den „dialektisch dargestellte[n] historische[n] Sachverhalt“ (ebd., 587) als solchen, sondern auch den Akt des Polarisierens selbst: Das im dialektischen Bild blitzhaft zu einer kritischen Konstellation gerinnende „Kraftfeld“ (ebd.) zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist Produkt einer wahrnehmungsästhetischen Einstellung und einer darstellungspraktischen Funktionalisierung der Polarität als aktualistische Erkenntnisform des materialistischen Historikers. Dabei bleibt die Frage stets präsent, wie polare Denkfiguren der „[e]ntschiedene[n] Abkehr vom Begriff der ‚zeitlosen Wahrheit‘“ (ebd., 578), die gleichermaßen das „Erkannte[…]“ und den „Erkennenden“ (ebd.) betrifft, dienlich sein kann. Friedlaender wiederum wird gerade die angezeigte Spannung zwischen dem 25 26 27

Helmut Draxler: Always Polarize? Bedingungen und Grenzen einer Argumentationsfigur. In: Texte zur Kunst 101 (2016), S. 57-69, hier: S. 65. Ebd., S. 57. Auch Helmut Draxler verweist in einer Fußnote exemplarisch auf Benjamin und betont in Bezug auf die Notwendigkeit eines je spezifischen aktualisierenden Einsatzes innerhalb einer konkreten historischen Situation: „So wie Walter Benjamin in den 1930er Jahren von den subtilen Formen seiner frühen Dialektik abgewichen ist, um im Kampf gegen den Faschismus stark polarisierende Begriffsbildungen zu lancieren.“ (ebd., S. 69) Dass Benjamin aber nicht erst in den 1930er Jahren polare Denkfiguren in seinen Schriften nutzt, um politische und ästhetische Fragen in historischen Spannungskonstellationen einzutragen, wurde in der Einleitung und dem Kapitel 1 der Arbeit bereits angedeutet. In den Kapiteln 5 sowie dem Hauptteil B wird sich noch zeigen lassen, dass der erkenntniskritische Einsatz polarer Denkfiguren bereits vor dem Ersten Weltkrieg und dann insbesondere in seiner frühen Arbeit am Politischen zentral ist.

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Kapitel 2

Anspruch auf Zeitgemäßheit und dem hohen Legitimationsdruck immer wieder unter dem Aspekt der ‚produktiven Unzeitgemäßheit‘ fassen. Das erkenntniskritische Potential polarer Denkfiguren liegt für ihn (vor dem Hintergrund einer allgemeinen Konjunktur: paradoxerweise) darin, eben keinen Theoriemoden und keinem intellektuellen Zeitgeist das Wort zu reden, sondern zwischen verschiedenen Ordnungsmodellen, Deutungssystemen und Verhaltensmustern selbst eine Spannung aufzubauen. Es ist daher auch kein Zufall, dass Friedlaender in seinem Nietzsche-Buch das Kapitel über die Unzeitgemäßen Betrachtungen mit einer Reflexion über ‚polare intellektuelle Gegnerschaften‘ einleitet: „Eine neue Wahrheit muß sich ihre richtigen Feinde zu suchen wissen; sie wird selber falsch, wenn sie sich an falschen vergreift; es ist ein Glück für ihre Wirksamkeit, wenn sie ihre echte Gegnerschaft entdeckt […].“ (F/M 9, 112) Seine eigenen ‚Gegner‘ erkennt Friedlaender sowohl in der Verabsolutierung polarer Denkfiguren zu einem universalen Deutungskonzept als auch in einer synkretistischen Methodenvermischung oder einer dialektischen Bewegung, die gesellschaftliche, politische oder ästhetische Zeittendenzen als bloße Momente einer sukzessiven Entwicklung ineinander aufgehen zu lassen versucht. Im zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren liegt für Friedlaender vielmehr die Möglichkeit, die „echte[…] Gegenseitigkeit aller Beziehungen“ (F/M 10, 278) als Spannungsfeld gegenwärtiger Zeittendenzen bis ins Extreme hervorzutreiben. Um seine eigene Position innerhalb eines polaren intellektuellen Spannungsfeldes markieren zu können, nutzt Friedlaender außerdem immer wieder Polemik, Ironie, Humor und Zynismus, die er zu einer strategischen Ausdrucksform kombiniert, in der er – Nietzsche zum Vorbild nehmend – nicht nur das „fatale Rätsel der Ethik“, sondern auch erkenntnistheoretische und politische Problemstellungen der Zeit „sehr vorsichtig mit den zarten Fingern der Ästhetik an[…]rührt […].“ (F/M 9, 111) 2. Rekursive Imaginationen: Aktualistisch motivierte polare Denk- und Schreibprogramme etablieren und legitimieren sich aber immer wieder auch durch einen Rückbezug auf historische Polaritätsmodelle. Daher gilt es neben dem bereits ausgeführten ‚übersetzenden Terrainwechsel‘ von wahrgenommenen Umbruchs- und Krisenphänomenen in zeitdiagnostische Schreib- und Darstellungsformen, den Wolfgang Bialas beschrieben hat und den man als eine ‚synchrone‘ Übersetzung bezeichnen könnte, zugleich ein zweites, gleichsam ‚diachron‘ ausgerichtetes Übersetzungsphänomen zu berücksichtigen. Die Bezeichnung ‚rekursive Imagination‘ verweist dabei darauf, dass Aktualisierungsstrategien von und Reprisen auf ältere Polaritätsmodelle

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häufig auch damit einhergehen, eine Geschichte der Polarität zu imaginieren, in deren Genealogie die eigenen Einsatzpunkte eingeschrieben werden.28 Die ‚Doppelstrategie‘ aus aktuellem Einsatz und Rekursen auf ältere Polaritätsmodelle lässt sich bereits um 1800 beobachten. So arbeitet sich Kant etwa an Newton und Leibniz ab, um in seinen vorkritischen Schriften im Gegenspiel von Attraktion und Repulsion denjenigen „Conflictus zweier Kräfte, die einander entgegengesetzt sein“, bestimmen zu können, der ihm eine „deutliche[…] und zuverlässige[…] Erkenntnis“ über die polaren Grundkräfte der Natur ermöglicht.29 Schelling wiederum bezieht sich in seiner Naturphilosophie nicht 28

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Unter anderen methodischen Vorzeichen ist eine ähnliche Perspektive in den letzten Jahren im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs ‚Transformation der Antike‘ (2005-2016) unter dem Begriff der ‚Allelopoiese‘ entwickelt worden. Mit dem Begriff wird beansprucht, einen neuen Blick auf historische Transformationsprozesse und ein „generalisierbares Modell für die Erforschung historischen Wandels anzubieten.“ (Hartmut Böhme: Einladung zur Transformation. In: ders. et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. München 2011, S. 7-37, hier: S. 8) Der Grundgedanke besteht darin, dass Vergangenheit keine „feststehende Entität“ sei, sondern im Prozess der Transformation „gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert, verfemt, vergessen oder zerstört“ werden kann. (ebd.) Dabei wird davon ausgegangen, dass in diesen Aktualisierungs-, Aneignungs- oder Übersetzungsvorgängen nicht nur die Aufnahmekultur verändert, sondern auch die Referenzkultur konstruiert wird. Das bedeutet, dass sich nicht nur das Selbstverständnis einer Zeit über die Übersetzung von Traditionen modelliert. Auch die Vergangenheit selbst, das Bild von ihr wird in diesem Prozess erst hergestellt. In diesem Forschungszusammenhang hat man verschieden Typen dieser ‚Allelopoiese‘ zu unterscheiden versucht: unter den Begriffen Appropriation, Assimilation, Disjunktion, Einkapselung, Fokussierung/Ausblendung, Hybridisierung, Ignoranz, kreative Zerstörung, Montage/Assemblage, Negation, Rekonstruktion/Ergänzung, Substitution, Übersetzung, Umdeutung/Inversion, mehrschichtige, komplexe Transformationsprozesse (vgl. Lutz Bergmann et  al.: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: Böhme et al. (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, S. 39-56). Bemerkenswert ist hier zudem, dass Hartmut Böhme selbst wiederum den Begriff der Polarität nutzt, um die besondere Spannung zwischen Referenz- und Aufnahmekultur darzustellen. So spricht er von einer „Bi-Poligkeit der dynamis“ bzw. von einer „zweipolige[n] Verteilung der Handlungspotentialität im Transformationsprozess“. (Hartmut Böhme, Einladung zur Transformation, S.  13). Die „temporale[…] Verschränkung“ (ebd.) ergebe sich in Prozessen der Transformation gerade aus dem Spannungszustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Immanuel Kant: Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen. In: ders.: Werkausgabe, Bd. II: Vorkritische Schriften bis 1768, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.  M. 1977, S.  775-819, hier: S.  792 [A 20-21]. Im Hintergrund steht hier der Streit zwischen mechanischen und dynamischen Theorien der Natur. Kant nimmt hier eine Scharnierstelle ein, da er schon in den vorkritischen Schriften versucht, beiden Theorien ihren gebührenden Platz im naturphilosophischen System zuzuweisen. Brigitte Falkenburg spricht daher von einem „Vereinheitlichungsprojekt“, das sich zwischen

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nur auf die Dringlichkeit einer Erklärung jener physikalischen Phänomene (Imponderabilien), die eine neu entfachte Experimentalkultur um 1800 auf die naturwissenschaftliche Agenda gesetzt hat (i.e.: ‚aktualistischer Einsatzpunkt‘), sondern rekurriert im unmittelbaren Anschluss zugleich auch auf die Hilfe eines Wissens über Polarität der „Alten“30 (i.e.: ‚rekursive Imagination‘), insbesondere auf die bereits durch Spinoza wieder in den diskursiven Fokus gerückte hermetische Tradition. Die Doppelung aus experimentalwissenschaftlicher Naturforschung und spekulativer Naturphilosophie ist allerdings kein ‚Störfaktor‘ auf dem Weg zu einer modernen, ausdifferenzierten Naturwissenschaft, sondern wird ganz im Gegenteil gerade in ihrer Ambivalenz zum produktiven Entwicklungsfaktor an der epistemologischen Schwelle um 1800. Um 1900 liegt Polarität unter den Vorzeichen anderer gesellschaftlicher, kultureller, epistemologischer und ästhetischer Krisenerfahrungen erneut als „Motiv […] in der Luft“31. Dabei kann die historische Rückschau im Rahmen des Einsatzes polarer Denkfiguren auf der einen Seite überraschende genealogische Befunde zeitigen. So schreibt Aby Warburg in einer Notiz von 1907 offenbar verwundert: „Vor allem sehe ich, daß der von mir als geprägtes Eigentum empfundene Begriff der Polarität auch bei Goethe im Centrum

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mathematischer Prinzipienwissenschaft und der Suche nach einer metaphysischen Begründung als „erstaunliche Kontinuität“ auch nach der kritischen Wende durchhält. (Brigitte Falkenburg: Kants Kosmologie. Die wissenschaftliche Revolution der Naturphilosophie im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.  M. 2000, S.  14) Eine ähnliche Kontinuitätsthese in Bezug auf die dynamische Naturtheorie findet sich auch bei Hartmut und Gernot Böhme. (vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a. M. 1985, S. 91) Rolf Christian Zimmermann, der ansonsten zweifelsohne die wichtigste Studie zu den historischen Quellen des Polaritätsdenkens um 1800 besorgt, trennt hier aus ideengeschichtlicher Perspektive Kants Projekt von Newton und betont strikt eine „Alternative zur wissenschaftlichen Weltsynthese des Newtonianismus“ (Rolf Christian Zimmermann: Goethes Polaritätsdenken im geistigen Kontext des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 304-347, hier: S. 317). F.W.J.  Schelling, Von der Weltseele, S.  77. Der Verweis darauf, dass die „Alten“ (die Vorsokratiker, vor allem aber ist die hermetische Tradition angesprochen) bereits ein Denken in gegenstrebigen Kräften vorbereitet haben, läuft aber nicht auf eine Reaktivierung des hermetischen spiritus mundi hinaus, was der Titel Von der Weltseele zunächst zu suggerieren scheint. Statt einer Übernahme substanzmetaphysischen Beseelungsdenkens dient der Rekurs auf ältere Polaritätsmodelle diskursstrategisch der Legitimation eines Kräftedenkens, das in Abgrenzung zu mechanistischen Materietheorien eben ‚an der Zeit‘ sei. Detlef Thiel, Maßnahmen des Erscheinens, S. 132. An anderer Stelle heißt es bei Thiel: „Um die Wende zum 20. Jahrhundert erlebt jene Denkfigur eine neue, noch kaum erforschte Konjunktur.“ (Detlef Thiel: Vorweg. In: ders.: Experiment Mensch. Friedlaender/Mynona Brevier. Herrsching 2014, S. 7-16, hier: S. 10).

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steht.“32 Auf der anderen Seite ist vor allem in neuromantischen Kreisen eine problematische ‚diskursive Renaissance‘ polarer Figuren, Bilder und Motive zu beobachten. Die Rezeption spätromantischer Polaritätsformeln scheint hier nochmal eine ganzheitliche Weltsicht zu versprechen, indem sie an der Schwelle der Moderne die Wiedersprüche der Zeit in eine differenzielle Ordnungsfigur eintragen. Benjamin und Friedlaender sind gegenüber solchen unmittelbaren Applika­ tionen älterer Polaritätsmodelle auf die eigene Zeit vorsichtig. Friedlaender formuliert das deutlich in Schöpferische Indifferenz: „Von alters her ist man an den Gedanken gewöhnt, in der Welt Gegensätze, Widersprüche, Dualismen, Polaritäten – und also ebensosehr gewisse Vermittlungen, Versöhnungen, Monismen, Indifferenzierungen, ja Identifikationen walten zu lassen. Diese Tradition ist aber fruchtlos, solange man sie nicht durch diese neue Aussaat zum Blühen bringt.“ (F/M 10, 123)

Dieses ‚Neuaufblühen‘ betrifft die Möglichkeiten der Aktualisierung der im denkgeschichtlichen Archiv abgelagerten Motive, Figuren und Bilder der Polarität für ein auf die Gegenwart ausgerichtetes Erkenntnisinteresse. Friedlaender experimentiert bereits in seinen Schriften vor 1918 mit verschiedenen Möglichkeiten der Aktualisierung polarer Denkfiguren. Seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Polarität ist aber durchaus ambivalent. In einem Brief an Salomon Samuel vom 24.1.1915 schreibt er: „Wir schlagen alle Tradition in den Wind, in dem sie schweben lernt.“ (F/M 24, 358) Dieses ‚Schweben‘ ist programmatisch für Friedlaenders Umgang mit der „uralte[n] Formel“ (F/M 18, 118) der Polarität. Auf der einen Seite beruft er sich in unterschiedlichen Intensitätsgeraden auf Heraklit, Kant, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche, da auch ein auf Aktualisierung ausgerichtetes Polaritätsdenken „zur Kräftigung eigener Autorität, mindestens solange diese noch jung ist, fremder, älterer bedarf“ (F/M 2, 138). Auf der anderen Seite durchzieht seine Schriften ein durchgehend kritischer Blick auf diese Tradition, allen voran auf die „Verwirrungen, worin man sich hier [im Polaritätsdenken, K.D.] seit alters und besonders seit den Tagen der deutschen Romantik befindet“ (F/M 10, 123). Detlef Thiel geht daher davon aus, dass Friedlaender zwar „viele Väter, aber eher Stiefväter“33 hat.

32 33

Zit. nach Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a. M. 1984, S. 326. Detlef Thiel: Von Schopenhauer und Nietzsche durch Ernst Marcus zu Kant – und über Kant hinaus … Der unbekannte ‚Dr. S. Friedlaender‘. In: F/M 2, S. 17-114, hier: S. 27.

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Kapitel 2

Adorno betont in Bezug auf Benjamin wiederum, dass „[s]eine entschei­ denden Abweichungen vom traditionell-philosophischen Denken“ gerade da ausfindig zu machen sind, „wo er dessen Impulse weitertreibt“34. Damit stellt sich aber die Frage, wie sich diese Ambivalenz aus aneignender Bezugnahme und Abweichung gestaltet. Benjamin hat mit seinen vielfältigen theoretischen Überlegungen beispielsweise zur Übersetzung und mit Konzepten wie dem ‚Eingedenken‘ oder dem ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘ unterschiedliche Modelle und Register der Aneignung, des ‚Fortlebens‘ und der ‚Aktualisierung‘ für seine spannungsgeladenen Bezugnahmen auf die Historie, die Tradition abendländischen Denkens, ästhetische Programme oder mystische/mythologische Quellen entwickelt. Als „dialektische Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangener Zusammenhänge“ dienen diese Denkmodelle Benjamin stets zur „Probe auf die Wahrheit des gegenwärtigen Handelns“ (WB V.1, 495) und sind also darauf ausgerichtet „die Tradition aus der Gegenwart heraus zu erleuchten“ (Br III, 444).35 Benjamin und Friedlaender geht es damit in vergleichbarer Weise darum, ihre Anknüpfungen, Rückbezüge und Wiederaufnahmen auf den erkenntniskritischen Prüfstand zu stellen, um den heuristischen Wert solcher Aktualisierungen für eine zeitdiagnostische Schreibweise zu befragen. 3. Funktionalisierungen: Die vielfältigen Rückbezüge auf die Geschichte polarer Denkfiguren werfen die Frage auf, wie überhaupt aus einem Denkmodell an der epistemischen Schnittstelle von Naturphilosophie resp. Naturspekulation und Naturwissenschaft, das es um 1800 vorwiegend war, eine zeit- und kulturdiagnostische Denkfigur zu Beginn des 20.  Jahrhunderts werden kann. Das führt zu dem dritten Aspekt, der die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren betrifft: Die nachfolgenden Zuspitzungen auf einige wenige problemgeschichtliche Knotenpunkte ermöglichen es zu zeigen, dass die unterschiedlichen diskursiven Karrieren nicht nur als reaktive Wahrnehmungseffekte von je zeitspezifischen Problemstellungen zu verstehen sind. Vielmehr werden mit ihnen selbst wiederum Darstellungsweisen der spannungsgeladenen Schwellensituationen zwischen neuen Ordnungsformen und latent wirksamen Restbeständen alter Ordnungen modelliert. Diese funktionsgeschichtliche Perspektive macht deutlich, dass polare Denkfiguren 34 35

Theodor  W.  Adorno: Vorrede. In: Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt a. M. 1973, S. 7-11, hier: S. 8f. Im Kapitel  4 wird der Schwerpunkt aber weniger direkt auf diesen gut erforschten Konzepten liegen als vielmehr darauf, wie Benjamins Bemühungen um eine kritische Aktualisierung polarer Denkfiguren für seine zeitdiagnostische Denk- und Schreibweise in unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Rezeption der Schriften Friedlaenders stehen.

Aktualität – Rekurs – Funktion

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an epistemischen, politischen, sozialen, ästhetischen Schwellensituationen zu Ordnungs- und Orientierungsfiguren sui generis werden und damit letztlich immer wieder auch zu geschichtsphilosophischen Kategorien, die eine spezifische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geben. Im Hintergrund dieser Perspektive steht im Allgemeinen Ernst Cassirers Studie über den Wechsel vom Substanz- zum Funktionsbegriff.36 Der Zeitraum dieses Übergangs wird in Hinblick auf die Polarität hier aber vorverlegt auf die Zeit um 1800. Im Kapitel 2.1 wird sich das exemplarisch an einer markanten zeitdiagnostischen Funktionalisierung innerhalb einer geschichtsphilosophischen Reflexion bei Novalis begründen lassen. Zudem lassen sich diese Funktionalisierungen aus der Geschichte der Polarität selbst ableiten, gehören sie doch mindestens seit der Zeit um 1800 konstitutiv zu der Geschichte polarer Denkfiguren. Damit handelt es sich mit der hier eingenommenen historischen Perspektive nicht bloß um eine der eigentlichen Untersuchung vorgelagerte theoretische Vorgeschichte oder einen ideengeschichtlichen Hintergrund. Mit den unterschiedlichen funktionalen Transformations- und Übersetzungsphänomenen befinden wir uns vielmehr in medias res, denn sie sind integraler Bestandteil der zeitspezifischen Einsatzpunkte polarer Denkfigur. Die Voraussetzung für solche Funktionalisierungsstrategien sind diskursive Zirkulationsmöglichkeiten. Hier zeigt sich, dass die Geschichte polarer Denkfiguren mindestens seit der Zeit um 1800 interdisziplinär und interdiskursiv geprägt ist. Daher lässt sich die Geschichte der Funktionalisierung polarer Denkfiguren auch nicht unter einer reinen Wort- oder Begriffsgeschichte fassen.37 Ohnehin deckt sich die reine Wortgeschichte nicht mit der 36 37

Vgl. Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. In: ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, hg. v. Birgit Recki. Hamburg 2000. Das Problem einer rein begriffsgeschichtlichen Perspektive wird an dem kurzen Eintrag zu ‚Polarität‘ im Historischen Wörterbuch der Philosophie (HWPh) deutlich. Der Artikel setzt mit der ‚polarity‘ im Englischen Mitte des 17. Jahrhunderts als Bezeichnung für die „Erscheinungsweisen des Magnetismus“ und dem französischen ‚polarité‘ in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein, um anschließend unmittelbar zur deutschen romantischen Naturphilosophie und dem spekulativen Gebrauch von Polarität als „allgemeines Interpretationskonzept“ überzugehen. (Peter Probst: ‚Polarität‘. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.  7. Basel 1989, Sp. 1026-1029, hier: Sp. 1026) Naturwissenschaftliche Einsatzpunkte der Polarität werden zwar mit dem Magnetismus zu Beginn des Artikels kurz angedeutet, allerdings nachfolgend nicht mehr weiter ausgeführt, sodass entscheidende diskursive Interferenzen und Kommunikationsräume zwischen Naturphilosophie und -wissenschaft, Erkenntniskritik und Ästhetik vor allem für die Zeit um 1800 unberücksichtigt bleiben.

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Kapitel 2

Geschichte polarer Denkfiguren. So sind beispielsweise Heraklit, Newton und Kant wichtige Stationen in dieser Geschichte, ohne das Wort Polarität explizit benutzt zu haben. Aber auch innerhalb der Begriffsgeschichte wäre die ausschließliche Perspektive auf Begriffsverwendungen unzureichend, schließlich ist Polarität als Begriff für wechselseitige Spannungsverhältnisse nicht singulär, sondern steht selbst wiederum innerhalb eines spannungsgeladenen Begriffsfeldes. In diesem Sinne hat Helmut Gipper folgende Liste aufgestellt, in der Polarität zu verorten ist: „Es seien hier – in alphabetischer Reihenfolge – einige Ausdrücke angeführt, die zu beachten sind: Antagonismus, Antinomie, Antithetik, Binarismus, Binarität, Dualismus, Dualität, Gegensatz, Komplementarität, Kontradiktion, Kontraposition, Kontrapunktik, Korrelativität, Opposition, Paarigkeit, Polarität, Widerspruch, Widerstreit.“38

Da innerhalb dieses semantischen Feldes alle genannten Begriffe eine je spezifische Form von Spannung in der Zweigliedrigkeit bzw. im Widerspiel zweier Phänomene bezeichnen, wird es offensichtlich zunehmend schwierig, den historischen Gehalt und die spezifischen Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren allein begriffsintern zu bestimmen. In Hinblick auf den Begriffsumfang scheint Friedlaender in seiner Biographie über Julius Robert Mayer gerade diese Unschärfe des Begriffs der Polarität als einen produktiven Faktor seiner Anwendbarkeit hervorzuheben. So schreibt er dort, dass unser Sprechen nicht immer rein logisch-explikativ funktioniere, sondern immer auch „Reibung“ (F/M 12, 258) enthalte, in denen „Bild, Gedanke, Gefühl, Rausch, Figur, Seele, Ding“ (ebd., 273) zusammenwirken und damit zu Definitionsversuchen führen, die immer „nur vergleichsweise, nur annähernd, nur uneigentlich, indirekt, nur ‚bildlich‘“ (ebd.) sind. Diese produktive Unschärfe des Begriffs könne aber gerade, so Friedlaender weiter, „einerseits Windbeutelei, anderseits schmerzhaft strenge Solidität“ (ebd., 258) vorbeugen. Diese weder rein spekulativen noch starr formalisierenden, sondern diskreten Anwendungsmöglichkeiten verortet Friedlaender explizit im Zwischenbereich aus Begriffsförmigkeit und Bildlichkeit. Für eine problemgeschichtlichen Zugang bedeutet diese logisch-explikative Unschärfe eine Verschiebung der Frageperspektive vorzunehmen, mit der man sich den historischen Ausformungen polarer Denk- und Schreibweisen 38

Helmut Gipper: Polarität in der Sprache. In: Gudrun Höhl/Herbert Kessler (Hg.): Polarität als Weltgesetz und Lebensprinzip [=Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V., Bd. 3]. Mannheim 1974, S. 134-145, hier: S. 135.

Aktualität – Rekurs – Funktion

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besser näheren kann als aus einem ausschließlich begriffsgeschichtlichen Blickwinkel. Statt des Versuches, die Substanzfrage ‚Was ist Polarität?‘ in rein logischer Begriffsexplikation zu beantworten, verlangt gerade der Blick auf die produktive Dynamik polarer Denkfiguren an den Schnittstellen unterschiedlicher Disziplinen und Diskurse eine modale Fragestellung: Wie werden polare Denkfiguren um 1800, um 1900 und in den 1920er und 30er Jahren funktional eingesetzt? Diese Verschiebung der Fragerichtung hat den Vorteil, dass damit zugleich die problematische Angabe eines genealogischen ‚Ursprungs‘ etwa im Sinn eines ‚Lehrsatzes‘ oder einer ‚Urformel‘ obsolet wird.39 Hier hat in den letzten Jahren auch ein verstärkt kulturwissenschaftlich motiviertes Interesse an Begriffsgeschichte angeknüpft, indem die Forderung erhoben wurde, Begriffsgeschichte für diskurs-, metaphern- und mediengeschichtliche Aspekte zu öffnen.40 39

40

Statt kontinuierende ideengeschichtliche Verläufe zu konstruieren lassen sich mit der modalen Fragestellung vielmehr kleinteiligere kritische Genealogien nachzeichnen, mit denen sowohl Sprünge, Diskontinuitäten, Differenzen, Abbrüche, Zerstückelungen, Auflösungen berücksichtigt als auch Wiederholungen, Reprisen, Verwandlungen, Übersetzungen, Modifikationen und Mutationen beobachtet werden können. Als ein Gegenmodel zu einer Geschichtsschreibung, die auf „lineare Genesen“ und eine „gleich bleibende[…] Finalität“ ausgerichtet ist, hat Michel Foucault sein genealogisches Verfahren auf eine solche modale Perspektive verpflichtet. (Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band II (19701975), hg. v. Daniel Defert/François Ewald. Frankfurt a. M. 2002, S. 166-191, hier: S. 166). Dass es sich in der Geschichte polarer Denkfiguren eher um vielfältige Ursprünge handelt, zeigt auch die Studie Polarity and Analogy des britischen Altphilologen G.E.R Lloyd. In seiner Studie über die Struktur von Polarität und Analogie als Argumentationsfiguren bietet Lloyd „an analysis of the way in which these two admittedly very general schemata were used in early Greek speculative thought” wobei er die methodischen und logischen Ansätze im vorsokratischen Polaritätsdenkens gerade an der Schnittstelle von allgemeinen kosmologischen Spekulationen und konkreten (phänomenologischen) Naturbeobachtungen verortet. (G.E.R. Lloyd: Polarity and Analogy. Two Types of Argumentation in Eaely Greek Thought. Cambridge 1966, S. 7). Indem er die Fragmente der bekannten vorsokratischen Philosophen und hippokratische Traktate heranzieht, zeigt er quellennah, dass polares Gegensatzdenken sowohl in allgemeinen kosmologischen Spekulationen, in der Betrachtung konkreter Naturphänomene als auch als symbolische Denkform zirkuliert ohne einen einzigen originalen Ursprungsort angeben zu müssen. Zu nennen sind außerdem religiöse Rituale (Polarität von heilig-profan), proto-positivistische Erklärungen der Meteorologie (Oppositionen von kalt-warm, hell-dunkel, nass-trocken) oder Polarität als Ausdruck und Repräsentationsformel für soziale Organisationsformen (oben-unten). (vgl. ebd., S. 26-46). Im Rahmen dieses neuen Interesses für Begriffsgeschichte wurde der Versuch unternommen, sowohl metaphorische Übersetzungsakte einzubeziehen als auch die Idee einer vom ursprünglichen Begriffsgehalt ausgehenden kontinuierenden Geschichte

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Kapitel 2

Nachfolgend werden für die Zeit um 1800, um 1900 und der Weimarer Republik die unterschiedlichen diskursiven Karrieren polarer Denkfiguren unter den drei skizzierten Gesichtspunkten präzisiert. Für das untersuchungsleitende Interesse an Benjamins und Friedlaenders Positionen in dem diffusen intellektuellen Feld der Weimarer Republik ist dieser ‚umwegig‘ gestaltete historische Zugang aus zwei Gründen bewusst gewählt. Auf der einen Seite stehen Benjamin und Friedlaender, wie noch zu zeigen sein wird, in kritischer Distanz zu den omnipräsenten Polarisierungsrhetoriken in den 1920er und 1930er Jahren, mit den verschiedene Intellektuelle auf die Krisensymptome der Zeit reagieren. Beide eignen sich kaum als Repräsentanten dieser allgemeinen diskursiven Redeweisen. Auf der anderen Seite reagieren beide aber auf diese allgemeine Konjunktur, indem sie sich, wie bereits erwähnt, von ihr mit erkenntniskritischen Bezügen auf verschiedene historische Ausprägungen polaren Denkens absetzen. Ein Blick ausschließlich auf das intellektuelle Feld der Weimarer ohne historische Tiefendimension verkürzt hier also den Zugang zu Benjamin und Friedlaender. Statt Benjamins und Friedlaenders Einsatz polarer Denkfiguren also bloß im Zusammenhang mit zeitgenössischen rhetorischen Zuspitzungen zu lesen, ermöglicht die historische Einordnung, präzise den Ort der zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren bei beiden anzeigen zu können. Oder anders formuliert: Während sich beide auf der einen Seite bewusst von allgemeinen diskursiven Redeweisen über Polarität in den 1920er und 30er Jahren abzugrenzen versuchen, sind sie auf der anderen Seite in den größeren Zusammenhang einer Funktionsgeschichte polarer Denkfiguren einzuordnen, zu deren Akteuren sie gehören.

zugunsten einer „Untersuchung kulturell manifester Bedeutsamkeiten im Horizont ihrer Geschichte“ zu ersetzen. (Ralf Konersmann: Komödie des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte. Frankfurt a.  M. 1999, S.  18) Im Fokus stehen damit die verschiedenen „Etappen und Episoden der Wortreise“ (ebd., S. 12), an denen sich unterschiedliche semantische Gehalte in den Begriff einspeisen und in Bezug auf verschiedene Phänomene funktionalisiert werden. Zu diesem neuen kulturwissenschaftlichen Interesse an Begriffs Geschichte vgl. auch Ernst Müller (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch. (=Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2004). Hamburg 2005; Ernst Müller/Falko Schmieder: Einleitung. In: dies.: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin 2016, S.  11-29. Dass es hier Schnittmengen auch zur Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks gibt, wird deutlich bei: Hans Erich Bödeker: Ausprägungen der historischen Semantik in den historischen Kulturwissenschaften. In: ders. (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002, S. 7-27.

Aktualität – Rekurs – Funktion

2.1

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Zwischen Bild und Begriff. Zum epistemologischen Schwebezustand der Polarität um 1800 (Kant, Schelling, Novalis)

Bevor es im 20. Jahrhundert zu aktualistisch begründeten Einsätzen der Polarität im Feld des Politischen kommt, werden polare Denkfiguren um 1800 zunächst zum genuinen Schauplatz von epistemischen Umbruchsprozessen und zirkulieren dabei zwischen verschiedenen Diskursen und Disziplinen. Insbesondere an der Schnittstelle zwischen Naturphilosophie und -wissenschaft, Erkenntnistheorie und Ästhetik entfalten polare Denkfiguren hier ihre epochale Wirksamkeit. Um 1800 betreffen die epistemischen Umbrüche allen voran die Ordnung des Wissens selbst. Denn mit der zunehmenden Verzeitlichung des Wissens, die sich auf die Naturphänomene, die wissenschaftlichen Konzepte und die einsetzenden Disziplinbildungsprozesse gleichermaßen auswirkt, werden die statischen Klassifikationssysteme etwa eines Carl von Linné mit ihrer Vorstellung einer hierarchisch organisierten scala naturae fragwürdig. Angeregt durch einen neuen Lebensbegriff entsteht die Notwendigkeit für dynamische Ordnungsprinzipien, die die Zeit als Faktor phylogenetischer Entwicklungsprozesse innerhalb der Darstellung der nunmehr auf natürlichen statt künstlichen Prinzipien aufbauenden Natursystematik einzubeziehen vermag.41 In der umfangreichen Forschung zu dieser Umbruchszeit wird immer wieder neben dem neuen Lebensbegriff auch das stark beschleunigte Anwachsen empirischen Datenmaterials betont, das in die räumlich vorgestellten klassischen Systematiken und in traditionelle Ordnungsbilder wie demjenigen von der ‚Kette der Wesen‘ nicht mehr ohne den Verlust von Übersichtlichkeit implementiert werden kann. Wollte man in die ‚Kette der Wesen‘ immer noch ein zusätzliches Binde- oder Zwischenglied einfügen, verliert das Bild der Kette zunehmend an Darstellungsplausibilität.42 Das Ende der klassischen 41

42

Zum Übergang von der Naturgeschichte zur Geschichte der Natur vgl. Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1978; Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.  M. 1974, S.  279-287 und passim. Vgl. für die Stellung der romantischen Naturforschung innerhalb dieses Umbruchsprozesses Dietrich von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg/München 1979, S. 103-158. Stellvertretend sei hier eine Anmerkung bei Lepenies angeführt: „Zwar hatten immer schon quantitative Erweiterungen des Wissens zu Veränderungen wissenschaftlicher Methoden, Techniken und Theorien geführt, doch beschleunigt sich dieser Wissenszuwachs nunmehr so sehr, daß die herkömmlichen informationsverarbeitenden Techniken, die – in enger Anlehnung an die Methoden der klassischen Naturgeschichte – vor allem auf einer räumlichen Anordnung des Wissensbestandes beruhen, nunmehr

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Kapitel 2

Arbeitsteilung von Naturgeschichte und Naturlehre wird zudem von einem disziplinären Ausdifferenzierungs- als Institutionalisierungsprozess der Wissenschaften begleitet, durch den die Wissensgegenstände nicht bloß auf die einzelnen Disziplinen je nach Zuständigkeitsbereich arbeitsteilig aufgeteilt werden. Vielmehr initiieren Verzeitlichungs- und Disziplinbildungsprozesse noch viel grundlegender eine „prinzipielle Reorganisation der Kategorien“43, die für die Experimentalphysik einen neuen Begriff von Empirie ermöglicht, der nicht mehr an den „passiv-rezeptiven Begriff von Empirie“44 in der Naturgeschichte gebunden ist. Die Experimentalwissenschaften werden fortan das Verhältnis von gegebenen Fakten und der Suche nach Ursachen reorganisieren, indem sie „Experimentalproblemen eine experimentell entscheidbare Form“45 geben und so einem rein logisch-begrifflichen Unterscheidungsmodus ein reflektiertes, auf Sinnlichkeit ausgerichtetes Szenario von Anschauungs- und Beobachtungsituationen gegenüberstellen. Damit entbindet dieses ‚polymorphe Ensemble unterschiedlich intensiver Transformationsprozesse‘46

43 44 45 46

in ihrer Kapazität erschöpft sind.“ (Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S. 16f.). Zur Geschichte der ‚Kette der Wesen‘ vgl. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a. M. 1985. Für die Krise des Ketten-Bildes und zum Entstehen anderer Bildfelder für eine dynamische Systematisierung vgl. Gian Franco Frigo: ‚Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation.‘ Von der Naturgeschichte zur Naturphilosophie um 1800. In: Olaf Breidbach/Paul Ziche: Naturwissenschaft um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S.  27-45. Frigo macht deutlich, dass nicht bloß ein Bild durch ein anderes ersetzt wird, sondern die Suche nach anderen Vorstellungsarten einerseits mit der entstehenden Idee einer dynamischen Vorstellung naturimmanent wirkender Kräfte zusammenhängt und andererseits daraus resultiert, dass zunehmend Variationen, Unterbrechungen, Störungen und Zufälligkeit statt Kontinuität und Fülle in den Blick der Forschung geraten. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt a. M. 1984, S. 12. Vgl. ebd., S. 23. Ebd. Dass es sich nicht um eine einmalige Revolution des Wissensbegriffs und der Disziplinen handelt, hat Wolf Lepenies (mit Berufung auf Hans Robert Jauss) etwa daran gezeigt, dass sich der neue Zeitbegriff erst allmählich über einen Metaphernwechsel vollzieht. So wird nicht einfach die Kreis-Metapher durch das Bild einer Linie ersetzt, sondern findet in der Spirale zunächst einen Kompromiss, der den Übergang zu neuen Zeitvorstellungen langsam vermittelt (vgl. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, S.  26-28). Auch Dietrich von Engelhardt betont den schrittweisen und langsamen Charakter dieses Wandlungsprozesses hin zu einer umfassenden Temporalisierung der ganzen Natur, indem etwa zunächst die Erde historisiert wird, ehe dann auch eine Übertragung auf die Lebewesen allmählich stattfindet. (Dietrich von Engelhardt, Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus, S. 82). Das gilt auch für experimentalwissenschaftliche Forschung um 1800: Heiko Weber hat gezeigt, dass gerade durch das Experimentieren mit der (ihren Grundprinzipien nach) nicht-sinnlichen

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zunehmend die erfahrungsbasierten modernen Experimentalwissenschaften von den starren klassifikatorischen Schematisierungsforderungen und eröffnet neue wissenschaftspraktische Möglichkeiten.47 Exemplarisch für den besonderen Status der Polarität im Rahmen dieser Umbruchsprozesse um 1800 ist Schellings Prämisse in seiner Schrift Von der Weltseele (1798): „Es ist erstes Prinzip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen Natur auf Polarität und Dualismus auszugehen.“48 Um 1800 sind es dynamische Naturkonzepte, die von dieser Polarität ausgehen, indem dort ein naturimmanentes Strukturprinzip nicht mehr primär von der Materie aus gedacht wird, sondern von der die ganze Natur durchziehenden Wechselwirkung zweier entgegengesetzter, polarer Kräfte, die als grundlegendes Bewegungsgesetz aller Naturvorgänge betrachtet werden. Diese polaren Wechselwirkungen der Grundkräfte werden mithin bereits tendenziell als Relationsgefüge und nicht mehr als substanzmetaphysische Entitäten gedacht,

47

48

Elektrizität, diese Experimente „sowohl was die Forschungsprogramme, als auch was die Forschungsmethoden anbelangt, in einer ins 18. Jahrhundert zurückweisenden Tradition des Experiments“ eingebunden sind (Heiko Weber: Die Voltaische Säule in der Diskussion. Eine Petitesse zu Achim von Arnim und Johann Wilhelm Ritter. In: Olaf Breidbach/Roswitha Burwick (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? München 2012, S. 103-119, hier: S. 103). Auf ähnliche Weise hält Haru Hamanaka bereits für Lichtenbergs Experimente mit der Elektrizität fest, dass eine strikte Trennung von Naturgeschichte und Naturlehre weder für Lichtenberg noch die Romantiker auszuweisen ist. Naturgeschichte und -lehre scheinen vielmehr im Verhältnis einer „duale[n] Korrelation“ zu stehen. (Haru Hamanaka: Erkenntnis und Bild. Wissenschaftsgeschichte der Lichtenbergischen Figuren um 1800. Göttingen 2015, S.  77) Gerade im Akt der (literarischen) Beschreibung der Formen der ‚Lichtenbergischen Figuren‘ wird die Naturgeschichte dort erneut wirksam, wo eine auf Experimentalanordnungen basierende Forschung an die Grenzen der Erklärbarkeit der im Experiment hervortretenden Wirkungen stößt. Die naturgeschichtliche Beschreibung bleibt dort forschungspraktisch relevant, wo eine neue Experimentalkultur auf den epistemischen Wert der Bilder und Visualisierungsverfahren angewiesen ist, die zunächst nur beschrieben werden können, weil die Ursache selbst sinnlich nicht erfassbar ist. Dass diese erzählerischen, beschreibenden Verfahren der klassischen historia naturalis auch noch in der Moderne eine bedeutsame Rolle spielen, hat dann Tanja van Hoorn gezeigt, indem sie die ‚Naturgeschichte nach der Naturgeschichte‘ sogar als „‚Motor‘ der Moderne“ bezeichnet (Tanja van Hoorn: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W.G. Sebald. Göttingen 2016, S. 68). Diese enge Kopplung von naturphilosophischen und -wissenschaftlichen Fragestel­ lungen ergibt sich um 1800 gerade daraus, dass die experimentalwissenschaftlichen Forschungspraktiken eine neuartige „Verhandlung von Bedingungen, von Formaten und Darstellungsweisen in der Ökonomie zeitgenössischen Wissens bieten“, die über die konkreten Entdeckungen hinaus auch die Frage nach dem Zusammenhang der Natur stellen. (Sabien Schimma/Joseph Vogl: Vorwort. In: dies. (Hg.): Versuchsanordnung 1800. Zürich/Berlin 2009, S. 7-12, hier: S. 11). F.W.J. Schelling, Von der Weltseele, S. 151.

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Kapitel 2

was wiederum auch Auswirkungen auf die Ordnung der Dinge als solche hat: Die Vorstellung von der Relationalität der Phänomene erfordert eine Reorganisation des Wissens innerhalb einer nun immer stärker dynamisch verstandenen Systematik des Wissens.49 Unbestritten sind in diesen epistemischen Umbauprozessen die Erkenntnistheorie und die Naturphilosophie Immanuel Kants. Indem er im Zuge seiner kritischen Wende die Frage nach der grundsätzlichen Erkenn- und Darstellbarkeit von Naturkräften stellt, hat er das epochale erkenntnistheoretische Problem für alle dynamischen Naturkonzepte der Zeit formuliert. Während er in der Theorie des Himmels noch relativ frei, wenngleich mit Rücksicht auf die mathematische Unschärfe,50 von der Annahme zweier Kräfte ausgehen konnte, wird diese Annahme nun kritisch auf die Frage der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis dieser Kräfte zurückgebunden. In der Kritik der reinen Vernunft heißt es dazu: „Die Idee einer Grundkraft, von welcher aber die Logik gar nicht ausmittelt, ob es dergleichen gebe, ist wenigstens das Problem einer systematischen Vorstellung der Mannigfaltigkeit von Kräften.“51 Transzendentalphilosophisch gewendet besteht das Problematische in der Idee von Grundkräften der Natur für Kant nun darin, dass der Verstand die Verknüpfungsleistung des Mannigfaltigen unter der Idee eines Ganzen der Natur als ihrem System nicht leisten könne, da er auf Anschauung angewiesen sei. Die bestimmende Urteilskraft vermag nur dann Besonderes unter einem Allgemeinen unterzuordnen, wenn dieses Allgemeine bereits gegeben ist. Das aber, so Kant, treffe auf die Vorstellung des Ganzen der Natur als Idee ohne 49

50

51

In diesem Zusammenhang hat beispielsweise Jonas Maatsch für den frühromantischen Wissenschaftsbegriff herausgearbeitet, dass das Denken in relationalen, differenziellen statt substanzontologischen Ordnungskategorien mit einer neuen Vorrangigkeit von konkreten sinnlichen Daten gegenüber abstrakten Merkmalen einhergeht. Dabei spiele auch die von Newton abgelehnte Hypothesenbildung wieder eine stärkere Rolle; allerdings weniger als bloße Spekulation denn als heuristisches Instrument im Rahmen einer dynamisierten Wissensordnung. (vgl. Jonas Maatsch: ‚Naturgeschichte der Philosopheme‘. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext. Heidelberg 2008). „Überhaupt kann die größte geometrische Schärfe und mathematische Unfehlbarkeit niemals von einer Abhandlung dieser Art verlangt werden. Wenn das System auf Analogien und Übereinstimmungen nach den Regeln der Glaubwürdigkeit und einer richtigen Denkungsart, gegründet ist: so hat es allen Forderungen seines Objekts genug getan.“ (Immanuele Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. In: ders.: Werkausgabe, Bd. I.: Vorkritische Schriften bis 1768, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 31982, S. 219-400, hier: S. 243 [A XLIX]). Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd.  2. In: ders.: Werkausgabe, Bd. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 568 [B 677].

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Anschauung nicht zu. Daher könne „das Allgemeine […] nur problematisch angenommen“52 werden, sodass die Idee von den Grundkräften letztlich nur als eine regulative Hypothese über „die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse“53 Wirksamkeit zu entfalten vermag. Der Verstand garantiere zwar die Möglichkeit der Naturanschauung unter apriorischer Gesetzmäßigkeit durch die Kategorien, lege damit aber nur die erkenntnisleitenden Rahmenbedingungen fest, unter denen gesetzesmäßige Erfahrung der Natur überhaupt möglich werde, also „als die Bedingung, unter welcher alle Gegenstände unserer (der menschlichen) Anschauung notwendigerweise stehen müssen […].“54 Nur in Hinsicht auf die „formale Möglichkeit“55 ist der Verstand für Kant demnach „Quell der Gesetze der Natur“56. Der Verstand könne zwar die einzelnen Naturgesetze apriorisch durch die Bestimmung möglicher Erfahrung festlegen, aber die Subsumtion des Mannigfaltigen unter einem Ganzen der Natur als System nicht leisten. Diese Vorstellung des Ganzen weist Kant als eine Vernunftidee aus, für die keine korrespondierende Anschauung gegeben ist.57 Der Gebrauch der Idee von Grundkräften, über ihre denkökonomische Praktikabilität hinaus als „inneres Gesetz der Natur“, könne daher nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ sein: „Diese Vernunfteinheit aber ist bloß hypothetisch.“58 Das Allgemeine, unter dem das Mannigfaltige zusammengefasst werden soll, ist selbst nicht gegeben, sodass die Urteilskraft nicht bestimmend verfahren kann. Indem Kant den Problemstatus der Kraft damit auf die kritische Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis bezieht, verpflichtet er den Kraftdiskurs um 1800 auf einen „focus imaginarius“59, der das Denken in polaren Kräften um 1800 bestimmt. Mit der Bestimmung der Wechselwirkung zweier polarer Grundkräfte wird Kant zum entscheidenden Initiator der Karriere dynamischer Krafttheorien um 1800. Zugleich regt seine epochale Grenzziehung in Bezug auf 52 53 54

55 56 57 58 59

Ebd., S. 567 [B 674]. Ebd. [B 675]. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, S. 148 [B 150]. In der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe schreibt Kant hier kurz danach noch deutlicher: „Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben.“ (ebd., S. 157 [B 165]) Ebd., S. 181 [A 127]. Ebd. „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transzendentale Ideen.“ (ebd., S. 331 [B 383]). Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, S. 569 [B 677]. Ebd., S. 565 [B 672].

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Kapitel 2

die Erkenntnismöglichkeiten überhaupt aber auch zum Widerspruch an und seine Überlegungen zu einem konstitutiven „focus imaginarius“ führen zu einer Debatte über Wahrnehmungs- und Anschauungsweisen des Ganzen der Natur, mithin der systematischen Einheit von Teilen und Ganzem, von Subjekt und Objekt, von Natur und Denken. Aus unterschiedlicher Richtung wird der Anspruch formuliert, die dem „Problem einer systematischen Vorstellung“60 zugrundeliegende kantische Differenz von Sinnlichkeit und Verstand zu überwinden. Der Versuch, mit Kant über Kant hinauszugelangen, resultiert aus dem Vorwurf bzw. dem an Kants Kritiken empfundenen Ungenügen, wonach der „Mangel an Systematizität […] im Mangel eines einigen obersten Prinzips begründet [sei].“61 Eckart Förster hat gezeigt, dass sich vor allem an den §§ 76 und 77 der Kritik der Urteilskraft die philosophische Diskussion um einen anderen Zusammenhang von Anschauung und begrifflichen Denken entzündet.62 Für das ‚Ganze der Natur‘ hat Kant in diesen Paragraphen nochmals das oberste Prinzip als ein nur für unser subjektives Denken mögliches und notwendiges und daher in Bezug auf die Objektivität nicht konstitutives, sondern regulatives Prinzip im Modus des ‚als ob‘ reformuliert.63 Zugleich ruft Kant im § 77 allerdings mit den für unser verstandesmäßiges Erkennen zwar nicht erreichbaren, aber dennoch vorstellbaren Vermögen eines ‚intuitiven Verstandes‘ und der ‚intellektuellen Anschauung‘ zwei Erkenntnisformen auf, durch die sich dann der Versuch der Überwindung der Differenz von Anschauung und Denken selbst in Form einer kritischen Weiterführung in das transzendentalphilosophische Projekt im Anschluss an Kant einschreiben kann.64 Der „focus imaginarius“, auf den Kant das Denken des Wechselspiels polarer Grundkräfte verpflichtet hat, wird damit zugleich um 1800 zum Schauplatz eines produktiven Problembewusstseins für einen modernen, dyna­ mischen Wissenschaftsbegriff, an dem erkenntnistheoretische, experi­men­ talwissenschaftliche und ästhetische Strategien gleichermaßen teilhaben.65 60 61 62 63 64

65

Ebd., S. 568 [B 677]. Manfred Frank: ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997, S. 48. Vgl. Eckart Förster: Die Bedeutung von  §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), S. 167-190 [Teil 1] und S. 321-345 [Teil 2]. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werkausgabe, Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, S. 357f. [B344]. Dass es sich dabei um zwei Erkenntnisformen handelt, die in der Kant-Forschung häufig synonym verwendet werden, zeigt Förster sehr deutlich. (vgl. Eckart Förster, Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie, S. 177-180). In diesem Zusammenhang wurde in der Forschung auch bereits an mehreren Stellen die Ansicht revidiert, wonach insbesondere die romantische Naturphilosophie auf die mit

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An diesen epistemischen Umbrüchen setzt Schellings Naturphilosophie an.66 In seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 formuliert er das epochale Problem, an dem sich die dynamischen Polaritätstheorien um 1800 abarbeiten, folgendermaßen: „Keine Untersuchung war für die Philosophen jeder Zeit von so vielem Dunkel umgeben, als die über das Wesen der Materie.“67 Die kritische Distanz gegenüber mechanischen Materietheorien

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den epistemischen Umbrüchen einhergehende Erfahrung des „Verlust[s] der Einheit“ überwiegend mit naturmystisch orientierten Ursprungs- und Einheitsspekulationen reagiert hätte. (Manfred Frank, Unendliche Annäherung, S. 28) Jürgen Daiber betont, dass der „Glaube an die Einheit der Natur“ und die Suche nach einer „Urformel, Ursubstanz, Grundfigur“ nicht allzu leichtfertig als reine Spekulation abseits der naturwissenschaftlichen Forschungen abgetan werden kann. (Jürgen Daiber: Die Suche nach der Urformel: Zur Verbindung von romantischer Naturforschung und Dichtung. In: Aurora 60 (2000), S. 75-103, hier: S. 76) Wenn die Romantiker das „Prinzip der Polarität zu ihrem Leitprinzip [machen], dessen Struktur ihrer Auffassung nach allen Dingen der Natur eingeprägt ist“ (ebd., S.  78), dann ergibt sich der produktive Status der Polarität als heuristisches Erkenntnisprinzip gerade an der diskursiven Schnittstelle von experimenteller Naturwissenschaft, erkenntniskritisch fundierter Naturphilosophie und der Kunst. Im Rahmen dieser Arbeit kann Schelling nur kur als Repräsentant polarer Denkweisen um 1800 erwähnt werden, ohne näher auf ihn eingehen zu können. Es wird aber nochmals kurz im Abschnitt  2.3 hinsichtlich der Funktionalisierung der Polarität auf ihn zurückzukommen sein. Für einen allgemeinen Überblick sei hier auf die im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe als Ergänzungsband zu Schellings naturphilosophischen Schriften herausgegebenen wissenschaftshistorischen Berichte von Manfred Durner (‚Theorie der Chemie‘), Francesco Moiso (‚Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus‘) und Jörg Jantzen (‚Physiologische Theorien‘) verwiesen. (vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ergänzungsband zu den Werken Band 5 bis 9. Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften, hg. v. Hans Michael Baumgartner/ Wilhelm G. Jacobs/Hermann Krings. Stuttgart 1994). F.W.J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (21803). In: ders.: Werke. Historischkritische Ausgabe, Reihe I/Bd.13, hg. v. Manfred Durner/Patrick Leistner. Stuttgart 2018, S. 259. Diese Aussage ist eine typische Reaktion auf das allenthalben wahrzunehmende Ungenügen, das an mechanistischen Materietheorien empfunden wird. Schelling kritisiert, dass den mechanischen Theorien „voraus[ge]setzt“ habe, „was man zu erklären versucht […].“ (ebd.) Um diesen Erkenntniszirkel zu entkommen, legt Schelling nahe, die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen als solche zu überdenken, und zwar dadurch, dass die aller Materie zugrundeliegenden Grundkräfte nicht mehr bloß ontologisch vorausgesetzt, sondern auf die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten hin befragt werden. Hier bleibt Schelling im Horizont des Kantischen „focus imaginarius“ und schreibt: „Kraft überhaupt ist ein bloßer Begriff des Verstandes, also etwas, was unmittelbar gar kein Gegenstand der Anschauung sein kann.“ (ebd., S. 263) In unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Unanschaulichkeit steht das grundsätzliche Problem, das Schelling als die Grundaufgabe Naturphilosophie adressiert: Wie kann dem Ganzen der Natur überhaupt das Prädikat des Seins zugeschrieben werden, wenn dieses Ganze unter den Vorzeichen einer dynamischen Naturanschauung nur als unendlicher Prozess zu denken ist?

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Kapitel 2

steht im Zeichen konkreter experimentalwissenschaftlicher Forschungen:68 Insbesondere an den, durch neue physikalische und chemische Versuche in veränderter Weise auf der experimentalwissenschaftlichen Agenda erscheinenden, Phänomenen von Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität stoßen die mechanistischen Kausalerklärungen an eine Grenze. Diese als Imponderabilien bezeichneten Phänomene lassen sich nicht mehr umstandslos mit einem Ursache-Wirkungs-Modell der Bewegung durch Druck und Stoß in der res extensa erklären. Als Reaktion hierauf wendet sich das Interesse auch in konkreten Experimenten verstärkt auf zunächst hypothetisch angenommene Grundkräfte als Bewegungsursache. Die neu entstehenden Theorien über die Imponderabilien, die als „Kritik an der mechanistischen Naturphilosophie“ formuliert werden und sich „offensichtlich als Befreiung von der überschweren Last der mathematischen Physik“69 verstehen, hatten für die dynamischen Krafttheorien katalysatorische Wirkung.70 Stefan Höppner betont gar, dass die Erforschung der Imponderabilien zur „Schlüsselaufgabe der romantischen Naturforschung“71 wird. Insgesamt entwickelt sich an den Imponderabilien um 1800 eine Faszination für Erscheinungen, die in einer unsichtbaren Tiefenstruktur wirken und die Hoffnung auf die Entdeckung eines „universellen inneren Agens der Natur“72 anregen. Damit entspinnen sich an der Frage nach dem ontologischen Status der Imponderabilien und der in ihnen wirkenden Kräfte nicht nur Anstrengungen zu ihrer mathematischen Quantifizierung und damit Verwissenschaftlichung, sondern eben auch ein spekulatives Begehren nach den naturalen Ur-kräften überhaupt (natura naturans). Da man an den Imponderabilien durch Experimente zwar unterschiedliche Effekte sichtbar machen, jedoch nicht die zugrundliegende Wirkursache direkt erkennen konnte, motivierte das Wahrnehmungs- und Darstellungsproblem, das aus der Unanschaulichkeit „eines unsichtbaren Anwesenden“73 resultiert, 68

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Die Diskussion zum Status des Experiments wird hier nicht weiterverfolgt werden können. Für die im Hintergrund der Debatte stehenden Annahmen über das Experiment sei hier verwiesen auf die Zusammenfassung bei Jürgen Daiber, Experimentalphysik des Geistes, S.59-67. Wolfgang Bonsiepen, Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie. Frankfurt a. M. 1997, S. 235. Zu den Imponderabilien im wissenschaftshistorischen Kontext vgl. ebd., S.234-272. Stefan Höppner: Natur/Poesie. Romantische Grenzgänger zwischen Literatur und Naturwissenschaft – Johann Wilhelm Ritter, Gotthilf Heinrich Schubert, Henrik Steffens, Lorenz Oken. Würzburg 2017, S. 86. Benjamin Specht, Physik als Kunst, S. 28. Michael Gamper: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870. Göttingen 2009, S. 63. Zur Faszination, die sich damit an Magnetismus und Elektrizität bindet, heißt es bei

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vor allem ästhetische Strategien, die aus wissenspoetologischer Perspektive in den letzten Jahren intensiv erforscht wurden.74 Michael Gamper hat in diesem Zusammenhang in seiner Studie Elektropoetologie vor allem den produktiven Status des Nicht-Wissens für die Schnittstelle aus experimentalwissenschaftlicher Forschungspraxis, wissenschaftstheoretischen Fragestellungen und ästhetischen Darstellungsstrategien herausgearbeitet, wobei sich zwischen Wissen und Nicht-Wissen ein experimentelles, instrumentell-apparatives und ästhetisches Feld des Hervorbringens aufspannt, indem der Status der Elektrizität zwischen sinnlich wahrnehmbaren Effekten und strikt naturgesetzlichen Erklärungen prekär bleibt. Gamper hat diesen prekären Status an anderer Stelle auch als ein ‚Wissen auf Probe‘ bezeichnet.75 In den Praktiken der Wissensgenerierung um 1800 sind ästhetische Darstellungsverfahren demnach in entscheidender Weise involviert. Die Kunst und die Poetisierung der Natur werden dabei immer wieder zum Fluchtpunkt einer anderen Naturerkenntnis, in der sich der Zusammenhang der Natur symbolisch ausdrücken soll.76

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Olaf Breidbach: „Nun ist die Elektrizitätslehre nur eine Marginalie im Gesamtprozess der Wissenschaft. Das, was diese Lehre aber so interessant macht, ist die Tatsache, dass hiermit erstmals ein Phänomen analysiert und in seinen Effekten beobachtet werden konnte, das an sich, in seiner eigentlichen Substanz, den Sinnen des beobachtenden Menschen verschlossen schien.“ (Olaf Breidbach: Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800. In: Ernst Müller/Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin 2008, S. 345-364, hier: S. 352). Vgl. bspw. Michael Gamper, Elektropoetologie; Benjamin Specht, Physik als Kunst, Stefan Höppner, Natur/Poesie. Vgl. Michael Gamper: Wissen auf Probe. ‚Verborgene Ursachen‘ in Elektrizitätslehre und Literatur. In: Sabine Schimma/Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnung 1800. Zürich/Berlin 2009, S. 51-68. G.  Gabriel, H.  Hühn und T. v. Zantwijk halten hier in Bezug auf das Problem und die Möglichkeit der Einheit des Wissens fest, dass eine solche Einheit „nicht als propositionales Wissen erfasst und dargestellt werden kann.“ (Gottfried Gabriel/Helmut Hühn/Temilo van Zantwijk: Heuristik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Poesie. In: Olaf Breidbach/Klaus Manger/Georg Schmidt (Hg.): Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Paderborn 2015, S. 187-218, hier: S. 187) Für die Zeit um 1800 betonen sie außerdem: „Nichtpropositionale Erkenntnis durch Witz und intellektuelle Anschauung und literarische Darstellungsformen der Philosophie hängen systematisch zusammen und ergänzen die propositionale wissenschaftliche Weltauffassung.“ (ebd.) Vgl. hier auch grundsätzlich den Sammelbad von Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990. Stefan Metzger wiederum hat die Problematik von Einheit und Ganzheit des Wissens in seiner umfangreichen Studie vom diskursiven Status konjekturaler Wissensformen um 1800 in den Blick genommen. Metzger geht es darum, eine Forschungsprämisse zu revidieren, wonach das späte 18. Jahrhundert auf einer „bruchlosen, organischen, quasi systematischen Sinnganzheit“ basiere. (Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten

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Kapitel 2

Ästhetische Darstellungslogiken und bildliche Ausdrucksweisen werden somit zu einem bevorzugten Ort dessen, was man als ein kollektives epistemisches Begehren nach der Erkenntnis der Grundkräfte der Natur nennen könnte. Und gerade dort, wo Dichtung und Kunst durch ihre evokative Kraft katalysatorische Wirkung für dynamische Naturanschauungen inmitten der epistemischen Schwellenzeit entfalten, kann Polarität als heuristische Denkfigur besonders produktiv werden, weil sie selbst stets ihre eigene ‚Erkenntnisschwelle‘ in der Ambivalenz zwischen Begriffskalkül und Bildformel präsent hält. Schellings Reflexionen über einen grundlegende polare Wirkweise von Naturkräften sind ein besonderes markantes Beispiel dafür, wie spekulative Naturphilosophie und experimentalwissenschaftliches Erkenntnisinteresse miteinander korrespondieren. Dass beide Seiten eine produktive Wechselwir­ kung entfalten, hat Olaf Breidbach in seinen zahlreichen Studien zur speku­ lativen Physik und zur epistemologischen Situation in Weimar und Jena um 1800 nachgewiesen. Zu diesen konkreten forschungspraktischen Zusammenhängen schreibt er: „Die eingehendere Analyse zeigt diese spekulative Philosophie direkt eingebunden in das Bemühen um eine neue Wissenschaftlichkeit, in der dann auch in diesen Diskussionen unser modernes Bild von wissenschaftlicher Rationalität erwuchs. Im 18. Jahrhundert wird die Diskussion um die rein innernaturale Bestimmtheit der Ordnungsmuster des Lebendigen leitend.“77

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18. Jahrhundert. München 2002, S. 13) Vielmehr binden sich in der Zeit an die „Funktion des Organismus als Modell des Opaken“ (ebd., S. 14) Praktiken des rationalen Vermutens, Mutmaßens und Entwerfens mit nur vorläufiger, provisorischer Geltung. Dabei betont auch Metzger die konstitutive Involviertheit nicht-propositionalen Wissens: „Im konjekturalen Denken kulminieren das Programm einer ars inveniendi, eines ästhetischen Kalküls des Konkreten und Dunklen, eine pragmatisch-konsensuelle Relativierung von Geltungsansprüchen, ein dezidiert interdiskursives Verfahren – und nicht zuletzt auch eine ausgeprägte Tendenz, diese Faktoren nicht nur auf der Ebene der Propositionen, sondern auch in den Schreibweisen und Textstrategien explizit zu machen.“ (ebd., S. 16f.). Olaf Breidbach/Roswitha Burwick: Einleitung: Physik um 1800: Kunst, Wissenschaft oder Philosophie – eine Annäherung. In: dies. (Hg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? München 2012, S. 7-18, hier: S. 12. Am Beispiel von Jena als Knotenpunkt dieses epistemologischen Wandlungsprozesses heißt es weiterhin dort: „Die in Jena um 1800 verhandelten Konzepte stehen am Anfang der Konsolidierung der uns heute in den Wissenschaften bestimmenden Vorstellungen und Strukturen.“ (ebd., S.  7). An anderer Stelle schreibt Breidbach: „Polarität […] ist ein Begriff der Physik um 1800. Diese Physik operiert in den für sie vor 1800 noch weitgehend unstrukturierten Bereichen der Elektrizitätslehre und des Magnetismus mit Analogien. Dieses Analogisieren hat eine heuristische Funktion und wird zum methodischen Ansatz einer eben nicht deduktiv, sondern induktiv heuristisch vorgehenden Experimentalforschung. Polarität und Analogie sind also nicht durch eine spekulative Philosophie, d.h. in deduktiver Hinsicht,

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Mit dieser Perspektive kann Breidbach die Allianz von Spekulation und Empirie für die Suche nach einer neuen Wissenschaftssystematik darlegen. Zudem zeichnet diese Perspektive nicht nur ein differenziertes Bild von den konkreten diskursiven Verflechtungen um 1800, sondern hat auch Konsequenzen für den Blick auf die spätere Konsolidierung der exakten Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, vor allem nach 1830. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird damit jenes ‚Gründungsnarrativ‘ zweifelhaft, das sich die exakten Naturwissenschaften als Selbstlegitimierung in ihrer Abgrenzung zur spekulativen Naturphilosophie um 1800 gegeben haben. Herbert Schnädelbach betont, dass gerade die „Polemik der empirisch-mathematischen Naturforschung gegen die Naturspekulation“78 den Konsolidierungspakt der ‚exakten Naturwissenschaften‘ darstellt. Allerdings handle es sich hier in der Tat nur um ein Selbstbild und nicht um die tatsächlichen wissenschaftsgeschichtlichen Umwandlungsprozesse.79 In der oben genannten Doppelung aus Spekulation und Experimentalwissenschaft hat die Frühromantik vielmehr erhebliche Vorarbeit geleistet, die jenen Transformationsprozess der Wissenschaften einleiten, der im 19. Jahrhundert neue Disziplinen und ein neues methodisches Fundament erhält. In ihrem doppelten Einsatzpunkt bezeichnen polare Denkmodelle um 1800 damit nicht den letzten metaphysischen Syntheseversuch der Wissenschaften, der vom positivistischen 19. Jahrhundert aus als anachronistische Täuschung immer schon erledigt erscheint. Vielmehr bildet der romantische Polaritätsdiskurs um 1800 die entscheidende Nahtstelle im Entwicklungsprozess des modernen Wissenschaftssystems. Das Bewusstsein, diese Schwelle zu besetzen, artikuliert sich nicht nur an dem Einsatz der Polarität für eine moderne, dynamische Naturanschauung, sondern zugleich auch in der geschichtsphilosophischen Funktionalisierung

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in die Physik eingebracht worden, vielmehr hat die Physik selbst mit diesen Begriffen und dem durch sie repräsentierten methodischen Programm einen neuen, traditionell unbesetzten Gegenstandsbereich erschlossen.“ (Olaf Breidbach/Gerhard Wiesenfeldt, Könnte nicht also auch die Erdkugel ein großer Turmalin sein?, S. 35). Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a. M. 1983, S. 102. „Vertraut man nur diesem Bild“, so führt Herbert Schnädelbach hierzu aus, „dann gewinnt man den Eindruck, als habe sich in Deutschland erst nach Hegel die erfahrungswissenschaftliche Naturforschung aus den Klauen haltloser Spekulationen befreit und dann in der modernen Gestalt allgemein durchgesetzt.“ (ebd., S.  101) Diese „Polarisierung“ (ebd., S.  102) ist das allerdings mehr ein Produkt der Selbstinszenierung als Ausdruck der tatsächlichen Entwicklungen, in denen die Rolle der romantischen Naturforschung, so Schnädelbach weiter, nicht überschätzt, aber eben auch nicht unterschätzt werden dürfe. Schnädelbach plädiert daher dafür, den Übergang vom Ende des 18. Jahrhunderts zur Forschungssituation nach 1830 als eine ‚fließende Grenze‘ zu betrachten. (vgl. ebd., S. 101).

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Kapitel 2

polarer Denkfiguren für die Erkenntnis der epochalen Schwellensituation als solcher. Dieser zeitdiagnostisch motivierte Übersetzungsprozess lässt sich exemplarisch an einer geschichtsphilosophischen Aufzeichnung aus Novalis’ Allgemeinen Brouillon zeigen. Polare Denkfiguren dienen Novalis dort letztlich dazu, die Probleme, Krisen, epistemischen Umbrüche, Transformationsprozesse und damit insgesamt die Signatur der Zeit in ihrer Spannung aus alten Ordnungselementen und neuen dynamischen Wissensformen darstellbar zu machen. Unter der 97. Aufzeichnung notiert Novalis: „Was ist eigentlich Alt? Was Jung? Jung – wo die Zukunft vorwaltet. Alt – wo die Vergangenheit die Übermacht hat. Jung und alt – polare Praedicate der historischen Substanz. (Die Accidenzen sind immer polarisch.) Kein Alterthum, ohne Jugendthum – und umgek[ehrt]. Alt entspricht dem Starren. Jung – – – dem Flüssigen. Das Alte ist das Gebildete – plastisch. Das Junge – – – das Bewegliche – Gemeinsame. Wenn sich Historien berühren, so werden beyde polarisch. Das Karacterisirende lößt sich in jedem. (nach Wernerscher Farbenterminologie) Hier wird das Alterthum der karacterisirende Bestandtheil – dort das Jugendthum. /Anwendung dieser letzten neuen Ansicht der Polaritaet auf die übrigen Polaritaeten./ Physik der Historie. /Physik des Raums./“80

Dass diese Notiz in Novalis’ umfangreicher Materialsammlung zu seinem enzyklopädischen Großprojekt unter dem Titel Gesch[ichts]Lehre rubriziert ist, deutet auf ihren methodischen Stellenwert. Zunächst fällt auf, dass Novalis das Verhältnis von Alt und Jung weder an eine auf den ersten Blick naheliegende zyklisch-biologische Geschichtsvorstellung ausrichtet noch an ein Renaissancemodell bindet, in dem Altes als ‚Vorbild‘ aus der ‚Versteinerung‘ wiedererwacht.81 Stattdessen scheint Novalis mit der „Anwendung“ der Polarität die Vorstellung eines historischen Bewegungsgesetzes zu forcieren, das sich gerade durch die spannungsgeladenen ‚Berührungs‘-Punkte und 80

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Novalis: Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99). In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd.  3: Das philosophische Werk II, hg. v. Richard Samuel, in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz. Darmstadt 1986, S. 258f [Nr. 97]. Erst in einer späteren Aufzeichnung über Hist[orik] wird Novalis doch noch auf eine biologische Bildformel zurückgreifen. Dort heißt es zur Idee einer ‚symbolischen Verjüngung‘: „In jedem Großhistorischen Gliede muß gleichsam die große Geschichte symbolisch verjüngt liegen.“ (ebd., S. 321 [Nr. 433]).

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wechselseitigen Durchdringungen von Alt und Neu, Vergangenheit und Gegenwart, „Alterthum“ und Moderne auszeichnet. Die geschichtliche Dynamik wird damit selbst in einen polaren Gegensatz eingespannt: es wird kein reiner Fortschritt verzeichnet, sondern eine Bewegung, die permanent zwischen dem „Starren“ und dem „Flüssigen“ changiert. Bezieht man die Notiz zudem auf eine kurz darauffolgende Eintragung zu den mathematischen „Infinitinomische[n] Polaritaeten“82, wird noch deutlicher, welche Funktion die polare Konfrontation zwischen Alt und Jung einnimmt: „Ich verstehe eine Größe, wenn ich in ihrer Aequation auf der anderen Seite eine Function der Gegengröße habe.“83 Im Sinne einer historischen ‚Aequation‘ hätte die Geschichtsschreibung dann die historische Zeit stets zugleich an zwei Zeigern abzulesen, nämlich dem latent nachwirkenden Alten und dem sich Bahn brechenden Neuen. Der Interferenzraum zwischen beiden Zeigern wäre dann der Ort („Physik des Raums“), an dem „beyde polarisch“ und folglich als aufeinander bezogene Gegengrößen verstehbar werden. Das geschichtsphilosophische Argument im Zeichen einer „Physik der Historie“ läuft damit darauf zu, dass Altes und Neues, Vergangenheit und Gegenwart in ihrer polaren Spannung einen ins Unendliche gehenden und damit immer neu herzustellenden wechselseitigen Aufklärungs- und Verstehenszusammenhang stiften. Als „polare Praedicate“ werden sie zu Momenten einer erkenntnistheoretisch produktiven ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘. Wenn der Ort dieses spannungsreichen Aufeinandertreffens die Gegenwart ist, wird diese bei Novalis nicht explizit aufgeführt, sondern scheint in ihrem prekären Status zwischen den Zeiten höchstens typographisch als zugleich verbindender und trennender Gedankenstrich zwischen „Alterthum“ und „Jugendthum“ markiert zu sein. Eine ähnliche historische Funktionalisierung der Polarität für das Spannungsverhältnis von Altem und Neuem konnte schon am Ende des Kapitels  1.3 bei Benjamin und Friedlaender beobachtet werden. Indem Novalis Polarität für die Dynamik geschichtlicher Prozesse einsetzt, nimmt er diese Übersetzung bereits vorweg. Diese Übertragung nennt er selbst auch die „Anwendung dieser letzten neuen Ansicht der Polaritaet auf die übrigen Polaritaeten“.84 Damit wechselt der Status der Polarität von einem Konzept 82 83 84

Ebd., S. 261 [Nr. 111]. Ebd. Der in den Klammern gegebene Hinweis auf Novalis’ Freiberger Bergakademie-Lehrer Abraham Gottlob Werner kann hier nicht weiterverfolgt werden. Für einen kurzen Überblick über die Bedeutung Werners in Novalis’ Enzyklopädistik vgl. u.a. die Anmerkungen John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der ars combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München 1978, S.  72-74; Ulrich Stadler: ‚Ich lehre nicht, ich erzähle.‘ Über den Analogiegebrauch im Umkreis der Romantik. In: Athenäum.

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Kapitel 2

zur Beschreibung von Naturkräften zu einem Reflexionsbegriff, der die grundlegenden Transformationen, Wandlungen und Verschränkungen historischer ‚Kräfte‘ der Zeit in den Blick nimmt. Aus einem Naturmodell wird damit eine Meta-Figur, die den historischen Prozess als spannungsgeladenes Ensemble alter und neuer Ordnungselemente einzufangen versucht. In der Übertragung auf die Frage der historischen Verortung der eigenen Zeit werden polare Denkfiguren zum Schauplatz eines Problembewusstseins über die eigene Zeit als Schwellen- und Umbruchszeit. In polare Denkfiguren können damit epochale Problemstellungen eingetragen werden, die den spannungsgeladenen Zustand der Zeit zwischen Altem und Neuem als Signatur der Epoche ausweisen. Somit kann sich das zeitdiagnostische Potential polarer Denkfiguren dort entfalten, wo die Herstellung einer polaren Spannungsbeziehung zwischen Altem und Neuem eine vorläufige Ordnung und Orientierung innerhalb von Umbruchserfahrungen ermöglicht. Polarität stiftet einen Bildraum, der diese Doppelbewegung in Schwellenzeiten zu illustrieren vermag: Zwischen porös gewordener alter Ordnung der Dinge und dem noch prekären Status einer neuen Zeit. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die diskursive Karriere polarer Denkfiguren um 1800 durch drei Faktoren bestimmt ist. Erstens wird Polarität auf der Ebene naturwissenschaftlicher Experimentalforschung und spekulativer Naturphilosophie zu einer Agentin diskursiver Übergänge, indem an ihr eine dynamische Ordnung der Natur und des Wissens erprobt wird. Zweitens erfüllt sie diese Rolle gerade durch eine gleichermaßen epistemologische wie ästhetische ‚Unschärfe‘, die sich in ihrem Schwebezustand zwischen Bild und Begriff manifestiert. Drittens wird Polarität auf eine gewissermaßen ‚meta-figürlichen‘ Ebene zu einer geschichtsphilosophischen Kategorie, die zur Darstellung der historischen Umbrüche und Wandlungsprozesse dient. Alle drei Faktoren legen es nahe, die Geschichte und die Einsatzformen der Polarität mit dem Begriff der ‚Denkfigur‘ zu perspektivieren. Eine ausführliche Untersuchung der „‚Denkfigur‘ Denkfigur“85 hat Erich Kleinschmidt vorgelegt.

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Jahrbuch für Romantik 3 (1993), S. 83-105, hier: S. 99-100.; Allgemein zu Werner vgl. Wolf von Engelhardt: Wandlungen des Naturbildes der Geologie von der Goethezeit bis zur Gegenwart. In: Jörg Zimmermann (Hg.): Das Naturbild des Menschen. München 1982, S. 45-73, hier: S. 51-53; Michaela Haberkorn: Naturhistoriker und Zeitenseher. Geologie und Poesie um 1800. Der Kreis um Abraham Gottlob Werner (Goethe, A. v. Humboldt, Novalis, Steffens, G.H. Schubert). Frankfurt a.M 2004. Auf das Verhältnis von Farbenlehre und Polarität wird im Rahmen von Benjamins Rezension zur Neuausgabe von Goethes Farbenlehre am Ende des Hauptteils A noch zurückzukommen sein. (Vgl. Kap. 4). Erich Kleinschmidt: Übergänge: Denkfiguren. Köln 2011, S. 35.

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Vor dem unscharfen begriffs- und ideengeschichtlichen Hintergrund des Begriffs versucht Kleinschmidt die spezifische Funktionsweise von ‚Denkfiguren‘ sowohl historisch als auch systematisch dadurch zu schärfen, dass er sie im Rahmen diskurstheoretischer Überlegungen zur „Genese und Struktur wissenschaftlicher Beschreibungssprachen“86 untersucht. Als „Beitrag zu einer spezifizierten Diskurstheorie“ werden ‚Denkfiguren‘ bei ihm als Schauplatz „abstrakter Sprachfindungsprozesse im ‚figürlichen Verstande‘“ behandelt.87 Innerhalb dieser figürlichen Sprachfindungsprozesse zeichnen sich ‚Denkfiguren‘ für Kleinschmidt in mehrfacher Hinsicht durch eine diskursive Dynamik aus: ‚Denkfiguren‘ sind zum einen diskursiven Ordnungen vorgelagert. Sie tauchen dort auf, wo ein Mangel an Beschreibungsformen identifiziert wird und das Bedürfnis nach neuen Ordnungskategorien des Wissens entsteht. ‚Denkfiguren‘ können sich dann in einem bestimmten Diskursfeld ausbreiten, besitzen aber zugleich die Fähigkeit, „durch Ausdifferenzierung ein eigenes neues Diskursfeld“88 zu etablieren. Kleinschmidt geht es damit vor allem um die „Querungen und Kreuzungen im historischen Diskurssystem“89. Drei Charakteristiken lassen sich für die ‚Denkfigur‘ unterscheiden, die mit den drei obengenannten Aspekten der Polarität um 1800 korrespondieren. Erstens: Im Gegensatz zur Beschreibung der Polarität als Metapher, die einen primären Bildspender voraussetzt, den es weder in der Geschichte der Polarität insgesamt noch in der interdiskursiven Zirkulation um 1800 gibt, setzt der Begriff der ‚Denkfigur‘ den Fokus an einer „definitorische[n] Ungenauigkeit 86 87 88 89

Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd. Kleinschmidt setzt sich dabei intensiv mit Michel Foucault auseinander und betont, dass Foucault zwar mit dem ‚diskursiven Ereignis‘ die Spur für die innerdiskursiven Transformationsdynamiken gelegt habe, zugleich sei allerdings der spezifische „Ablauf zwischen Denkbewegungen und Diskursen“ von Foucault „nicht thematisiert“ worden. (ebd., S. 40) An diesen Schwellen setzt Kleinschmidt an, lautet doch der Titel seiner Arbeit nicht zufällig Übergänge: Denkfiguren. Als „Bewegerin der Diskurse“ (ebd.) versucht Kleinschmidt weniger die innerdiskursiven Aussageregeln, mithin die Architektur und Ordnung des Wissens selbst nochmals in den Blick zu nehmen, sondern die Momente ihrer Modifikation, Transformation und Umgestaltung. Implizit liegt hier die Annahme zugrunde, dass man mit Foucaults diskursarchäologischer Methode zwar sehr präzise und systematisch Aussageformationen analysieren könne, aber weniger die Übergänge und Veränderungen in den Blick bekomme. Die ‚Denkfigur‘ ist nach Kleinschmidt Schauplatz solcher Übergänge, die sowohl bewusst als auch unbewusst sein können. So heißt es weiter bei Kleinschmidt: „Den Umschlagpunkt steuern Denkfiguren in einem komplexen Ablöse- und Erweiterungsprozess, der sich bei einer diachronen Betrachtung intellektueller Entwicklungsprozesse einmal als das Ergebnis zufälliger Konstellation, ein andermal als das Zielkonzept gewollter Steuerung zeigt.“ (ebd., S. 41).

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Kapitel 2

von Begriff“90 an. In der Ungenauigkeit von Begriffen (genauer gesagt: der nicht rein logischen, sondern sprachlichen Verfasstheit) erkennt Kleinschmidt aber „kein Defizit, sondern sie ist mit ihrer mäandernden Zwischenposition von Gegenständlichkeit und Erkenntnismittel, von Inhalt und Wesen, von Vorstellung und Wörtlichkeit geradezu die Voraussetzung aller Begriffsbildung und ihrer sprachlichen Repräsentation.“91 Der zugrundeliegende Schwebezustand zwischen begrifflicher und sinnlicher Erkenntnis ist für die Geschichte polarer Denkfiguren konstitutiv. Zweitens: Kleinschmidt zeigt, wie sich in Denkfiguren um 1800 unterschiedliche Diskurse kreuzen und wie unterschiedliche Phänomene über Bedeutungsbildungsprozesse an der Schnittstelle von Begriffsarbeit und sinnlicher Anschauung in Diskurse einwandern. Hier entfalten Denkfiguren ihre Wirksamkeit als Motor innerhalb der Formierungsprozesse von intellektuellen Beschreibungs-, Ordnungs- und Orientierungsmodellen. Anhand des Begriffs der Kraft macht Kleinschmidt exemplarisch deutlich, dass solche Überlegungen anhand eines „Sprachkalkül[s] der Übertragungen“92 im 18. Jahrhundert selbst bereits angestellt werden. In Form von Vergleich, Ähnlichkeit oder Analogie werden solche Übertragungen dann auch praktisch erprobt und unterschiedliche Denkfiguren auf ihre diskursive Zirkulationsfähigkeit hin getestet. Mitunter kann sich in diesen Übertragungen dann „sogar ein ‚allgemeiner Begriff‘“ ergeben, der „den diskursiven Pluralitäten einen Rahmen gibt.“93 Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob Polarität als Denkfigur für die heterogenen epochalen Umbruchsdynamiken um 1800 einen solchen ‚Rahmen‘ darstellt. Entscheidend ist hingegen, dass sie ihre Wirkung sowohl innerhalb der konkreten Forschungspraktiken entfaltet als auch als Erkenntnismedium für die im Umbruch befindliche Gegenwart dient, die so als prekärer Ort von gesellschaftlichen, politischen, epistemischen und ästhetischen Spannungen erscheint. Das konnte am Beispiel von Novalis dargestellt werden. In der Spannung von alten und neuen Ordnungsformen geben polare Denkfiguren damit den Blick auf Ordnungsbildungsprozesse als solche in ihren verwickelten, spannungsgeladenen Genesen frei und können so teilweise „selbst wiederum einen Modellfall für Modellfragen abgeben.“94 Hier entfalten polare Denkfiguren ihr erkenntniskritisches Potential dadurch, dass sie den Schwellencharakter einer Zeit in polaren Darstellungen sichtbar machen. Drittens: Da sich das diskursive Zirkulationspotential von 90 91 92 93 94

Ebd., S. 46. Ebd. Ebd., S. 50. Ebd. Friedrich Balke/Bernhard Siegert/Joseph Vogel: Editorial. In: dies. (Hg.): Modelle und Modellierung. (=Archiv für Mediengeschichte 14). München 2014, S. 5-8, hier: S. 5.

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Denkfiguren vor allem daraus ergibt, dass sie immer schon mehrere Herkünfte haben, erlaubt diese ‚multiple Ursprünglichkeit‘ auch Übertragungsprozesse zu beobachten, die über synchrone Übertragungen innerhalb einer diskursiven Formation hinausragen. Polarität ist als Denkfigur nicht nur zeitdiagnostisches Medium der Erkenntnis der Spannungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern ihre Geschichte zeigt, dass ihre Einsatzpunkte selbst immerzu in der Spannung aus Aktualität und Rekurs, Reprisen, Aneignungen und Aktualisierungen älterer Denkfiguren der Polarität bestehen. Diese Übertragungsphänomene sind sowohl in der Zeit um 1900 als auch in der Weimarer Republik zu beobachten. 2.2

Polarität – eine moderne Differenzfigur um 1900? (Ricarda Huch)

Der im vorangegangenen Abschnitt untersuchte frühromantische Polaritätsdiskurs zwischen Naturwissenschaften, Philosophie und Ästhetik bildet nicht das Ende der diskursiven Konjunktur polarer Denkfiguren um und nach 1800. Bezieht man Gernot und Hartmut Böhmes (im Anschluss an Peter von Matt getroffene) Anmerkung, wonach man „die Goethe-Zeit ebenso gut das Zeitalter Mesmers nennen“95 könne, auf das von einem ‚animalischen Magnetismus‘ ausgehende gleichermaßen kosmologisch-spirituell und ‚tiefenpsychologisch‘ motivierte und mitunter auch obskurantistische Interesse an Polaritäten in der Hoch- und Spätromantik, bildet die Frühromantik hier nicht einmal den eigentlichen Höhepunkt. Dem spätromantischen Interesse an Polaritäten im Somnambulismus, im Unbewussten, aber auch als kosmologisches Bewegungs- und Beseelungsprinzip galt lange Zeit vornehmlich die Aufmerksamkeit der Forschung.96 Daher konnte Andreas B. Kilcher noch 1998 bemängeln, dass sich „[a]us der gegenwärtigen Forschungsliteratur […] der Eindruck [ergibt], daß der ästhetische Magnetismus der Romantik ausschließlich auf dem Mesmerismus beruht.“97 95 96

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Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996, S.22. Zum Mesmerismus siehe die Studie von Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995. In Bezug auf die magischen, okkulten Praktiken, die unscharfe Grenze zur Volksmedizin und vor allem die spirituellen Séancen spricht Barkhoff von einer „vorparadigmatischen Phase der Tiefenpsychologie“ (ebd., S. 8); vgl. außerdem Heinrich Feldt: Der Begriff der Kraft im Mesmerismus. Die Entwicklung des physikalischen Kraftbegriffes seit der Renaissance und sein Einfluß auf die Medizin des 18. Jahrhunderts. Bonn 1990. Andreas  B.  Kilcher: Ästhetik des Magnets. Zu einem physikalischen Modell der Kunst in der Frühromantik. In: DVjs 72 (1998), S. 463-511, hier: S. 465. Kilcher betont weiter, dass

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Kapitel 2

Durch die vor allem wissenspoetologische Forschung der letzten 20 Jahre zu den unterschiedlichen frühromantischen Ästhetisierungsformen des Magnets, des Galvanismus und der Elektrizität kann Kilchers Kritik an der Privilegierung spätromantischer Polaritätsdiskurse als überholt angesehen bzw. das von ihm angezeigte Desiderat als weitgehend eingelöst betrachtet werden. Anders verhält es sich indes, wenn man Kilchers kritische Anmerkungen zur Bevorzugung spätromantischen Polaritätsdenkens aus historischer Perspektive auf die Rezeption der Polarität um 1900 bezieht. Hier zeigt sich, dass vor allem mit dem Rekurs auf die spätromantischen Polaritätskonzepte eine ambivalente und teilweise problematische Aneignung stattfindet, die zwischen der Suche nach einer neuen Ganzheitlichkeitserfahrung und der Aktualisierung der Polarität als moderne Differenzfigur schwankt. Diese Rezeption ließe sich zudem in spezifisch historischer Weise, also in Bezug auf die Zeit um 1900, an Karl Heinz Bohrers These anschließen, dass nicht die frühromantischen Ideen „das moderne ästhetische Bewußtsein geprägt haben, sondern daß dies in viel stärkerem Maße durch die spätromantische Form des Phantastischen geschah.“98 Gilt das auch für die diskursive Stellung der Polarität um 1900? Wenn es stimmt, dass Polarität um 1900 als „Motiv […] in der Luft“99 lag, lässt sich der Frage nach der Virulenz der Polarität um 1900 in zweierlei Hinsicht nachgehen: hinsichtlich der ‚aktualistischen Einsatzpunkte‘ und hinsichtlich der unterschiedlichen Rekurse auf romantische Polaritätsfiguren. Zunächst zu den aktualistischen Einsatzpunkten: Es müsste bestimmt werden, worauf die erneute Konjunktur polarer Denkfiguren ‚um 1900‘ überhaupt reagiert. Hier stellt allerdings allein schon die Bezeichnung ‚um 1900‘ letztlich nicht vielmehr als eine Verlegenheitslösung dar, die zwar u.a. durch die These vom ‚langen 19. Jahrhundert‘ (E. Hobsbawm) an Plausibilität gewinnt, letztlich aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass sich kaum eine Zeit durch so mannigfaltige, heterogene Anschauungen, Stile, Programme auszeichnet, die keineswegs unter einem Epochenbegriff subsumierbar sind. Und so können weder ästhetische Kennzeichnungen wie Jugendstil, Impressionismus, Symbolismus, Neuklassik noch die philosophischen bzw. weltanschaulichen Begriffe Vitalismus, Lebensphilosophie, Monismus, Biologismus, Neo-Mystik, Subjektivismus oder Epochensignaturen wie Décadence bzw. Fin de siècle für sich alleine Anspruch darauf erheben, das heterogene Ensemble

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nicht erst „der animalische Magnetismus Gegenstand einer Literarisierung“ in der Spätromantik war, sondern bereits „das physikalische Paradigma des Magnetismus, also die Anziehungskraft und Polarität des Magnetsteins“ in der Frühromantik. (ebd., S. 470). Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 52015, S. 7. Detlef Thiel, Maßnahmen des Erscheinens, S. 132.

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ästhetischer Programme und Weltanschauungen an der ‚Jahrhundertwende‘ zu beschreiben.100 Vor dem Hintergrund dieser unübersichtlichen Gemengelage um 1900 konnten dann auch Polaritäten, polare Spannungsverhältnisse oder auch schlichtweg dichotomisch organisierte Frontstellungen auf unterschiedlichen Ebenen als Reaktion auf verschiedene gesellschaftliche, politische, epistemologische oder ästhetische Problemstellungen zum Einsatz kommen.101 Nachfolgend seien hier nur einige wenige markante Einsatzpunkte in einer losen Reihung benannt. Auf politischer Ebene stand beispielsweise aus sozialistisch-marxistischer Perspektive der Antagonismus zwischen einem sich konsolidierenden wilhel­ minischen Bürgertum und der sich mit der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 wieder offiziell organisierenden Arbeiterklasse im Zentrum. Ferdinand Tönnies wiederum hatte bereits 1887 der polaren Spannung von Gemeinschaft und Gesellschaft eine ganze Schrift gewidmet, die sich auf den um 1900 virulenten polaren Gegensatz von Großstadt und Provinz auswirkte und sowohl die nachfolgende Großstadtlyrik als auch eine neue ‚Heimatkunst‘ beeinflusste. Auf gesellschaftlicher Ebene war sowohl in bürgerlichen als auch in proletarischen Milieus die Geschlechterpolarität nicht nur Gegenstand von theoretischen Erörterungen, sondern auch konkreter Emanzipationsbewegungen. Auf epistemologischer Ebene war es, neben der allgemeinen Grundlagenkrise der Wissenschaft, vor allem der aus der Thermodynamik stammende und sich zu einem kulturellen Deutungsparadigma verselbständigende Entropie-Diskurs, an dem sich die Spannung zwischen einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus und der Vorstellung 100 Der Begriff der ‚Jahrhundertwende‘ ist eine ebenso behelfsmäßige Bezeichnung. Exemplarisch sieht man das in der bekannten Reihe Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur aus dem Metzler-Verlag, wo der Begriff für die Zeit zwischen 1890 und 1910 gewählt wurde und „nur […] eine lose Zeitbestimmung“ adressiert. (Erich Ruprecht/ Dieter Bänsch: Vorwort. In: dies. (Hg.): Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890-1910. Stuttgart 1970, S. VII) Die Herausgeber diskutieren zwar verschiedene Möglichkeiten, um den Begriff der Jahrhundertwende entweder zu spezifizieren oder gar durch einen anderen zu ersetzen, etwa durch den Begriff des Lebens oder demjenigen einer ‚neuen Subjektivität‘, müssen aber letztlich konstatieren, dass eine der wenigen, aber keineswegs für einen starken Epochenbegriff ausreichende Gemeinsamkeit über eine ex-negativo-Bestimmung zu finden ist: dem „Widerspruch zum Naturalismus“ (dies.: Einführung. In: ebd., S. XVII-XLII, hier: S. XVIII). 101 J.A. Schmoll gen. Eisenwerth hat in seinem Vorwort zu einem Sammelband über das Fin de Siècle zwar nicht von Polaritäten gesprochen, aber unter dem Stichwort der ‚Janusköpfigkeit‘ eine umfassende Tabelle von Gegensätzen gebildet, die an der Jahrhundertwende als die Grundkonflikte der Zeit verhandelt werden. (vgl. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Vorwort. In: Roger Bauer u.a. (Hg.): Fin de Siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1977, S. IX-XIII, hier: S. X-XI).

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vom ‚Untergang des Abendlandes‘ (O.  Spengler) entzündete. (Vgl. hierzu auch Kap. 3.1) Auf philosophischer Ebene wiederum waren es vor allem die Spannungen zwischen Leib und Seele und die Polaritäten von Natur und Kultur/Wissenschaft bzw. Religion, die sich im Monismus sowohl auf allgemein weltanschaulicher als auch auf praktisch-organisatorischer Ebene, etwa im Monisten-Bund, auswirkten. Auf ästhetischer Ebene haben neue Aufzeichnungs- und Speichermedien entweder empörende Reaktionen hervorgerufen oder (mitunter emphatisch begrüßte) neue Schreibexperimente angeleitet. Neben allgemeinen Spannungen, wie derjenigen zwischen autonomer und engagierter Literatur oder der schon explizit auf ein polares Verhältnis abgestellten und einflussreichen Schrift Abstraktion und Einfühlung (1907) von Wilhelm Worringer, war aber in ästhetischer Hinsicht wohl keine polare Konstruktion so einflussreich wie diejenige zwischen Apollinischem und Dionysischem, die Friedrich Nietzsche der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik bereits 1872 zugrunde gelegt hatte.102 An der Nietzsche-Rezeption um 1900 lässt sich zudem eine allgemeine Spannung innerhalb der unterschiedlichen politischen, philosophischen und ästhetischen Strömungen festmachen. Denn der Bezug auf Nietzsche spaltet sich hier dergestalt auf, dass Nietzsche auf der einen Seite als Zeuge für die Notwendigkeit einer pessimistischen bis reaktionären Kulturkritik rezipiert und auf der anderen Seite als Vordenker für einen neuen, fortan nunmehr ästhetisch gerechtfertigten Menschen aufgerufen werden konnte. Diese beiden Rezeptionsseiten sind exemplarisch für das, was Cornelia Klinger auf einer allgemeineren Ebene als die durchgängig polare Konstitution der Moderne überhaupt bezeichnet hat. Diese Polarität zeichne sich dadurch aus, so Klinger, dass die für die Moderne konstitutiven Phänomene der ‚Entzauberung‘, der Rationalisierung, der Technisierung, der Beschleunigung, der Ausdifferenzierung und der Objektivierung durchgehend von einer mal strikt antagonistischen, mal stärker kompensierend ausgerichteten ‚Gegenmoderne‘ begleitet ist, der zwar einerseits mit ihren „Themen von Einheit, Ganzheit und Sinn ein unvermeidlich irrationaler, reaktionärer, totalitärer, kurzum antimoderner Zug“103 eigen ist, die aber zugleich gerade durch ihre Gerichtetheit auf die Moderne als eine komplementäre, moderneimmanente Bewegung 102 Dass Nietzsche in dieser Schrift auch auf Heraklits Polaritätsgedanken zurückgreift, zeigt Friedhelm Decher: Nietzsches Metaphysik in der ‚Geburt der Tragödie‘ im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers. In: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 14 (1985), S. 110-125. 103 Cornelia Klinger: Flucht – Trost – Revolte. Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten. Wien 1995, S. 16.

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betrachtet werden muss. Vor allem anhand der Bedeutung der Mystik104 und anhand des Zusammenhangs von Magie und Technik105 wurde in unterschiedlichen Studien gezeigt, wie diese Gegenbewegungen um 1900 zum wesentlichen Bestandteil des Diskurses über die Moderne werden konnte. Diese Doppelbewegung geht zudem einher mit einer hochreflexiven Wahrnehmung der gesellschaftlichen, politischen, sozialen, ökonomischen, technischen, kulturellen und ästhetischen Umbrüche um 1900.106 Erst in der Perspektive auf die Komplementarität beider Bewegungen lässt sich, so nochmal Klinger, die spannungsgeladene Grundkonstitution der Moderne erfassen: „Somit stehen sie [die anti-modernen Gegenbewegungen, K.D.] dem Konzept von Rationalität und dem Prozeß der Moderne entgegen, aber nicht als außerhalb und jenseits der ‚Welt‘, sondern als andersartige Orte innerhalb desselben, entgegengesetzte Pole umgreifenden Zusammenhangs.“107

Klingers Identifizierung dieses als ‚ästhetische Gegenwelt‘ bezeichneten Kom­ plements der Moderne mit dem Romantischen (als „Ort des Romantischen in der Moderne“108) ist allerdings weniger unmittelbar plausibel, sondern 104 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989; Uwe Spörl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn 1997; Klaus Vondung/Karl Ludwig Pfeifer (Hg.): Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der Moderne. München 2006. 105 Reto Sorg: Gestaltwandel der Götzen. Technikkult und Primitivismus in der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. In: ders./Stefan Bodo Würffel (Hg.): Gott und Götze in der Literatur der Moderne. München 1999, S. 59-77; Robert Stockhammer: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur 1880-1945. Berlin 2000. 106 In diesem Zusammenhang wurde unlängst in einem Sammelband gezeigt, dass neben den ausführlich rezipierten Karrieren von Lebensphilosophie, Biologismus oder Mystik für die zeitdiagnostische Frage nach dem Status der eigenen Gegenwart und dem „gesteigerte[n] Bedürfnis nach Selbstvergewisserung“ um 1900 auch eine intensive Rezeption der Aufklärung und ihrer gegenwärtigen Bedeutung einsetzte. (vgl. Georg Neugebauer: Einleitung. In: ders./Paolo Panizzo/Christoph Schmitt-Maaß: ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. Paderborn 2014, S. 9-17, hier: S. 11). 107 Cornelia Klinger, Flucht – Trost – Revolte, S.  18. Dass erst die Perspektive auf die Komplementarität den Rationalisierungsprozessen und ihren Gegenbewegungen gerecht werden kann, bedeutete allerdings nicht, dass Klingers Argument auf eine dialektische Vermittlung, also eine Synthese zuläuft. Ganz im Gegenteil betont Klinger: „[…] statt einander zu komplettieren oder auf den Triumph einer der beiden Seiten hinauszulaufen, addieren sich lediglich die Mängel beider bis zur Unerträglichkeit. Zwischen beiden Polen gibt es keine Vermittlung und Übergänge, dafür aber heimliche Übereinstimmungen bzw. eine unheimliche Konvergenz.“ (ebd. S. 51). 108 Ebd., S. 8.

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markiert vielmehr – neben dem kurz skizzierten ‚aktualistischen Einsatzpunkt‘ – einen zweiten Zugang zur diskursiven Konjunktur der Polarität um 1900: Die Tatsache nämlich, dass das „leidenschaftliche Bedürfnis nach Selbstdeutung“, das als „kennzeichnend für die Bewußtseinslage um 1900“109 bestimmt wurde, mit einem auffällig häufig zu beobachtenden ambivalenten Rekurs auf den Polaritätsdiskurs um 1800 einhergeht. In diesem Zusammenhang hat Karl Heinz Bohrer in seinem Buch über Die Kritik der Romantik dargelegt, dass die Gleichung ‚Romantik = Irrationalismus = Reaktionär = (im Sinne Georg Lukács) Faschismus‘ Resultat einer wirkmächtigen Rezeptionsgeschichte ist, die (von Dilthey eingeleitet) erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa durch Benjamins Dissertation oder durch Ricarda Huchs Buch Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall (1899/1902) langsam aufgebrochen wird. Ohne auf Einzelheiten zu dieser Rezeptionsgeschichte an dieser Stelle näher eingehen zu können, ließe sich Bohrers selbst sehr polar ausgestaltete These (entweder radikale Ablehnung oder emphatische Neubewertung), dadurch historisch differenzieren, dass man beobachtet, wie der Rekurs auf die Romantik über den Einsatz polarer Denkfiguren aus dieser Zeit auf einer gleichsam ‚metareflexiven Ebene‘ ein Geschichtsmodell etabliert, das über Spannungen statt reinen Dichotomien verläuft. Auf dieser Ebene wäre folglich zu untersuchen, ob und wie mit dem Rekurs auf romantische polare Denkfiguren eine polare Spannung wahrgenommen wurde und als Grundlage des eigenen historischen Bewusstseins diente. Sowohl Klingers als auch Bohrers Studie liegt, freilich aus unterschiedlichen Motiven, selbst eine allzu strikt verfolgte, polar organisierte These zugrunde. Statt Polarität aber auf methodischer Ebene zu wiederholen bzw. zu verdoppeln, ließe sich gerade am aktualistischen Einsatz polarer Denkfiguren um 1900 beobachten, wie und für welche Zwecke romantische Polaritätsfiguren herangezogen werden.110 Vor dem doppelten Hintergrund einerseits 109 Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 1-48, hier: S. 6. 110 Diese Perspektive ließe sich weniger von Klinger oder Bohrer her bestimmen als von Karl Mannheim. Dieser hatte zwar zunächst zwischen einer revolutionär gestimmten Frühromantik und einer reaktionären Spätromantik unterschieden und betont, dass das „Konservativwerden eine Stärkung aller jener Tendenzen in ihr [der Spätromantik, K.D.] [bedeutet], die von Anfang an eine Opposition gegen die aufkommende neue Welt bedeuten, so daß die eigentümliche Prägung der deutschen Romantik darin besteht, daß in ihr die ideologische Opposition gegen die moderne Welt immer mehr mit der politischen in Deckung gerät.“ (Karl Mannheim: Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt  H.  Wolff. Berlin/Neuwied 1964, S. 408-508, hier: S. 453) Allerdings räumt Mannheim gleich im Anschluss ein, dass damit

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der diffusen diskursiven Gemengelage mit ihren heterogenen Strömungen, unterschiedlichen Einstellungen und Weltanschauungen, Philosophemen und Ästhetiken und andererseits den rekursiven Imaginationen hätte eine umfassende diskursanalytische Untersuchung dann die spezifischen Regeln des Einsatzes polarer Denkfiguren en détail zu untersuchen.111 Wenngleich diese Analyse vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit nicht zu leisten ist, soll hier dennoch mit Blick auf Ricarda Huchs Romantik-Buch kurz auf einen exemplarische Fall des Einsatzes polarer Denkfiguren eingegangen werden, der gerade deshalb so exemplarisch für die Zeit um 1900 ist, weil an ihm die grundsätzliche Ambivalenz und Uneindeutigkeit eine polare Forschungsperspektive sowohl in Bezug auf das historische Verhältnis von Früh- und Spätromantik als auch die schroffe Gegenüberstellung von Spätromantik und Moderne keineswegs zureichend ist, denn: „Im romantischen Bewußtsein ist das Modern-Rationalistische bereits aufgenommen, aufgehoben. Sie ist eben nicht einfach eine polare, von ganz heterogenen Kräften gespeiste Gegenbewegung, sondern eher einer Pendelbewegung vergleichbar, die bis zu einem extremen Punkt ausschlagend plötzlich rückläufig wird.“ (ebd., S. 453f.) Statt also den Einsatz polarer Denkfiguren in historischer Perspektive zu verdoppeln, gilt es diese „Pendelbewegung“, die Mannheim für die Spätromantik in Anschlag bringt, auch in den Rekursen auf diese Spätromantik um 1900 und damit in Bezug auf die ambivalenten Reaktionsweisen auf die Moderne zu beobachten. 111 Diese Spannung aus Aktualität und Rekurs ist dabei dem spätromantischen Polaritätsdiskurs, auf den sich um 1900 teilweise berufen wird, selbst bereits eigen. So setzt Jürgen Barkhoff in seiner Studie über den Mesmerismus mit der These ein, dass der Mesmerismus keineswegs ein esoterisches und peripheres (oder: anti-modernes) Phänomen darstellt, sondern zum Entstehungsprozess der Moderne gerade dadurch gehört, dass er einen aktuellen Einsatzpunkt mit dem Rekurs vor allem auf die Hermetik verbindet: „[…] indem er [der Mesmerismus,  K.D.] ebenso an vormodernen hermetisch-magischen Wissensformen wie der neuzeitlichen Naturwissenschaft im Gefolge Descartes partizipierte, stand er in seinen spätaufklärerischen wie in seinen romantischen Varianten mitten im spannungsvollen Konstitutionsprozeß der Moderne.“ (Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, S. XII). Explizit betont Barkhoff, dass der Mesmerismus einerseits ein spätaufklärerisches Phänomen und andererseits eines der Hoch- und Spätromantik sei, keineswegs jedoch eines der Frühromantik. (vgl. ebd., S. XVII). Die Spannung zwischen Aufklärung und Spätromantik ergebe sich, so Barkhoff weiter, vor allem dadurch, dass für eine magnetische Theorie des Weltganzen im Mesmerismus sowohl Magie, Hermetik und individuelle Inspiration herangezogen werden als auch der Versuch zugrunde liegt, die Theorie vor dem Hintergrund der neuzeitlichen physikalischen Gesetze zu formulieren. (vgl. ebd., S.  54). Eine vergleichbare These zum Zusammenhang aus Aktualität und Rekurs verfolgt auch Albrecht Koschorke, wenn er für den Mesmerismus erstens in Anschlag bringt, dass er die alte Humoralpathologie „im Anschluß an die Fortentwicklung der Physik jener Zeit auf energetischer Basis zu redefinieren“ versucht und zweitens die „wichtigsten ideellen Momente der Spätaufklärung zu einem Sinnkonzentrat von paradigmatischer Geltung zusammen[fügt].“ (Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003, hier S. 101 und S. 104).

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des gleichermaßen erkenntnistheoretischen und ästhetischen Status der Polarität zwischen aktuellem Einsatzpunkt und rekursiven Imaginationen deutlich zu Tage tritt. Das Buch unterläuft in seiner Ambivalenz sowohl die These von der strikten Entgegensetzung als auch die These vom eindeutigen Zusammenhang zwischen Moderne und Romantik. Die Ambivalenz des Rekurses auf polare Denkfiguren zwischen Einheitsbestrebung und modernem Differenzdenken lässt sich exemplarisch an dem Kapitel Die romantische Zahl aus Ricarda Huchs Buch Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall (1899/1902), das Karl Heinz Bohrer als die „eigentliche programmatische neuromantische Publikation“112 bezeichnet hat, verdeutlichen. Huch schreibt dort: „Wir begegnen in den Werken der Romantiker häufig einer Zeitgröße und einer Raumform als Innerstes, worauf eine Welterscheinung zurückgeführt wird; nämlich die Dreieinheit und die Ellipse. Die Dreieinheit hängt aufs Engste zusammen mit der naturphilosophischen Lehre von der Polarität als von zwei sich wechselseitig voraussetzenden Gegensätzen, die in einem Dritten, das ohne diese Gegensätze nicht wäre, eine innere Einheit bilden. Malfatti definiert die Polarität als einen von der Unität ausgegangenen genetischen Dualismus; man könnte das die Formel der romantischen Weltanschauung nennen, die sich geometrisch ausdrücken ließe durch den Kreis, das Zeichen der Einheit, und die Ellipse, das Zeichen der Zweiheit, eine nicht absolute Form, die bestimmt ist, sich wieder zum Kreis auszugleichen, der nichts anderes ist als eine Ellipse, deren Brennpunkte sich decken.“113

Auf der einen Seite koppelt Huch das dynamische Denken in Polaritäten hier an einen genetischen Dualismus, der eine Entwicklungslogik in Gegensätzen anzuzeigen scheint und letztlich auf die Vorstellung von einer „innere[n] Einheit“ zuläuft. Huch zieht im gesamten Kapitel fast ausschließlich Spätromantiker und ihre Polaritätsvorstellungen heran und bezieht sich auf Carus, Oken, Malfatti, weniger auf J.W.  Ritter oder Schelling. Da Huch vor allem das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem interessiert, legt sie einen Schwerpunkt auf Theorien und Experimente mit den Phänomenen des Somnambulismus, des Mesmerismus und der „wunderbare[n] Kraft des Magnetiseurs“114. Nicht der frühromantische physikalisch-experimentelle Kontext der Polarität steht hier im Zentrum, sondern medizinische, physiologische und psychologische Polaritätstheorien der Spätromantik: „Wir haben

112 Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 276. 113 Ricarda Huch: Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Tübingen 1985, S. 426f. 114 Ebd., S. 452.

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in dem willensstarken Magnetiseur und der reizbaren Somnambule die beiden Grundtypen der romantischen Psychologie […].“115 Vor diesem Hintergrund nimmt das Kapitel auch gewissermaßen eine zentrale Rolle zumindest in Bezug auf die wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte der Romantik ein, denn in der Polaritätsformel verdichten sich für Huch Symbolik und wissenschaftliche Prinzipien zu einer Einheit: „Die Entwicklungslehre und der animalische Magnetismus, die beiden Hauptprinzipien der wissenschaftlichen Romantik, führten beide auf Sammeln der durch Zeit und Raum getrennten Geschöpfe in der Einheit.“116 Beide Phänomene sind in der Hoch- und Spätromantik nicht vom Denken in Polaritäten zu trennen. Damit scheint sich Huch auf die spätromantische Medizin und ihr „Modell bipolaren Seelenlebens“117 zu beziehen, was vor dem Hintergrund der psychophysischen Debatten um 1900 wenig erstaunlich anmutet. Denn in der spätromantischen Medizin wurden bereits die Polaritäten von Geist und Seele, von „Verstand und Gefühl, Gehirn und Herzgrube“118 diskutiert, wobei vor allem durch den Somnambulismus sowie an hypnotischen Praktiken die nicht-rationalen und in permanenter „Latenz“119 befindlichen Pole zum Vorschein gebracht werden sollten. In diesen spätromantischen Diskursen spielt die von Huch beschriebene „Unität“ eine entscheidende Rolle, läuft doch der Mesmerismus auf eine „geschlossene, monokausale Naturphilosophie hinaus[…], in der die eine Naturkraft den harmonischen Zusammenhang des einen Naturgeschehens garantiert.“120 Diese Idee des ‚Weltganzen‘ basiert auf der Annahme eines ‚animalischen Magnetismus‘ als umfassendes Gesetz, das sich vermittelts eines Fluidums als Gegenspiel von Materie und Bewegung realisiert und auch durch die Nervenbahnen des Menschen fließt und ihn bestimmt. Dieses Nervenfluidum wiederum ist eine spezifische Ausprägung (Analogie) eines universellen Allfluidums, das das ganze Universum beseelt. Unverkennbar steht hier das Corpus Hermeticum und die Vorstellung einer allharmonischen immateriellen Weltseele im Hintergrund.121 115 Ricarda Huch, Die Romantik, S. 454. 116 Ebd., S. 457. 117 Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseite des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe. In: Peter Matussek (Hg.): Goethe und die Verzeitlichung der Natur. München 1998, S. 75-100, hier: S. 77. 118 Ebd. 119 Vgl. Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, S. 102. 120 Ebd., S. 26. 121 Zugleich ist dieses Denken eines ‚Mittlerstoffes‘ aber auch eine spezifische Reaktion auf die um 1800 virulente Frage nach der Qualität der Imponderabilien. (vgl. hierzu Jürgen Barkhoff, Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, S. 33).

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Bezieht sich Ricarda Huch vor dem Hintergrund zeitaktueller psychophysischer Problemstellungen und monistischer Debatten in einer Art unge­ brochener Aneignung auf diese spätromantische Medizin und Psychologie? Monika Fick resümiert zu dieser möglichen Lesart: „Doch kennzeichne die Romantiker die Überzeugung, im ‚Inneren‘ den Schlüssel gefunden zu haben zum Wesen der Welt. Die Theorien des Magnetismus versteht Ricarda Huch als eine Konsequenz und Ausprägung dieser Überzeugung. […] so wird in der Deutung des magnetischen Schlafs, in dem die bewußte Wahrnehmung (d.i. Sinneswahrnehmung) ausgeschaltet ist, der Körper selbst, das lebendige Physische, zu dem ‚Allsinn‘ erhoben, der die Geheimnisse des Kosmos erschließt.“122

Damit scheint sich Huch auf den ersten Blick in den um 1900 prominenten Rekurs auf spätromantisches Denken, der darin vor allem die Möglichkeit eines neuen Ganzheitlichkeits- und Einheitserfahrung entdecken wollte, einzuschreiben. Karl Heinz Bohrer hat allerdings vor allem für Huchs Bezugnahme aus das Sonambule betont, dass dieser Bezug in spezifischer Weise immer schon gebrochen ist, weil er nicht „dem Erkenntnisprinzip […] geopfert“123 wird, sondern immer durch die „Kontrolle der Intelligenz“124 hinterfragt wird. Huchs Satz, wonach die „Romantiker […] die Entdecker des Unbewußten [waren]“125, stehe daher auch vielmehr im Zeichen einer „subversiven klassischen Moderne“126, weil die Rezeption zugleich vor dem Hintergrund der Bedeutung Nietzsches und Freuds zu betrachten sei. Daher habe Huch weniger eine spätromantische Psychologie reaktiviert als vielmehr die Bedeutung des Unbewussten für die Literaturproduktion in der klassischen Moderne nachhaltig geprägt. Diese reflektierte, und daher keineswegs ungebrochene Rezeption lässt sich auch an der eingangs zitierten Passage über die „Unität“ und die „Polarität“ nachweisen. Huch zögert hier gewissermaßen hinsichtlich einer klaren Definition und lässt die Bestimmung sowohl der „Unität“ als auch der „Polarität“ in der Schwebe. Das zeigt allein schon der doppelte Konjunktiv an: „man könnte“, „ausdrücken ließe“. Das sind weniger Indikatoren dafür, dass Polarität den Status eines Beispiels für die romantische „Lehre“ bekommt, als vielmehr Hinweise auf die Uneindeutigkeit der „Formel“ der Polarität, was sich letztlich auch in der Aussage spiegelt, dass es sich bei der „Unität“ „nicht“ 122 Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993, S. 31. 123 Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 279. 124 Ebd. 125 Ricarda Huch, Die Romantik, S. 81. 126 Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 279.

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um eine „absolute Form“ handle. Daher scheint das Bild vom Kreis, das Huch anführt, für die Polarität als „Formel der romantischen Weltanschauung“ kaum plausibel und es wird ohnehin sogleich gestört durch das entgegengesetzte zweite Bild von einer Ellipse, die nicht mehr auf Einheit und Ganzheitlichkeit, sondern auf zwei polare Brennpunkte in ihrer polaren Gegensätzlichkeit verweist. Die Gegensätzlichkeit von „Unität“ (Kreis) und „Polarität“ (Ellipse), die bereits die Ambivalenz des spätromantischen Diskurses nach Huchs Ansicht zu bestimmen scheint, bildet zugleich die ambivalenten Grundtendenzen im Rekurs auf diese Polaritätsfiguren um 1900.127 Diese Ambivalenz ist auch in Huchs Buchs selbst eingeschrieben.128 Das Buch ist ohnehin keine nüchterne wissenschaftliche Studie über eine vergangene Epoche, sondern der großangelegte Versuch einer Aktualisierung und Aneignung der Romantik vor dem Hintergrund der Krisensituation in den Natur- und Geisteswissenschaften um 1900. Insbesondere die ‚Krise des Historismus‘ mobilisiert eine lebensphilosophisch geprägte Kulturkritik, in deren Hintergrund Nietzsches antihistoristisches Pathos steht und durch das die „verkümmerte[n] Spätlinge kräftiger Geschlechter“129 sich aufgefordert

127 Um 1900 wird die Ellipse nicht nur bei Huch als paradigmatische polare Denkfigur ausgestaltet. Bei Aby Warburg gerinnt der polar-elliptische Imaginationsraum später sogar architektonisch in Form des elliptisch konstruierten Oberlichts in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg. Zur „Generalmetapher des Pendels“, die im Verhältnis von Ellipse und Polarität bei Warburg steht, siehe Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, hier: S. 21, außerdem: S. 120-127. 128 Zur Einordnung der Arbeit in die Rezeptionsgeschichte der Romantik vgl. Dorit Krusche: Die Romantik und die Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts. In: Gesa Dane/Barbara Hahn (Hg.): Denk- und Schreibweisen einer Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Über Ricarda Huch. Göttingen 2012, S. 20-36. Krusche zeichnet sehr detailliert nach, wie Huch „ganz direkt in die um die Romantik geführten literaturhistorischen und politischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts“ (ebd., S. 21) eingreift und sich an Rudolf Haym, Heinrich Heine und Hermann Hettner abarbeitet. Dabei bilanziert Krusche, dass Huch selbst viel stärker der Frühromantik verpflichtet ist als der zweite Band ihres Buches zu suggerieren scheint. Auch Bohrer betont, dass Huch sich einer „polare[n] Semantik“ (Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, S.  279) bediene, um das frühromantische Reflexionspotential gegenüber einer ‚kranken‘ Spätromantik zu markieren. Anhand des eingangs aufgerufenen Zitats über die „Unität“ und die „Polarität“ zeigt sich indes, dass Huchs Buch mit der Annahme einer strikt ‚polaren Semantik‘ nicht umfänglich in den Blick zu bekommen ist; sie scheint vielmehr Ausdruck von Bohrers eigener polarer Gegenüberstellung zu sein. Gerade am Rekurs auf die Polarität ist mit dem Verweis auf die spätromantische Medizin und Psychologie ein ambivalenter Charakter des Bezugs zu konstatieren. 129 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 243-334, hier: S. 307.

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finden, zu jenen „Thätigen und Mächtigen“130 zu werden, die ihr Handeln durch den „Glaube[n] an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen aller Zeiten“131 legitimiert wissen.132 Kann die von Ricarda Huch angeführte ‚Formel der Polarität‘ eine solche „Continuität“ stiften? Monika Fick spricht in diesem Zusammenhang gar von einer Identifizierung Ricarda Huchs mit der Romantik und führt dazu weiter aus, dass Huch „die Probleme ihrer Zeit in die romantische Epoche hineinsieht.“133 Vor dem Hintergrund von Ficks Lesart scheint gerade die von Huch sogenannte grundlegende „Formel“ bzw. „Lehre“ der Polarität um 1800 ein geeignetes Instrument zu sein, im Rahmen der Krisen und Problemstellungen um 1900 nochmals eine „EinheitsSicht“134 zu ermöglichen. In diesem Sinne müsste der Polaritätsdiskurs um 1900 dann in die Geschichte des psychophysischen Monismus eingeschrieben werden. Genauer: In jene monistische Theoriefiguren, die die Krisensituation durch die „Schöpfung neuer Sicherheiten“135 und dabei vor allem durch „AllEinheitsgedanken“136 zu bewältigen versuchen und die sich an einem Idealbild der (Spät-)Romantik orientieren, ohne dass die „Spannung[en] und Ambivalenz[en]“137 der Zeit jedoch tatsächlich erneut in einer Formel ihren beruhigenden Ausdruck der Zusammengehörigkeit zu finden vermögen. Denn während spätromantisches Polaritätsdenken, animalischer Magnetismus und Mesmerismus hier in einer Art Kompensationslogik nochmals ein letztes Residuum vormoderner Alleinheitsvorstellungen zu ermöglichen scheinen, bricht sich diese Perspektive bei Huch zugleich immer wieder an der Modernität der Polaritätsfigur selbst. Huch schreibt sich gerade durch die dargestellte Ambiguität der ‚Polaritätsformel‘ keinesfalls einfach in ein (vormodernes) Ganzheitlichkeitsdenken ein, das von einer unmittelbaren Übertragung spätromantischer Konzepte 130 Ebd., S. 258. 131 Ebd., S. 260. 132 Zur „Krise des Historismus“ (Ernst Troeltsch) vgl. die ausführliche Darstellung von Otto Gerhard Oexle: Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne. In: ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932. Göttingen 20017, S. 11-116. Für die epistemologische Krisensituation vgl. Ludwik Fleck: Zur Krise der ‚Wirklichkeit. Für eine soziologische Perspektive auf die Krisensituation vgl. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus. Göttingen 2004, insb.: S. 40-58. 133 Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele, S. 21. 134 Ebd., S. 27. 135 Ebd., S. 3. 136 Ebd., S. 10. 137 Ebd.

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des animalischen Magnetismus getragen wäre und in der Polarität die Einheit immer schon gewährleistet sieht. Im Gegenteil: Monika Fick hat an Huchs Romantik-Buch sehr genau das Problembewusstsein dargelegt, das Huch an das Polaritätsdenken koppelt: „Zum einen rechtfertigt sie zwar die romantischen Naturforscher als Vor- und Wegbereiter einiger von denjenigen Ideen, die um die Jahrhundertwende erneut die Naturauffassung prägten; zum anderen aber sieht sie in der Bereitschaft, in Polaritäten zu denken und das Zerreißende in der Einheitskonzeption zu ertragen, ein (noch) unerreichtes Vorbild zeitgenössischer Strömungen.“138

Nur durch die Kopplung an diese für die Moderne unhintergehbare Zerrissenheit wird Huchs Polaritätskonzept zu einer modernen Theoriefigur, da mit ihr der Versuch unternommen wird, gesellschaftliche, politische, epistemische und ästhetische Phänomene in ihrer polaren Differenz wahrzunehmen. Der Aktualisierungswert des romantischen Polaritätsdiskurs wird bei Huch durchgehend mit aktuellen Zeitfragen und Problemstellungen konfrontiert. In Huchs Buch wird deutlich: Die Virulenz, die das Polaritätsdenken zu Beginn des 20. Jahrhundert nochmals erhält, kann sich zwar einerseits auf spätromantische Medizin, Mesmerismus und animalischen Magnetismus beziehen, steht zugleich aber immer in Verbindung mit einer zeitdiagnostischen Funktionalisierung, durch die die Rekurse in ein aktualistisches Erkenntnisinteresse eingespannt werden. Mitunter bestehen die Versuche, sich mittels dieser Rekurse in eine Genealogie polaren Denkens einzutragen, also nicht in der Garantie eines (Gegensätze integrierenden) Einheitskonzeptes, sondern in einem kritischen Problemdenken, an dem sich die Frage nach der Möglichkeit einer nicht-statischen (und also: nicht rein dichotomischen) Wahrnehmung und Schreibweise für aktuelle Spannungsverhältnisse in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Philosophie und Kunst entzündet. Das unterscheidet sie letztlich auch von anderen um 1900 zu beobachtenden Rückbezügen auf den Polaritätsdiskurs wie sie etwa in jenen esoterischen, Ganzheitlichkeit und Einheit postulierenden Aneignungen des Goethe’schen Polaritätsdenkens eines Rudolf Steiner und seiner Schüler zu beobachten sind, mit denen sich Benjamin und Friedlaender, wie noch zu zeigen sein wird, kritisch auseinandersetzen. (vgl. Kap. 4)

138 Ebd., S. 31.

94 2.3

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Dezisionistische Rhetoriken: Polarität und Zeitdiagnostik in den 1920er und 1930er Jahren

„[…] Polarisierung ist eine Realität der Gegenwart.“139 Mit dieser scheinbar selbstevidenten Diagnose versucht das 101. Heft der Kunstzeitschrift Texte zur Kunst im Jahre 2016 sowohl aktuelle gesellschaftliche, soziale und politische als auch ästhetische Tendenzen auf den Begriff zu bringen: Polarities/Polarität, so lautet der Titel der Ausgabe. Stellt man die schwierige Frage des tatsächlichen (soziologischen) Realitätsgehaltes der zeitdiagnostisch veranschlagten Wahrnehmungen eines „Trend[s] zur Polarisierung“140 zunächst zurück, lässt sich beobachten, dass die Faszination für Polarisierungsrhetoriken vornehmlich in politischen Krisenzeiten Konjunktur hat. Denn Phänomene der Polarisierung und Extremisierung scheinen zumindest auf den ersten Blick plausible Erklärungsmuster für politische, soziale, ökonomische und weltanschauliche Krisenzustände zu sein. Aus einer historischen Perspektive scheint das insbesondere für die letzten Jahre der Weimarer Republik zu gelten, hat doch die Geschichtswissenschaft das Scheitern der ersten deutschen Demokratie mit der „innere[n] Polarisierung, […] unlösbaren Konflikte[n], […] erbitterten Streitigkeiten“141 begründet. Während sich um 1800 und um 1900 die Konjunktur polarer Denkfiguren noch aus einem umfassenden Bewusstsein epochaler diskursiver Umbrüche ergibt (vgl. Kap. 2.1 und 2.2), ist der Einsatz polarer Denkfiguren in den 1920er und 30er Jahren explizit im Feld des Politischen verortet. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Krisen der Zwischenkriegsjahre scheint es auch kaum verwunderlich, dass polare Deutungsmuster virulent wurden und Rhetoriken des Extremen als „gängige politische wie philosophische Münze“142 in den unterschiedlichsten zeitdiagnostischen Schreibweisen dieser Zeit zirkulieren. Denn sobald die Orientierungskraft von semantischen Ordnungen und von integrierenden Narrativen ihre Plausibilität einzubüßen beginnt, spannt sich das politische Feld in weltanschauliche 139 Caroline Busta/Hanna Mgauer: Vorwort. In: Texte zur Kunst 101 (2016), S. 4-5, hier: S. 5. 140 Ebd., S. 4. 141 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949. Bonn 2009, S.  484. Wehler hat unterschiedliche Polarisierungsphänomene in seinem Werk unterschieden: Neben der allgemeinen „politische[n] Polarisierung“ (ebd., S. 106, 123 und 155) nennt er beispielsweise noch die „klassische Polarisierung zwischen Kapital und Arbeit“ (ebd., S. 541), die Polarisierung in der Sozialstruktur (vgl. ebd., S. 590) und die „extreme[…] Polarisierung von Politik und Gesellschaft“ (ebd., S. 675). 142 Sonja Asal/Ethel Matala de Mazza: Zum Thema. In: Zeitschrift für Ideengeschichte  2 (2008), Heft 3: Extremes Denken, S. 4.

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und parteiliche Extreme auf. ‚Polarisierung der Gesellschaft‘ wird dann schnell das Schlüsselwort der Stunde bzw. zu einem typischen diagnostischen ‚Schlagwort‘, in dem sich die Selbstproblematisierung der Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit verdichten kann.143 Der Einsatz polarer Denkfiguren kann dann beanspruchen, die krisenhafte Signatur der Zeit zu dokumentieren. Demgemäß hat auch Uwe Backes in seiner Begriffsgeschichte zum politischen Extremismus dargelegt, dass Extremismus vor allem in „Zeiten politischer Polarisierung“ als „Schlagwort“ virulent wurde, weil „überkommene[…] Worte und Wendungen nicht auszureichen schienen, um ein als existenzbedrohende Gefahr wahrgenommenes Phänomen zu bezeichnen.“144 Eine Untersuchung dieser omnipräsenten polaren Wahrnehmungsmuster und Polarisierungsrhetoriken steht allerdings vor der notwendigen Aufgabe, eine kritische historische Perspektive von diesen diskursiven Phänomenen präzise zu unterscheiden. Denn der historische Blick auf die Polarisierungstendenzen in der Weimarer Republik läuft schnell Gefahr, ein allzu statisches Bild vom intellektuellen Feld, der komplexen Gemengelage aus Theorien, Debatten, individuellen Positionen und weltanschaulichen sowie diskursiven Überschneidungen und Vermischungen zu zeichnen. Friedrich Balke hat daher zurecht für den historischen Blick auf das intellektuelle Feld der Weimarer Republik angemahnt, dass die „scharfen Grenzziehungen und Distanzierungsrituale, mit denen die im Gefecht stehenden Gedankengruppen sich ein ‚unverwechselbares Profil‘ zu geben versuchen“ nicht einfach übernommen und „als die effektiven Grenzen des Gegenstandes verdoppelt werden“145 dürfen. Polarität als wissenschaftliche Kategorie zu nutzen würde bedeuten, jenes diffuse intellektuelle Feld auf ein simples Schema zu reduzieren, das den 143 Für diese verdichtende ‚Diagnostifizierung‘ in Schlagworten als „Kernelement des gesellschaftlichen Imaginären“ vgl. Thomas Alkemeyer/Nikolaus Buschmann/Thomas Etzemüller: Einleitung. Gegenwartsdiagnosen als kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. In: dies. (Hg.): Gegenwartsdiagnosen als kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld 2019, S. 9-19 hier: S. 10. 144 Uwe Backes: Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis in die Gegenwart. Göttingen 2006, S. 234. Backes Studie ist gegenüber vielen anderen einschlägigen Studien zum Extremismus gerade dadurch aufschlussreich, dass er die Begriffsgeschichte des Extremen nicht bloß auf das 20. Jahrhundert reduziert, sondern davon ausgeht, „dass sich mit dem sprachlichen Ausdruck eine Geschichte grundsätzlicher Reflexion mit existentiellen Erfahrungen der Inhumanität, Fremdbestimmung und Repression verbindet.“ (ebd., S. 14). Zur Unterscheidung von Extremismus, Radikalismus und Fanatismus vgl. auch ebd., S. 16-18. 145 Friedrich Balke: Weimarer Intellektuelle und die neue Ordnung des ‚Zivilverstandes‘. Das Beispiel Carl Schmitts. In: Wolfgang Bialas/Georg  G.  Iggers (Hg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1996, S. 71-90, hier: S. 74.

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gleichermaßen politischen sowie diskursiven Dynamiken nicht gerecht wird. Das gilt allen voran für den zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren selbst, der schließlich über alle politischen Lager hinweg zu beobachten ist. Wolfgang Bialas hat daher auch folgenden Vorschlag gemacht: „Vielleicht macht es ja auch Sinn, an Stelle einer Polarität einander ausschließender konträrer Positionen von der Konfiguration eines Spektrums möglicher Positionen auszugehen.“146 Was Balke und Bialas hier also zu bedenken geben, betrifft die unvermittelte Übernahme von zeitgebundenen Redeweisen als evidente Analysekategorien. Ins Methodische übersetzt, bedeutet dies, einen Unterschied zu machen zwischen einer historischen Perspektive auf diskursive Konjunkturen politischer Wahrnehmungsweisen und Rhetoriken des Polaren und der umstandslosen Übernahme polarer Figuren als historisches Erklärungsprinzip. Aus einer solchen historischen Perspektive ist zu beobachten, dass polare Denkmuster in der Weimarer Republik verschiedene zeitdiagnostische Schreibweisen über alle politischen Lager hinweg grundieren. Sie dienen der Verarbeitung von als extrem wahrgenommenen Zeittendenzen und werden so einschlägig für das, was Peter Sloterdijk unter dem Begriff der „Weltanschauungsessayistik“147 gefasst hat. Sloterdijk betont, dass in der Spannung zwischen traditionellen Denkmustern und der Komplexität moderner gesellschaftlicher Verhältnisse, die mit Hilfe traditioneller Beschreibungsformen nicht mehr umstandslos eingefangen werden können, ein Zwang zu „hektisch angepaßte[n] Gegenwartsdiagnostiken“148 entsteht, an denen man vor allem eine „Beschreibungskrise“149 moderner Gesellschaftstheorien ablesen kann. Zwischen der kaum noch in einfachen Denkmustern beschreibbaren Erfahrungsmasse aus „Massendemokratie und Weltkriegsschock, […] Urbanisierung, Motorisierung und Informatisierung der Gesellschaft […]“150 und dem fortbestehenden Bedürfnis nach Systematisierung steht in der Weimarer Republik auf dem „Jahrmarkt der Synthesen“151 auch die Polarität als zeitdiagnostische Denkfigur bereit. 146 Wolfgang Bialas: Intellektuellengeschichtliche Facetten der Weimarer Republik. In: ders./ Georg G. Iggers (Hg.): Intellektuelle in der Weimarer Republik, S. 13-30, hier: S. 15. 147 Vgl. Peter Sloterdijk: Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik. In: Bernhard Weyergraf (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918-1933. (=Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Band  8). München 1995, S. 309-339. 148 Ebd., S. 310. 149 Ebd., S. 317. 150 Ebd., S. 310. 151 Ebd., S. 322.

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Polarität wird in der Weimarer Republik aus verschiedenen zeitdiagnostischen Blickwinkeln gerade dadurch besonders attraktiv, dass sie auf der einen Seite ihre Evidenz als provisorische Ordnungskategorie in Krisenzeiten dort ausspielen kann, wo sie in unterschiedlichen diskursiven Feldern die zu Extremen tendierenden politischen Fliehkräfte zwar nicht konsensual zusammenstimmen lässt, aber diese immerhin analytisch in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander erkennbar und beschreibbar macht. Auch die Literatur wird in solchen Krisenszenarien in dem Moment besonders herausgefordert, wenn sie als eine Art Seismograph dienen soll, um die gesellschaftlichen Stimmungslagen der Zeit einzufangen. Auf der anderen Seite ist mit dem Blick auf die Extreme jedoch auch der Grenzfall einer solchen Beschreibungsmöglichkeit angedeutet, wenn nämlich diese Extreme soweit auseinandertendieren, dass der übergeordnete polare Spannungsbogen kaum mehr hinreicht, um die Extreme als die äußersten Pole eines im Gegensätzlichen dennoch zusammengehörigen Feldes erscheinen zu lassen. Die Rede von einer Extremisierung scheint dann die Perspektive auf Polarisierungstendenzen nicht zu ergänzen, sondern tendenziell aufzusprengen. Die Reaktion der Literatur hat man in der Forschung hier mitunter als Versuch der Steigerung bzw. Radikalisierung dieser Erfahrungen unter den Vorzeichen eines Auszug[s] aus der entzauberten Welt152 oder auch einer Poetik des Extremen, in deren Zentrum die Figur des „künstlerische[n] Extremisten“153 steht, gedeutet. Aber auch abseits dieser konsequenten Schreibprogramme der Extremisierung stellt sich für verschiedene Schriftstellertypen grundsätzlich die Frage, inwiefern Literatur überhaupt als Ort kritischer Zeitgenossenschaft eingesetzt werden kann. Zumal dann, wenn eine zentrale Erfahrung von gesellschaftlichen Polarisierungstendenzen darin besteht, dass übergeordnete, verbindliche 152 So lautet der Titel von Norbert Bolz’ Studie über den philosophischen Extremismus in der Weimarer Republik. Vor dem Hintergrund der Entzauberungs-These von Max Weber sieht Bolz die über die Parteigrenzen hinweg zu beobachtende Logik der Extremen darin gegründet, dass sie Webers Analyse der Moderne teilen und sie weniger durch Utopien kompensieren als vielmehr im extremen Denken noch zu überbieten versuchen. (vgl. Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1989). 153 Uwe Schütte: Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen. Göttingen 2006, S. 12. Schütte nennt als Beispiele für extremistische Schreibweisen, die er als „Steigerungsform radikaler Textpraktiken und Poetiken“ (ebd., 14) versteht, beispielsweise „die Spuren einer Ästhetik des zerspritzten Hirns, Ansätze einer Katharsis durch Ekel, das Motiv der entfesselten Macht der Musik, eine Poetik des Messers, die literarische Reflexion des Ausnahmezustands, die Sicht der Gegenwart als Hölle, das Prinzip des radikalen Experiments, die transgressive Kontemplation des Todes, apokalyptisches Denken […].“ (ebd., 9).

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Verhaltenscodes, Handlungskonzepte und Lebensformen als zunehmend obsolet wahrgenommen werden, integrative Narrative ihre Orientierungskraft verlieren und semantische Ordnungen brüchig werden. Dieser doppelte Befund, wonach gesellschaftliche Krisenzeiten erstens eine allgemeine Konjunktur polarer Denkfiguren hervorbringen und zweitens damit zugleich eine Reflexion auf die Stellung des (schreibenden) Subjekts innerhalb dieser Spannungen verbunden wird, lässt sich für die Zeit der Weimarer Republik durch einen kursorischen Blick in einschlägige zeitdiagnostische Schriften bestätigen. So durchzieht Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931) beispielsweise die Vorstellung, dass das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Individuum und Staat im massenmedialen, demokratischen, technologisierten Zeitalter von grundlegenden polaren Spannungen beherrscht wird: „Das Schicksal des Geistes steht in der Polarität von Daseinsabhängigkeit und Ursprünglichkeit. Er wird verloren sowohl in bloßer Abhängigkeit wie in imaginärer Unwirklichkeit. […] In unserem Zeitalter der Massenordnung, Technik, Ökonomik ist, wenn diese Unausweichlichkeiten verabsolutiert werden, mit dem Menschsein der Geist in Gefahr, in seinem Grunde zerstört zu werden: Wie der Staat als Bundesgenosse des Menschen erlahmen kann, so auch der Geist, wenn er nicht mehr aus eigenem Ursprung ein wahrhaftiges, sondern im Dienst der Massen in endlicher Zweckhaftigkeit ein für diese verfälschtes leben lebt.“154

Der Begriff der Polarität dient Jaspers zur Darstellung eines grundsätzlichen Krisenszenarios – „Alles ist in die Krise gekommen […].“155 Die moderne Gesellschaft wird hier als „Massenordnung“ vorgestellt, die einen „universalen Daseinsapparat“ installiert, der die „menschliche Daseinswelt zerstört“156. Für die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren in der Zwischenkriegszeit ist Jaspers’ Schrift exemplarisch, weil hier an die polare Einteilung des politischen, gesellschaftlichen und intellektuellen Raums das Versprechen gebunden ist, sich innerhalb dieser Spannungsfelder orientieren und eine eigene Position finden zu können: Der Mensch „lebt in der Massenordnung zwischen den Polen des friedlichen Apparats seiner Daseinsfürsorge und der in jedem Augenblick fühlbar gegenwärtigen Macht, deren Richtung und Inhalt er wissen will, weil er auf sie Einfluß gewinnen möchte.“157

154 155 156 157

Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit [51932]. Berlin, New York 1999, S. 105f. Ebd., S. 73. Ebd., S. 38. Ebd., S. 81.

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Die Frage der „innere[n] Haltung“158 ist als existenzielle Reflexion auf das Bewusstsein des eigenen Wollens die einzige Chance, um in der „universalen Heimatlosigkeit faktisch eine neue andere Heimat gewinn[en]“159 zu können. Jaspers’ Rede von modernen Polarisierungsdynamiken läuft damit letztlich auf die existentialistische Frage der Möglichkeit „entweder des Selbstseins der Freiheit oder eines objektiven Halts“160 zu, die im Modus pathetischer Dringlichkeit gestellt wird. In ähnlicher Weise ist auch Martin Heideggers fundamentalontologischer Ansatz von einem existentiellen Dezisionismus des noch ausstehenden „Sichentscheiden[s]“161 geprägt, das auf der Idee eines neuen „Standgewonnenhabens“162 basiert. Eine strukturell vergleichbare Affinität für polare Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster der Gegenwart und ihre Reflexion auf die Stellung des Einzelnen inmitten dieser Spannungen finden sich auch in neusachlichen Schreibweisen. Helmut Lethen hat herausgearbeitet, dass neusachliche Schreibweisen ein „Klima der Polarisierung“163 nicht nur wahrnehmen, sondern selbst entwerfen. Die Anthropologie der ‚Neuen Sachlichkeit‘ bediene sich dichotomischer Orientierungsraster, um zugleich für den Typus einer „kalte[n] persona“164 zu votieren, die den diffusen Modernisierungs- und Krisenerfahrungen der Gegenwart mit Formen der habituellen Distanzierung, der Entpsychologisierung, einer gegen jede Form der Authentizität der Person gerichteten „Kultur der Äußerlichkeit“165 und einer radikalen Affektkontrolle begegnet. Neusachliche Autoren machen sich Polarisierungsmuster zu eigen, um sich mit ‚Verhaltenslehren der Kälte‘ inmitten der gesellschaftlichen Verhältnisse provisorisch einzurichten. Bei Carl Schmitt wiederum erhalten Polarisierungen in Form der grundlegenden Freund-Feind-Unterscheidung 158 Ebd., S. 148 und passim. 159 Ebd., S.  173. Der problematische dezisionistische Charakter und die militärischen Konnotationen, die an diese Haltungsreflexion gekoppelt sind, werden an späterer Stelle diskutiert. (vgl. Kap 10.3) 160 Ebd., S. 56. 161 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 171993, S. 223. 162 Ebd., S. 322. 163 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994, S. 41. Ähnlich argumentiert auch Martin Lindner, der in den neusachlichen „spezifisch[en] lebensideologischen Gedanken“ einen Rekurs auf „das alte romantische Polaritätsdenken“ erkennt. (Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart 1994, S. 90). Der Bildbereich der Polarität speise sich, so legt Lindner zudem nahe, sowohl aus der romantischen „Elektrizitätslehre“ (ebd.) als auch aus dem Magnetismus (vgl. ebd., S. 104). 164 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 11. 165 Ebd., S. 32.

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sogar den Charakter eines notwendigen Kriteriums für die Konstitution des Politischen überhaupt und bestimmten so seine staatstheoretischen Überlegungen, deren Herzstück die Vorstellung einer souveränen Entscheidungsgewalt bildet.166 Einem ähnlichen dezisionistischen Impuls folgen auch die provisorischen Habituspraktiken der ‚Neuen Sachlichkeit‘.167 Benjamin und Friedlaender stehen in kritischer Distanz sowohl zu den beschriebenen existentialistisch-dezisionistischen Theorieprogrammen als auch zu neusachlichen ‚Verhaltenslehren der Kälte‘, die jeweils auch historische Ausformungen polarer Denkmuster für sich in Anschlag bringen. Wo sich bei Benjamin und Friedlaender die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren an die Frage des Rekurses auf polare Denk- und Schreibweisen von Kant und Goethe über die Frühromantiker bis Nietzsche knüpft, geschieht dies stets in einem erkenntniskritischen Modus, der die Möglichkeiten, aber auch Grenzen solcher Aktualisierungen ins Zentrum rückt. Dass beide ihre zeitdiagnostischen Schreibweisen im Spannungsfeld aus Bilddenken und Begriffsarbeit zugleich in vergleichbarer Weise an die Suche nach einer erkenntniskritischen Selbstpositionierung binden, resultiert nicht zuletzt aus einer nur auf den ersten Blick unscheinbaren Ähnlichkeit der intellektuellen Herkunft. Benjamin und Friedlaender machen beide ihre ersten philosophischen Schritte in einem neukantianischen Umfeld. Friedlaender promoviert 1902 zunächst mit dem Versuch einer Kritik der Stellung Schopenhauers zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Kritik der reinen Vernunft bei dem Neukantianer Otto Liebmann in Jena, will seinen Bezug auf Kant später aber in strenger Abgrenzung zur von ihm kritisch betrachteten positivistischen Auslegungstendenz Kants im Neukantianismus verstanden wissen. Abschätzig nennt er den „berühmte[n] [Herrmann] Cohen“ einen „sog. ‚Kant-Forscher‘“ (F/M 24, 654) und stellt der neukantianischen Schule die „paar echten Altkantianer, zu denen ich mich mit Stolz rechne“ (F/M 26, 220) entgegen.168 166 Für eine Auflistung dieser Polarisierungen bei Schmitt vgl. Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie. München 2009, S. 345. 167 Dieser Dezisionismus, der die Möglichkeit einer klaren Trennung der Pole voraussetzt, ist in der Forschung allerdings kritisch hinterfragt worden. So hat Carl Wege zwar in seiner Studie das Polaritätsschema von Helmut Lethen aufgegriffen, zugleich aber auch zu bedenken gegeben, dass die getrennten Pole „durchaus miteinander in Verbindung“ stehen können und Formen der Vermischung, der Unentschiedenheit und der Paradoxie bilden. (vgl. Carl Wege: Buchstabe und Maschine. Beschreibung einer Allianz. Frankfurt a. M. 2000, hier: S. 44). 168 Wie bereits weiter oben erwähnt, steht bei Friedlaender im Zentrum dieser Gruppe von Altkantianern der Jurist Ernst Marcus, ein Essener Jurist, den Friedlaender auch als den wahren „Thronerbe[n] Kants“ (F/M 3, 770) bezeichnet. In einem Text über die Philosophie

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Benjamin wiederum studiert bei dem Neukantianer Heinrich Rickert in Freiburg; vor allem aber in einer kritischen Auseinandersetzung mit Herman Cohens Arbeit über Kants Theorie der Erfahrung, die er gemeinsam mit Scholem studiert, schärft er seine eigene philosophische Stellung zu Kant.169 In seinem frühen Versuch Über das Programm der kommenden Philosophie kritisiert auch er dann die neukantianische „Reduktion aller Erfahrung auf die wissenschaftliche“ (WB II.1, 164) und die damit einhergehende „extreme[…] Ausbildung der mechanischen Seite des relativ leeren aufklärerischen Erfahrungsbegriffes.“ (ebd., 165) Beiden gemeinsam ist der Versuch, mit Kant über Kant hinaus zu gelangen, indem die Art und Weise kantischer Befragung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen auf den Prüfstand gestellt und auf die Belastbarkeit für eine zeitgemäße erkenntniskritische Position getestet wird. Mehr noch: Das Problem der Zeitgemäßheit wird bei Benjamin zugleich von der „Frage nach der Dignität einer Erfahrung die vergänglich ist“ (ebd., 158) her gedacht; einer Erfahrung also, die nicht mehr nur rein formal-apriorisch, sondern selbst zeitlich bestimmt ist. Exemplarischer Fall einer solchen zeitlichen Erfahrung ist sowohl bei Benjamin als auch bei Friedlaender der aktualisierende Umgang mit der philosophischen Tradition selbst. Den Umgang mit Kants Philosophie formuliert Friedlaender in program­ matischer Weise in einem Text von 1904 mit dem bezeichnenden Titel Kants Vermächtnis: „Man muß sich davon entwöhnen, die Person und das Werk eines Meisters als vollendete Tatsache anzusehen; denn gerade darin beseht seine unsterbliche Meisterschaft, daß er nicht aufhört zu leben, sich ins Reifere immerfort zu verwandeln, immer höherer Vollendung fähig zu werden. […] Die werdende Größe solcher Männer [wie Kant, K.D.] bringt ihre vorhandene erst recht zum Vorschein. Wir müssen mit ihnen und ihren Werken verkehren, als ob sie lebten und immer noch im Entstehen begriffen wären.“ (F/M 2, 210)

Diese Perspektive der aktualisierenden ‚Verwandlung‘ bestimmt, wie bereits an mehreren Stellen beschrieben, grundsätzlich Friedlaenders Verhältnis zur philosophischen und literarischen Tradition. Denn Philosophie als der Gegenwart dreht Friedlaender das Verhältnis dann um, indem der wahre Neukantianismus als derjenige Ernst Marcus’ bezeichnet wird, weil er „die einzige Gewähr lebendiger Zukunft in sich trägt“ (ebd., 722). 169 Zum Verhältnis zwischen Benjamin und Cohen vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, kritische Philosophie und vergängliche Erfahrung. Berlin 2000; Peter Fenves: ‚Über das Programm der kommenden Philosophie‘. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 134-150, hier: S. 141-143.

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Erkenntnisform ist für ihn immer „Sehnsucht nach Weltaneignung“ (ebd., 199). Und der Rekurs auf die Tradition ist bei ihm daher stets von der Frage geleitet, ob und wie die Tradition eine gegenwärtige, zeitgemäße Weltaneignung zu befördern vermag. Oder anders formuliert: Das ‚Dauernde‘, ‚Bleibende‘ einer Philosophie bemisst sich für Friedlaender gerade daran, ob in dieser Philosophie selbst die Möglichkeit ihrer aktualisierenden Verwandlung angelegt ist. Ähnlich verhält es sich, wie bereits gesehen, bei Benjamin und seiner Vorstellung der Aktualisierbarkeit von Tradition, hat für ihn doch ebenfalls jede „historische Größe einen Standindex“ (Br IV, 19), der sich an dem „gegenwärtigen Dasein[…] zu legitimieren“ (Br IV, 19) habe. Kant stellt im intellektuellen Koordinatensystem beider zeitlebens einen wichtigen Orientierungspunkt dar, was sich auch darin manifestiert, dass es beiden weiterhin gleichermaßen um „Wissenschaft […] wie Kunst und Handlungsweise[n]“ (F/M 10, 187) geht, also um jene drei Bereiche von Erkenntnistheorie, Ästhetik und Ethik, die Kant in seinen drei großen Kritiken systematisch behandelt hat. Allerdings scheint sich gerade aus der vergleichbaren Absetzungsbewegung gegen eine als zu eng empfundene neukantianische Wissenschaftslehre der Impuls für zwei Schreibprojekte zu ergeben, die sich nicht mehr an der Möglichkeit einer philosophischen Systemarchitektur bemessen lassen wollen, sondern ihr Erkenntnisinteresse gerade an den Grenzen, Schwellen und Zwischenräumen von philosophischen, politischen und ästhetischen Diskursen formulieren. Das betrifft bei beiden auch den Umgang mit der Tradition und der Geschichte polarer Denkfiguren, den es nachfolgend vor dem Hintergrund der entfalteten verwickelten Problemgeschichte der Polarität zwischen Aktualität, Rekurs und Funktionalisierung zu verfolgen gilt. Zunächst wird im folgenden Kapitel Friedlaenders zeitkritischer Einsatzpunkt polarer Denkfiguren anhand seiner Nietzsche-Biographie und seiner Julius Robert Mayer-Biographie untersucht. Anschließend wir anhand einer Rezension gezeigt, wie Benjamin die Möglichkeit einer Aktualisierung von Goethes polarem Grundgedanken aus der Farbenlehre mit explizitem Rekurs auf Friedlaender für eine kritische zeitdiagnostische Perspektive auslotet.

Kapitel 3

Schreiben in Masken: Friedlaenders Verfahren einer zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren Im Kapitel 2.2 konnten anhand von Ricarda Huchs Buch über die Romantik die komplizierten Rückbezüge auf die Geschichte der Polarität zu Beginn des 20. Jahrhunderts angezeigt werden. Der dabei zu erkennende ambivalente Status der Polarität als einerseits moderne Differenzfigur, die den spannungsvollen Charakter der Moderne selbst zum Ausdruck zu bringen versucht, und andererseits als Statthalterin eines für die Moderne adäquaten „Totalitätsversprechen[s]“1 wurde bereits um 1900 deutlich wahrgenommen. Das zeigt sich besonders an Samuel Lublinskis literatursoziologischer Studie Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition von 1909, die den sozialgeschichtlichen Ort moderner literarischer Strömungen wie Naturalismus und Neuromantik zu bestimmen versucht, indem dort davon ausgegangen wird, dass „die Entwicklung der Kunst von der Entwicklung der Gesamtheit abhängig“2 ist. Bevor Friedlaenders Umgang mit der Geschichte polarer Denkfiguren untersucht wird, ist hier kurz auf Lublinskis Analyse einzugehen, weil er am Ende seiner Studie die Kritik vor allem an neuromantischen Naturkonzepten mit der bemerkenswerten Betonung abschließt, dass sich vor allem bei Salomo Friedlaender eine andere, der Moderne entsprechende polare Perspektive entwickelt. Damit lässt sich anzeigen, in welchen Kontexten Friedlaenders Arbeiten rezipiert wurden. 1 Claude Haas: Einleitung. In: ders./Johannes Steizinger/Daniel Weidner (Hg.): Goethe um 1900. Berlin 2017, S. 7-23, hier: S. 8. 2 Samuel Lublinski: Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition [1909], hg. v. Gotthart Wundberg. Tübingen 1976, S.  1. Bereits in seinem Buch Die Bilanz der Moderne von 1904 liefert Lublinski eine solche soziologische Studie zu der das zweite Buch dann eine Art kritische Revision darstellt, indem Lublinski seine eigene Position zu Naturalismus und nun (erweitert) auch zur Neuromantik selbstkritisch neujustiert. Eine besondere Bedeutung für eine entstehende literatursoziologisches Disziplin nimmt Lublinski dort für sich in Anspruch, wo er betont, dass er „zum ersten Mal die moderne deutsche Literaturentwicklung aus ihren inneren Notwendigkeiten begründet“ habe (ebd., S. 235). Zu Lublinskis Methode und zur Einordnung seiner Studien in die Geschichte marxistisch orientierter Literatursoziologie vgl. das informative Nachwort von Gotthart Wundberg: Nachwort des Herausgebers. In: Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne [1904], hg. v. Gotthart Wundberg. Tübingen 1974, S. 369-406.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_004

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Kapitel 3

In der kritischen Analyse der neuromantischen Stimmungslage und Weltanschauung diagnostiziert Lublinski eine Spannung der Moderne, die „zwischen Einsamkeitsverlangen und Welteroberungssehnsucht ewig schwankt“3. Lublinski kritisiert vor allem „den Nihilismus und die unsinnige Haltlosigkeit jener kleinen Geister, die sich in aller Naivität für ‚Revolutionäre‘ hielten, während sie nichts waren als zu spät gekommene Epigonen der grossen französischen Revolution.“4 Der zeitdiagnostische Vorwurf des ‚Epigonentums‘ erinnert hier deutlich an Nietzsches oben angeführte kritische Anmerkung zu den „verkümmerte[n] Spätlinge[n]“. Im Gegensatz zu diesem epigonenhaften Maskenspiel gelte es, so Lublinski weiter, die Literatur nun zum zeitdiagnostischen Verhandlungsort und zum kritischen Organ moderner gesellschaftlicher Probleme zu machen, um „die innere intensive Umformung des deutschen Lebens durch Industrie und Kapitalismus, die Entstehung der modernen Grossstadt und die Einordnung des einzelnen, so weit er Arbeiter und Bürger war, in die soziale Organisation“5, beschreiben zu können. Naturalismus und Neuromantik haben indes nur die Maske der Revolution getragen, ohne wirklich einen revolutionären Stil zu bilden, dem – auf der Höhe der Probleme der Zeit – ein zeitkritischer Ausdruckswert zugesprochen werden könnte: „Noch weniger hatte die moderne Synthese, der moderne Stil, von solchen Vorkämpfern etwas zu erwarten, da ihr flüchtiges und nihilistisches Wesen nicht begreifen konnte, was eigentlich Stil und Form wären. Trotzdem lag ihnen die Hand der Entwicklung schwer im Rücken und drängte sie vorwärts, und so verfielen sie auf den hochgradig törichten Ausweg des Artistischen, nämlich der Ausdrucktechniken, und sie entwickelten gelegentlich ein beträchtliches Können, das aber bald genug zu Sport und Maskerade und Virtuosentum entartete, weil es nicht in eine grosse Form und eine geschlossene moderne Weltanschauung auszumünden vermochte. Dieser Seelenzustand der deutschen Literatur bestand schon vor vier Jahren, und ich tat meine Pflicht, als ich auf die Wunde, dieses heimlich eiternde Geschwür, nachdrücklich verwies und zeigte, dass sich auch bedeutende Talente der Krankheit nicht zu erwehren vermochten.“6

Der letzte Satz dieser Generalabrechnung macht deutlich: Ein revolutionäres Potential der literarischen Bewegung an der Jahrhundertwende hatte Lublinksi in seiner ersten Schrift Die Bilanz der Moderne (1904) selbst noch für möglich gehalten, sodass die Kritik an Naturalismus und Neuromantik vor allem auch 3 4 5 6

Samuel Lublinski, Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition [1909], S. 57. Ebd., S. 225. Ebd., S. 232. Ebd., S. 226.

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eine Selbstkritik darstellt. Daher zählt sich Lublinski auch am Ende des Buches selbst zu diesen Epigonen. Er betont, dass er durch die starre Orientierung an die „Marxistische[…] Theorie vom Klassenkampf“7 in seiner ersten Studie von 1904 übersehen habe, inwiefern ein „philosophische[r] Kampf gegen die Moderne zu Gunsten einer grösseren Moderne“8 ihr Subjekt nicht in der Arbeiterklasse finden kann, sondern allererst eine differenziertere Betrachtung der weltanschaulichen Gemengelage voraussetzt: „Darum war es wirklich eine Ahnungslosigkeit, von der Arbeiterbewegung und von der Theorie des Klassenkampfes die Synthese der Modernität zu erwarten.“9 Das „Ganze[…] der Kulturentwicklung“10 manifestiert sich für Lublinski nicht mehr in einem historischen Kollektivsubjekt, sondern in verschiedenen Bereichen, in der Politik, den parallel laufenden Entwicklungen in der bildenden Kunst und Literatur, in der Philosophie, aber auch – und hier findet eine Erweiterung statt – in der Naturanschauung. Dass es dabei nämlich darauf ankäme, die je spezifischen polaren Spannungen in diesen Bereichen für eine zeitdiagnostische Erkenntnis herauszuarbeiten, macht Lublinski beispielhaft an dem Zusammenhang von Naturwissenschaft und Naturgefühl deutlich. Dafür stellt Lublinski der Bedeutung neuerer naturwissenschaftlicher Theorien (Darwinismus, Monismus) das moderne Naturgefühl an die Seite, das sich zwar einerseits an der Naturwissenschaft orientiert, andererseits aber auch „jenseits aller Theorien steht und eine Betrachtung für sich verdient.“11 Diesem sich auch über einen Rückgriff auf die Romantik etablierenden modernen Naturgefühl attestiert Lublinski eine spezifische Ambivalenz. Auf der einen Seite dient Natur hier als Projektionsfläche und Sehnsuchtsort der Ruhe für die „moderne Seele, die vollere innerer Unruhe und Kultursehnsucht ist“12 und in der Natur jene Beständigkeit anzuschauen trachtet, die in der alltäglichen modernen Lebenswirklichkeit mit ihren Kontingenzen, Beschleunigungen und Unübersichtlichkeiten kaum mehr verstattet sei. Auf der anderen Seite könne aber selbst eine moderne naturmystische Einstellung letztlich nicht mehr zum Schauplatz von Einheitserfahrungen werden. Auch der moderne Naturmystiker nehme, so Lublinski, überall ein unendliches dynamisches Werden wahr: „[…] der moderne Naturmystiker lauscht dem Werden, dem Pulsschlag eines rastlosen Prozesses, den allein er als Substanz, 7 8 9 10 11 12

Ebd., S. 227. Ebd., S. 228. Ebd., S. 229. Ebd., S. 268. Ebd., S. 286. Ebd.

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Kapitel 3

als Sinn der Natur, gelten lassen möchte.“13 Gradmesser einer modernen Naturund Kulturauffassung wird für Lublinski daher nun eine gleichermaßen philosophische und ästhetische Denk- und Schreibweise, die diese polare Spannung zwischen dem Bedürfnis nach synthetischen Betrachtungen und der grundlegenden Differenzerfahrung in der Moderne zum Ausdruck bringen kann. Was Lublinski damit konkret meint, sei nachfolgend an einem ausführlichen Zitat dargelegt, das uns anschließend auf Friedlaender führen wird: „Der Grund für diese merkwürdige Erscheinung ist in der Kultursehnsucht des Menschen von heute zu suchen und zu finden. Die wahre Kultur ist eine Synthese von Spannungen und Kräften, die im lebendigsten Gegensatz aneinander prallen und sich bekämpfen, ohne dass doch eine Anarchie entsteht, ein wüstes Chaos, da die herrschenden Gewalten im entscheidenden Augenblick stets für Zusammenfassung und Entladung sorgen, so dass sich die Synthese, die Einheit, der Organismus ergibt. Danach sehnen sich heute die Besten, die von den utopischen Revolutionsidealen des Epigonentums nichts mehr wissen wollen und die Aufgabe der Moderne darin sehen, zu einer Synthese zu gelangen. Noch hat es bis zu diesem Ziel weite Wege, und so sucht man ein Sinnbild für den geahnten und ersehnten Zustand in der Natur. Dass diese zunächst die Ruhe bedeutet, die Substanz, den in sich geschlossenen Organismus fühlt natürlich auch der moderne Mensch mit gleicher Instinktsicherheit wie alle seine Vorfahren. Aber damit allein wäre ihm nicht geholfen, sondern er will auch den Gegensatz dazu empfinden: die Unruhe, die Spannung, den Kampf, den Tod und die Entstehung. Dann erst ergibt sich ihm ein Erlebnis, wie es sonst nur der hochgewölbte und auf tiefen Fundamenten ruhende Dom einer Kultur zu gewähren vermag. Er will den Rhythmus des Kampfes und der Gegensätze brausen hören, die Unruhe, den ewigen Prozess, den Werdeton: und wie sich dann der Krampf, die Spannung löst, der Rhythmus zu Akkord zusammenklingt und Pol und Gegenpol sich neutralisieren.“14

Auf den ersten Blick scheint die Passage auf ein Plädoyer für eine neue ‚organizistische Alleinheitsidee‘ zuzulaufen. Allerdings markieren die als Differenzfiguren fungierenden Empfindungen von „Unruhe, […] Spannung, […] Kampf, […] Tod und […] Entstehung“ deutlich eine für Lublinski konstitutive moderne Grunderfahrung, aus der sich zwar weiterhin ein kulturelles Bedürfnis nach einer Syntheseleistung ergibt, aber bei Lublinski nicht mehr auf den Motivkomplex und Imaginationsraum des substantiellen „geschlossenen Organismus“ zurückgreift, sondern mit dem von fern an Heraklit erinnernden Bild vom ‚akkordischen Zusammenklingen‘ vom Einsatz polarer Denkfiguren ausgeht. Gerade an dieser „moderne[n] Synthese“15 aus Einheit und Differenz 13 14 15

Ebd., S. 288. Ebd., S. 288f. Ebd., S. 226.

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mussten, so Lublinski, die von ihm kritisierten Literaturbewegungen um 1900 in ihrer Selbstreferentialität scheitern. Wenngleich Friedlaender und Lublinski in persönlichem Austausch standen, ist nicht mehr zu entscheiden, ob Friedlaender Lublinskis abschließend identifiziertes zeitgenössisches Bedürfnis und die damit einhergehende philosophische Aufforderung zur Entwicklung eines sowohl auf die „Synthese“ als auch auf ihren „Gegensatz“ bezogenen Konzepts des ‚neutralisierenden Zusammenklingens der Pole‘ wahrgenommen hat. Folgt man allerdings Wolfgang Martynkewicz, so hat Friedlaender dem um 1900 virulenten „Wunsch nach einem neuen Ich, nach Balance“16 durch den Begriff der ‚schöpferischen Indifferenz‘ ein wirkmächtiges Schlagwort, gar einen kulturellen „Kampfbegriff“17 geliefert. Und auch Lublinski selbst zählt Friedlaender bereits zu diesen „Besten, die von den utopischen Revolutionsidealen des Epigonentums nichts mehr wissen wollen und die Aufgabe der Moderne darin sehen, zu einer Synthese zu gelangen“, die die epochalen polaren Spannungen zwischen Ordnung und Chaos, Einheit und Vielheit, Zusammenhang und Fragmentierung einschließt: „Neben Schlaf ist der Lyriker und Philosoph Doktor S. Friedländer, der Verfasser einer Robert Meyer-Biographie und vorzüglicher Schopenhauer- und Jean PaulAnthologien, einer der feinsten und geistvollsten Vertreter der modernen Naturempfindung und Polaritätslehre.“18

Dort, wo in der Forschung die Diskursrolle Friedlaenders zu Beginn des 20. Jahrhunderts Erwähnung findet, wird gemeinhin neben der späteren Schöpferischen Indifferenz vor allem auf seine Nietzsche-Biographie von 1911 verwiesen, in der Friedlaender das kultur- und zeitdiagnostische Profil seiner Polaritätsphilosophie schärft. Da Lublinskis Moderne-Diagnose allerdings schon 1909 veröffentlicht wurde, nennt er andere Schriften. Bemerkenswert ist hier, dass er besonders Friedlaenders Mayer-Biographie als Ausdruck einer für die Modere adäquaten „Naturempfindung und Polaritätslehre“ hervorhebt, ein Werk immerhin, das auf den ersten Blick eine unauffällige populärwissenschaftliche Abhandlung ist, die als unliebsame Auftragsarbeit aus rein ökonomischen Gründen angenommen wurde. Die Spur, die Lublinski hier auslegt, ist allerdings tatsächlich ernst zu nehmen. In dem nachfolgenden Kapitel (3.1) werden wir beobachten können, wie Friedlaender bereits in dieser Biographie 16 17 18

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013, S. 286. Wolfgang Martynkewicz: 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Berlin 2019, S. 36. Samuel Lublinski, Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition [1909], S. 290f.

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Kapitel 3

eine polare Perspektive auf Problemstellungen der Zeit erprobt, die vor allem kritisch auf den vorherrschenden Entropie-Diskurs um 1900 reagiert. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen lassen, dass Friedlaender mit diesem zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren zugleich eine spezifische Position in dem bisher dargelegten ambivalenten Polaritätsdiskurs um 1900 zwischen Aktualität und rekursiven Imaginationen einzunehmen versucht, die einen reflektierten Bezug insbesondere auf Goethes Polaritätsdenken zugleich an den neusten thermodynamischen Entdeckungen bemisst. Im darauffolgenden Kapitel (3.2) wird sich die zeitkritische Perspektive anhand von Friedlaenders Nietzsche-Biographie nochmals pointieren lassen. Ein besonderer Fokus wird in beiden Kapiteln darauf zu legen sein, mit welchen schriftstellerischen Verfahren Friedlaender arbeitet, um den Aktualitätswert der Polarität für eine zeitdiagnostische Perspektive herauszuarbeiten. Sowohl in seiner Mayer- als auch in seiner Nietzsche-Biographie nutzt Friedlaender eine spezifische ‚prosopoöische Schreibweise‘: Er setzt sich die ‚Maske‘ Mayers resp. Nietzsches auf und schreibt durch sie hindurch seine eigene Philosophie in die Werke hinein. Dieses Verfahren gilt es genauer zu beobachten. 3.1 Polarität und Thermodynamik: ‚Geistesblitz‘ und nüchterne Synchronisierungsversuche in Friedlaenders J.R. Mayer-Biographie Der spätromantische Mesmerismus war ein Übertragungsphänomen in dop­ pelter Hinsicht: Zum einen war es eine sich gleichermaßen an hermetischen Beseelungsvorstellungen und den Imponderabilien entzündende Theorie der physikalischen, medizinischen, psychologischen und kosmologischen „Energieübertragung“19. Zum anderen konnte diese dynamische Anschauungsweise auf einer interdiskursiven Ebene und mittels Analogiebildungen selbst wiederum ‚übertragen‘ werden und gesellschaftstheoretisch als Grundlage für die Vorstellung fluider „soziale[r] Verbindungen“20 herangezogen werden. Anhand der in 2.2 dargelegten diskursiven Karriere polarer Denkfiguren um 1900 ließ sich außerdem noch eine dritte ambivalente Art von ‚Energieübertragung‘ beobachten: der Rekurs auf den Mesmerismus und die Spätromantik um 1900 und der damit zusammenhängende Versuch, diese Theorien für zeitaktuelle Krisenerfahrungen und Problemstellungen produktiv zu machen. Alle drei ‚Übertragungsebenen‘ – (i) die Ebene naturwissenschaftlicher Erklärung 19 20

Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 112. Ebd., S. 121.

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von Energieumwandlungen, (ii) die Ebene interdiskursiver, mithin analogischer Übertragung von (i) auf andere gesellschaftliche Bereiche wie Politik oder Ästhetik und (iii) die Ebene der durch Rekurse und Aktualisierungen erprobten ‚Übertragung‘ der ‚Energien‘ der Tradition für ein zeitdiagnostisches Erkenntnisinteresse – spielen auch in Friedlaenders Biographie über Julius Robert Mayer eine gewichtige Rolle. Im Gegensatz zu den ambivalenten und teilweise problematischen Rückbezügen auf spätromantische Theorien um 1900, erprobt Friedlaender in seiner Biographie über Julius Robert Mayer allerdings sowohl die grundsätzliche Reflexion über die „Erhaltung der Energie als Gegenstand einer möglichen Philosophie der Natur“ (F/M 12, 270) (i) als auch die Übertragung auf seine Polaritätsphilosophie (ii) an einer strikten Synchronisierung mit den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Da Friedlaender zudem den lange anhaltenden und unnachgiebig ausgetragenen Streit um die Bedeutung des praktizierenden Arztes Mayers für die Entdeckung des physikalischen Energieerhaltungstheorems durchgehend mit der Auseinandersetzung Goethe contra Newton (vgl. F/M 2, 304-307) parallelisiert, entsteht hier zudem eine kritisch reflektierte Bezugnahme auf die Geschichte des Polaritätsdenkens (iii). Insgesamt bemüht sich Friedlaender anhand der Biographie Mayers und der Entdeckungsgeschichte des Energieerhaltungsgesetzes sukzessive auf allen drei Ebenen um eine kritische ‚Theorie der Übertragung‘ auf seine Polaritätsphilosophie und polare Ästhetik. Die Pointe von Friedlaenders Rückkopplung seiner ersten polaritätsphilosophischen Schreibversuche im letzten Teil der Biographie wird darin liegen, dass er solche ‚Übertragungen‘ mit dem Grundgedanken der Energieumwandlung und -erhaltung aus dem ersten thermodynamischen Satz kurzschließt. Die Synchronisierung mit aktueller naturwissenschaftlicher Forschung und der kritische Rekurs auf die Geschichte polarer Denkfiguren auf eine zeitdiagnostische Schreibweise zu übertragen, werden hier selbst wiederum als eine Art ‚thermodynamische‘ Energieübertragung imaginiert. Friedlaender geht es jedoch nicht um einseitige Übertragung im Sinne eines irreversiblen Prozesses wie er sich im zweiten, unter dem Begriff der Entropie bekannten Satz der Thermodynamik ausgedrückt findet, sondern um produktive, dynamische Wechselverhältnisse zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Ästhetik. Es wird sich zeigen lassen, dass diese ‚Übertragungstheorie‘ damit gewissermaßen eine ‚Wissenspoetologie‘ avant la lettre darstellt, in der „Wissenschaft und Künste mit strenger Milde einander die Hände bieten“ (F/M 12, 274). Für den Übergang zur zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren ist Friedlaenders Mayer-Biographie von Interesse, weil Friedlaender hier erstmals einen Versuch unternimmt, Polarität als provisorische Heuristik

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Kapitel 3

einzuführen: „Wir erhalten eine sehr taugliche heuristische Maxime, nichts mehr.“ (ebd., 279). Die von Friedlaender im letzten Abschnitt des Buches erprobten diskreten Übertragungsversuche mittels erkenntniskritisch reflek­ tier­ter Analogiebildungen bilden auch die Grundlage der zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren bei Friedlaender und Benjamin in den 1920er und 30er Jahren. Bevor dieser ‚Übertragungsversuch‘ ausgefaltet werden kann, müssen zunächst einige Anmerkungen zu den Publikationsund Produktionskontexten der Biographie vorangeschickt werden, von denen aus der ‚diskursinterventionistische‘ Charakter des Buches gegenüber dem um 1900 vorherrschenden Entropie-Diskurs lesbar wird. Friedlaenders 1905 veröffentliche Biographie über Julius Robert Mayer scheint auf den ersten Blick zunächst eine reine Auftragsarbeit zu sein, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Polaritätsphilosophie steht. Gegenüber seiner Schwester bezeichnet er sich selbst ironisch als „berühmte[n] Mayer-Forscher“ (F/M 24, 160) und beklagt zudem, „unter dieser elenden Abhängigkeit“ (ebd.) zu leiden. Auf der anderen Seite nennt er das Vorhaben, durch eine populärwissenschaftliche Darstellung des Lebens und Wirkens Mayers diesem den gebührenden Platz als Entdecker des ersten thermodynamischen Satzes zu sichern, ein „löbliche[s] Unternehmen“ (ebd., S.  150). Vermittelt über den Schriftsteller Rudolf Pannwitz bot Lothar Brieger-Wasservogel Friedlaender an, diese Aufgabe im Rahmen der geplanten Reihe Klassiker der Naturwissenschaften zu übernehmen.21 In der Verlagsanzeige zu dieser Publikationsreihe heißt es: „Wie bereits aus diesen Titeln zu ersehen ist, handelt es sich um eine Reihe von Biographien derjenigen Männer, die sich durch ihre Forscher- und philosophische Tätigkeit um die Förderung der Naturwissenschaft hochverdient gemacht haben. Beabsichtigt ist mit diesem Unternehmen nicht nur eine Reihenfolge untereinander nicht zusammenhängender Biographien zu bieten, sondern darüber hinaus ein naturwissenschaftliches Weltbild zu geben.“ (zit. n. F/M 12, 289)

Indem nicht nur die Forschungstätigkeiten und Entdeckungen fokussiert, sondern zugleich auch die Möglichkeit eines „naturwissenschaftliche[n] Weltbild[s]“ befragt werden soll, verfolgt die Reihe eine zeittypische populärwissenschaftliche Agenda. Andreas Daum hat in seiner Studie zur Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert gezeigt, dass nach 1848 neue 21

Für detaillierte Angaben zur Entstehungsgeschichte vgl. Detlef Thiel: Einleitung: Das Gesetz der Erhaltung des Lebens. In: F/M 12, S. 9-61. Pannwitz, mit dem Friedlaender eine Freundschaft verbindet, ist Mitherausgeber der Zeitschrift Charon, in der Friedlaender Gedichte publizierte. (vgl. ebd., 10f.).

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populärwissenschaftliche Textgattungen entstehen, die vor allem eine Reaktion auf die zunehmende Professionalisierung, Spezialisierung, Disziplinierung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften darstellen.22 Populärwissenschaftliche Darstellungen reagieren dabei auf eine Diskrepanz zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft: Auf der einen Seite sichern die positivistischen Naturwissenschaften ihr Selbstbild dadurch ab, dass sie klare disziplinäre Trennungslinien ziehen, um sich von allen Restbeständen romantischer Naturspekulation zu befreien. Zudem versuchen sie sich zunehmend gegenüber den an sie gerichteten gesellschaftlichen Ansprüchen zu autonomisieren. Solche Ansprüche konnten bereits weiter oben an Samuel Lublinskis zeitdiagnostischer Abhandlung Der Ausgang der Moderne beobachtet werden, in der die Forderung aufgestellt wurde, zwischen Naturwissenschaft, Naturanschauung und Kunst das Bedürfnis des modernen Menschen nach einer zusammenhängenden Anschauungsweise dadurch gerecht zu werden, dass eine Synthese gerade moderne Differenzerfahrungen miteinschließt. Auf der anderen Seite nehmen die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert selbst für sich in Anspruch, Leitdisziplin zu sein. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses entsteht, so hat es Andreas W. Daum herausgearbeitet, nach 1848 ein zunehmendes Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an Aufklärung über die neusten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse.23 Populärwissenschaftliche Darstellungen entwickeln sich hier im Zuge der Forderung nach Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für den sich ausbildenden Kommunikationsraum bürgerlicher Öffentlichkeit. Sie sind aber keineswegs bloß passive Vermittler. Vielmehr entspinnt sich an den Debatten um wirkungsvolle Popularisierungsstrategien und den ihnen angemessenen Textformen nicht zuletzt auch die Frage nach der Möglichkeit eines weltanschaulichen Angebots durch die Naturwissenschaften. Durch ihren Vermittlungsanspruch unterläuft populärwissenschaftliche Literatur immer schon die Trennung der Wissenschaften in zwei Kulturen und kann so auch zum Kampfplatz für Weltanschauungskonflikte der Zeit werden. Damit 22 23

Vgl. Andreas  W.  Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848-1914. München 22002. Dabei sieht Daum die Wissenschaftspopularisierung auch als Motor dieser Entwicklung, denn sie sei zugleich „Ferment wie eine Folge des Durchbruchs zur Kommunikationsgesellschaft in Deutschland.“ (ebd., S. 5) Daums Studie hat den besonderen Vorzug, dass sie keine bloß einseitige Vermittlungslogik von den Wissenschaften zu ihrer Popularisierung darstellt. Die Studie zeigt vielmehr, dass auch die Popularisierungsanstrengungen auf die Wissensproduktion zurückwirkt, so dass hier Interaktionen und Rückkoppelungseffekte zu beobachten sind.

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geht außerdem die Gründung von Vereinen und Gesellschaften wie dem Giordano-Bruno-Bund, dem Keplerbund oder dem Monisten-Bund einher.24 In diesem Zusammenhang aus Wissenschaftspopularisierung und Weltanschauungsfragen ist auch die Reihe Klassiker der Naturwissenschaften zu verorten, in der Friedlaenders Mayer-Biographie erscheint. Welchen Erfolg der popularisierungsstrategische Impuls von Friedlaenders Buch hatte, ist schwerlich zu ermitteln. Betrachtet man sich jedoch die diskursiven Interaktionen zwischen Naturwissenschaft und Gesellschaft um 1900 kann man durchaus davon ausgehen, dass Friedlaenders Buch vor allem in Bezug auf die weltanschaulichen Aspekte der Popularisierung einen schweren Stand gehabt haben dürfte. Denn immerhin steht mit seiner Darstellung des Wirkens Julius Robert Mayers dort der erste thermodynamische Satz als interdiskursiver/weltanschaulicher Bezugspunkt zur Debatte, wo um 1900 der Entropie-Diskurs in der Folge des zweiten thermodynamischen Satzes eine viel deutlichere und wirkmächtigere Rezeption erfahren hat.25 Diese Karriere des Entropie-Diskurses ist nicht nur einseitig von einer gesellschaftlichen Rezeption im Rahmen der Décadence und unter den Vorzeichen einer kulturellen Erschöpfungssemantik an der Jahrhundertwende zu erklären, sondern scheint zugleich von den Naturwissenschaften selbst befördert worden zu sein. So vermutet Christian Kassung, dass Rudolf Clausius’ Übersetzung der abstrakten mathematischen Grundlagen des zweiten thermodynamischen Satzes in den handlicheren Begriff der ‚Entropie‘ bereits auf Interdiskursivität hin angelegt ist. Dadurch, dass Clausius die abstrakte mathematische Formel der Entropie „durch die Aussage ‚Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu‘ ersetzt“, entstehe, so Kassung weiter, eine „Offenheit 24

25

Der Aufschwung von weltanschaulichen Vereinen, Bünden und Interessengruppen am Ende des Kaiserreichs verortet Daum zwischen „kulturelle[r] Desorientierung, metapolitische[m] Deutungsbedarf und Weltdeutungsangebote[n]“ und im „Kräftefeld zwischen Lebensreformbewegung, neuen Gesellschaftsutopien und einem szientistischen Technokratismus.“ (Andreas  W.  Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 193). Beide Sätze beschreiben das Verhältnis von Wärme und Bewegung. Der erste Satz beschreibt die Energieerhaltung in einem geschlossenen System. Energie kann weder produziert noch verloren, nur umgewandelt werden. Der zweite Satz steht dem Äquivalenzprinzip dahingehend entgegen, dass Energie zwar weiterhin erhalten bleibt, aber der Prozess zur Umwandlung in Wärme ist hier irreversibel. Jedes geschlossene System läuft damit auf das Maximum dessen hinaus, was Rudolf Clausius ‚Entropie‘ genannt hat. In Bezug auf die Welt bedeutet dies, dass sie einem unumkehrbaren Wärmetod entgegenstreben würde. Für eine übersichtliche Einführung in die Thermodynamik vgl. Peter Atkins: Vier Gesetze, die das Universum bewegen. Eine Einführung in die Thermodynamik. Stuttgart 2014.

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des thermodynamischen Entropiediskurses“, der ihn auch für weltanschauliche Rezeptionen zugänglich mache.26 Für diesen weithin zirkulierenden Entropie-Begriff um 1900 ist außerdem ausschlaggebend, dass gerade Wissenschaftler wie Helmholtz oder Boltzmann selbst in ihren öffentlichen, die Entropie popularisierenden Vorträgen eine deutliche Trennung zwischen Naturwissenschaft und kultureller Semantik bewusst unterlaufen und entweder offensiv oder diskret auf die Weltbildfähigkeit insistieren. Entropie wird so zunehmend zu einem „kulturelle[n] Kampfplatz“27 an dem sich Prozesse gesellschaftlicher Selbstdeutung und -problematisierung entspinnen. Daneben wirkt sich der Entropie-Diskurs auch auf die historistische Mentalität der Zeit aus. In seinem primär für kulturwissenschaftliche Raumtheorien epochenmachenden Vortrag Von anderen Räumen (1967/1984) hat Michel Foucault die Bedeutung des zweiten thermodynamischen Satzes für das Geschichtsbild des 19. Jahrhundert deutlich hervorgehoben: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. Das wichtigste Reservoir, aus dem das 19. Jahrhundert seine Mythen schöpfte, war der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik.“28

Mit dieser eingängigen Beschreibung des zweiten Satz der Thermodynamik als Mythenreservoir hat Foucault sicherlich auch die intensive kulturwissenschaftliche und wissenspoetologische Forschung zum Entropiediskurs mitgeprägt. Friedlaenders Versuch, die Geltung des ersten thermodynamischen Satzes für eine zeitgemäße polare Philosophie und Schreibweise herauszuarbeiten, stellt sich ganz bewusst quer zu diesem hegemonialen Diskurs der Zeit. Das scheint nicht zuletzt auch an den gängigen Reflexionen über die historische Zeit zu liegen, die von der Vorstellung der Entropie befördert wurden. Denn die Vorstellung der Irreversibilität von Prozessen, die im zweiten Hauptsatz formuliert ist, konnte zum „Modell[…] von Geschichtsbetrachtung werden“, weil hier in einem physikalischen Gesetz der „Faktor Zeit als Geschichtlichkeit faßbar“

26 27 28

Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ im Diskurs der modernen Physik. München 2001, S. 187. Vgl. Elizabeth Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915. Freiburg i.Br. u.a. 2006. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band IV (1980-1988), hg. v. Daniel Defert/François Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 931-942, hier: S. 931.

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Kapitel 3

wird.29 Die Faszination für diese naturwissenschaftliche Vorstellung einlinig verlaufender Prozesse stößt in der Geschichtsbetrachtung allerdings dort an ihre Grenze, wo mit dem Maximum an Entropie zugleich das Ende der Geschichte angezeigt wäre. Hier knüpfen dann kulturdiagnostische, gesellschaftskritische und apokalyptische Deutungsversuche der Entropie an, die sich zwischen „apokalyptische[m] Topos“30, „Figur der Auswegslosigkeit“31, Motiv für „Verfall, Wärmetod und Endzeitstimmung“32 bewegen. Diese Narrative legen es nahe, die „Geschichte des Entropiesatzes als […] Kulturgeschichte“33 zu betrachten. An der apokalyptischen Dimension der Entropie ließ sich entweder ein Szenario des Untergangs des Abendlandes (Oswald Spengler) zeichnen oder aber auch Strategien der Gegensteuerung erproben. Die Allgegenwart der Entropie-Diskurse erzeugt auch eine Konjunktur beispielsweise von Ratgeberliteratur über die Erlangung neuer ‚Willenskraft‘34 oder der Forschung darüber, wie man physiologischen Ermüdungserscheinungen bei den Industriearbeitern entgegenwirken kann.35 Der „symbolische[n] Applikationskraft“ des Entropiesatzes für „Wissenschaftsmythen und […] Erzählschemata“36 eignete also insgesamt erstens eine (vor allem literarisch attraktive) tragische Dramaturgie37 und zweitens drängte sich mit ihr ein Weltbild in linearer Abfolge auf – von der Ordnung zur Unordnung, von der Struktur zum Chaos, von der gesellschaftlichen Orientierung zur Orientierungslosigkeit. Auf der anderen Seite steht jedoch den ubiquitären entropischen Rhetoriken und 29

30 31 32 33 34

35

36 37

Joachim Metzner: Die Bedeutung physikalischer Gesetze für die Literatur. In: DVjs 53/1 (1979), S.  1-24, hier: S.  20. Ähnlich hält Kassung fest: „Erstmals wird in der Geschichte der Physik die Geschichte eines Prozesses erzählt, d.h. eines real verlaufenden Prozesses, für den Vergangenheit und Zukunft nicht beliebig vertauschbar sind […].“ (Christian Kassung, EntropieGeschichten, S. 143). Christian Kassung, EntropieGeschichten, S. 184. Joachim Metzner, Die Bedeutung physikalischer Gesetze für die Literatur, S. 5. Aura Maria Heydenreich: Wachstafel und Weltformel. Erinnerungspoetik und Wissenschaftskritik in Günter Eichs ‚Maulwürfen‘. Göttingen 2007, S. 284. Elizabeth Neswald: Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Entropie. In: Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 4/2 (2009), S. 21-32, hier: S. 22. Vgl. Michael Cowan: Energieregulierung. Willenskultur und Willenstraining um 1900. In: Barbara Gronau (Hg.): Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen. Bielefeld 2013, S.  67-85; Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880-1900. Berlin 2009, S. 14-17. Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien 2001. Für einen kulturwissenschaftlichen Überblick über den Zusammenhang von Ermüdung und Moderne vgl. auch Wolfgang Martynkewicz, Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013. Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 346. So bei John  M.  Prausnitz: Thermodynamik und die anderen Geisteswissenschaften. In: Merkur 39 (1985), S. 1053-1064, hier: S. 1062-1064.

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Deutungsmustern diametral eine Fortschrittsgeschichte entgegen, die sich zu Beginn des Jahrhunderts noch an der Dampfmaschine als Leitmotiv orientiert hat und für die der erste thermodynamische Satz ein kulturelles Imaginäres der scheinbar unendlichen produktiven Energietransformationen geliefert hat.38 Diese überspitzte Gegenüberstellung der gesellschaftlichen Rezeption und Bedeutung des ersten und des zweiten Satzes der Thermodynamik betrifft weniger die konkreten wissenschaftsgeschichtlichen Abläufe als vielmehr die Narrative sowie die „epochalen Bewusstseinslagen […] und […] mentale[n] Strukturen“39, die sich mit den beiden thermodynamischen Sätzen verbinden.40 Die Gegenüberstellung bildet zugleich die Folie, vor deren Hintergrund Friedlaender die „früheste populäre Darstellung von Mayers Leben, Werk und der Folgen seiner Entdeckung“41 schreibt. Friedlaenders polare Erzählkonstruktion dient den drei Vorhaben, die er verfolgt, um sich als Kritiker des vorherrschenden Entropie-Diskurses zu Wort zu melden. Diese drei Schreibstrategien korrespondieren mit den eingangs aufgelisteten Ebenen von (i) der naturwissenschaftlichen Forschung und betrifft hier konkret den Versuch, Mayers Rolle in der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts hervorzuheben; (ii) die ‚interdiskursive Ebene‘ betrifft die kritische Auseinandersetzung mit den diskursiven Zirkulationsformen der Entropie zwischen Naturwissenschaft, Philosophie, Ästhetik und Zeitdiagnostik; (iii) indem Friedlaender sich 38 39 40

41

Vgl. hierzu auch Michel Serres: Hermes IV. Verteilung. Berlin 1993. Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen, S. 346. Wenn die kulturellen Selbstdeutungsprozesse sich um 1900 vor allem an dem Imaginationsraum und dem symbolischen Bildreservoir der Entropie orientieren, scheint sich schließlich auf den ersten Blick eine Diskrepanz zwischen einerseits der recht späten Etablierung des Begriffs der Entropie im Jahre 1865 durch Rudolf Clausius einerseits und andererseits der Promotion zur Epochensignatur für das gesamte 19. Jahrhundert bei Foucault zu ergeben. Allerdings geht es Foucault in seiner archäologischen Methodik zum einen ohnehin nicht um strikte Chronologien, sondern um Aussageregeln in Diskursformationen. Und zweitens zeichnet sich auch der erste thermodynamische Satz durch eine, wie Kassung es nennt, „epistemologische Verspätung“ (Christian Kassung, EntropieGeschichten, S.  147) aus. Denn der französische Physiker Carnot hatte bereits 1824 eine Schrift publiziert, in der einige Elemente des zweiten Satzes beschrieben sind. Der Grund für die Verspätung der Formulierung des ersten Satzes, der überhaupt erst eine neue Wärmelehre, eine neue Vorstellung über Materie, Kraft und Energie initiieren konnte, lag darin, dass die vorherrschenden Stofftheorien der Wärme, in denen von einem materiellen, unwägbaren Substrat ausgegangen wurde, den Blick auf das Prinzip der Energieumwandlung, auf das mechanische Wärmeäquivalent versperrten. Mit Gaston Bachelard spricht Kassung daher auch von einem „epistemologischen Hindernis“ (vgl. ebd., S. 59f.). Die hier eingesetzte idealtypische Gegenüberstellung konnte daher selbst eigentlich erst retrospektiv an der Jahrhundertwende wahrgenommen werden. Detlef Thiel, Einleitung: Das Gesetz der Erhaltung des Lebens, S. 9.

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Kapitel 3

auf der dritten Ebene „die Maske Julius Robert Mayers vor[…]binden“ (F/M 12, 289) wird, versucht er die auf den vorangegangenen Ebenen entwickelten Einsichten für eine zeitgemäße polare Denk- und Schreibweise produktiv zu machen. Auf dieser dritten Ebene ist dann auch Friedlaenders kritischer Kommentar zu der diskursiven Konjunktur polarer Denkfiguren um 1900 zu verorten. Alle drei Vorhaben sind nicht immer eindeutig getrennt, sondern laufen entweder parallel oder gehen teilweise ineinander über. Das gleichermaßen narrative und wissenschaftstheoretische Bindeglied zwischen allen drei Bereichen stellt die Darstellung der ‚Urszene‘ von Mayers Entdeckungen dar; jener ‚Geistesblitz‘, den Friedlaender nicht nur ausführlich schildert, sondern zu einem epistemologischen Argument ausbaut, das man als eine den positivistischen Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts genauso wie der Grundlagenkrise der Wissenschaften um 1900 entgegengesetzte, mitunter gegendiskursive ‚Epistemologie des Aperçus“ bezeichnen könnte. Es werden zunächst einige kurze Anmerkungen zu diesem Aperçu folgen, um dann vor allem entlang der drei genannten Ebenen zu zeigen, welche gleichermaßen wissenschafts- und zeitkritischen Argumente Friedlaender an Mayers Aperçu knüpft. Ein Aperçu lässt sich zunächst grosso modo als ‚Geistesblitz‘ bzw. als kurzeitige, plötzliche Einsicht in einen vorher unanschaulichen Zusammenhang charakterisieren. Mayers Entdeckungen und Forschungen zur Thermodynamik resultieren tatsächlich aus einem solchen ‚Geistesblitz‘, der sich auf das Jahr 1840 datieren lässt: Mayer befindet sich als Schiffsarzt auf dem holländischen Schiff Java und macht im Rahmen der damals gegen Erschöpfungssymptome oder Aufregungszustände üblicherweise eingesetzten medizinischen Praxis des Aderlasses die Beobachtung, dass in tropischen Regionen das eigentlich dunklere Venenblut fast so hell ist wie arterielles Blut. Er führt dies auf die Einwirkung von Wärme zurück. Das ist die ‚Geburtsstunde‘ des Nachdenkens über den Zusammenhang von Wärme und Energie und wird zur Formulierung des ersten thermodynamischen Satz führen. Damit entspricht dieser sich plötzlich einstellende ‚Geistesblitz‘ anhand einer abseitigen medizinischen Beobachtung, die dann zum Movens für die Revolutionierung der Physik wird, der Forderung an ein Aperçu, wie es Friedlaender gleich zu Beginn seines Buches formuliert: „Mit der allergeringsten einzelnen Erfahrung zündet man ein Licht an, das die Welt erleuchtet. Nur muß es eben auch eine wirkliche Sinneserfahrung sein. Gar nicht genug Urteils ist hier aufzubieten, und keine Spekulation kann tiefsinnig genug sein, um den einzelnen die Weihe des allgemeinen zu geben. Dem Genie gilt, wie Goethe sagt, ein Fall für tausend; eben daran ist es kenntlich. Verständige Sinnlichkeit muß, wenn sie zur lebendigen Weltanschauung führen

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soll, mit vernünftiger Spekulation Hand in Hand gehen: Apriorismus mit Empirie!“ (ebd., 71)

Mit dem eingeschobenen Verweis auf Goethe ist zugleich die zweite wichtige Referenz sowohl für die Überlegungen zum Aperçu als auch für den späteren Versuch einer polaritätsphilosophischen Übertragung eingeführt. Friedlaender wird den rekonstruierten Streit um die Bedeutung von Mayers Entdeckungen durchgehend mit Goethes gegen Newton vorgetragenen Überlegungen zur Farbenlehre parallelisieren, um an beiden Geschichten zwei Dinge aufzuzeigen: Erstens argumentiert Friedlaender dafür, dass es abseits dessen, was die ‚offizielle‘ Wissenschaftsgeschichte erzählt, bedeutende Erfindungen und Entdeckungen gibt, die nur deshalb ausgeblendet werden, weil sie den jeweiligen diskursiven Aussageregeln nicht zu gehorchen scheinen. Und daran anknüpfend und bereits auf seine eigenen später angeführten ‚Übertragungsversuche“ vorausweisend, versucht er zu zeigen, dass sich diese andere Geschichte naturwissenschaftlicher Entdeckungen gerade an produktiven Diskursschnittstellen vollziehen – bei Mayer zwischen seiner Tätigkeit als praktizierender Arzt und seinem physiktheoretischen Interesse, bei Goethe zwischen Wissenschaft und Kunst. Schaut man in diesem Zusammenhang an derjenigen Stelle in Goethes Farbenlehre nach, aus der Friedlaender den eben zitierten Satz entnimmt, so findet sich dort eine Erklärung des Aperçus wie sie für Friedlaender maßgebend ist: „Alles kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Aperçu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt. Und ein solches Gewahrwerden ist bis ins Unendliche fruchtbar.“42

Dass dem Aperçu Mayers diese ‚unendliche Produktivität‘ eignet, wird Fried­ laender zunächst auf der ersten, biographischen Ebene entlang der Entde­ ckungsgeschichte des ersten thermodynamischen Satzes sukzessive begründen und in der Folge dann sowohl auf einer wissenschaftstheoretischen und interdiskursiven Ebene als auch auf der Ebene der philosophischen ‚Übertragung‘ weiterverfolgen. (i) Biographische Ebene der Entdeckung eines Naturgesetzes: Das erste Vorhaben der Arbeit, das wesentlich auf der Ebene biographischer Darstellung des Lebens Mayers angesiedelt ist, betrifft den Versuch, den „ausübende[n] Arzt“ (F/M 12, 155) Mayer, der als Außenseiter eines der wichtigsten physikalischen 42

Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 689.

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Kapitel 3

Gesetze des 19. Jahrhunderts entdeckt hat, den ihm gebührenden Platz in der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zuzusprechen. Friedlaender schildert ausführlich Mayers bis in den Wahnsinn gehenden Leidensweg und erzählt die Geschichte einer historischen Ungerechtigkeit, die Mayer seitens der ‚offiziellen‘ Naturwissenschaften widerfahren sei, weil diese es vor dem Hintergrund der Institutionalisierungsprozesse und ihres Selbstverständnisses scheinbar nicht ertragen konnte, dass eine disziplinäre ‚Randfigur‘ eher zufällig das Gesetz der Energieerhaltung entdeckt hatte. Wenn Mayers Leistungen bei der Entdeckung des Energieerhaltungsgesetzes von der ‚offiziellen‘ Wissenschaft lange Zeit nicht anerkannt wurden, so Friedlaender, läge das darin, dass dessen Entdeckungen von dem Gesichtspunkt einer „mathematische[n] Verbrämung“ (ebd., 109) aus als reine Spekulation erscheinen mussten. Diese Annahme resultiere vor allem aus den engen disziplinären Grenzsetzungen, die Aussagen ausschließen, die nicht unmittelbar den Regeln der Disziplin entsprechen: „[…] man hielt in Heidelberg und Karlsruhe Mayer nach seiner ersten Kundgebung ‚für einen Narren‘. Und das waren die urteilsfähigen Richter, von deren Spruch Mayer beinahe das Schicksal seiner Gedankenarbeit verhängnisvoll abhängig gemacht hätte! Fachleute sind, wie es in ihrer Natur liegt, höchst selten weitsehend genug, um über die Grenzen ihrer geistigen Gewöhnungen hinaus etwas Ungewöhnliches zu erblicken; viel seltener aber großherzig genug, um es, wenn sie es erblickt haben, nicht für sich selber zu usurpieren; das ist eine historische Erfahrung, die es noch lange bleiben wird.“ (ebd., 88f.)

Durch die engen Grenzen der Fachleute war denn auch eine fachliche Rezeption von Mayers Entdeckungen paradoxerweise erst in dem Augenblick möglich, als er für wahnsinnig erklärt wurde und seine Einsichten somit selbst als das Resultat einer Grenzüberschreitung erschienen. Wenngleich Mayer 1904, also zur Zeit der Abfassung der Mayer-Biographie, längst die Anerkennung zuteilgeworden ist, die er zeitlebens kaum erhalten hat und die Friedlaender hier vor dem Hintergrund einer Kritik an der positivistischen Naturwissenschaft nochmals nachdrücklich reklamiert, liegt der ‚Prioritätsstreit‘ bezüglich der Entdeckung des ersten Hauptsatzes noch nicht allzu lang zurück. 25 Jahre zuvor hatte Eugen Dühring bereits einen ähnlichen, aber ungleich schärfer vorgetragenen Versuch unternommen, Mayers Platz in der Wissenschaftsgeschichte zu sichern.43 Die Einzelheiten dieses Streits und vor allem die detaillierten biographischen Darstellungen können hier nicht 43

Eugen Dühring: Robert Mayer, der Galilei des neunzehnten Jahrhunderts und die Gelehrtenunthaten gegen bahnbrechende Wissenschaftsgrößen. Eine Einführung in seine Leistungen und Schicksale. Chemnitz 1880.

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weiterverfolgt werden. Ohnehin hat eine neuere Wissenschaftsgeschichte bereits gezeigt, dass die Entdeckung des Energieerhaltungsgesetzes vielmehr ein paradigmatischer Fall der gleichzeitigen Entdeckung eines Naturgesetzes durch verschiedene Personen und unter verschiedenen experimentellen, technischen und (natur-)philosophischen Voraussetzungen ist.44 (ii) Wissenschaftstheoretische und interdiskursive Ebene: Es geht Friedlaender nicht bloß um die biographische Nachzeichnung des Psychograms eines Naturforschers. An den Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Nobilitierung der Forschungen Mayers knüpft Friedlaender zugleich eine kritische Bestandsaufnahme der Formen diskursiver Wechselwirkungen zwischen Naturwissenschaften und Gesellschaft. Mit dem „Versuch einer historisch-kritischen Erwägung des Robert Mayerschen Prinzips“ (F/M 12, 256) zielt Friedlaender darauf, gegenüber den vorherrschenden entropischen Diskursen und Ästhetiken der Irreversibilität einen anderen Blick auf die Wechselwirkungen und auf die diskursiven Interferenzen zwischen Wissenschaft, Ästhetik und Gesellschaft zu erproben. Dafür baut er die biographische Darstellung von Mayers Aperçu zu einem epistemologischen Argument aus. Friedlaender betont zunächst, dass Mayer bei seiner plötzlichen Einsicht am Blut der Matrosen auf dem Schiff Java „geradezu inspiriert“ (ebd., 71) gewesen sei. An diese Anmerkung knüpft Friedlaender den Versuch, gegen die ausschließliche Fixierung der positivistischen Wissenschaften auf mathematische Formalisierungen, „vernünftige Spekulation“ (ebd., 71), Inspiration, Plötzlichkeit, mithin eine affektive Disposition in den prekären Anfängen des Denkens zur Geltung zu bringen. Eine solche „somatische Dimension“45 des Aperçus hat auch Peter Matussek gleichermaßen für Goethes theoretische Reflexionen über das Aperçu im Allgemeinen und für dessen Aperçu über „das Urphänomen der Farbe“46 im Besonderen hervorgehoben. Matussek geht davon aus, dass 44 45

46

Vgl. Thomas  S.  Kuhn: Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung. In: ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 1978, S. 125-168. Peter Matussek: ‚Es ist das Höchste, wozu es der Mensch bringt.‘ Das Aperçu bei Goethe. In: Akio Ogawa/Kazuhiko Tamura/Dieter Trauden (Hg.): ‚Wie alles sich zum Ganzen webt‘. Festschrift für Yoshito Takahashi zum 65. Geburtstag. Tübingen 2010, S. 103-115, hier: S. 104. Matussek stellt zu Beginn seines Aufsatzes fest, dass zwischen Goethes Aussage, wonach „alles“ in der Wissenschaft auf das Aperçu ankomme und der bisher kaum erforschten Bedeutung dieses Aperçus in der Goethe-Forschung, eine auffällige Diskrepanz besteht. (vgl. ebd., S.  103). Vgl. auch Stefan Blechschmidt: Goethes lebendiges Archiv. Mensch – Morphologie – Geschichte. Heidelberg 2009, S. 182-191. Peter Matussek, ‚Es ist das Höchste, wozu es der Mensch bringt.‘ Das Aperçu bei Goethe, S. 106.

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Kapitel 3

Goethe den Begriff des Aperçus vom „originalsprachlichen Bedeutungsfeld des Verbs apercevoir, das zwischen ‚wahrnehmen‘ und ‚entdecken‘ changiert“47, her gedacht habe. Weiterhin vergleicht er das Aperçu mit dem berühmten „Heureka-Erlebnis“48 des Archimedes und sieht eine strukturelle Ähnlichkeit darin, dass beide Erlebnis- und Ereignistypen nicht eine ex-nihilo-Einsicht bezeichnen, sondern ihre Vorgeschichte in einer harten, beschwerlichen Arbeit am Gegenstand haben. Auch Friedlaender scheint diese Doppelung gewissermaßen aus Nüchternheit und Rausch bewusst gewesen zu sein, da er die besondere Qualität des Aperçus gerade darin sieht, dass man mit ihm die apriorischen Voraussetzungen, die man in jede noch so empirische Forschung immer mitführt, beweglich halten könne. So heißt es bei Friedlaender: „Wir brauchen die Beweglichkeit jeder Voraussetzung […].“ (ebd., 77) Nur so könne das Aperçu letztlich immer erneut wirksam werden. Im Aperçu vermutet Friedlaender eine wissenschaftliche Grundhaltung, die die „elastischste[n] Maxime[n]“ (ebd., 275) produziert, deren Übertragbarkeit auf andere Bereiche erkenntniskritisch-nüchtern in der Tradition des „besonnen […] mehr nüchterne[n] als dämonische[n] Kant“ (ebd., 266) erwogen sein will. Auf diese Doppelstruktur aus nüchterner Verstandestätigkeit und harter Arbeit auf der einen Seite und plötzlicher Einsicht im nicht vollständig aufzuklärenden Ereignis des Aperçus auf der anderen Seite kommt es Friedlaender an. Max Weber wird diese Doppelung aus nüchternem Tageswerk und affektiver (bis hin zur manischer) Besessenheit dann knapp zwanzig Jahre später zur Grundkonstitution der Wissenschaft als Beruf erheben.49 Mehrmals betont Friedlaender, wie besonnen und zurückhaltend Mayer bei möglichen Übertragungen seines thermodynamischen Aperçus war. Das scheint für Friedlaenders eigene Versuche der Analogisierung polarer Denkfiguren auf unterschiedliche Bereiche durchaus Vorbildfunktion gehabt zu haben. Zwar bestehe die produktive Grundlage von Mayers Aperçu gerade 47 48 49

Ebd., S. 104. Ebd. Webers Vortrag beginnt mit einer auf das politisch bewegte studentische Publikum sicherlich ernüchternd wirkenden Analyse der ökonomischen Verhältnisse von Wissenschaftler:innen und des „Hasard“, das die Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere mit sich bringt. (Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Berlin 91992, S.  8) Anschließend spricht er von dem mühseligen, nüchternen und stets nur vorläufigen Arbeiten der Wissenschaftler:innen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite betont er aber auch die leidenschaftlichen, höchst affektiven Zustände, die darin liegen „Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt“ (ebd., 12). Dies ‚davon‘ bezeichnet die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, wobei es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive durchaus bemerkenswert ist, dass Weber mit dem Beispiel des Einsetzens einer „Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift“ (ebd.) gerade auf eine philologische Praktik rekurriert.

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darin, dass er bereits mit seiner spezifischen Zugangsweise zu wissenschaftlichen Problemen Fachgrenzen überschreite und über das spezifische naturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse hinausrage: „Überdies haben sie [Mayers Schriften, K.D.] alle eine halb unwillkürliche Richtung auf das Sittliche, sie enthalten alle die weiseste Maxime jeder Lebensführung.“ (ebd. 84f.). Zum „Reformator der Physik“ (ebd., 80) wurde Mayer aber nur durch sein skeptisches Unbehagen gegenüber allzu leichtfertigen Übertragungen und Anwendungen seiner Einsichten auf alle Bereiche des organischen Lebens, etwa in Form der Idee von einer umfassenden ‚Lebenskraft‘. Mayers gewissermaßen ‚interdisziplinäres‘ Interesse begründet nach Friedlaender also kein spekulatives Applikationsverhältnis. Eine solche unmittelbare Übertragung würde nämlich in letzter Konsequenz wiederum dazu führen, dass jene aus vorsichtig erwogenen Annahmen und plötzlich gewonnenen Einsichten – ähnlich wie bei der Entropie – zu dogmatischen Sätzen erstarren, die unbeweglich werden und destruktive diskursive Kräfte erzeugen. Auch gegenüber möglichen metaphysischen (oder religiösen) Implikationen seiner Entdeckungen blieb Mayer, so registriert Friedlaender anerkennend, nüchtern und zurückhaltend. In Bezug auf die ‚letzten Fragen‘ etwa zur Herkunft und Qualität von Naturkräften, habe Mayers es stattdessen mit Newton gehalten: Hypothesis non fingo. Aus dieser Betonung von Mayers Zurückhaltung gegenüber der Übertragbarkeit seiner Einsichten auf andere Bereiche folgt zweitens, dass Friedlaender mit der besonderen Aufmerksamkeit auf Mayers Aperçu weder einen speku­lativen Denkmodus in strikter Opposition zur Mathematik oder grundsätzliche zur empirischen Forschung zu etablieren versucht, noch geht es ihm bloß darum, die affektiven, rauschhaften Elemente des Aperçu-Moments zu konservieren. Vielmehr erkennt Friedlaender im Aperçu eine spezifische Form der produkti­ ven Unschärfe, der Beweglichkeit, die eine Übertragung auch in andere Felder ermöglicht. Zudem insistiert Friedlaender darauf, dass die ‚Energie‘ eines Aperçus nie ganz vollständig in mathematischen Formeln aufgehen kann/darf: „Und sitzt einmal ein lebendiges Aperçu im Netz der Mathematik oder hat über einen toten Irrtum die Mathematik die Glocke ihrer Unfehlbarkeit gestülpt, so ist beidemal die Wahrheit zum isolierten schlafenden Dornröschen geworden, und der Prinz, der sie erweckt, läßt hunderte von Jahren auf sich warten. Man denke an den Fall Newton-Goethe […].“ (ebd., 116)

Zwar verhandelt Friedlaender die Entropie nur an zwei, drei unbedeutenden Stellen direkt. Anhand der zitierten Stelle lässt sich aber erkennen, dass die Gefahren des dogmatischen Gebrauchs des entropischen Satzes auf alle Bereiche des Lebens im Hintergrund die Folie für ein anderes Denken von ‚Transferprozessen‘ bildet. An anderer Stelle heißt es:

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Kapitel 3 „Wenn Mathematik auf ein Aperçu nicht sofort anwendbar ist, muß denn immer das Aperçu Schuld daran sein? Vielleicht hält man die Mathematik für allzu entwickelt. Es ist wunderschön, wenn eine Naturanschauung aus unbefangenen Sinnen schließlich durch Experimente zu mathematischer Genauigkeit und zur technischen Verwertung führt. Aber sofort die geknebelte Natur mit Folterwerkzeug inquirieren, ist eine tötliche Methode. Man gelangt zu starren Wahrheiten, die jeden Tauwind fürchten müssen. Die Newtonsche Farbenlehre ist ein dermaßen in mathematischem Frost vergletschertes Aperçu, daß Goethes lautere Wahrheit tropische Temperatur annehmen müßte, um sie zu zerschmelzen.“ (ebd., 147f.)

Unverkennbar schwingt auch hier die Kritik an der um 1900 dominierenden Faszination für die Entropie mit. Als Folie der Kritik dient hier zudem der Streit zwischen Newton und Goethe, der zu einem mahnenden Beispiel für die Erstarrung wissenschaftlicher Forschung wird. Die Gefahr des vorherrschenden Entropie-Diskurses lauert für Friedlaender dabei keineswegs in der weltgeschichtlichen Apokalypse; darauf lässt sich er sich gar nicht erst ein. Der mit dem „mathematische[n] Frost“ aufgerufene Bildbereich des Erkaltens scheint vielmehr direkt auf die interdiskursiven Zirkulationsformen des Entropiesatzes selbst gemünzt. Friedlaenders Kritik zielt auf die Erstarrung dynamischer Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Diskursen. Dort wo wissenschaftliche Erkenntnisse in ein Dogma übergehen und ihre ungebundenen Energien an ein unbewegliches Erklärungssystem binden, verlieren sie ihre Kraft. Entropie ist die Konsequenz aus starren Konzeptionen. Damit attestiert Friedlaender dem Entropie-Diskurs in seiner bereits durch verschiedene Naturwissenschaftler selbst nahegelegten Übertragungsfähigkeit auf andere diskursive Bereiche letztlich eine Art von performativen Selbstwiderspruch, da er als allgemeines gleichermaßen naturwissenschaftliches, kulturelles und historisches Erklärungsprinzip zu einem weltanschaulichen Dogma und unproduktiver Redeweise über Ermüdung, Erschlaffung, Erschöpfung werde, das selbst erstarrt und damit selbst gewissermaßen wiederum auf seine eigene maximale ‚interdiskursive Entropie‘ zuläuft; d.h.: die Kernaussage des Entropiesatzes betrifft nach Friedlaender zuallererst den Entropiediskurs selbst. Gegen diese einseitigen Übertragungsphänomene, die auf ihre eigene Erstarrung zulaufen, hält er fest: „Wie beherzigenswert ist diese Methode Mayers: keine wissenschaftliche Wahrheit darf erstarren, auch nicht die scheinbar erwiesenste […].“ (ebd., 155) Friedlaenders Kritik setzt damit immer schon bei den Übertragungsphänomenen des naturwissenschaftlichen Satzes in ein kulturelles Deutungsparadigma ein. Seine Kritik an den apokalyptischen Rhetoriken ist zugleich eine (wissenspoetologische) Kritik an einseitigen Übertragungsprozessen von einem Ursprungskontext

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(der Naturwissenschaften) in andere Bereiche. Friedlaender nutzt damit die populärwissenschaftliche Biographie durchaus genretypisch als Möglichkeit, um das interdiskursive und weltanschauliche Potential aktueller naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse kritisch zu diskutieren. Die Gegenüberstellung von Newton und Goethe bzw. von positivistischer Naturwissenschaft und Mayer dient weniger einer bloß antagonistischen Frontstellung als vielmehr einem gleichermaßen geschichtsphilosophischen und philosophiegeschichtlichen Argument der Dynamik von Wissens- und Erkenntnisprozessen in polaren Spannungen. Das lässt sich bereits an seiner drei Jahre zuvor erschienenen Dissertation über den Versuch einer Kritik der Stellung Schopenhauers zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (1902) erkennen, in der Friedlaender nicht nur Schopenhauers Willensmetaphysik durch Kants Erkenntniskritik zu relativieren versucht, sondern auf methodischer Ebene Philosophiegeschichte als polare Spannungsgeschichte erzählt. In diesem Sinne führt Friedlaender dort aus, dass zwischen Kant und Schopenhauer die „Fruchtbarkeit ihres Verhältnisses, ihr gegenseitiges Sich-ergänzen“ (F/M 2, 157) gerade drin liege, dass sie die extremen Gegensätze in der Philosophie darstellten. Für Friedlaender, der selbst zunächst früh strikt auf „[Ludwig, K.D.] Büchners ‚Kraft und Stoff‘ schwor“ (F/M 3, 702), ermöglicht diese Perspektive auf polare Spannungsdynamiken innerhalb von Erkenntnisprozessen eine Flexibilisierung der eigenen Grundannahmen. Am Ende weitet Friedlaender diese Gegenüberstellung zu einer grundlegenden Perspektive aus, indem er einen ewigen Konflikt zwischen Vernunft und Erfahrung als polargegensätzlichen Dynamo der Denkgeschichte ausweist: „Der gewaltige Beweis für das wirkliche Bestehen des Widerstreits ist die Geschichte der Philosophie: auf jedem ihrer Blätter wird dieses Duell ausgetragen.“ (F/M 2, 185) Diese für Erkenntnisprozesse grundlegende Spannungsbeziehung liegt auch den polaren Spannungen zwischen ‚offizieller‘ Wissenschaft und der Rolle Mayers bzw. Goethes zugrunde. Das Potential des Aperçus liegt für Friedlaender dann darin, in einlinige (naturwissenschaftliche) Fortschrittsgeschichten eine Differenz oder produktive Störung einzutragen, die enge disziplinäre Grenzziehungen und diskursive Regeln unterläuft. Darauf aufbauend und auf der dritten Ebene des Buches wird Friedlaender schließlich versuchen, das thermodynamische Aperçu Mayers für eine zeitgenössische Polaritätstheorie produktiv zu machen, ohne die Aporien zu reproduzieren, die er dem Entropie-Diskurs vorwirft. (iii) ‚Prosopoöische‘ Ebene/Friedlaenders Aperçu: Die dritte Ebene der Schrift betrifft vor allem den letzten Abschnitt des Buches, in dem Friedlaender Robert Mayers Einsichten für eine „mögliche[…] Philosophie der Natur“ (ebd., 270)

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Kapitel 3

produktiv zu machen versucht. Dieser Versuch hat zwei Seiten, eine inhaltliche und eine methodische: Zum einen dient die „tiefere[…] Vergeistigung und zugleich Ergründung der Lehre Robert Mayers“ (ebd., 274) einem nur an wenigen Stellen diskursiv vorgetragenen Versuch, eine Metaphysik der Natur als Unendlichkeit zu entwickeln. Diese inhaltliche Seite wird kurz dargestellt, liegt aber nicht im Fokus des Interesses. Was an Friedlaenders Versuch, über Mayers Entdeckungen das „Gesetz der Polarität […] zum mindestens versucherisch“ (ebd., 279) einzuführen, für die späteren zeitdiagnostischen Funktionalisierungsformen polarer Denkfiguren bei Friedlaender und Benjamin relevant ist, betrifft vielmehr die methodische Seite: Polarität wird nicht als ‚Formel‘ oder ‚Lehre‘ eingeführt, sondern als Heuristik vorgestellt, deren Anwendung diskrete Formen der Übertragung voraussetzt. Dabei sind die Aspekte dieser Übertragung weder bloßer Anhang des Buches noch hat er sie verdeckt in die populärwissenschaftliche Darstellung eingetragen, sondern in seiner Selbstanzeige des Buchs ausdrücklich hervorgehoben: „Dieses Buch ist halb und halb eine Mystifikation. Der Verfasser, gezwungen – man kennt die mancherlei Zwangslagen obskurer ‚Schriftsteller‘ –, sich die Maske Julius Robert Mayers vorzubinden, redet unter deren Schutz mit gar nicht so sehr gedämpfter Stimme seine eigene Sprache, zumal in den Schlußkapiteln.“ (F/M 12, 289)

Auch wenn sich mit dem Stichwort „Zwangslagen“ der Anfangsverdacht zu bestätigen scheint, dass der Buchauftrag vor allem aus ökonomischer Notwendigkeit angenommen wurde, deutet sich mit dem Verweis auf die „Maske“ eine ‚prosopoöische‘ Schreibweise an, in der Friedlaender – in Analogie zur Grundvorstellung der Energieübertragung aus dem ersten thermodynamischen Satz – selbst eine Art ‚Energieübertragung‘ der Mayer’schen Entdeckungen in Form einer philosophischen, ästhetischen und zeitdiagnostischen „taugliche[n] heuristische[n] Maxime“ (ebd., 279) erprobt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang bereits das Motto, das Friedlaender seinen Ausführungen voranstellt. Es handelt sich um ein Zitat von Tommaso Campenella: „Natura infinita. Sed qui symbola animadverterit omnia intelliget – licet non omnino.“ (ebd., 270)50 Dieses Zitat weist mit der Unendlichkeit nicht nur das Thema aus, das Friedlaender in seinem Übertragungsversuch verhandelt, sondern beinhaltet gleich mehrere Aspekte der Art und Weise, wie er die ‚Schreibmaske Mayer‘ für seine polare Perspektive erprobt.

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„Die Natur ist unendlich. Aber wer auf die Symbole achtet, wird alles verstehen, wenn auch nicht vollständig.“ (F/M 12, 342).

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Erstens rekurriert Friedlaender damit auf Mayers eigentümliche Forschungspraxis, hatte dieser doch selbst bereits die Plausibilität seiner eigenen Entdeckungen weniger über mathematische Übersetzungen begründet, sondern von alten lateinischen Philosophemen herzuleiten versucht. Friedlaender hatte bereits im Rahmen der biographischen Darstellungen darauf hingewiesen, dass Mayer gerade damit die engen Fachgrenzen positivistischer Naturwissenschaft unterläuft. Diese drei Philosopheme lauten: Ex nihilo nihil fit; – nihil fit ad nihilum; – causa aequat effectum.“ (ebd., 83) Alle drei philosophischen Leitsätze sind Sätze über Formen der Entstehung und Bewegung. Sie stehen bei Mayer – und das hebt Friedlaender nachdrücklich hervor – nicht im Zusammenhang mit einem Substanzdenken, sondern werden als bewegliche und funktionale heuristische Hilfsmittel für ein zeitgenössisches Denken von Verwandlung, Dynamik, Austausch und Übertragung herangezogen. Auf diese Technik des Rekurses auf die Philosophiegeschichte als heuristisches Werkzeug vorläufiger, provisorischer Erklärungen greift auch Friedlaender mit seinem Motto zurück und stellt sich damit für seinen Versuch einer „möglichen Philosophie der Natur“ explizit in die Tradition Mayers. Zweitens betrifft das Vorläufige und Provisorische dieser Heuristik aber auch die inhaltliche Aussage von Tommaso Campenella: Den Zusammenhang zwischen der Unendlichkeit der Natur und ihrer niemals ganz vollständigen Erkennbarkeit. Das ist das Thema, dem Friedlaender sich auf den letzten Seiten seiner Mayer-Biographie widmet. Dieses Thema der Unendlichkeit berühre, so Friedlaender, „den Nerv des Energieprinzips zu intensiv, als daß wir sie [die Frage nach ihrer Bedeutung, K.D.] nicht streifen müßten.“ (ebd., 272) Die Verbindung stellt Friedlaender her, indem er das Thema der Energiekonstanz kurzerhand mit der alten, aber um 1900 erneut virulenten Frage nach der Erkennbarkeit des Ganzen der Natur kurzschließt: „Alles, was wir sogenanntermaßen a priori wissen, läßt sich in der Wurzel zurückführen auf den Ursinn für Einheit, Identität, innigsten Zusammenhang, für Konstanz in unserem Spezialfall.“ (ebd.) Diese Identität, so Friedlaender weiter, sei prekär geworden, weil sie „nichts Geringeres in ihren Ring fassen [soll] als das Unendliche, das unzählbare Viele, Mannigfache.“ (ebd.) Diese Diagnose steht in deutlicher Korrespondenz zu der im vorherigen Kapitel dargelegten Beobachtung Samuel Lublinskis, wonach das moderne Naturempfinden nicht nur Ganzheit, sondern auch Vervielfältigungsdynamiken, Differenzen und Störungen umschließt. Friedlaender hält fest: „Die Einheit ist mit sich selbst inkommensurabel, weil sie hyperbolisch innig ist.“ (ebd.) Eine moderne, zeitgemäße Naturanschauung und -philosophie habe, so Friedlaenders Schlussfolgerung, diese Inkommensurabilität der Natur nicht nur zu berücksichtigen, sondern zugleich eine ihr angemessene Denkfigur zu entwickeln,

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Kapitel 3

die gleichermaßen die „enorme Differenz, ein Chaos, eine gähnende Kluft“ sowie die „Einheit“ „überspannt“ (ebd.). Trotz Friedlaenders teilweise scharfen Anmerkungen zu Schellings Naturphilosophie, lässt sich hier erkennen, wie beide derselben Frage nachgehen: Wie lassen sich die Unendlichkeit und die einzelnen, mannigfaltigen Phänomene (Friedlaender) bzw. die unendliche Produktivität der Natur und die einzelnen Naturprodukte (Schelling) in einen dynamischen Zusammenhang bringen? Friedlaender kommt dann auch zum Schluss tatsächlich kurz auf Schelling zu sprechen, und betont, dass die „Schellingsche-Schule“ zwar einerseits die Idee des einzelnen Produkts als Schauplatz des Zusammenstoßes unterschiedlicher Kräfte zu erneuern wusste, allerdings mit „berüchtigten apriorischen Konstruktionen“ überdeckt habe. (vgl. F/M 12, 278) Die Frage des dynamischen Zusammenhangs betrifft die inhaltliche Ebene von Friedlaenders Übertragungsversuch und zielt auf den Einsatz des „Gesetz[es] der Polarität“ (ebd., 279). Die „universale Geltung dieses Erhaltungsprinzips“ (ebd., 280) Mayers könne, so Friedlaender, für eine solche polare Perspektive produktiv gemacht werden, „wenn man die Welt weder zermessert noch nach Art eines klobigen Monismus konfus identifiziert“ (ebd.). Diese für eine zeitgemäße Naturanschauung eingesetzte Perspektive auf die polare Spannung zwischen Differenz und Einheit wird Friedlaender später auf seine zeitdiagnostischen Schreibprojekte übertragen. Was im ersten thermodynamischen Satz die Energiekonstanz innerhalb eines geschlossenen Systems ist, wird in Friedlaenders polarer Perspektive zum „Gesetz eines […] Gleichgewichts, der Kompensation, der Harmonie, der Vereinigung und balanzierenden Beständigkeit.“ (ebd.) „Harmonie“ als „Antlitz der Welt“ erscheint bei Friedlaender „als das Produkt widerspenstiger Faktoren“ (ebd., 279). Soweit die weniger diskursiv entwickelten als vielmehr aperçuhaft inszenierten Überlegungen zur Polarität der Unendlichkeit, die Friedlaender „nicht als „Metaphysik des Übersinnlichen, sondern eine solche des Sinnlichen“ (ebd.) verstanden wissen will. Was an diesen naturphilosophischen Überlegungen für die spätere Übertragung auf zeitdiagnostische Schreibweise interessant ist, liegt in Friedlaenders Reflexion über die methodischen Vorsichtsmaßnahmen solcher Übertragungsversuche. Hier kommt drittens dann das „symbola animadverterit“ aus dem Tommaso Campenella-Motto zum Tragen. Da die „Welt = ∞“ (ebd., 273) ist, geht Friedlaender davon aus, dass auch eine Denkfigur, die ihr gerecht werden will, immer nur vorläufig sein kann. Statt über eine begriffliche Explikation dessen, was er vorläufig das „Harmonisch-Zwieträchtige“ (ebd.) bzw. die „Harmonie als das Produkt widerspenstiger Faktoren“ (ebd., 279) nennt, nähert er sich über

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bildliche Ausdrucksweisen und „erläuter[t] ein Bild nur durch ein anderes“ (ebd., 273): „Die Welterfahrung beginnt, und sei sie noch so stumpfsinnig, mit dem Kennenlernen irgend eines nahen, kleinen Etwas, eines Gegebenen, sei es was es ist. Über kurz oder lang aber wird sie universaler, weltbedeutender und jetzt erst kann einmal jener philosophische Tiefblick das Gegebene, sei es was es ist, in den Fängen eines Adlers sehen, der es trägt, im Tragen zerreißen möchte, seine scharfen Krallen auch an das Leibeigenste setztend, an die Existenz. Dieser Adler – wir erläutern ein Bild durch ein anderes – ist die Unendlichkeit.“ (ebd.)

Hier wird das bereits mehrmals beobachtete produktive Wechselverhältnis von Bild und Begriff erneut wirksam. Das bildliche Umkreisen der Unendlichkeit versteht Friedlaender als Möglichkeit, das „abenteuerliche Wagnis einer Definition des Weltwesens“ (ebd.) möglichst lang zu umgehen. Denn: „Man trifft, was man ausdrückt, wesentlich nur vergleichsweise, nur annähernd, nur uneigentlich, indirekt, nur ‚bildlich‘ […].“ (ebd.) Neben der bei Mayer zu beobachtenden rekursiven Strategie auf alte lateinische philosophische Lehrsätze, die das Aperçu vorbereiten, tritt mit der Inszenierung unterschiedlicher Bilder hier ein weitere Aspekt in Friedlaenders Überlegungen zum Aperçu hinzu, der ebenfalls die Dynamik und produktive Unschärfe des Aperçus von seiner diskurs- und disziplinübergreifenden Dimension her in den Blick nimmt, diesmal aber nicht hinsichtlich einer rekursiven Strategie, sondern von einer ästhetischen Perspektive, die Friedlaenders eigene Schreibweise noch stärker charakterisiert. Jenseits starrer disziplinärer Aussageregeln betrifft das Aperçu hier die Möglichkeit der Indienstnahme unterschiedlicher Erfahrungstypen und Erkenntnisformen und rekurriert damit letztlich deutlich auf eine mit Goethes Definition des Aperçus in direktem Zusammenhang stehende Stelle aus dem geschichtlichen Teil der Farbenlehre, an der Goethe von der „Vergleichung der Kunst und Wissenschaft“51 spricht. Da, so Goethe, weder im Wissen noch in der Reflexion ein Ganzes zusammengestellt werden könne, müssten wir uns „die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten.“52 Diese Ganzheit im Medium der Kunst stelle sich nur im einzelnen Kunstwerk dar, und so müsse die Forderung an die Wissenschaft herangetragen werden, im Einzelnen dieses Ganze zu erfassen. Diese Forderung habe alle menschlichen Erkenntnisvermögen einzubeziehen: 51 52

Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 605. Ebd.

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Kapitel 3 „Um aber eine solche Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche, sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk, von welchem Gehalt es auch sei, entstehen kann.“53

Goethes „Forderung“, „keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit aus[zu]schließen“ steht nicht nur, neben dem grundsätzlichen Wechselspiel aus Nüchternheit und Inspiration/Rausch, im Zentrum von Friedlaenders Überlegungen zum Aperçu. Wenn Friedlaender resümiert: „Auf das Aperçu kommt es an […]“ (F/M 12, 109), betrifft das nicht zuletzt auch sein eigenes zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Begriff und Bild schwebendes Aperçu über die Denkfigur der Polarität, das im Hintergrund seiner Überlegungen über Mayer und Goethe stets präsent ist. Über sein eigenes Aperçu, das ihn auf die Spuren der Polarität gebracht hat, berichtet Friedlaender seinem Schwager, dem Rabbiner Salomon Samuel, in einem Brief vom 27. Februar 1899. Folgt man Friedlaenders Selbstauslegung, so ist seine Hinwendung zum Polaritätsdenken nicht dem Studium polaritätsphilosophischer Texte und einem Einblick in eine langwährende Tradition dieser „uralte[n] Formel“ (F/M 18, 120) geschuldet, sondern auf ein plötzliches, persönliches Erweckungserlebnis zurückzuführen. Der Bericht über dieses persönliche Erweckungserlebnis sei hier ausführlich zitiert, weil er zeigt, wie dort die eigene Hinwendung zum polaren Denken als Resultat eines Aperçus inszeniert wird. In dem Brief schreibt Friedlaender: „Schopenhauer! Mein Entdecker, und das vergesse ich nie wieder: mein Beleber und Töter zugleich. Er hatte mir das Leben in ein ewiges Gefängnis verwandelt. Denn ich bin Jude, das läßt sich nicht leugnen. Ich liebe das Leben mit einem Drang, der aller Orten an satanische Verruchtheit grenzt. Wie müßte der ingrimmige, mit schärfsten Pfeilen treffende Lebensverächter mich durchbohren, denn ich liebe das Leben; mich entzücken, denn ich liebe die Wahrheit: so nahm ich drei bittere Jahre entlang meinen Weg zwischen Leben und Wahrheit: der holperigste aller Wege in der Welt: welcher Anblick für Andere, für mich, für meinen Vater! Und doch war es der allermöglichst wahre Weg für mich. Und wie endete er? In einer fürchterlichen Sackgasse: Außen und Innen schlossen mich in eine Hölle der Höllen ein. Und darob geberdete sich noch der Narr der ewige acteur in mir, immerfort pathetisch. Da! Also damals – 96 war’s. Berlin, explodirte plötzlich die Hölle, ihre Wände barsten: eine rauchende Ruine stand inmitten einer Leere: – jener Leere, von der Mephistopheles dem Faust vornebelt, die da zu den Müttern leitet. Jetzt erschien mir geradezu visionär 53

Ebd.

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die Idee der Ideen: Unendlichkeit. – Es war eine Krisis, die mich, den ohnehin Erschöpften, dem Gehirnfiber nahe brachte. Jetzt aber war ich gerettet, eine Raserei des Schmerzes und der Freude, das tragischste Pathos – ich las damals intensiv im Hamlet – bekam Gewalt über mich. Ich geriet in ein messianisches Fühlen. – Und nun wurden die lieben und die liebsten Leute aufmerksam. Das Resultat war ein parfum aus Gerüchen der Verdachte: Neurasthenie, Größenwahn etc. etc. Oh, in mir ist aber das Wesen, was man Geist nennt, nichts Geistreiches, obwohl Geist unter Menschen an lauter Krankheiten der Eitelkeit sehr zu leiden hat. Geist ist was so Einfältiges, daß es der demütigen Dummheit in seinem Anfange doch viel näher steht als dem Geistreichen. Dieses Wesen flüchtete sich, so verfolgt, in den Schatten: es barg sich unter der Tarnkappe der Skepsis. Es ging in sich und schwieg. Ja, hätte es reden, schon reden können! Aber so stumm wie der Geist bei seiner Geburt, ist kein erlebtes Schweigen: der Blitz war in den Geist gefahren, es wird lange dauern, bis Menschenohren den Donner hören; das macht die große Ferne. – Ich hatte das Etwas konzipirt. Aber was? Eine große dynamische Lehre, in einem Bilde vorläufig: eine Farbenleiter der Unendlichkeit: etwas Koppernikanisches [!], Newtonisches, Kant-Laplace, wie ich Dir einmal schon vertraute, aber metaphysisch, adliger. Ich hatte das Gefühl, es mit der Welt selbst gemacht zu haben wie Kolumbus mit der Erde. Entdeckung der Dreidimensionalität der Unendlichkeit selbst: Entdeckung der eigentlichen Bedeutung des dimensionalen, weiterhin polarischen Prinzips.“ (F/M 24, 77-79)

Retrospektiv wird die Hinwendung zur Polarität als Bewegungsprinzip der Unendlichkeit durch den Hamlet-Leser Friedlaender in ein kleines Drama umgeschrieben, das zwei zeitliche Dimensionen miteinander verknüpft: Auf der einen Seite die Plötzlichkeit des persönlichen Erlebnisses („explodirte plötzlich die Hölle“), das sich nicht sofort in einen Begriff übersetzen lässt, sondern zunächst über körperliche Erfahrungen („ein parfum aus Gerüchen“) einstellt und sich „in einem Bilde vorläufig“ darbietet, das die ‚dynamische Lehre‘ auf ihren prekären Status in vorbegrifflichen Ausdrucksmöglichkeiten verweist. Auf der anderen Seite wird am Ende des Berichts dieser pathetisch inszenierte philosophische kairos, der keiner Tradition verpflichtet zu sein scheint, sondern nur durch eine Ablösungsbewegung von der Schopenhauer’schen Philosophie („Es war eine Krisis“) angeregt sein will, in eine Reihe mit den großen neuzeitlichen Entdeckungen und wissensgeschichtlichen ‚Revolutionen‘ (Geographie, Physik, Erkenntnisphilosophie und Mathematik) gestellte; dadurch erhält der plötzliche Einfall letztlich doch noch eine historische Tiefendimension. Die Referenz auf Schopenhauer ist offensichtlich auf beiden Seiten der Dramaturgie aus plötzlicher Eingebung und historischer Verortung zu finden: Er ist einmal der „Entdecker“, dann Auslöser einer intellektuellen Krise. Die besondere Bedeutung Schopenhauers für die Hinwendung zur Philosophie hat Friedlaender auch später in seiner Autobiographie betont. Dort berichtet er,

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Kapitel 3

dass er sich zunächst im engen Kreis materialistisch-monistischer Naturphilosophie bewegte und erst mit der Schopenhauer-Lektüre eine Hinwendung zu metaphysischen Fragen einsetzte: „Was mich intim fesselte, war diese metaphysische Verbindung zwischen Innen und Außen … ‚Die Welt als Innen und Außen‘.“ (F/M 18, 111) Mindestens bis zur Dissertation hielt die Faszination für Schopenhauer an: „Die folgenden sieben Jahre blieb ich im Bann dieses Geistes.“ (ebd., 109) Wie bereits erwähnt, wird er in seiner Dissertation dann Schopenhauers Willensmetaphysik einer grundlegenden Kritik unterziehen, indem er sie mit Kants Transzendentalphilosophie konfrontiert. Auch wenn es in der Inszenierung seines Aperçus so wirkt als wäre Schopenhauer vor allem der Ursprung einer philosophischen Krise, aus welcher der Polaritätsgedanke dann plötzlich eine Fluchtlinie darstellt, zeigt sich bei genauerer Betrachtung der früheren Schriften Friedlaenders, dass sich darin eher eine sukzessive Denkentwicklung abzeichnet. Die Dissertation ist zwar von dem Anspruch geleitet, die enge Bindung an Schopenhauer zu lösen, dennoch bleibt Schopenhauer auch später in Friedlaenders polarer Anschauungs- und Denkweise präsent.54 In unterschiedlichen Arbeiten erinnert sich Friedlaender daran, was er Schopenhauer zu verdanken hat, kritisiert ihn in immer erneuten Absetzbewegungen, versucht allerdings auch der frühen katalysatorischen Wirkung der Schopenhauer’schen Gedankenwelt für seine eigene philosophische Perspektive gerecht zu werden. Neben einzelnen Versatzstücken seiner Philosophie übernimmt Friedlaender vor allem Schopenhauers Grundimpuls des Philosophierens, der bereits in der Vorrede zur ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung formuliert ist: „Was durch dasselbe [das Buch, K.D.] mitgetheilt werden soll, ist ein einziger Gedanke. […] Ich halte jenen Gedanken für Dasjenige, was man unter dem Namen der Philosophie sehr lang gesucht hat, und dessen Auffindung, eben daher, von den historisch Gebildeten für so unmöglich gehalten wird, wie die des Steines der Weisen […].“55

Diese Herleitung einer ganzen Philosophie aus einem einzigen Gedanken heraus stellt auch den Grundimpuls der Friedlaender’schen Arbeiten dar und charakterisiert insbesondere den Schreibstil der Schöpferischen Indifferenz. 54

55

Friedlaender gehört damit gewissermaßen in eine grundsätzlich ambivalente Rezeptionsphase des Werkes Schopenhauers zwischen 1890 und 1910, von der Wolfgang Riedel gezeigt hat, dass sie zwischen Kritik und Affirmation vor allem dort schwankt, wo es um die Bedeutung der Metaphysik geht. Vgl. Wolfgang Riedel: ‚Homo Natura‘. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996, hier: S. XV-XVII. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band. In: ders.: Werke in fünf Bänden, hg. v. Ludger Lütkehaus. Frankfurt a. M. 2006, S. 7.

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(vgl. hierzu auch Kap.  4.3 und 4.4) Noch 1934 schreibt er: „Im Grunde genommen, ist Polarität mein einziger Gedanke bei Tag & Nacht, seit 1896 und früher.“ (F/M 26, 474) Wenn Schopenhauer gleich im Anschluss der zitierten Passage aus der Vorrede betont, dass dieser einzige Gedanke gleichermaßen aus metaphysischer, ethischer und ästhetischer Perspektive betrachtet werden kann, stellt das eine weitere Verbindung zu Friedlaenders Schreibprojekt dar, das zugleich nach den erkenntnistheoretischen, lebenspraktischen und wahrnehmungstheoretischen sowie darstellungspraktischen Konsequenzen der Polarität als Denkfigur fragt. Auch für die Frage, wie Friedlaender in seiner Mayer-Biographie eine vorsichtige ‚Energieübertragung‘ des Mayer’schen Aperçus auf eine polare Perspektive erprobt, ist es nicht unerheblich, dass Friedlaender bereits bei Schopenhauer wichtige Impulse für ein Polaritätsdenken finden konnte, das auf die romantische Naturphilosophie zurückweist. Denn in dem § 27 von Die Welt als Wille und Vorstellung konnte Friedlaender eine ausführliche Reflexion über die „Aetiologie der Natur“56 finden, d.h. über die Lehre von den in der Natur wirkenden Ursachen. Aufgabe der „Aetiologie“ sei es, so Schopenhauer, zu bestimmen, ob sich verschiedene Naturphänomene aus unterschiedlichen Kräften ergeben oder ob sie aus einer Kraft stammen, die sich nur in verschiedenen Kontexten unterschiedlich manifestiert. Die Physik werde hier ihre „Vollendung“57 erreichen, wenn sie für jedes Naturphänomen die in ihm wirkende Kraft nach Regeln, d.h. in Form von Naturgesetzen formuliert habe. Schopenhauer warnt allerdings: „Trägheit und Unwissenheit machen geneigt, sich zu früh auf ursprüngliche Kräfte zu berufen […].“58 Ohnehin könnten die „Naturgesetze doch nur ein komplettes Thatsachenregister“59 aufstellen. Die letzten wirkenden Kräfte blieben für die Physik „qualitas occulta“60. Das schließt an die Fragen über die Grundkräfte der Natur an wie sie um 1800 diskutiert wurden. Daher dürfe die Naturwissenschaft hier auch nicht beanspruchen, ein umfassendes Erklärungssystem darzustellen. Die „Verirrung der Naturwissenschaft“61 beginne dort, wo sie aus ihren basalsten Erklärungsprinzipien, etwa der Mechanik, ein umfassendes Deutungsschema behauptet. Mit Kant betont Schopenhauer hier: Einen ‚Newton des Grashalms‘ wird es nicht geben, d.h. einer Übertragung der physikalischen Gesetze des Unorganischen auf lebendige Organismen ist hier ein Riegel vorgeschoben. 56 57 58 59 60 61

Ebd., S. 200. Ebd. Ebd., 199. Ebd., 201. Ebd., 200. Ebd., 203.

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Kapitel 3

Nur indem die Naturwissenschaft sich auf die erfahrungsbasierten Naturgesetze beschränke, könne sie ihren Teil leisten und so den Übergang zu einer metaphysischen Perspektive vorbereiten. Mit der Frage nach den „ursprünglichen Kräfte[n] selbst“62 werde der Raum immanenter Naturgesetze in die Richtung der Philosophie der Natur überschritten. Diese rigorose Ablehnung einer Übertragung von Gesetzen des Unorganischen auf das Organische relativiert Schopenhauer dann aber zuletzt doch noch tendenziell mit Blick auf den willensmetaphysischen Einsatzpunkt seiner eigenen Philosophie. An dieser Stelle bekommt die Polarität einen heuristischen Wert, der besonders hervorgehoben wird. Schopenhauer betont nämlich: „Andererseits nun aber ist nicht zu übersehen, daß in allen Ideen, d.h. in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur, einer und derselbe Wille es ist, der sich offenbart, d.h. in die Form der Vorstellung, in die Objektität, eingeht. Seine Einheit muß sich daher auch durch eine innere Verwandschaft zwischen allen seinen Erscheinungen zu erkennen geben.“63

Diese ‚Verwandtschaft‘ könne in der Naturphilosophie zwar nicht als metaphysisches Prinzip formuliert, aber doch „durch die allgemein durchgreifende Analogie aller Formen“64 dargestellt werden. Neben den französischen zoologischen Systemen und der vergleichenden Anatomie nennt Schopenhauer hier auch „die löblichste Bestrebung der Naturphilosophen der Schellingischen Schule“65. Dieser Schule attestiert er, mit der Polarität ein allgemeines Erscheinungs- und Bewegungsgesetz in der Natur entdeckt zu haben, das mit Hilfe von Analogiebildungen von unorganischen bis zu organischen Phänomenen reiche: „Sie haben besonders darauf aufmerksam gemacht, daß die Polarität, d.h. das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten, welches sich meistens auch räumlich durch ein Auseinandergehen in entgegengesetzte Richtungen offenbart, ein Grundtypus fasst aller Erscheinungen der Natur, vom Magnet und Krystall bis zum Menschen ist.“66

Zwar könnten damit nicht alle Phänomene auf ein ursprüngliches Prinzip innerhalb einer naturwissenschaftlichen Perspektive zurückgeführt werden 62 63 64 65 66

Ebd., 201. Ebd., 203. Ebd. Ebd., 204. Ebd.

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und außerdem sei mit der Polarität bisweilen die „Jagd nach Analogien“67 übertrieben worden, aber „innerhalb gewisser Schranken“68 lasse sich im Modell der Polarität qua Analogiebildung ein immenser heuristischer Wert nachweisen. Friedlaenders eigene Anmerkungen zur romantischen Naturphilosophie und insbesondere zu Schelling waren meist kritisch. Deutlich wird das etwa in einem Aufsatz zu Edgar Allan Poe, der 1914 in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion erscheint. Dort konstatiert Friedlaender, dass es gegenwärtig „niemand mehr [wagt]“ mit polaren Anschauungs- und Darstellungsstrategien „zu operieren“, weil „die berüchtigte Schellingsche naturphilosophische Schule ihren bösen Unfug mit dieser magischen Formel getrieben hat“ (F/M 2, 447). Solche scharfen Urteile finden sich häufiger. Detlef Thiel betont daher auch in Bezug auf die Romantik: „F[riedlaender]/M[ynona] nun, in der Linie Kants und Goethes, hat die ganze Naturphilosophie stets vehement zurückgewiesen […].“69 Im Gegensatz zu dieser Naturphilosophie hebt Thiel für die intellektuelle Entwicklung Friedlaenders das „Viereck Kant – Goethe – Schopenhauer – Nietzsche“70 hervor. Daneben ist noch Ernst Marcus zu erwähnen, ein „Jurist in Essen, strenger Kantianer“, der „trotz seiner fünfzehn Bücher und vielen Aufsätze von akademischen Zeitgenossen eher ignoriert“ wurde.71 Gerade Friedlaenders spätere Philosophie der 1930er Jahre wird sich dann tatsächlich zunehmend auf die Beziehung zu Kant und Marcus und auf die Selbstbeschreibung eines „Kantmarcusmynonische[n] Ich[s]“ (F/M 27, 160) verengen. Obwohl sich die Kritik an der Romantik durchhält und sich das intellektuelle Koordinatensystem in den 1930er Jahre nochmals grundsätzlich verändert, kommt Friedlaender bereits in seinem Text Fingerzeig zur Wiederbelebung der Metaphysik von 1901 auf verschiedene historische Ausprägungen polaren Denkens zu sprechen, weil „man […] zur Kräftigung eigner Autorität, mindestens solange diese noch jung ist, fremder, älterer bedarf“ (F/M 2, 138). Es ist bezeichnend, dass in der darauffolgenden Liste zu allererst die oben angeführte Passage über die Polarität der Schelling’schen Schule aus dem § 27 von Die Welt als Wille und Vorstellung zitiert wird. 67 68 69 70 71

Ebd. Ebd., 205. Detlef Thiel: Die Magie des Extrems und die Magie der Mitte. Nietzsche im Urteil Salomo Friedlaender/Mynona. In: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 20 (2013), S. 325-342, hier: S. 328. Ebd., 327. Ebd. Zu Ernst Marcus siehe auch Horst Lüdtke: Ernst Marcus als Kantinterpret. Eine kritische Würdigung unter Berücksichtigung des unveröffentlichten Nachlasses. Hildesheim 1989, insb.: S. 37-49.

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Kapitel 3

Das sich bei Schopenhauer über den Rekurs auf die Romantik andeutende Dreigestirn aus Polarität – Analogie – Heuristik bildet auch den erkenntnistheoretischen Horizont, in dem Friedlaender seine polare Perspektive in der Mayer-Biographie zu schärfen versucht. Bereits in dem zitierten Text über die Metaphysik von 1901 bindet er dies an die Vorstellung von einem „wirkliche[n] Symbol der Welt“ (ebd., 136), was in dem Tommaso Campenella-Motto durch das „symbola animadverterit“ wiederaufgegriffen wird. In seiner MayerBiographie schreibt Friedlaender dieses Verhältnis von Polarität, Analogiebildungen und Heuristik in eine Theorie des Aperçus um, in der er diskrete symbolische Übertragungsprozesse auf Ambivalenzen und Spannungen zwischen Rausch und Nüchternheit, Plötzlichkeit und kritischer Reflexion, Bildanalogien und Begriffsarbeit verpflichtet. Anhand der Beschreibung einer blühenden Vegetation durch Mayer, zeigt Friedlaender exemplarisch, wie sich diese diskreten Transformationsprozesse bei Mayer vorbildhaft gestalten. Mayer beschreibt den Einfluss der Sonne auf die pflanzliche Vegetation und leitet mit der Anwendung seines Aperçus einen analogisierenden Übertragungsprozess ein, eine Kette von Energieverwandlungen, die aber nicht bis ins letzte Detail deterministisch ist, sondern in ein ästhetisches Wohlgefallen ausläuft: Die Sonne versorgt die Pflanzen mit ihrer Energie und dies sei, so Mayer, „eine ökonomische Fürsorge, an welche die physische Existenz des Menschengeschlechts unzertrennlich geknüpft ist und die bei der Anschauung einer reichen Vegetation in jedem Auge ein instinktartiges Wohlgefallen erregt.“ (ebd., 191).

FM schlussfolgert dazu: „Solches Aperçu ist wie ein lockerer Knoten, in dem sich das Derbste mit dem Feinsten graziös verschlingt, hier also der Nutzen mit der Schönheit – nur ein wenig fester geknüpft, und es wird daraus eine Plumpheit. Die Dinge zu identifizieren geht nicht an, desgleichen nicht, schärfste Scheidewände zwischen ihnen zu ziehen: dagegen ist es nicht bloß ergötzlich und witzig, sie zu vergleichen, sie auf Grad und Art ihrer Ähnlichkeit und Gleichheit zu prüfen, sondern es ist die einzig mögliche, ganz allein fruchtbare Methode.“ (ebd.)

Nur dadurch, dass Mayer die diskrete Übersetzung ohne systemischen Hintergrund einer deterministischen Theorie denkt, d.h. für Friedlaender hier: aperçuhaft statt streng kausal, lässt er die Möglichkeit des Vergleichs zu. Daher laufe die Betrachtung auch auf reines ästhetisches Wohlgefallen zu. Entscheidend ist jedoch, dass Friedlaender zugleich auch auf den prekären Status des Aperçus hinweist, indem er einerseits von der graziösen Verschlingung

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redet und mit der Grazie auf ein traditionelles Harmoniedenken verweist. Das wird hier andererseits aber gerade durch die ‚Verschlingungen‘ bereits auf eine Form verwiesen, die eher an die frühromantischen Überlegungen zum Arabesken erinnert, was wiederum durch die Anmerkung über den Witz untermauert wird. Vor diesem Hintergrund scheint allerdings auch bereits wenig auszureichen, um diesen nur lockeren Knoten des Zusammenhangs, der allgemeinen Bezüglichkeit der Dinge zueinander, mithin die über Analogie hergestellte lockere Ordnung der Dinge, in eine Plumpheit zu entstellen und damit das fragile Graziöse aus dem Tritt zu bringen. Daher, so scheint Friedlaender zu schlussfolgern, müsse das Aperçu immer erneut auf seine Produktivität hin erprobt werden, immer erneut in aktualisierenden Aneignungen getestet werden: „Aber anbei gesagt: je tiefer das Prinzip der Vergleichung gefaßt wird, desto mehr Dinge lassen sich vergleichen und desto besser diese mehreren. Das Ideal wäre demnach ein Prinzip von solcher Elastizität, daß es die ganze Welt der Unterschiede umdehnen könnte – wozu wesentlich gehört, daß es die Unterschiede bestehen ließe, also nur eine Ähnlichkeits- kein Identitätsprinzip wäre.“ (ebd., 207)

Das hat beinahe bereits den Charakter einer proto-strukturalistischen Theorie, wenn Phänomene qua Gegensatzbeziehung erkennbar werden. Anders als in den Theorien des Strukturalismus steht hier aber die Analogie im Zentrum der Vergleichsmöglichkeit. Die Analogie stiftet hier einen Vergleichsmodus differenzieller Ähnlichkeitsbeziehungen, der die Unterschiede als Spannungsbeziehung miteinkalkuliert. Diese Analogisierungen verlaufen hier offensichtlich nicht über urteilslogische Trennungen, sondern über graduelle Beziehungsformen. Das Denken dieser polaren Beziehungen schließt als Denkfigur Intensität und Differenz miteinander zusammen, so dass daraus ein dynamisches Ordnungs-/Orientierungsdenken sui generis wird und sich bei Friedlaender sowohl gegen ein dialektisches Vermittlungsdenken als auch die prominenten monistischen Deutungen in der Zeit um 1900 zu profilieren versucht. Ihre Produktivität entfaltet sie bei Friedlaender – anders als viele andere Denkfiguren der Zeit – nicht über den zweiten, sondern den ersten thermodynamischen Satz. So schreibt Friedlaender mit der Biographie zugleich auch eine andere Genealogie moderner Naturwissenschaften, die nicht von der Entropie ausgeht, sondern über Heraklit, Kant, die Frühromantiker, Goethe, Mayer und Nietzsche eine andere Perspektive auf das Verhältnis der Wechselwirkungen von Wissen und Ästhetik erprobt. An dem thermodynamischen Aperçu entspinnt sich bei Friedlaender auch die Vorstellung, ältere Denkfiguren aus dem Archiv in neue gedankliche Zusammenhänge produktiv zu

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Kapitel 3

machen. Die im Bildarchiv dynamischer Kräfte abgelagerten Denkfiguren von polaren Wechselwirkungen der Dinge zueinander aus der Zeit um 1800 werden nicht reproduziert, sondern stehen im Zeichen einer kritischen Aktualisierung vor dem Hintergrund ihrer notwendigen Synchronisierung mit neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Insbesondere das Bild von der Sonne, an dem exemplarisch gezeigt wurde, wie Friedlaender den Schriften Mayers diskrete Übersetzungsprozesse einer naturwissenschaftlichen Theorie für eine aktuelle polare Perspektive abliest, wird dann auch in der Schöpferischen Indifferenz zu einem der zentralen, auffällig häufig verwendeten Bilder: „Person ist die Sonne der Sonnen. Sie steht still, wenn Bewegung polarisierte persönliche Ruhe ist: eben deswegen wird der so (zentral) in sich Beruhende gerade der Bewegende sein.“ (F/M 10, 157) Diese Sonne sei, so heißt es weiter, als „subjektive, mediale Person durchaus im Nichts aller Differenzen auszusuchen“ (ebd., 159). Wenn Friedlaender den Versuch, aus Mayers Entdeckungen eine polare Wahrnehmungs- und Darstellungsweise abzuleiten – ähnlich wie in seiner Nietzsche-Biographie – an einen „Prozeß der Orientierung“ (F/M 12, 279, vgl. Kap. 3.2) bindet, dann ist es gerade diese ‚mediale Indifferenz‘, die dabei den Fluchtpunkt seiner eigenen theoretischen und praktischen Bemühungen bildet.72 In der Mayer-Biographie ist das insbesondere gegen die diskursive Vorherrschaft der Entropie als universelles Deutungskonzept vor allem für den kritischen Zustand der eigenen Gegenwart gerichtet. Statt einer Perspektive auf die eigene Zeit bloß entweder als Fortschritts- oder als apokalyptische Verfallsgeschichte setzt Friedlaender vor dem Hintergrund der diskreten Übertragungsbemühungen der Mayer’schen Entdeckungen über die Energieerhaltung und Energieumwandlung auf den Versuch, ein polares Analysewerkzeug für die verschiedenen Umbrüche, Krisenerfahrungen und Problemstellungen der Zeit zu entwickeln, das sich auch ältere Konzepte des Polaren in einer kritischen Aktualisierung aneignet. In Kapitel  4 werden wir beobachten können, wie Benjamin vor dem Hintergrund dieser erkenntniskritischen Bezugnahmen auf die Geschichte Friedlaender als kritischen Zeitdiagnostiker rezipiert. Zunächst ist aber noch ein kurzer Blick auf Friedlaender Nietzsche-Lektüren zu werfen, weil darin neben der Mayer-Biographie der zweite, rezeptionsgeschichtlich sogar wichtigere Versuch einer Aktualisierung polarer Denkfiguren für eine zeitkritische Perspektive zu entdecken ist.

72

Zur Bedeutung dieser ‚medialen Indifferenz‘ für Benjamins frühe systematische Arbeit am Politischen vgl. das Kapitel 7.

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3.2

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Kritische Genealogien: Nietzsches „Form der Polarität“ und Friedlaenders Nietzsche-Biographie Wir können an dieser Stelle einfügen, daß die moderne Physik in einer gewissen Weise der Lehre des Heraklit außerordentlich nahekommt. Wenn man das Wort ‚Feuer‘ durch das Wort ‚Energie‘ ersetzt, so kann man Heraklits Aussagen fast Wort für Wort als Ausdruck unserer modernen Auffassung ansehen. Werner Heisenberg73

Nietzsches Philosophie ist zweifelsohne prägend für unterschiedliche zeit- und kulturkritische Projekte um 1900. In dem um 1873 herum entstandenen, unveröffentlichten Text Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen hat sich Nietzsche auch selbst explizit mit der Polarität bei Heraklit beschäftigt.74 Dort entwickelt er eine problemorientierte Perspektive auf die diskontinuierliche Geschichte polarer Denkfiguren, die weder nach einem genuinen Ursprung fahndet noch auf die Bestimmung eines substantiellen Gehalts ‚der‘ Polarität ausgerichtet ist. Im Gegenteil dazu zeichnet er eine kritische Genealogie, die quer zu den Rekursen auf die Geschichte polarer Denkfiguren steht wie sie im Umfeld der Neuromantik um 1900 zu beobachten sind (vgl. 2.2). Es wird zunächst auf Nietzsche Text eingegangen, um ihn anschließend kurz mit Friedlaenders Nietzsche-Biographie in Beziehung zu setzen. Der Grundimpuls der Arbeit über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ist von einem spezifischen ‚historiographischen‘ Ansatz geprägt, den Nietzsche auch im Rahmen seiner Ausführungen zu Heraklits polarem Grundgedanken verfolgt. Zwar tritt Heraklit hier als erster Denker der Polarität auf, jedoch weicht Nietzsche den geschichtsmetaphysischen Tücken der Ursprungsbestimmung aus, indem er die Vorstellung von einem singulären, einzigartigen Ursprung durch die Perspektive auf die Mannigfaltigkeit der Herkünfte vervielfältigt. Gleich zu Beginn der Arbeit führt Nietzsche zu diesem Ansatz aus: „Nichts ist thörichter als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen,

73 74

Werner Heisenberg: Physik und Philosophie. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1984, S. 44. Zur Entstehungszeit schreibt Holger Schmid: „Entstanden bis Frühjahr 1873, unter weiteren Umarbeitungen vermutlich bis 1875/76 […].“ (Holger Schmid: Nachlaß 1872-1876. In: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 87-90, hier: S. 87).

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Kapitel 3 sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden den Speer von dort weiter zu schleudern, wo ihn ein anderes Volk liegen ließ.“75

Nietzsche geht es nicht darum, im griechischen Denken die ‚reine Quelle‘ abendländischer Philosophie freizulegen. Statt das griechische Philosophieren in einer umfänglichen Studie sukzessive herzuleiten und den Charakter dieses Denkens systematisch nachzuzeichnen, verfährt er ‚anekdotisch‘76, denn eine „vollständige Aufzählung aller möglichen überlieferten Lehrsätze“77 könne vielleicht einer selbstreferentiellen Gelehrsamkeit dienen, würde jedoch das Lebendige und Persönliche der vorsokratischen Philosophen verstummen machen.78 Nietzsche vervielfältigt allerdings nicht nur die kulturhistorischen Ursprünge der griechischen Bildung und des Denkens im Allgemeinen. Der Philosophie selbst wird hier ein ‚unreiner‘ Ursprung attestiert, der nicht die Wahrheit bereits in sich enthält, sondern mit „einem ungereimten Einfalle“79 des Thales beginnt, nämlich das alles aus dem Wasser entstehe. Auch in Nietzsches anschließender Bestimmung der Polarität als Epizentrum der Heraklit’schen Philosophie bleibt diese Vorstellung des ‚unreinen‘ Ursprungs weiterhin präsent, handelt es sich doch auch hier nicht darum, den einmaligen ‚Ursprung abendländischen Polaritätsdenkens‘ zu markieren. Stattdessen geht es Nietzsche vor allem darum, die Funktionsstelle der Polarität in einer ‚Philosophie des Werdens‘ bei Heraklit anzuzeigen. Das Porträt Heraklits und damit die Reflexionen über die Polarität setzt Nietzsche in die Mitte seiner Darstellung der vorsokratischen Philosophie. Für Heraklits polaren Grundgedanken gilt dabei allemal, was Nietzsche kurz vorher bereits für Anaximander betont hat: „Der Gedanke und seine Form sind Meilensteine […].“80 Der Zusammenhang von „Gedanke“ und „Form“ ist ent75 76 77 78

79 80

Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1. München 1999, S. 799-872, hier: S. 806f. „Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anecdoten herauszuheben, und gebe das Uebrige preis.“ (ebd., 803). Ebd. Daher ist das Prinzip der Darstellung auch „Unvollständigkeit“ (ebd.), denn es kommt für Nietzsche nur darauf an, den je genuinen Zusammenhang von Kultur, Lebenseinheit und Stil darzustellen (vgl. ebd., S.  812). Auf die damit zusammenhängenden kulturkritischen Polaritäten von ‚metaphysik- und idealismuskranken‘ Deutschen und den „Griechen als die wahrhaft Gesunden“ (ebd., 805) soll hier nicht weiter eingegangen werden, da hier ausschließlich die Art und Weise interessiert, wie Nietzsche seinen historischen Blick auf Heraklit begründet. Ebd., S. 813. Ebd., S. 818.

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scheidend, denn zum ‚Philosophenkönig‘ wird Heraklit hier nicht allein durch das, was er sagte, sondern vor allem wie er es tat.81 Beides zusammen stiftet für Nietzsche eine ‚Philosophie des Werdens‘, in deren Zentrum die Polarität steht.82 Die betreffende Passage sei hier im Ganzen zitiert, weil sie nicht nur eine konzise Darstellung der Philosophie Heraklits bietet, sondern auch so etwas wie eine ‚Minimaldefinition‘ der Polarität formuliert, die sich, über alle Brüche, Diskontinuitäten und Erneuerungen gewissermaßen ‚durchhält‘: „Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin. Das Volk meint zwar, etwas Starres, Fertiges, Beharrendes zu erkennen; in Wahrheit ist in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß bei einander und an einander geheftet, wie zwei Ringende, von denen bald der Eine bald der Andre die Obmacht bekommt. Der Honig ist, nach Heraklit, zugleich bitter und süß, und die Welt selbst ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtigkeit. Es ist eine wundervolle, aus dem reinsten Borne des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, welche den Streit als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit betrachtet. Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodicee zu finden […].“83

81 82

83

Das positive Bild, das Nietzsche von Heraklit zeichnet, wird – mit überdeutlicher Spitze gegen Platon – an mehreren Stellen durch das Attribut ‚königlich‘ unterstrichen. (vgl. ebd., S. 810, 823, 834). Nietzsches besonderes Interesse an dieser Polarität dürfte mit seiner eigenen Konzeption einer ‚Philosophie der Kraft‘ zusammenhängen. Ingo Christians hat versucht „Nietzsches Konzeption der Kraft […] aus einer Art Polaritätsdenken zu interpretieren“. (Ingo Christians: Reiz und Sporn des Gegensatzes. Zu Friedrich Nietzsches Konzeption der Kraft. Würzburg 2002, S.  12). Christians betont explizit, dass „Nietzsches in Polaritäten verlaufendes Denken“ (ebd., S. 13) jedoch nicht mit Vorstellungen von einem dialektischen Bewegungsgesetz verwechselt werden dürfe. Vielmehr handele es sich hier um ein relationales und funktionales Denken, bestünden doch „Nietzsches Polaritäten […] wesentlich aus Relationen und nicht aus festen Dingen, die erst nachträglich in Beziehung zueinander gesetzt werden müssten.“ (ebd.). Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 824f.

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Kapitel 3

Bemerkenswert für die Problemgeschichte der Polarität ist an dieser Passage, dass Nietzsche die Polarität, die hier im Zentrum steht, nicht als Begriff, Idee, Grundgedanken oder gar Formel, sondern als eine „Form“ bezeichnet. Auf der Ebene der Darstellung der ‚Philosophie des Werdens‘ hat das nahezu performativen Charakter: Mit dem dreimal wiederholten Adjektiv ‚fortwährend‘ wird hier versucht, dem Gedanken permanenter Veränderung immer noch eine neue Seite abzugewinnen. Eine ähnliche Schreibbewegung ist bei Friedlaender zu beobachten, wenn er der Dynamik des Differenzcharakters der Polarität in immer neu einsetzenden Versuchen des Definierens und Differenzierens auf die Spur zu kommen versucht. In seiner Nietzsche-Biographie von 1911 betont Friedlaender daher auch nachdrücklich das „Iterative“ (F/M 9, 100), das dem „Zauber der Polarität [zu] entlocken“ (ebd.) sei. Alle Bewegungsformen, auch die textuelle Verlaufsform als solche, sind eingespannt in das auf Dauer gestellte Wechselspiel entgegengesetzter Kräfte ohne je in einem Endzustand starr, fertig und verharrend zur Ruhe und zu einer endgültigen Einheit mit sich selbst zu kommen. Bei Nietzsche korrespondiert das zudem auffällig mit der anekdotischen Schreibweise der Schrift im Ganzen. Denn auch die Anekdote ist vor allem durch ihre Uneindeutigkeit und Spannung charakterisiert: Zwischen Wahrheit und Fiktion, Überlieferung und Übertreibung, Bericht und zuspitzender Pointierung. Sie ist eine Form, die ‚Verborgenes‘ an den Tag zu bringen vorgibt, ohne verifizierbar zu sein, sondern ganz in der spannungsgeladenen Form ihrer Darstellung aufgeht. Die Dynamik polarer Spannungen zwischen Entgegengesetztem scheint Nietzsche so als Denk-Form sui generis herauszuheben. An dieser ‚Form der Polarität‘ lassen sich mindestens zwei Aspekte unterscheiden, die nicht nur für Nietzsches Formdenken, sondern auch für eine problemgeschichtliche Perspektive auf polare Denkfiguren um 1900 insgesamt aufschlussreich sind. Das betrifft einmal die inhaltliche Seite des Gedankens und zum zweiten die Form als solche, mit der das bereits für die Zeit um 1800 dargestellte permanente Schweben der Polarität zwischen Bild und Begriff wiederauftaucht. Erstens markiert die „Form der Polarität“ für Nietzsche das Epizentrum des gedanklichen Gehaltes der ganzen Heraklit’schen ‚Philosophie des Werdens‘; durch sie wird „die gute Eris Hesiods […] zum Weltprincip verklärt“84 und „[a]us dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden […].“85 Zwei wirkmächtige Annahmen grundieren diese Vorstellung des Werdens, die für Nietzsche das entscheidende Provokationspotential Heraklits darstellen: Zum einen verzichtet er auf eine Trennung der Welt in ein metaphysisches 84 85

Ebd., S. 825. Ebd.

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Ideenreich und einer physischen Körperwelt und zum zweiten zieht Heraklit daraus wiederum den radikalsten Schritt: „Jetzt, nach diesem ersten Schritte, konnte er auch nicht mehr von einer weit größeren Kühnheit des Verneinens zurückgehalten werden: er leugnete überhaupt das Sein.“86 Damit sind alle Phänomene der Welt nicht in ihrem singulären Sein erfassbar, sondern nur noch im ‚Fluss des Werdens‘, der permanent polare Gegensätze produziert. Hier gebe es weder stabile Entitäten noch metaphysische Garantien, die die konfliktöse, kriegerischen Gegensätze in letztgültigen Prinzipien ausgleicht und harmonisiert. Alle Ordnung sei damit dynamisch und nur in der Spannungsbeziehung des Entgegengesetzten zu denken. Diese Erscheinungsweise aller einzelner Phänomene in ihrer polaren Relativität hat G.E.R. Lloyd für das gesamte Polaritätsdenken der vorsokratischen Zeit ausgewiesen. Dazu heißt es bei Lloyd: „[…] the relation between them [der in dem polaren Spannungsgefüge entgegengesetzten Pole, K.D.] is conceived as a continuous, balanced interaction, and in which there is nothing to suggest that one of each pair is thought of as in any way superior to the other.“87

Balance manifestiert sich in polarer Perspektive nicht in einer starren Systematisierung und verweist nicht auf einen festen Punkt endgültigen Austarierens, sondern alle Phänomene und damit auch das Denken selbst wird in einem permanenten Schwankungszustand in Bewegung gehalten. Noch stärker als die „continious, balanced interaction“, die Lloyd hervorhebt, hat Jürgen Eckardt Pleines für das Konzept der harmonia bei Heraklit betont, dass diese „keineswegs die konfliktfreie und handlungsentlastete Befindlichkeit einer ‚schönen Seele‘ [bedeutet] […]. Harmonie meint vielmehr ein Spannungsverhältnis zweier entgegengesetzter Kräfte oder Vermögen, die sich wechselseitig in Schach halten (eris).“88 Als Schlüsselbegriff sowohl für die teilweise disparaten Fragmente Heraklits als auch für die verschlungenen Rezeptionsgeschichten rekonstruiert Pleines die harmonia als ein „polar gespanntes und innerzeitlich strukturiertes Begriffsschema, von dem Heraklit annahm, daß es dem Kosmos, der Natur und auch der Kunst entsprach“89. Pleines unterscheidet die Bedeutung der harmonia als „heuristisches Prinzip der Wissenschaft, das auf der Grundlage des jeweils bekannten Wissens etwas im Zusammenhang

86 87 88 89

Ebd., S. 822f. G.E.R. Lloyd, Polarity and Analogy, S. 56-57. Jürgen Eckardt Pleines: Harmonia. Materialien und Skizzen. Hildesheim 2004, S. 34. Ebd., S. 8.

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Kapitel 3

begreifen suchte“90, von einem rein ästhetischen Geschmacksurteil, mit dem die harmonia später „zu einer festen Gestalt und zu gleichbleibender, angenehmer Form heruntergekommen war“91. Harmonia zielt, so Pleines, nicht auf eine letztgültige Einheit, sondern auf ein dynamisches Ordnungsprinzip im Spannungsgefüge gegenstrebiger, widersprüchlicher Elemente: Polarität ist „‚Ordnung‘ als Widerspiel von Ungleichartigem.“92 Friedlaender wird dieses dynamische Konzept der harmonia dann später auf die Variationsund Anwendungsbreite seiner Idee einer „mediale[n] Indifferenz“ (F/M 10, 139) umlegen, die aus einem „unermüdliche[n] Balance-halten in unzähligen Bedeutungen [besteht], deren jede die Bilderschrift der anderen ist.“ (ebd.). Insgesamt scheint es diese dynamische Fassung der Polarität zu sein, durch die sie sich einer bestimmten Form systematischen Denkens entzieht. Martin Heidegger hat in diesem Sinne später betont, es liege in der „Schwierigkeit, das Gegenstrebige in-eins mit der Fügung zu denken.“93 Platon wiederum hatte daher schon den Eryximachos im Symposion sagen lassen, der Gedanke der Polarität als dieses In-Eins des Gegenstrebigen sei ‚unvernünftig‘.94 Mit der Bezeichnung der Polarität als „Form“ statt Idee scheint Nietzsche diesen produktiven Problemstatus ebenfalls einkalkuliert zu haben. Von besonderem Interesse scheint die „Form der Polarität“ für Nietzsche aber auch zu sein, weil diese polare „Form“ einen spezifischen Schreibstil einfordert. Heraklits Philosophie wird allgemein als dunkel und unverständlich charakterisiert. Nietzsche hingegen betont, dass „wahrscheinlich […] nie ein Mensch heller und leuchtender geschrieben“95 habe. Mit dieser konträren Aussage scheint Nietzsche für Heraklits Fragmente geltend machen zu wollen, dass dort nicht bloß Polarität begrifflich expliziert wird, sondern vielmehr Denken und Darstellen zu einer gemeinsamen Ausdrucksform finden, die die Ambiguität der „Form der Polarität“ in das Zentrum des Philosophierens stellt. Denn, wenn alles im Fluss ist, so könnte man Nietzsches Argumentation verstehen, dann muss schließlich auch der Prozess des Definierens im permanenten Werden bleiben. Es ist zu vermuten, dass der Nietzsche-Leser Friedlaender gerade vor diesem Hintergrund in einem Tagebucheintrag von 1937 zum problematischen Erkenntnisstatus der Polarität ausführt: „Polarität ist nicht auszulernen; es bleibt immer ein dunkler Rest, weil sie das Irrationale 90 91 92 93 94 95

Ebd., S. 10. Ebd., S. 21. Ebd., 20. Zit. n. ebd., S. 68. Vgl. Platon: Symposion: In: ders.: Sämtliche Werke [Griechisch/Deutsch]. Bd. IV, hg. v. Karlheinz Hülser. Frankfurt a. M./Leipzig 1991, S. 91 [187a]. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 832.

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zum Stoffe hat […] Bis auf ihren Grund klar kann Polarität nie werden.“96 Nietzsche wiederum betont vor allem den Doppelcharakter der Polarität bei Heraklit: Sie ist eine zugleich „fruchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert.“97 Der ‚Schwebezustand‘, der hier offensichtlich der polaren Wahrnehmungseinstellung attestiert wird, betrifft bei Nietzsche zuerst die Darstellung der „Form der Polarität“ selbst, die nur zu einem Teil begrifflich, logisch und vernünftig ist. Zum anderen ist sie Produkt einer „intuitiven Vorstellung“98, eines „göttlichen Blitzschlags“99, der nicht restlos in einen Begriff übersetzbar ist. Der Grundgedanke der Heraklit’schen ‚Philosophie des Werdens‘ – das Eine ist nur das Viele bzw. der unendliche Konflikt zwischen Mannigfaltigem – sei, so Nietzsche weiter, „eine Seltenheit selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern“, die „niemand mit dialektischem Spürsinn“ wieder in eine stabile Einheit zurückführen kann.100 Die Anmerkung zur kosmischen Metapher führt zum zweiten Aspekt der „Form der Polarität“, dem Problem der Form als solcher. Dieter Burdorf hat in seiner Begriffs- und Problemgeschichte der Form neun Varianten des Formproblems bei Nietzsche unterschieden, wobei zwei davon für die ‚Form der Polarität‘ von besonderem Interesse sind.101 Zum einen betrifft das die „Form als erkenntnistheoretische Kategorie“102 und weist insbesondere auf die Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne hin, die etwa gleichzeitig mit der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen entstanden ist. Die Schrift beginnt damit, dass Nietzsche dem Menschen den Vorwurf macht, völlig illusorische, verklärte Vorstellungen vom eigenen Intellekt zu haben. Statt das höchste Erkenntnismittel im ganzen Universum darzustellen, sei der menschliche Intellekt in einem „abgelegenen Winkel des in zahllosen

96 97 98 99 100

Zit. n. Detlef Thiel, Experiment Mensch, S. 55. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 824. Ebd., S. 823. Ebd., S. 822. Ebd., S.  828. Wenn Nietzsche das Spiel des Feuers mit sich selbst als „[d]ie Dritte, für Heraklit zurückbleibende Möglichkeit“ (ebd., S. 827f.) zwischen der Betonung entweder nur der Mannigfaltigkeit oder nur des metaphysischen Einen nennt, meint das keineswegs ein Drittes im Sinne einer dialektischen Aufhebung in ewigen Ideen. Damit führt für Nietzsche kein direkter Weg von Heraklit zur neuzeitlichen Dialektik. 101 Vgl. Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2001, S. 321. 102 Vgl. ebd., S. 324f.

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Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“103 das bloße Produkt von „Täuschung“ und „Verstellung“.104 Dieser Vorwurf basiert auf einem sprachkritischen Argument: Der verklärende, „rätselhafte[…] Wahrheitstrieb[…]“105 resultiere aus der Illusion, dass die Sprache Realität unmittelbar adäquat abbilden kann und so problemlos die Regeln aufstellen könnte, die es erlauben, eindeutig zwischen wahr und falsch, zwischen richtiger Erkenntnis und bloßer Täuschung unterscheiden zu können, um hiernach dann den ‚Dingen an sich‘ habhaft zu werden. Sprache sei aber ganz im Gegenteil, so Nietzsche, nur die in Bildern ausgedrückte spezifische Wahrnehmung des Menschen: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen […].“106 Dieses „Heer von Metaphern“ stellt für Nietzsche nicht das Problem dar, sondern die Illusion, dass die Sprache uns einen reinen, unvermittelten Zugang zu Wahrheit erlaubt. Dadurch werde der metaphorische Ursprung permanent geleugnet, so dass dort, wo es sich in der Sprache eigentlich bloß um willkürliche Konstruktionen und Konventionen handelt, die Ideologie eines rein vernunftbasierten Sprachdenkens entsteht, die zudem den moralischen Imperativ mit sich führt, nach dieser Vorstellung zu denken und zu handeln. Daher resümiert Nietzsche: „Nur durch das Vergessen jener primitiven Metaphernwelt, nur durch das Hartund Starr-Werden einer ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz […].“107

Beide genannten Schriften scheinen aufeinander zu reagieren, ließe sich doch dem „Hart- und Starr-Werden“, das aus dem Verlust der bildlichen Energiequelle der Phantasie resultiert, die Anmerkung zu Heraklits ‚Philosophie des Werdens‘ direkt gegenüberstellen. Damit ließe sich zugleich auch Nietzsches erkenntnisund sprachkritische Reflexion über das Formproblem, mithin die Frage nach der Präsenz des „Trieb[s] zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des 103 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 873-890, hier: S. 875. 104 Ebd., S. 876. 105 Ebd., S. 877. 106 Ebd.., S. 880. 107 Ebd., S. 883.

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Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann“108, auf die „Form der Polarität“ beziehen, die sich in dem bereits dargelegten 51. Fragment des Heraklit in der Form einer Analogiebildung ausdrückt: „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinne zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“109 Wenngleich sich der Grundgedanke der ‚gegenstrebigen Fügung‘ (ἁρμονίη) auch in zwei anderen Fragmenten des Heraklit ohne Bildanalogie findet, ist dieser bekannteste Ausspruch Heraklits für Nietzsche doch gerade durch ihre bildliche Ausdrucksweise so charakteristisch für die „Form der Polarität“.110 Die bildliche Ausdrucksweise, die „Metaphernbildung“ ist für Nietzsche bekanntlich weder bloßer rhetorischer Schmuck noch vorläufiger Platzhalter für etwas, das noch nicht den Status des Begrifflichen erreicht hat bzw. noch nicht im Begriff formuliert werden konnte. Vielmehr geht es ihm um die genuine Erkenntnisfunktion der Metapher. In der Geburt der Tragödie heißt es dazu: „Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt.“111 Das zu Beginn genannte erkenntniskritische Formproblem geht 108 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 887. 109 Heraklit: Fragment 51. In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 27. Diels übersetzt ἁρμονίη mit ‚gegenstrebige Vereinigung‘. Das Fragment lautet bei Hippolytos folgendermaßen: „οὐ ξυνίασι ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντονος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης.“ (zit. nach: Die Vorsokratiker [Griechisch/Deutsch], ausgewählt, übersetzt und erläutert von Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi. Stuttgart 2012, S. 264). Zum Bild von Bogen und Leier fasst Paul Good zusammen: „Das mediale Prinzip διαφερόμενον ‚unstimmig sein‘, so gedacht, dass es ἑωυτῷ συμφέρεται ‚in sich selbst zusammen trägt‘, das ergibt παλίντονος/παλίντροπος ἁρμονίη, gegenwendige Harmonie. παλίντονος/-τροπος‚ (in sich) gegen wendend, wider-spannend‘. Die gespannte Sehne des Bogens besteht aus vor und zurück gespannten Kräften zugleich. Losgelassen, befördert sie den Pfeil weg. So ist dem Heraklit Spannung das Eine. Auch die Leier erzeugt den Klang dadurch, dass die Saite in sich selber nach verschiedenen Richtungen Spannung aufrecht erhält. Niemals kann man dieses (in sich selber unterschiedene) Eine der Spannung logisch in Gegensätze zerteilen oder als raumzeitliches Neben- und Nacheinander fassen. Es wären kein Bogen und keine Leier mehr.“ (Paul Good: Dem Fließenden Stimme geben. Heraklits Wirkung in Kunst und Philosophie. In: Enrica Fantino et al. (Hg.): Heraklit im Kontext. Berlin/Boston 2017, S. 533-556, hier: S. 537f.). 110 Im 8. Fragment heißt es bei Heraklit: „Das widereinander Strebende zusammengehend; aus dem auseinander Gehenden die schönste Fügung.“ (Heraklit: Fragment 8. In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 24). Im 9. Fragment findet sich folgende Reihe: „Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Einträchtiges Zwieträchtiges, Einklang Zwieklang, und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“ (ebd.) 111 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd.  1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S.  9-156, hier: S. 60.

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hier über in ein zweites, produktives Formproblem, das in Nietzsches Schriften allenthalben zu entdecken ist: Die Form als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Kunst.112 Nietzsche betont an mehreren Stellen, dass die ‚blitzhaften‘, intuitiven Vorstellungen der vorsokratischen Philosophen sich im Zwischenbereich von Bild und Begriff ansiedeln, wodurch der metaphorisch-bildhafte Ursprung vom Erkenntnisakt noch nicht entkoppelt sei. Das Verhältnis von Bild und Begriff wird hier sogar umgekehrt: Gegenüber dem „genialische[n] Vorgefühl“113 ist die begriffliche Explikation philosophischer Intuitionen „im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache.“114 Der wahre Philosoph, der die unreinen, bildlichen Ursprünge seiner eigenen Vorstellungen nicht vergessen und verleugnet hat, ist dem dramatischen Dichter näher als dem Dialektiker. So heißt es zu Heraklit: „So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.“115

In seiner Schrift scheint Nietzsche das moderne Denken in und über Polaritäten auf diese ästhetische Perspektive verpflichten zu wollen. In diesem Sinne hat auch Friedlaender in seiner Nietzsche-Biographie dem „Zauber der Polarität“ eine „paradoxeste[…] Plausibilität“ gerade dadurch attestiert, dass dieser „Zauber“ nicht zuletzt „ästhetisch wirkt“ (F/M 9, 100). In Nietzsches Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen scheint diese Doppelung aus Philosophie und Ästhetik jedenfalls in besonderer Weise an die „Form der Polarität“ gebunden: Das Prinzip der gegenstrebigen Kräfte, das der Gedanke der Polarität zum Ausdruck bringt, betrifft zuallererst das Denken und Schreiben selbst zwischen der Kraft der Phantasie mit ihrem „biltzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten“ und einem Prinzip der „Besonnenheit“, mit dem der Philosoph die Kräfte der Phantasie für seine Denkarbeit nutzt.116 In der „Form der Polarität“ offenbart sich damit, wie bereits dargestellt, nicht 112 113 114 115 116

Vgl. Dieter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte, S. 336f. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 814. Ebd., S. 817. Ebd., S. 831. Ebd., S.  814. Die dahinterstehende Frage hat Nietzsche in einem späteren Fragment formuliert: „Wie weit reicht die Kunst in das Wesen der Kraft?“ (Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1885-1887. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 12, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 873-890, hier: S. 128).

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nur der ‚unreine‘ Ursprung der Geschichte des Polaritätsdenkens, sondern zugleich auch der ‚unreine‘ Ursprung des Denkens selbst zwischen Bildlichkeit und Begrifflichkeit. In seiner Nietzsche-Biographie rekurriert Friedlaender einerseits auf diesen besonnen-kalkulierten Umgang mit der „Form der Polarität“ (vgl. F/M 9, 97 und 100). Auf der anderen Seite ist seine Biographie von einem expressionistischen Pathos der Entdeckung der Polarität getragen, mit dem nicht weniger als eine „Autobiographie der Welt“ (ebd., 92) in Aussicht gestellt wird. Friedlaender bezieht hier zudem Nietzsche und Heraklit direkt aufeinander, indem er beide gleichermaßen „original und exzellent“ (ebd., 93) nennt. Zu Nietzsche heißt es dort: „Nietzsches Gott ist der Gott, welcher sich selber probiert, das Wagnis der Wagnisse, das Abenteuer des Lebens, die Gefahr in Person, ein Blitz, mit dem der Mensch geimpft werden soll. Statt aller intelligibeln Garantien Kants ist nur noch diejenige durch das Experiment übrig geblieben.“ (ebd.)

Diese pathetische Inszenierung experimenteller Subjektivität ist nicht nur exemplarisch für den Stil der Biographie. Vor dem Hintergrund der expressio­ nistischen Kritik am ausschließlich rationalen Subjekt einerseits und dem Pathos neuer subjektiver Erlebnisformen andererseits gibt die zitierte Passage zugleich auch einen deutlichen Hinweis darauf, warum Friedlaender mit seinem Buch diskursprägend für die frühexpressionistische NietzscheRezeption werden konnte.117 Diese Rezeption kann hier ebenso wenig zum 117 Zu der expressionistischen Doppelung aus Kritik am modernen Subjektivismus und der Suche nach neuen Subjektformen vgl. Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975, hier: S. 153-154. Als Erster hat Gunter Martens Friedlaenders „bedeutsame Rolle in der Vermittlung Nietzschescher Positionen“ beschrieben. (Gunter Martens: Nietzsches Wirkung im Expressionismus. In: Bruno Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 2: Forschungsergebnisse. Tübingen 1978, S. 35-82, hier: S. 47). Für die Frage nach einem ‚jüdischen Nietzscheanismus‘ im Frühexpressionismus betont Manfred Voigts in ähnlicher Weise, dass Friedlaenders Schöpferische Indifferenz ein Buch gewesen sei, „dessen Wirkung kaum überschätzt werden kann.“ (Manfred Voigts: Jüdisches Denken im Frühexpressionismus. Oskar Goldberg und Erich Unger im Zeichen Friedrich Nietzsches. In: Werner Stegmaier/Daniel Krochmalnik (Hg.): Jüdischer Nietzscheanismus. Berlin/New York 1997, S.  168-187, hier: S.  177). Manfred Kuxdorf spricht von einer „Art Vaterrolle den jungen Expressionisten gegenüber“ (Manfred Kuxdorf: Der Schriftsteller Salomo Friedlaender/Mynona: Kommentar einer Epoche. Eine Monographie. Frankfurt a. M. 1990, S. 2) und Joseph Strelka geht wiederum soweit, dass bei ihm Friedlaenders literarisches Schaffen und die expressionistische Bewegung zusammenfallen (vgl. Joseph Strelka: Das Selbst ist innen oder der Grotesken-Erzähler Mynona. In: ders.: Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst. Zu deutscher Erzählprosa des 20. Jahrhunderts. Bern 1977, S. 38-53, hier: S. 42 und S. 50). Für Lisbeth Exner ist Friedlaenders Philosophie wiederum

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Kapitel 3

Gegenstand gemacht werden wie die Argumentation des Buches selbst. Im Kapitel 3.1 wurde bereits an Friedlaenders Julius Mayer-Biographie gezeigt, wie Friedlaender seine eigene Diskursposition inmitten der Konjunktur polarer Denkfiguren um 1900 zu profilieren versucht.118 In Bezug auf die Bedeutung Nietzsches und dessen Reflexionen über die „Form der Polarität“ ist an dieser Stelle nur ein kurzer Blick auf das einleitende Kapitel der Nietzsche-Biographie zu werfen, das den programmatischen Titel Orientierung trägt. Der Titel hat vier Bedeutungsebenen. Erstens betrifft der Titel ganz basal die Funktion des Kapitels als Leseorientierung, indem vorgetragen wird, worum es in dem Buch geht: „Dieses Buch über Friedrich Nietzsche gibt nur das Werden seines philosophischen Geistes zu verstehen, und zwar aus einem Augenpunkt, den man nicht verlassen kann, ohne die Orientierung zu verwirren, wo nicht gar zu verlieren.“ (ebd., 91) Dieser „Augenpunkt“ der intellektuale[n] Biographie, wie der Untertitel des Buches lautet, ist der Gedanke der „logische[n] Unendlichkeit“ (91), der ein „Erleben der Welt“ in der „Reziprozität der Extreme“ (ebd., 95) ermöglichen soll. Mit diesem Blick auf den infinitesimalen Charakter der Welt, der so „weit und metaphorisch […] wie nur irgend möglich“ (ebd.) zu fassen sei, führt Friedlaender den „Begriff[…] der Polarität“ (ebd., 99) ebenso ein wie die Vorstellung „unseres eigensten Wesens“ (ebd., 91) als indifferente, ‚freie‘ (vgl. sogar „die metaphysische Absicherung dieser Generation.“ (Lisbeth Exner: Fasching als Logik. Über Salomo Friedlaender/Mynona. München 1996, S. 185). Diese nachdrücklichen Erinnerungen an den diskursiven Stellenwert Friedlaenders im Frühexpressionismus hat Steffi Widera dann schon resümieren lassen: „Der Einfluß der Indifferenzphilosophie Salomo Friedlaenders auf andere Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, u.a. auf Alfred Kubin und Max Brod, gilt als gesichert […].“ (Steffi Widera: Richard Weiner. Identität und Polarität im Prosafrühwerk. München 2001, S. 261). Eine detaillierte Studie, die die konkreten intertextuellen Zusammenhänge zwischen Friedlaenders NietzscheTexten und der frühexpressionistischen Literatur untersucht und damit den als gesichert angenommenen Einfluss auch in konkreter philologischer Rekonstruktionsarbeit nachweist, steht allerdings noch aus. Nur eine solche Studie könnte dann nachweisen, inwiefern Friedlaender tatsächlich „ein wahres Ferment bildet in den Gärungsphasen vieler geistiger Strömungen und Diskussionen“ der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhundert, wie Detlef Thiel betont. (Detlef Thiel: Von Schopenhauer und Nietzsche durch Ernst Marcus zu Kant – und über Kant hinaus  … Der unbekannte ‚Dr. S.  Friedlaender‘. In: F/M 2, S. 17-114, hier: S. 18). Erste Hinweise hierzu bietet Detlef Thiel selbst in seiner Einleitung zur Neuausgabe von Friedlaenders Nietzsche-Biographie (Vgl. Detlef Thiel: Einleitung: Die Tragödie der Unabhängigkeit. Friedlaender/Mynona opfert Nietzsche. In: F/M 9, S. 9-87, hier: S. 53-62). 118 Da die Mayer-Biographie direkter auf die Konjunktur polarer Denkfiguren um 1900 reagiert und zudem explizit ein Konzept für die untersuchungsleitende Frage entwickelt, wie aus einem naturwissenschaftlichen Denkkonzept eine zeitdiagnostische Figur werden kann, ist sie für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit aufschlussreicher.

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ebd.) Gelenkstelle inmitten der Polaritäten. Dabei setzt sich Friedlaender die „Maske“ (ebd., 156) ‚Nietzsche‘ auf, um Nietzsche auch durchaus kritisch zu betrachten. Detlef Thiel hält hierzu fest: „F[riedlaender]/M[ynona] zwingt Nietzsche durch das strenge polaristische Filter, zeigt, wo er strauchelt, wie er hätte weitergehen sollen.“119 Zweitens betrifft der Titel auch die Orientierung an Nietzsches philosophischen Stil für eine kritische Erkenntnis der Gegenwart. Die ‚prosopopöische‘ Schreibweise wurde mit dem Hinweis auf die „Maske“ bereits angedeutet. Es ist kaum zufällig zu nennen, dass Friedlaender gerade in seiner Untersuchung der Unzeitgemäßen Betrachtungen, also Nietzsches ersten zeitkritischen Interventionen, darlegt, wie Nietzsche hier selbst vorbildlich war. So habe er in seiner Darstellung von „Schopenhauer und Wagner […] das Muster einer Selbsterziehung zur Einzigkeit und Selbsteigenheit“ (ebd., 120) gegeben, dabei aber eigentlich immer wie durch Masken gesprochen: „Solche Porträts wirken alsdann original, ihre Originale verblassen zu Kopien […].“ (ebd.) Und später: „So war das Größte, was Nietzsche wirklich vor allem Wagner und Schopenhauer verdankte, Nietzsche selber.“ (ebd., 121) Diese Schreibweise in „Masken“ erprobt Friedlaender, wie bereits an seiner MayerBiographie zu beobachten war, selbst immer wieder vor allem hinsichtlich der zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren. Daran anschließend darf für den Titel Orientierung dann drittens angenom­ men werden, dass der Kantianer Friedlaender hier auf Kants kleine Schrift von 1786 Was heißt: Sich im Denken orientieren? rekurriert. In dieser Schrift macht es sich Kant zur Aufgabe, die Bedeutung des „Begriff[s] des Sich-Orientierens“120 für den von allen Erfahrungen unabhängigen Vernunftgebrauch, d.h. für die „Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände“121 zu bestimmen. Diese Schrift ist Kants Antwort auf den Pantheismusstreit zwischen Mendelssohn und Jacobi über das Verhältnis von Rationalität und Glauben. Mittels einer Reihe von Analogiebildungen kommt Kant dort von dem basalen Sich-Orientieren in „einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen)“122 über den „geographischen Begriff des Verfahrens“123 und der mathematischen Orientierung zum „Vermögen […], sich […] überhaupt im Denken, d.i. logisch

119 Detlef Thiel: Einleitung: Die Tragödie der Unabhängigkeit. Friedlaender/Mynona opfert Nietzsche, S. 10-11. 120 Immanuel Kant: Was heisst: Sich im Denken orientieren? In: ders.: Werkausgabe, Bd. V.: Schiften zur Metaphysik und Logik  1, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.  M. 1977, S. 267-283, hier: S. 268 [A 307]. 121 Ebd., S. 269 [A 308]. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 270 [A 308].

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Kapitel 3

zu orientieren.“124 Wie bereits die einfache Orientierung in einer bestimmten Weltgegend nicht von objektiven Merkmalen, sondern von dem „Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand“125 geleitet sei, bestimme sich auch die Orientierung im Denken nicht an einem „Objekt der Anschauung“126. Das „der Vernunft eigene[…] Bedürfnis[…]“127 sich im Denken zu orientieren sei vielmehr allein vom Gebrauch der Vernunft selbst bestimmt; dieses Bedürfnis richtet sich „lediglich nach einem subjektiven Unterscheidungsgrunde“128. Es gebe daher keine objektiven, dem Vernunftgebrauch vorgelagerten Prinzipien, an denen sich die Vernunft orientieren und festhalten könnte. Damit artikuliert die Vernunft für Kant ein Orientierungsbedürfnis, dessen Befriedigung nur sie selbst leisten kann.129 Die Vernunft habe zwar einerseits das Bedürfnis nach einem übersinnlichen Wissen, andererseits bestehe aber ein „Mangel“130 an den dafür nötigen objektiven Werkzeugen. Die weitere Argumentation, die vor allem der Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft gilt, läuft bei Kant dann auf einen postulativen „Vernunftglaube[n]“131 zu, der als „Wegweiser oder Kompaß“ diene, „wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientieren“132 könne. Für Friedlaenders anzunehmenden Rekurs auf Kants Schrift ist weniger der postulierte Vernunftglaube entscheidend, sondern die gleich zu Beginn der Schrift zumindest angedeutete Lösung des Dilemmas zwischen dem VernunftBedürfnis nach übersinnlichem Wissen und dem Mangel an objektiven, außerhalb der Vernunft liegenden Anhaltspunkten. Kant gesteht zwar das Streben nach reinen Begriffen durch Abstraktion von allen sinnlichen Anschauungen zu, betont aber zugleich, dass diesen Begriffen „doch noch immer bildliche

124 125 126 127 128 129

Ebd. [A 309]. Ebd., S. 269 [A 308]. Ebd., S. 270 [A 309]. Ebd. [A 310]. Ebd. [A 309]. Diese Doppelung ist analog zu den Ausführungen in der Kritik der reinen Vernunft. Die Vernunft, so führt Kant dort aus, habe sich Rechenschaft über sich selbst zu geben. Hier setzt Kants General- oder besser „heuristische[…] Schlüsselmetapher“ vom Gerichtshof der Vernunft an. (Peter L. Oesterreich: Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht. Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel. In: Brady Bowman (Hg.): Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Paderborn 2007, S. 45-59, hier: S. 48). 130 Immanuel Kant, Was heisst: Sich im Denken orientieren?, S. 271 [A311]. 131 Ebd., S. 277 [A 320]. 132 Ebd.

Schreiben in Masken: Friedlaenders Verfahren

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Vorstellungen“133 anhaften. Die „Beimischung des Bildes“134 ist aber nichts schlechtes: „Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgend eine Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen Erfahrung sein muß) unterlegt würde?“135 Vielmehr liege, so Kant, in dieser Mischung von Bild und Begriff eine „heuristische Methode zu denken“, die „die Philosophie wohl mit mancher nützlichen Maxime, selbst im abstrakten Denken, bereichern könnte.“136 Indem Friedlaender immer wieder auf den Schwebezustand der Polarität zwischen Bild und Begriff rekurriert, scheint er diese „nützliche[…] Maxime“ Kants auf den Umgang mit der Polarität als Denkfigur umzulegen. Diese zwischen Bild und Begriff stehende Heuristik macht Friedlaender dann viertens auch über die Nietzsche-Biographie hinaus in seinen Schriften zum Ausgangspukt seiner eigenen Orientierung in und durch polare Denkfiguren, indem er in sie verschiedene aktuelle philosophische, ästhetische und politische Probleme einträgt. Immer wieder betont Friedlaender: „Polarität ist der Ariadnefaden im Labyrinthe der Welt.“ (F/M 10, 432) Das Bild vom Ariadnefaden benutzt Friedlaender auffällig häufig in seinen Schriften, um die grundsätzliche Orientierungsfunktion der Polarität hervorzuheben.137 An anderer Stelle hebt er hervor, dass zwar alle Phänomene nur in polaren Gefügen erscheinen, es aber „meistens wahrer Detektivkünste und des künstlichsten Spürsinns [bedarf], um die allerwärts notwendige Polarität zufällig zu entdecken“ (F/M 26, 517). Das gilt insbesondere für die Erkenntnis der Gegenwart als solche. In dem Kapitel über die Unzeitgemäßen Betrachtungen versucht Friedlaender in seiner Nietzsche-Biographie mit der Polarität eine Orientierung zu stiften, die den polaren Charakter der Zeitform ‚Gegenwart‘ selbst betrifft. Dort heißt es zu einer polaren Perspektive auf die Gegenwart in Anschluss an Nietzsche: „Anstatt die Vergangenheit zu einem Theater und Spiegelbild der Gegenwart zu machen, von deren Blute trinkend jene Schatten wieder Wirklichkeit und alle Zukunft erhielten, macht sie die eigene Gegenwart zu einer kaleidoskopischen spiegelnden Abschattung aller Vergangenheit, als ob es Zukunft niemals mehr geben würde. Umgekehrt kann das gegenwärtige Erleben gar nicht bedeutend genug sein, um die Bedeutung vergangener Zeiten zu entdecken; und durchaus wieder kommt es auf die Person an, welche Geschichte treibt.“ (F/M 9, 117) 133 134 135 136 137

Ebd., S. 267 [A 304]. Ebd. Ebd. Ebd. [A 304, 305]. Vgl. u.a. F/M 2, 408; F/M 5, 104; F/M 9, 169; F/M 10, 382; F/M 24, 382; F/M 26, 515; F/M 27, 195, 279 u. 505.

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Kapitel 3

Abgesehen von der hier geforderten Reflexion auf die Position desjenigen, der „Geschichte treibt“, die gewisse Ähnlichkeiten mit Benjamins Vorstellung von der Reflexion auf den Standort des Historikers hat, findet sich eine von Friedlaender geforderte polare Perspektive auf die Gegenwart zumindest andeutungsweise bereits in Nietzsches Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Unmittelbar vor den Ausführungen zur „Form der Polarität“ macht Nietzsche einige Andeutungen über den prekären Status der Gegenwart zwischen den Zeiten. Nietzsche kommt hier auf die „intuitive[…] Vorstellung“138 Heraklits über die Zeit zu sprechen und führt in einem Vergleich mit Schopenhauer zum Spannungszustand der Gegenwart aus: „So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater, vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden, daß Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind, Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden sei, daß aber, wie die Zeit, so der Raum und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges d.h. wieder nur ebenso Bestehendes sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren, jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und vernünftig sehr schwer zu erreichen.“139

Friedlaender erprobt diese „schwer zu erreichen[de]“ Perspektive auf die Gegenwart in ihrer kritischen Verfassung mit Hilfe polarer Denkfiguren immer erneut für eine zeitdiagnostische Erkenntnis. Vor diesem Hintergrund ist dem Rekurs auf Kants Schrift über das Orientieren auch der Versuch eingelagert, über Polaritäten einen Überblick über die Gegenwart zu gewinnen. „Übersicht ist die erste Erwartung an Orientierung“, schreibt in diesem Sinne auch Werner Stegmaier in seiner Philosophie der Orientierung.140 Orientierung, so ließe sich grundsätzlich vermuten, ist immer auch der erste Impuls von Zeitdiagnostik überhaupt. In Friedlaenders Nietzsche-Biographie ist daran auch noch ein kulturkritisches Pathos angeschlossen, wenn es dort heißt, dass eine polare Perspektive es „verstehen [muß], durch ein wunderbares Taktgefühl, Bogenspannungen, Gewölbe, Distanzen anzustrengen, die sich gegen den Zusammenbruch der Kultur stemmen.“ (F/M 9, 131) Das ist hier vor allem auf den Gedanken individueller „liberté“ (ebd.) bezogen, „deren magische Allgewalt Intervalle, Oktaven, Skalen ins Unendliche braucht, um sich von Donnern 138 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 823. 139 Ebd., S. 823-824. 140 Werner Stegmaier: Philosophie der Orientierung. Berlin/New York 2008, S. XIX.

Schreiben in Masken: Friedlaenders Verfahren

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bis zu Engelsgesängen auf ihnen abzuspielen.“ (ebd.)141 In seinen kritischen Bemühungen um die Aktualisierung der Tradition polarer Denkfiguren betrifft die Polarität der Gegenwart aber nicht nur philosophische, ästhetische und politische Probleme, sondern damit zugleich immer auch den spannungsgeladenen Rekurs auf diese Tradition selbst. Kritische Aktualisierungen polarer Denkfiguren haben bei Friedlaender somit selbst immer polaren Charakter. Es ist vor allem diese bei Friedlaender immer wieder hervorgehobene erkenntniskritische Position in Bezug auf die Aktualisierung der Geschichte polarer Denkfiguren, die Walter Benjamin in seiner Rezension zu einer Neuauflage von Goethes Farbenlehre dazu veranlasst, Friedlaender eine Diskursposition zuzuschreiben, die er als eine mit seiner eignen Position kompatible beschreibt Diese Rezension und Benjamins strategischer Verweis auf Friedlaender werden nachfolgend untersucht.

141 Der Zusammenhang von Kulturkritik und Pathos zeigt exemplarisch die Spannweite von Friedlaenders Nietzsche-Biographie an, die vor allem auch ihre intensive frühexpressionistische Rezeption begründet haben dürfte. Wenn Theo Meyer betont, dass die vielfältige „literarische Nietzsche-Rezeption“ den „ästhetische[n] Nietzsche, de[n] prophetische[n] Nietzsche, de[n] kritische[n] Nietzsche, de[n] artistische[n] Nietzsche“ umfasst, sind diese ‚Figuren‘ alle auch in Friedlaenders Biographie enthalten. (Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen/Basel 1993, S. 163).

Kapitel 4

„Polarität als Schlüssel“. Benjamins zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren zwischen Goethe und Friedlaender D e r S c h l ü s s e l . – Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkam­ mern, für Jene nicht mehr, als ein Stück alten Eisens.“ Friedrich Nietzsche1 Jedes echte Zeitbild ist aber politisch. Walter Benjamin (WB VI, 176)

Am Ende des Kapitels  2.3 wurde bereits kurz darauf hingewiesen, dass Benjamins und Friedlaenders vergleichbares Interesse an Grenzen, Schwellen und Zwischenräumen von philosophischen, politischen und ästhetischen Dis­ kursen aus einer kritischen Distanzierung gegenüber der etwa von Hermann Cohen oder Heinrich Rickert repräsentierten neukantianischen Wissen­ schaftslehre resultiert. Dieses ‚interdisziplinäre Schwelleninteresse‘ unter­ läuft nicht nur von vornherein philosophische Systemarchitekturen, sondern geht bei Benjamin u.a. mit der Rezeption der Schriften Friedlaenders einher. Das lässt sich exemplarisch an einer Stelle des von Benjamin mitverfassten Enzyklopädie-Artikels Juden in der deutschen Kultur ablesen. Nachdem dort Hermann Cohen, der Neukantianismus und Edmund Husserl charakterisiert wurden, heißt es weiter: „Die Philosophie Georg Simmels bezeichnet bereits einen Übergang von der strengen Kathederphilosophie zu einer dichterisch oder essayistisch bestimmten. Unter den sehr zahlreichen jüd. Vertretern der letzteren zeichnet sich Salomo Friedländer (Mynona, geb. 1871) durch die eigentümlich zwischen dem ortho­ doxen Kantianismus und einer gewissermaßen statischen Ausformung der Dialektik schwebende Konzeption aus. Neben seinen philosophischen Werken schuf Friedländer auch den Typus der philosophischen Groteske.“ (WB II.2, 810)

1 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 163.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_005

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Kapitel 4

Benjamin verweist hier nachdrücklich auf die bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit angedeutete doppelte Schreibweise Friedlaenders zwischen ästhetischer Darstellungslogik und philosophischer Begriffsarbeit. Die Anmerkung zur „statischen Ausformung der Dialektik“ wiederum wirkt irritierend. Einerseits könnte es sein, dass es sich hier nicht um eine Beschreibung Benjamins handelt, denn der überlieferte Enzyklopädie-Eintrag ist nicht identisch mit Benjamins Text. Scholem hat angemerkt, dass in dieser überlieferten Fassung vielmehr „vielfach das Gegenteil von dem gesagt wurde, was er geschrieben hatte.“2 Andererseits führt die voranstehende Anmerkung zu Simmel auf eine andere Spur, die auf einen Zusammenhang zwischen der genannten doppelten Schreibweise und der Dialektik hinweist. Denn in seiner Sammelrezension Hundert Jahre Schrifttum zu Goethe von 1932 hat Benjamin angemerkt, dass er in Simmels Studie Goethe von 1912 die „spannungsreichste und für den Denker spannendste Darstellung“ (WB III, 339) gefunden habe, weil sich dort „die wertvollsten Hinweise auf deren dialektische Struktur“ (ebd.) entdecken lasse. Dieser Hinweis steht in unmittelbarem Zusammen­ hang mit Simmels Ausführungen zum Zeitgemäßen bei Goethe, das sich ins­ besondere aus dessen „Prinzip der Polarität“3 ableiten lasse. Die Fragen nach diesem Zeitgemäßen in Goethes polarer Anschauungs­ weise genauso wie die Suche nach einer kritischen Erfahrung mit der Gegen­ wart, die an Kant geschult, aber zugleich über ihn hinauszugelangen versucht, steht nachfolgend im Zentrum. Anhand der Rezension einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre lässt sich zeigen, wie Benjamin auf Friedlaenders doppelte Schreibweise sowie dessen Versuche einer kritischen Aktualisierung Goethes rekurriert, um die Möglichkeiten einer kritischen zeitdiagnostischen Perspektive auszuloten. In diesem Zusammenhang wird auch nochmals auf Simmel zurückzukommen sein, der für die kritischen Aktualisierungs­ bemühungen bei Benjamin und Friedlaender eine zentrale Rolle spielt. Benjamin, Friedlaender und Simmel ist dabei gemeinsam, dass sie der von Goethe vor allem in der Farbenlehre entwickelten Polarität einen ‚Schlüssel­ charakter‘ im Rahmen ihrer zeitdiagnostischen Schreibprojekte zusprechen.

2 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 200. 3 Georg Simmel: Polarität und Gleichgewicht bei Goethe. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 12, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt. Frankfurt a. M. 2001, S. 362-368, hier: S. 362.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

4.1

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Benjamins Rezension einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre (1928)

Am  16.11.1928 erscheint in der Zeitschrift Die literarische Welt Benjamins Rezension zu der im selben Jahr von Hans Wohlbold herausgegebenen und im Eugen-Diederichs-Verlag veröffentlichten „Faksimile-Ausgabe der Goetheschen ‚Beiträge zur Optik‘“ (WB III, 148). Benjamin beginnt seine Besprechung mit einem Lob der Ausgabe dieses „enfant terrible unter den Goetheschen Geisteskindern“ (ebd.), da hier „keine Kosten und Bemühungen“ gescheut worden seien, um das Werk „zwar weniger altfränkisch, aber adrett gekleidet und vor allem mit seinem ganzen vielfarbigen Spielgerät unter die Leute zu schicken.“ (ebd.) Benjamin begrüßt die Neuausgabe aber nicht nur aus bibliophiler Perspektive wegen ihrer zahlreichen farblich abgedruckten Bildtafeln. Er fügt sogleich die Feststellung an, dass sich Goethes Farbenlehre – trotz aller Probleme, die dieses Werk „für jeden Laien, jeden Physiker, jeden Goethe-Forscher“ (ebd.) mit sich führe – auch 1928 noch „von mehreren Seiten mit Nutzen betrachten“ (ebd.) lasse. Ausgehend von dieser zunächst eher beiläufigen Bemerkung über die potentielle Aktualität der Farbenlehre wird Benjamin die in den Gesammelten Schriften nur knapp drei Seiten umfassende Rezension sukzessive auf die Frage zuspitzen, unter welchen Bedingungen eine solche aktualisierende ReLektüre von Goethes Werk möglich ist. Zwei nachfolgend zu untersuchende Aspekte stehen im Zusammenhang mit dieser Frage, die das für den Einsatz polarer Denkfiguren bereits problemgeschichtlich perspektivierte Spannungs­ feld aus Aktualität und Rekurs unmittelbar adressieren: Erstens kritisiert Benjamin deutlich die weltanschaulichen Implikationen von Wohlbolds ein­ leitender Rahmung der Neuausgabe und konfrontiert diesen Aktualisierungs­ versuch sodann mit einem längeren Zitat aus der 14. Skizze von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz, die den Titel Farbe trägt und sich ebenfalls mit der gegenwärtigen Bedeutung von Goethes Farbenlehre beschäftigt. Indem die strategische Funktion dieser Friedlaender-Referenz in Benjamins Rezension untersucht wird, kann bei beiden ein vergleichbarer Bezug auf den polaren Grundgedanken bei Goethe auch über die Rezension hinaus offengelegt werden. Wo außerdem bisher in den vorangegangenen Kapiteln an verschiedenen Texten die Frage herangetragen wurde, wie sich der Übergang von der Polari­ tät als naturwissenschaftliches Denkmodell zu ihrer zeitdiagnostischen Funktionalisierung gestaltet, verdichtet sich diese Übersetzungsproblematik in Benjamins Rezension explizit zu einer Konfrontation unterschiedlicher Aktualisierungsformen polarer Denkfiguren am Beispiel Goethes. Dafür gilt

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Kapitel 4

es zweitens die bisher in der Benjamin-Forschung nicht wahrgenommenen stichwortartigen Notizen einzubeziehen, die sich Benjamin vor der Abfassung der Rezension gemacht hat. Dort notiert Benjamin knapp: „Die Polarität als Schlüssel“ (WuN 13.1, 672). Obwohl der Begriff der Polarität als solcher in der Rezension nicht mehr auftaucht, kann die Metapher des Schlüssels für das Ver­ ständnis der Rezension dennoch als ‚Schlüsselmetapher‘ in zweifacher Hin­ sicht betrachtet werden. Zum einen deutet die Notiz auf die zentrale Stellung der Polarität in Goethes Naturanschauung, in der dieser neben der Meta­ morphose „zur aller Bildung den Schlüssel“4 sah. Geht man darüber hinaus zum anderen den intertextuellen Spuren nach, die durch die Rezension selbst ausgelegt werden, führen diese direkt zu den unterschiedlichen Rekursen auf Goethes Polaritätsdenken bei Wohlbold und Friedlaender. Die kritische Gegen­ überstellung der Art und Weise, wie und wofür Goethes Polarität am Ende der 1920er Jahre bei Wohlbold und Friedlaender aktualisiert und zum Schlüssel wird, dient Benjamin als kritischer Gradmesser für den status quo zeit­ diagnostischer Denk- und Schreibweisen innerhalb eines am Ende der 1920er Jahre als zunehmend polarisiert wahrgenommenen intellektuellen Feldes. Mit der Rekonstruktion dieser intertextuellen Zusammenhänge wird Benjamins auf den ersten Blick bloß der Anzeige einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre dienende Besprechung als Schauplatz einer kritischen Debatte les­ bar, in deren Zentrum die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Aktualisierung polarer Denkfiguren als zeitdiagnostisches Erkenntnismedium steht. Grundsätzlich scheint Benjamins Interesse an der Neuausgabe kaum begründungsbedürftig, ist doch die außerordentliche Bedeutung Goethes in seinem Werk unbestritten:5 Vom kritischen Vergleich der kunsttheoretischen Überlegungen der Frühromantiker mit denjenigen Goethes in der Dissertation über den dreiteiligen Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften und den von Benjamin selbst als „gewagte[n] Goethe“ (Br III, 414) bezeichneten Artikel für eine sowjetische Enzyklopädie bis hin zu den noch für das ‚Passagen-Werk‘ 4 Johann Wolfgang v. Goethe: Metamorphose der Tiere. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 2: Gedichte 1800-1832, hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988, S. 498-500, hier: 500. 5 Vgl. u.a. Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins. Würzburg 1989; Winfried Menninghaus: Das Ausdruckslose. Walter Benjamins Kritik des Schönen durch das Erhabene. In: Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag. Bern u.a. 1992, S. 33-76; Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S.  306-332; Helmut Hühn/Jan Urbich/Uwe Steiner (Hg.): Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Berlin 2015.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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geltend gemachten Verweisen auf den Begriff des „Urphänomens“ (WB V.1, 577) und unzähligen kleineren Referenzen und Notizen: „Die Beschäftigung mit Goethes Werk durchzieht, wie mit sonst keinem Autor, Benjamins gesamtes Schaffen.“6 Diese Arbeiten sollen hier ebenfalls zumindest teilweise aufgerufen werden. Die Bedeutung Goethes erschließt sich allerdings nicht ausschließ­ lich über solche direkten Bezugnahmen. Es gilt zugleich eine Rezeptions­ geschichte zu berücksichtigen, die um 1900 einsetzt und in die Benjamins eigene Beschäftigung mit Goethe zu verorten ist. In diesen rezeptions­ geschichtlichen Zusammenhang gehören außerdem die bereits dargelegten ambivalenten Rekurse auf das romantische Polaritätsdenken zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Innerhalb dieser Rezeptionsgeschichte spielen beispiels­ weise die Fragen eine Rolle, welche Bedeutung Goethe für das Verständnis der modernen Lebenswirklichkeit des beginnenden 20. Jahrhundert haben kann oder inwiefern ein Bezug auf Goethe der intellektuellen Verarbeitung und Deutung der damit zusammenhängenden Zeittendenzen, Problemlagen und gesellschaftlichen, politischen, ästhetischen Entwicklungen dienen kann. Die um 1900 einsetzende „epistemologische und methodische Funktionalisierung Goethes für geisteswissenschaftliche Strömungen wie die Lebensphilosophie, die Geistesgeschichte, die Kulturmorphologie und die Kulturkritik“7 wurde in den letzten Jahren bereits unter dem Gesichtspunkt einer „Funktions- und Gebrauchsgeschichte Goethes“8 untersucht. Dabei ist ein Spannungsfeld der Bezugnahme auf Goethe festgestellt worden, dass sich zwischen einer „um 1900 typische[n] Totalitätsrestitution im Namen Goethes“9 einerseits und andererseits einer Beschäftigung abspielt, in der Goethe zum „Einfallstor für Modernität“10 wird. Dieses Spannungsverhältnis wird uns auch in Benjamins Rezension wiederbegegnen. Benjamins Stellung innerhalb dieser konkreten Rezeptions- und Debatten­ kontexte ist, so die Annahme der vorliegenden Arbeit, deutlicher als in Benjamins größeren Arbeiten von seinen Rezensionen und Kritiken her auf­ spürbar. Wenn daher hier eine auf den ersten Blick unauffällige Rezension als exemplarisches Dokument für Benjamins Auseinandersetzung mit der Frage der zeitdiagnostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren im Anschluss an Goethe gelesen wird, ist damit zugleich der Versuch verbunden, ein 6 7 8 9 10

Burkardt Lindner: ‚Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 472-493, hier: S. 480. Claude Haas: Einleitung. In: ders./Johannes Steizinger/Daniel Weidner (Hg.): Goethe um 1900. Berlin 2017, S. 7-23, hier: S. 10. Ebd. Ebd. Ebd., S. 11.

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Kapitel 4

Kontrapunkt zu dem eher marginalen Status zu setzen, den diese Textgattung in der Benjamin-Forschung nach wie vor einnimmt. Auch über die WohlboldRezension hinaus gilt es, die Ansicht zu revidieren, wonach es sich bei den Kritiken und Rezensionen vorwiegend um Nebenprodukte und reine Auftrags­ arbeiten handle, die nur sehr vermittelt in Bezug zu dem ‚eigentlichen‘ Werk stünden. Anlass und Möglichkeit zu einer Neubewertung des spezifischen Stellen­ werts, den diese Textgattung in Benjamins Denk-, Arbeits- und Schreib­ prozessen hat, bietet die 2011 erschienene zweibändige Neuausgabe der Kritiken und Rezensionen im Rahmen der kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß. Die Ausgabe versammelt nicht nur die im dritten Band der Gesammelten Schriften zusammengetragenen Kritiken und Rezensionen, sondern darüber hinaus auch die bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen, Rohfassungen, Schreibversuche, Fragmente und Notizen. An diesen Schreibversuchen lasse sich, so der Herausgeber Heinrich Kaulen, erstmals beobachten, dass „Benjamins Arbeitsprozeß als Literaturkritiker“11 nicht abseits seiner sonstigen Schriften zu verorten ist. Vielmehr bilde Benjamins Rezensionstätigkeit einen „integrale[n] und konstitutive[n] Bestandteil von Benjamins Denken, das sich stets in der Auseinandersetzung mit konkreten Gegenständen entfaltet, aber bei diesen Anlässen nicht stehenbleibt, sondern vom Einzelnen und Besonderen aus zentrale theoretische Zusammenhänge erschließt.“12 Die hiermit implizierte Anschlussfähigkeit der Rezensionen an Benjamins theoretische Arbeiten setzt voraus, die Rezension selbst weniger als singuläre, abgeschlossene Texte zu betrachten als vielmehr von ihrem experimentellen, prozessualen Arbeitscharakter her in den Blick zu nehmen.13 Über die konkreten Publikationsanlässe hinaus erprobt Benjamin in ihnen immer wieder sowohl theoretische Argumentationsfiguren als auch konkrete Positionsbestimmungen und Schreibhaltungen als kritischer Intellektueller. Zudem, so betont Kaulen weiter, seien für das Verständnis der Rezensionen und Kritiken die konkreten intellektuellen Spannungsfelder der 1920er und 30er Jahren zu berücksichtigen, in denen sich die Rezensionen einschreiben: 11 12 13

Heinrich Kaulen: Zur Edition. In: WuN 13.2, S. 7-27, hier: S. 24. Heinrich Kaulen: Nachwort. Walter Benjamin als Literaturkritiker und Rezensent. In: WuN 13.2, S. 972-1009, hier: S. 990. Kaulen betont in ähnlicher Weise, dass die „Aufzeichnungen und Fassungen als gleich­ wertige Textzeugen betrachtet“ werden müssen (Heinrich Kaulen, Zur Edition, S.  23). Damit steht im Mittelpunkt nicht ein Idealtext, der am Ende des Prozesses steht, sondern die Zusammenhänge aus Varianten, Notizen, Schreibversuchen und publizierten Texten ermöglichen vielmehr, „einen Blick in die ‚Werkstatt‘ des Kritikers zu werfen“ (Heinrich Kaulen, Nachwort, 981).

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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„Benjamins Aktivitäten als Literaturkritiker […] fallen in die Zeit einer scharfen Polarisierung der deutschen Intelligenz, und ganz offensichtlich hat auch der ‚Stratege im Literaturkampf‘ (WuN 8, 35) mit ihnen ein mehr oder weniger klar definiertes strategisches Kalkül verbunden. In dem ‚Kraftfeld‘ […], in dem nach Benjamins Auffassung die Auseinandersetzung um die kulturelle Deutungs­ hoheit und die angemessene Tradierung des Gewesenen stattfindet, galt es, zumal angesichts der herrschenden politischen Zustände, Geltungsräume abzu­ stecken und Trennungslinien zu ziehen, den eigenen Standpunkt effektvoll zu positionieren und sich dabei von konkurrierenden Positionen demonstrativ abzugrenzen.“14

Auch wenn die vorliegende Arbeit zu einem späteren Zeitpunkt noch dar­ legen wird, dass Benjamin weniger auf ‚effektvolle Standpunktmarkierungen‘ abzielt als vielmehr auf den latenten Ort als kritischer Intellektueller inmitten der Extreme im Begriff der Haltung reflektiert, ist Kaulen grundsätzlich dahin­ gehend zuzustimmen, dass die Rezensionen als „wichtiges Laboratorium von Benjamins Denken“15 zu betrachten sind. Für diese Perspektive hat die Neuausgabe der Kritiken und Rezensionen eine neue Grundlage geschaffen. Benjamin reagiert aber nicht nur auf diese „Polarisierung der deutschen Intelligenz“, sondern inszeniert in seiner Wohlbold-Rezension selbst ein solches intellektuelles Spannungsfeld und macht den Text so erst zu einer öffentlichen Bühne für die „Auseinandersetzung um die kulturelle Deutungs­ hoheit und die angemessene Tradierung des Gewesenen“. Diese Auseinandersetzung um die Tradition wird in Benjamins WohlboldRezension als Frage der kritischen Aktualisierung von Goethes Farbenlehre geführt. Der Impuls zu einer solchen Aktualisierung gestaltet sich in Wohlbolds Einleitung allerdings ambivalent. Auf der einen Seite betont Wohlbold bereits in seinem Geleitwort, dass die veränderte Gegenwart und die neue „Forderung des Tages“16 es notwendig machen, Goethe im Lichte gegenwärtiger Problem­ lagen zu betrachten, denn nur so könne Goethe „plötzlich in einem anderen Lichte erscheinen als das ist, in dem man ihn bis dahin gesehen hat.“17 Die Perspektive steht hier auf aktualisierende Aneignung: „[…] er wird sich immer verwandeln, der Goethe jeder Epoche der deutschen Geschichte wird ein anderer sein.“18 Diese Lektürehaltung ist mit derjenigen Benjamins grund­ sätzlich vergleichbar. Auf der anderen Seite scheint für Wohlbold Goethe aber 14 15 16 17 18

Ebd., S. 996. Ebd., S. 995. Hans Wohlbold: Geleitwort. In: ders. (Hg.): Goethes Farbenlehre. (=Gott-Natur. Schriften­ reihe zur Neubegründung der Naturphilosophie). Jena 1928, S. 3-11, hier: S. 3. Ebd. Ebd.

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Kapitel 4

immer schon „das Rechte zu sagen gewusst“ bzw. „das Notwendige gesagt“ zu haben, wodurch er „berufen“ sei, „einer jeden Epoche Richtlinien zu geben“19. In dieser Unentschiedenheit zwischen Aktualisierung und überhistorischer Geltung liegt für Benjamin das Problematische in Wohlbolds Rückbezug auf die Farbenlehre. Exemplarisch macht Benjamin dieses Defizit am Kapitel Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe aus dem didaktischen Teil der Farbenlehre fest: Wohlbold geht davon aus, dass man über „die sinnlich-sittliche Wirkung im einzelnen nichts zu sagen“ brauche, da sie „durch sich selbst [spricht] und […] in allen ihren Teilen aus dem Werk heraus[wächst].“20 Ganz im Gegenteil dazu betont Benjamin, dass die Chance verpasst worden sei, das Kapitel über das „unerschöpfliche Gebiet der Farbensymbolik“ (WB III, 148) zu kontextualisieren und an aktuellen Kunstdebatten zu messen, etwa in einem „[i]nteressante[n] Vergleich“ (ebd., 149) mit Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Benjamin knüpft hier möglicherweise an eine Anmerkung Goethes aus dem Vorwort zur Farbenlehre an, wo die Polarität als eine über die farbentheoretischen Über­ legungen hinausreichende „Sprache, eine Symbolik“ bezeichnet wird, die man „auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen“21 könne. Der Verweis auf Kandinsky deutet dann darauf, dass Benjamin eine solche von Goethe selbst in Aussicht gestellte ‚symbolische Benutzung‘ bzw. ‚Übertragung‘ nicht als zeitenthobene Applizierbarkeit versteht, sondern von einer aktualisierenden Konfrontation mit neueren kunsttheoretischen Überlegungen aus denkt. Vollends gegensätz­ lich erscheinen Wohlbolds und Benjamins Lektüren der Farbenlehre dann in dem Moment, wo Wohlbold gerade die Aktualität, die Goethesche „Forderung des Tages“22 in der ‚Einswerdung‘ mit der Natur sieht: „[…] daß das Wesen des Menschen im ewigen Weltengrunde wurzelt, daß er eins ist mit dem Ganzen der Natur lebt nur noch als eine dumpfe Ahnung in den Seelen der Gegenwart. Es zur Gewissheit werden zu lassen, ist die ‚Forderung des Tages‘.“23 Statt Goethes polare Farbenlehre kritisch am Stand gegenwärtiger Debatten zu messen, habe Wohlbold zudem, so Benjamin weiter, Goethe einmal mehr als unvergleichliches Genie vorgestellt. Bereits ein kursorischer Blick in das 19 20 21 22 23

Ebd. Hans Wohlbold: Einführung des Herausgebers. In: ders. (Hg.): Goethes Farbenlehre. (=GottNatur. Schriftenreihe zur Neubegründung der Naturphilosophie). Jena 1928, S. 15-123, hier: S. 112. Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 13. Johann Wolfgang v. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I.  Abt./Bd.  10: Wilhelm Meisters Wanderjahre, hg. v. Gerhard Neumann/Hans-Georg Dewitz. Frankfurt a. M. 1989, S. 557. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 111.

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lange einleitende Referat Wohlbolds verdeutlicht, worauf Benjamins Kritik hier zielt. An mehrere Stellen wird Goethe dort von Wohlbold als „einer der größten Menschheitsführer und im umfassendsten Sinne ein Repräsentant des deutschen Geistes, der deutschen Kultur“24 eingeführt, dem man auch 1928 noch ungebrochen „folgen kann und auch folgen muß, wenn die Entwicklung weiterhin auf die richtige Bahn kommen soll.“25 Über die konkreten natur­ wissenschaftlichen und kunsttheoretischen Zusammenhänge hinaus wird die Stellung zu Goethes Farbenlehre bei Wohlbold zum zeitdiagnostischen Indikator der Kulturentwicklung der Menschheit überhaupt. In dieser Hinsicht erinnert Wohlbolds Goethe-Bild an diejenige „Apologie des Dichters unter dem Gesichtspunkt des Genius“ (WB III, 330), die Benjamin als eine bereits bei Karl Gutzkow vorbereitete „Plattitude“ (ebd.) bezeichnet hat. Als „heroisierende Ansicht vom Dichter“ und als „völlig problematische Suprematie“ (WB I.1, 159) des Dichters als Halbgott hatte Benjamin dieses „gedankenloseste Dogma des Goethe-Kults“ (ebd., 160) zudem bereits in seiner Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften an Friedrich Gundolfs Goethe-Buch von 1916 und der George-Schule scharf kritisiert.26 Benjamins kritischer Einwand gegen diese Rezeptionstradition zielt auf die fortwährende unkritische Reproduktion eines Bildes vom Dichter als repräsentative, mythisch-heroische Gestalt. Dabei habe sich Goethe selbst, so Benjamins grundlegender Interpretationsimpuls im Wahlverwandtschaften-Aufsatz, gerade im Spätwerk gegen die Vorstellung der Wirkmächtigkeit mythischer Kräfte in Natur, Geschichte, Ästhetik und Ethik aufzulehnen begonnen. In deutlichem Kontrast zu dieser Rezeptionslinie steht Benjamins eigenes Interesse an der Farbenlehre nicht erst seit der Beschäftigung mit der rezensierten Neuausgabe. Seine eigene Beschäftigung mit der Farbenlehre reicht vielmehr zurück bis zu seinen schon sehr früh einsetzenden kunstphilo­ sophischen Überlegungen zum Verhältnis von Farbe und Phantasie, die sich sowohl in mehreren Aufzeichnungen und Notizen (vgl. u.a. WB VI 110-118 u. 121-125) als auch in Texten wie Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie (WB VII.1, 19-26) niedergeschlagen haben. Heinz Brüggemann hat in seiner 24 25 26

Ebd., S. 22. Ebd., S. 26. Eine ähnliche Kritik formuliert Benjamin auch an der „esoterische[n] Geschichte der deutschen Dichtung“ (WB III, 254) in Max Kommerells Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (1928), in der die Kritik am heroisierenden Goethebild auf die Kritik der „Georgische[n] Lehre vom Heros“ (ebd., 253) verlängert wird. Dass mit dieser Kritik zugleich eine nachdrückliche Kontrastfaszination verbunden ist, zeigt sich an mehreren Stellen und drückt sich exemplarisch im Titel der Kommerell-Besprechung aus: Wider ein Meisterwerk.

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Kapitel 4

Studie zu Spiel, Farbe und Phantasie bei Benjamin anhand dieser Auf­ zeichnungen und Schreibversuche eine grundsätzliche Polarität in Benjamins frühen Versuchen über Ästhetik identifiziert: Auf der einen Seite steht das am kindlichen Sehen orientierte „reine Sehen“ (WB VI, 111), das – jenseits von Begriffsdenken und Repräsentationslogik – im reinen Medium der Farbe sich abspielt und Benjamins „unablässige[s] Bemühen[…]“ dokumentiert, „die Grenzen des konventionalisierten, formatierten Sehens experimentell, sammelnd, kulturtheoretisch in Richtung des subjektiven, kindlichen, halluzinativen Wahrnehmens zu überschreiten, um anderen Bilderfindungen jenseits dieser Grenzen zu begegnen […].“27 Was hier als „Indiz für eine Bild­ theorie des unbegrifflichen, vorgegenständlichen Sehens [ge]lesen“28 werden kann, korrespondiert mit Benjamins Vorstellung der Phantasie als „rein auf­ nehmend, unschöpferisch“ (WB VII.2, 563).29 Neben diesem passiven, rein empfangenden Pol reflektiert Benjamin aber zugleich auch auf den aktiven, schöpferisch-konstruktiven Pol, der sich im „Medium der Form“ (WB VII.2, 563) bewegt und als schöpferische Einbildungskraft der Phantasie gegenüber­ gestellt wird.30 Zwischen diesen beiden Polen bildet sich ein Spannungsfeld, in dem sich bereits Benjamins frühe ästhetiktheoretischen Versuche bewegen. Brüggemann resümiert daher:

27

28 29

30

Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 194. Für eine konzise Zusammenfassung der wesentlichen Thesen vgl. auch ders.: Fragmente zur Ästhetik/Phantasie und Farbe. In: Burkhardt Lindner, Benjamin-Handbuch, S. 124-133. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 169. Vgl. auch WB VII.2, 563-564. Die dort abgebildeten schematischen Gegenüberstellungen bilden ebenfalls keinen unvermittelten Gegensatz, sondern sind von einer polaren Spannungsbeziehung gedacht, da auch die reine Anschauung und die Phantasie „noch dem produktiven künstlerischen Prozeß, den Kunstwerken selber, vorgelagert sind […].“ (Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S.  169; vgl. dazu auch WB VI, 116). Der Zusammenhang von Gestaltung und Entstaltung, Formung und Entformung, den Benjamin in der Phantasieanschauung als unendlichen Prozess der „Entstaltung des Gestalteten“ (WB VI, 114) fasst, wird hier erstmal nicht weiterver­ folgt, weil es nur um die grundsätzliche Polarität der frühen ästhetischen Schriften geht. Im Hauptteil B der Arbeit werden unter anderen Vorzeichen Benjamins Notizen und Schreibversuchen über den Zusammenhang von Humor, Phantasie und Groteske wieder­ aufgegriffen und näher untersucht. Brüggemann zeigt, wie Benjamin diese polare Spannung aus dem Text Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie in seinem illustrierten Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch (WB IV.2, 609-615) wiederaufnimmt und dort als Spannung von Phantasie und Einbildungs­ kraft diskutiert. (Vgl. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 210-220).

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„So läßt sich in den frühen Fragmenten zur Ästhetik der Entstehungsprozeß einer Polarität verfolgen, die für Benjamin wenn auch nicht als ein Urphänomen, so doch als Konstellation von Extremen das Spannungsfeld der ästhetischen Moderne bestimmt.“31

Diese der Moderne eingeschriebene Polarität steht, so Brüggemann, bei Benjamin im Zusammenhang mit den „literarischen und künstlerischen Experimenten seit der Epochenschwelle von 1910/12“, die sich in ein polares Experimentierfeld künstlerischer Ausdrucksweisen aufteilt: „der konstruktivistisch-funktionalistischen wie der dadaistisch-surrealistischen […].“32 Brüggemann zeigt dabei weiter, dass auf der einen Seite Kandinsky für Benjamin die „Stichworte für das Konzept eines neuen, entbegrifflichten Sehens“33 der reinen Farbe gibt, und Benjamin anderseits „nach Maßgabe der Goetheschen Begrifflichkeit das Farbsehen als Urphänomen der Phantasie­ anschauung darzustellen sucht.“34 Damit steht zu vermuten, dass Benjamins Anmerkung, Goethes Farbenlehre sei nur zu aktualisieren, wenn man sie zugleich etwa mit Kandinskys Kunsttheorie konfrontiere, auf eine polare Spannungsbeziehung abzielt, deren Pole für Benjamin das Feld ästhetischer Ausdrucksformen der Moderne bilden. Das Interesse für die Neuausgabe von Goethes Farbenlehre schließt somit an Benjamins bereits früh einsetzenden Überlegungen zu modernen ästhetischen Polaritäten wie derjenigen von Rationalität und Phantasie, Konstruktion und Traum an. Auch Brüggemann verweist daher zumindest am Rande auf die WohlboldRezension und spricht von einem „ironisierten Verfahren“35 mit dem Benjamin 31

32

33 34 35

Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 220. Diese Polari­ tät, darauf macht Brüggemann weiterhin aufmerksam, lässt sich dann noch bis in die Arbeit am ‚Passagen-Werk‘ hinein beobachten: als „eine Polarität“ zwischen „Surrealis­ mus und Konstruktivismus, von Verschränkung und Transparenz“. (Heinz Brüggemann: ‚Fragmente zur Ästhetik/Phantasie und Farbe‘, S. 131; vgl. auch ders., Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 123 und WB V.1, 573). Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 97. Die Bedeutung des gewissermaßen ‚surrealistischen Pols‘ ist gerade vor dem Hintergrund des vom Surrealismus-Aufsatz ausgehenden und bis in das ‚Passagen-Werk‘ hineinreichende Interesse am Surrealismus intensiv erforscht worden. Im Gegensatz dazu hat Detlev Schöttker betont, dass die Bedeutung der konstruktivistischen Ästhetik bei Benjamin (und Brecht) häufig vernachlässigt worden sei. Vgl. Detlev Schöttker: Reduktion und Montage. Benjamin, Brecht und die konstruktivistische Avantgarde. In: Klaus Garber/ Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd.2. München 1999, S. 745-773. Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 134. Ebd., S.  212. Zu den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden in den Farbtheorien Kandinskys und Goethes vgl. auch ebd., S. 195-202. Ebd., S. 195.

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Kapitel 4

bei Wohlbold den alten Brauch wiederholt sieht, das Kapitel Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe aus dem didaktischen Teil der Farbenlehre unkommentiert in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Bezieht man hier allerdings die bisher in der Forschung unbeachtet gebliebenen Notizen mit in die Analyse der Rezension ein, die Benjamin sich vor der Abfassung der Rezension gemacht hat, erfährt man nicht nur mehr über das Kompositionsprinzip der Rezension, sondern auch über den weit eher polemischen denn ironischen Gestus der Besprechung. Der polemische Charakter der Besprechung besteht darin, die Gegenüberstellung soweit hervorzutreiben und – angesichts einiger offen­ sichtlicher Übereinstimmungen zwischen Benjamin und Wohlbold – mithin auch zu überspitzen, damit dadurch zwei grundverschiedene Tendenzen in der zeitdiagnostischen Funktionalisierung von Goethes der Farbenlehre zugrunde­ liegenden Polaritätsgedanken deutlich markiert werden können. Damit realisiert Benjamin in der Rezension letztlich ein Verfahren der Gegenwarts­ kritik, zu dem er an anderer Stelle notiert hat: „Die einzig wirklich formende Kraft für die Betrachtung der Gegenwart ist die Polemik.“ (WB VI, 154) Das gilt es nachfolgend anhand von Benjamins Notizen zu seiner Rezension näher zu verfolgen. 4.2

Wohlbold vs. Friedlaender – Benjamins Inszenierung einer Debatte

Die erwähnte polemische Komposition der Rezension ist von den Notizen zur Rezension her nachvollziehbar.36 Diese knapp eine halbe Seite füllenden Notizen bestehen aus zwei Blöcken mit je einer unterstrichenen Überschrift. Im Folgenden interessiert vor allem der zweite Teil dieser knappen Notizen. Sie stehen im Zusammenhang mit dem letzten Abschnitt der Rezension, in dem Benjamin auf Friedlaender als „einem der glänzendsten Interpreten der Farbenlehre“ (WB III, 150) zu sprechen kommt und eine Stelle aus dessen „viel 36

Die Notizen sind in der Forschung bisher unbeachtet geblieben, weil sie in den Gesammelten Schriften nicht aufgeführt werden. Es handelt sich um Notizen, die „im ‚Pergamentheft der Sammlung Scholem überliefert“ (WuN  13.2, 168) sind und die zu jenen Aufzeichnungen, Entwürfen und Fassungen gehören, auf die der dritte Band der Gesammelten Schriften nicht hinweist, obwohl sie „zu einem nicht unbeträchtlichen Teil bereits damals im Frankfurter und Jerusalemer Nachlaß vorhanden gewesen sind.“ (Heinrich Kaulen, Nachwort, 981). Heinrich Kaulen nennt die Notizen „[e]ine erste Stich­ wortsammlung“ (WuN 13.2, 168). Um in der Zitation der Texte Benjamins möglichst ein­ heitlich zu bleiben, wird die Rezension selbst im Folgenden weiterhin im Fließtext nach der Gesammelte-Schriften-Ausgabe zitiert. Nur die Notizen, die in dieser Ausgabe nicht abgedruckt sind (vgl. WB III, 631), werden nach der neuen WuN-Ausgabe zitiert. (vgl. auch das Siglenverzeichnis im Anhang).

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zu wenig bekannten ‚Schöpferischen Indifferenz‘“ (ebd.) zitiert. Die für diesen Zusammenhang entscheidenden Notizen lauten: „Verhältnis der Farbenlehre zur Schulphysik Die schiefe Defensivposition des Herausgebers (Steiner und das Goethearchiv) Richtige Fragestellung bei S. Friedländer (Goethescher Mathematiker) Die Polarität als Schlüssel“ (WuN 13.1, 672)

In ihrer schematischen Blockform bilden die Notizen die konfrontativ angelegte Dramaturgie der Rezension ab („schiefe Defensivposition des Herausgebers“ gegenüber „Richtige Fragestellung bei S.  Friedländer“) und versammeln so zudem stichpunktartig die wesentlichen Eckpunkte, um die herum der Text seine Argumentation entfaltet. Dabei unterhalten die ersten drei Zeilen jeweils ein spezifisches Verhältnis zur letzten Zeile, mithin drei verschieden Arten der Perspektivierung des Schlüsselcharakters der Polari­ tät. Für das Verständnis der damit in die Rezension eingeschriebenen inter­ textuellen Debattenkonstellation ist es lohnenswert, nachfolgend in einem kleinschrittigen Lektüredurchgang jede Zeile für sich auf ihr Verhältnis zur „Polarität als Schlüssel“ zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen lassen, dass das Bild vom Schlüsselcharakter der Polarität mehrere Facetten umfasst, in denen sich verschiedene epistemologische, politische und ästhetische Frage­ stellungen der Zeit um 1928 verdichten. 1. „Verhältnis der Farbenlehre zur Schulphysik“: Die Überschrift der Notiz verweist auf die in der Rezension gestellte „nächstliegende Frage: Newton oder Goethe – wer hatte recht?“ (WB III, 148). Denn mit der „Schulphysik“ ist Newtons Entdeckung der physikalischen Beschaffenheit des Lichts und der Farben angesprochen. Newton hat in den Opticks (1704) anhand seiner Experimente mit dem Prisma festgestellt, dass das weiße Licht nicht rein ist, sondern: „that Whiteness is compounded of all the Colours.“37 Und das „Ver­ hältnis der Farbenlehre zur Schulphysik“ besteht bekanntlich in Goethes lang­ jährigen, teilweise stark polemisierenden Anstrengungen, nachzuweisen, „daß die Newtonische Lehre falsch sei.“38 Gegen das „Grundlose der Newtonischen 37 38

Isaac Newton: Opticks. Or, a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light. London 1704, S. 104. Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 976. Zu dem Polemischen in diesem Streit notiert Benjamin im ersten Block der Notizen: „Die Ökonomie seiner [Goethes,  K.D.] wissenschaftlichen Position und seiner vehementen Polemik im ganzen des Schaffens.“ (WuN 13.1, 672).

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Kapitel 4

Lehre“39 hat Goethe die Farbe als Produkt eines Wettstreits von Licht und Finsternis verstanden, den er „unter der Formel der Polarität zusammen[ge] faßt[…]“40 hat. Die Beziehung der ersten Notizzeile auf die letzte von der „Polarität als Schlüssel“ lässt sich dabei als Verweis darauf deuten, dass Goethe diese Farbenpolarität zudem zu einer „universelle[n] Grammatik für die Sprache der Natur“41 erweitert hatte, weil er darin das höchste „Vermögen sowohl der belebten als auch der unbelebten Natur und ihrer Geschöpfe zur dynamischen Entwicklung und Ausdifferenzierung“42 erkannte. Die Gewiss­ heit seiner Überzeugung begründet Goethe in einem Brief vom 25.4.1814 gegenüber dem Physiker Johann Salomo Christoph Schweigger durch einen Rekurs auf Kants Überlegungen zu einer aller Materie zugrundeliegenden Kräftewechselwirkung von Attraktion und Repulsion und erweitert die aus der Farbenpolarität entwachsene Idee eines allgemeinen polaren Bewegungs­ gesetztes zugleich zu seiner „Weltanschauung“: „Seit unser vortrefflicher Kant mit dürren Worten sagt: es lasse sich keine Materie ohne Anziehen und Abstoßen denken, (das heißt doch wohl, nicht ohne Polarität,) bin ich sehr beruhigt, unter dieser Autorität meine Weltanschauung fortsetzen zu können, nach meinen frühesten Überzeugungen, an denen ich niemals irre geworden bin.“43

Vor dem Hintergrund dieser Briefstelle ließe sich die letzte Zeile der Rezensionsnotizen konkretisieren als: „Die Polarität als Schlüssel“ für Goethes Weltanschauung. Die beiden im Anschluss der ersten Zeile konfrontativ gegenübergestellten Positionen Wohlbolds und Friedlaenders zeigen allerdings, dass Benjamin das „Verhältnis der Farbenlehre zur Schulphysik“ einerseits und den im zitierten Brief anklingenden ‚weltanschaulichen‘ Gehalt von Goethes Farbenpolarität andererseits nicht direkt von Goethes Natur­ anschauung und seiner berühmten Formel von der „ewige[n] Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind“44 aus zu diskutieren bestrebt ist, sondern von 39 40 41 42 43

44

Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 981. Ebd. Alexander Honold: Goethes Farbenkrieg. In: KulturPoetik 2 (2002), S. 24-43, hier: S. 43. Peter Huber: ‚Polarität/Steigerung‘. In: Goethe Handbuch in vier Bänden, Bd. 4/2 (L-Z), hg. v. Hans-Dietrich Dahnke/Regine Otto. Stuttgart 1998, S. 863-865, hier: S. 863. Johann Wolfgang v. Goethe: Brief an J.S.Ch. Schweigger vom 25.4.1814. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abt./Bd. 7: Napoleonische Zeit (Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816), hg. v. Rose Unterberger. Frankfurt a. M. 1994, S. 334-335, hier: S. 335. Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 239.

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einer problematischen Rezeptionsgeschichte aus, zu der er in der Rezension selbst nüchtern resümiert: „Die Auseinandersetzung der Goetheaner und der Physiker ist ein Jahrhundert lang ein Stellungskrieg geblieben.“ (WB III, 150) Dabei betrifft Benjamins Kritik an Wohlbold weniger die zentrale Bedeutung, die Wohlbold der Farbenlehre einräumt und die Benjamin teilt, sondern viel­ mehr die Positionierung des Herausgebers zu diesem „Stellungskrieg“. Denn das durch Wohlbold angestrengte und von Benjamin als „schiefe Defensiv­ position“ bezeichnete Unternehmen, die Stellung zu Goethes Polaritäts­ denken 1928 zu einer „Frage der Weltanschauung“45 zu machen, hat ohnehin nurmehr wenig mit Goethes Versuchen einer an Kant orientierten erkenntnis­ theoretischen Absicherung seiner farbtheoretischen Überlegungen zu tun, dafür aber viel mit der spezifischen Funktionalisierung Goethes im Rahmen einer „Erneuerung des Geisteslebens“46, die bereits um 1900 einsetzt und auf die sich Benjamins kritische Besprechung richtet. 2. „Die schiefe Defensivposition des Herausgebers (Steiner und das Goethearchiv)“: Wenngleich es vor dem Hintergrund der Kontrastierung der „schiefen Defensivposition“ Wohlbolds mit Friedlaenders „[r]ichtige[r] Fragestellung“ in dem hier zentralen zweiten Abschnitt der Rezensions­ notizen scheint, als sei Benjamins Stellung zu Wohlbold ausschließlich kritisch, teilt Benjamin doch durchaus einige Ansichten mit Wohlbold, die er in der Rezension dann auch der eigentlichen Kritik zunächst voranstellt. In diesem Zusammenhang steht die Anmerkung aus dem ersten Abschnitt der Rezensionsnotizen, wo es heißt: „Tiefste Durchbildung des Gedankens der Metamorphose“ (WuN  13.1, 672). Diese Notiz betrifft Wohlbolds grundsätz­ lichen interpretativen Zugang zu Goethes Naturstudien im Allgemeinen und der Farbenlehre im Besonderen. In der Rezension selbst hebt Benjamin aus­ drücklich die „Hinweise“ hervor, die der Herausgeber zum „philosophischen Gehalt“ (WB III, 149) und zur zentralen Stellung der polaren Farbtheorie in Goethes Gesamtwerk gegeben hat. Insbesondere auf Wohlbolds Korrelierung der Farbenlehre mit der Metamorphose der Pflanzen – Benjamin spricht hier von einem „Gegenstück“ (ebd.) – scheint dann auch die dem ersten Notizblock vorangestellte Überschrift „Farbenlehre als Beitrag zur Erkenntnis Goethes“ (WuN 13.1, 672) bezogen zu sein. Wohlbold attestiert der bisherigen GoetheForschung eine Vernachlässigung der naturwissenschaftlichen Studien und hebt diese als Goethes eigentliches „Arbeits- und Lebensgebiet“ hervor, das

45 46

Hans Wohlbold, Geleitwort, S. 8. Ebd., S. 7.

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Kapitel 4

doch „in Wirklichkeit bei ihm alles andere durchdringt“47. Dass Benjamin Wohlbolds erkenntnisleitende Perspektivierung der Naturanschauung als Epi­ zentrum von Goethes Werk teilt, lässt sich anhand der kurzen Anmerkungen in der Rezension nur erahnen. Deutlicher wird diese Gemeinsamkeit jedoch, wenn man den „kuriose[n] Auftrag“ (Br III, 133) eines Goethe-Artikels für eine sowjetische Enzyklopädie heranzieht, an dem Benjamin in derselben Zeit arbeitet. Anders jedoch als Wohlbold, der aus Goethes Naturstudien ganz unmittelbar eine zeitgemäße „Weltanschauung, die dem Leben Sinn und Inhalt zu geben vermag“48 herauslesen will, gestaltet sich das Aktualisierungs­ potential der Farbenlehre und damit der Polarität bei Benjamin deutlich problematischer bzw. ambivalenter. Ein Blick auf den zeitgleich entstehenden Enzyklopädie-Artikel macht diese Ambivalenz deutlich und führt damit zugleich auch zur Kritik an Wohlbolds „Defensivposition“. In jenem „gewagte[n] Goethe“ (ebd., 414) hält Benjamin für die Bedeutung der Naturstudien in Goethes Werk in einer mit Wohlbolds Parallelisierung von Polarität und Metamorphose sehr ähnlichen Weise fest: „Neben dem Gedanken der Metamorphose ist hier für Goethe bestimmend der der Polarität, der sein ganzes Forschen durchzieht.“ (WB II.2, 721) Dabei ist es keineswegs unerheb­ lich, dass Benjamin die Darstellung der naturwissenschaftlichen Studien Goethes nahezu in die Mitte des Artikels versetzt.49 Denn Benjamin macht an gleicher Stelle deutlich: „Zu verstehen ist Goethes philosophische Orientierung viel weniger aus seinen dichterischen als aus den naturwissenschaftlichen Schriften.“ (WB II.2, 721) Auch Wohlbold betont: „Die Naturwissenschaft kann geradezu zu einem tieferen Verständnis auch des Menschen und des Künstlers Goethe den Weg weisen.“50 Benjamin wird an anderer Stelle seines GoetheArtikels sogar noch deutlicher und erkennt in den Naturstudien den Schlüssel auch zur Dichtung Goethes: „Goethes naturwissenschaftliche Studien stehen 47

48 49

50

Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 16. Weiter heißt es dazu: „[…] nirgends sonst offenbart sich seine Methode, Welt und Leben anzusehen, deutlicher und eindring­ licher als dort, wo er sie auf die Natur angewendet hat. […] Diese Erkenntnis bricht sich mehr und mehr Bahn. So ist es zu verstehen, daß die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, die lange Zeit hindurch nur wenig beachtet, noch weniger geschätzt wurden, immer mehr in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rücken.“ (ebd., S. 23). Hans Wohlbold, Geleitwort, S. 5. Die Druckvorlage des in den Gesammelten Schriften abgedruckten Textes bildet ein „Typo­ skript mit zahlreichen Korrekturen und mehreren Einschüben (Tinte) von Benjamins Hand […]“ (WB II.3, 1475). Es handelt sich also nicht um den sowjet-enzyklopädischen Artikel, der nur wenig mit Benjamins Text gemein hat. (vgl. zu der hier nicht weiter ver­ folgten Geschichte dieses Artikels in Zusammenhang mit Benjamins Moskau-Aufenthalt die Anmerkungen der Herausgeber in: ebd., 1465-1484). Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 23.

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im Zusammenhang seines Schrifttums an der Stelle, die bei geringeren Künstlern oft die Ästhetik einnimmt.“ (ebd., 719) Einen ersten Indikator dafür, dass es Benjamin mit dieser besonderen Hervorhebung von Goethes Naturanschauung nicht um genuin naturwissenschaftliche Fragestellungen geht, sondern um die daraus ableitbaren gleichermaßen methodischen bzw. erkenntnistheoretischen, politischen bzw. zeitdiagnostischen und ästhetischen Implikationen, wird im unmittelbaren Anschluss deutlich. Benjamin liest näm­ lich der Zentralstellung der Metamorphosenlehre und des Polaritätsdenkens drei Abwehrgesten gegenüber spezifischen Zeittendenzen ab: Erstens umgehe Goethe mit den Naturstudien eine direkte Beschäftigung mit den politischen Umbrüchen durch die französische Revolution („Sein großes Asyl war das Studium der Naturwissenschaft“, ebd., 718); zweitens richte sich das Natur­ studium in seiner spinozistisch-pantheistischen Ausrichtung gegen (vor allem pietistische) Theologie; und drittens vermeide Goethe mit diesen Studien die „fast allen Intellektuellen dieser Epochen“ (ebd., 719) gemeinsame falsche Ver­ söhnung zwischen Ästhetik und Politik durch den „‚schönen Schein‘“ (ebd.). Vor allem die dritte Abwehrgeste ist entscheidend. Goethes kritische Distanz gegenüber einer für Benjamin gleichermaßen künstlerisch wie ethisch problematischen Harmonisierungsästhetik durch den ‚schönen Schein‘ hatte er bereits in seiner frühen Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften als „Wende“ (WB I.1, 165) zu Goethes Spätwerk markiert, das sich durch seine konsequente Modernität auszeichne. Auch der Enzyklopädie-Artikel ist noch von diesem Deutungsimpuls des Spätwerks getragen, wenngleich die Folie der Kritik am ‚schönen Schein‘ im Rahmen des Versuchs einer materialistischen Argumentation nun nicht mehr allein ästhetische Fragestellungen betrifft, sondern zugleich auf die politische Verblendung der westlichen Bourgeoisie zielt (vgl. WB II.2, 728). So attestiert Benjamin im Enzyklopädie-Artikel etwa dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre noch ein ‚Ausweichen‘ (vgl. WB II.2, 728) gegenüber politischen Problemen der Zeit, wohingegen die Wanderjahre die Auseinandersetzung mit dem Politischen dann „desto rück­ sichtsloser“ (ebd.) nachgeholt hätten. Im frühen WahlverwandtschaftsEssay wie auch im späteren Enzyklopädie-Artikel verläuft die das Spätwerk betreffende Modernitätsthese über die Rolle der Natur in Goethes Dichtung. Im Wahlverwandtschafts-Aufsatz ist es der Versuch einer Durchbrechung der Natur- als „Schicksalsordnung“ (WB I.1, 138), an der Benjamin die Wende zum Spätwerk erkennt. In der konstruktiv-reflektierten darstellerischen Durch­ arbeitung des Romanstoffes, die „mythischen Gewalten des Rechts“ (ebd., 130) im Verfall der Ehe als „Sachgehalt“ (WB I.1, 125) des Romans, habe Goethe nicht nur einen mythischen Gewaltzusammenhang verhandelt, der bis in die moderne Rechtsordnung hineinragt, sondern auch die verklärende Vorstellung

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einer scheinhaften Versöhnung mit einer natürlichen Schuld des bloßen Lebens zu überwinden versucht: „In der ungeheuren Grunderfahrung von den mythischen Mächten, daß Versöhnung mit ihnen nicht zu gewinnen sei, es sei denn durch die Stetigkeit des Opfers, hat sich Goethe gegen diesselben auf­ geworfen.“ (ebd., 165)51 Damit liest Benjamin den Wahlverwandtschaften eine grundsätzliche Anstrengung des späten Goethe ab, gegen die „Idololatrie der Natur“ (ebd., 149) aufzubegehren, die noch die „mythische[…] Lebensform[…] im Dasein des Künstlers“ (ebd.) als „Olympier[…]“ (ebd.) wesentlich bestimmt habe.52 Die hier zugrundeliegende Argumentation über die für das Spätwerk geltend gemachte veränderte Rolle der Natur ist auch im Enzyklopädie-Artikel bestimmend. Wenn Benjamin dort betont, dass Goethe mit dem ‚schönen Schein‘ „nie seinen Frieden“ (WB II.2, 719) gemacht habe, betrifft das dieselbe kritische Dreiecksbeziehung aus Natur, Ästhetik und Ethik bzw. Politik, die sich, so Benjamins Argument, nicht ausschließlich aus poetologischen Reflexionen begründet, sondern vorwiegend aus der Naturanschauung resultiert. Dabei scheint Benjamin auf der einen Seite die ästhetische Modernität von Goethes Spätwerk im Enzyklopädie-Artikel sogar noch viel unmittelbarer an die zentrale Bedeutung der Naturstudien, insbesondere also der Metamorphosen­ lehre und des Polaritätsgedankens zu binden als im WahlverwandtschaftsAufsatz. Auf der anderen Seite lässt sich in diesem Artikel allerdings zugleich auch eine auffällige Spannung zwischen Modernität und Naturstudien erkennen, die weder der Auftragssituation oder dem Genre noch der dort erprobten materialistischen Interpretationshaltung geschuldet ist, sondern vielmehr geradewegs aus der Zentralstellung der Naturwissenschaft selbst resultiert und vor allem die Farbenlehre betrifft. Denn die Farbenlehre scheint sich hier in Benjamins Interpretation nicht restlos einfügen zu wollen. So bezeichnet Benjamin die Farbenlehre zwar als Goethes „Lebenswerk“ (WB II.2, 720),53 die ambivalente Stellung der Farbenlehre deutet sich aber zugleich 51

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Die Kritik des ‚schönen Scheins‘ in Goethes Wahlverwandtschaften und vor allem die Rolle, die das „Ausdruckslose“ (WB I.1, 181) dort einnimmt, wird hier nicht weiterver­ folgt, da dies in Hauptteil B der Arbeit noch ausführlicher zum Gegenstand wird. (vgl. u.a. Kap. 9.4). Benjamin spricht an anderer Stelle des Aufsatzes von einem „Kampf, der im Leben ver­ heimlicht ward“, aber in den „spätesten [Werken, K.D.] sich bekundet.“ (WB I.1, 164) In diesem (literarischen) Kampf offenbare sich allerdings nicht die fortdauernde Geltung des Mythischen im Lebens des Dichters, sondern: „Es ist in ihm ein Ringen um Lösung aus deren Umklammerung und dieses Ringen nicht weniger als das Wesen jener Welt ist in dem Goetheschen Romane bezeugt.“ (ebd.). Benjamin spricht auch von einer „Läuterung“ (ebd., 165), die wesentlich aus der „Historisierung seines Lebens“ (ebd., 166) resultiere. Auch Wohlbold nennt die Farbenlehre Goethes „naturwissenschaftliches Hauptwerk“ (Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 23).

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in einem unmittelbar nach der Betonung der Polarität als zentrales Element von Goethes Naturanschauung eingefügten Einschub über einen „eigen­ tümliche[n] Zug dieser naturwissenschaftlichen Studien“ (WB II.2, 721) an, der die vor allem auf das Spätwerk gerichtete Interpretation zu unterlaufen scheint. Benjamin betont, dass Goethe gerade im „späten Alter“ (ebd., 721) den Gedanken des Widerstreits von Licht und Finsternis zu einem phylo­ genetischen Argument für die Entwicklung von Pflanzen und Tieren ausbaut, das ihn mit der romantischen Naturwissenschaft verbinde. Benjamin rekurriert hier auf eine Stelle aus dem Vorwort zu den morphologischen Heften, an der Goethe zögernd und vorsichtig die Annahme erwägt, ob Licht und Finster­ nis zu jenen die Bildung von Organismen prägenden „Maxime[n]“54 gehören, die er in diesem Vorwort diskutiert. Wenngleich Benjamin die von ihm an den morphologischen Schriften registrierte Verwandtschaft Goethes mit dem „Geist der romantischen Schule“ (ebd.) nicht weiter ausführt, ließe sich seine Annahme mit einem Verweis auf ähnliche Spekulationen über „planetare[…] Organismen“ und „kosmische Organismen“ bei Lorenz Oken untermauern.55 Allerdings lässt sich nur vermuten, inwiefern Benjamins Einschub tatsächlich von einem kritischen Impuls getragen ist. Was sich hier ankündigt, kann zwar einerseits als Skepsis gegenüber einer globalen Applikation der Polarität auf alle Lebensbereiche verstanden werden, die Benjamin dann in seiner Rezension nicht mehr direkt auf Goethe bezieht, sondern als Kritik an Wohlbolds weltan­ schaulicher Übertragung reformuliert. In dieser Hinsicht bekommt Benjamins abschließende Rezensionsnotiz vom Schlüsselcharakter der Polarität dann eine weitere, problematische Dimension und liest sich als kritischer Einwand gegen die ‚Polarität als universell anwendbarer Schlüssel‘, die nicht nur gegen Aktualisierungsversuche wie demjenigen Wohlbolds, sondern durch auch gegen eine Tendenz bei Goethe selbst gerichtet sein könnte. Andererseits bleibt im Enzyklopädie-Artikel letztlich dennoch ungeklärt, wie Benjamin diese Verwandtschaft Goethes zur Romantik nun bewertet. Die Rede vom „eigentmümliche[n] Zug dieser naturwissenschaftlichen Studien“ lässt das genauso offen wie die anschließende Bemerkung, wonach der Angleichung an 54 55

Johann Wolfgang v. Goethe: Die Absicht eingeleitet. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I.  Abt./Bd.  24: Schriften zur Morphologie, hg. v. Dorothea Kuhn. Frankfurt a. M. 1987, S. 391-395, hier: S. 392. Kristian Köchy: Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romantischen Naturforschung. Würzburg 1997, S.  148. Die Unterscheidung zwischen ‚planetaren‘ und ‚kosmischen‘ Organismen steht im Zusammenhang mit der Frage nach unterschied­ lichen „Autonomiegrade[n]“ (ebd.) der Organismen, die dem Licht bzw. der Finsternis ausgesetzt sind. Oken spricht auch von „Lichtorganismen“ und „Finsternisorganismen“ (ebd.).

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die romantische Naturwissenschaft die Tatsache entgegenstehe, dass Goethe sich „in seiner Ästhetik wiederum der Romantik „widersetzt“ (WB II.2, 721) habe.56 Benjamin schließt diesen Einschub mit einem Gedankenstrich, der die wohl nicht restlos aufzuklärende Ambivalenz der Stellung des späten Goethe zur Romantik auch typographisch nochmals zu illustrieren scheint. Noch deutlicher wird die Ambivalenz der Bedeutung der Farbenlehre dort, wo Benjamin direkt den „schroffen Gegensatz zur Newtonschen Optik“ (ebd., 720) verhandelt und die „stellenweise äußerst erbitterte Polemik“ (ebd., 721) erwähnt, mit der Goethe seine Ansichten vertreten habe. Hierzu gehört zudem auch noch die Anmerkung, dass die „Veränderung der Welt durch die Technik […] nicht eigentlich seine [Goethes, K.D.] Sache“ (ebd., 720) gewesen sei. Er habe sich in dem Moment, wo um 1800 eine neue experimentelle Wissen­ schaftskultur entstand, „noch einmal zu den alten Formen der Naturgründung“ (ebd.) zurückgewendet. Der Verweis auf den historischen Zeitpunkt als Goethe sich auf die Suche nach den der Anschauung zugänglichen ‚Urphänomenen‘57 machte, impliziert bei Benjamin aber keineswegs den Verdacht einer ana­ chronistischen Haltung, spielt doch der Rekurs auf Goethes „Urphänomen“ in seiner eigenen Theoriebildung an mehreren Stellen eine prominente Rolle.58 Benjamins Anmerkungen lassen sich indes einmal mehr auf eine von ihm vor allem an der Farbenlehre identifizierte Schwankungsbreite in Goethes Werk beziehen. Denn auf der einen Seite zeige sich Goethe „refraktär […] gegen gewisse Neuerungen, im Technischen genau wie im Politischen“ (ebd.). Diese ‚Technik-Aversion‘ bezieht Benjamin im ersten Block seiner Rezensionsnotizen unmittelbar auf Goethes ‚falschen‘ Umgang mit dem vom Hofrat Büttner aus­ geliehenen Prisma, der die ‚Urszene‘ der Farbenlehre bildet: „Die Abneigung

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57 58

Das von tendenzieller Ähnlichkeit bis zur scharfen Differenz reichende Spannungsfeld zwischen Goethe und den Romantikern beschäftigte Benjamin bereits seit seiner Dis­ sertation über den frühromantischen Kritikbegriff. Auf der einen Seite betont er dort hinsichtlich der Naturforschung, dass Goethes Begriff der „zarte[n] Empirie“ (Johann Wolfgang v. Goethe: Maximen und Reflexionen. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 13: Sprüche in Prosa, hg. v. Harald Fricke. Frankfurt a. M. 1993, S. 149) durchaus mit demjenigen der „Beobachtung“ (WB I.1, 60) vergleichbar sei. Auf der anderen Seite setzt der nachträglich hinzugefügte Schlussteil anhand der Kate­ gorien von Form (Romantik) und Inhalt (Goethe) die ästhetischen Grundsätze strikt entgegen. In der Farbenlehre werden Licht und Dunkelheit als solche Urphänomene vorgestellt, aus deren Polarität sich die Farben entwickeln. (vgl. Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 81). Vgl. hierzu Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 309ff.

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gegen den Gebrauch der Instrumente in der Physik“ (WuN  13.1, 672).59 Auf der anderen Seite betont Benjamin im Enzyklopädie-Artikel aber wiederum, dass Goethe vor allem „im Alter sich erstaunlich klare Rechenschaft“ (ebd.) über diese Entwicklungen zu geben wusste. Diese beinahe durchgängig ambivalente Perspektive auf die Farbenlehre, die Polarität, die Metamorphose und das Urphänomen sowohl in Goethes naturwissenschaftlichen Studien als auch in seiner grundsätzlichen „philosophische[n] Orientierung“ (ebd., 721) und seiner Ästhetik verweist Benjamin zudem auf eine neu entstandene „Diskussion um dieses umfangreichste Dokument [i.e.: die Farbenlehre; K. D.] der Goetheschen Naturwissenschaft“ (ebd., 720), die dann in der Anzeige der von Wohlbold herausgegebenen und eingeleiteten Neuausgabe von Goethes Farbenlehre zentraler Gegenstand wird. Wie bereits erwähnt, spitzt Benjamin diese „Diskussion“ in der Rezension auf die Frage der gegenwärtigen Bedeutung der Farbenlehre zu. Dabei bilden die im Enzyklopädie-Artikel ausführlich dargelegten Ambivalenzen in Goethes Naturstudien auch die Kontrastfolie und den kritischen Bewertungsmaß­ stab für die weltanschaulichen Grundlagen der Einleitung Wohlbolds. Denn Benjamins Notiz zur „schiefe[n] Defensivposition des Herausgebers“ bezieht sich vor allem auf Wohlbolds Umgang mit der Frage des Verhältnisses der Farbenlehre zur modernen Physik. Wo Benjamin betont, dass die „ent­ scheidende Frage“ nach einer grundsätzlichen kritischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Goethe und Newton allein deswegen „nun nicht mehr, nicht wieder […] verschleiert werden“ (WB III, 149) dürfe, weil sich Goethe vermutlich selbst „über dieses Verhältnis durchaus nicht klar war“ (ebd., 150), will Wohlbold von einer solchen kritischen Auseinandersetzung nichts wissen. Er erklärt erstens, dass die Farbenlehre von einem „andere[n] Standpunkt“60 als demjenigen der Mathematik zu betrachten sei. Anders als Benjamins anvisierte offene und differenzierte Konfrontation der Farbenlehre mit der modernen Physik setzt Wohlbold beide Seiten immer deutlicher in einen schroffen Gegensatz zueinander, der in einer Art Freund-Feind-Schema vorgetragen wird: „[…] wer die Farbenlehre als verfehlt bezeichnet, der muß Goethe über­ haupt ablehnen.“61 Wohlbold begründet diese dezisionistische Notwendigkeit damit, dass hier ohnehin keineswegs „zwei physikalische Theorien einander entgegenstehen, sondern zwei verschiedene Weltanschauungen.“62 Die 59 60 61 62

Zur gleichermaßen „ästhetische[n] Wahrnehmung und dramatische[n] Form“ dieses „Prismenaperçu[s]“ vgl. Alexander Honold, Goethes Farbenkrieg, hier: S. 25. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 20. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 21.

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gegenwärtige Bedeutung von Goethes Farbenlehre könne daher auch nicht zu einer rein „fachwissenschaftlichen Angelegenheit“63 gemacht werden. Anders als Benjamin geht er zweitens davon aus, dass Goethe sich über den weniger naturwissenschaftlichen als vielmehr allgemein weltanschaulichen Gehalt „durchaus klar“64 gewesen sei. Obwohl Wohlbold dabei selbst sogar zunächst betont, dass die von Benjamin ins Zentrum gestellte Frage „Newton oder Goethe – wer hatte recht?“ (WB III, 148) „längst für eine Diskussion reif“65 sei, weiche er, so könnte man Benjamins Einwand zusammenfassen, letztlich doch der Beschäftigung mit den Ambivalenzen der Farbenlehre aus. Darüber hinaus betont Wohlbold, dass die Naturwissenschaften nicht nur nicht für die Beurteilung der Farbenlehre zuständig seien, sondern Goethes Werk sogar einen strikten Gegenentwurf zur Naturwissenschaft bilde, die „auf allen Gebieten die Führung übernommen“66 habe. Das „wichtigste Problem der Zeit“67 besteht für Wohlbold darin, gegen die allgemeine „geistes­ geschichtliche Situation“68, gegen die Vorherrschaft von „Materialismus und Mechanismus“69 und gegen die Mathematisierung der Lebenswelt ein neues Welt- und Menschenbild zu entwickeln. Die Feinde werden anschließend ausführlich benannt und scharf kritisiert: das empirische Weltbild der Naturwissenschaften, Technik, Objektivismus, Abstraktion, Atomtheorie, Mathematik, Intellektualismus, Rationalismus, Psychoanalyse. Goethes Werk diene hier, so die über hundert Seiten lang stetig wiederholte Emphase der Einleitung, als Korrektur dieser fatalen Vorbildfunktion, die die Naturwissen­ schaften „für Geschichte und Philologie, […] das soziale und das politische Leben, und […] in der Kunst und in der Religion““70 eingenommen haben. In dieser Kritik kündigen sich die zentralen Diskussionsgegenstände an: Die Frage, was überhaupt als Problem der Zeit identifiziert wird und die Frage der ‚Vorbildfunktion‘ für zeitdiagnostische Schreibweisen, die anhand von Goethes Farbenlehre diskutiert wird. Dabei stellt sich erneut diejenige Frage, die Friedlaender bereits in seiner frühen Mayer-Biographie durch eine Strategie diskreter Übertragungen verhandelt hat (vgl. Kap.  3.1): Wie lassen sich Übersetzungen, Übertragungen und Wechselwirkungen zwischen den

63 64 65 66 67 68 69 70

Ebd., S. 22. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen denken? Insbesondere das Verhältnis von Zeitdiagnostik und Naturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund erinnert Wohlbolds Gegenüberstellung der Farbenlehre und der Naturwissenschaft in Form von „Weltanschauungsgegen­ sätze[n]“71 in ihrem strikten Schematismus zunächst einmal an die Weltan­ schauungstypologien, die am Ende des 19. Jahrhunderts prominent werden und ihre klassische Ausformung in Wilhelm Diltheys Studie Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen von 1911 gefunden haben. Allerdings gibt es auch einen entscheidenden Unterschied: Wo diese typologischen Ein- und Aufteilungen als Reaktion auf die ‚Krise des Historismus‘ vor allem eine Orientierung bieten wollten, indem sie von einer tendenziellen Gleichwertigkeit der Weltanschauungstypen ausgingen,72 setzt Wohlbold die geschichtliche Notwendigkeit einer Entscheidung, die er durch­ gehend an das Pathos einer Rettung vor dem „Zusammenbruch der abend­ ländischen Kultur“73 bindet.

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73

Ebd., S. 22. Einen guten Überblick zur Geschichte dieser Weltanschauungstypologien bietet Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze. Frankfurt a.  M. 62017, S.  107-121. Marquard attestiert den Weltanschauungstypologien im Allgemeinen ein zwiespältiges Verhältnis zur Geschichtsphilosophie. (vgl. ebd., S. 118) Auf der einen Seite könne die Konjunktur von Typologien zwar als Reaktion auf den Zerfall von klassischen Fortschrittstheorien im Zeichen eines auf das Individuelle und Besondere ausgerichteten historischen Bewusstseins verstanden werden, auf der anderen Seite liege hier aber zugleich eine „resignierte Form der Geschichtsphilosophie“ (ebd.) vor, die auf einen „latenten Ahistorismus des historischen Sinns“ (ebd., S. 117) selbst deutet und den Verlust von Fortschrittserzählungen zu kompensieren versucht. Die Typenbildung sei dabei das ‚resignative‘ Komplement zum klassischen geschichtsphilosophischen Ver­ mittlungsgedanken, der Allgemeines und Besonderes im Rahmen eines zielgerichteten Prozesses miteinander vermittelt. Zwar seien Typenbildungen nicht mehr konsequent auf einen geschichtsimmanenten Zweck hin ausgerichtet, jedoch bilden sie gewisser­ maßen Schwundstufen einer solchen potentiellen Vermittlung. Marquard These lautet hier: „Weltanschauungstypen sind Vermittlungen im Wartestand oder Ruhestand.“ (ebd.) Vor dem Hintergrund des sich im Jahr der Erscheinung von Wohlbolds Neuaus­ gabe anbahnenden Übergangs der Weimarer Republik in einen permanenten politischen Not- und Ausnahmezustand, ließe sich Wohlbolds dezisionistischer Impetus als Versuch bewerten, diesen ‚geschichtsphilosophischen Wartezustand‘ in eine endgültige weltan­ schauliche Entscheidung zu überführen. Wir werden weiter unten beobachten können, dass Friedlaender im Streit zwischen Goethe und Newton zwar auch eine Form der Typisierung vornimmt, diese allerdings nicht an eine weltanschauliche Entscheidung bindet, sondern zum Mittel einer doppelten ‚prosopopöischen‘ Schreibweise macht, die auf eine kritische Erfahrung mit der eigenen Gegenwart ausgerichtet ist. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 122.

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Es ist gerade dieser unkritische Dezisionismus des ‚Entweder – Oder‘, an dem Benjamin die verpasste Chance einer differenzierten Bewertung der Farbenlehre festmacht. In diesem Zusammenhang kommt Benjamin auch auf die ideologischen Implikationen von Wohlbolds Interpretation zu sprechen: „Es ist schade, sehr schade, daß es gerade der angelaufene Zerrspiegel von Rudolf Steiners Weltbild ist, in dem der Herausgeber diese Wahrheiten am adäquatesten erblickt haben will.“ (WB III, 149) Als „führendes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft“ und „orthodoxer Gefolgsmann Steiners“ (WuN 13.2, 169) hatte Wohlbold schon früh in seinem Geleitwort festgehalten, dass Rudolf Steiner „das ganze Problem der Goetheschen Naturauffassung bereits vor mehr als vierzig Jahren restlos geklärt“74 und damit die Aktualität Goethes bereits zweifelsfrei bewiesen habe. Als ‚Beweis“ zitiert Wohlbold aus­ führlich eine Stelle aus Rudolf Steiners Ausgabe der Farbenlehre, in der dieser ebenfalls betont, dass die Farbenlehre sich „in einem Gebiet [bewegt], welches die Begriffsbestimmungen der Physiker gar nicht berührt.“75 Wohlbold schließt direkt an Steiners Goethe-Lektüre an: „Unsere folgenden Ausführungen knüpfen an ihn [Steiner, K.D.] an […].“76 Was Benjamin konkret an diesem anthroposophischen „Zerrspiegel“ kritisiert, wird an der längeren Passage deutlich, die er Wohlbolds Einleitung entnimmt und in seiner Rezension zitiert. Diese Passage bezieht sich unmittelbar auf die „schiefe Defensiv­ position des Herausgebers“ gegenüber der Frage nach dem Verhältnis von Goethe zu Newton: „Eines aber dürfte doch feststehen: daß nämlich die Sache sich keineswegs so behandeln läßt, wie der Herausgeber es träumt. Er erklärt: ‚Schließlich kommt es nicht auf Berechnung und äußere Beweise an. Es gibt ein Empfinden, einen Instinkt, könnte man fast sagen, für das, was ein rechter und ein falscher Weg ist. Beweise liegen, wie des Schicksals Stern, in der eigenen Brust. Maßgebend ist letzten Endes der innere Gewinn. Wenn Naturbetrachtung einen Wert haben soll, so kann dieser doch schließlich nur in einer Erhöhung des Menschentums liegen, in einer Steigerung des Erlebens, einer inneren Gestaltung und Ver­ wandlung.‘“ (WB III, 150)

Das längere Zitat ist von Benjamin strategisch eingesetzt. Denn ein Blick auf den argumentativen Zusammenhang in Wohlbolds Einleitung, aus der die zitierte Passage entnommen ist, legt die Vermutung nahe, dass Benjamin diese auf ein individuelles Naturempfinden ausgerichtete Lektüre mindestens von drei wechselseitig aufeinander bezogenen Gesichtspunkten aus kritisch 74 75 76

Hans Wohlbold, Geleitwort, S. 8. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 21. Hans Wohlbold, Geleitwort, S. 9.

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betrachtet haben dürfte: Diese betreffen erstens das anthroposophische Welt­ bild und das dabei zugrundeliegende Goethe-Bild, zweitens die politischen Implikationen und drittens den rezeptionsgeschichtlich problematischen ‚Kult des inneren Erlebnisses‘. Von diesen drei Gesichtspunkten werden auch die Debattenkontexte sichtbar, in die Benjamin seine kritische Besprechung der Aktualisierungsversuche Wohlbolds hineinstellt. Erstens resümiert Benjamin gleich im Anschluss an die zitierte Passage: „Das ist nun in der Tat die Sprache eines ‚Hüters der Schwelle‘.“ (ebd., 150) Benjamin zielt hier auf das von ihm auch in anderen Rezensionen kritisch ins Auge gefasste wiederaufblühende „Obskurantentum“ (ebd., 358), in das ein Teil des Bildungsbürgertums neuerdings „ihr Hoffen“ (ebd.) setze und das von den „Anhängern Steiners“ (ebd., 357) befördert werde. Dabei stammt das Schlag­ wort vom „Hüter der Schwelle“ aus zwei Aufsätzen Rudolf Steiners, die zu einer Aufsatzsammlung mit dem Titel Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten? (1904/05) gehören und in der Steiner Selbstentdeckungsgeschichten und Erweckungserlebnisse als „Entwicklung des Menschen zum Erfassen der übersinnlichen Welten“77 erzählt. Die Hüter-Figur versteht Steiner als „(astrale) Gestalt […], welche dem erwachenden höheren Schauen des Geheimschülers sich offenbart.“78 Diese Hüter-Gestalt ist für Benjamin in zweifacher Hin­ sicht problematisch: Zum einen deutet er damit an, dass die Lektürehaltung Wohlbolds von der Vorstellung einer okkulten „Geheimwissenschaft“79 getragen ist, die nicht jedem offensteht, sondern bei der zwischen Geweihten und Ungeweihten unterschieden wird. Damit wäre der Zugang zum Verständ­ nis der Farbenlehre durch ein okkultes Wissen reguliert, das nur demjenigen zugänglich ist, der bereits die ‚Schwelle‘ übertreten hat.80 Wohlbold mache, so könnte man Benjamins Verweis auf die „Hüter der Schwelle“ verstehen, Goethes Farbenlehre zu einer esoterischen Geheimwissenschaft, die nur demjenigen verständlich wird, der die Prämissen anthroposophischer Interpretation teile. 77

78 79 80

Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten? In: ders.: Gesamtausgabe. Schriften, Bd.  10, hg. v. Rudolf-Steiner-Nachlaßverwaltung. Dornach 241993, S.  7. Benjamins Kritik an der anthroposophischen Vereinnahmung bleibt hier auf die Kritik der Position Wohlbolds beschränkt. Eine nähere Untersuchung von Benjamins Kritik an Steiners Goethe-Bild würde den Rahmen der Untersuchung sprengen. Ebd., S. 198. Dabei scheint der Hüter eine Art moralischer Ökonom zu sein, der in einer ‚doppelten Buchführung‘ die guten und schlechten Taten des Menschen bilanziert und in ein „Kontobuch[…]“ (ebd., S. 195) einträgt. Ebd., S. 198. So heißt es bei Steiner: „Und solange ihr [der Schwelle, K.D.] ein einziger Baustein noch fehlt, so lange müßtest du wie gebannt an dieser Schwelle stehenbleiben oder stolpern. Versuche nicht früher diese Schwelle zu überschreiten, bis du ganz frei von Furcht und bereit zu höchster Verantwortlichkeit dich fühlst.“ (ebd., S. 196).

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Da Wohlbold betont, dass die Farbenlehre nur von Personen verstanden werden könne, die „von vornherein Goethes Weltanschauung als Ganzes genommen“81 haben, zielt Benjamins Kritik darauf, das damit eigentlich ‚von vornherein die anthroposophische Weltanschauung als Ganzes‘ gemeint ist. Zum zweiten wird Goethe selbst damit zu einer ‚astralen Gestalt‘ stilisiert. Gegen dieses GoetheBild, das von der Vorstellung eines dichterischen Seher- und Prophetentum getragen ist, schreibt Benjamin, wie bereits weiter oben ausgeführt, seit seinen ersten Texten über Goethe an. Diese Perspektive konstruiere, so Benjamin in Goethes Wahlverwandtschaften, die „Erscheinung des mythischen Heros“ (WB I.1, 157), mit der der Dichter die „Rolle des Stellvertreters“ (ebd.) in moralischen Angelegenheiten erhalte. Zu dieser Kritik an einer okkulten Geheimlehre und der damit zusammen­ hängenden Apotheose des Dichters gehört zweitens die Kritik an den sich daraus ergebenden politischen Implikationen. Benjamin zitiert ganz bewusst eine Stelle aus Wohlbold Einleitung, in der dieser in seiner Interpretation der Farbenlehre auf eine „Erhöhung des Menschentums“ zusteuert. Die Vor­ stellung einer an Nietzsches ‚Übermenschen‘ erinnernden „Erhöhung des Menschentums“ steht zum einen Benjamins eigener „Definition der Politik“ (WB VI, 99) diametral entgegen: „die Erfüllung der ungesteigerten Mensch­ haftigkeit“82. Wohlbolds „Erhöhung des Menschentums“ weist zudem erneut auf das zugrundeliegende Dichter-Bild. Denn die problematische moralische Stellvertreterrolle des Dichters basiere, so führt Benjamin seine Kritik in dem Wahlverwandtschafts-Aufsatz weiter aus, auf der Vorstellung von Goethe als eines „Übermenschen“ (WB I.1, 159), die der literaturkritischen Bemühung um „Klarheit über das theoretische Verhältnis von Wesen und Werk“ (ebd., 156) den Weg versperre. Zum zweiten lässt sich das Zitat auch auf den politischen Gehalt der „Polarität als Schlüssel“ zurückbinden. Denn Wohlbold erkennt in der Polarität nicht nur eine „kosmische Idee“83 bzw. eine „ganz einfache Formel“84, die in „Goethes Naturanschauung ihren Höhepunkt erreicht hat“85, sondern geht auch unmittelbar dazu über, diese „Formel“ als Schlüssel für eine moderne Weltanschauung zu applizieren. Dabei sind die von ihm in der Einleitung aufgerufenen Polaritäten von „Idealismus und Realismus, Geist und Natur, Mensch und Welt“86 aber letztlich doch nur sekundär gegenüber dem eigentlich forcierten Steigerungswillen, der in jene, durch 81 82 83 84 85 86

Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 21. Zum Kontext dieser Definition vgl. auch den Hauptteil B der vorliegenden Arbeit. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 111. Ebd. Ebd., S. 53. Ebd., S. 27.

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die anthroposophische Lehre in Aussicht gestellten, übersinnlichen Welten führen soll. Die Polarität gibt bei Wohlbold „dem strebenden Geist den Schlüssel in die Hand, der die Pforte zum Unendlichen aufschließt“87. Nicht die Polarität als solche ist damit der Schlüssel, sondern vielmehr der bei Goethe damit verbundene Steigerungsgedanke, der hier zum ideologischen Instrument einer „Erhöhung des Menschentums“ umgeschrieben wird, die, so der implizite Vorwurf Benjamins, eigentlich eine ‚Erhöhung des deutschen Wesens‘ ist. Denn vor dem Hintergrund der von Wohlbold adressierten „Pforte“ bekommt Benjamins Rekurs auf das Schlagwort von dem „Hüter der Schwelle“ eine weitere, politische Dimension, ist doch dem Übertreten der Schwelle bei Steiner selbst ein Steigerungsgedanke eingeschrieben, der explizit Volk, Nation und Rasse mit der Vorstellung ‚starker Persönlichkeiten‘ zu einer neuen Gemeinschaft zusammenbindet: „Für den Menschen, der auf seine Sinne beschränkt ist, bleiben diese Dinge allgemeine Begriffe, und der materialistische Denker in seinem Vorurteil wird verächtlich auf den Geheimwissenschaftler herabsehen, wenn er hört, daß für diesen letzteren der Familien- oder der Volkscharakter, das Stammens- oder Rassenschicksal ebenso wirklichen Wesen zukommen, wie der Charakter und das Schicksal des einzelnen Menschen einer wirklichen Persönlichkeit zukommen.“88

Diese schicksalhafte Zusammenbindung starker Persönlichkeiten mit Volk, Stamm oder Rasse bildet auch den Abschluss von Wohlbolds Einleitung: „Wer einmal erkannt hat, um was es sich [bei der Farbenlehre, K.D.] handelt, der weiß, daß der Naturforscher Goethe, der das deutsche Wesen in seiner höchsten Vollendung zum Ausdruck bringt, der erste große Führer auf einem neuen Weg ist.“89

Der Obskurantismus des anthroposophischen Geheimwissen wird, so könnte man die ersten beiden Kritikpunkte Benjamins zusammenfassen, mit einer politischen Vereinnahmung Goethes als „Führer“ kurzgeschlossen, die letztlich nicht die gesellschaftlichen Bedingungen einer Aktualisierung von Tradition reflektiert, sondern geradewegs auf den gegenmodernen Entwurf einer neuen okkulten Gemeinschaft zuläuft. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieses gegen- oder antimodernen Rückbezugs auf die Tradition steht dann auch im Zentrum des dritten 87 88 89

Ebd. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten?, S. 199f. Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 123.

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Gesichtspunkts unter dem Benjamin Wohlbolds Aktualisierungsbestrebungen kritisch perspektiviert. Er betrifft die in der von Benjamin zitierten Passage aufgeführten Ausdrücke „Empfinden“, „Instinkt“ und „innere[r] Gewinn“, die auf die Form eines ‚inneren Erlebnisses‘ deuten. In diesem Zusammenhang steht auch eine Anmerkung Wohlbolds, die der von Benjamin zitierten Passage unmittelbar vorausgeht. Wohlbold insistiert dort darauf, dass ein Ver­ ständnis von Goethes Farbenlehre nur durch eine Lektürehaltung gewonnen werden könne, die auf das Bestreben zu „eine[r] lebendige[n] Beziehung zur Natur“90 ausgerichtet sei. Denn, so Wohlbold weiter, die „Vertiefung in die dargestellten Tatsachen“91 verlange einen „Leser“92, der dieses innere Erleb­ nis, die Begegnung zwischen Subjekt und (Über-)Natürlichem, suche. Ähn­ lich fordert Steiner für das Erlangen einer Einsicht in höhere Welten: „Lesen wie ein innerliches Erleben […].“93 Auch wenn naturwissenschaftliches Tat­ sachenwissen dagegenspräche, ermögliche, so Steiner weiter, erst die „Übung“ einer solchen „intim[en]“ Lektürehaltung den Weg zur „Harmonie der Seele“.94 Diese Art von (Lektüre-)Erlebnis bildet in Benjamins Arbeiten immer wieder den kritisch betrachteten „Gegenbegriff“95 zum Begriff der Erfahrung. Benjamins kritische Haltung gegenüber dem Begriff des Erlebnisses ist in einem produktionsästhetischen und in einem rezeptionsästhetischen Argu­ ment begründet: Bereits im Wahlverwandtschaften-Aufsatz hatte Benjamin die „neuere Konvention“ kritisiert, durch die das Erlebnis „der dichterischen Erfindung zum Grunde [ge]legt“ (WB I.1, 166) werde. Benjamin hat hier wohl vor allem den von Wilhelm Dilthey in Das Erlebnis und die Dichtung als „Aus­ gangspunkt des poetischen Schaffens“96 installierten Erlebnisbegriff im Blick. Das rezeptionstheoretische Pendant zu diesem biographischen Erlebnis­ begriff auf das Benjamin dann bei Wohlbold (und Steiner) zielt, liegt in einer Rezeptionshaltung, die nicht Goethes Dichtung kritisch auf ihre „Beziehung 90 91 92 93 94 95

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Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten?, S. 10. Ebd. Thomas Weber: ‚Erfahrung‘. In: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd.1. Frankfurt a. M 2000, S. 230-259, hier: S. 237. Zur Unterscheidung von Erlebnis und Erfahrung vgl. auch Heiner Weidmann: Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin. München 1992, S.  66-69; Michael Makropoulos: Subjektivität zwischen Erfahrung und Erlebnis. Über einige Motive bei Walter Benjamin. In: Gérard Raulet/Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin. Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Bern 1998, S. 69-81. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing • Goethe • Novalis • Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 159.

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auf Wahrheit“ (ebd.) prüft, sondern in ihr „das Nachbild ihrer [der Leser, K.D.] eigenliebenden Verträumtheit“ (ebd., 172) sucht. Diese kritische Perspektive ist in Benjamins Arbeiten zentraler Bestand­ teil seiner Theoriebildungen. So kehrt der Begriff des Erlebnisses zwar im Rahmen seiner Baudelaire-Studien und in den Passagen-Aufzeichnungen in Form des „Chockerlebnis[ses]“ (WB I.2, 614) wieder auf, allerdings ist damit keineswegs eine Aufwertung des Erlebnisbegriffs als solchem intendiert. Vor dem Hintergrund einer „zunehmende[n] Verkümmerung der Erfahrung“ (ebd., S. 611) fragt Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire vielmehr nach einer zeitgemäßen Produktionsästhetik, die den modernen, vor allem groß­ städtischen ‚Chockerfahrungen‘ nicht ausweicht, sondern diese dichterisch verarbeitet: „Die Frage meldet sich an, wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm geworden ist.“ (ebd., 614) Hinsichtlich der „Funktionsweise der psychischen Mechanis­ men unter den heutigen Existenzbedingungen“ (ebd.) liest Benjamin dabei der Struktur des Erlebnisses im Anschluss an Freuds Jenseits des Lustprinzips einen problematischen Verdrängungs- und Abwehrmechanismus ab, der einer Erfahrung des modernen „Dasein des Menschen[s] in der Gesellschaft“ (ebd., 608) und der ökonomischen, sozialen und politischen Lebensbedingungen aus­ weicht bzw. diese bereits durch die Chockabwehrmechanismen des Bewusst­ seins abfängt. Im Gegensatz zum individuellen Erlebnischarakter ist die Erfahrung zudem für Benjamin immer schon auf das Kollektive ausgerichtet: „Wo Erfahrung im strikten Sinne obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Kon­ junktion.“ (ebd., 611) Die moderne Literatur habe, so Benjamin, unterschied­ liche Strategien entwickelt, um an die dem Bewusstsein nicht zugänglichen Gedächtnisspuren zu gelangen. Wo Marcel Prousts A la recherche du temps perdu den „Versuch“ einer „Erfahrung […] unter den heutigen gesellschaft­ lichen Bedingungen“ (ebd., 609) durch die unbewusste ‚mémoire involontaire‘ erprobt, habe Baudelaire in seiner Produktion eine „Leerstelle vorgeschwebt“ (ebd., 615), in der das „Chockerlebnis“ explizit auf den „Vorgang des Schaffens selbst“ (ebd., 616) hin reflektiert wird. Beide Produktionstypen zielen damit auf vergleichbare und für die Moderne adäquate ästhetische Wahrnehmungs­ weisen, die – anders als das verdrängende Erlebnis – „die dichterische Erfahrung“ nicht mehr „sterilisieren“ (ebd.). Benjamins Interesse an diesen zwei für ihn paradigmatischen Schreibweisen steht zum einen im größeren Kontext der Frage nach der Legitimität bzw. der Legitimierung des Selbstver­ ständnisses der Moderne im Allgemeinen, wodurch sich seine Reflexionen in einen um 1800 einsetzenden Diskurs über die Moderne überhaupt einordnen, zum andern und insbesondere aber steht das Interesse im Zusammenhang mit

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der Frage nach der Erkenntnis der Gegenwart in ihrer prekären Spannung, die sich daraus ergibt, dass sie einerseits aus allen Traditionszusammenhängen entlassen zu sein scheint und andererseits aber permanent mit latent wirk­ samen Restbeständen und Rudimenten der Tradition umzugehen hat. Die philosophische und ästhetische Tradition für eine kritische Erfahrung mit und an der Gegenwart produktiv zu machen, bildet ein über alle Werk­ phasen kontinuierendes Zentralanliegen von Benjamins Schreibarbeit. Dafür müsse allerdings, so Benjamin, die „geschichtliche Determinierung der Erfahrung“ (ebd., 608) selbst reflektiert werden. Eine ästhetische Wahr­ nehmungsweise, die die Konfrontation mit den gegenwärtigen Lebens­ bedingungen sucht, habe einzukalkulieren, dass sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt in der Moderne verändert haben. Diese produktionsästhetischen Überlegungen macht Benjamin gleichermaßen für eine zeitgemäße literaturwissenschaftliche und -kritische Methodenreflexion geltend. Denn was Freud die „Energien“ des „Chocks“97 nennt und aus denen Benjamin die Voraussetzungen für eine moderne Erfahrungs- und Schreib­ weisen ableitet, taucht einige Jahre zuvor bereits als „Chock der Erkenntnis“ (WB III, 286) im Rahmen von Benjamins ausführlichen methodischen Über­ legungen zu Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft auf. Eine kritische Erfahrung mit der Tradition habe sich, so Benjamins Argument gegen das „synthetische Gebaren“ (ebd.) der Literaturwissenschaft seiner Zeit, mit diesem ‚Erkenntnischock‘ zu konfrontieren, der vor allem in einer Differenzals Spannungserfahrung zwischen „Gegenwärtigem und Gewesenem“ (ebd., 288) bestehe. Damit scheinen Benjamins Überlegungen zu verschiedenen Umgangsformen mit der literarischen Tradition insgesamt auf den Gegensatz von Differenzerfahrung und Syntheseerlebnis zuzulaufen. Das wird in Über einige Motive bei Baudelaire an der Stelle noch deutlicher, wo Benjamin erneut auf Dilthey zu sprechen kommt und hinsichtlich der Favorisierung des Erleb­ nischarakters von Dichtung eine gefährliche Traditionslinie zieht, die von Dilthey über Klages und Jung zum Faschismus führt. (vgl. WB I.2, 608) Der eigentliche Angriffspunkt ist dabei aber ein lebensphilosophisch inspirierter Erlebnisbegriff, der die Erfahrungen der Ambivalenzen, Unübersichtlichkeiten und Kontingenzen der Moderne dadurch abzufangen versucht, dass er sich „auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter“ (ebd.) zurückzieht. Benjamins Kritik an dieser Konzeption des ‚Erlebnisses‘ als eines ahisto­ rischen und universell gültigen Ereignistypus, der einer Erfahrung mit den 97

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. XIII, hg. v. Anna Freud et. al. Frankfurt a. M. 51967, S. 1-69, hier: S. 31.

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komplexen, fragmentierten modernen Lebensbedingungen ausweiche, ist auch die Folie der Kritik des an einer ‚Synthese durch Natur und Mythos‘ gebundenen Erlebnisbegriffs bei Wohlbold (und Steiner). Das wird an einer Stelle in Wohlbolds Einleitung besonders deutlich, wo Wohlbold einen Syntheseversuch explizit über das ‚Erlebnis Goethe‘ in Aussicht stellt, der als Gegenentwurf sowohl zur Vorherrschaft der Naturwissenschaften als auch zu den Funktionsmechanismen der modernen Gesellschaft gedacht ist: „Als Kunstwerke angesehen sind sie [Goethes poetische Werke, K.D.] nur das glänzende Gewand, in das ein unübertroffener Meister des Wortes und der Gestaltung seine tiefsten Erkenntnisse und seine Einsichten in das Wesen der Welt gehüllt hat. Mehr wohl als bei irgendeinem anderen Dichter ist hier das Werk ganz und gar der Ausdruck einer Persönlichkeit, die es verstand, Ich und Umwelt unter einem harmonischen Aspekt in höhere Einheit synthetisch zu gestalten. Weltwesen und Selbst sind bei Goethe nur Ausdruck und Physiognomie eines ursprünglich Geistigen, das nach zwei Seiten hin in die Erscheinung tritt, das als ein ewig Lebendiges durch Gott-Natur wie durch ein Gott-Menschliches hier wie dort im Grunde die gleiche Sprache spricht und sich hier im sittlichen, dort im physischen Urphänomen offenbart.“98

Diese synthetische Gestaltung einer „höhere[n] Einheit“ hat Goethe nach Wohlbold vor allem im Kapitel über die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben erreicht, also gerade in jenem Teil der Farbenlehre, von dem Benjamin betont hat, das eine mögliche Aktualisierung notwendigerweise über die Konfron­ tation mit neueren ästhetischen Theorien zu verlaufen habe. In diesem Kapitel sei, so Wohlbold, „das Erlebnis […] der Mittelpunkt“99. Mit diesem Kapitel sei Goethe zugleich die „höchste Verwandlung“100 der physikalischen Bestimmungen der Farbe in jenes Gebiet gelungen, in dem es ganz „im seelischen Erlebnis“101 aufgehe: „Wissenschaft, die im Sinne Goethes zur Kunst wird, ist Religion.“102 Einmal mehr scheint die Polarität dabei nur vor­ läufigen Schlüsselcharakter zu haben. Zwar baue zunächst alles „auf dem Grundgesetz der Polarität von Licht und Nicht-Licht auf“103, aber zentral ist nicht dieser Gegensatz als solcher, sondern die „Brücke“, die damit „von der Natur zum Erlebnis“104 geschlagen werden könne: „Verschiedene Dualitäten

98 99 100 101 102 103 104

Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 15. Ebd., S. 111. Ebd., S. 109. Ebd. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Ebd.

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ergeben verschiedene Erlebnisse.“105 Dieses Erlebnis scheint für Wohlbold vor dem Hintergrund der von ihm ausführlich dargelegten weltanschau­ lichen Probleme der Gegenwart und den abstrakten Lebensverhältnissen der Moderne, deren „immanente Gesetzmäßigkeit“106 sich verselbstständigt habe, in Richtung einer „höheren Wirklichkeit im Geist“107 zu ‚übersteigen‘: „Wenn Naturbetrachtung einen Wert haben soll, so kann dieser doch schließlich nur in einer Erhöhung des Menschentums liegen, in einer Steigerung des Erlebens, einer inneren Gestaltung und Verwandlung.“108 Dieser intendierte weltanschauliche Syntheseversuch aus „Gott-Natur“ und Gott-Menschliche[m]“109 bildet auch das programmatische Leitbild der Schriftenreihe zur Neubegründung der Naturphilosophie, in der Wohlbolds Neuausgabe der Farbenlehre erscheint und die ebenfalls den Titel Gott-Natur trägt. In einem Brief an Christoph Bernoulli vom 16.10.1924 hat der Verleger Eugen Diederichs den Anspruch dieser Schriftenreihe als „eine[…] neue[…] synthetische[…] Naturwissenschaft, die ja zweifellos jetzt hochkommt und an die romantische Naturphilosophie anknüpfen wird“110, bezeichnet. Irm­ gard Heidler hat sich die Verlagsanzeigen, Ankündigungstexte, Reklamen und Prospekte zu dieser Schriftenreihe angesehen und für den programmatischen Leitgedanken festgehalten, dass es um eine „‚organische Gesamterfassung der Natur‘“111 gehen sollte, die sich explizit als „Alternative zur etablierten Naturwissenschaft“112 versteht. Die Schriftenreihe und insbesondere ihr „Best­ seller“, Wohlbolds Neuausgabe der Farbenlehre,113 können damit als typische Repräsentanten oder exemplarischer Fall jener um 1900 einsetzenden geistes­ geschichtlichen Rezeption angesehen werden, die vor allem in Goethes Formund Gestaltbegriff ein für die Moderne adäquates „Totalitätsversprechen“114 erkennen wollte. Alle drei genannten Gesichtspunkte, unter denen Benjamin Wohlbolds Einleitung kritisch perspektiviert, beziehen sich letztlich auf 105 106 107 108 109 110 111 112 113

114

Ebd., S. 59. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd., S. 100f. Ebd. Zit. n. Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896-1930). Wies­ baden 1998, S. 348f. Ebd., S. 350. Ebd. Irmgard Heidler setzt den Begriff ‚Bestseller‘ in Anführungszeichen und weist darauf hin, dass die Bücher der Reihe mit einem Preis ab 12 Mark teuer waren und daher kaum Absatz gefunden haben. Mit „667 verkauften Exemplaren im Jahre 1932“ (ebd.) war Wohlbolds Neuausgabe der Farbenlehre noch eine der umsatzstärkeren Reihentitel. Claude Haas, Einleitung, S. 8.

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diesen pantheistisch motivierten gegenmodernen Syntheseversuch aus Gott, Natur und Mensch: in epistemologischer Hinsicht auf die Synthese durch eine okkulte Geheimlehre, in politischer Hinsicht auf die Synthese durch einen an Volk, Stamm und Rasse orientierten Gemeinschaftsbegriff, in ästhetischer Hinsicht auf die synthetische Versöhnung von Natur und Kunst durch das Bild von Goethe als ‚mythischen Genius‘, in geschichtsphilosophischer Hinsicht auf das Syntheseerlebnis mit einer letztlich ungebrochen gültigen Tradition. Vor diesem Hintergrund lässt sich das am Ende der Rezension von Benjamin aufgerufene Friedlaender-Zitat als Hinweis auf eine andere, der Deutung Wohlbolds entgegengesetzte Rezeptionslinie lesen. 3. „Richtige Fragestellung bei S.  Friedländer (Goethescher Mathematiker)“: Auch Friedlaender schreibt eine kurze Rezension zu Wohlbolds Neuausgabe, die am 8.9.1929 im Berliner Börsen-Courier erscheint. Genau wie Benjamin lobt Friedlaender zunächst grundsätzlich die Einrichtung der Neuausgabe aufgrund der Farbtafeln als ein „sehr unterrichtendes Buch“ (F/M 3, 820). Friedlaenders Interesse an der Neuausgabe resultiert, ähnlich wie bei Benjamin, aus der durchgängigen Beschäftigung mit Goethe in allen Werkphasen. Dabei zeugt seine frühe briefliche Aussage, dass „Goethe allein der selige Himmel“ sei, „in den man aufschauen muß, um seines Lebens froh zu sein“ (F/M 24, 79) auf den ersten Blick zunächst von einer Rezeptionshaltung, die stärker an Wohlbolds Einleitung als an Benjamins kritische Kommentierung der Goethe’schen Werke erinnert. Wenn Friedlaender zudem in mehreren Texten Goethes Farbenlehre in strikte Opposition zu Newton setzt – Goethe contra Newton (vgl. F/M 2, 304-307), so lautete etwa der Titel eines Textes von 1911 – und gegenüber dem „Irrtum Newtons“ (ebd., 526) die „Goethesche[…] Klarheit“ (ebd.) hervorhebt, scheint das ebenfalls eher dem Duktus Wohlbolds vergleichbar. Allerdings ist diese Entgegensetzung nur die eine Seite von Friedlaenders intensiver GoetheRezeption und bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass Friedlaenders Annahme, die Farbenlehre stelle „eine Revolution des Wissens“ (F/M 2, 527) dar, sich vor allem in der Einschätzung des polaren Grundgedankens der Farben­ lehre von Wohlbolds Interpretation grundsätzlich unterscheidet. In seiner Rezension stellt Friedlaender daher auch gleich zu Beginn klar, was er von der anthroposophisch motivierten Interpretation Wohlbolds hält: „Der Heraus­ geber ist nach Rudolf Steiner orientiert (schwerlich hätte Goethe hierin einen Vorzug gesehen).“ (F/M 3, 820) Auf die grundverschiedenen Interpretations­ ansätze kommt es Benjamin in der polaren Dramaturgie seiner Rezension an. Benjamin schließt seine Rezension mit einem längeren Zitat aus der 14. Skizze von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz, die den Titel Farbe trägt. (vgl. F/M 10, 409-417). Das Zitat steht im Zusammenhang mit dem zu Beginn

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des letzten Abschnitts aufgerufenen „Stellungskampf“ (WB III, 150) zwischen den Goetheaner und der Physik. Benjamin konstatiert zunächst noch einmal, dass Wohlbold – ähnlich wie Simmel – durchaus einige wichtige Einsichten in die „immanenten Zusammenhänge der Goetheschen Optik“ (WB III, 150) gewonnen habe, was nochmals auf die zentrale Stellung der Naturwissen­ schaften in Wohlbolds Text bezogen ist. Für die bereits vorher aufgerufene „entscheidende Frage“ (ebd., 149) zum Verhältnis von Goethe zu Newton, die „nun nicht mehr, nicht wieder dürfte verschleiert werden“ (ebd.) rekurriert Benjamin dann allerdings weder auf Wohlbold noch auf Simmel, sondern auf Friedlaender: „Aber man wird dann auch nicht vergessen dürfen, was gerade über die wichtigste Frage, die Frage nach der Auseinandersetzung und der Entscheidung von einem der glänzendsten Interpreten der Farbenlehre, S.  Friedländer, in seiner viel zu wenig bekannten ‚Schöpferischen Indifferenz‘ geschrieben wurde: ‚Die wahre Aufklärung wird hier durch einen mathematisch gebildeten Goetheaner geschehen können; und Goethesche Mathematik ist weniger ein hölzernes Eisen als vielmehr das hölzerne Pferd, mit dessen Hilfe Goethes Griechen endlich das barbarische Troja der Optik erobern und die ihnen geraubte Helena der Farben­ schönheit wiedergewinnen werden.‘“ (ebd., 150f., vgl. auch F/M 10, 413)

Das von Benjamin an das Ende der Rezension gestellte Friedlaender-Zitat ist ähnlich lang wie das weiter oben bereits ausführlich besprochene Zitat aus Wohlbolds Einleitung. Wo Benjamin mit dem Verweis und den kurzen Aus­ führungen zur Rudolf Steiner’schen Hüter-Figur immerhin noch Hinweise darauf gibt, inwiefern er diesem Zitat eine problematische Rezeption und Aneignung der Goethe’schen Farbenlehre abliest, endet die Rezension mit dem Friedlaender-Zitat recht unvermittelt und ohne weitere Erklärungen. Weder die rhetorische Figur des Oxymorons (‚hölzernes Eisen‘) noch das Bild vom Trojanischen Pferd in der Friedlaender-Passage sind selbsterklärend. Sie lassen den Leser mit der Frage zurück, warum Benjamin gerade hieraus die Empfehlung ableitet, sich an Friedlaender als „einem der glänzendsten Inter­ preten der Farbenlehre“ zu halten. Welche Bedeutung kommt dem FriedlaenderZitat am Ende der Rezension also vor allem vor dem Hintergrund der Kritik an Wohlbolds einleitender Rahmung der Neuausgabe zu? Anhand des WohlboldZitats konnte zwischen einem epistemologischen, einem politischen und einem rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkt unterschieden werden, von denen aus Benjamins Kritik an Wohlbolds Aktualisierungsversuch verständlich wird. Vor dem Hintergrund der Rezensionsnotizen und der dort abgebildeten konfrontativen Dramaturgie zwischen der „schiefe[n] Defensivposition des Herausgebers“ und der „[r]ichtige[n] Fragestellung bei S. Friedländer“ drängt

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sich der Versuch auf, den durch das Friedlaender-Zitat ausgelegten inter­ textuellen Spuren nachzugehen, um zu untersuchen, ob sich hier hinsichtlich der drei Kritikpunkte jeweils Gegenperspektiven entdecken lassen. Erstens hatte Benjamin mit dem Verweis auf die „Sprache eines ‚Hüters der Schwelle‘“ (WB III, 150) an Wohlbolds Einleitung den restriktiven Inter­ pretationsgestus kritisiert, der aus der notwendigen Konfrontation zwischen Goethes Farbenlehre und der Physik einen Kampf der „Weltanschauungs­ gegensätze“115 macht, der zudem nicht einmal offen ausgetragen wird, sondern immer schon zugunsten des zugrundeliegenden anthroposophischen Welt­ bildes entschieden ist. Goethes Farbenlehre werde hier, so konnte Benjamins Verweis auf die Hüter-Gestalt gedeutet werden, zu einer okkulten Geheimlehre, in die sich nur Einsichten gewinnen ließen, wenn man das Wohlboldsche Welt­ bild bereits teile. Wie gestaltet sich hier Friedlaenders Gegenperspektive? Im Gegensatz zu Wohlbolds unvermittelter ideologischer Aneignung der Farbenlehre weisen die rhetorische Figur des Oxymorons einerseits und das Bild vom Trojanischen Pferd andererseits am Ende der zitierten Friedlaender-Passage auf eine andere, vorsichtigere Doppelstrategie in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Zunächst ruft Friedlaender das Oxymoron vom „hölzerne[n] Eisen“ auf, das die „Goethesche Mathematik“ keineswegs sei, und deutet damit an, dass er zwischen der Farbenlehre und der Physik nicht zwangsläufig einen unversöhnlichen Widerspruch sieht. Dass Friedlaender die nähere Verhältnisbestimmung einem zukünftigen „mathematisch gebildeten Goetheaner“ aufgibt, geschieht allerdings nicht ganz ohne polemischen Unter­ ton gegenüber der Mathematik. In seiner Wohlbold-Rezension wird er noch deutlicher: „In den blutigen Kämpfen zwischen Logik und Mathematik siegt (wie auch heute A.  Einstein beweist) gewöhnlich die Mathematik; sie ver­ steht sich besser auf die Fabrikation des Nimbus …“ (F/M 3, 820). Wird hier letztlich doch nochmal jener unproduktive „Stellungskampf“ geführt, deren rezeptionsgeschichtliche Aporie Benjamin beschrieben hatte? Da Benjamin in seinen Rezensionsskizzen notiert, dass Friedlaender die „[r]ichtige Frage­ stellung“ und eben nicht die ‚richtige Antwort‘ gegeben habe, scheint er mit dem strategisch eingesetzten Friedlaender-Zitat aber auf etwas anderes zu zielen, das tatsächlich einschlägig für Friedlaenders Beschäftigung mit Goethe ist und sich an nahezu allen seinen Goethe-Texten ablesen lässt: Friedlaender fängt die von Benjamin ins Zentrum gestellte „Frage der Auseinandersetzung“ zwischen Goethe und der Physik, die genau besehen eine Frage nach der Aktualität Goethes im Jahre 1928 ist, nicht in einer vorgefertigten ideologischen 115 Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 22.

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Interpretation auf, sondern formuliert die Frage nach der gegenwärtigen Bedeutung der Farbenlehre zunächst als offenes Problem der Zeit. Macht Friedlaender damit also gar keinen eigenen Vorschlag, wie eine potentielle Aktualisierung der Farbenlehre aussehen könnte? Überlässt er die „wahre Aufklärung“ über die diskursive Relevanz allein einer zukünftigen Forschung? Das im Anschluss an das Oxymoron vom „hölzerne[n] Eisen“ aufgerufene Bild vom Trojanischen Pferd gibt einen Hinweis auf eine Aktualisierungsstrategie, die man – der ‚griechischen Kriegslist‘ entsprechend – als eine Form ‚listiger Aktualisierung‘ deuten müsste. Die Pointe liegt hier darin, dass Friedlaender selbst in seiner Schöpferischen Indifferenz eine doppelte Schreibstrategie der Prosopopöie nutzt, um Goethe ‚listig‘ in die Diskurse der Gegenwart ‚einzuschleichen‘. Auf diese Schreibstrategie und auf das Bild vom Trojanischen Pferd wird am Ende des dritten Gesichtspunktes zurück­ zukommen sein. Zunächst gilt es, den unmittelbaren Argumentations­ zusammenhang weiterzuverfolgen, in den die von Benjamin zitierte Passage eingebettet ist und auf den Benjamin zu rekurrieren scheint. Dieser Kontext verweist auf den zweiten Gesichtspunkt, unter dem Benjamin Wohlbolds Ein­ leitung kritisch in den Blick nimmt und die politischen Implikationen betrifft. Erst von hier wird verständlich, was Friedlaender mit dem Trojanischen Pferd zu sagen beabsichtigt und inwiefern diese ‚Kriegslist‘ im Rahmen des durch Wohlbold reproduzierten „Stellungskampf[s]“ eine andere Aktualisierungs­ strategie andeutet, die mit Benjamins Überlegungen zur Aktualität der Farbenlehre vergleichbar ist. Benjamin hatte zweitens an Wohlbolds Einleitung die Form der politischen Funktionalisierung der Farbenlehre für die Idee einer „Erhöhung des Menschentums“ kritisiert, die den Goethe’schen Steigerungsgedanken ideo­ logisch in Richtung eines gegenmodernen Entwurfs einer neuen Gemein­ schaftslehre umdeutet. Einen unmittelbaren Gegenentwurf zu dieser politischen Funktionalisierung findet sich bei Friedlaender nicht. Betrachtet man jedoch den Kontext der von Benjamin zitierten Stelle, wird deutlich, dass Friedlaender die gegenwärtige politische Bedeutung der Beschäftigung mit der Farbenlehre in ihrem heuristischen Potential für eine zeitgemäße Diagnostik der Gegenwart erkennt. Das deutet bereits deutliche Korrespondenzen zu Benjamins kritischem Erfahrungsbegriff an. Dafür verschränkt Friedlaender genau besehen zwei Argumentationsstrategien hinsichtlich der Frage nach der Aktualisierbarkeit der Farbenlehre miteinander. Zu dem offenen Problem der Aktualität, das in der zitierten Friedlaender-Passage in Benjamins Rezension formuliert wird, verläuft parallel eine zweite Perspektive, die genau umgekehrt argumentiert. Hier ist nicht die Aktualisierbarkeit das Problem, sondern die Gegenwart selbst: Die Aktualität der Farbenlehre bestehe, so Friedlaender

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weiter, gerade darin, dass Goethes polarer Grundgedanke ein heuristisches Hilfsmittel für die Analyse solcher Gegenwartsprobleme bereitstelle. Benjamin scheint sich in seiner Rezension auf diesen zeitdiagnostischen Einsatzpunkt des Goethe’schen Polaritätsdenkens bei Friedlaender zu beziehen. Denn in dem unmittelbar auf die von Benjamin zitierte Passage folgenden Satz heißt es bei Friedlaender, dass die falsche Einschätzung der von Goethe entwickelten Farbenpolarität „nur das anzeigende Symptom der gewaltigen menschlichen Verirrungen auf allen Sinnes-, ja Denkungs- und Gesinnungsgebieten“ (F/M 10, 413) sei. In dieser symptomatologischen Lektüre ragt der Gegenstand (Goethes Farbenlehre) immer schon über die enge naturwissenschaftliche Debatte hinaus auf ein viel grundsätzlicheres Problem, das, so Friedlaender weiter, in allen ästhetischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Bereichen hinein­ spielt: die Fehlinterpretation oder Geringschätzung der Goethe’schen Polarität ist ein Symptom für die allgemeine Verkennung des „Differenzcharakter[s] der Welt“ (ebd., 414), der doch eigentlich in „jedem Geschehen, jedem Handeln und Denken zu beobachten“ (ebd., 416) möglich sei. Die Farbenlehre sei, so Friedlaender bereits in einem Text von 1917, „Goethes fruchtbarstes, folgen­ schwerstes, unermesslich vorbedeutungsvolles Werk“, weil hier vermittelt über den „Licht- oder Farbengegensatz“ ein Denken der „Differenz überhaupt“ (F/M 2, 527) erprobt werde: als die „Erprobung sämtlicher Empirie, nicht anders als wechsel- und gegenseitig“ (F/M 10, 410). Im scharfen Kontrast dazu stehen Wohlbolds Ausführungen, wonach die Naturwissenschaft als solche „in ihrer Problematik nur ein Symptom ist“116. Die Naturwissenschaft ist bei ihm das Symptom für eine insgesamt auf Irrwegen abgekommene Moderne, die durch Goethe wieder zu einer neuen Einheit zurückzufinden habe. Friedlaenders Symptomatologie verläuft genau umgekehrt. Nicht der Mangel an einer ein­ heitlichen Weltperspektive unterscheide „den Newtonianer vom Goetheaner“ (F/M 2, 527) – das ist die Perspektive Wohlbolds gewesen –, sondern der „Mangel an Unterscheidungsvermögen“ (ebd.): „Für Jenen [Newton, K.D.] gibt es nur Nüancen; dieser [Goethe, K.D.] dagegen erkennt, daß jede Nüance einen geradezu polaren Unterschied bedeutet […].“ (ebd.) Im gegenwärtigen Mangel bzw. der diskursiven Ignoranz des von Goethe erprobten polaren Differenzdenkens genauso wie in den Aneignungstendenzen im Horizont gegenmoderner Syntheseversuche erkennt Friedlaender das Symptom der Krisen und Probleme der eigenen Zeit. Erst ein an Goethe geschultes Denken des polaren „Gegensatz-Charakter[s] der Welt“ (F/M 10, 414) könne, so Friedlaenders Argumentation, zu einer produktiven Differenzerfahrung (mit) der eigenen Zeit führen. 116 Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 26.

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Es ist auffällig, dass sowohl bei Wohlbold als auch bei Friedlaender das Stichwort von den „Symptomen“ in einem unmittelbaren argumentativen Zusammenhang mit den von Benjamin jeweils zitierten Passagen steht. Nimmt man diese intertextuellen Referenzen ernst, läuft Benjamins Rezension letzt­ lich auf eine Gegenüberstellung dieser symptomatologischen Interpretations­ angebote zu, die sich in unterschiedlicher Weise an Goethes Farbenlehre profilieren und dem polaren Grundgedanken Goethes verpflichtet sind. Mit der Konfrontation der Aktualisierungsversuche von Wohlbold und Friedlaender stellt Benjamin zwei Symptomatologien der Gegenwart gegenüber, deren Fluchtpunkte das eine Mal in einem pantheistischen Einheitserlebnis von Gott, Natur und Menschen im Horizont anthroposophischer Weltanschauung liegt und das andere Mal auf den Versuch einer für die Moderne adäquaten Differenzerfahrung abhebt, die Friedlaender weit eher bei Goethe als in der zeitgenössischen Naturwissenschaft realisiert sieht. Damit entwickelt sich bei Benjamin aus dem äußeren Anlass der Anzeige einer Neuausgabe eine inter­ textuelle Debattenkonstellation, in deren Zentrum die Frage steht, ob und wie die Farbenlehre für eine kritische Erkenntnis der Gegenwart im Spannungsver­ hältnis von Tradition und aktuellen Problemlagen der Zeit eingesetzt werden kann. Der Gradmesser der Bewertung dieser Zeitdiagnostiken scheint für Benjamin dabei darin zu liegen, was überhaupt als symptomatisches Problem der Zeit erkannt wird: Der Mangel an Einheitserlebnissen (Wohlbold) oder an Differenzerfahrungen (Friedlaender). Dieser Gegensatz von Einheitserlebnis und Differenzerfahrung bildet unter rezeptionsgeschichtlichen Vorzeichen dann auch den dritten Gesichts­ punkt, unter dem Benjamin das Wohlbold-Zitat kritisch in seiner Rezension perspektiviert. Benjamins Kritik an diesem Erlebnisbegriff bei Wohlbold richtet sich vor allem auf das damit zusammenhängende problematische Bestreben nach einem synthetischen Weltbild, an dem sich bereits zeigen ließ, dass der Grundimpuls der Neuausgabe der Farbenlehre im Horizont einer um 1900 einsetzenden Rezeptionsgeschichte steht, die aus Goethes naturwissenschaftlichen Studien das Versprechen einer ganzheitlichen Welt­ anschauung abzuleiten suchte. Diesem Erlebnisbegriff eigne, so Benjamin, insbesondere ein problematischer Verdrängungsmechanismus, durch den einer kritischen Erfahrung mit der Gegenwart ausgewichen werde. In Kontrast dazu hebt Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire anhand von Proust und Baudelaire zwei Schreibstrategien hervor, die ihr Schreiben explizit darauf reflektieren, wie einerseits eine andere, plötzliche Erfahrung mit der Vergangenheit (Proust) und andererseits eine kritische ‚Chockerfahrung‘ mit

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der eigenen Gegenwart (Baudelaire) möglich ist. Anhand von Friedlaenders 14. Skizze aus der Schöpferischen Indifferenz, aus der Benjamin das Zitat für seine Rezension entnimmt, lässt sich hier eine dritte Schreibstrategie ausweisen, die diesmal eine kritische Erfahrung mit der Gegenwart erprobt, indem sie diese Gegenwartserfahrung explizit von der Frage nach der Aktualität der Tradition am „Beispiel“ (F/M 10, 409) von Goethes polaren Grundgedanken aus forciert. Es ist davon auszugehen, dass Benjamin diese Schreibstrategie (mit)evoziert, schließlich hängt die von Benjamin in seiner Rezension gegen Wohlbold in Anschlag gebrachte Argumentation Friedlaenders aus der direkt zitierten Passage ganz unmittelbar an dieser Schreibstrategie. Genau genommen handelt es sich aber gar nicht nur um eine Schreib­ strategie, sondern um ein verschachteltes Verfahren, das auf zwei miteinander verbundene Ebenen auf je spezifische Weise die rhetorische Figur der Prosopopöie nutzt, um aus der naturwissenschaftsgeschichtlichen Streitfrage über die physikalische Bestimmung der Farben das grundsätzliche „Symptom eines Streits aller Weltanschauungen“ (F/M 2, 304) abzulesen. Dieses Ver­ fahren konnte in ähnlicher Weise bereits anhand von Friedlaenders MayerBiographie beobachtet werden, in der es ebenfalls darum ging, ‚interdiskursive‘ Übertragungsmöglichkeiten von Denkfiguren zu erproben. (vgl. Kap.  3.1) In der hier betreffenden 14. Skizze Farbe aus der Schöpferischen Indifferenz zielen beide Schreibstrategien darauf, den Streitfall Goethe/Newton auf seine Bedeutung für gegenwärtige Debatten zu prüfen. Auf der ersten Ebene löst Friedlaender den historischen Streit zwischen Goethe und Newton zunächst aus dem engen naturwissenschaftsgeschichtlichen Kontext heraus und inszeniert den Konflikt stattdessen in Form eines theatralen Agons, um diesem anschließend eine symbolische Bedeutung für die Gegenwart abzugewinnen: „Die Streitfrage Newton/Goethe ist, symbolisch gewertet, keine Bagatelle, – sie stellt unsere Kultur insgesamt vor eine Alternative: entweder ist unser Leben eine Rechnung mit gleichartigen oder mit entgegengesetzten Größen.“ (F/M 3, 855) In dieser symbolischen Interpretation werden Goethe und Newton zu Personifikationen zweier Denktypen – „Goethe, als Polarist, gegen Newton, den ‚Unitarier‘“ (F/M 10, 463) –, deren Gegensätzlichkeit weit über eine rein naturwissenschaftliche Bewertung eines historischen Streitfalls hinausragt. Die Unterscheidung des ‚Polaristen‘ und des ‚Unitariers‘ erhält ihre Relevanz bei Friedlaender im unterschiedlichen Umgang mit jenen für die Moderne konstitutiven Spannungen, die er 1923 in einem Aufsatz unter dem Titel Philosophie der Gegenwart. Diagnostisch-prognostische Kritik folgendermaßen beschreibt:

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Kapitel 4 „[…] wie seit alters, so auch heutzutage spielt sich der philosophische Kampf im ganzen und großen zwischen zwei Gegnern ab: Natur und Geist. Im Laufe der Zeiten geben sich die Duellanten andere Namen: Materialismus gegen Spiritualismus; Realismus gegen Idealismus; Empirismus gegen Apriorismus; Pragmatismus gegen Moralismus; Positivismus gegen Metaphysik; Naturalismus gegen Konstruktivismus… .. Diese modernen Schlagworte bezeichnen die alten Parteien, die einander entweder skeptisch zerfleischen oder sich zu irgendeinem friedlichen Kontrakte zwingen.“ (F/M 3, 718)

Friedlaenders Erkenntnisinteresse richtet sich nicht darauf, welche ‚Partei‘ im Recht ist. Diese Frage führe nur in eine der beiden Aporien von entweder eines rein destruktiven Skeptizismus oder einer scheinhaften Versöhnung. Mit dem Einsatz polarer Denkfiguren zielt Friedlaender vielmehr auf eine Perspektive, die die Momente nicht ineinander aufgehen lässt, sondern in der polaren Spannung die „echte[…] Gegenseitigkeit aller Beziehungen“ (F/M 10, 278) herausarbeitet, um aus dieser spannungsgeladenen Konfrontation allererst eine ‚diagnostisch-prognostische‘ Kritik der Gegenwart entfalten zu können. Dieses Denken in polaren Spannungen sieht Friedlaender nicht im Denk­ typus des ‚newtonischen Unitariers‘, sondern im polaren Grundgedanken von Goethes Farbenlehre vorbereitet. Friedlaender attestiert der modernen Naturwissenschaft einen „flache[n] Monismus“ (F/M 10, 268) und stellt ihr Goethe als Stellvertreter eines „polaristischen Monismus“ (ebd.) entgegen, der nicht alles von einem Phänomen (hier: dem weißen Licht) ableitet, sondern am Beispiel des Wider­ streits von Licht und Finsternis mit zwei polaren Größen rechnet. Damit setzt Friedlaender den polaren Grundgedanken der Farbenlehre in das Zentrum seiner zeitdiagnostischen Aktualisierungsbemühungen. Bei Wohlbold hin­ gegen sind Polaritäten zwar sowohl in der „Farbenwelt“ als auch im „Seelen­ leben“ „durchaus reale Tatsachen“117, die unmittelbar im Lektüreerlebnis für die Gegenwart geltend gemacht werden können, anderseits wurde aber bereits dargelegt, dass die Polaritäten etwa von „Idealismus und Realismus, Geist und Natur, Mensch und Welt“118 bei Wohlbold nur den Charakter eines Zwischen­ stadiums hin zum Erlebnis einer höheren Einheit haben. Wohlbold attestiert der Gegenwart ein mangelndes Synthesebestreben. Goethe sei hingegen ein „Monist“119, der „Alchimie, Naturverwandlung und Vergeistigung“120 zu einem einheitlichen Weltbild zusammenfüge und so zum Gegenspieler einer orien­ tierungslosen, ausdifferenzierten Moderne werde. Den Steigerungsgedanken, 117 118 119 120

Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 112. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28.

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ohne dessen ideologische Umdeutung Wohlbolds Bemühungen um ein neues synthetisches Weltbild nicht auskommt, lehnt Friedlaender indes recht ent­ schieden ab: „Goethe nennt außer Polarität noch Steigerung als das mächtige Triebrad des Geschehens. Das beweist aber nur, daß er selbst noch Steigerung nur ein- und halbseitig verstand, sonst hätte er es bei der Polarität bewenden lassen […]“. (ebd., 464) Im Steigerungsgedanken vernimmt Friedlaender einen Rückfall in eine „einseitige Betrachtungsweise“ (ebd., 482), die Gefahr laufe, die Gegenseitigkeit polarer Spannungsbeziehungen zugunsten einer proble­ matischen Tendenz hin zu einer „falschen Einheit“ (ebd., 246) aufzuheben. Hinsichtlich der Ablehnung dieses Steigerungsgedankens bleibt allerdings unklar, ob Friedlaender die von ihm damit identifizierte problematische Synthesetendenz tatsächlich bereits bei Goethe selbst ausmacht. Friedlaender hat sich intensiv und nahezu durchgängig mit Goethe beschäftigt. Ihm war bewusst, dass Goethe mit der Idee der Steigerung keineswegs jene Formen der Synthese im Blick hatte, die er selbst an Wohlbolds Einleitung kritisiert, sondern vielmehr eine fortwährende Dynamik der Natur als solche adressierte. Es ist daher anzunehmen, dass Friedlaenders entschiedene Absage an Goethes Steigerungsgedanken weit eher bereits eine Reaktion auf jene um 1900 ein­ setzende prominente Rezeptionslinie darstellt, die durch Wohlbold stell­ vertretend repräsentiert wird und die aus Goethes naturwissenschaftlichen Studien das Versprechen einer ganzheitlichen Weltanschauung ableitet. Hier­ gegen richtet sich schließlich auch Friedlaenders Argumentation. Denn, so Friedlaender, durch die durchgängige Konzeption einer „optische[n] Polarität“ sei Goethe allererst „zum symbolischen Vorbilde“ (F/M 3, 856) für eine moderne aisthetische Konfiguration geworden, die sich mehr noch als in seinen Dichtungen in seinen naturwissenschaftlichen Studien realisiert: „Goethe’s Farbenlehre halte ich für fruchtbarer als seinen ‚Faust‘. Wer das Grund-Apercü versteht, bekommt ganz buchstäblich ein beßres Auge! […] An ihr werden Sie auch lernen, daß erst polarische Wahrnehmung in der That Wahrnehmung ist!“ (F/M 24, 349) Als „polare Perspektive“ (F/M 10, 433) wird diese aisthetische Konfiguration zum Vorbild für Friedlaenders eigene Schreibweise in der Schöpferischen Indifferenz. Diese zweite, programmatische Ebene der ‚prosopopöischen‘ Schreib­ weise, die die Vorbildhaftigkeit Goethes betrifft, kündigt sich in dem Motto an, das der 14. Skizze vorangestellt ist: „Error veritate simplicior“ (ebd., 409). Friedlaender verweist mit dieser häufiger von ihm gebrauchten Sentenz auf Nietzsche.121 In den nachgelassenen Aufzeichnungen Nietzsches findet sich etwa eine Notiz vom Sommer 1883, in der es heißt: „Daß die Wahrheit einfach 121 Vgl. auch F/M 2, 524; F/M 6, 80, 211; F/M 11, 361; F/M 22, 440.

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ist, behauptet der Irrthum. error veritate simplicior“122. Friedlaender nimmt hierauf beispielsweise in seinem Text Das Prisma und Goethes Farbenlehre von 1917 Bezug und betont, dass „Revolution[en] des Wissens“ (F/M 2 527) wie die­ jenige durch Goethes Farbenlehre „gern qualvoll lange verleugnet […] werden.“ (ebd.) Aus dem hier an das Nietzsche-Zitat gebundenen Optimismus, wonach mit den Irrtümern dereinst aufgeräumt werden kann, bleibt späterhin in seiner Wohlbold-Rezension nur die nüchterne Feststellung übrig: „Na, solange es nicht auf Wahrheit ankommt, kann man was man will.“ (F/M 3, 821) Daher schwankt das Ende der Rezension auch zwischen stoischer Gelassenheit und einer resignativen Haltung, die in Einsteins Relativitätstheorie bereits jene Diskursposition besetzt sieht, die eigentlich dem bei Goethe vorbereiteten polaren Denken gebühre: „Erkannt wird Wahrheit wohl hie und da. Jedoch die Anerkennung muß sie ihren modernen relativistischen Surrogaten getrost überlassen …“ (ebd.). In Bezug auf die ‚prosopopöische‘ Schreibweise der 14. Skizze liegt ein Ver­ weis auf eine andere Stelle bei Nietzsche jedoch noch näher. Es handelt sich dabei um den 168. Aphorismus der Morgenröthe, der den Titel E i n Vo r b i l d trägt.123 Das ‚Vorbild‘, das Nietzsche mehrmals aufruft, ist der Geschichts­ schreiber Thukydides, mit dem er sich intensiv beschäftigt hat und von dem er an anderer Stelle betont: „Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides.“124 Thukydides sei gerade „inmitten des eben allwärts losbrechenden Moral- und Ideal­ schwindels der sokratischen Schulen“ der letzte große Stellvertreter einer „Realisten-Cultur“125, die nicht wie Platon „in’s Ideal [flüchtet]“126. Nietzsche baut zwischen Thukydides und Platon einen mehrfachen Gegensatz auf, der letztlich auf eine kritische Perspektive der Geschichte des abendländischen Denkens zuläuft: Jene „Realisten-Cultur“ der Sophisten und Thukydides sei das

122 Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1882-1884. In ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 10, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 397. 123 Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. In ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 9-331, hier: S. 150-151. 124 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 6, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S.  56-161, hier: S.  156. Vgl. hierzu insgesamt auch Andrea Orsucci: Antike, griechisch. In: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 565-379, insb.: S. 370-371. 125 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 156. 126 Ebd.

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„Ideal des Freigeist-Sophisten“127, der gegenüber Platon, dem „Verlästerer und Verkleinerer der Menschen“128, gerade dadurch der „vollkommene[…] Ausfluss der s o p h i s t i s c h e n Bildung“129 gewesen sei, weil er „etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein[sieht] und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht“130. Diese „Cultur der unbefangensten Weltkenntniss“131 habe ihren Namen aber erst im Zuge ihrer philosophischen Degradierung durch Platon erhalten. Die Philosophiegeschichte und damit auch das Selbstverständnis der abendländischen Rationalität habe daher, so könnte man Nietzsches weitere Argumentation zusammenfassen, die Position Platons übernommen und damit die Sophisten immer nur von Platons Kritik her rezipiert. Ein ähnliches Argument setzt Friedlaender immer dort ein, wo er den Streitfall Goethe/ Newton verhandelt. Die platonische Tradition sei, so Nietzsche weiter, so wirk­ mächtig geworden, dass das sophistische Philosophieren fortan als eine sehr unvernünftige, mithin als „eine sehr unsittliche Cultur“132 erschien. Nietzsche hält jedoch an dieser Geschichte fest: „Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!“133 Auch wenn er die „Wahrheit“ anschließend nicht ‚aufdröselt‘, so zielt Nietzsche mit dem Titel E i n Vo r b i l d darauf, dass mit Thukydides auch gegenwärtig noch eine andere Geschichts­ schreibung möglich wäre, die nicht der platonischen Ideenlehre folgt. Diese Möglichkeit bindet er insbesondere an eine Perspektive auf die Kultur selbst, die sich mit der kritischen ‚Bildung von Typen‘ beschäftigt. Indem Friedlaender seiner Farben-Skizze das genannte Nietzsche-Motto voranstellt, scheint er auf dieses von Nietzsche angeführte gegengeschichtsphilosophische Argument zu rekurrieren, um es sowohl auf die Gegenüberstellung von Newton und Goethe als auch auf den Gegensatz unterschiedlicher Goethe-Rezeptionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts umzulegen. Zum einen bildet er, wie Nietzsche, der sich die Maske des Thukydides aufsetzt, um eine andere Geschichte der Philosophie zu erzählen, aus dem Streit zwischen Goethe und Newton zwei unterschied­ liche Denktypen. Zum zweiten dient ihm Goethe wiederum, wie Thukydides bereits Nietzsche, als Vorbild, nicht um eine Entscheidung zwischen den Typen

127 Friedrich Nietzsche: Nachlaß 1875-1878. In ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 8, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 347. 128 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, S. 151. 129 Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1875-1878, S. 558. 130 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, S. 151. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd.

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direkt zu treffen, sondern sie mittels des polaren Grundgedankens Goethes in ihrer polaren Gegensätzlichkeit überhaupt erst erkennbar zu machen. Vor dem Hintergrund dieser mehrstelligen ‚prosopopöischen‘ Schreib­ weise, die ein von Friedlaender inszeniertes Maskenspiel ist, bekommt seine Rede von Goethe als „Beispiel“ (F/M 10, 409) eine weitere Dimension, die den programmatischen Charakter der Gesamtkonzeption der Schöpferischen Indifferenz betrifft. Hier kommt das von Friedlaender aufgerufene Bild vom Trojanischen Pferd ins Spiel, mit dem Benjamins Rezension recht unvermittelt endet. Anders als Wohlbold, der an die Vorstellung einer ideologischen Wach­ ablösung der vorherrschenden Naturwissenschaften durch die Farbenlehre das Pathos einer Rettung vor dem „Zusammenbruch der abendländischen Kultur“134 bindet, scheint das Bild vom Trojanischen Pferd nicht direkt auf die offene Austragung von „Weltanschauungsgegensätze[n]“135 zuzulaufen. Vielmehr geht es Friedlaender, wie bereits weiter oben angedeutet, um eine Art ‚listige Aktualisierung‘. Wenn nämlich „[k]ein Goethe“ mehr „die Physiker hinterm Newtonischen Ofen hervorlocken“ (F/M 3, 821) kann, wie Friedlaender ernüchternd in seiner Wohlbold-Rezension feststellt, dann scheint der Versuch einer Aktualisierung der Farbenlehre andere Strategien zu verlangen: Analog zur griechischen Kriegslist habe sich eine an Goethes Farbenlehre orientierende Denk- und Schreibweise gewissermaßen ‚verborgen‘ in die vorherrschenden Diskurse der Zeit einzuschleichen. Dazu passt auch, dass Friedlaender an andere Stelle nicht von einem ‚diskursiven Schlüssel’ spricht, der eine neue Perspektive auf Zeitdebatten erlaubt, sondern von einem gewissermaßen ‚gegendiskursiven‘ „Dietrich zur Entriegelung aller Geheimnisse der Natur“ (ebd., 704). Was Friedlaender demnach in die vorherrschenden Diskurse ‚listig‘ einzuspeisen versucht, ist die Polarität selbst als ein Deutungsinstrument, das allerdings über die rein farbentheoretischen Zusammenhänge bereits hinaus­ weist und auf ihre zeitdiagnostische Funktionalisierung bezogen ist. Goethe ist damit, anders als bei Wohlbold, kein überhistorisch gültiges ‚Vorbild‘. Mit der ‚Schreibmaske Goethe‘ ist diese vorbildhafte Aktualität allererst zu beweisen. Die ‚verdeckte‘ diskursstrategische Intervention, gleichsam das Trojanische Pferd, ist daher letztlich auch die 14. Skizze Farbe der Schöpferischen Indifferenz selbst, mithin die spezifische ‚prosopopöische‘ Schreibweise, die Friedlaenders Hauptwerk durchgehend bestimmt und immer wieder auch von einem ähn­ lichen Impuls getragen ist wie ihn Benjamin für das ‚Passagen-Werk‘ in Anspruch nimmt: „[…] die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren […].“ (WB V.1, 572) 134 Ebd., S. 122. 135 Ebd., 22.

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Das Kapitel Farbe, aus dem Benjamin das Zitat für seine Rezension ent­ nimmt, ist die letzte von vierzehn Skizzen, die zusammen den mittleren von drei Teilen des Werkes bilden. Die Stellung dieser 14. Skizze und damit auch die vorbildliche Rolle Goethes wird erst vor dem Hintergrund der Komposition und des Schreibstils des gesamten Werkes ersichtlich: Der erste Teil besteht aus drei Abhandlungen, die nur durchnummeriert, aber ohne Titel sind; der zweite Teil besteht aus den erwähnten vierzehn Skizzen, die beispielsweise Titel wie Dionysismus, Ethik, Frieden, Liebe, Symbolik oder eben Farbe tragen; der dritte, beinah zweihundert Seiten umfassende Teil besteht aus unter­ schiedlich langen Aphorismen. Ob Benjamin Friedlaenders Schöpferische Indifferenz systematisch studiert hat, lässt sich nicht nachweisen und darf auch zumindest bezweifelt werden.136 Neben der Lektüre der 14. Skizze, die durch die Wohlbold-Rezension belegt ist, betont Benjamin in einem Brief von 1921 gegenüber Scholem, dass er „mit Vergnügen bisher viel in den Aphorismen gelesen“ (Br II, 152) habe. Beschäftigt man sich systematisch mit Friedlaenders Hauptwerk, wird schnell deutlich, dass Benjamins selektive Lektürestrategie keineswegs einem bloß oberflächlichen Interesse geschuldet ist, sondern sich beinahe zwangsläufig aus der spezifischen Art von Friedlaenders Werk selbst ergibt. Es handelt sich auf der einen Seite um ein sehr heterogenes Werk, das – je nach Lektüreperspektive – als metaphysisches Großprojekt, expressionistisches Manifest, Essay- und Aphorismussammlung oder zeit­ diagnostische Streitschrift gelesen werden kann. Dabei stellt bereits die von Friedlaender vorangeschickte Vorrede kaum eine diskursive Einführung dar, sondern geht unmittelbar in medias res. Obwohl keine wirkliche Exposition gegeben wird und somit ein Textmassiv entsteht, dessen Argumentation eher selten über längere Stecken sukzessive entfaltet wird, lässt sich auf der anderen Seite wiederum eine Art Spiralbewegung erkennen, in der immer wieder von neuem der eine Grundgedanke der Polarität verfolgt wird. Dabei entsteht kein stringentes philosophisches System, sondern der Versuch, immer wieder erneut die Möglichkeiten einer „polare[n] Perspektive“ (F/M 10, 433) in unterschiedlichen erkenntnistheoretischen, metaphysischen, kulturellen, politischen und ästhetischen Gegenstandbereichen auszuprobieren. Statt eines aufeinander aufbauenden Werkganzen ergibt sich somit eine Schrift mit verschiedenen Plateaus polarer Schreibweisen. Friedlaenders nicht immer durch Zitate ausgewiesene Rekurse auf Heraklit, Kant, Goethe, Schopenhauer oder Nietzsche sind dabei nicht bloß legitimierende Referenzmarkierungen, sondern leiteten einen Schreibprozess an, der in einen permanenten Dialog 136 In dem Verzeichnis der gelesenen Schriften ist das Werk jedenfalls nicht aufgelistet. Nach Scholems Bericht sind dort nur Texte versammelt, die Benjamin vollständig gelesen hat.

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mit unterschiedlichen Werken und Personen tritt, um den Aktualitätswert unterschiedlicher Traditionen polarer Denkfiguren auszumessen. Insgesamt liegt mit der Schöpferischen Indifferenz ein exzessives Schreib­ experiment vor, das um den Gedanken der Polarität kreist, ihn an verschiedenen Bereichen entfaltet, dann abbricht und den Faden woanders wieder aufnimmt. Polarität ist dieser „Ariadnefaden“ (ebd., 432), an dem sich auch die Leseenden als einzige durchgängige Orientierung im Werk halten können. Dieser iterative Schreibgestus, den Friedlaender selbst als „Monotonie der Variation“ (ebd., 115) bezeichnet, hat programmatischen Charakter: Wie bereits im Kapitel über Friedlaenders Mayer-Biographie dargelegt, stellt Friedlaenders Werk den an Schopenhauer orientierten Versuch dar, aus einem einzigen Gedanken heraus zu philosophieren. Friedlaender nutzt dafür unterschiedliche ‚Schreibmasken‘, um die Variationsbreite des einen Gedankens der Polarität an verschiedenen Gegenständen und zeitaktuellen Problemen auszuprobieren. Dazu zählt auch die ‚Schreibmaske Goethe‘, deren schreibstrategischer Einsatzpunkt immer schon über den naturwissenschaftlichen Ursprungskontext hinaus auf eine kritische zeitdiagnostische Funktionalisierung weist, auf die es Benjamin in seiner Gegenüberstellung von Wohlbold und Friedlaender ankommt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Benjamin Friedlaender in Abgrenzung zur anthroposophischen Goethe-Rezeption als Repräsentanten einer funktionalen Perspektive auf den polaren Grundgedanken der Farbenlehre rezipiert. Einer solchen funktionalen Perspektive ist Benjamin auch schon in anderen Kontexten begegnet, die es nachfolgend darzustellen gilt. Dadurch lässt sich die Funktion der Friedlaender-Referenz in Benjamins Rezension noch weiter präzisieren. 4.3

„Die Polarität als Schlüssel“ für eine kritische Zeitdiagnostik (Boucke, Simmel, Friedlaender)

Friedlaenders über die farbentheoretische Streitfrage (Goethe/Newton) hinaus­ ragende zeitdiagnostische Funktionalisierung des polaren Grundgedankens Goethes hat Benjamin schon lange vor seiner Wohlbold-Rezension gekannt. Im bibliographischen Notizbuch zu seiner Dissertation führt Benjamin unter der Kategorie „Goethe“ einen Text Friedlaenders an: „S.  Friedländer – Über die Farbenlehre Almanach der Neuen Jugend 1915 7 (?)“ (WuN 3, 157). Anders als Heinrich Kaulen im Kommentarteil der Neuausgabe der Kritiken und Rezensionen annimmt, handelt es sich hierbei nicht um einen „weiteren Auf­ satz von ihm [Friedlaender, K.D.] über ‚Goethes Farbenlehre‘“ (WuN 13.2, 170), den Benjamin „[auch] kannte“ (ebd.), sondern um einen Vorabdruck, der mit

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der 14. Skizze Farbe aus der Schöpferischen Indifferenz weitestgehend identisch ist. Benjamin war mit Friedlaenders Stellung zur Farbenlehre und vor allem auch mit der spezifischen, auf eine zeitdiagnostische Funktionalisierung aus­ gerichteten Inszenierungsform des Streits Goethe/Newton demnach schon seit der Arbeit an seiner Dissertation bekannt. Hinweise auf eine Goethe-Rezeption, die sich an der Funktionalität des polaren Grundgedankens orientiert, hatte Benjamin früh aber auch abseits von Friedlaender kennengelernt. So führt Benjamin ebenfalls im bibliographischen Notizbuch zur Dis­ sertation zwei Titel von Ewald A. Boucke an (vgl. WuN 3, 158), die eine solche Perspektive nahelegen. Zum einen handelt es sich um die 1901 erschienene Studie Wort und Bedeutung in Goethes Sprache.137 In dem Kapitel Typische Anschauungsweisen listet Boucke ein „Gruppe typischer Metaphern“ auf, die „auf Naturerscheinungen zurückgehen, in denen der Dichter Symbole der geistigen Welt erblickte.“138 Diese Gruppierung folgt einer Steigerungslogik, denn die letzte Metapher von der „Systole-Diastole“ wird als „Fundamental­ begriff seiner [Goethes, K.D.] Denkweise“139 eingeführt. Boucke führt auf mehreren Seiten eine Vielzahl von Belegstellen auf und kommt zu dem Schluss, dass „der Begriff der Polarität oder des periodischen Wechsels“140 den zentralen Bewegungs- und Entwicklungsgedanken Goethes darstellt, unter dem dieser einen „Augenblick des Umschlags, gewissermassen die Peripetie“141 verstand. Wenngleich Boucke die Vorliebe Goethes für den Polaritätsgedanken hier noch vor allem von einem biographischen Argument des individuellen „periodischen Stimmungswechsels“142 begründet – eine Lesart die sich lange in der Goethe-Rezeption halten wird143 –, zeigt der Begriff der „Peripetie“ doch bereits an, dass es Boucke weniger um eine substantialistische Interpretation als vielmehr um eine im Begriff angelegte ästhetische Dramaturgie geht. Zudem ordnet Boucke Goethes polare Idiome und Redeweisen von „z. B. widerwärtig = entgegenstrebend, sonderbar = besonders, bequem = passend, gegenseitig 137 Stärker noch als in Bezug auf die Anmerkungen zur Polarität in dieser Schrift dürften Benjamin Bouckes sprachanalytischen Einlassungen interessiert haben. Es wäre hier näher zu untersuchen, in welchem Verhältnis dann Boucke zu Ernst Lewy steht, dessen sprachtheoretische Studie Benjamin sehr geschätzt hat. (vgl. Ernst Lewy: Zur Sprache des alten Goethe. Ein Versuch über die Sprache des Einzelnen [1913]. In: ders.: Kleine Schriften, hg. v. Wilhelm Wissmann. Berlin 1961, S. 91-105). 138 Ewald A. Boucke: Wort und Bedeutung in Goethes Sprache. Berlin 1901, S. 256. 139 Ebd., S. 257. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Vgl. etwa Jörn Göres: Polarität und Harmonie bei Goethe. In: Karl Otto Conrady (Hg.): Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Stuttgart 1977, S. 93-113, hier: S. 98.

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= entgegengesetzt, u.a.“144 historisch ein, indem er sie nicht ausschließlich für „Idiotismen Goethes“ hält, sondern als Begriffe, die „die Litteratursprache des 18. Jahrhunderts [repräsentieren]“145. Noch weitaus interessanter für eine funktionale Perspektive ist indes die ebenfalls von Benjamin aufgeführte Studie Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage von 1907, die den Untertitel Eine Beitrag zur Geschichte der dynamischen Denkrichtung und Gegensatzlehre trägt. Wie der Titel bereits andeutet versucht Boucke die Polarität bei Goethe hier konsequent als Begriff für eine „dynamische Anschauungsweise“146 auszuweisen; auch Boucke bemüht hier in Bezug auf die Polarität bemerkenswerterweise das Bild von einem „Zauberschlüssel“147. Zwei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben, die auch den Gegensatz zwischen Wohlbold und Friedlaender in Benjamins Rezension betreffen. Zum einen betont Boucke, dass mit einer polaren Wahr­ nehmungsweise Zusammenhänge – Boucke spricht hier auch von einem „Ganze[m]“148 – nicht von einer vorausgesetzten oder zu erreichenden Ein­ heit ausgeht, sondern Bezüge zwischen verschiedenen Phänomenen in ihrer Spannung zueinander perspektiviert werden. Wenngleich er anschließend zwar hervorhebt, dass die „Idee der Polarität […] als die prägnante Formel der dynamischen Weltanschauung“149 vor allem in „vitalistisch gefärbte[n]“150 dynamischen Betrachtungsweisen über die Idee der „Steigerung“151 und der „Stufenleiter von Organismen“152 die Möglichkeit für eine teleologische Perspektive auf einen größeren Zusammenhang einzelner Teile zu einem Ganzen bietet, ist seine Perspektivierung der Geschichte der dynamischen Betrachtungsweise doch tendenziell bereits eher von einer funktionalen Bestimmung der Polarität bestimmt. Es handle sich bei der polaren Gegensatz­ lehre, so Boucke weiter, eben vor allem um ein „Denken in Relationen“153: „nur wo Beziehungen walten, wo sich Funktionen vollziehen, wo sich reale Gegen­ sätze herausfordern, kann von Trieb, Zweck und Ordnung die Rede sein.“154 Zu dieser funktionalen Bestimmung der Polarität bei Goethe tritt zweitens 144 Ewald A. Boucke, Wort und Bedeutung in Goethes Sprache, S. 3. 145 Ebd. 146 Ewald  A.  Boucke: Goethes Weltanschauung auf historischer Grundlage. Ein Beitrag zur Geschichte der dynamischen Denkrichtung und Gegensatzlehre. Stuttgart 1907, S. 4. 147 Ebd., S. 16. 148 Ebd., S. 5. 149 Ebd., S. 6. 150 Ebd. 151 Ebd., S. 7. 152 Ebd., S. 6. 153 Ebd., S. 15. 154 Ebd.

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eine historische Dimension hinzu, die Boucke bereits in seiner Studie Wort und Bedeutung in Goethes Sprache für das 18. Jahrhundert geltend gemacht hatte und die nun in seiner Untersuchung der Geschichte der dynamischen Denkrichtung bis Heraklit zurückgeführt wird. Diese Einordnung dient Boucke dazu, die Polarität als Grundlage dynamischer Wahrnehmungsweisen von vornherein nicht einer Disziplin zuschreiben zu müssen. Im Gegenteil: Die Geschichte des Polaritätsdenkens zeigt, so Bouckes Grundannahme, dass polare Denk- und Wahrnehmungsweisen immer schon im Grenzbereich aus „Ethik“155, „Kunsttheorie“156 und „Logik“157 angesiedelt sind. Vor dem Hinter­ grund dieser konstitutiven diskursiven Zirkulation zieht Boucke in Bezug auf Goethes Umgang mit der Polarität den Schluss, dass von einer einheitlichen Systematik nicht ausgegangen werden könne. Anders als Wohlbold, der aus Goethes Polaritäts- und Steigerungsgedanken eine geschlossene Weltan­ schauung in Opposition zur modernen Naturwissenschaft macht, fasst Boucke hingegen die Polarität als Grundelement eines variablen (un-)systematischen Denkens, das vor allem vom ‚praktischen Gebrauchscharakter‘ ausgeht.158 Dieser vor allem praktische Geltungsbereich der Polarität als Wahrnehmungs­ weise an unterschiedlichen diskursiven Schnittstellen teilen sowohl Benjamin als auch Friedlaender. Während Boucke allerdings diese interdiskursive Dynamik der Polarität als solcher in Goethes Ästhetik letztlich doch noch abfängt, indem er in der „produktive[n] Künstlerschaft“ „[d]ie schönste Gewähr des synthetischen Bewußtseins eines Weltzusammenhanges“159 sieht, heben Benjamin und Friedlaender die interdiskursive Anlage der Polarität vor allem im Grenz­ bereich aus Kunst und Wissenschaft hervor, die letztlich auch ihrer eigenen zeitdiagnostischen Funktionalisierung im Schnittfeld aus Erkenntniskritik, Politik und Ästhetik zugrunde liegt. So leitet Benjamin die Darstellung der Metamorphosenlehre und des Polaritätsgedankens im EnzyklopädieArtikel damit ein, dass Goethe „zur Familie jener großen Geister [gehört], für welche es im Grunde eine Kunst im abgezogenen Sinne nicht gab.“ (WB II.2, 720) Es ist kein Zufall, wenn Benjamin etwa zur gleichen Zeit in einem seiner intellektuellen Lebensläufe resümiert, dass seine „bisherigen Versuche bemüht [sind], den Weg zum Kunstwerk durch Zertrümmerung der Lehre vom Gebietscharakter der Kunst zu bahnen.“ (WB VI, 218f.) Dass es sich bei 155 156 157 158 159

Ebd., S. 5. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 185. Ebd., S. 193.

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den Aussagen über den Zusammenhang von Kunst und Naturstudien im Enzyklopädie-Artikel und denjenigen über die „Zertrümmerung der Lehre vom Gebietscharakter“ um mehr als nur ein fernes Echo handelt, sondern womöglich ebenfalls eine Strategie der Prosopopöie anzeigt, ist in der Suche nach einer materialistischen Schreibweise begründet, die Benjamin – trotz des Unverständnisses, mit dem sowohl die sowjetischen Kulturbeamten als auch Scholem der Konzeption begegneten – im Enzyklopädie-Artikel aus­ probiert. Dabei ist es für diese Erprobung einer materialistischen Schreibweise bezeichnend, dass Benjamin den von ihm anvisierten „Integrationsprozeß der Wissenschaft, der mehr und mehr die Scheidewände zwischen den Disciplinen wie sie den Wissenschaftsbegriff des vorigen Jahrhunderts kennzeichnen, niederlegt“ (ebd., 219) im Goethe-Artikel (neben der Metamorphosenlehre) vor allem über die Bedeutung der Polarität begründet. Die Bedeutung der Polarität als Gedanke, der Goethes „ganzes Forschen durchzieht“ (WB II.2, 721) besteht in ihrer integralen Analogisierbarkeit. Das zeigt sich im Enzyklopädie-Artikel an späterer Stelle ganz praktisch darin, dass Benjamin den Begriff der Polari­ tät nutzt, um einerseits Goethes Verhältnis zu unterschiedlichen Zeitgenossen zu beschreiben und um andererseits die dramatischen Figuren-Konzeptionen in Goethes Werken zu betonen. Auch Friedlaender stützt seinen Grundsatz der ‚unerschöpflichen Analogisierbarkeit‘ (vgl. F/M 10, 142) der Polarität, wie wir bereits im Kapitel über seine Mayer-Biographie sehen konnten, auf Goethes Reflexionen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft: „Die polare Gestaltung ist eigentlich das, was einmal Kunst und Wissenschaft (wie vor­ spielerisch im Fall Goethe) prinzipiell parallelisieren wird. Kunst ist Intuition des selben Gesetzes, das von der Wissenschaft reflektierend dargestellt wird.“ (F/M 24, 556) Wenngleich Boucke die Stellung der Polarität an den diskursiven Schnitt­ stellen zwischen epistemologischen, politischen und ästhetischen Frage­ stellungen letztlich in einer ästhetischen Synthesebildung aufhebt, konnte Benjamin hier dennoch bereits früh zumindest Elemente einer funktionalen Perspektivierung entdecken. Dieser auch in der Goethe-Forschung lange Zeit eher marginalen funktionalen Rezeptionslinie, hat sich in den letzten Jahre Eva Geulen in mehreren Arbeiten gewidmet. Geulen stellt von einer problemgeschichtlichen Doppelperspektive aus die grundsätzliche Frage, warum und wie um 1900 eine „multidisziplinäre[…] Bemühung um Goethes Metamorphosenlehre“160 stattfand. Dabei widerspricht Geulen erstens der 160 Eva Geulen: Metamorphose der Metamorphose. Goethe, Cassirer, Blumenberg. In: Alexandra Kleihues/Barbara Naumann/Edgar Pankow (Hg.): Intermedien. Zur Kulturellen und artistischen Übertragung. Zürich 2010, S.  203-217, hier: S.  203. Geulen spricht an

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gängigen Forschungsmeinung, wonach Goethes Naturstudien ausschließ­ lich in einer Art Kompensationslogik „gegen moderne Krisenerfahrungen der Beschleunigung und Ausdifferenzierung mobilisiert wurde[n]“161, die sich vor allem am Goethe’schen Gestaltbegriff orientierte. Dieser Rezeptionslinie stellt sie etwa am Beispiel Ernst Cassirers oder Max Benses eine andere Rezeptions­ form gegenüber, die nicht im Horizont einer „vitalistischen Umdeutung der Goetheschen Metamorphosenlehre“162 steht, sondern auf eine „spezifische Modernität der Lehre“163 insistiert. Daran anschließend und zweitens unter­ nimmt sie eine Re-Lektüre der morphologischen Hefte, die nach Anhalts­ punkten für eine solche moderne Auslegung in Goethes Naturforschung sucht. Statt vom unterstellten „Motiv der Ganzheitlichkeit“ nimmt Geulens Deutung ihren Ausgangspunkt von der Tatsache, dass Goethe den Gestaltbegriff gleich zu Beginn der morphologischen Schriften verwirft, was die Rezeption im Rahmen eines „ganzheitlichen Paradigmas“164 fragwürdig erscheinen lässt. Statt der Prinzipien von Synthese, Einheit und Ganzheit durchziehe die Hefte das „Motiv der losen Versammlung“165, das auf eine Tendenz zur „Funktionalisierung des Formbegriffs“ und „seiner Prozessualisierung“ hinaus­ laufe.166 Dies macht Geulen inhaltlich an der für einen ganzheitlichen Gestalt­ begriff provokativen „Versatilität der Nager“167 und auf formaler Ebene an

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anderer Stelle auch davon, dass sich ihr „eigene[s] Interesse […] längerfristig auf das Nachleben der Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts richtet“. (Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager. Berlin 2016, S. 16). Eva Geulen, Metamorphose der Metamorphose. Goethe, Cassirer, Blumenberg, S. 204. Im Zusammenhang heißt es hier: „Was wurde da eigentlich rezipiert, gedeutet oder auch umgedeutet? Die übliche Antwort lautet, dass Goethes vormoderne, weil ganzheitlich und im kantischen Sinne teleologisch orientierte Naturforschung auf dem Hintergrund der Wilhelminischen Ära grassierenden Goethe-Verehrung Leitfunktion übernehmen konnte und sein Natur- und Forschungsverständnis kompensatorisch, apotropäisch gegen moderne Krisenerfahrungen der Beschleunigung und Ausdifferenzierung mobilisiert wurde.“ (ebd.). Ebd. Ebd. Ebd., S. 205. Eva Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 61. Ebd., S. 32. Damit ist bei Geulen der Versuch verbunden, den Prozess der Emanzipation der Form aus ihrer hylomorphistischen Tradition, in der die Form sekundär gegen­ über einer primären Substanz ist, zurückzudatieren auf die Zeit um 1800. Wo dieser Emanzipationsprozess meist mit Cassirers Schrift zum Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) verbunden wird, könne anhand von Goethes morphologischen Heften der Versuch einer Neujustierung der „Geschichte des Formdenkens“ (ebd., S. 14) einsetzen. Ebd., S. 42.

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dem nurmehr losen Arrangement der Hefte fest.168 Das „Schlüsselwort der Hefte-Morphologie“169 laute dabei „[s]chwanken“170. Wenngleich das ‚Schwanken‘ einerseits durch Konnotationen wie „Unbegreifliches, Unerforsch­ liches“ Beziehungen zum „Urphänomen und Symbol“ unterhält und anderer­ seits durch seine groteske Form auf Elemente des „Dämonischen“171 weise, liege das ‚Schwanken‘, so Geulen weiter, letztlich „unterhalb der Schwelle begrifflicher oder auch nur quasibegrifflicher Konsistenz.“172 Das Schwanken bezeichne eher einen „gleichsam vorförmigen Aggregatzustand“173, eine „Unform“174, die Projekte der Ordnung und Klassifikation entschieden gefährde. Mit Bildern wie demjenigen eines „‚Schaukelsystem[s]‘“175 oder eines gleichmäßigen Pendel­ schlags versuche Goethe dabei, so Geulen weiter, diese Gefahren einer nicht mehr durch Typenbildungen einzuholenden Schwankungsbreite zwischen Formspezifikationen und -modifikationen einerseits und der Entformung und Entstaltung andererseits zu ‚bannen‘176 – Geulen spricht hier auch von ernstzunehmenden „Widersprüche[n] bei Goethe“177. Eine wesentliche Strategie Goethes bestehe hier darin, „das unstete Schwanken in eine Form intellektueller Anschauung zu überführen“178. Dafür biete Goethe eine ganze Reihe von Begriffen, Anschauungsweisen, Bildern und Symbolen auf, die Geulen als „Goethes Privattopik“179 bezeichnet. Mit dem Bild von der „ewige[n] Systole und Diastole“180 ordnet Geulen in die Reihe dieser ‚privattopischen 168 Das „Postulat“ der „Totalität des Ganzen“ bleibe zwar, so Geulen, weiterhin „unverzichtbar“ auch für die Hefte, allerdings nur noch als Triebfeder weiterer Reihenbildungsprozesse. (vgl. ebd., S.  116.) Weiter heißt es hier: „Die Funktion der Reihe besteht deshalb darin, den isolierten und grundsätzlich partiellen Charakter aller Erfahrungen, aller Versuche und allen Versuchens systematisch so zu vermannigfaltigen, dass die Herrschaft von der zu lustvoll-voreiligen Syntheseleistungen neigenden Vorstellungs- und Einbildungskraft mindestens vorläufig sistiert wird.“ (ebd.). 169 Ebd., S. 65. Vgl. auch Eva Geulen, Metamorphose der Metamorphose, S. 207. 170 Eva Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 65. 171 Ebd. 172 Ebd., S. 66. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 Eva Geulen, Metamorphose der Metamorphose, S. 207. 176 Ebd. 177 Eva Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 33. Allerdings betont Geulen mit Nachdruck, dass es nicht darum gehen könne, solche Widersprüche und Ambivalenzen erneut bloß zu identifizieren, sondern nachzuweisen, „dass Goethe Widersprüche und Ambivalenzen sehr wohl im Blick hatte und schließlich Formen, Darstellungs-, Anordnungs- und Aus­ drucksformen fand, sie produktiv zu machen.“ (ebd., S. 46). 178 Eva Geulen, Metamorphose der Metamorphose, S. 207. 179 Eva Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 33. 180 Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 239.

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Bannformeln‘ auch das Bild- und Anschauungsrepertoire der Polarität ein. Für einen modernen funktionalen, entsubstantialisierten Formbegriff stelle diese „Privattopik“ allerdings „kein Schlüssel zum Problem, sondern selbst das Problem“181 dar. Denn u.a. die Polarität überführe die erkenntnistheoretisch problematische Frage, ob Ordnungen, Gesetzmäßigkeiten und systematische Zusammenhänge ideell zu konstruieren oder empirische zu beobachten sein, bloß in eine „Ersatz- oder Quasimethode. (Im Goethevokabular stehen dafür u.a. Systole und Diastole bereit.)“182 Müsste vor dem Hintergrund der Moderni­ tät der Hefte die Polarität dann schließlich als eine (vormoderne) Denkfigur der Komplexitätsreduzierung ausgewiesen werden? Weicht Polarität der vor allem als Darstellungsproblem virulenten Frage nach einer „nicht auf Einheit reduzible[n] Pluralität“183 aus? Vor dem Hintergrund des an verschiedenen historischen Stationen dar­ gelegten Zusammenspiels aus aktualistischen Einsatz und rekursiver Imagi­ nationen lässt sich zunächst festhalten, dass in Bezug auf Benjamin und Friedlaender zwei Denk- und Schreibprojekte, die kaum im Verdacht stehen, eine besondere Affinität für (vormoderne) Ganzheitlichkeits-, Einheits- oder gar Substanzfiguren zu hegen, explizit auf Goethes polaren Grundgedanken aus der Farbenlehre als heuristischer Katalysator für ein strikt auf die Gegen­ wart ausgerichtetes Erkenntnisinteresse zurückgreifen. Damit wird gerade die von Geulen bezeichnete „Privattopik“ Goethes zum Schauplatz einer zeitdiagnostischen Funktionalisierung. Für diese spezifische „Umfunktionierung“ (WB VI, 182) der Polarität spielen die Arbeiten Georg Simmels sowohl für Benjamin als auch für Friedlaender eine bedeutende Rolle. Benjamin betont in seiner Wohlbold-Rezension, dass Simmel bereits „tiefe Blicke“ in die Zentralstellung der Farbenlehre „getan“ (WB III, 150) habe. Im Rahmen seiner Sammelrezension zu Hundert Jahre Schrifttum zu Goethe von 1932 betont Benjamin zudem, dass Simmels Studie Goethe von 1912 nach wie vor die „spannungsreichste und für den Denker spannendste Darstellung“ (WB III, 339) gefunden habe, weil sich dort „die wertvollsten Hinweise auf deren dialektische Struktur“ (ebd.) entdecken ließen. Und im ‚Passagen-Werk‘ rekapituliert Benjamin anhand der „Simmelschen Darstellung von Goethes Wahrheitsbegriff“, dass sein eigener „Begriff des Ursprungs im Trauerspielbuch eine strenge und zwingende Übertragung dieses goetheschen Grundbegriffs aus dem Bereich der Natur in den der Geschichte“ (WB V.1, 577) gewesen sei. Auch in Friedlaenders intellektuellem Werdegang spielt Simmel eine 181 Eva Geulen, Metamorphose der Metamorphose, S. 208. 182 Eva Geulen, Aus dem Leben der Form, S. 79. 183 Ebd., S. 60.

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Kapitel 4

gewichtige Rolle. Er stand lange auch in persönlichem Kontakt mit Simmel, der durch persönliches Engagement wesentlich die Erscheinung von Friedlaenders Nietzsche-Biographie befördert hatte und sich auch späterhin etwa in Bezug auf die Publikation der Schöpferischen Indifferenz für Friedlaender einsetzte. Simmel selbst wiederum hat offenbar vor allem Friedlaenders Arbeiten über Goethe besonders geschätzt, berichtet doch Gertrud Simmel in einem Brief an Friedlaender, dass ihr Ehemann einen Aufsatz von Friedlaender über Goethe in seine „Goethe-Ausgabe [legte], die er immer benutzte, weil er diesen Auf­ satz auf das Höchste schätzte“ (F/M 24, 639).184 In diesem Dreieck Benjamin – Friedlaender – Simmel lässt sich auch die Rolle bestimmen, die Simmel, mitunter vermittelt über Friedlaender, in Benjamins Werk einnimmt. Denn es ist davon auszugehen, dass Simmels Arbeiten über Goethe für Benjamins und Friedlaenders Bemühungen um eine kritische Gegenwartserkenntnis gerade dadurch eine Art von ‚Scharnier­ funktion‘ in Bezug auf die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denk­ figuren einnehmen, dass sich an diesen Arbeiten in besonders eindrücklicher Weise die Ambivalenz der Goethe-Rezeption um 1900 manifestiert. Das wird besonders dort deutlich, wo sich Simmel selbst explizit um die zeitaktuelle Bedeutung Goethes, insbesondere aber der Polarität als spezifische gegen­ wartsbezogene Erkenntnisform bemüht. Bereits in seinem Goethe-Buch von 1913 hatte Simmel die Polarität als das zentrale „Lebensprinzip“ und als „künstlerisches Organisationsprinzip“185 bei Goethe ausgewiesen. Nach Goethe, so Simmel, leben „[a]lle Dinge […] in einer unaufhörlichen Entzweiung mit sich selbst und mit anderen, die sich unauf­ hörlich versöhnt, um sich wieder zu spalten […].“186 Folgt man Simmels ein Jahr zuvor in der Vossischen Zeitung publizierten Artikel über Polarität und Gleichgewicht bei Goethe (1912) scheint die Einsicht in die Zentralstellung der Polarität in Goethes Werk noch keine Trivialität zu sein. Simmel betont, dass Goethe „das Bild des Daseins nach einer Reihe von Maximen“ geformt

184 Der Brief ist ein Dankesschreiben für Friedlaenders vorausgehendes Kondolenzschreiben an Gertrud Simmel zu Georg Simmels Tod. In Gertrud Simmels Brief heißt es zudem: „Ich danke Ihnen auf das Wärmste für Ihre Zeilen. Der Dank kommt aus einem Haus, in dem Ihre Werke verehrt werden, die Nietzsche-Biographie, die Vorrede zum Jean Paul […]. […] Ich empfinde Ihre Zeilen besonders warm, weil mein Mann oft und mit Lebhaftigkeit von Ihnen gesprochen hat.“ (F/M 24, 639). 185 Georg Simmel: Goethe. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 15, hg. v. Uta Kösser/Hans-Martin Kruckis/Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 2003, S. 7-270, hier: S. 94. 186 Ebd., S. 93f.

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habe und dieses Bildrepertoire bereits „zu dem Bestande populärer GoetheKenntnis“ gehöre.187 Dann folgt der bemerkenswerte Satz: „Täusche ich mich nicht, so befindet sich unter diesen nicht das Prinzip der Polarität, das in den tieferen Schichten seiner Geistigkeit fortwährend lebendig war – die Idee jener Einheit, die das Dasein gerade in der Form der Bewegung und Gegenbewegung, des Positiven und Negativen, des ‚Einatmens und Aus­ atmens‘, gewinnt.“188

Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob Simmel sich 1912 tatsächlich über den Status der Polarität in der Goethe-Rezeption ‚täuscht‘. Angesicht der darauffolgenden Charakterisierung der Polarität als Goethes „Weltformel“189 ist ohnehin vor allem die ostentative Nüchternheit auffällig, mit der die Bedeutung des „Prinzip[s] der Polarität“ durch die Bemühung der klassischen hermeneutischen Dualität von ‚Oberfläche/Tiefe‘ als eine Neuigkeit und damit zugleich als eine bisher weitestgehend übersehene „Hauptkategorie der Goetheschen Weltanschauung“190 vorgestellt wird. Um zu verstehen, inwiefern sich bei Simmel, aber auch bei Benjamin und Friedlaender ein zeit­ diagnostisches Erkenntnisinteresse an dieses Prinzip der Polarität bei Goethe bindet, ist diese sich gegen einen populären Goethe-Kult richtende NovitätsRhetorik nicht zu unterschätzen. Während es aus heutiger Perspektive erstens beinahe schon trivial erscheint, dass die Polarität in Goethes Naturanschauung einen zentralen Platz einnimmt; zweitens dieser polare Grundgedanke gegen­ wärtig fast schon ein bisschen in Verruf geraten ist, wo es gilt, die spezifische Modernität Goethe’scher Denk- und Anschauungsweise herauszuarbeiten; und drittens eine Tendenz dazu besteht, die Rezeption der Polarität über Bilder wie dasjenige von der Systole und Diastole zum populären Bestand des um 1900 einsetzenden Goethe-Kults zu rechnen, scheint sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz im Gegensatz dazu bei solchen weder der vorherrschenden kultischen Rezeptionsweise zugehörigen noch einem ganzheitlichensubstantialistischen Denken verdächtigen Schreibprojekten wie denjenigen Benjamins und Friedlaenders die Modernität und Aktualität Goethes gerade und explizit über die polaren Denkfiguren Goethes aufzudrängen. Das an ver­ schiedenen historischen Stationen aufgezeigte Wechselverhältnis von Aktuali­ tät und Rekurs, das sehr häufig in der Formel vorgetragen wird, dass es ‚an der 187 Georg Simmel: Polarität und Gleichgewicht bei Goethe. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 12, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt. Frankfurt a. M. 2001, S. 362-368, hier: S. 362. 188 Ebd. 189 Ebd., S. 363. 190 Ebd., S. 364.

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Zeit‘ sei, die Polarität zu entdecken (vgl. Kap. 2), verläuft offenbar bei Simmel, Benjamin und Friedlaender über die Neuentdeckung der Polarität im Rahmen der intellektuellen Debatten um eine auf kritische Gegenwartserkenntnis aus­ gerichtete Denk- und Schreibform. Ob die Rhetorik der Novität bei Simmel angemessen ist, bleibt für den strategischen Einsatz der Polarität als Mittel eines aktualistischen Zugangs zu Goethe zweitrangig. Überdies erinnert Simmels Betonung der diskursiven Novität der Polarität außerdem – einem fernen Echo gleich – an Aby Warburgs beinahe gleichzeitig notierte Verwunderung, dass der von ihm als sein „geprägtes Eigentum empfundene Begriff der Polarität auch bei Goethe im Centrum steht.“191 Die Modernität und Aktualität lesen sie alle jedenfalls explizit Goethes Einlassungen über die Polarität ab. Simmel deutet die Stellung der Polarität anschließend als eine vitalistisch geprägte „Daseinsmetapher“ aus, die sowohl auf biographischer Ebene zum Ver­ ständnis des zwischen verschiedenen Extremen schwankenden individuellen Seelenhaushalts Goethes taugt als auch zur grundsätzlichen ethischen Norm und zum ästhetischen Formprinzip bei Goethe wird. Das „Prinzip der Polari­ tät“ wird dann auch in Simmels folgenden Texten immer wieder zum zentralen Deutungsgegenstand für Goethes Forschung und Dichtung, wobei er darin das Grundmuster eines modernen und aktuellen Umgangs mit individualbiographischen, ethischen, politischen und ästhetischen Spannungen und Extremen erkennt. Wenn er in seinem Goethe-Buch von 1913 dann die Wendung „zu aller Bildung den Schlüssel“192 aus dem Gedicht Metamorphose der Tiere explizit auf den polaren Grundgedanken bezieht,193 nutzt er zudem dasselbe Bild von der „Polarität als Schlüssel“, mit dem Benjamin zwanzig Jahre später seine Rezensionsnotizen abschließt. Der bei Simmel immer wieder durchbrechende lebensphilosophischvitalistische Deutungsimpuls scheint der These von der ‚Scharnierfunktion‘ seiner Goethe-Arbeiten für die zeitdiagnostische Funktionalisierung der Polarität bei Benjamin und Friedlaender aber deutlich zu widersprechen. Dass in Simmels soziologischen und kulturphilosophischen Analysen eine problematische Tendenz darin besteht, die Darstellung moderner Lebens­ formen und Kulturphänomene in ihren polaren Spannungen, extremen Ausprägungen, Ambivalenzen, Ambiguitäten und Kontingenzen auf einer vitalistisch motivierten Metaebene einzufangen, wurde in der Forschung 191 Zit. nach Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a. M. 1984, S. 326. 192 Johann Wolfgang v. Goethe: Metamorphose der Tiere. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 2: Gedichte 1800-1832, hg. v. Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988, S. 498-500, hier: 500. 193 Vgl. Georg Simmel, Goethe [1913], S. 98.

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ausgiebig auch in Bezug auf die Goethe-Arbeiten diskutiert.194 So identifiziert beispielsweise Annette Simonis an Simmels Reflexionen zum Gestaltbegriff die Bemühung, die „diagnostizierte Polarität von Einheit und Differenz“195 letztlich in „den sicheren Boden des identitätsphilosophischen Schemas zurückzuführen“196, was auf eine alle Polaritäten absichernde und einhegende „übergreifende[…] Totalitätsstruktur“197 weise. Daniel Weidner wiederum bemüht sich um eine differenziertere Perspektive und spricht stattdessen von Simmels „eigentümlich gebrochene[r] Deutung Goethes“198, die sich „weniger für den klassischen Goethe und dessen vermeintlich ‚harmonische‘ Gestalt als für diejenigen Aspekte in Goethes Leben und Werk [interessiert], die mit dieser Harmonie brechen und in denen er gewissermaßen die Moderne prä­ figuriert.“199 Auch Eva Geulen betont die Ambivalenz der Goethe-Rezeption Simmels und betont, dass Effekte einer ‚modernen Rezeption‘ der Goethe’schen Morphologie bei Simmel vor allem als „‚Störmomente‘“200 auftauchen, also gerade dort, wo „die Morphologie als frühe Umschrift von Lebensphilosophie ihre einheitsstiftenden Qualitäten für Simmels Goethe zu verlieren droht.“201 Vor diesem Hintergrund scheint die allgemeine Frage nach Simmels Rolle in der Goethe-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts unentschieden bleiben zu müssen, weil seine ambivalente Stellung es nicht erlaubt, ihn aus­ schließlich entweder auf die Seite einer auf Restitution von Ganzheitsdenken ausgerichteten Goethe-Rezeption oder auf die Seite einer am modernen Funktionsbegriff ausgerichteten Rezeption zu führen. Wie stellt sich Benjamins Verhältnis zu Simmels Schriften vor dem Hinter­ grund dieser Ambivalenz nun dar? Ohne diese Frage im strengen Sinne ein­ flussphilologisch anzugehen, lässt sich die sehr abstrakte Frage der Bedeutung Simmels für Benjamins Goethe-Rezeption anhand der Funktionalisierung der 194 Vgl. etwa Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Frankfurt a. M. 1984. 195 Anette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur. Köln u.a. 2001, S. 168. 196 Ebd. 197 Ebd., S. 175. 198 Daniel Weidner: ‚Überwert‘, ‚individuelles Leben‘ und ‚Mehr-Leben’. Georg Simmels Goethe zwischen kulturwissenschaftlicher und lebensphilosophischer Begriffsbildung. In: Claude Haas/Johannes Steizinger/Daniel Weidner (Hg.): Goethe um 1900. Berlin 2017, S.  92-113, hier: S. 95. 199 Ebd., S. 94. 200 Eva Geulen: Nachlese. Georg Simmels Goethebuch und Benjamins Wahlverwandtschaften­ aufsatz. In: Jonas Maatsch (Hg.): Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches Denken‘ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800. Berlin, Boston 2014, S. 195-218, hier: S. 202. 201 Ebd.

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Kapitel 4

Polarität bei Simmel konkretisieren. Dabei scheint auch die Tatsache, dass Simmel in seiner Auslegung des polaren Grundgedankens bei Goethe letzt­ lich immer wieder auf eine biographische Begründung zurückkommt und das Polaritätsdenken aus dem polaren Gesetz erklärt, das Goethes „persönliches Leben formt“202, nicht zwangsläufig dem kritischen Deutungsimpuls Benjamins zu widersprechen. Burkhardt Lindner hat etwa für den WahlverwandtschaftsAufsatz betont, dass Benjamins Kritik an Friedrich Gundolfs Goethe-Buch zwar leicht den Anschein erwecke als richte sich seine Kritik auf die Heran­ ziehung biographischer Daten und Fakten für eine Interpretation der Werke Goethes. Eine solche aus heutiger Sicht Allgemeinplatz gewordene Kritik an autorzentrierten Interpretationen sei aber nicht unbedingt „Benjamins Sache“203, ziehe er doch selbst immer wieder biographische Zeugnisse in seine Argumentation mit ein. Stattdessen richte sich Benjamins Kritik zum einen auf Gundolfs unkritische und „übergangslose Vermischung von Leben und Werk“204, die ein Bild vom Dichter als heroische Gestalt manifestiert. Und zum anderen ziele die kritische Kommentierung des Verhältnisses von Werk und Leben gleichermaßen auch auf eine Gegenperspektive zu dem Bilde, das „Goethe von sich überliefert wissen wollte.“205 In diesem Versuch, Goethe auch durchaus gegen Goethe selbst zu lesen, lassen sich erste Korrespondenzen zu Simmel entdecken. Benjamin kritisiert vor allem das mythische Selbstbild­ nis des Dichters als „Olympier[…]“ (WB I.1., 146), das sich gegen jede Form der Kritik zu immunisieren versuche. Bei Simmel heißt es in vergleichbarer Weise: „diese Vorstellung des Olympiers Goethe ist ein Märchen und eine Verfälschung.“206 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Simmel seine dem ‚Olympier‘-Bild entgegengesetzte Perspektive vor allem von einer Interpretation des polaren Grundgedankens Goethes aus entwickelt. Simmel beruft sich zwar auf die Ansicht, dass Goethes „Leben von unerhörter Harmonie“207 gewesen sei, will das aber zugleich in strikter Abgrenzung zu einer Harmonievor­ stellung der „populäre[n] Oberflächlichkeit“208 verstanden wissen. Es handle sich um eine Form der Harmonie, so Simmel, die „Einheit und Entzweiung

202 203 204 205 206

Georg Simmel, Goethe [1913], S. 95. Burkardt Lindner, Goethes Wahlverwandtschaften. Goethe im Gesamtwerk, S. 479. Ebd. Ebd. Georg Simmel: Einheit und Zwiespalt. Zeitgemäßes in Goethes Weltanschauung. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 13, hg. v. Klaus Latzel. Frankfurt a. M. 2000, S. 165-173, hier: S. 171. 207 Ebd. 208 Ebd.

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in ihrem gegensätzlichen Sinn“209 dergestalt miteinander verknüpft, dass sie selbst stets prekär bleibt, denn sie habe auch alles Widersprechende, Schmerzhaft-Zerreißende“210 in sich aufgenommen. Diese ‚Harmonie zweiter Ordnung‘, so könnte man die Stelle bei Simmel deuten, kann nicht mehr in Gestalt der klassischen Winckelmann’schen Formel von der „edle[n] Einfalt […] und […] stille[n] Grösse“211 vorgestellt werden, sondern ist das Produkt einer mühevollen Existenztechnik, die gewissermaßen über die Figur des ein­ schließenden Ausschlusses funktioniert und so die Gefahren der Entzweiung, Disharmonie stets latent wirksam hält.212 Diese funktionale Harmonie-Figur eines permanent erneuten Ausgleiche-Müssens hat Friedlaender ebenfalls an Goethes polaren Grundgedanken geschärft: „Goethe versteht, was Niemand versteht, die Einfalt der Natur, die eben nicht simpel, sondern polar ist; rund, weil zentral; gegenseitig, weil rund; also – harmonisirbar & harmonisch: wozu man mithelfe!!!“ (F/M 24, 349) Nicht zuletzt von dieser Lesart der Goethe’schen polaren Anschauung konzipiert Friedlaender dann die Indifferenz als Akt permanenten Äquilibrierens. Neben der Tatsache, dass auch Benjamin auf biographischer Ebene festhält, dass Goethe „die eigene Person in ihrer Polari­ tät lebendig gemacht“ (WB II.2, 730) habe, um etwa seine spannungsreichen Beziehungen zu Zeitgenossen zu beschreiben, deutet sich eine weitere Gemeinsamkeit in einer möglicherweise sogar manifesten intertextuellen Spur an. Wie bereits weiter oben gesehen, hatte Benjamin den polaren Grund­ gedanken der Farbenlehre qua Analogie auf die polaren Figurenkonstellationen in Goethes Werken übertragen. Es sei, so Benjamin, im Einsatz der Polarität „[…] die gleiche Nötigung am Werke, die ihn als dramatischen Dichter bewegte, mit Egmont und Oranien Volksmann und Hofmann, mit Tasso und Antonio Dichter und Höfling, mit Prometheus und Epimetheus den schaffenden Mann

209 Ebd., S. 170. 210 Ebd., S. 171. 211 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Stuttgart 1995, S. 20. Dass allerdings die damit zusammen­ hängende Vorstellung von der Grazie als Grundlage einer harmonischen Existenz selbst wiederum nur als „konfliktuös prozessierende Einheit“ zu verstehen ist, hat Eckart Goebel in seiner Lektüre von Winckelmanns Von der Grazie in Werken der Kunst (1759) gezeigt. (vgl. Eckart Goebel: Charis und Charisma. Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger. Berlin 2006, S. 17-33, hier: S. 24). 212 Ähnliche Figuren zu derjenigen des einschließenden Ausschlusses hat Cornelia Zumbusch unter wissenschafts- und diskursgeschichtlichen Vorzeichen an der „strukturelle[n] Ana­ logie“ zwischen dem um 1800 einsetzenden Impfdiskurs und dem Projekt des „KlassischWerdens“ bei Goethe und Schiller ausgewiesen. (vgl. Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik. Berlin 2011, hier: S. 10 und S. 20).

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Kapitel 4 und den klagenden Träumer, mit Faust und Mephisto sie alle zugleich als Personen des eigenen Selbst einander gegenüberzustellen.“ (ebd.)

In Simmels Goethe-Buch von 1913 findet man eine ähnliche an der Polarität ausgerichtete Aufzählung, deren Überschneidungen mit der zitierten Stelle aus Benjamins Enzyklopädie-Artikel kaum zufällig genannt werden kann: „Als künstlerisches Organisationsprinzip hat ihm [Goethe, K.D.] die Polarität von vornherein gedient, indem die wichtigsten seiner Dichtungen in je einem Paar von Männern die Polaritäten der menschlichen, genauer, der männlichen Natur in ihr Zentrum stellen: Weislingen-Götz, Werther-Albert, Clavigo-Carlos, Faust-Mephisto, Egmont-Oranien, Orest-Pylades, Tasso-Antonio, Eduard-der Hauptmann, Epimetheus-Prometheus. Dies setzt sich in das Individuum selbst fort, indem […] [Goethe] die Urbestandteil unseres Wesens ausschließlich aus Gegensätzen bestehen läßt […].“213

Weder Simmel noch Benjamin geht es um eine bloß schematische Wieder­ holung der Formel von der „ewige[n] Systole und Diastole“. Vielmehr nutzen beide den polaren Grundgedanken, um sein Potential, aber auch die Grenze für eine kritische Analyse von Goethes Werk auszuloten. Es handelt sich zwar auch hierbei schon um bemerkenswerte Parallelitäten. In Bezug auf die Frage der zeitdiagnostischen Funktionalisierung stellt das aber noch eine weitest­ gehend äußerliche Verwandtschaft im Einsatz polarer Denkfiguren dar. Für Simmels Erprobung der Polarität als soziologisch-diagnostisches Ana­ lyseinstrument im Rahmen gesellschaftlicher Selbstverständigungsdiskurse zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und vor dem Hintergrund des epochalen Weltkriegserlebnisses im Besonderen ist ein anderer Text auf­ schlussreich. Dass in diesem kurzen Text die in anderen Arbeiten Simmels nur angedeutete Möglichkeit einer zeitaktuellen Funktionalisierung Goethescher Polarität explizit gemacht wird, stellt der Titel bereits aus: Einheit und Zweispalt. Zeitgemäßes in Goethes Weltanschauung. Ob Benjamin und Friedlaender den Text gekannt haben, ist nicht zu ermitteln. Für die ‚Scharnierfunktion‘, die Simmel in Bezug auf die zeitdiagnostische Funktionalisierung eingenommen hat, ist der Text dennoch aufschlussreich, weil er vor allem eine auf Aktuali­ tät ausgerichtete funktionale Lektüre hier konsequent durchführt, die auch in dem Benjamin und Friedlaender bekannten Goethe-Buch bereits eingelagert ist. Der aus aktuellen Kommentaren zur Weltkriegssituation und Auszügen aus seinem Goethe-Buch bestehende Artikel erscheint Ende 1915 im Berliner Tageblatt. Ausgangspunkt des Artikels ist ein „alte[s] Weltproblem“214, dessen 213 Georg Simmel, Goethe [1913], S. 94. 214 Georg Simmel, Einheit und Zwiespalt. Zeitgemäßes in Goethes Weltanschauung, S. 165.

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Aktualität sich für Simmel von der schockhaften „Erfahrung dieses Krieges“215 her aufdrängt. Es betrifft das für die Geschichte konstitutive Spannungsver­ hältnis aus destruktiv-zerstörerischen Naturkräften (hier durch den Krieg als eine Art „naturhafte[…] Notwendigkeit“ vorgestellt) einerseits und der Frage nach dem geschichtlich zu perspektivierenden Sinn menschlicher Existenz andererseits. Beide Seiten lassen sich offensichtlich nicht unmittelbar in Einklang bringen:216 „Völlig prinziplos sozusagen verwirklichen die natür­ lichen und geschichtlichen Kräfte das Gute und das Böse, das Schöne und das Häßliche, das Vernünftige und das Widersinnige.“217 Die damit zusammen­ hängende Frage, die Simmel in einer Zeit stellt, da die erste Kriegseuphorie bereits in eine rein destruktive Materialschlacht übergegangen ist, lautet, ob es „von irgendeinem Punkte“218 aus möglich sei, diese beiden Seiten in einem übergreifenden Verstehenszusammenhang aufeinander zu beziehen. Mehr noch fragt Simmel direkt nach der Möglichkeit einer „Einheit der Pole“219. Anders als Wohlbold, der diese Einheit bei Goethe über den Gedanken der Steigerung unmittelbar realisiert sieht und nurmehr für eine zeitgemäße Weltanschauung zur Geltung bringen versucht, geht Simmels Ansatz von der Problematik der Einheit selbst aus: „Jedoch diese Einheit war für Goethe kein jederzeit sicherer Besitz.“220 Für die Funktionalisierung polarer Denkfiguren als zeitdiagnostisches Deutungskonzept ist diese problematische Einheit der Pole entscheidend. Denn Simmel nutzt hier dieselbe Argumentationsfigur, die er, wie weiter oben bereits dargelegt, als Existenztechnik des prekären Aus­ gleichs auf Goethes Leben anwendet, und bezieht sie diesmal auf die „Zer­ rissenheit“ und den „leidvoll sinnlose[n] Widerspruch“221 der Gegenwart als solche. Er legt sie mithin auf eine Gegenwartsanalyse um und macht Polari­ tät damit zu einem erkenntniskritischen Medium von Zeitdiagnostik. Für die Deutung dieser Widersprüchlichkeiten der Gegenwart biete Goethes „Form der Polarität“222 hier nicht ein beruhigendes Konzept synthetischer Zusammen­ schau. Durch die Orientierung an Goethes Polarität lasse sich vielmehr eine polare Denk- und Anschauungsweise entwickeln, so legt Simmel nahe, die die 215 Ebd. 216 Dieses Verhältnis von Destruktion und menschlicher Existenz wird auch zentraler Gegen­ stand im Hauptteil B der Arbeit, wenn es um die technischen Utopien von Benjamin und Friedlaender geht. Auch dort handelt es sich um eine polare Konzeption, die zwischen der destruktiven und der konstruktiven Seite der Technik unterscheidet. 217 Georg Simmel, Einheit und Zwiespalt. Zeitgemäßes in Goethes Weltanschauung, S. 165. 218 Ebd. 219 Ebd., S. 167. 220 Ebd., S. 166. 221 Ebd., S. 173. 222 Ebd., S. 168.

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Kapitel 4

Krisen und Spannungen der Gegenwart selbst als integrale Momente „in einem unendlichen Prozeß“ erkennbar machen. In diesem Prozess lösen sich „Ent­ zweiung und Vereinheitlichung“223 permanent ab, ohne je zu einem letzten Ausgleichspunkt zu gelangen. Wo die gewissermaßen ‚existenzialistischbiographische‘ Lesart der Polarität noch Beispiele im Leben Goethes finden konnte, ist die geschichtlich-politische Lesart der Polarität – vermittelt über das Zeitgemäße[…] in Goethes Weltanschauung – bereits konsequent und aus­ schließlich auf das Weltkriegsereignis bezogen, betrifft doch die Rede von den Widersprüchen, Zerrissenheiten, dem „Widersinn“224 und den Gegensätzen explizit die „Kräfte dieser Gegenwart“225. Dieses Angebot einer strikt gegenwartsbezogenen Lektüre kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Simmels Bemühungen um die Aktualität Goethes letztlich doch vor allem in Bezug auf die Frage des Verhältnisses von „Einheit der Dinge“ und „Entzweitheit der Dinge“226 ambivalent bleibt. Denn auf der einen Seite sieht es so aus, als wolle Simmel dem Krieg zum Ende des Textes hin doch noch eine Art von historischer Notwendigkeit abgewinnen, die zu einem „erneuerte[n], reinere[n], verinnerlichte[n] Deutschland, ja vielleicht Europa“227 führe, wodurch der Anschein entsteht, dass hier die polaren Spannungen zwischen destruktiven Naturkräften und der Sinn­ haftigkeit menschlicher Existenz über die Garantie einer übergeordneten historischen Vernunft vermittelt werde. Hier wird die Spannung zwischen Goethe als „geschichtliche[r] Persönlichkeit“228 und den zeitdiagnostischen Aktualisierungsbemühungen kurzerhand durch die Stilisierung des polaren Grundgedankens zu einer „zeitlos[en]“ Wahrheit überbrückt, die in „jenem Bezirk ewiger Ideen“ gehöre, „aus dem sich das geschichtlich geistige Leben der Menschheit speist.“229 Diese Konzeption eines ahistorischen „Ideengehalt[s]“230 dürfte Benjamin weder hinsichtlich der Debatte um eine kritische Aktualisierung der Farbenlehre überzeugt haben, die er in der Wohlbold-Rezension führt, noch findet diese Konzeption anklang an Benjamins eigener ‚Ideenlehre‘ aus der erkennt­ niskritischen Vorrede des Trauerspielbuchs, in der die Ideen mittels dar­ stellerischer Anordnung in „Konfiguration[en]“ (WB I.1, 214) an die konkrete 223 224 225 226 227 228 229 230

Ebd. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 172. Ebd. Ebd. Ebd.

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„Erkenntnis der Phänomene“ (ebd.) gebunden werden. Im ‚Passagen-Werk‘ heißt es zudem kompromisslos: „Entschiedene Abkehr vom Begriffe der ‚zeit­ losen Wahrheit‘ ist am Platz.“ (WB V.1, 578) Wenn Benjamin im ‚Passagen-Werk‘ aber dennoch betont, dass es gerade Simmels Goethe-Buch gewesen sei, an dem ihm seine eigene geschichtsphilosophische Anstrengung deutlich wurde, den Goethe’schen Begriff des „Urphänomens“ „aus dem Bereich der Natur in den der Geschichte“ (WB V.I, 577) zu übertragen, ist das aber nicht etwa so gemeint, dass er diese Erkenntnis ex-negativo über die falsche Interpretation Simmels gewonnen hätte. Benjamins Bezugnahme auf Simmel wird verständlich, wenn man beobachtet, dass Simmel diese ahistorische Gestaltung der Polarität als Idee dann doch noch einmal aufbricht und schließlich „nichts Friedliches, Ideales, Wundenheilendes“, mithin keinen „‚versöhnliche[n] Schluß‘“231 darin erkennt. Das Zeitgemäße in der polaren Denk- und Anschauungsweise liege eben nicht darin, dass der polare Differenzcharakter aller Phänomene letzt­ lich wieder eindeutig durch eine übergeordnete Einheit abgesichert werden könne. Einheit und Differenz werden bei Simmel nicht in einer Synthese vermittelt, sondern ihr Zusammenhang bildet für Simmel „selbst wieder ein solches Gegensatzpaar“232. In dieser unabschließbaren Konfrontation immer erneuter polarer Gegensatzbildungen bestehe der „unerhört tiefe[…] Wahr­ heitsbegriff“233 Goethes. Benjamins Aussage, dass Simmels Goethe-Buch die „spannungsreichste und für den Denker spannendste Darstellung“ (WB  III, 339) sei, weil sich dort „die wertvollsten Hinweise auf deren dialektische Struktur“ (ebd.) finden lassen, scheint diese spezifische Dialektik aus Ein­ heit und Gegensatz zu meinen, die nicht synthetisch vermittelt wird, sondern immer erneut polare Spannungen herstellt. Eine endgültige Einheit, so Simmel, bleibe bei Goethe konstitutiv das „letzte Geheimnis des Lebens“234 und daher unverfügbar. Nur das „Ineinandergreifen der Funktionen“235, also der Elemente eines polaren Spannungsgefüges, ist in dieser polaren Denkweise tatsäch­ lich erkennbar. Indem Simmel seine Überlegungen zur polaren Spannung zwischen Einheit und Differenz letztlich auf den Begriff der Funktion zulaufen lässt, deutet sich hier zumindest der Übergang von einer auf Substanz­ denken ausgerichteten Goethe-Rezeption hin zu einer am Funktionsdenken interessierten Perspektive an.

231 232 233 234 235

Ebd., S. 173. Ebd., S. 168 (Herv. i. O.). Ebd. Ebd., S. 171. Ebd. (Herv. durch K.D.).

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Kapitel 4

In Bezug auf Benjamins Rezensionsnotiz über die „Polarität als Schlüssel“ lässt sich die Rolle Simmels vor dem Hintergrund der am Schluss von Simmels Text angelegten Tendenz, Goethes polaren Grundgedanken für eine zeit­ diagnostische Erkenntnis zu funktionalisieren, um das Verhältnis von Natur und Geschichte unter dem Gesichtspunkt einer polaren Spannungs­ beziehung zu perspektiveren, in zweierlei Hinsicht zuspitzen. Erstens lässt sich von hieraus Benjamins Anmerkung darüber, dass ihm beim „Studium der Simmelschen Darstellung von Goethes Wahrheitsbegriff“ die geschichts­ philosophische Stoßrichtung seiner eigenen Arbeiten „sehr deutlich“ (WB V.1, 577) wurde nochmals anderes in den Blick nehmen. Die Anmerkung steht im ‚Passagen-Werk‘ im Zusammenhang mit der Idee einer geschichts­ philosophisch motivierten „Ursprungsergründung“ (WB V.1, 577), die auf Benjamins gleichermaßen erkenntnistheoretisch und darstellungsästhetisch zentrale Idee des dialektischen Bildes als Schauplatz der Polarisierung von „Vor- und Nachgeschichte“ (ebd., 587) verweist. Dass Benjamin sich für seine polare Bildtheorie des dialektischen Bildes vor allem dadurch an Simmel orientieren konnte, dass dieser Goethes Anschauungsweise des Urphänomens explizit als „Alternative zum neukantianischen Erkenntnisbegriff“ ausrichtet, hat Cornelia Zumbusch bereits anhand von Simmels Goethe-Buch plausibel gemacht.236 Dieser in Bezug auf die Bildtheorie der „Dialektik im Still­ stand“ (ebd., 577) stehende Verweis Benjamins auf Simmel hat jedoch eine konkrete Vorgeschichte, die es zusätzlich zu bedenken gilt, wenn die Stellung Benjamins zu Simmel deutlich werden soll: Den geschichtsphilosophischen Konstruktionen des ‚Passagen-Werkes‘ geht der Versuch voraus, Polarität als ein zeitdiagnostisches Erkenntnismedium ‚umzufunktionieren‘. Erst vor dem Hintergrund dieser Geschichte der Funktionalisierung polarer Denkfiguren entsteht überhaupt erst die Möglichkeit für eine geschichtsphilosophische Darstellungspraxis, die im dialektischen Bild „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation“ (ebd., 578) zusammentreffen lassen will. Der „Umdeutung“ (ebd. 577) eines Goethe’schen naturwissenschaftlichen Begriffs in einen geschichtsphilosophischen (und damit zu einer polaren Bildtheorie) geht die zeitdiagnostische Funktionalisierung der Polarität voraus. Diese Funktionalisierung erprobt Benjamin weniger in den kanonisch geworden großen Texten, sondern in seinen nur scheinbar randständigen Rezensionen und Kritiken, in denen er virulente politische und ästhetische Debatten auf­ greift und die eigene Position inmitten des intellektuellen Diskursfeldes auslotet. 236 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 309-310, hier: S. 310.

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Zweitens: Benjamins Anmerkung zum „Studium der Simmelschen Dar­ stellung“ verdeckt diese Verortung der eigenen Schreibarbeit aber eher als dass sie sie offenlegt; inszeniert wird hier eine plötzliche und überraschende Selbst­ erkenntnis in Form eines vorher nicht wahrgenommen Werkkontinuums vom Trauerspielbuch bis zum ‚Passagen-Werk‘, bei der das Simmel-Buch, so suggeriert die Textstelle, eher eine Art äußeren Anlass bietet. Statt Benjamins Selbstauslegung kritisch zu befragen wurde diese Kontinuitätsthese in der Forschung allzu häufig unkritisch übernommen.237 Allerdings führt die Debatte um die zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren keineswegs unvermittelt auf das Trauerspielbuch zurück und es darf stark bezweifelt werden, ob Simmel ein ‚Scharnier‘ zwischen der Allegorie in ihrer „sonderbaren Verschränkung von Natur und Geschichte“ (WB I.1, 344) und der späteren „Urgeschichte der neuzehnten Jahrhunderts“ (WB V.1, 579) bildet. Viel unmittelbarer verweist Benjamins Anmerkung zu der am „Studium der Simmelschen Darstellung“ geschärften Vorstellung von einer Übertragung naturwissenschaftlicher Begriff in geschichtsphilosophische Kategorien auf die kritische Debatte um die Aktualisierbarkeit der Denkfigur Polarität als solcher, die in der Wohlbold-Rezension exemplarisch an einer Neuausgabe der Farbenlehre ausgetragen wird. Auf einer erkenntnistheoretischen Ebene, die schließlich auch mit der Anmerkung zu Simmel im Passsagenwerk adressiert wird, kann die Beziehung Benjamins zu Simmel damit in den Kontext der Frage eingeordnet werden, die im gesamten Hauptteil A der Arbeit unter problemgeschichtlichen Vorzeichen behandelt wurde: Wie lässt sich über­ haupt ein naturwissenschaftliches bzw. -philosophisches Konzept in ein zeitdiagnostisches Erkenntnisinstrument übersetzen? Anders als Wohlbold, dessen Instrumentalisierung der Polarität für ein neues Syntheseerlebnis aus Natur und Mensch Benjamin scharf ablehnte, besteht die Spannung aus Natur und Geschichte, die Simmel dadurch herstellt, dass er explizit nach dem Zeitgemäße[n] in Goethes Weltanschauung fragt, allererst im funktionalen Einsatz der Polarität selbst. Was die erkenntniskritische Vorrede des Trauerspiel­ buchs auf der einen Seite und die erkenntnistheoretischen Aufzeichnungen des ‚Passagen-Werks‘ mit der Wohlbold-Rezension verbindet ist der Ver­ such, mittels funktionalen Einsatzes polarer Denkfiguren eine dialektische Spannung aufzubauen, die nicht auf eine Synthese zuläuft, sondern den „Kreis der in ihr möglichen Extreme“ (WB I.1, 227) abzuschreiten versucht, wie es im 237 Vgl. stellvertretend René Buchholz: Verschränkung von Natur und Geschichte. Zur Idee der ‚Naturgeschichte‘ bei Benjamin und Adorno. In: ders./Joseph A. Kruse: ‚Magnetisches Hingezogensein oder schaudernde Abwehr‘. Walter Benjamin 1892-1940. Stuttgart/Weimar 1994, S. 59-94.

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Kapitel 4

Trauerspielbuch heißt. Für diese zeitdiagnostische Funktionalisierung polarer Denkfiguren konnte Benjamin eben auch wichtige Hinweise bei Simmel finden. Was die Ideenkonfiguration des Trauerspielbuchs und das dialektische Bild aus dem ‚Passagen-Werk‘ mit dem zeitdiagnostischen Erkenntnisinteresse aus der Wohlbold-Rezension weiterhin verbindet, ist der Versuch die latente Mitte zwischen verschiedenen Extremen erkenn- und darstellbar zu machen. Nicht nur in Bezug auf diesen letzten Aspekt der „Polarität als Schlüssel“, die Erkenntnis des Inmitten der Extreme, zitiert Benjamin allerdings nicht Simmel in seiner Rezension, sondern Friedlaender. Wie bereits eingangs des Kapitels  4 anhand des Enzyklopädie-Artikels über Juden in der deutschen Kultur dargelegt, bezieht Benjamin Simmel und Friedlaender insbesondere hinsichtlich des nicht-systematischen, essayistischen Schreibstils aufeinander. Eine strikt funktionale Perspektive auf den zeitdiagnostischen Einsatzpunkt der an Goethe orientierten polaren Anschauungsweise scheint Benjamin mit seinem Rekurs in der Rezension aber erst für Friedlaender geltend machen zu wollen. Denn die von Benjamin bereits bei Boucke und vor allem bei Simmel wahrgenommenen Hinweise auf eine funktionale Rezeption, speziell in Bezug auf die Übertragung der Polarität aus ihrem naturwissenschaftlichen Kontext in andere Bereiche, knüpft sich erst bei Friedlaender an eine sowohl theoretisch reflektierte als auch in der konkreten Darstellungsweise der eigenen Argumentation schreibpraktisch erprobten kritischen Aktualisierung von Goethes polarer Perspektive aus der Farbenlehre. Es ist zu vermuten, dass gerade diese spezifische Schreibweise Friedlaenders, also erstens die symbolische Interpretation des Streitfalls Goethe/Newton, zweitens die Über­ führung in ein mehrfaches Maskenspiel (Nietzsche/Thukydides und Goethe/ Friedlaender) und drittens die daran anschließende Inszenierung eines theatralen Agons zwischen Monismus und Polarität, aus deren Zusammen­ hang sich seine Argumentation überhaupt erst ergibt, Anlass für Benjamin war, seine kritischen Reflexionen über die Frage der Aktualität Goethes mit einer längeren Passage aus Friedlaenders Farb-Skizze abzuschließen. Indem Benjamin eine Stelle aus Friedlaenders Farb-Skizze zitiert, die, wie gesehen, unmittelbar an dem Versuch hängt, Goethes „geniale[s] Aperçü[…]“ (F/M 2, 526) über die Polarität für eine zeitgemäße polare ‚Differenz-Theorie‘ zu aktualisieren, scheint er diese polare Perspektive gegen eine um 1900 ein­ setzende Rezeption Goethes geltend zu machen, deren problematische Rück­ bezüge auf Goethe genauso wie die von Benjamin als unzulänglich beschriebene Art der Gegenwartsdiagnostik dargestellt wurden. Dabei scheint Benjamin in gewisser Weise auch die polemische Darstellungsweise Friedlaenders auf­ zugreifen, indem er seine Wohlbold-Rezension selbst zu einem Schauplatz

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unterschiedlicher symptomatologischer Gegenwartsanalysen macht. In der intertextuellen Inszenierung eines polaren Spannungsfeldes unterschiedlicher Aktualisierungsbemühungen um die Goethesche Farbenlehre gibt Benjamin damit selbst eine performativ in Szene gesetzte Antwort, wie polare Denk­ figuren als Diagnoseinstrument der Gegenwart aktualisiert werden können: als kritisches Medium der weltanschaulichen Polarisierungstendenzen der Gegenwart. Insbesondere Benjamins Kritiken und Rezensionen scheinen immer wieder die Funktion zu haben, durch mitunter polemische Interventionen auf zeit­ genössische Debatten zu reagieren. Dass Benjamin dabei zugleich sowohl mit Theoriefiguren experimentiert als auch potentielle Schreibhaltungen als kritischer Intellektueller auslotet, die dann in anderen Texte ausgearbeitet werden, lässt sich abschließend mit einem Blick auf weitere Referenzen auf Friedlaenders Schöpferische Indifferenz in Benjamins Texten anzeigen. Dort wird ebenfalls das Verhältnis von Zeitdiagnostik und eigenem Schreibort ver­ handelt. Dabei ist auch nochmals auf die Bedeutung des bereits im Zusammen­ hang mit Benjamins Wohlbold-Kritik untersuchten Begriffs der Erfahrung zurückzukommen. 4.4

Benjamin und die Schöpferische Indifferenz

Um das bei Benjamin und Friedlaender vergleichbare zeitdiagnostische Interesse für die latente, indifferente Mitte zwischen den Extremen anzeigen zu können, lohnt zunächst ein kurzer Blick auf Friedlaenders dramatischpolare Inszenierung seines intellektuellen Werdegangs in seiner autobio­ graphischen Schrift Ich (1871-1936). Autobiographische Skizze. Das darin beschriebene Konzept äquilibrierender Lebensführung steht auch in direktem Zusammenhang mit der Passage aus der Farb-Skizze, die Benjamin in seiner Rezension zitiert. „Die Welt ist eine Glocke, die einen Riß hat: sie klappert, aber klingelt nicht.“238 Diesen Aphorismus notiert Goethe in den Maximen und Reflexionen unter der Rubrik Erfahrung und Leben. Dieser „Riß“ sei, so deutet Friedlaender den Aphorismus in seiner Autobiographie um, in Wahrheit „das eigene Ich, der Kern unseres Wissens, dieser Riß, dieser Sprung, weil es sich durch die 238 Johann Wolfgang v. Goethe: Maximen und Reflexionen. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 13: Sprüche in Prosa, hg. v. Harald Fricke. Frankfurt a. M. 1993, S. 23.

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Kapitel 4

Äußerlichkeiten der Peripherie weit eher zerreißen läßt, als daß es sie mit seiner Eigenkraft konzentriert zusammenhielt.“ (F/M 18, 115f.) Was Friedlaender hier über das ‚zerrissene Ich‘ resümiert, betrifft auf einer ersten Ebene den von ihm ausführlich ausgefalteten eigenen Lebensweg. Friedlaender schildert ausführ­ lich die pathologische Zurückgezogenheit seines „egozentrisches Wesen[s]“ (ebd., 82) und die „Inmichselbstverliebtheit“ (ebd., 85). Als scheuer Sonder­ ling habe er eine eigentümliche Mischung aus Scham, Schuld und Ekel gegen alle weltlich-äußerlichen Lebenszusammenhänge empfunden und sich ganz in sich gekehrt: „Ich war dermaßen innerlich, daß mir alles Äußerliche nur zur Kurzweil diente oder mich träge fand.“ (ebd., 82) Bereits auf dieser rein bio­ graphischen Ebene solle es Goethe gewesen sein, der ihn „vor der sterilen Ver­ senkung ins Innere [warnte]“ (ebd., 86). Friedlaender fällt dann, so der Bericht, ins entgegengesetzte Extrem, sein Geist sei fortan – durch oder vielleicht eher: trotz der leidenschaftlichen Schopenhauer-Lektüre – ganz „vom Fleisch entzündet“ (ebd., 111). Er besucht „Dirnen“ (ebd., 112), macht Schulden, ver­ nachlässigt sein Medizin-Studium. Bevor Friedlaender zum gleichermaßen theoretischen wie praktischen „Äquilibristen des Lebens“ (ebd., 88) werden konnte, so suggeriert es die Dramaturgie des ersten Teils seiner Autobiographie, musste er offensicht­ lich selbst die Extreme durchlebt haben; die extremen „Erprobungen des Charakters“ (ebd., 85) gehen über in eine „herkulische Arbeit der differenzierten Selbsterkenntnis“ (ebd., 91) und führen letztlich in die Einsicht, dass nur ein „inwendige[s] Training“ (ebd., 104), das er in der Schöpferischen Indifferenz auf die Formel der „ewige[n] Balancierübung“ (F/M 10, 183) bringt, die Extreme austarieren kann. Die autobiographische Skizze zeichnet aber nicht nur den individuellen Lebensweg nach, sondern inszeniert vor allem den eigenen intellektuellen Werdegang in mehreren ‚Erweckungserlebnissen‘.239 Und so bleibt Friedlaender auch in Bezug auf das Problem des Lebens inmitten der „einander entgegengesetzte[n] Extreme“ (F/M 18, 120) und der Stellung des Subjekts im Verhältnis von „Innen/Außen, Ich/Welt“ (ebd., 86) nicht auf der biographischen Ebene stehen, sondern erweitert die Frage zu einem „ethische[n] Problem“ (ebd., 119) im Allgemeinen. Auch auf dieser zweiten philosophischen Ebene sei es erneut Goethe gewesen, so Friedlaender, der ihm durch die Farbenlehre „die Formel der Polarität“ (ebd., 120) für dieses 239 An dieser Beschreibung lässt sich nochmals deutlich ablesen, dass das Aperçu, von dem Friedlaender seinem Schwager in dem unter 3.1 untersuchten Brief berichtet, kein singuläres ‚Erweckungserlebnis‘ war. Es handelt sich vielmehr um verschiedene Inszenierungen des Weges hin zur polaren Denk- und Anschauungsweise, die immer in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkern des Polaren geschildert werden.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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Problem der extremen Lebensäußerungen gegeben habe. Dieses von Goethe ausgehende ‚Erweckungserlebnis‘ hat dann offensichtlich eine ekstatische Erkenntnis hervorgebracht: „Diese Verzückungen enthielten Visionen eines polaren Lebens, in denen sich mitten zwischen allen Lebenspolen, zwischen Ja und Nein des Willens, mein in der Mitte schwebendes Ich immer sonnenhafter regte. Ich entwarf eine Philosophie, die ich ‚Von der lebendigen Indifferenz der Weltpolarität‘ nannte.“ (ebd.) Wenngleich der Text selbst nicht überliefert ist, sind in dem Titel die beiden Kennmarken benannt, um die herum sich Friedlaenders ganzes philosophisch-ästhetisches Arbeitsprogramm abspielen wird: Indifferenz und Polarität. Was genau haben diese autobiographischen Einlassungen nun aber mit der an Benjamins Wohlbold-Rezension diskutierten Frage nach der zeitdiag­ nostischen Funktionalisierung polarer Denkfiguren zu tun? Die Suche nach einer äquilibrisierenden Existenztechnik ist hier nur scheinbar randständig zu den funktionalen Aktualisierungsbemühungen Goethescher Farbenlehre. Denn praktisches Leben und theoretische Schreibarbeit, das „Experiment der Individualität mit sich selber“ (F/M 10, 476) und das Projekt der ‚schöp­fe­ rischen Indifferenz‘ in ihrem gleichermaßen „theoretische[n], ästhetische[n], ethische[n], religiöse[n] Sinn“ (F/M 18, 99) sind untrennbar in Friedlaenders performativen Schreibweisen miteinander verbunden. Es ist gewissermaßen der eigentümliche ‚autobiographische Pakt‘240 der Autobiographie Friedlaenders, dass Theorie und Praxis unmittelbar miteinander verschränkt sind. Mehr noch scheinen die autobiographischen Schilderungen nur hinsichtlich der daraus hervorgehenden Denk- und Anschauungsweise berichtenswert. Zweifelsohne hat Benjamin diese Verschränkung von Polaritätstheorie und praktischem Lebensführungskonzept wahrgenommen, greift doch Friedlaender diese Wechselwirkung unmittelbar im Anschluss an die von Benjamin in seiner Wohlbold-Rezension zitierte Stelle erneut auf: „Allenthalben wird ein ursprünglich aus der persönlichen Überfülle der eigenen Schöpferkraft entspringender Gegensatz entweder durch Vertuschung kompromittiert, oder mitten entzwei gerissen; aus all diesem Gebaren resultiert ein absurder Anblick nicht nur des Lebens, sondern schließlich und erst­ lich schon das zerquetschteste Leben selber. Gerade das Allerwesentlichste, auf das es überall zuerst und zuletzt ankommt, das persönlich Schöpferische, wird in der Welt, in der Differenz seiner selbst, verkannt, indem man diese WeltDifferenz, diese Polarisation seines immens Identischen, seine eigene Selbst­ entzweiung aus Überschwang entweder kraß verzerrt und zerreißt oder plump zusammenquetscht und uniformiert. Man läßt sich den Gedanken gar nicht bei­ kommen, daß nur das Nichts aller Differenz allein geeignet sei, sie zu lösen und 240 Phillipe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt a. M. 1994.

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Kapitel 4 zu binden – weil man ungeheuer viel zu sinnlich auch noch im Geistigsten ist, um sich auch nur träumen zu lassen, daß gerade das bare und pure Nichts der Schöpfer aller Welt-Differenz sein sollte […].“ (F/M 10, 413f.; Herv. v. K.D.)

An dieser ausführlich zitierten Stelle sind alle Elemente versammelt, die Friedlaender in seinem Werk immer von neuem in der Suche nach dem „Indif­ fe­renzpunkt auf der (polaren) Weltskala“ (ebd., 148) aufruft: „entspringender Gegensatz“, „Differenz seiner selbst“, „Nichts aller Differenz“, „das bare und pure Nichts der Schöpfer aller Welt-Differenz“. Die von Benjamin in seiner WohlboldRezension zitierte Textstelle über die Möglichkeiten einer polaren Symptoma­ tologie der Gegenwart ist unmittelbar an dieses Konzept der ‚schöpferischen Indifferenz‘ zurückgebunden, so dass es näher zu bestimmen gilt, wie der Akt der Polarisierung unterschiedlicher Phänomenbereiche mit der Indifferenz zusammenhängt. Bevor die ‚schöpferische Indifferenz‘ zu einer ethischen Lebensanleitung und Existenztechnik werden kann, ist sie zunächst eine erkenntnis­ theoretische Position. Eine Erkenntnis des polaren „Differenzcharakter[s] der Welt“ (ebd., 414) habe sich, so Friedlaenders Grundannahme, auf die Position des „Nichts aller Differenzen“ zu besinnen. Für das Verständnis dieser zentralen Vorstellung des ‚Nichts‘, der „kardinale[n] Bedeutung des Nihil neutrale“ (ebd., 389), sind zunächst zwei ex-negativo-Bestimmungen hilf­ reich. Erstens betont Friedlaender immer wieder, dass diese Bestimmung der Indifferenz als erkenntnistheoretisch vorausgesetztes „Prinzip aller Unter­ scheidung“ (ebd., 379) nicht mit irgendeinem „privat einzel-menschlich[en]“ (ebd., 103) Individuum zu verwechseln sei. Gegen die Vorstellung vom ‚großen Individuum‘ oder ‚Genie‘, auf deren Grundlage Wohlbold gerade die Aktualität Goethes zu rechtfertigen versucht, hält Friedlaender fest: „[…] der schöpferisch Unterscheidende ist kein Mensch, auch kein großer Mensch, kein ‚Genie‘, sondern gar nichts Objektives […].“ (ebd., 107) Zweitens handelt es sich bei der ‚schöpferischen Indifferenz‘ nicht um eine souveräne, voraus­ setzungslose creatio ex nihilo: „Aus dem Schöpfer folgt die Schöpfung nicht wie aus dem Nichts, sondern aus dem Nichts seiner Unterschiedenheit […].“ (ebd., 346) Mit der ‚schöpferischen Indifferenz‘ geht es Friedlaender nicht um einen souveränen, unabhängigen Schöpfer, der logisch oder zeitlich der Schöpfung vorgelagert ist. Denn dann, so Friedlaenders Argument, wäre dieser Indifferenzpunkt selbst wiederum entweder positiv oder negativ qualifiziert. Die ‚schöpferische Indifferenz‘ hingegen, das betont Friedlaender immer wieder, sei nichts Demonstrables“ (ebd., 106), „gar nichts Objektives“ (ebd., 107). Diese scheinbar paradoxe Figur der Indifferenz, die auf der einen Seite die Voraussetzung der Polarisierung sein soll – die Indifferenz „polarisiert Gegen­ sätze, Extreme, welche sonst zwittern, schielen, streiten.“ (ebd., 98) – und auf

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der anderen Seite aber selbst vor jeder Differenz das „bare und pure Nichts“ sein soll, hängt von der Vorstellung ab, was dieses manchmal als Nihil, dann als Nihilismus oder Null beschrieben ‚Nichts‘ ist.241 Friedlaender wiederholt immer wieder, dass es ein „Lebens- und Denkfehler“ (ebd., 133) sei, dieses „Nichts aller Differenz“ mit etwas Positiven oder Negativen zu verwechseln: „man verwechselt das Nichts von plus und minus mit dem minus. Aber Zéro ist nichts bloß Negatives, ebensosehr ist es positiv. Um Null zu sein, muß man Positivität und Negativität in gleicher Gewalt haben.“ (ebd.) Friedlaenders „Warnung, das ‚Nichts“ aller Differenzen nicht zu verkennen“ (ebd.,) zielt mit der weder positiven noch negativen Bestimmung der Null auf eine gleicher­ maßen logischen, räumlichen wie zeitlichen Disposition. Sie ist weder vor noch nach der Polarität, sondern stets in ‚Inmitten der Extreme‘: „es ist das Inmitten, es ist der schöpferische Berührungspunkt der unterschiedenen, ver­ einzelten Erscheinungen.“ (ebd., 129) Als „mediale Indifferenz“ (ebd., 139) bildet dieser Punkt zugleich die Grenze zwischen den Polen also auch die Möglich­ keit „ihrer differenzierten Beziehung“ (ebd., 175). Programmatisch heißt es hierzu bei Friedlaender: „Es gilt die Kultur dieser Grenze.“ (ebd., 131) Und an anderer Stelle heißt es: „In der Tat ist die Grenze das sinnfälligste Symbol des Verhältnisses unseres Wesens zur Welt.“ (ebd., 173) Diese reine Grenze als Mitte zwischen den Polen ist allerdings weder prästabiliert, denn sie geht der Polari­ tät nicht voraus („Das eigne Innere ist nur zum Äußern wirksam“, ebd., 114), noch ist diese Mitte endgültig zu erreichen: „Diese mediale Indifferenz bleibt in alle Ewigkeit, weil sie schöpferisch mit einer an sich selbst unauflöslichen, unendlichen Differenz beschäftigt sein muß, Disziplin.“ (ebd., 139) Auf diese mediale Indifferenz, die selbst keine feste Position bestimmt, sondern nur durch die Polaritäten hindurch als latenter Punkt erkennbar ist, kommt es Friedlaender in seiner Philosophie der ‚schöpferischen Indifferenz‘ an. Von dieser stets neu anzustrebenden Erkenntnisposition aus ergebe sich allererst die Möglichkeit, so Friedlaender, die Widersprüche der modernen Lebenswelt, die „die Merkmale der tiefsten Erschütterung aller alten Festigkeiten“ (F/M 3, 721) trage, in ihrer polaren Spannung wahrzunehmen, ohne die „gegensätzlichen Bereiche ineinander laufen, miteinander ver­ schwimmen“ (F/M 10, 412) zu lassen. Es sei dieses „Aperçu“ der Grenze, das der „Weltanschauung Goethes zu Grund [liegt]“ (F/M 2, 194) und durch das er die Dinge weder nur trennt noch ineinander übergehen lässt, sondern „[z]wischen Subjekt und Objekt, zwischen Aktiv und Passiv […] jede medial verwirklicht“ (ebd.) sieht. Als „Medium zwischen Licht und Finsternis“ (ebd., 306) sei das 241 Diese Theorie des ‚Nihilismus‘ entwickelt Friedlaender in kritischer Auseinandersetzung mit Kants vorkritischer Schrift Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763). (vgl. hierzu Kap. 7.2).

226

Kapitel 4

Sehen ein solch beispielhafter Indifferenzpunkt polarer Wahrnehmungsweise. Was Goethe „beispielhaft symbolisch für die gesamte Kultur“ (F/M 3, 833) im polaren Sehen vorgestellt hat, gelte auch für jeden „Ersinnenden, Erdenkenden, Erfindenden, Erschaffenden“ (F/M 10, 415): „das Subjekt erfährt, daß alles, was es äußert, notwendigerweise in der ‚Form‘ der Polarität erscheinen muß.“ (ebd., 349) Das betrifft ganz offensichtlich weniger den Naturwissenschaftler Goethe als vielmehr die ‚Maske Goethe‘, die sich Friedlaender aufsetzt. Da diese Über­ legungen direkt auf die Stelle folgen, die Benjamin zitiert, dürfte er auch diesen Versuch Friedlaenders, Goethe für eine polare Perspektive auf den eigenen Denk- und Schreibort in Anschlag zu bringen, registriert haben. Dabei betont Friedlaender immer wieder die Notwendigkeit so „sorgfältig sensual theoretisierend wie Goethe“ zu verfahren, um „die Unterscheidung nach ihrer wesentlich in sich gegenseitigen (polaren) Form“ (F/M 10, 187) voll­ ziehen zu können. Goethes „zarte Empirie“242 sei dadurch so vorbildhaft, weil sie „nichts hinter den Phänomenen“243 sucht, sondern diese „selbst […] die Lehre [sind]“244. Friedlaenders Text Moderner Sieg der Goetheschen Farbenlehre (1931) kann dabei als späte Antwort auf Wohlbolds einleitende Rahmung seiner Neuausgabe der Farbenlehre verstanden werden. Denn wo Wohlbold Goethes vorsichtige Theoretisierung als „das Erlebnis des Ewigen in der Erscheinungswelt“245 interpretiert und in diesen Zusammenhang zugleich dadurch den „Untergang des Abendlandes aufzuhalten“246 sucht, dass er der Farbenlehre den ungebrochen gültigen Versuch eines neuen „Erlebnis der Totalität und auf einer Neuschöpfung der Wirklichkeit aus der Idee“247 abliest, ist das ‚Ewige‘, besser: das Unendliche bei Friedlaender die polare Spannung selbst, die er in seinen Goethe-Texten immer wieder explizit auf die Polari­ tät kultureller Erscheinungen zurückbindet: „In jedweder Hinsicht, nicht nur in farbenphysikalischer, hat die Kultur es mit lauter Problemen des Unter­ schiedes zu tun, mit solchen des sozialen, des sexualen, mit theoretischen, praktischen und künstlerischen Differenzen.“ (F/M 3, 833) Wertet man die Streitfrage zwischen Newton und Goethe symbolisch, so Friedlaender, so könne sie dadurch zu einer „kulturell ungemein förderliche Medizin“ (F/M 3, 855) werden, denn an ihr lasse sich der Umgang mit Polaritäten üben. 242 Johann Wolfgang v. Goethe: Maximen und Reflexionen. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 13: Sprüche in Prosa, hg. v. Harald Fricke. Frankfurt a. M. 1993, S. 149. 243 Ebd., S. 49. 244 Ebd. 245 Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 111. 246 Hans Wohlbold, Geleitwort, S. 7. 247 Hans Wohlbold, Einführung des Herausgebers, S. 111.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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Ort dieser Spannungen ist die Gegenwart als latente Mitte zwischen Ver­ gangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist der Nullpunkt der Zeit, an dem sich die Spannungen entfalten: „Der unerschöpfliche Kraftquell entspringt aus der schöpferischen Indifferenz: nur für diese kombinieren sich Zukunft und Vergangenheit zur echten Gegenwart […]“ (F/M 10, 428) Und an anderer Stelle heißt es: „Ewige Geistesgegenwart ist Angel aller Zeit, nunc stans (Indifferenz) des Zeit-Unterschiedes.“ (ebd., 127) Wenn Friedlaender betont, dass „Goethes Urphänomen, modern ausgedrückt, besagt, daß jede Farbe eine Spannung zwischen optischen Plus-Minus-Polen ist  …“ (F/M 3, 832), lässt sich das für die zeitdiagnostische Funktionalisierung in der Schöpferischen Indifferenz auf die Gegenwart als Ort der „differenzierten Kraftentfaltung“ (ebd., 513) über­ tragen. In ähnlicher Weise bezieht sich Benjamin auf das Urphänomen, wenn er es aus seinem naturwissenschaftlichen Kontext in eine geschichtsphilo­ sophische Kategorie übertagen will. Die Idee des „Jetzt der Erkennbarkeit“ (WB V.1, 608), in der Geschichte und Gegenwart plötzlich zu einer polaren Konstellation finden, ist Friedlaenders Vorstellung sehr ähnlich, wonach auf der „Nadelspitze der Gegenwart“ (F/M 10, 515) die Polarität der Zeiten kurz­ zeitig in eine Balance gebracht werden, so dass die Gegenwart sich kurzzeitig selbst erkennt. In diesem auf die Gegenwart als Ort der Erkenntnis gerichteten Sinn der Indifferenz scheint sich vor allem Benjamins Aussage zu beziehen, dass die ‚schöpferische Indifferenz‘ „Bannkreis eines Geschehens, Kraftfeld einer Entladung“ (WB III, 138) sei. Die Konzeption eines Indifferenzpunktes für eine kritische Erkenntnis der Gegenwart steht bei Benjamin weiterhin im Zusammenhang mit der „Erfahrungsarmut“ (WB II.1, 215), die er der Gegenwart in dem zu Beginn der 1930er Jahre entstandenen Text Erfahrung und Armut attestiert. Die „Erfahrung“ sei, so schreibt Benjamin, „im Kurs gefallen“ (ebd., 214). Die Diagnose lässt sich als eine Spezifizierung dessen lesen, was Reinhart Koselleck anhand der ‚Verzeitlichung der Geschichte‘ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als die grund­ sätzliche historische Konstitution der Moderne beschrieben habe. Durch das Aufbrechen zyklischer Zeitvorstellungen sei, so Koselleck, das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont grundsätzlich umgewandelt worden. Koselleck führt diese beiden Begriffe als „historische Kategorien“248 ein, um das sich verändernde Zeitverständnis seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu bestimmen, das sich absetzt von der Vorstellung der historia

248 Reinhart Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349-375, hier: S. 350.

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Kapitel 4

magistra vitae.249 Koselleck betont, dass es keine der „Bedingungskategorien möglicher Geschichte“250, etwa Krieg, Frieden, Demokratie, Grenze, geben könnte, „ohne daß sie nicht auch durch Erfahrung und Erwartung konstituiert würde“251. Seine These lautet nun, dass in der Zeit, in der sich die Geschichte zu einem linearen Prozess entwickelt, „die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.“252 Diese neue Zeit, so greift Jürgen Habermas wiederum Kosellecks These in seiner Studie über die Moderne auf, könne folglich ihre Legitimation dann nicht mehr aus der Tradition begründen, sondern „muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen“253. Der „Begriff des ‚Fortschritts‘“254 bediene dieses Rechtfertigungs­ bedürfnis als „aktive Verwandlung dieser Welt“255 und etabliert damit ein Zeit­ verständnis als linearen Prozess in Richtung einer sich stetig verbessernden Zukunft. Die Kritik an diesem Fortschrittsbegriff steht im Hintergrund von Erfahrung und Armut. In diesem Text spezifiziert Benjamin den Bruch jedoch, indem er den Verlust eines historischen Erfahrungsraums von dem epochalen Ereignis des Ersten Weltkrieges aus in den Blick nimmt: „Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Welt­ geschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint. Konnte man damals nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbücher ergossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum Ohr strömt. Nein, merkwürdig war das nicht. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen, durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.“ (WB II.1, 214)

249 Vgl. Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 38-66. 250 Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘, S. 352. 251 Ebd. 252 Ebd., S. 359. 253 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1988, S. 16. 254 Reinhart Koselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘, S. 363. 255 Ebd., S. 364.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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Diese prominente Stelle taucht auch im Aufsatz Der Erzähler auf (vgl. WB II.2, 439) und wird dort als Grund für den Verlust erzählender Weitergabe von Erfahrungen zum Ausgangspunkt seiner Analyse des Stands epischer Erzählformen in der Moderne. Das Zitat markiert aber nicht nur bildlich die epochale Brucherfahrung zwischen dem langen 19. Jahrhundert („Pferde­ bahn“) und dem beginnenden ‚Zeitalter der Extreme („zerstörende[..] Ströme und Explosionen“), sondern nennt mit der „Mitte“, die die eigene Gegenwart zwischen einer nicht mehr gültigen Tradition und dem Verlust aller Gewiss­ heiten als spannungsgeladenes „Kraftfeld“ ausweist, den eigentlichen Gegen­ stand des kurzen Textes. Diese „Mitte“, so attestiert Benjamin der Gegenwart in einer zeitdiagnostischen Perspektive, wird von unterschiedlichen Kräften besetzt. Es gebe auf der einen Seite etwa die Bildungsbürger, die an der Bildung und an der Tradition krampfhaft „[f]esthalten“ (WB II.1., 219), und eine ganze Reihe obskurantistischer Bewegungen wie „Astrologie und Yoga­ weisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus“ (ebd., 214). Die einen verblenden die epochale Brucherfahrung des Weltkrieges und sehen die Gegenwart weiterhin in einer geistesgeschichtlichen Traditionslinie abgesichert, die anderen versuchen den Bruch mit lebensreformerischen, okkulten oder religiösen Ideologien zu über­ blenden. Auf der anderen Seite stünden, so Benjamin weiter, die schonungs­ losen „Bekenner einer neuen Armut“ (ebd., 217), die sich der Faktizität der Erfahrungsarmut stellen. Benjamin nennt vor allem Brecht und Scheerbart, die sich auszeichnen durch: „Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm […].“ (ebd., 216) Neben den im Text außerdem genannten Adolf Loos und Paul Klee wird an anderer Stelle auch Friedlaender zu diesen ‚Bekennern‘ einer neuen Armut gezählt. (vgl. WB II. 3, 1112)256 Im Gegensatz zu der bürgerlichen Illusion eines ungebrochenen Traditions­ zusammenhangs oder den ideologischen Verblendungen durch neue ganz­ heitliche Synthesebestrebungen in esoterischen Bewegungen, scheuen, so Benjamin, ‚Typen‘ wie Brecht, Scheerbart oder eben auch Friedlaender sich nicht, in ihren ästhetischen Konstruktionen „von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken“ (WB II.1., 215). Zwar zeichne diese ästhetischen Versuche eine bisher unbekannte Armut aus, diese sei aber konstruktiv, weil hier die Möglichkeit entstehe, mit der „kleine[n] Münze des ‚Aktuellen‘“ (ebd., 219) zu rechnen. Es ist auffällig, dass Benjamin diese ‚neuen Barbaren‘ (vgl. ebd., 215) zwar einerseits als Konstrukteure 256 Vgl. zu Friedlaenders Rolle in diesem Zusammenhang auch die Anmerkungen in Kap. 8.5.

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Kapitel 4

bezeichnet, andererseits aber mit einem Begriff anspricht, den er sonst meist eher negativ besetzt: sie seien „große[…] Schöpfer“, die „erst einmal reinen Tisch“ (ebd.) machen. Mit ‚Schöpfer‘ ist hier nicht etwa der an Gundolfs Goethe-Buch im Wahlverwandtschaft-Aufsatz kritisierte „unbesonnene Sprachgebrauch“ gemeint, „der an dem Worte ‚Schöpfer‘ sich erbaut“ (WB I.1, 160), indem dieser Gebrauch aus dem Dichter einen repräsentativen Heroen macht und Werk und Leben in unkritischer Weise miteinander vermischt. Mit dem ‚Schöpferischen‘ ist hier der Nullpunkt des Beginnens im Aktuellen adressiert, an dem die ästhetischen Konstruktionen eines Brecht oder Scheerbart ansetzen. Die Vermutung liegt nahe, dass Benjamin mit der über­ raschenden Bezeichnung ‚große Schöpfer‘ hier auch auf die Schöpferische Indifferenz Friedlaenders rekurriert. Dann wäre die „Mitte“ als „Kraftfeld zer­ störender Ströme und Explosionen“ der Ort, an dem gleichermaßen sowohl eine zeitgemäße schriftstellerischer Haltung (Brecht, Scheerbart) als auch eine kritische Gegenwartsdiagnostik (Benjamins Text Erfahrung und Armut als solcher) anzusetzen habe. Es ist auch kein Zufall, dass Friedlaender für die kritische Positionierung der ‚schöpferischen Indifferenz‘ in der Gegenwart betont, sie setze die „vollendete Verarmung des Innern“ (F/M 10, 115) voraus. Das betrifft auch den Umgang mit der Tradition als solcher. Manfred Schneider hat bereits darauf hingewiesen, dass der ‚neue Barbar‘ sich nicht einfach gegen die Tradition stellt, sondern bisherige „Formen der Traditionsaneignung der Vergangenheit“ für nicht mehr gültig erklärt.257 Der Punkt der ‚schöpferischen Indifferenz‘ wäre so verstanden jene Voraussetzung in der eigenen Gegenwart, von der aus eine andere, nicht mehr auf historische Kontinuitäten beruhende Beziehung zur Tradition herzustellen ist, die die Gegenwart selbst als einen zwischen Vergangenheit und Gegenwart kritisch eingefassten Augenblick versteht. Diese zwar naheliegende, aber nicht explizit ausgewiesene intertextuelle Spur auf die Schöpferische Indifferenz in Erfahrung und Armut lässt sich anhand einiger anderer, direkter Bezugnahmen auf die Friedlaenders Werk untermauern, die in Texten von Benjamin zu finden sind, die in unmittelbaren thematischen Zusammenhang mit der Frage nach der ‚Erfahrungsarmut‘ stehen. Im Aufsatz Der Erzähler fragt Benjamin, „ob die Geschichtsschreibung nicht den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen Formen der Epik darstellt“ (WB II.2, 451). Die geschriebene Geschichte – Benjamin analogisiert sie mit dem „weiße[n] Licht“ (ebd.) – wäre dann gleichsam der Nullpunkt 257 Manfred Schneider: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München/Wien 1997, S. 213.

„Polarität als Schlüssel“: Benjamin, Friedlaender, Goethe

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von erzählter Geschichte, die sich in den verschiedensten „Spektralfarben“ (ebd.) epischer Geschichtserzählung ausdifferenziert. In den Notizen zum ‚Passagen-Werk‘ heißt es wiederum, dass „[a]lle geschichtsphilosophischen Kategorien […] auf den Indifferenzpunkt zu treiben“ (WB V.2, 1034) seien. Dem destruktiven Charakter attestiert er in einem Entwurf zur Einbahnstraße wiederum an einem „Indifferenzpunkt“ (WuN 8, 220) zu stehen: „sein Dasein ist Schöpfung und sein Tun Zerstörung.“ (ebd.) Marcel Prousts wiederum attestiert Benjamin, dass dieser mit der Recherche trotzt (oder gerade wegen) der „Diskrepanz von Poesie und Leben“ (WB II.1, 311), in deren Hintergrund einmal mehr der Verlust an Erzählbarkeit steht, ein epochales Erzählwerk geschaffen hat, das dem Schreiben seinen „Ort im Herzen der Unmöglich­ keit, im Zentrum und freilich zugleich im Indifferenzpunkt aller Gefahren“ (ebd.) anweist. In allen Fällen scheint Benjamin mit dem ‚schöpferischen Indifferenzpunkt‘ einen Ort des Schreibens bestimmen zu wollen, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass er weder positiv noch negativ bestimmt ist, sondern den Nullpunkt möglicher Schreibhaltungen bezeichnet. Diese gleichermaßen erkenntniskritische, politische und ästhetische Reflexion auf eine latente Mitte zwischen den Polen ist sowohl die Grundlage für Benjamins spätere geschichtsphilosophische Konstruktion eines „Jetzt der Erkennbarkeit“ (WB V.1, 608) als auch für die Reflexion über die Position des Schreibenden. Vor diesem Hintergrund wird in den nachfolgenden Untersuchungsteilen zu zeigen sein, welche Rolle diese Idee einer ‚schöpferischen Indifferenz‘ erstens auch in Benjamins früher politischen Theoriebildung hat und zweitens, wie die Konzeption einer polaren Spannungsbeziehung zwischen Politik und Literatur immer wieder auf die Reflexion über den eigenen Ort des Schreibens inmitten der Extreme zurückgebunden wird.

III. Passage II – „Der Anspruch auf unmittelbar politische Wirkung wird sich nicht allein als ein Bluff […] erweisen.“

Kapitel 5

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918 Bevor Benjamin sich nach 1918 intensiv um eine größer angelegte philosophische Arbeit über das Politische bemüht, ist er schon vor und während des ersten Weltkrieges in unterschiedliche politische Debatten involviert. Diese Debatten sollen hier nachgezeichnet werden, weil sie sich nicht nur thematisch, sondern auch hinsichtlich der von Benjamin eingesetzten Argumentationen und Denkfiguren als ernstzunehmende Vorgeschichte der im Hauptteil B der vorliegenden Arbeit ausführlich zu untersuchenden intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhänge der nach 1918 einsetzenden „Arbeit über Politik“ (Br II, 74) geradezu aufdrängen. Benjamin wird auch später noch auf diese frühen Debatten zurückkommen und seine systematischen Überlegungen nach 1918 reagieren auch immer wieder auf die früh formulierten Problemstellungen im Spannungsverhältnis aus Politik, Literatur und der Suche nach einer eigenen kritischen Schreibweise. 5.1

„Das Problem der Politik für den Intellektuellen“

In einem Brief an seinen Jugendfreund Ludwig Strauss, dem Dichter und späteren Schwiegersohn Martin Bubers, schreibt Benjamin Anfang Januar 1913, dass er kürzlich „zum ersten Male das Problem der Politik für den Intellektuellen gesehen“ (Br I, 81) habe. Die Briefe an Strauss gehören zu den bedeutsamsten Dokumenten der frühen intellektuellen Entwicklung Benjamins vor dem Weltkrieg, weil er darin eine „intensive Auseinandersetzung über den Zionismus“1 führt, die selbst Scholem damals unbekannt war.2 Benjamin selbst spricht 1 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 12. 2 Zwei Anlässe haben zu dieser Auseinandersetzung geführt: Zum einen berichtet Benjamin im August  1912 in einem Brief an Herbert Blumenthal, dass ihm in den Gesprächen mit Kurt Tuchler, Mitbegründer des jüdischen Jugendwanderbundes Blau-Weiß, während eines Sommeraufenthalts in Stolpmünde erstmals „zionistisches Wirken als Möglichkeit und damit vielleicht einmal als Verpflichtung […] entgegen getreten“ (Br I, 59) sei. Zum anderen leitet Moritz Goldstein mit seinem 1912 in der Zeitschrift Kunstwart erschienen Aufsatz Deutsch-jüdischer Parnaß die sogenannte ‚Kunstwart-Debatte‘ über die Rolle und Sichtbarkeit der Juden im öffentlichen Leben in Deutschland ein, die Benjamin intensiv verfolgt und die dann zum Ausgangspunkt der brieflichen Auseinandersetzungen mit Ludwig Strauss

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_006

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Kapitel 5

sogar von einer „programmatische[n] Bedeutung“ (ebd., 74) der Briefe. In dem genannten Brief berichtet Benjamin, dass er auf der Grundlage der Einsicht in das „Problem der Politik“ einen Aufsatz mit dem Titel Geist und Politik geschrieben habe. Inwiefern dieser Aufsatz etwa für seine 1918/19 einsetzenden Bemühungen um seine größere „Arbeit über Politik“ (Br II, 127) aufschlussreich sein könnte, kann heute nicht mehr geklärt werden, da der Aufsatz verschollen ist. Allerdings zitiert Benjamin eine kurze Passage aus diesem Aufsatz in seinem Brief, die einen Hinweis darauf gibt, in welchen Zusammenhängen das gegenüber Strauss erwähnte Spannungsverhältnis von Politik und Intellektualität gestanden haben dürfte. Sich selbst zitierend schreibt Benjamin: „Irgendwo aber muß das Geistige den Geist von sich schleudern (wie die Fahne unter die Feinde). Es geht ihm sonst die Beziehung, das Symbolische der Idee verloren. Er glaubt sonst: es sei seine Idee; aus dem Gott entwickelt sich der Fetisch. Die Politik ist der Ort dieser freiwilligen Tat.“ (Br I, 81)

Mit der „freiwilligen Tat“ ist hier noch nicht die politische Praxis als solche adressiert, sondern das ‚Wegschleudern‘ des Geistigen als Voraussetzung für eine politische Praxis, die sich nicht der Illusion einer unmittelbaren Realisierung des Geistigen im Wirklichen hingibt. Denn zwischen dem Geist und der politischen Praxis klafft für Benjamin offenbar eine Lücke, die der Intellektuelle nur scheinbar und unter Verlust des „Symbolische[n] der Idee“ schließen könne. Das ‚Wegschleudern‘ wäre dann ein Entlassen der Idee in ein Feld, in dem sie nicht mehr ausschließlich und vornehmlich intellektuell beherrscht wird. Dennoch scheint die Idee – unter der Regie der „Feinde“? – dort nicht ganz unwirksam zu sein, resümiert Benjamin doch abschließend: „Politik ist eine Folge geistiger Gesinnung, die nicht mehr am Geist vollzogen wird.“ (ebd.) Wir werden weiter unten noch beobachten können, dass Benjamin dieses Nachdenken über die Spannung von Geist und Tat3, die wird. Vgl. zum Verhältnis von Benjamin und Tuchler und einer detaillierten Beschreibung der ideologischen Hintergründe der ‚Kunstwart-Debatte‘ Gary Smith: ‚Das Jüdische versteht sich von selbst‘. Walter Benjamins frühe Auseinandersetzung mit dem Judentum. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), S.  318-334. Zu Ludwig Strauss und seiner Rolle in der ‚Kunstwart-Debatte‘ vgl. Andreas Herzog: Ludwig Strauß und Ernst Sommer als Vertreter der Jüdischen Renaissance. Ein Beitrag zur BuberRezeption. In: Armin A. Wallas (Hg.): Jüdische Identität in Mitteleuropa. Literarische Modelle der Identitätskonstruktion. Tübingen 2002, S. 47-60. 3 So der Titel des 1911 erschienen Essays von Heinrich Mann, der 1916 wiederabgedruckt den Auftakt von Kurt Hillers erstem Ziel-Jahrbuch bildet. Vgl. Heinrich Mann: Geist und Tat. In: Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München/Berlin 1916, S. 1-8.

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918

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er im Brief zwar einerseits offensichtlich bereits als konstitutive Differenz perspektiviert, andererseits aber noch unter dem Stichwort der „Folge“ tendenziell in einer Ursache-Wirkungs-Logik aufzuheben versucht, später vor allem anhand der kritischen Auseinandersetzung mit Kurt Hillers Theorie und Praxis des ‚Aktivismus‘ schärft. Dabei wird er Hillers „Anspruch auf unmittelbar politische Wirkung“ (WB VI, 180) des Schreibens als einen „Bluff“ (ebd.) zu entzaubern versuchen, der eine schonungslose Einsicht in die prekäre Stellung des Intellektuellen und politischen Schriftstellers inmitten der Spannungen der Zeit überblende. Die im eingangs zitierten Brief aufgerufene Spannung betrifft aber auch Benjamins eigene politische Erfahrung vor dem Ersten Weltkrieg und die Frage nach dem „Komplex“ seiner „Gesinnungen, die ja im Politischen in bestimmter Richtung zusammenzuziehen sind“ (Br I, 83). Benjamins gleichermaßen theoretische wie praktische Beschäftigung mit Politik reicht bekanntlich zurück bis in die Schulzeit und die frühen Universi­ tätsjahre: Auf der einen Seite engagiert er sich praktisch für die Wickersdorfer Schulreformbewegung Gustav Wynekens und daran anschließend in den ersten Studienjahren innerhalb der freistudentischen Bewegung, deren Berliner Vorsitzender er sogar kurzzeitig war; auf der anderen Seite erkennt man vor allem in den frühen Briefen, wie durch verschiedene Freunde mehrmals Aufforderungen zur Selbstpositionierung innerhalb der jüdischen Jugendbewegung und der zionistischen Debatten der Zeit an Benjamin herangetragen worden sein müssen, finden sich doch in Benjamins Briefen aus dieser Zeit einige grundsätzliche Aussagen darüber, wie er sein Verhältnis zum Judentum versteht. Beide Seiten sind zwar nicht deckungsgleich, weisen aber nicht nur dort Überschneidungen auf, wo Benjamin sie selbst unmittelbar herstellt. (vgl. Br I, 75f.) Schnittmengen ergeben sich etwa über die für Benjamins frühe Schriften zentralen Fragen zur gegenwärtigen Bedeutung von Religion und Metaphysik, die etwa im Dialog über die Religiosität der Gegenwart in einer kontroversen Diskussion über den „Zweck der Kunst“ (WB II.1, 16) verdichtet und zugespitzt werden. Am Schnittpunkt beider Debattenzusammenhänge verhandeln Benjamins frühe Texte zudem ethische Fragen zur Freiheit und zu sittlichen Handlungsmaximen des Individuums sowie zu sozialen Gemeinschaftsformen und Lebensweisen. So schreibt Benjamin etwa 1912 in Die Schulreform, eine Kulturbewegung, dass es der Schulreformbewegung nicht nur um einzelne technische Verbesserungen des Schulbetriebs gehe, sondern um „eine Gesinnung, ein ethisches Programm unserer Zeit“ (WB II.1, 13). Solche Überschneidungen sind auch über Benjamin hinaus evident. So hat Daniel Weidner gezeigt, dass in der Generation der „‚postassimilatorischen‘ Juden“ eine jüdische Jugendbewegung entsteht, die sich an der deutschen

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Kapitel 5

Jugendbewegung orientiert, was in „scheinbar paradoxer Weise selbst wiederum als kulturelle Assimilation“4 geschieht. Diese Orientierung betrifft allen voran die für die Jugendbewegung charakteristische „Verbindung von Authentizitätsethik mit einer neuen Sozialform.“5 Mit den konfliktuösen „Spannungen“6 in dieser Orientierung, die sich aus den unverkennbaren antisemitischen Tendenzen der deutschen Jugendbewegung und aus einem problematischen „Kult des Natürlichen und Gesunden“7 ergeben, sieht sich auch Benjamin konfrontiert. Man kann durchaus sagen, dass er diese Spannungen, die immer auch diejenigen zwischen „Christentum, Judentum und Deutschtum“8 waren, ganz konkret in seiner Freundschaft zu dem Dichter Fritz Heinle ausgetragen hat, dessen Selbstmord, den der Dichter zusammen mit seiner Verlobten Rika Seligson zu Beginn des ersten Weltkrieges begeht, dann auch eine markante Zäsur in Benjamins vormaligem intensiven praktischen Engagements bildete.9 Handelt es sich bei dieser offensichtlichen Zäsur im Praktischen aber in gleicher Weise auch um einen Bruch im Theoretischen? Der Eindruck kann leicht entstehen, wenn man die marginale Position betrachtet, die die Schriften vor 1914 in der Benjamin-Forschung lange Zeit eingenommen haben. Exemplarisch zeigt sich das an der Stellung der Texte in den Gesammelten 4 Daniel Weidner: Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. München 2003, S. 61. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 62. 7 Ebd. 8 Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, Kritische Philosophie, vergängliche Erfahrung. Berlin 2000, S. 176. 9 Der Konflikt mit Heinle wird besonders deutlich anlässlich einer Veranstaltung der Zeitschrift Die Aktion bei der ein Text von Benjamin verlesen werden sollte, der den Titel Die Jugend trug. Heinle hatte schon im Vorfeld des Abends Einsprüche erhoben, was zu „heftigen Streit“ (WB VI, 479) Anlass bot. Am Veranstaltungsabend hatte Heinle dann einen Text mit demselben Titel vorgetragen. Benjamin resümiert hierzu, dass sich die Texte nur in „Nüancen“ (ebd.) unterschieden, gleichzeitig schreibt er aber auch: „Wenn ich heute an diese beiden Reden zurückdenke, so möchte ich sie den aneinanderschlagenden Inseln der Argonautensage vergleichen, den Symplegaden, zwischen denen kein Schiff heil hindurchkommt und, damals, ein Meer von Liebe und Haß seine Wogen warf.“ (ebd.) Astrid Deuber-Mankowsky hat das Verhältnis zwischen Benjamin und Heinle minutiös rekonstruiert und als Konflikt zwischen einer christlichen Perspektive auf Erlösung (Heinle) und einer jüdischen Perspektive der Erwartung (Benjamin) beschrieben, die sich vor allem an der unterschiedlichen Bewertung von Stefan Georges Stern des Bundes manifestiere. Wo Heinles „identifikatorische[…] Begeisterung“ (Astrid Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen, S. 178) für die Gedichte Georges „Erfüllung und Versöhnung“ (ebd.) realisiert sah, formulierte Benjamin eine Position, die von einer symbolischen Lektüre ausgeht und auf „Erfüllung, die man nur erwarten kann“ (ebd., 177), gerichtet ist. (vgl. insgesamt ebd., S. 175-193; zur Unterscheidung von ‚Erwartung‘ und ‚Erfüllung‘ vgl. außerdem Br I, 182).

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Schriften: Die Herausgeber Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser haben die Texte im zweiten Band unter einem ausschließlich „chronologischthematische[n] Zuordnungsprimat“ (WB II.3, 817) rubriziert und den ‚eigentlichen‘ Aufsätzen, Essays und Vorträgen vorangestellt. Da diese Texte sich „drastisch genug von den reifen Arbeiten des Autors“ (ebd.) unterscheiden, so die Herausgeber, sei eine Einordung nach „Kriterien der literarischen Form“ (ebd.) nicht möglich. Diese prekäre Stellung ‚vor‘ dem Werk wurde erst in den letzten Jahren in Untersuchungen revidiert, die Benjamins frühe Schriften zu einem ernstzunehmenden Bestandteil seiner intellektuellen Entwicklung gemacht haben.10 In den beiden nachfolgenden Unterkapiteln geht es jedoch weder darum, nochmals die Debatten um die in der Forschung lange Zeit befremdlich erscheinenden pathetisch-metaphysischen Konstruktionen der jugendbewegten Schriften zu rekonstruieren noch darum die mitunter verbissenen Debatten über den moralisch-sittlichen Selbstanspruch der Jugend und die teilweise problematische ideelle Überhöhung neuer Gemeinschaftsformen zu analysieren. Auch die Frage, welche Bedeutung die frühen Auseinandersetzungen mit dem Zionismus im engen Sinne für das Verhältnis von Politik und Theologie im Allgemeinen bei Benjamin haben, werden nur am Rande mitverhandelt werden können. Die nachfolgenden Untersuchungen zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in Benjamins frühen Schriften nehmen stattdessen ihren Ausgangspunkt von einer Bemerkung aus einem Brief an Ludwig Strauss vom 10.10.1912. Benjamin bezieht dort an einer Stelle die zionistischen Debatten und die Schulreformbewegung in bemerkenswerterweise aufeinander, indem er davon spricht, dass er sich in beiden Debattenkonstellationen vor allem denjenigen Personen zugehörig fühle, bei denen er „eine streng dualistische Lebensauffassung [finde], die ich (nicht zufällig!) in mir und in der Wickersdorfer Anschauung vom Leben finde. Auch Buber spricht von diesem Dualismus.“ (Br  I, 71) Profane (Schulreform-)Politik (Stichwort: „Wickerdorfer“) und jüdische Theologie (Stichwort: „Buber“) werden hier auf überraschende Weise hinsichtlich einer verbindenden ‚dualistischen Anschauungsweise‘ zusammengeführt, die aber nicht weiter expliziert wird. Benjamin wird einige Jahre später, nach 1918 und unter veränderten Vorzeichen eine solche Beziehung von Politik und Theologie im prominenten als 10

Vgl. Ansgar Hilach: ‚Ein neu entdecktes Lebensgesetz der Jugend‘ – Wynekens Führergeist im Denken des jungen Benjamin. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd. 2. München 1999, S. 872-890; Astrid Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen; Johannes Steizinger: Revolte, Eros und Sprache. Walter Benjamins „Metaphysik der Jugend“. Berlin 2013.

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Kapitel 5

zwei „Pfeilrichtunge[n]“ (WB II.1, 203) bezeichnen, deren Kräfte sich durch ihre „entgegengesetzt gerichtete[n] Wege zu befördern“ (ebd., 204) vermögen. (Vgl. hierzu Kap. 7) Wenngleich die ‚Dualität“ im frühen Brief noch ein eher äußerliches Verhältnis zwischen dem Politischen und dem Theologischen betrifft und eine strikt polare Verhältnisbestimmung zwischen Politik und Theologie erst später erprobt wird, stellt sich dennoch die Frage, ob hinsichtlich der Argumentationsstruktur und Anschauungsweise zwischen der „streng dualistische[n] Lebensauffassung“ und dem polaren Bild von der Beförderung der Pfeile qua Widerstrebigkeit Zusammenhänge bestehen könnten. Oder etwas anders formuliert: Benjamins frühe Aussage über den „Dualismus“ ist insofern bemerkenswert als daran die Frage anzuschließen ist, ob und wie hier möglicherweise in der dualistischen Anschauungsweise polare Denkfiguren gewissermaßen als unscharfe Vorstufen vorgeprägt sind, die späterhin dann, wie im Hauptteil B zu zeigen sein wird, das Zentrum von Benjamins systematischen Überlegungen zur spannungsgeladenen Interferenzzone aus Politik und Ästhetik darstellen. Dafür gilt es, genauer zu beobachten, wie sich dieser „Dualismus“ gestaltet, den Benjamin in den angedeuteten Debatten vor 1918 als Anschauungsweise sowohl in politischen als auch in theologischen Angelegenheiten favorisiert. Benjamins Hinweis, dass auch Buber von diesem Dualismus spricht, ist hierbei aufschlussreich und irritierend zugleich, kündigte Benjamin doch auf der einen Seite früh schon gegenüber Scholem „starke Vorbehalte gegen Buber“11 an, die Scholem auf „die positive Stellungnahme Bubers und seiner Hauptschüler zum Kriege (dem sogenannten ‚Erlebnis‘ des Krieges)“12 bezieht, zugleich aber auch auf Bubers Drei Reden über das Judentum von 1911 zurückführt, die für die zionistische Jugendbewegung äußerst einflussreich waren und auch von Benjamin rezipiert wurden. Zudem hatte sich Benjamin in seinen Briefen an Strauss insbesondere über die deutliche Abgrenzung von Bubers ‚mystischen Erlebniskult‘13 tentativ zur Idee eines „Kultur-Zionismus“ (Br I, 72) vorgearbeitet, 11 12 13

Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 14. Ebd. Exemplarisch und besonders nachdrücklich zeigt sich die Bedeutung des „allerinnerlichste[n] Erlebnis[ses]“ der „schwingenden und sich befreienden Seele“ in Bubers Text Ekstase und Bekenntnis, der die Ekstatischen Konfessionen einleitete. (vgl. Martin Buber: Ekstatische Konfessionen. In: ders.: Werkausgabe, Bd. 2.2, hg. v. David Groiser. Gütersloh 2012, hier: S. 51 und S. 50). Karol Sauerland hat Bubers mystischen Erlebniskult knapp und bündig in die Konjunktur mystischen Denkens um 1900 eingeordnet. (vgl. Karol Sauerland: Mystisches Denken zur Jahrhundertwende. Der junge Lukács, Mauthner, Landauer, Buber, Wittgenstein und der junge Bloch. In: Marijan Bobinac (Hg.): Literatur im Wandel. Festschrift für Viktor Žmegač zum 70. Geburtstag. Zagreb 1999, S.  175-190). Scholem beschreibt Benjamins Abneigung gegen den bei Buber zentralen Erlebnisbegriff

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deren unmittelbar aufeinander bezogenen Koordinaten einmal mit der „Idee des Literaten“ (ebd., 63), der „aus der Kunst […] Geist für das Leben der Zeit […] gewinnen“ (ebd.) soll, und zum anderen durch ein intellektuelles Judentum als „Elite […] in der Schar der Geistigen“ (ebd., 75) abgesteckt sind. In der „Idee des Literaten“ und der geistigen Elite erkennt Benjamin die Möglichkeit der intellektuellen Wirkung eines erstarkten jüdischen „Selbstbewußtsein[s]“ (ebd., 62), das sich als „jüdisches Geistesleben in deutscher Sprache“ (ebd.) inmitten der deutschen Öffentlichkeit entfalten könne. Die damit einhergehende explizite Absage sowohl an „rassenbiologische Gesichtspunkte“ (ebd., 61) als auch an einen nationalstaatlichen oder auch nationalistischen Zionismus („das National-Jüdische der zionistischen Propaganda“, ebd., 83) ist implizit auch gegen Buber gerichtet.14 Auf der anderen Seite begründet Benjamin aber seine spezifische kulturzionistische Perspektive mit einer konstitutiven und in seiner Vorstellung höchst produktiven ‚Zweiseitigkeit‘ („Wenn wir zweiseitig, jüdisch und deutsch, sind“, ebd., 61) bzw. „Zweiheit“ (ebd., 62) und nutzt damit eine Denkfigur des Dualistischen, die Buber in

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folgendermaßen: „Buber persönlich habe auf ihn den Eindruck eines Menschen gemacht, der in ständiger Entrückung lebt, irgendwo ganz fern von sich selber, ein ‚Doppel-Ich‘. […] Besonders scharf war Benjamin in der Leugnung des in den Buberschen Schriften der damaligen Zeit (vor allem von 1910 bis 1917) sehr verherrlichten Kult des ‚Erlebnisses‘. Er sagte höhnisch, wenn es nach Buber ginge, müsse man an jeden Juden zuerst die Frage stellen: ‚Haben Sie schon das jüdische Erlebnis gehabt?‘“ (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S.  42) Benjamins entschiedene Kritik am Begriff des Erlebnisses wurde bereits anhand seiner Dilthey-Rezeption dargelegt. (vgl. Kap. 4.2) Wenngleich der Begriff des Erlebnisses in Benjamins frühen Schriften selbst eine prominente Rolle spielte und er dort noch, wie er später fast schon peinlich berührt zugestehen muss, mit „alle[n] rebellischen Kräfte[n] der Jugend gegen das Wort ‚Erfahrung‘ mobil gemacht“ (WB II.3, 902) hatte, ist in der Kritik am Buber’schen Erlebnisbegriff die spätere Gegenüberstellung von Erfahrung und Erlebnis bereits vorgeprägt. Jean-Michel Palmier hat zudem die sehr plausible Vermutung angestellt, dass diese frühe Kritik an Bubers Erlebnisbegriff ein Pendant zur kritischen Distanz gegenüber dem „expressionistischen Pathos“ darstellt. (Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein, S. 246). Ein weiterer, biographischer Grund für die Ablehnung ließe sich zudem noch darin erkennen, dass die Stelle des ‚jugendlichen Erlebnisses‘ sowohl mit all seiner Emphase als auch mit den nachfolgenden bitteren Enttäuschungen bei Benjamin schlichtweg bereits besetzt war: „Mein entscheidendes geistiges Erlebnis hatte ich, bevor jemals das Judentum mir wichtig oder problematisch geworden war.“ (Br I, 69) Dieses geistige Erlebnis war die Begegnung mit Gustav Wyneken und das Engagement für die Schulreformbewegung. Scholem erinnert sich, dass Benjamin ihm gegenüber betont hat, „drei Dinge müssen dem Zionismus abgewöhnt werden: ‚Die Ackerbau-Einstellung, die Rassen-Ideologie und die Bubersche Blut- und Erlebnisargumentation.‘“ (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 41).

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Kapitel 5

seinen Reden als das „extreme[…] Dualitätsbewußtsein im Judentum“15 für die zionistischen Debatten vor und während des Weltkrieges maßgeblich geprägt hat. Benjamin macht die Bedeutung von Bubers Reden für die ihm nahestehende „dualistische Lebensauffassung“ im oben angeführten Brief an Strauss dann auch selbst transparent: Im weiteren Verlauf des Briefes heißt es nämlich, dass auch auf die Wickersdorfer Bewegung dasjenige „hervorragend“ zutreffe, „was Buber in seiner 2ten und 3ten Rede als das Wesen des Jüdischen nennt.“ (ebd., 71) Daniel Weidner hat betont, dass sich der große Einfluss, aber auch die ambivalente Stellung zu Buber in den Debatten der ‚postassimilatorischen‘ Jugend vor allem aus Bubers theoretischer Kombination von mystischer Theologie und moderner Philosophie begründet, da Buber „mittels ausgesprochen moderner und europäischer Figuren denkt, diese aber zurückprojiziert in ein ‚Urjudentum‘.“16 Diese ambivalente Bezugnahme kann grundsätzlich auch für Benjamin in Anschlag gebracht werden. Darüber hinaus ist es zu vermuten, dass es vor allem die Argumentationsformen in den Drei Reden über das Judentum waren, die Benjamin veranlasst haben, sich dort auf Buber zu beziehen, wo er seine eigene Position zu markieren versucht. Denn Buber nutzt nicht nur immer wieder dualistische Argumentationsfiguren, sondern insistiert mitunter auch direkt auf eine polare Anschauungsweise, um die von ihm identifizierten Probleme zu verhandeln. Buber fragt zunächst in den Reden nach der gegenwärtigen Bedeutung der jüdischen Identität nicht als „Formation des äußeren Lebens“, also als eine bloß von den Vätern übernommene, ‚unbelebte‘ Tradition, sondern als gleichermaßen individuelle und gemeinschaftliche „innere[…] Wirklichkeit.“17

15 16

17

Martin Buber: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt a. M. 1920, S. 42. Daniel Weidner, Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben. S. 63f. Das betreffe, so Weidner weiter, insbesondere Bubers „religiösen Anarchismus“: „Bubers Denken kann man als ‚religiösen Anarchismus‘ betrachten, der ein zeittypisches Phänomen der Heterodoxie des deutschen Bildungsbürgertums ist. Er verbindet die anarchistische Rhetorik der Ablehnung des Zwangscharakters des Staates mit der ‚religiösen‘ Verurteilung der bürgerlichen Profanität; damit ist er als ‚Anarchismus‘ ‚freier‘ als der bürgerliche Liberalismus, als ‚religiös‘ ist er ‚tiefer‘ als der kleinbürgerliche Nationalismus.“ (ebd., S. 63). Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, S. 12. Zur Unterscheidung von ‚belebter‘ und ‚unbelebter‘ Tradition heißt es dort: „Warum nennen wir uns Juden? Deshalb nur, weil es unsere Väter getan haben: aus Erbgewohnheit? Oder nennen wir uns Juden aus Wirklichkeit? Aus Erbgewohnheit? Tradition ist edelste Freiheit dem Geschlechte, das sie hell und sinnvoll lebt, aber elendste Sklaverei den Erbgewohnten, die sie zäh und träge übernehmen.“ (ebd., S. 11.).

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918

243

Dort, wo „Heimat, Sprache und Sitte“18 unmittelbar zusammenkommen, ergeben sich im Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zwangsläufig und organisch „die gleichen konstanten Elemente des Erlebens“19. Gerade die Konstanten von „Land, […] Sprache, […] Lebensform“20 seien dem „Westjuden“21 allerdings „zerfallen“22, so dass er in „tiefe[r] Einsamkeit“23 das Verhältnis zur Abstammung erneuern muss. Die Grundlage sieht Buber dabei im „Blut als die tiefste Machtschicht der Seele“24 bzw. als „tiefste Schicht der Disposition“25, die nach wie vor auch den westjüdischen Personentypus bestimmen. Wir haben bereits gesehen, dass Benjamin vor allem in Gesprächen mit Scholem seine Abneigung gegenüber der „Bubersche[n] Blut- und Erlebnisargumentation“26 nachdrücklich betont hat und auch gegenüber Strauss als Kritik an den „Sozial-Biologen im Stile Nietzsches“ (Br I, 78) formuliert. Obwohl es vor dem Hintergrund der in der ersten Rede zentralen Spekulation über die Wiederherstellung einer ‚Bluteinheit‘27 dann auch keineswegs verwunderlich ist, dass Benjamin sich in seinem Brief an Strauss nicht auf diese erste Rede bezieht, sondern explizit nur die zweite und dritte Rede erwähnt (vgl. ebd., 71), finden sich dennoch am Ende der ersten Rede einige Gedanken ausgedrückt, die in gewisser Verwandtschaft mit Benjamins Überlegungen zur deutschjüdischen „Zweiheit“ (ebd., 62) stehen. Buber schließt die erste Rede mit einem Blick auf die „tiefe Zwiespältigkeit unserer Existenz“28 und bildet einige polare Oppositionspaare, die das westeuropäische Judentum charakterisieren: Dieses sei eingespannt zwischen Umwelt/Innenwelt, Eindrücke/Substanz, Atmosphäre/Blut, individuelles/jüdisches Gedächtnis, gesellschaftlichem Zweck­rationalismus/jüdischer Aufgabe.29 Die dezisionistische Rhetorik der epochalen Notwendigkeit einer „Wahl“30, die Buber dann anschließend

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd., S. 23. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 41. „Um aus der Zwiespältigkeit zur Einheit zu kommen, dazu bedarf es der Besinnung auf das, was unser Blut in uns bedeutet […].“ (Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, S. 25). Ebd. Vgl. ebd., S. 26. Ebd.

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Kapitel 5

an diese Polaritäten anlegt, will er aber explizit nicht im Sinne einer Ausschließungslogik verstanden wissen: „[…] das kann nicht so gemeint sein, als ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll.“31

Diese von fern an Nietzsches Unterscheidung von Sklaven- und Herrenmoral erinnernde Unterscheidung zwischen passiver Assimilation und aktiver Aneignung und Umwandlung nennt Buber dann letztlich „die persönliche Judenfrage“32. Wenn er abschließend betont, dass dasjenige, was „aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht“33 werden solle, der Widerspruch, die Zwiespältigkeit, die Polarität westeuropäisch-jüdischer Identität als solche ist, findet das in Benjamins Idee der konstitutiven Zweiseitigkeit einer deutschjüdischen „Elite […] in der Schar der Geistigen“ (Br  I, 75) einen gewissen Widerhall.34 In der zweiten Rede greift Buber den Gedanken der ‚Zwiespältigkeit‘ erneut auf. Während die erste Rede noch unter dem Titel Das Judentum und die Juden einen rein innerjüdischen Diskurs führte, den Benjamin immer nur von einer gewissen Distanz bzw. von einer bewusst unterkühlten Position der Selbstverständlichkeit („Das Jüdische versteht sich von selbst“, ebd.) aus verfolgte, erweitert die zweite Rede unter dem Titel Das Judentum und die Menschheit die Perspektive. Es ist anzunehmen, dass dieser erweiterte Horizont der Fragestellung es Benjamin erleichterte, sich positiv auf Buber zu beziehen, ist doch seine Vorstellung von der „Idee des Literaten“ bzw. dem jüdischen 31 32 33 34

Ebd., S. 26f. Ebd., S. 27. Über Bubers Nietzsche-Rezeption informiert Dominique Bourel: Von Weimar bis Jerusalem. Martin Buber und Nietzsche. In: Rüdiger Schmidt-Grépály/Steffen Dietzsch (Hg.): Nietzsche im Exil. Übergänge in gegenwärtiges Denken. Weimar 2001, S. 103-114. Martin Buber, Drei Reden über das Judentum, S. 27. Neben der zentralen ‚Blutideologie‘ besteht jedoch ein weiterer Grund für Benjamins Schweigen über die erste Rede sicherlich in der grundverschiedenen Vorstellung jüdischer Intellektualität. Wo Benjamin, wie bereits gesehen, den jüdischen Intellektuellen ins Zentrum seiner Selbstverständigungsversuche stellt, brandmarkt Buber in seiner ersten Rede eine „gleichsam außerorganische Intellektualität“ als destruktive und zu überwindende „Ironie des modernen Juden“. (ebd., S. 24).

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245

Intellektuellen nicht auf einen nationalistischen Diskurs eingestellt, sondern von einem „Internationalismus“ (ebd., 63) geprägt, der „die jüdischen Werte allerorten sieht und für sie arbeitet“ (ebd., 72). In der zweiten Rede besteht Bubers Ausgangspunkt nun darin, dass jedes Volk, das seinen „festen, sicheren Ort“35 durch Land, Sprache und eine spezifische Form des Lebens hat, notwendigerweise eine der Menschheit dienende Aufgabe erfülle, die „keines weiteren Nachweises seiner Daseinsberechtigung [bedarf].“36 Hier unterscheide sich das jüdische Volk, das „seinen natürlichen Ort seit Jahrtausenden verloren hat, keine einheitliche Sprach- und Lebensgemeinschaft mehr besitzt und dem immer wieder die Frage nach der Berechtigung seines Daseins und nach der Notwendigkeit seiner Erhaltung entgegengehalten wird, – entgegengehalten wird auch aus seiner eigenen Mitte.“37 Daher sei es notwendig zu fragen, „wozu die Menschheit des Judentums bedurft hat“38 und noch immer bedarf, und zwar explizit abgesehen vom „Schicksal eines Volkes und den Wert eines Volkstums“39. Was sich im Judentum als „menschheitliche Frage“40 symbolisiere, nennt Buber dann nachfolgend das „Mysterium der Urzweiheit“41, ein für die ganze Menschheit entscheidendes „polares Phänomen“42, das sich in der Dualität von „Gut und Böse“43 am deutlichsten darstellt. Diese Dualität realisiere sich im Judentum exemplarisch, weil in ihm „sein Höchstes und sein Niederstes gebunden ist und sein Erlauchtes an sein Schändliches.“44 An dieser im Judentum symbolisierten Dualität scheint Benjamin weder die von Buber aufgerufenen stereotypen Figuren von „niederträchtige[n] Spieler[n] und Verräter[n]“ und „erhabene[n] Propheten und Erlöser[n]“45 noch der utopische Horizont einer „Synthese aller Synthesen“46 zu interessieren, sondern das polare Wahrnehmungs- und Denkmuster als solches, das ihm Argumente für seine Konzeption eines ebenfalls auf eine grundsätzlich produktive Spannung ausgerichtetes kritisches polares „Selbstbewußtsein“ (Br  I, 62) innerhalb der zeitgenössischen zionistischen Debatten liefert. Diesen Grundgedanken fasst Buber an einer Stelle zusammen, die relativ genau auch diejenige 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Ebd., 35f. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., 37. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., 41. Ebd., S. 37. Ebd., S. 42. Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 54.

246

Kapitel 5

Zwiespältigkeit adressiert, die Benjamin im Blick hat: „Der Mensch erlebt die Fülle seiner inneren Wirklichkeit und Möglichkeit als eine lebendige Substanz, die nach zwei Polen hinstrebt“47. Diese beiden Pole, die bei Buber noch primär ein innerjüdisches Selbstverhältnis bezeichnen, werden bei Benjamin erst nach 1918 konsequent vor allem auf die für seine Schreibverfahren produktive Spannung aus Politik und Theologie angewandt. Vorüberlegungen dazu und erste polare Theoretisierungsversuche finden sich aber auch schon in den Frühschriften. Wenngleich im Hauptteil A der vorliegenden Arbeit ausführlich dargelegt wurde, dass polare Denkfiguren zu Beginn des 20. Jahrhundert zwischen verschiedenen Diskursen zirkulieren und eine auffällige Konjunktur erleben, so dass Benjamin ihnen in unterschiedlichen Zusammenhängen begegnen konnte, scheint es nicht unplausibel, für seine bereits früh zu beobachtenden Versuche, das Verhältnis von Theologie, Politik und Ästhetik in Figuren des Zwiespältigen, des Widersprüchlichen und auch bereits des Polaren zu bestimmen, durchaus von einem zwar oberflächlichen, aber dennoch manifesten Einfluss Bubers auszugehen. Es sei allerdings hier nochmals nachdrücklich wiederholt: Das betrifft weder den bei Buber zugrundeliegenden Erlebnisbegriff noch die zionistischen Perspektive der jüdischen Jugendbewegung, sondern die Polarität als Wahrnehmungsmuster und Denkfigur. Dabei bleibt der Einsatz polarer Denkfiguren, deren Übertragung von einem innerjüdischen Selbstverständigungsdiskurs auf allgemeine drängende Menschheitsfragen der Zeit Buber in seiner zweiten Rede selbst bereits nahegelegt hat, bei Benjamin nicht auf die Bestimmung jüdischer Identität beschränkt. Vielmehr nutzt Benjamin diese Denkfigur und legt sie bereits früh schon auf das eingangs aufgerufene „Problem der Politik für den Intellektuellen“ (Br I, 81) um. Das deutet sich etwa in einem Brief an Strauss von Anfang 1913 an, wo polare Argumentationsmuster zwar nochmals auf die „Teilrolle“ (ebd., 83) des Jüdischen in seinem Denken zurückgebunden werden, zugleich aber darüber hinausweisen, indem er sie an andere Diskurse anschließt. So kommt er am Ende des Briefes recht unvermittelt auf den in der Zeitschrift Die Aktion erschienen Artikel Unsere Hoffnung von Franz Pfemfert zu sprechen und führt aus: „Ich vermisse durchaus eine Brücke vom kulturell-politischen Wollen dieser Leute zu ihren Dichtungen.“ (ebd., 85) Die Frage der Brücke, die Benjamin hier zwischen politischem Willen und ästhetischem Ausdruck vermisst, wird ihn als Problem der politischen Wirkung des Schreibens in den nächsten Jahren vor allem vor dem Hintergrund des (emphatischen oder radikal kritischen) Engagements vieler Schriftsteller im ersten Weltkrieg noch intensiv beschäftigen. In dem Brief selbst lässt 47

Ebd., S. 40.

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918

247

sich zumindest erahnen, wo er selbst eine solche Brücke zwischen Politik und Schreiben vermutet: im „intellektuelle[n] Literaten-Jude[n]“ (ebd., 83), in dem er einen Typus „jüdischen Wollens (im künstlerischen Ausdruck) sehe“ (ebd., 84). Denn fast beiläufig hält Benjamin hier dem expressionistischen ‚Schreibwillen‘ (Pfemfert) ein „jüdische[s] Wollen[…]“ im „künstlerischen Ausdruck“ entgegen. Wenn dieser „Literaten-Jude“, wie oben gesehen, für Benjamin die idealtypische Repräsentation jener ‚dualistischen Anschauungsweise‘ darstellt, der er sich selbst verpflichtet fühlt, scheint das offensichtlich auf eine polare Wahrnehmungs- und Denkweise des Problems politischen Schreibens als solchem zuzulaufen. Das im „Literaten-Juden“ repräsentierte polare Grundmuster müsse, so ließe sich aus Benjamins Argumentation schlussfolgern, auf das Verhältnis bzw. die Frage nach der „Brücke“ zwischen Politik und Schreiben im Allgemeinen übertragen werden. Diese von Benjamin gegen die Vorstellung unmittelbarer politischer Wirksamkeit des Schreibens in Anschlag gebrachte polare Perspektive lässt sich anhand von zwei exemplarischen Debattenkonstellationen nachfolgend näher verfolgen. In beiden Fällen nimmt Benjamin eine Position ein, die im Horizont der Vorstellung einer ‚dualistischen Anschauungsweise‘ zu lesen ist. Gegenstand ist dabei zum einen die Auseinandersetzung mit Kurt Hillers aktivistischer Geistespolitik anlässlich der Publikation des Aufsatzes Das Leben der Studenten in Hillers erstem Ziel-Jahrbuch von 1916 und zum anderen der ebenfalls 1916 verfasste Brief an Martin Buber, in dem Benjamin seine Perspektive auf das „Verhältnis von Wort und Tat“ (ebd., 326) in quasi-programmatischer Weise formuliert. In beiden Zusammenhängen verhandelt Benjamin die kritische Rolle des Intellektuellen im Politischen, indem er sie unter sprachtheoretischen Vorzeichen als Frage nach der Bedeutung des geschriebenen Wortes in politischen Kontexten problematisert: „So unmöglich es mir ist wirkendes Schrifttum zu verstehen, so unfähig bin ich es zu verfassen“ (ebd., 327), schreibt Benjamin im Brief an Martin Buber. Im Zentrum steht damit jeweils also die Frage, in welches Verhältnis sich das eigene Schreiben überhaupt zum Politischen stellen kann. Gerade im Brief an Buber entbindet Benjamin die bei Buber selbst vorgeprägte polare Anschauungsweise aus dem jüdischen Identitätsdiskurs, überträgt sie auf das grundsätzliche Problem des politischen Schreibens und wendet sie so letztlich gegen Buber selbst. In den beiden exemplarischen Debatten kann somit nachgewiesen werden, dass in Benjamins frühen Überlegungen zum „Dualismus“ eine Antwort auf das eingangs zitierte „Problem der Politik für den Intellektuellen“ (Br  I, 81) vorgeprägt ist, die Benjamin nach 1918 dann in seiner ersten größeren Arbeit über Politik konsequent unter Einsatz polarer Denkfiguren im Spannungsverhältnis aus Politik und Ästhetik reformulieren wird. Viele Gedankengänge

248

Kapitel 5

haben dabei noch den Charakter „des Werdenden“ (ebd., 325), wie Benjamin im Brief an Buber selbst einräumt. Beobachten lassen sich in beiden Debattenkonstellationen weder widerspruchsfreie Argumentationsverläufe noch eine ausgereifte Theorie politischer Ästhetik, sondern vielmehr der Prozess einer Suche, aber auch eine intellektuelle Beweglichkeit, die sich gerade vor dem Hintergrund der (literarischen) Kampf- und Kriegsrhetorik des ersten Weltkrieges durch Modi des Vorläufigen, des Zögerns, Zauderns und Ausweichens auszeichnet. Die Vorläufigkeit und Widersprüchlichkeiten nachträglich durch theoretische Systematisierungen zu plausibilisieren würde die konkreten zeithistorischen Kontexte, die mitunter diffusen Debatten und vor allem die intertextuelle Offenheit der frühen Schreibversuche Benjamins inmitten der Zeitprobleme unterlaufen. Entgegen aller Annahmen von einer weltkriegsbedingten Zäsur, die erst das ‚eigentliche‘ Werk einleitet, handelt es sich bei beiden kritischen Auseinandersetzungen allerdings im besten Sinne um Schwellenkonstellationen, die sowohl auf die Debattenkontexte zurückweisen, in denen Benjamins frühes politischen Engagement verortet ist, als auch auf jene kritische polare Theoriearbeit und schreibpraktische Haltung im Spannungsverhältnis von Politik und Ästhetik nach 1918 vorausdeuten, in der Benjamin früh formulierte Positionen zwar nicht ungebrochen fortführt, aber kritisch modifiziert wiederaufnimmt. 5.2

„Wort und Tat“ – Walter Benjamin und Kurt Hiller

Weder in Benjamins frühen Briefen noch in den frühen Texten lässt sich zunächst sonderlich viel über seine Stellung zu Kurt Hiller erfahren. Erst in einer späteren Rezension von 1932 zu Hillers Essaysammlung Der Sprung ins Helle und in der Linke Melancholie betitelten Generalabrechnung mit dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit sowie im Vortrag Der Autor als Produzent finden sich längere Passagen zu Hiller und dem Aktivismus. Hillers Aktivismus stand vor allem im Spätexpressionismus „im Zentrum der Diskussion um das Verhältnis von Politik und Literatur“48 und wurde mitunter sogar als der „politische[…] Arm des Expressionismus“49 bezeichnet. Benjamins Auseinandersetzung mit Hiller ist dabei insgesamt im Kontext

48 49

Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Stuttgart 22010, S. 132. Sandro Holzheimer: Heiliges Leben. Zur Biopolitik des Aktivismus (Kurt Hiller). In: Héctor Canal u.a. (Hg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013, S. 123-140, hier: S. 124.

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918

249

seiner widerspruchsvollen, aber „intensive[n] Kommunikation […] mit den […] avantgardistischen Positionen50 zu betrachten. Folgt man Scholem und Adorno, stellt sich insbesondere Benjamins Verhältnis zum Expressionismus als kühl-distanziert dar. Scholem betont, dass Benjamin zum Expressionismus „nie ein positives Verhältnis gefunden“51 habe. Für Adorno wiederum habe Benjamin zum Expressionismus „von Anfang an Distanz gehalten“52; einzig Hiller sei kurzzeitig ein „Bindeglied“ gewesen, aber auch das „Verhältnis zu ihm erkaltete rasch.“53 Bestätigung finden diese Urteile augenscheinlich in Benjamins durchweg kritischen Anmerkungen zu Hiller und dem Expressionismus ab Ende der 1920er Jahre. Benjamin spricht dort von der „weit eher pathologisch[en] als kritisch[en]“ (WB VI, S. 177) Reaktion des Expressionismus auf die Krisen und politischen Probleme der Zeit. Und an anderer Stelle heißt es, dass der Expressionismus „die revolutionäre Geste, den gesteilten Arm, die geballte Faust in Papiermaché aus[gestellt]“ (WB III, S.  281) habe, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich anzugreifen. Diese kritischen Urteile sind als Ausdruck einer retrospektiven Auseinandersetzung mit den „Courants politiques dans la littérature allemand actuelle“ (Br IV, 288)54 zu betrachten, die vor dem Hintergrund der Machtergreifung 50 51 52 53 54

Heinz Brüggemann: Walter Benjamin und Siegfried Giedion oder Die Wege der Modernität. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin, Bd.2. München 1999, S. 717-744, hier: S. 733. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 85. Theodor W. Adorno: A l’écart de tous les courants [1969]. In: ders.: Über Walter Benjamin, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1990, S. 101-103, hier: S. 101 Ebd. So der Titel des Einleitungsvortrags zu einer Vortragsreihe, mit der Benjamin sich im Pariser Exil nicht nur einen Gelderwerb zu sichern versuchte, sondern sich auch als kritischer Intellektueller einführen wollte. Die Reihe sollte das „Gegenstück“ (Br IV, 388) zu dem Aufsatz Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers bilden. Die Vortragsreihe kam nicht zustande. Erhalten sind einige Aufzeichnungen und Schemata zur Vortragsreihe, die Aufschlüsse darüber geben, was Benjamin geplant hat. (vgl. WB VI  181-184) An einer Stelle der Aufzeichnung zu den geplanten Vorträgen heißt es knapp „Destruktion von innen.“ (ebd., 181) Damit ist zuallererst gemeint, dass der kritische Intellektuelle diejenigen Produktionsmechanismen von innen ‚umfunktionieren‘ soll, mit denen er selbst zu tun hat. Angesichts einiger früher Überschneidungen mit dem Expressionismus in den jugendbewegten Jahren, ließe sich überlegen, ob in der Aufforderung einer „Destruktion von innen“ auch so etwas wie eine späte Selbstkritik an früheren Positionen anklingt. Das würde immerhin den sehr scharfen Ton erklären, den Benjamin teilweise wählt. Es ist zudem auffällig, dass Benjamin in einer Liste unter dem Titel Widerstände gegen die Umfunktionierung auch Kurt Hiller nennt, ihn aber nicht unter der Kategorie „Expressionismus“ verortet, sondern unter der Kategorie „Outsider“ (vgl. ebd., 183). Dass er unter diesen ‚Outsidern‘ auch Erich Unger und Siegfried Kracauer zählt – zwei Intellektuelle immerhin, die großen Einfluss

250

Kapitel 5

der Nationalsozialisten, der beginnenden Exilzeit, der sich ankündigenden politischen Expressionismus-Debatte und Benjamins Rekonfiguration der eigenen politischen Schreibhaltung inmitten dieser Zeit gelesen werden müssen und daher nicht umstandslos auf Benjamins Position in den avantgardistischen Strömungen bis 1918 appliziert werden können. Dass sich Benjamin etwa im Vortrag Der Autor als Produzent überhaupt nochmals ausführlich mit einem literaturpolitischen Programm beschäftigt, das vor allem im Ersten Weltkrieg und im Zusammenhang mit der Revolution von 1918 diskursive Relevanz in intellektuellen Zirkeln entfaltet hatte, hat zwei Gründe: Zum einen geht es Benjamin in den 1930er Jahren um eine kritische Genealogie der linksbürgerlichen Intelligenz in Deutschland, zum anderen dient die Besprechung von Expressionismus, Aktivismus und Neue Sachlichkeit als eine polare Kontrastfolie: Aus jedem Satz, in dem Benjamin diese literarischen Bewegungen kritisiert, könnte man das Gegenteil formulieren und fände so tendenziell jene Positionen formuliert, auf die es Benjamin ankommt.55 Benjamin wirft (nicht nur) Hiller eine mangelnde „Einsicht […] in seine gesellschaftliche Bedingtheit, in seine technischen Mittel und in seine politische Aufgabe“ (WB II.2, 689) als Schriftsteller vor. Die linksbürgerliche Intelligenz habe zwar unter dem Druck der politischen Verhältnisse spätestens seit 1929 eine revolutionäre Gesinnung angenommen, allerdings nicht „ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln, ihrer Technik wirklich revolutionär zu durchdenken“ (ebd., 689) begonnen. Und weiter heißt es: Der Begriff von der Herrschaft der Geistigen sei „ohne jede Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozeß“ (ebd., 690). In Abgrenzung zu dieser ‚Geistesherrschaft‘ geht es Benjamin dabei um ein Konzept intellektueller Kritikarbeit, die nicht von außen abstrakte Ziele setzt, die der „gesunde[…]

55

auf Benjamin ausübten – macht vor allem die ambivalente Stellung deutlich, die Hiller bei Benjamin einnimmt. In einer späteren Rezension betont Benjamin dann wiederum, dass Hiller die „Stellung eines Außenseiters“ (WB III, 350) einnehmen muss, weil seine These von der ‚Herrschaft der Geistigen“ 1932 keinerlei Anklang in den polarisierten parteipolitischen Kämpfen findet bzw. finden kann. Die Bezeichnung Hillers als Outsider taucht später dann unter biographischen Vorzeichen in der Forschung wieder auf (vgl. Daniel Münzner: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter. Göttingen 2015). Dabei lässt sich in diesen Texten jedoch nicht immer genau unterscheiden, wen Benjamin mit seiner Kritik adressiert, weil sich die Angriffe auf Aktivismus, Expressionismus und Neue Sachlichkeit teilweise stark vermischen. Die Rede davon, dass die „linke Intelligenz seit fünfzehn Jahren ununterbrochen Agent aller geistigen Konjunkturen, vom Aktivismus über den Expressionismus bis zu den Neuen Sachlichkeit gewesen“ sei (WB III, 280), suggeriert eine Kontinuität, die eher verdeckt, dass die Kritik an der Neuen Sachlichkeit und an Hillers Aktivismus nicht identisch ist. Hier geht es ausschließlich um die Kritik an Hiller.

Theorie und Praxis des Politischen bei Benjamin vor 1918

251

Menschenverstand[…]“ (ebd.) diktiert, sondern auf eine Veränderung der Produktionsprozesse von innen heraus zielt. Das hierbei im Zentrum stehende Stichwort von der „Umfunktionierung“ (ebd., 691) hängt unmittelbar an Benjamins Beschäftigung mit Brecht, der diesen „Begriff […] geprägt“ (ebd.) habe. Als „Destruktion von innen“ (WB VI, 182) bestehe die „spezifische Aufgabe des Intellektuellen“ (ebd., 182) darin, „nach Maßgabe des Möglichen“ (WB II.2, 692) den Produktionsapparat nicht mehr zu beliefern, sondern zu verändern (vgl. ebd.).56 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Annahme, dass der kritische Intellektuelle sich keine Illusionen über die eigenen politischen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse inmitten dieser Produktionsordnung machen darf, setzt doch die „Opposition gegen diese Ordnung“ (WB VI, 183) allererst die Einsicht über den eigenen Ort in ihr voraus. Die Kritik an Hiller ausschließlich von dieser an Brecht orientierten produktionskritischen Perspektive in den Blick zu nehmen, übersieht die Vorgeschichte, die auch noch in Benjamins kritischem Urteil über den Aktivismus aus den späten 1920er und 1930er Jahren eingelagert ist. In diesem Urteil wirken Überlegungen nach, die Benjamin bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs in der Auseinandersetzung mit Hiller und der aktivistischen Schreibpolitik formuliert. Benjamin ist allerdings stärker mit der expressionistischen Zeitkritik verbunden als es die spätere scharfe Kritik vermuten lässt. Das wird allein schon aus den nicht zu unterschätzenden publizistischen Kontexten ersichtlich, in denen Benjamin seine ersten Texte publiziert und die mehr als bloß die Gelegenheit eines jungen Autors zur Publikation darstellen – genannt seien hier exemplarisch die Publikation der wichtigen Aufsätze Unterricht Wertung (1913) und Der Moralunterricht (1913) in der Zeitschrift Der Anfang, die wiederum in Franz Pfemferts Aktion-Verlag erschien, die 1914 in Die Aktion erschienene Erotische Erziehung und vor allem der in Hillers erstem Ziel-Jahrbuch erschienene Aufsatz über Das Leben der Studenten (1916). Darüber hinaus ist es vor allem die in der Forschung ausführlich verhandelte expressionistische Doppeltendenz aus „eine[r] kultur- und zivilisationskritische[n] und eine[r] von messianischem Verkündungspathos getragene[n] Richtung“57, die einen Wiederklang im jugendbewegten „herrliche[n] Pathos“ (WB II.1, 12) der frühen Schriften findet. Kurt Pinthus hat diese doppelte Stimmungslage aus Kulturkritik und revolutionärem Pathos bereits 1919 als das Bindeglied innerhalb einer eigentlich recht heterogenen Gruppe expressionistischer Dichter folgendermaßen beschrieben: 56 57

Vgl. hierzu auch das Kap.  1 der vorliegenden Arbeit. Zu dem Vortrag Der Autor als Produzent vgl. Kap. 10.3. Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus. München 1975, S. 14.

252

Kapitel 5 „Diese Gemeinsamkeit ist die Intensität und der Radikalismus des Gefühls, der Gesinnung, des Ausdrucks, der Form; und diese Intensität, dieser Radikalismus zwingt die Dichter wiederum zum Kampf gegen die Menschheit der zu Ende gehenden Epoche und zur sehnsüchtigen Vorbereitung und Forderung neuer, besserer Menschheit.“58

Neben der allgemeinen expressionistischen Stimmungslage aus einerseits strikter Kritik etwa am wilhelminischen Bürgertum, am Krieg oder an einem selbstreferentiellen Ästhetizismus und andererseits dem Pathos eines neuen, schöpferischen Individuums, steht Kurt Hiller im Speziellen auf dem vorgeschobenen Posten der kritischen Reflexion und praktischen Erprobung eines unmittelbaren politischen Schreibens als „stellungnehmender, persönlicher, bekennerischer Litterator“59. Benjamin fasst seine Stellung zu diesem aktivistischen Literaturprogramm später als Kritik an dem „Anspruch auf eine unmittelbar politische Wirkung“ (WB VI, 180) zusammen. Den publizistischen Verflechtungen liegen aber auch ganz konkrete persönliche Kontakte zugrunde, aus denen sich nicht zuletzt die Schärfe der Auseinandersetzungen begründet. So berichtet Scholem, dass Benjamin mit Hiller seit der Zeit des Neopathetischen Cabarets bekannt gewesen sei.60 Benjamin habe ihm gegenüber, so erinnert Scholem, betont, dass er Hiller trotz aller Differenzen „als einen im Grunde sehr anständigen Menschen [schätze]“61. Scholems auf den ersten Blick relativ nüchterne Beschreibung des Verhältnisses Benjamins zu Hiller am Vorabend und zu Beginn des Ersten Weltkrieges lassen die Bedeutung der kritischen Auseinandersetzung mit Hiller für Benjamins intellektuelle Entwicklung nur erahnen. Ohnehin findet Hiller gleich zu Beginn von Scholems Freundschafts-Buch lediglich Erwähnung, weil es ein Vortragsabend Hillers über dessen Buch Die Weisheit der Langenweile (1913) war, an dem Benjamin und Scholem sich erstmals begegnet sind. Scholem erinnert sich weiter, dass er bei einer späteren Diskussionsrunde kritische Einwände gegenüber Hiller formuliert hatte, die dessen radikale Ablehnung der Geschichte betrafen: „Er [Hiller, K.D.] trug, sozusagen in Nietzsches Fußspuren, eine vehemente Denunziation der Historie als einer geistes- und lebensfeindlichen Macht vor, die mir gänzlich unzulänglich und verfehlt schien.“62 Scholems kritische Äußerungen waren dann auch die 58 59 60 61 62

Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus [1920]. Hamburg 1955, S. 23. Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile. Eine Zeit- und Streitschrift, Bd.1. Leipzig 1913, S. 11. Benjamin lernt Friedlaender und Hiller damit nahezu gleichzeitig kennen. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 25. Ebd., S. 12.

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Initialzündung für weitere Gespräche zwischen Benjamin und Scholem. Folgt man Scholem, endet hier bereits die Bedeutung Hillers, der nur noch selten Erwähnung in Scholems Erinnerungen findet. Scholems Inszenierung der Urszene seiner Freundschaft zu Benjamin, deren Grundlage offensichtlich ein gemeinsames Interesse für geschichtsphilosophische Fragestellungen bildet, verläuft explizit über die scharfe Entgegensetzung zu jenen konkreten politischen Debattenkontexten, in denen der fünf Jahre ältere Benjamin aber deutlicher involvierter war als jener anekdotische Bericht des Vortragsabends suggeriert.63 Gerade Scholems auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit pointierter Gegensatz zwischen einem Interesse für die Geschichte (Scholem, Benjamin) und einer radikalen Ablehnung der Geschichte (Hiller) verkürzt den Sachverhalt, lassen sich doch Parallelen zwischen Benjamin und Hiller hinsichtlich der Kritik an einer Form der historischen Bildung aufweisen, die nicht auf Aktualität zielt, sondern auf Inventarisierung und Musealisierung. Scholems Erinnerungen zusammen mit Benjamins späteren Kritiken haben hier nicht nur die vergleichbare Kritik am Historismus überblendet, sondern auch die für Benjamins Suche nach einer Selbstpositionierung im Feld des Politischen prägende Debatte zwischen ihm und Hiller (rezeptionsgeschichtlich wirksam) in den Hintergrund treten lassen. Die vergleichbare Kritik am Historismus gilt es jedoch zur Kenntnis zu nehmen, denn erst vor ihrem Hintergrund gewinnt Benjamins kritische Distanzierung gegenüber Hillers Aktivismus und gegenüber der Vorstellung einer unmittelbaren politischen Wirksamkeit literarischen Schreibens an Kontur. Anlass zu einer genaueren Betrachtung bietet das Kapitel Über Kultur aus jenem Buch über Die Weisheit der Langenweile, das Scholem als Maßstab nicht nur seiner eigenen Ablehnung, sondern implizit auch derjenigen Benjamins aufruft. Die schonungslose Analyse des „Geistesleben[s] unserer Epoche“64, die Hiller als Aufgabe des Buches formuliert, ist in diesem Kapitel Über Kultur von einer Kritik an der Geschichtsauffassung der Gegenwart getragen, die auffällige Ähnlichkeiten mit Benjamins zeitgleich entstehenden bildungs- und kulturkritischen Schreibversuchen aufweist. Ausgehend von Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben attestiert Hiller der gegenwärtigen Kultur grundsätzlich 63

64

Ob dabei die Tatsache, dass Scholem in seinen Erinnerungen fälschlicherweise von dem „Buch Die Wahrheit der Langeweile“ (ebd.) spricht, Ausdruck einer bewussten Geringschätzung oder nur eine Nachlässigkeit der Erinnerung ist, muss Spekulation bleiben, kann aber dennoch als symptomatisch betrachtet werden. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 17.

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Kapitel 5

ein „vehemente[s] Auseinanderfallen von vergegenständlichtem Geist und individualer Kultur“65, das vor allem aus dem resultiere, was Nietzsche das Leiden „an einem verzehrenden historischen Fieber“66 genannt hatte. Nicht die Ablehnung der Geschichte überhaupt bestimmt dabei den Schreibgestus des Kapitels, sondern die Kritik an der Vorherrschaft historischer Bildung als „totes, unorganisch zusammengehäuftes Wissen“67, das ein aktives, tätiges Eingreifen in die gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Verhältnisse der Gegenwart hemme. Damit greift Hiller eine bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts topisch gewordenen Kritik am Historismus und dessen an reiner Quellenforschung ausgerichteten Positivismus auf. Der historisch (über-) gebildete moderne Mensch habe, so Hiller im Anschluss an Nietzsche, „ganze Säcke von Daten und Anekdoten und Tatsachen und Geschehnissen und Interessantheiten, ganze Wagenladungen von Quisquilien verschluckt“68, die er nicht verdauen könne und ihn träge zurücklassen. Die gastrale Metaphorik ist direkt Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung entnommen, in der Nietzsche zu zeigen beanspruchte, „warum Belehrung ohne Belebung, warum Wissen, bei dem die Thätigkeit erschlafft, warum Historie als kostbarer Erkenntniss-Ueberfluss und Luxus uns ernstlich […] verhasst sein muss […].“69 „Der moderne Mensch“, so führt Nietzsche dazu später aus, „schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.“70 Dieses dem Leib und dem Geist gleichermaßen unverträgliche Übermaß an historischer Bildung sei „wider das Bedürfniss aufgenommen“ und wirke daher „nicht mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv“71. Auch in Benjamins frühen Texten bildet Nietzsches Streitschrift die Folie der Gegenwartskritik. Wenn Benjamin etwa in seinem Aufsatz Das Leben der Studenten von der „Erstarrung des Studiums zu einem Haufen von Wissen“ (WB II.1, 82) spricht, ist damit nicht zuletzt das historische Wissen gemeint, setzt doch der Aufsatz mit einer Kritik an der gegenwärtigen „Geschichtsauffassung“ (ebd., 75) in Kultur, Bildung und Wissenschaft ein. Der Orientierung dieser Geschichtsauffassung am Fortschrittsparadigma, so argumentiert 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., S. 53. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 243-334, hier: S. 246. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 60. Ebd., S. 57. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 245. Ebd., S. 272. Ebd.

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Benjamin, entspricht einem „Mangel an Präzision und Strenge der Forderung, die sie an die Gegenwart stellt“ (ebd.). Das zugrundeliegende „Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit“ (ebd.) markiert für Benjamin weder eine angemessene Reaktion auf die „Krisis“ (ebd.) der Wissenschaften noch genügt sie seinem bereits in diesem frühen Aufsatz erkennbaren Versuch einer Kritik an der Gegenwart. Die eng an Nietzsche orientierte Kritik an einem zugleich positivistischen und teleologischen Geschichtsbild ist auch noch in Erfahrung und Armut zu erkennen, da Benjamin dort erneut die Metaphorik des Gastralen aufgreift, um zu betonen, dass der ‚erfahrungsarme‘ Mensch sich nicht nach neuer Erfahrung sehnt, sondern davon loszukommen versucht: „Sie haben das alles ‚gefressen‘, ‚die Kultur‘ und den ‚Menschen‘ und sie sind übersatt daran geworden und müde.“ (ebd., 218) Im Hintergrund dieser Kritik steht bei Nietzsche, Hiller und Benjamin gleichermaßen die ‚Krise des Historismus‘, wobei sich das gezeichnete Krisenszenario bei allen dreien nicht nur auf die positivistische Geschichtswissenschaft als Praxis des Sammelns von Faktenwissen bezieht, sondern darüber hinaus auf eine „Identitätskrise des historischen Bewußtseins selbst“72. Nietzsche hatte bekanntlich bereits drei Arten der Geschichtsbetrachtung unterschieden, die in unterschiedlicher Weise auf das gegenwärtige Leben einwirken können: die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie.73 Alle drei Arten haben ihre Berechtigung, können aber auch destruktive Kräfte entbinden, wenn sie zum Selbstzweck und damit zum „Todtengräber des Gegenwärtigen“74 werden. Die „Kenntnis der Vergangenheit“, so resümiert Nietzsche zu den drei Arten der Historie, habe nur Sinn, wenn sie „im Dienste der Zukunft und Gegenwart“ stehe und „nicht zur Schwächung der Gegenwart“ führe.75 An diese Kritik der Schwächung der Gegenwart durch die Vorherrschaft historischer Bildung knüpfen Hiller und Benjamin direkt an, wobei 72 73 74 75

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt a. M. 1983, S. 58. Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 258. Ebd., S. 251. Ebd., S.  271. Die monumentalische Historie könne einerseits dem „Thätigen und Mächtigen“ (ebd., 251) zum Vorbild dienen, ihr Übergewicht reize dagegen „den Muthigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus“ (ebd., S.  262). Die antiquarische Historie stiftet dem „Bewahrenden“ (ebd., S. 256) einen orientierenden Sinnzusammenhang zwischen den Jahrhunderten, könne aber zu einer ‚Mumisierung‘ (vgl. ebd., S. 268) der Geschichte führen, wodurch das (un-)historische „Neue und Werdende“ (ebd., S. 267) gehemmt werde. Zuletzt dient die kritische Historie einerseits dazu, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können“ (ebd., S. 269), sie kann andererseits aber auch gefährliche Kräfte lösen, die dem Menschen keine „Grenze im Verneinen des Vergangenen“ (ebd., S. 270) mehr setzt, so dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein unversöhnlicher Widerstreit entsteht.

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Kapitel 5

sie die Krisenwahrnehmung im Vergleich zu Nietzsche nochmals verstärken werden, betrifft doch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Bedeutung der Historie nun eine Gegenwart, der durch die epochale Zäsur des Weltkrieges alle historischen Erfahrungsgehalte und Rückbezüge auf die Tradition fraglich geworden sind. Hiller macht bereits in Die Weisheit der Langenweile eine ‚unhistorische Krafft‘76 geltend, die vor allem den tätigen Griechen eigne und an der sich eine an historische Bildung übersättigte Gegenwart zu orientieren habe. Das bedeute aber keineswegs eine bloße Verneinung der Geschichte. Geschichtliche Betrachtungen, so Hiller in Die Weisheit der Langenweile, sei allerdings nur sinnvoll, wenn sie einem kritischen Umgang mit „lebendige[n] Problem[en] der Gegenwart“77 dienen. Dabei bringt Hiller zunächst unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich die „Zerfahrenheit, die dieser Epoche in philosophischer, künstlerischer und politischer Beziehung eignet“78 weder durch monistische Einheitstheoreme noch durch einen „Retournonsen“79 beheben lasse, der einem ‚rousseauianischen‘ ‚Zurück zu Natur‘ verpflichtet ist. Der gegenwärtige Mensch zeichne sich zunächst vor allem dadurch aus, dass er „ein Mischling, ein Gebilde aus Vielerlei“80 sei, der unter der „Einwirkung des in sich unendlich zergliederten, ohne Konzinnität flimmernden objektivierten Geistes von Vorzeit und Gegenwart“81 stehe. Dieser für den gegenwärtigen Menschen symptomatischen Polarität aus Vergangenheit und Gegenwart müsse Rechnung getragen werden, weil seine Seele in „keinem Augenblick nur nach einem Pole gerichtet“82 sei. Hillers Rede von einer zwischen Vorzeit und Gegenwart eingespannten polaren Geschichte erinnert überraschenderweise von fern an das polarisierte Kraftfeld zwischen Vor- und Nachgeschichte aus Benjamins erkenntnistheore­ tischen Aufzeichnungen im ‚Passagen-Werk‘. (vgl. WB V.1, 587) Vor 1914 stellt sich das Phänomen der Geschichtspolarität für Benjamin aber zunächst in Bezug auf Schule und Bildung ganz praktisch dar und betrifft die Span­ nung zwischen einer ausschließlich konservierenden Geschichtsbetrachtung der Pädagogen und den drängenden Fragen an die Gegenwart, die durch die Schul- und Jugendbewegung formuliert werden. Dort, wo Benjamin in diesem Zusammenhang in seinen frühen Schriften auf Nietzsche rekurriert, 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 59. Ebd., S. 60. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 63f.

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stehen diese intertextuellen Referenzen zum einen im Zeichen der Kritik an einer Schulidee, die von der zweckrationalen „Nützlichkeit des Betriebs“ (WB II.1, 40) ausgeht, und zum anderen zielt Benjamin mit den NietzscheVerweisen auf die Entlastung der historischen Bildung von einer philiströsen „Sentimentalität“ (ebd., 40), die keine kritischen Urteile fällt: „Wir Schüler […] haben über und über genug von jener Heuchelei, die Geistlosigkeit und Urteilslosigkeit mit dem Mantel ‚griechischer Harmonie‘ deckt!“ (ebd., 41) Die spätere materialistische Kritik an einer „gelassene[n], kontemplative[n] Haltung dem [historische, K.D.] Gegenstand gegenüber“ (WB II.2, 467) ist hier in der Kritik an der historischen „Sentimentalität“ der Pädagogen vorgeprägt. Dass Nietzsche dann eine Perspektive bietet, die Geschichte und Gegenwart in ein anderes, kritisches Verhältnis zueinander setzt, macht Benjamin in seinem Aufsatz Unterricht und Wertung, der 1913 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Anfang erscheint, unmissverständlich deutlich: Benjamins Forderung, dass „[u]nser Gymnasium […] sich […] auf Nietzsche und seinen Traktat ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie [berufen sollte]“ (WB II.1, 40), richtet sich explizit gegen die „gegenwartsfeindliche[en]“ (ebd., 41) Pädagogen. Nietzsche sei es gewesen, so Benjamin in einem anderen frühen Aufsatz, der der Jugend „etwas über das Morgen und Gestern und Heute von Schulaufgaben wies“ (ebd., 45) und „uns zu uns selbst rief, zum Geist und zur Ehrlichkeit“ (ebd.).83 Dass der Fluchtpunkt dieser an Nietzsche orientierten Kritik an einer unkritischen historischen Bildung in dem Versuch liegt, ein anderes Bild des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu entwickeln, wird besonders deutlich in Benjamins früher Arbeit Gedanken über Gerhart Hauptmanns Festspiel. Unter der Überschrift Die Jugend und die Geschichte führt Benjamin dort aus: „Die Schule macht uns indifferent, sie will uns sagen, Geschichte sei der Kampf zwischen dem Guten und Bösen. Und früher oder später setzt sich doch das Gute durch. Da hat es keine Eile mit dem Handeln. Die Gegenwart, sozusagen, ist nicht aktuell – die Zeit ist unendlich. Uns aber will scheinen, als sei Geschichte 83

Dabei wird insbesondere an dem Text Der Moraluntersicht (1913) deutlich, wie Benjamin in seiner Schul- und Bildungskritik mit der Frage des Geschichtsbildes einerseits und der sittlichen Erziehung andererseits zwei Problemfelder aufeinander reagieren lässt und in eine produktive Wechselwirkung zu bringen versucht: Benjamin fordert dort zu einer quasi-diskursanalytischen Untersuchung der „Geschichte des Bildungsmaterials“ auf, die auf den Moralunterricht zurückwirken soll, wodurch wiederum der „Übergang zu einem neuen Geschichtsunterricht“ bereitet werden könnte, „in dem dann auch die Gegenwart ihre kulturhistorische Einordung findet.“ (WB II.1, 54) Vom Standpunkt der krisenhaften Gegenwart wird demnach die Geschichte der Bildung selbst wiederum zum Faktor einer anderen historischen Bildung.

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Kapitel 5 ein strenger und grausamer Kampf. Nicht um Werte, die schon feststehen – um Gutes und Böses. Sondern wir kämpfen für die Möglichkeit der Werte überhaupt, die ständig bedroht ist, für die Kultur, die in ewiger Krisis lebt: denn mit jeder Gegenwart werden die alten Werte älter; was Schwungkraft war wird Trägheit, Geist wird Dummheit. Und überdem geht das eine, größte historische Gut verloren: die Freiheit. Freiheit aber ist kein Programm, sondern nur erst der Wille dazu, eine Gesinnung.“ (ebd., 59f.)

Das eigentümliche Dreieck aus einer ‚existentialistischen‘ Rhetorik von Gefahr und Gefährlichkeit, einer unabgeschlossenen Geschichte als Kampfplatz der Werte und dem emphatischen Insistieren auf den Willen, die Gesinnung und das Handeln ist über Benjamin hinaus charakteristisch für die Jugendbewegung und ihre kulturelle Kampfmetaphorik. Sie verbindet Benjamin aber auch mit der unter expressionistischen Vorzeichen stehenden durchgängigen Kampfrhetorik in Hillers Buch: „Erkennen und beschreiben – erschöpft sich denn darin die Welt? Gibt es nicht: Kampf?“84 Anders also als Scholem in seinen sehr knapp dargelegten Erinnerungen über die Differenz von geschichtsphilosophischem Interesse und kulturkritischer Geschichtsverneinung suggeriert, teilen Benjamin und Hiller den Versuch, gegenüber einer teleologischen Vorstellung von der Geschichte, in der sich das Gute sukzessive entwickelt, die Gegenwart als kritischen Augenblick und krisenhaften, spannungsgeladenen Schauplatz historischer Auseinandersetzungen zu begreifen. Erst von dieser grundsätzlichen Übereistimmung in der Ablehnung eines in Schule und Universität vermittelten unkritischen Geschichtsbild aus wird deutlich, wo die Unterschiede liegen. Sie betreffen das, was Benjamin in seinem Aufsatz über Das Leben der Studenten als notwendigen „Gegenwille[n]“ (WB II.1, 76) der Studenten bezeichnet hat, mithin die Frage, welche Gegenperspektive zu entwickeln sei und mit welchen Mitteln ein tätiges Eingreifen in eine als krisenhaft empfundene Gegenwart sinnvoll ist. Dabei deutet sich die Differenz zwischen Benjamin und Hiller bereits im Kontext der oben zitierten Passage aus Hillers Buch an, wonach der Kampf etwas anderes sei als das Erkennen und Beschreiben. Denn Hiller bindet seine Kampfrhetorik anschließend direkt an die Zeitungsglosse als jene kleine Schreibform, in der der Schriftsteller schnell in das Zeitgeschehen eingreifen könne: „In der Glosse organisiert sich der Hirnkampf.“85 Die Glosse ist nicht mehr der Ort des Erkennens, sondern der schonungslosen Auseinandersetzung mit der Zeit: Hoch die Glosse!, so lautet der Imperativ unter dem das Wort des aktivistischen Schriftstellers eine unmittelbare Wirkung auf die 84 85

Ebd., S. 86. Ebd.

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gesellschaftlichen Verhältnisse entfalten könne. Wenngleich auch Benjamin später in der Einbahnstraße fordern wird, dass der politisch engagierte Schriftsteller „Flugblätter[…], Broschüren, Zeitschriftenartikel und Plakate“ (WB IV.1, 85) nutzen sollte, steht beim jungen Benjamin die Idee von einer Studentenschaft, die er als „Gemeinschaft von Erkennenden“ (WB II.1, 76) vorstellt, deutlich im Gegensatz zu Hillers auf Unmittelbarkeit zielenden Schreibimperativ. Beide teilen zwar eine geschichtskritische Gegenwartsanalyse, ziehen daraus aber ganz unterschiedliche Konsequenzen. Dieser Unterschied tritt am deutlichsten im Vergleich der Reflexionen auf die Stellung des Intellektuellen inmitten der politischen Auseinandersetzungen hervor. Die Debatten über eine kritische Perspektive auf das Verhältnis von Gegenwart und Geschichte führt zur Frage nach zeitgemäßen kritischen Schreibweisen, wobei sich die Auseinandersetzungen in besonderer Weise an der Figur des politischen Schriftstellers verdichtet. Dass die mitunter sehr pointierten Stellungnahmen Hillers eine produktive Kontrastfolie für Benjamins frühe Selbstverständigungsbemühungen über das Verhältnis von Politik und Schreiben darstellten, lässt sich an diesen beiden unmittelbar aufeinander bezogenen Aspekten konkretisieren, die nachfolgend analytisch getrennt voneinander beschrieben werden sollen: Erstens an der Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Schreibweise und zweitens an den unterschiedlichen Auffassungen über die Figur des politischen Autors. Erstens betrifft die Differenz zwischen beiden die Verhältnisbestimmung von Politik und Schreiben: Der Aktivismus ist der wohl prominenteste politische Ausdruck einer auf „öffentliche Wirksamkeit bedachte[n] Umorientierung der literarischen Intelligenz“86 in den Avantgardebewegungen seit der 1910er Jahren. Benjamin hat das im Rückblick anerkennend hervorgehoben: „Mit dem Expressionismus setzte die Politisierung der Intelligenz energisch ein.“ (WB VI, 179) Wenngleich diese Politisierung auch idealistisch überformt gewesen sei, habe sie doch für eine „revolutionäre Praxis […] bescheidene Anfänge […] gezeitigt“ (ebd.). Wie gestaltet sich diese Praxis bei Hiller und was kritisiert Benjamin daran? Politisches Schreiben ist bei Hiller nicht gleichzusetzen mit der Prokla­ma­ tion einer vorgefertigten Ideologie oder mit parteipolitischen Erwägungen.87 Die ‚Pedanterie einer systematischen Weltanschauung‘88 bzw. die Synthetisierung

86 87 88

Thomas Anz, Literatur des Expressionismus, S. 129. Vgl. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 91. Vgl. ebd., S. 64.

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Kapitel 5

der Kultur in einer „höhere[n] Einheitlichkeit“89 bezeichnen nicht den Anspruch des Buches über Die Weisheit der Langenweile, denn die gesamte objektive Kultur lasse sich in der Moderne eben nicht mehr „von dem Einzelnen […] ausschöpfen“.90 Das Buch verhandelt vielmehr explizit heterogene Gegenstände, um verschiedene Facetten der kulturellen Gemengelage der Gegenwart in den Blick zu bekommen. Dabei ist die schonungslose Analyse des „Geistesleben[s] unserer Epoche“91 aber keineswegs von „Neutralität und Zurückhaltung“92 geprägt. Hillers aktivistisches Literaturprogramm ist bestimmt von der Idee der ‚literarischen Tat‘. Darunter versteht Hiller zum einen ganz konkret die Publikation von Zeitungen und Zeitschriften als Etablierung einer kritischen Gegenöffentlichkeit.93 Zum anderen versteht er darunter aber auch eine konkrete politische Schreibweise, die er unter der Überschrift Litteraturpolitik zusammenfasst: „Politik also, im Sinne einer bestimmten Funktionsart (oder ‚Form‘) des Geistes, gegensätzlich zum bloßen Begreifen und bloßen Genießen der Welt […].“94 Als Realisierungsgebiet des politischen Geistes bezieht sich Politik hier nicht auf ein abgegrenztes gesellschaftliches Funktionssystem, sondern direkt auf das politische Engagement, das „programmatische Eintreten“ des Schriftstellers „für Ideen, welche rein intellektualen Wesens sind“95. Die Unterscheidung zwischen ‚Geist‘ (im Sinne intellektueller Erkenntnis und Verarbeitung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse) und ‚Politik‘ (als reales politisches Handeln) wird hier sukzessive aufgehoben. Im ersten ZielJahrbuch heißt es dazu: „Geist und Praxis – das war ehemals eine Antithese; heute bezeichnen diese Worte eine korrelative Abhängigkeit. Der Geist setzt die Ziele, die Praxis verwirklicht sie.“96 Was hier zunächst als ein fernes Echo der Marx’schen Bestimmung der Philosophie als ‚Kopf‘ und des Proletariats als ‚Herz‘ erinnert,97 ist jedoch getragen von der Idee einer Vorherrschaft 89 90

91 92 93 94 95 96 97

Ebd., S. 12. Ebd., S.  54. Hier ist Juliane Habereder zu widersprechen, die in Hillers Buch ein „synthetisches Konzept“ zugrunde liegen sieht. (vgl. Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1981, hier: S. 50). Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 17. Ebd., S. 52. Vgl. hierzu Juliane Habereder Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, S. 58-61. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 90. Ebd., S. 92. Kurt Hiller: Philosophie des Ziels. In: ders. (Hg.): Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München/Berlin 1916, S. 187-217, hier: S. 209. In der Kritik zu Hegels Rechtsphilosophie heißt es bei Marx: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne

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des Geistigen als eine gegenüber der ‚Masse‘ exklusiven, elitären Gruppe.98 Benjamin wird hier später kritisieren, dass die „Funktion“ dieser bürgerlichen Intelligenz „politisch betrachtet“, darin besteht, „nicht Parteien sondern Cliquen“ (WB III, 280) zu bilden. Die Grundidee aktivistischer Schreibpolitik lautet, dass sich der Geist in der Form des politisch motivierten Wortes unmittelbar ausdrücken und so in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingreifen kann. Sein eigenes Schreiben versteht Hiller dabei weder als kontemplatives noch als objektives, sondern als „exhibitiv[es]“99 Schreiben. Da der kulturelle, politische und ästhetische „universale[…] Wille[…] zur Umgestaltung“100 in doppelter Hinsicht in diesem ‚exhibitiven‘ Schreiben aktiv ist, könnte man hier auch von einer performativen Schreibszene sprechen: Der Geist ist zugleich Ausgangspunkt und Produkt dieser politischen Schreibszene, denn „Vergeistigung der Politik und Politisierung der ‚Geistigen‘“101 fallen hier unmittelbar zusammen. Hiller unterscheidet dabei grundsätzlich drei Zugangsweisen zur Welt: Die „WeltEinsicht“, die von teilnahmslosen Metaphysikern und Erkenntnistheoretikern vertreten wird, die „Welt-Wiederholung“, die unpolitischen Ästheten eignet, und die „Welt-Verbesserung“, die eine aktivistische Schreibpolitik verlangt.102 Dass Hiller dann aber trotz der Ablehnung aller philosophischen Systematiken aus diesem aktivistischen Schreiben ein „ethosdurchlohtes System sozialer Umgestaltungsideen“103 ableitet, ist kein manifester Widerspruch zu dem immanenten Selbstverständnis dieser Schreibszene. Denn schließlich betont Hiller die Möglichkeit, dass das „Buch von Fehlern wimmelt“104. Nicht objektive Erkenntnis ist das Ziel des Aktivismus, sondern der pathetische Ausdruckscharakter des Willens zur Tat steht im Zentrum: „Nicht ‚erkennen‘ will ich; nicht ‚gestalten‘ will ich, sondern – ich will.“105 Die Literaturpolitik, die sich durch ein aktivistisches Schreiben generiert, übertrifft für Hiller dabei durch die Kraft

98 99 100 101 102 103 104 105

die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), BD. 1. Berlin 1976, S. 378-391, hier: S. 391). Das betrifft ganz konkret auch Hillers Vorstellung von elitären Organisationsformen etwa im expressionistischen ‚Neuen Club‘. Vgl. hierzu Juliane Habereder Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, S. 42. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 11. Ebd., S. 41. Juliane Habereder Kurt Hiller und der literarische Aktivismus, S. 58. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 193. Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 52. Ebd., S. 12. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 195.

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des Wortes „an Würdigkeit die Parlamentspolitik bei weitem“106. Und worum diese „Geister […] in Philosophie, Kunst, Schrifttum [kämpfen]“ sei „wichtiger, ernster, wesentlicher“ als eine Politik, die in einem technokratischen Handlungsraum ausschließlich der „niederen Nützlichkeit die höchste Dignität“ zuspreche.107 Es ist der Geist selbst, der hier die höchsten Werte und Ideen in einem rein intellektuellen Raum ausdrückt. Gegen nüchterne Realpolitik stellt Hiller den postulativen Ausdruck des rein Geistigen: Der aktivistische Schriftsteller sei sich bewusst, so Hiller weiter, dass man zur Welt „nur kontemplativ oder postulativ stehen kann; daß daher die Menschen entweder eine WeltAnschauung oder eine Welt-Wollung haben.“108 Dem proklamatorischpostulativen Anspruch aktivistischer Literaturpolitik, den Hiller vor allem im ersten Ziel-Jahrbuch formuliert, steht Benjamins ebendort publizierter Aufsatz über das Leben der Studenten entgegen, der explizit „kein Aufruf oder Manifest“ (WB II.1, 75) sein will, sondern die geschichtliche Aufgabe der Studenten in der Gründung einer „Gemeinschaft der Erkennenden“ (ebd., 76) sieht, die sich der „Frage des wissenschaftlichen Lebens überhaupt“ (ebd., 77) als Reaktion auf die Krise der Wissenschaften zu stellen habe. Der widersprüchlichen Mischung aus einer sehr elitären und abstrakten Vorstellung von ‚Geistespolitik‘ mit einer zeitgleich extrem pathetisch aufgeladenen Rhetorik unmittelbarer Praxis liegen sehr konkrete Forderungen zugrunde, beispielsweise die „Abschaffung des Krieges“109, die „Gewährung eines Existenzminimums an jedes Staatsmitglied“110, die für die Zeit sehr progressive „Befreiung aller Liebe“111, die „Abschaffung der Todesstrafe“112, eine von Benjamin ebenfalls geforderte Bildung, die „[n]icht Berufsvorbereitung“ ist, sondern die „Hinführung zu ideelichem Leben“113, oder die Forderung des

106 107 108 109 110 111 112 113

Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 92. Ebd. Ebd., S. 39. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 214. Ebd., S. 215. Ebd. Ebd. Ebd. Bei Benjamin heißt es: „Zu den unschuldig-verlogensten Reservaten vor ihr [der Wissenschaft, K.D.] gehört die Erwartung, sie müsse X und Y zum Berufe verhelfen. Der Beruf folgt so wenig aus der Wissenschat, daß sie ihn sogar ausschließen kann.“ (WB II.1, 76) Obwohl Hiller in einem Brief von 1965 an Adorno, in dem er sehr abfällig über Benjamin als stilistischen Vorbereiter des ‚Jargons der Eigentlichkeit‘ spricht, betont, dass er Benjamins Aufsatz im ersten Ziel-Jahrbuch „für den schwächsten hielt“, sind es wohl solche Übereinstimmungen gewesen, die Hiller veranlassten, den Text abzudrucken. (Der Brief ist zit. nach WB III.3, 916f.)

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„Unbedingte[n] Schutz[es] der Gedanken-, Rede- und Pressefreiheit“114. Benjamin macht noch 1932 in seiner Rezension zu Kurt Hillers Essaysammlung Der Sprung ins Helle deutlich, dass „Hiller sich publizistisch für eine Reihe höchst erstrebenswerter Dinge ein[setzt]: für die Verhütung kommender Kriege, für ein neues Sexualstrafrecht, für die Abschaffung der Todesstrafe, für die Bildung einer linken Einheitsfront.“ (WB III, 350) Nicht diese politischen Forderungen seien das Problem, für die der „Verfasser Anspruch auf Sympathie“ (ebd.) erheben könne, sondern die „irrige[…] These“ (ebd.) von einer der politischen Schreibweise des Autors zugrundeliegenden Vorherrschaft des Geistes: „Sie statuiert den Anspruch der Geistigen auf die Herrschaft oder: die ‚Logokratie‘.“ (ebd.) Worauf Benjamin hier zielt wird in an einer jener Formulierung deutlich, die sich in der Liste der oben aufgeführten Forderungen wiederfindet: „Einführung der Monarchie – des Besten: von Platon Aristokrateia genannt.“115 Wenngleich Hiller diese Philosophen- oder besser: Intellektuellenherrschaft „auf verfassungsmässigem Wege“116 realisiert sehen möchte, ist es diese Überhöhung des Geistes, die Benjamin als problematisches „Credo des Aktivismus“ (WB III, 350) in das Zentrum vor allem seiner späteren Kritik stellt. Benjamin hat früh schon betont, dass er seinen Aufsatz über Das Leben der Studenten in Hillers erstem Ziel-Jahrbuch am falschen Ort publiziert sieht. (vgl. Br I, 327). Wenn er zudem von den dort publizierten Texten neben seinem eigenen Text nur noch „Werfels Aufsatz gelten“ (Br I, 314) lässt, ist das direkt gegen die programmatische Ausrichtung des Aktivismus gerichtet, betont Franz Werfel doch in seinem fiktiven Brief an einen Staatsmann, dass er „[d]es Dichters Zweck […] keinesfalls“ darin sieht, „für die Revolution die Trompete zu blasen.“117 Gegenüber dem Staatsmann, der als Repräsentant des Aktivismus vorgestellt wird und der für eine unmittelbare Bedeutung der Dichtung zur Errichtung eines Idealstaates plädiert,118 macht Werfel deutlich: „Ich kann gar nicht beschreiben, wie kontradiktorisch für mich die Begriffe Poesie und Politik sind!“119 Der Gegensatz bezieht sich hier weniger auf das Verhältnis von Politik und Ästhetik im Allgemeinen als vielmehr auf die unmittelbare zweckrationale Ausrichtung der Dichtung als Mittel zur Errichtung des „Zusammenschluss[es] der erkennenden, geistigen Menschen“, mit der „alle Interessen

114 115 116 117

Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 217. Ebd., S. 216. Ebd., S. 217. Franz Werfel: Brief an einen Staatsmann. In: Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist. München/Berlin 1916, S. 91-98, hier: S. 97. 118 Vgl. ebd., S. 92. 119 Ebd., S. 95.

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des forschenden und geniessenden Lebens zurücktreten müssten“120. Werfel fordert, sich „des schrecklichen Risses bewusst zu werden“, den jeder Dichter, der nicht unmittelbar vom aktivistischen Literaturkonzept affiziert ist, „in jeder Position sieht, die er ausspannt.“121 Der Riss bzw. die Spannungen zwischen Politik und Ästhetik, die Werfel gegen eine unmittelbare Wirkung der Dichtung anführt, ist der Denkfigur der „streng dualistische[n] Lebensauffassung“ (Br I, 71) strukturell nicht unähnlich, die Benjamin sowohl als Gradmesser für die Beurteilung profaner Schul- und Bildungspolitik als auch für die „Teilrolle“ (ebd., 83) des Jüdischen in seinem Leben einsetzt. Auch gegenüber Hillers unmittelbarer Einheit von Willen, postulativer Kunst und Tat scheint Benjamin auf einen Dualismus zu insistieren, den er in einem Brief an Ludwig Strauss mit einer „hoffentlich neukantianische[n] Formulierung“ (ebd., 82) aufzuspannen versucht: Während Hiller die bloß erkenntniskritische Einstellung des Intellektuellen zugunsten einer engagierten Schreibweise ersetzt wissen will, die unmittelbare Tat sein soll, setzt Benjamin einen konstitutiven Dualismus zwischen einer „Logik der Erkenntnis“ und einer „Logik des Willens“ (ebd., 82). Diese Unterscheidung trifft Benjamin gegen den für ihn problematischen Versuch, „die Idee zum politischen Imperativ um[zu]schaffen“ (ebd.). Was hier im Brief an Strauss als Reaktion auf die Debatte um das Jüdische als Idee angeführt wird, lässt sich genauso auf Hillers „Umgestaltung der Welt nach dem Befehl der Idee“122 beziehen, betont Benjamin doch gegenüber Strauss, dass man sich mit diesem Imperativ bereits „auf dem Boden der Politik“ (ebd.) befinde. Benjamins Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Wille zielt dabei direkt auf den Dualismus zwischen Geist und Tat: das Geistige spiele sich in einer „Sphäre der Verständigung“ (ebd.) ab, wohingegen der „politischen Tat“ (ebd.) weder Verständigung noch Erkenntnis eigne, sondern ausschließlich „das ganz ernste Bekämpfen und die unbedingte Treue“ (ebd.). Diese Unterscheidung wirkt auch in Benjamins späteren Auseinandersetzungen mit dem Aktivismus nach: Wo für Hiller das „erkennerische […] Eingestelltsein […] einen Luxus [bedeutet]“123, setzt Benjamin auch später die Notwendigkeit einer „theoretische[n] Besinnung“ (WB VI, 179), die Erkenntnis und Handeln auf die schonungslose Einsicht in die ausschließlich mittelbare Wirkung des kritischen Schreibens verpflichtet. „[J]ede Wirkung von einem Schrifttum“, so notiert Benjamin, ist notwendigerweise „mittelbar“ (ebd., 174). Benjamins sprachtheoretische Überlegungen 120 121 122 123

Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Kurt Hiller: Vom Aktivismus. In: Die weißen Blätter 4 (1917), S. 88-94, hier: S. 88. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 191.

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über den Unterschied zwischen einer instrumentalisierenden Zweck-MittelLogik der Sprache und einer reinen Medialität der Sprache aus seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen bekommt hier früh bereits in seiner Auseinandersetzung mit Hiller und der aktivistischen Literaturpolitik eine politische Dimension. Auf diese Unterscheidung wird anhand der Untersuchung des Briefes an Buber noch zurückzukommen sein, da Benjamin dort erstmals versucht, den medialen Charakter der Sprache in programmatischer Weise auf die Verhältnisbestimmung von Schreiben und Politik umzulegen. Wenn Benjamin später außerdem vom „Nutzen der freiwilligen Mittelbarkeit“ (WB VI, 175) spricht, die sich der Illusion der „unmittelbar politische[n] Wirkung“ des Schrifttums nicht verschreibt, wirkt in dieser ‚Freiwilligkeit‘ durchaus auch jene eingangs zitierte Idee der „freiwilligen Tat“ (Br I, 82) nach, die das „Symbolische der Idee“ (ebd.) dadurch zu retten versucht, dass es die konstitutive Polarität zwischen Geist und Tat, zwischen Ästhetik und Politik, zwischen Erkenntnis und Handeln in die Reflexion auf die eigene Position als kritischer Intellektueller nicht durch die Rhetorik der Willenstat überblendet, sondern aktiv als polare Spannungsbeziehung hervortreibt. In solchen als Spannungsbeziehungen inszenierten Unterscheidungsoperationen werden die frühe Idee der „streng dualistische[n] Lebensauffassung“ (Br I, 71) und der spätere Einsatz polarer Denkfiguren aufeinander beziehbar; nicht jedoch im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklungslogik, sondern vielmehr in der vergleichbaren Aufmerksamkeit für Problemstellungen, die das prekäre Verhältnis von Politik und Schreiben ins Zentrum des konkreten Schreibaktes stellen. Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, dass Benjamin vor allem „den Anspruch der Geistigen auf die Herrschaft oder: die ‚Logokratie‘“ (WB III, 350) kritisiert. Dieser ‚logokratischen Literaturpolitik‘ liegt indes noch ein vom expressionistischen Vitalismus geprägter Begriff des Lebens zugrunde, der nochmals deutlich die Differenz zwischen Hiller und Benjamin auf der Ebene der Verhältnisbestimmung von Politik und Schreiben verdeutlicht, steht doch Hillers Lebensbegriff in deutlichem Kontrast zu Benjamins früh einsetzenden Überlegungen zur Ethik des Handelns. Bereits Heinrich Mann kritisiert in seinem Essay über Geist und Tat, der als eine Art Programmtext den Auftakt des ersten Ziel-Jahrbuches bildete, dass es die Intellektuellen in Deutschland bisher verpasst hätten, „das Leben […] nach dem Geist [zu formen]“124. „[U]m Erkenntnisse zur Tat zu machen“125, habe schriftstellerisches Engagement direkt am Leben anzusetzen. Hiller verstärkt diesen 124 Heinrich Mann, Geist und Tat, S. 4. 125 Ebd.

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vitalistischen Impuls dann nochmals deutlich, wenn er das ‚bloße Leben‘ als Fluchtpunkt seiner Philosophie des Ziels bestimmt und den Geist letztlich zum Mittel einer auf das Leben gerichteten Politik macht: „Nicht die Welt zu überwinden gilt es, zum Geiste hin, sondern durch Geist die Welt so zu gestalten, dass sie Geist nicht mehr nötig hat. Geist ist aus Not geboren, also ärmer als Welt. So wahr ihm der Vorrang gebührt vor allen Nützlichkeiten verantwortungsloser Bürger, und in der Empirie überhaupt vor allen Sinnen, so wahr ist im Unendlichen nicht er die Instanz, vor deren Entscheid sich das Leben zu beugen hätte, sondern das Leben die Instanz, vor der sich der Geist verantworten muss.“126

Vor dem Hintergrund dieser zweckrationalen Bestimmung der Aufgabe des Geistes resümiert Hiller dann anschließend, dass „aller Geist im Dienste des Lebens“127 stehen muss. Diese Zentralstellung des Lebens gestaltet sich als eine unmittelbar politisch ausgerichtete Version des vitalistischen Paradigmas expressionistischer Zeit- und Kulturkritik.128 Sandro Holzheimer hat unlängst detailliert die biopolitischen Dimensionen dieses Lebensbegriffs herausgearbeitet, die von der Idee einer souveränen Verfügung über das ‚nackte Leben‘ getragen sind und sich ganz praktisch etwa in Auslese- und Zuchtphantasien manifestieren.129 Mit dem „bloßen Leben[…]“ (WB II.1, 199) als höchstproblematische Kategorie der Politik setzt sich Benjamin bekanntlich erst einige Jahre später in Zur Kritik der Gewalt gründlich auseinander, indem er dort die „Auslösung der Rechtsgewalt“ (ebd.) auf die mythische Tradition der „Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens“ (ebd., 200) zurückführt, ohne das jedoch, wie er selbst eingesteht, „genauer dargelegt“ (ebd., 199f.) zu haben. Die moderne Rechtsgewalt, so legt Benjamin dort nahe, begründe sich aus der „mythische[n] Gewalt“, die eine „Blutgewalt über das bloße Leben [ist]“ (ebd., 200). Dabei ist für das Verhältnis zu Hiller weniger direkt die von Benjamin gegen den mythischen Gewaltzusammenhang in Anschlag gebrachte göttliche Gewalt von Interesse als vielmehr seine weiteren Einlassungen zu dem „Satz von der Heiligkeit des Lebens“ (ebd., 201). Benjamin verweist in diesem Zusammenhang in Zur Kritik der Gewalt auf Hillers pazifistischen Aufsatz Anti-Kain aus 126 Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 200. 127 Ebd. 128 Vgl. auch Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart 1971. 129 Vgl. Sandro Holzheimer: Heiliges Leben. Zur Biopolitik des Aktivismus (Kurt Hiller). In: Héctor Canal u.a. (Hg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013, S. 123-140.

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dem dritten Ziel-Jahrbuch von 1919 und zitiert daraus eine kurze Passage: „Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und Gerechtigkeit eines Daseins … Dasein an sich steht.“ (ebd.) Diese Ansicht, wonach das Leben als solches zum absoluten Wert gesetzt werden müsse, nennt Benjamin dann „falsch, sogar unedel“ (ebd.) und führt weiter aus: „Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll“, denn der Mensch falle „eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Leben des Menschen“ (ebd.). Dass Benjamin genau die Gegenposition einnimmt, wird auch im Theologisch-politischen Fragment deutlich, wo er betont, dass sich „[d]ie Ordnung des Profanen […] an der Idee des Glücks“ (ebd., 203) aufzurichten habe, also an einem bereits qualifizierten, nicht an dem bloßen Leben. Da Benjamin in Zur Kritik der Gewalt und anderen Schriften nach 1918 die Gerechtigkeit und das Glück explizit als Gegenkategorien zu Hillers Verabsolutierung des bloßen Lebens setzt, lässt sich in dieser Argumentation zugleich die Nachwirkung früherer Auseinandersetzungen mit Hiller zumin­ dest vermuten. In diesen früheren Debatten formuliert Benjamin seine kritische Distanz aber noch nicht auf der Grundlage der Annahme, dass das bloße Leben „dem alten mythischen Denken nach der gezeichnete Träger der Verschuldung ist“ (ebd., 202). Vielmehr begründet Benjamin seine kritische Distanz von Reflexionen über ethische Handlungsweisen her, die teilweise bis auf die jugendbewegten Texte und Notizen zurückführen. Die Leitidee der meisten jugendbewegten Schriften liegt in einer religiös motivierten ethischen Gesinnungs- und Lebensgemeinschaft, in der die Freiheit des Individuums nicht durch sein bloßes Leben, sondern im sittlichen Handeln garantiert sein soll. Die Kritik an der Heiligkeit des bloßen Lebens, die Benjamin später von der Kontinuität des Mythischen im Recht aus formuliert, ist hier noch stärker von ethischen Reflexionen über das konkrete Handeln her gedacht, das sich nicht am bloßen Leben orientiert. Diese Reflexionen über konkretes sittliches Handeln stehen auch im Hintergrund von Benjamins Kritik an Hillers aktivistischer Rhetorik unmittelbarer politischer Schreibpraxis. In diesen frühen Überlegungen zur sittlichen Handlung hat dann auch die Schuld ihren berechtigten Platz. Deutlich wird das beispielsweise an Notizen über Moral, die zwar vermutlich auf den Sommer 1918 datieren, in den Überlegungen zum „Prinzip der Freien Schulgemeinde, der sittlichen Gemeinschaft“ (ebd., 50) aber auch früher bereits vorgeprägt sind. In diesen Notizen heißt es gegen den das bloße Leben betreffenden heidnischen „natürliche[n] Schuldbegriff[…]“ (WB VI, 56) gerichtet: „Jüdisch nicht das Leben, sondern allein der handelnde Mensch kann schuldig werden.“ (ebd.) Zwei Grundannahmen sind hier bereits gegen den „Satz von der Heiligkeit des Lebens“ (ebd., 201)

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ausgeprägt: Erstens ist der Mensch nur „[ f ]rei […] in Beziehung auf seine Handlungen.“ (ebd., 55) Dieser Gedanke ist bereits in seinen jugendbewegten Texten zentral, wenn er dort betont, dass die „Bedingung eines solchen [sittlichen, K.D.] Lebens […] Freiheit“ (WB II.1, 50) ist. Als Problem des Verhältnisses von Schreiben und politischem Handeln wird dieser Zusammenhang im Buber-Brief erneut eine wichtige Funktion für Benjamins Selbstpositionierung im Feld des Politischen spielen. Und zweitens kann gerade aufgrund dieser Freiheit die Verantwortung dieses Handelns weder aus der Tatsache des bloßen Lebens begründet werden noch kann die Verantwortung an einen moralischen Stellvertreter, etwa an einen ‚großen Menschen‘ oder einen heroischen Dichter, delegiert werden. Wenngleich es nicht zu klären ist, ob Benjamin diese Grundannahmen auch auf seine nicht weiter ausgeführten „Gedanken zur Ethik des Intellektualism“ (Br I, 124) bezogen wissen wollte, scheint dennoch gerade die Kombination aus einer Kritik an der Ausrichtung des Handelns am bloßen Leben mit der Problematisierung einer moralischen Stellvertretung vor allem auch auf Hillers Vorstellung der repräsentativen Funktion des Intellektuellen beziehbar. Dabei führt die bei Hiller zugrundeliegende Vorstellung eines zwar verabsolutierten, aber dennoch rein passiven bloßen Lebens, das zum Gegenstand des politischen Gestaltungswillens einer stellvertretenden Geisteselite wird,130 direkt auf die Figur des politischen Schriftstellers. Der zweite Aspekt, der die Differenz zwischen Benjamin und Hiller verdeutlicht, bezieht sich auf die Figur des politischen Schriftstellers selbst: Mit der ausführlich dargelegten ‚exhibitiven‘ Schreibweise zielt Hiller nicht auf einen individual-persönlichen Schreibstil, sondern auf einen spezifischen Typus von Schriftsteller: „Dieses Buches Verfasser ist unwichtig; wichtig die Spezies, davon er ein reines Beispiel ist; wichtig der Typus, den zu vertreten er … minder das Glück hat als die Ehre.“131 Der Fokus auf die Etablierung eines neuen Schriftstellertypus ist charakteristisch für die Debatten um die öffentliche Wirksamkeit des kritischen Intellektuellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch Heinrich Mann zielt mit seiner Verhältnisbestimmung von Geist und Tat nicht auf den individuellen Schriftsteller, sondern auf einen „Typus des geistigen Menschen“132. Und so nennt Hiller als Beispiel für diesen Schriftstellertypus denn auch Alfred Kerr, Heinrich Mann und Karl Kraus, die „durch herrliche 130 Holzheimer hat das als ein „hylemorphes Form-Materie-Modell“ beschrieben, in dem „Leben und Gesellschaft einzig als rezeptives Material (hýle) des ‚Transzendensplans‘ des Geistes“ gedacht sind. (ebd. S. 126) 131 Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 10. 132 Heinrich Mann, Geist und Tat, S. 8.

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Manifeste […] sich an die Spitze derer gestellt [haben], denen der blasierte, hochnäsige, herzlose, müde und tatenleere Ästhetizismus nachgerade zum Halse herausgewachsen war.“133 Die schöpferische Kraft des einzelnen, hervorgehobenen „‚kultivierten‘ Menschen‘“134, den Hiller deutlich an Nietzsches Übermenschen orientiert, ist zuallererst Repräsentant einer revolutionären Ethik, die es zu realisieren gelte. Hiller unterscheidet dabei vier „charakterologische[…]“135 Typen, die unterschiedliche Positionen des Intellektuellen in der Gesellschaft anzeigen: Den Ästhetiker, „welcher die Wissenschaft Ästhetik betreibet“136, den Ästheten, der als ein ausschließlich Genießender vorgestellt wird, den Ethiker, der „die Wissenschaft Ethik aus[übt]“137 und den Eth, auf den es Hiller ankommt und der nicht teilnahmslos neben den drängenden Problemen der Gegenwart steht, sondern aktiv eingreift: „der Eth weiß möglichenfalls nichts von Imperativen, Kriterien, Formprinzipien, lebt und webt aber in jedem Augenblick seiner Bewußtheit für eine Idee; kämpft, leidet, blutet; regt sich auf, macht sich gemein.“138 Zwischen dem Ästheten und dem Ethen bestehe, so Hiller weiter, eine ernstzunehmende „Kultur-Antinomie“139, in denen sich die zeitgenössischen Debatten zu verrennen drohen. Denn verharre man bei der Ansicht dieser Polarität zwischen beiden als solcher, so Hiller weiter, ergeben sich immer nur neue unproduktive „circuli“140, in der jede Position durch die Gegenposition aufgehoben werden könne. Die Entscheidung für das „Ethentum“141 sei hingegen letztlich eine Entscheidung zugleich „wider Willen, und nicht einmal wider Willen“142, weil sie ohnehin durch eine historische Notwendigkeit vorbestimmt ist: die Zeit von Ästhetismus, kultivierte[r] Indifferenz, witzige[r] Passivität“143 sei bald vorbei und am Horizont tauche bereits der Eth als „Wollende[r], Gesinnungsvolle[r], Kämpfende[r]“144 auf, der einen neuen Schriftstellertypus bestimmen werde.145 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 90. Ebd., S. 52. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Da es in dem vorliegenden Kapitel zunächst nur um die Vorgeschichte zu Benjamins Arbeit am Politischen nach 1918 geht, in der Friedlaender dann eine bedeutende Rolle

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An einer anderen Stelle formuliert Hiller denselben Sachverhalt unter einem literaturpolitischen Imperativ, der sich vor allem gegen einen selbstreferentiellen Ästhetizismus wendet: „Der Verfasser von Erzählungen und Dramen trete in die Kämpfe der Zeit ein; er politisiere sich, fanatisiere sich; ein artifex propagator wie der herrliche Frank Wedekind, opfere er sich Ideen hin.“146 Sowohl die dezisionistische Rhetorik als auch die Vorstellung von einem ‚Opfer‘, das erbracht werden müsse, stehen diametral entgegen zu Benjamins Reflexion über das konstitutive, nicht letztgültig auflösbare Spannungsverhältnis von Literatur und Politik einerseits und der Kritik an der Vorstellung der Dichters als eines Helden, der sich ‚für eine Sache opfere‘. Hiller fordert hingegen, dass sich dieser neue, engagierte Schriftstellertypus weniger distanziert-kritisch als unmittelbar affektiv in die Angelegenheiten der Zeit einzumischen habe: „Aber der Geistige von morgen muss ein Eingreifender sein, kein Ausgeschlossener mehr und bloss formulierend Danebenstehender; nicht länger Statist, sondern Held.“147 Die repräsentative Funktion, die dem spielen wird, sei hier nur am Rande erwähnt, dass Friedlaender ebenfalls eine deutliche Kritik an Hillers Idee des neuen Schriftstellertypus formuliert. In seiner Rezension von Die Weisheit der Langenweile gesteht Friedlaender Hiller zwar zu, dass das Buch eine „interessante Lektüre“ gerade durch die „Stellungnahme in den Problemen der Moderne“ (F/M 2, 401) biete, die Idee des aktivistischen Schriftstellers aber sehr einseitig bleibe, weil sie nur negiert, nur polemisch ist. Friedlaender fordert Hiller daher dazu auf, die eigene Position als kritischer Schriftsteller zu überdenken. Diese Position bezeichnet Friedlaender dann „als das Aller-‚Zwischigste‘ von der Welt“ (ebd.) und verpflichtet damit den kritischen Schriftsteller und Intellektuellen auf eine Position inmitten der polaren Spannungen. Die Reflexion auf diese Position habe „die Widersprüche, Gegensätze, Verzweiflung und Gebrochen-, ja Zerrissenheiten des Lebens zur Polarität“ (ebd., 402) einzukalkulieren, wodurch jede kritische Stellungnahme immer zu einer „‚zwischigen‘ Äußerung[…]“ (ebd.) werde. An dieser Stelle ist außerdem noch erwähnenswert, dass Friedlaender auch Hillers erstes Ziel-Jahrbuch rezensiert hat, in dem Benjamin seinen Text über Das Leben der Studenten publizierte. Ob Friedlaender Benjamins Text wahrgenommen hat, lässt sich nicht mehr entscheiden. Es handelt sich mit der Rezension aber um den einzigen Text Friedlaenders, von dem aus zumindest angenommen werden kann, dass Friedlaender etwas von Benjamin gelesen hat. Friedlaender erwähnt zwar u.a. mit Ludwig Rubiner, Heinrich Mann oder Kurt Hiller direkt einige Autoren, Benjamins Text wird aber nicht genannt. Allerdings findet sich in der Rezension eine kritische Einlassung zur Jugend, wonach diese glaube, „die Beziehung zwischen dieser verrotteten Welt und der explodierenden Freiheit“ (F/M 2, 477) läge in einer grundlegenden Revolutionierung. Diese kurze Einlassung zur „Jugend“ lässt sich durchaus auf Benjamins Text im ZielJahrbuch münzen. 146 Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, S. 185. 147 Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 202. Neben der Tatsache, dass Hiller bereits früh dazu aufruft, das schriftstellerische Engagement stärker in die Tagespresse zu verlagern, was Benjamin später in der Einbahnstraße ebenfalls unter dem Aspekt der „prompte[n] Sprache“ (WB VI.1, 85) fordern wird, ist auch Hillers Forderung zum ‚Eingreifen‘ bei

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Dichter hier zugesprochen wird, ist auch in Heinrich Manns Kurzessay Geist und Tat abzulesen. Heinrich Mann fordert dort, dass der Schriftsteller als „Agitator […] die ganze Kraft des Wortes seinem [des Volkes, K.D] Kampf schenken“148 solle. Nach Jahren „langer Unwirksamkeit“, in der „die deutschen Geister vom Volk [ge]trennt“149 waren, solle der Schriftsteller sich nur in den öffentlichen, politischen Dienst von „der Wahrheit und der Gerechtigkeit“150 stellen. Um dabei „Erkenntnisse zur Tat zu machen“151, habe sich der deutsche Schriftsteller an der Tradition der kritische Intellektuelle in Frankreich von „Rousseau bis Zola“152 zu orientieren. Der politische Fluchtpunkt ist hier eindeutig die Möglichkeit einer zweiten französischen Revolution. Es ist diese Funktion des Autors als „der Aufrufende, der Verwirklichende, der Prophet, der Führer“153 bei Hiller bzw. als das „Mass und Vorbild“154 bei Heinrich Mann, die Benjamins Distanz gegenüber der aktivistischen Literaturpolitik und ihrem Konzept politischer Autorschaft begründet.155 Besonders deutlich wird es dort, wo Hiller jede Reflexion auf literarische Formaspekte und schriftstellerische Techniken zugunsten des reinen Willens ersetzt: „einzig jedoch das Wollen gilt, einzig das Was des Wollens.“156 Dabei hat sich Benjamin der Kritik am Bild vom Dichter als Held, wie Hiller es anführt, und der „Rolle des Stellvertreters“ (WB I.1, 157) für die Menschheit besonders nachdrücklich in seinem Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften gewidmet. An der Idee einer „Stellvertretung“ des Dichters „im moralischen Bereich“ (ebd.) werden mythische Kräfte wirksam, so argumentiert Benjamin dort, die nicht den immanenten Gehalt des Werkes fokussieren, sondern ein Bild vom

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156

Benjamin später dort zu erkennen, wo er sich auf Brechts Idee des ‚eingreifenden Denkens‘ bezieht (vgl. bspw. WB VI, 619). Benjamins mithin überspitzte, polemische Auseinandersetzung begründet sich letztlich sicherlich auch darin, dass beide auf ähnliche Motive, Argumentationen und Denkfiguren zurückgreifen, diese aber in unterschiedlicher Weise einsetzen. Heinrich Mann, Geist und Tat, S. 7. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 210. Heinrich Mann, Geist und Tat, S. 8. Die Kritik an einer geistigen Führerschaft des Intellektuellen betrifft auch Benjamins kritische Auseinandersetzung mit Hugo Balls 1918 erschienen Werk Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Vgl. hierzu auch Chryssoula Kambas: Ball, Bloch und Benjamin. Die Jahre bei der Freien Zeitung. In: dies.: Momentaufnahmen der europäischen Intelligenz. Moderne, Exil und Kulturtransfer in Walter Benjamins Werk. Hannover 2009, S. 67-87, hier: S. 87. Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, S. 207.

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stellvertretenden „übermenschlichen Typus des Erlösers“ (ebd., 158) auf den Dichter projizieren. Die Kritik, die Benjamin hier an Gundolfs Goethe-Buch formuliert, taucht in vergleichbarer Weise einige Jahre später in Benjamins Notizen zur Frage nach der Aktualität von Literaturkritik wieder auf. Im Anschluss an eine Kritik am Expressionismus und an Hillers Aktivismus heißt es dort erneut, dass das Verhältnis von Politik und Literatur vom „Inneren des Werkes selbst, da wo Wahrheitsgehalt und Sachgehalt sich durchdringen“ (WB VI, 179) her zu bestimmen ist. Der reine Wille diene möglicherweise für die Formulierung eines „Programm[s] ‚politischer Dichtung‘“ (ebd., 178), übersehe aber, dass das Politische der Literatur ausschließlich als „Beziehung im Werke selbst“ (ebd.) aufzufinden sei. Benjamins Distanz gegenüber Hiller und Heinrich Mann wird aber auch bereits in dem Text Das Leben der Studenten deutlich, der zwischen den Texten Heinrich Manns und Kurt Hillers im ersten Ziel-Jahrbuch eine konträre Position formuliert. Während Hiller im Zusammenschluss der Dichter die Möglichkeit sieht, das Paradies auf Erden zu realisieren,157 bestimmt Benjamin die historische Rolle einer neuen Gemeinschaft der Studenten im genauen Gegensatz zu dieser repräsentativen Funktion des geistigen Dichterbundes. Wie bereits weiter oben ausgeführt, setzt Benjamins Aufsatz mit einer Kritik des gegenwärtigen Fortschrittsglaubens ein, um eine andere, kritische Verhältnisbestimmung von Geschichte und Gegenwart zu formulieren. Dafür schließt Benjamin gleich im Anschluss an die Kritik des Fortschrittsglaubens Geschichte und Gegenwart unter dem Utopischen als gemeinsamen Fluchtpunkt zusammen: „Die Elemente des Endzustands liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet.“ (WB II.1, 75) Dieses Utopische in der Gegenwart sichtbar zu machen sei die „geschichtliche Aufgabe“ (ebd.), in der auch die „Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht“ (ebd.). Jedoch sei der „immanente Zustand der Vollkommenheit“ (ebd.) weder in einzelnen Institutionen (hier: der Universität) oder durch praktische ethische Handlungsmaximen noch in einzelnen Figuren wie dem des Studenten sichtbar zu machen. Universität und Student können ausschließlich „als Gleichnis, als Abbild eines höchsten, metaphysischen, Standes der Geschichte beschrieben […] werden.“ (ebd.) Ihre Bedeutung ist damit, anders als bei der Stellvertreterrolle des aktivistischen Dichters, immer nur indirekt und über die Metaphysik der Geschichte vermittelt. Vielmehr entziehe sich der „Zustand der Vollkommenheit“ der Universität und der Studentenschaft konstitutiv. Die „metaphysische[…] Struktur“ 157 Vgl. ebd., S.196f. und S. 203.

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der Geschichte sei, so Benjamin, ausschließlich im messianischen Reich oder der französischen Revolution erkennbar. Die „geschichtliche Aufgabe“ der Studenten besteht daher auch nicht in einer Realisierung des Utopischen, sondern darin, „das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend [zu] befreien.“ (ebd., 87). Während Hiller die Kluft zwischen krisenhafter Gegenwart und paradiesischer Zukunft über den aktivistischen Willen des Dichters überbrückt („Das Paradies ist Ziel, folglich ziel-los; es ist die legitime Stätte der Künste“158), haben die Studenten bei Benjamin ausschließlich eine ‚transformatorische Funktion‘ (vgl. ebd., 83) in Bezug auf einen sich der Gegenwart konstitutiv entziehenden vollkommenen Zustand. Es ist vor allem die mit einer aktivistischen Literaturpolitik unvereinbare Polarität zwischen Gegenwart und Zukunft, die Benjamins kritische Distanz gegenüber Hiller begründet. Als Gegensatz von ‚Erwartung‘ und ‚Erfüllung‘ bildet Benjamins polare Denkweise auch den grundlegenden Konflikt in seiner Freundschaft zu Heinle. (vgl. Br I, 182) Nach 1918 wird sie auch die kritische Position gegenüber Ernst Blochs Geist der Utopie und einer dort formulierten Ästhetik bestimmen, die in der Kunst bereits den Vor-Schein eines künftigen messianischen Reichs erkennt. Dabei wird Benjamin weiterhin auch die Kritik an Hillers Vorstellungen von einer repräsentativen Funktion des Schriftstellers und der unmittelbar politisch wirkenden Literatur als Kontrastfolie nutzen, um seine eigene Schreibposition zu profilieren. Ein erster programmatischer Versuch dieser Selbstbestimmung findet sich bereits in einem Brief Benjamins an Martin Buber von 1916. 5.3

„hinzuführen auf das dem Wort versagte“ – Walter Benjamin und Martin Buber

Am 17.7.1916 schreibt Benjamin einen Brief an Martin Buber, der von zentraler Bedeutung für Benjamins frühe Selbstpositionierung in den kontroversen Debatten über die Möglichkeiten kritischer intellektueller Schreibarbeit während des ersten Weltkrieges ist.159 Benjamin formuliert hier unter sprachphilosophischen Vorzeichen nicht nur eine grundsätzliche Stellungnahme zum Verhältnis von Politik und Schreiben, sondern lotet zugleich versuchsweise das 158 Ebd., 197. 159 Die zentrale Bedeutung zeigt sich allein darin, dass es der einzige Brief ist, der sogar einen eigenen Handbucheintrag erhalten hat. (vgl. Samuel Weber: Der Brief an Buber vom 17.7.1916. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 603-608).

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Konzept einer „sachliche[n] Schreibart“ (Br I, 327) aus, die er auf sein „eigenes praktisches Verhalten“ (ebd., 325) bezieht. Zwar ist der Brief an Buber nicht direkt mit demjenigen vom 9.3.1915 an Gustav Wyneken vergleichbar, in dem Benjamin sich „gänzlich und ohne Vorbehalt“ (ebd., 263) von seinem ehemaligen Lehrer lossagt, beide Briefe verbindet aber, dass sie einerseits ein Resümee über bestimmte Debatten am Vorabend des ersten Weltkrieges enthalten und zugleich andeuten, in welche intellektuelle Richtung Benjamin sich fortan – frei von praktischem Engagement – zu bewegen versucht. Anlass des Briefes ist Bubers Einladung an Benjamin zur Mitarbeit an der neugegründeten Zeitschrift Der Jude, deren erstes Heft unlängst erschienen war. Scholem berichtet, dass Benjamin geradezu ‚zornig‘ über die Art der Texte der ersten Nummer war.160 Daraufhin beabsichtigte Benjamin zunächst, einen offenen Brief an Buber zu verfassen (vgl. ebd., 321), der „von vornherein offenkundig eine polemische Note haben“161 sollte. Benjamin entschloss sich aber letztlich doch für einen privaten Brief an Buber, in dem die Polemik dann nicht sonderlich ausgeprägt, die Absage an einer Mitarbeit allerdings umso deutlicher formuliert ist. So betont Benjamin gleich zu Beginn des Briefes die „Heftigkeit des Widerspruchs“ (ebd., 325), den das erste Heft in ihm hervorgerufen hat. Eine Art programmatischen Charakter erhält der Brief an Buber aber nicht allein durch den konkreten Widerspruch gegenüber der Zeitschrift. Indem Benjamin die Zeitschrift als einen für die Zeit charakteristischen Typus „politisch wirksamen Schrifttum[s]“ (ebd.) verhandelt, ragt die Kritik immer schon über die Zeitschrift hinaus und verlängert sich zu einem kritischen Statement über politische Literatur inmitten des ersten Weltkrieges. In diesem Sinne ist die an Buber adressierte Kritik an dem „fürchterlich[en]“ und „verheerende[n] […] Verhältnis von Wort und Tat“ (ebd., 326) stellvertretend auch als implizite Antwort sowohl auf das Pathos des sogenannten ‚Augusterlebnisses‘ und den ‚Ideen von 1914‘ als auch auf die pazifistische Reaktion darauf etwa in der aktivistischen Schreibpolitik Kurt Hillers lesbar.162

160 „Besonders Bubers Aufsatz selber und der von Hugo Bergmann erregten seinen Zorn.“ (vgl. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 38) Der Grund für Benjamins Ablehnung lag, so Scholem weiter, vor allem am „Mangel an Sachlichkeit“ und am „Überfluß an Gerede“ (ebd.). 161 Ebd., S. 37. 162 Zur ‚literarischen Mobilmachung‘ im ersten Weltkrieg vgl. die umfassende Studie von Alexander Honold: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015; für einen historischen Überblick vgl. außerdem den Sammelband von Wolfgang J. Mommsen (Hg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. München 1996.

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Benjamin versucht in dem Brief auf der einen Seite ein Modell der „Wirkung“ (ebd., 326) von Schrifttum am Begriff der Sprachmagie zu entwickeln, das sich explizit als Gegenmodell zu einer instrumentellen Sprachauffassung versteht. Auf der anderen Seite betont er, dass es ihm überhaupt „unmöglich“ sei, „wirkendes Schrifttum zu verstehen“ oder gar „zu verfassen“ (ebd., 327). Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden gegensätzlichen Aussagen bewegt sich der Argumentationsverlauf des Briefes und wirft so Fragen auf, die nachfolgend an den Brief herangetragen werden sollen, wobei er sie aber – das sei bereits vorweggenommen – letztlich nicht restlos aufzuklären vermag. Das Ambivalente und teilweise Widersprüchliche dessen, was Benjamin selbst-bewusst als das „Werdende[…] in den folgenden Gedanken“ (ebd., 325) bezeichnet hat, gilt es daher zu untersuchen.163 Um seine prinzipielle Position formulieren zu können, beginnt Benjamin mit einer Art von ‚Definition‘ dessen, was gemeinhin als politisches Schrifttum verstanden wird. Dabei habe er „den Begriff ‚Politik‘ in jenem weitesten Sinne in dem man ihn jetzt ständig gebraucht“ (ebd.), anlegt: „Es ist eine weit verbreitete ja die fast allerorten als Selbstverständlichkeit herrschende Meinung daß das Schrifttum die sittliche Welt und das Handeln der Menschen beeinflussen können indem es Motive von Handlungen an die Hand gibt. Menschen durch Motive aller Art zu bestimmten Handlungen zu bewegen ist die Absicht des politischen Schrifttums. In diesem Sinne ist also die Sprache nur ein Mittel der mehr oder weniger suggestiven Verbreitung der Motive die im Inneren der Seele den Handelnden bestimmen.“ (ebd.)

Zwei Aspekte legt Benjamin sich hier mit der Annahme, dass es sich um eine ‚weitverbreitete Meinung‘ handle, zurecht: Die Idee der ‚Beeinflussung‘ des Handelns durch das politische Wort und die Vorstellung der Sprache als 163 Es wurde bereits eingangs darauf hingewiesen, dass in der Untersuchung der frühen Schreibversuche weder bloß Unzulänglichkeiten dokumentiert noch der Versuch unternommen werden soll, Benjamins frühe Schriften durch den Verweis auf spätere Theoriebemühungen retrospektiv zu plausibilisieren oder zu systematisieren. Gerade in der Untersuchung der zentralen Stelle des Briefes, in der Benjamin das Verhältnis von Wort und Tat durch die „kristallen reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache“ (Br I, 326) zu bestimmen versucht, ergeben sich Ambivalenzen, mithin auch manifeste Widersprüche. Das Aufschlussreiche an diesen Widersprüchen geht verloren, wenn es unmittelbar von späteren Texten aus gedeutet wird. Was sich hingegen auch und gerade an dem Problematischen der Argumentationsführung beobachten lässt, besteht im Nachvollzug spezifischer Etappen eines ambivalenten Denkprozesses. Dieser Prozess ist weniger als Ausdruck einer kontinuierlichen intellektuellen Entwicklungslogik lesbar, sondern macht vielmehr Modifikationen und Transformationen von Denkfiguren sichtbar, die bürokratischen Einteilungen des Werkes in eine Zeit ‚vor‘ und ‚nach‘ dem ersten Weltkrieg konsequent unterlaufen.

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eines ‚bloßen Mittels‘ zu politischen Zwecken. Beide Aspekte greift Benjamin als „expansive[…] Tendenz des Wort-an-Wort-Reihens“ an, die für ihn einen höchstproblematischen „Mechanismus zur Verwirklichung des richtigen Absoluten“ (ebd., 326) darstellt. Was mit dieser allgemeinen Ansicht eines ‚Kausalmechanismus‘ ausgeblendet und nicht in Betracht gezogen werde, so führt Benjamin weiter aus, sei eine „Beziehung der Sprache zur Tat in der nicht die erste Mittel der zweiten wäre“ (ebd., 326). Diese nicht in eine ZweckMittel-Logik eingefasste Beziehung der Sprache zur Tat nennt Benjamin dann im weiteren Verlauf „magisch“ (ebd.). Nur eine solche ‚magische‘, „das heißt un-mittel-bar[e]“ (ebd.) Wirkung könne er sich überhaupt für Schrifttum vorstellen, gleichviel ob es sich dabei um prophetisches, dichterisches oder eben sachliches Schrifttum handelt. Unverkennbar rückt der Brief mit dieser gegen eine zwecklogische Bestimmung ausgerichteten Perspektive in die Nähe der Überlegungen zur Magie als „Grundproblem der Sprachtheorie“ (WB II.1, 142), mit dem Benjamin sich im zeitgleich entstehenden Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen auseinandersetzt und in dem dann auch ähnliche Gedanken und Argumentationsfiguren wiederauftauchen und ausgefaltet werden. Diese Überlegungen betreffen die beiden unmittelbar miteinander zusammenhängenden Grundannahmen des Sprachaufsatzes: Erstens richtet sich Benjamin dort ebenfalls gegen eine instrumentelle Sprachauffassung, die Sprache zwecklogisch zu einem Mittel macht. Das geistige Wesen teile sich, so Benjamin, eben „in der Sprache mit[…] und nicht durch die Sprache.“ (ebd., 142) Nicht als (Transport-)Mittel sei Sprache zu begreifen, in der durch willkürliche Zeichen Botschaften von einem Sender zu einem Empfänger übermittelt werden. Gegen eine Auffassung der Sprache als bloßes Kommunikationsinstrument („Diese Ansicht ist die bürgerliche Auffassung der Sprache“, ebd., 144) fordert Benjamin, die Sprache als ein „‚Medium‘ der Mitteilung“ (ebd.) zu betrachten. Vergleichbar dazu heißt es im Brief dann: „In wievielerlei Gestalten auch die Sprache sich wirksam erweisen mag, sie wird es nicht durch die Vermittlung von Inhalten sondern durch das reinste Erschließen ihrer Würde und ihres Wesens tun.“ (Br I, 326) Die „Würde“ und das „Wesen“ der Sprache weisen auf den zweiten Grundgedanken des Sprachaufsatzes, der darin liegt, dass dasjenige, was sich in der Sprache mitteilt, eben „die Sprache selbst“ (WB II.1, 144) sei. Im Brief heißt es dazu weiter, das Verheerende in der allgemeinen Vorstellung politischen Schrifttums bestehe darin, dass die Beziehung der Sprache zur politischen Tat nicht „in ihr selbst [der Sprache, K.D.]“ (Br  I, 326) liege, sondern zu „eine[r] ohnmächtige[n] zum bloßen Mittel herabgewürdigte[n] Sprache und Schrift“ (ebd.) werde, deren Wirkung in „irgend welchen sagbaren und aussprechbaren Motiven“ (ebd.) liegen solle. Beide Grundannahmen, der

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mediale Charakter einer sich selbst mitteilenden Sprache, bilden zusammen den Kern von Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen zur Magie. Winfried Menninghaus hat hier gezeigt, dass Benjamin im Versuch, sprachmystische Traditionen für das Verständnis auch der alltäglichen Sprache heranzuziehen Gedanken Humboldts, Hamanns und der Frühromantiker wiederaufnimmt und weiterführt. Die Magie als ein „nichtsignifikative[s] Sprachmoment“164 ziele dabei auf die „Realisationsform einer Kraft, die unmittelbar, d.h. ohne mit den instrumentellen Zweck-Mittel-Relationen technischer Vernunft faßbar zu sein, wirklichkeitsmächtig ist.“165 Diese Kraft artikuliere sich nicht durch das Gesprochene als verbaler Inhalt, sondern realisiere sich als unmittelbare Mitteilung eines geistigen Wesens im Sprachlichen, also als etwas, das im Sprachlichen präsent ist, aber „nicht ausgesagt wird“166. Auf diesen schwierigen Grundgedanken eines nonverbalen Ausdruckscharakters der Sprache als solcher wird auch die weitere Argumentation des Briefes aufbauen. Humboldt hatte dafür die Begriffe der „sprachbildenden Kraft“ und der „inneren Sprachform“ gebildet.167 Menninghaus macht in seiner Untersuchung deutlich, dass Benjamin mit der Vorstellung einer solchen unmittelbaren Kraft bzw. der Manifestation eines „inhaltstranszendenten Inhalt[s]“168 nicht selbst wiederum in eine mystifizierende Sprachauffassung zurückfällt, sondern in der Reflexion über die ‚Magie‘, den ‚Namen‘ und die ‚Offenbarung‘ Unterscheidungen ausfaltet, die zwar den „sprachphilosophischen Erfahrungsgehalt“ der Sprachmystik aufgreifen, zugleich aber auch „die unmystische ‚Vernunft‘ des mystischen ‚Diskurses‘ über Sprache“169 herauszupräparieren versuchen. Inwiefern hilft nun aber dieser Blick auf den Sprachaufsatz weiter, um Aufklärung über die tentative Argumentationsführung im Buber-Brief zu erlangen? Folgt man hier Samuel Weber, lässt sich in Benjamins Brief das Nachdenken über die Medialität der Sprache „gleichsam in statu nascendi“170 beobachten. Das ist auf der einen Seite insofern plausibel als beiden Texten die ‚Ablehnung‘ einer instrumentellen Sprachauffassung unter den Gesichtspunkten einer 164 Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a. M. 1980, S. 15. 165 Ebd., 17. 166 Ebd., S. 18. 167 Vgl. ebd., S. 12. Als „traditionelle Beschreibungskategorien“ (ebd., S. 13) für die Realisation dieser Kraft bespricht Menninghaus dann die Begriffe Ton, Stil und Sprachform. (vgl. ebd., S. 13-15). 168 Ebd., S. 12 u. ö. 169 Ebd., S. 18. 170 Samuel Weber, Der Brief an Buber vom 17.7.1916, S. 605.

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signifikativen oder einer kommunikativen Funktion gemeinsam ist.171 Das ist aber zunächst nur eine Gemeinsamkeit, die über die Ausschließung unzulänglicher Sprachkonzepte verläuft. Auf der anderen Seite verhandelt der Brief mit der Frage des politischen Schrifttums jedoch erstens einen Gegenstand, der im Sprachaufsatz nicht aufgerufen wird, sondern im Brief explizit als Reaktion auf die schreibpolitischen Debatten der Zeit ausgerichtet ist. Und zweitens ist dem Brief dabei, wie bereits weiter oben angedeutet, eine eigentümliche Spannung zwischen dem Insistieren auf die Sprachmagie und der als Fluchtlinie aus den zeitgenössischen Debatten angedeuteten sachlich-nüchternen Schreibweise eingeschrieben, die ebenfalls ihr Gegenstück im Sprachaufsatz vermissen lässt. Menninghaus hat daher auch zurecht auf die „extreme Apotheose der SprachMagie“ im Brief hingewiesen, die man zwar „nicht über[…]bewerten“ solle, aber dennoch den problematischen Charakter der Ausführungen anzeige.172 Insbesondere die für den Brief zentrale Frage der Wirkung taucht im Sprachaufsatz eigentlich nicht auf, geht es doch dort vielmehr um eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung des geistigen und sprachliches Wesens in der Sprache überhaupt und in der Sprache des Menschen. Sind die Verbindungen zwischen den beiden Texten also gar nicht so eng? Es lohnt, die Perspektive auf den Buber-Brief zu erweitern, um eine Analyse zu ermöglichen, die weiter geht 171 ‚Ablehnung‘ ist hier bewusst etwas überspitzt als Bezeichnung gewählt, um die Unterschiede deutlich zu machen. Dass es eine signifikative und eine kommunikative Seite der Sprache gibt, hat Benjamin nicht bestritten. Benjamins eigene Gegenüberstellung ist vielmehr von einem Impuls zur Überspitzung getragen, der ihm vor allem dazu dient, sein eigenes sprachphilosophisches Erkenntnisinteresse deutlich zu markieren, das von vornherein nicht den Aspekt der Zeichenhaftigkeit ins Zentrum stellt, sondern sich entlang einer Verhältnisbestimmung von geistigem und sprachlichem Wesen der Dinge bewegt, die er als jenen „große[n] Abgrund“ (WB II.1, 141) bezeichnet, „dem alle Sprachtheorie zu verfallen droht, und über, gerade über ihm sich schwebend zu erhalten ihre Aufgabe“ (ebd.) sei. Dieses ‚Schweben‘ lässt sich auch auf die Spannung als solche zwischen Signifikations- und Ausdruckseite übertragen; zumindest legt Benjamin das später im Moskauer Tagebuch nahe, wenn er dort angelegentlich einer Diskussion über politisches Schreiben explizit auf seinen Sprachaufsatz zurückkommt und betont: „ich verwies ihn [Bernhard Reich, K.D.] auf die Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein.“ (WB VI, 331). 172 Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 245. Menninghaus weist darauf hin, dass sich Benjamins problematische Vorstellung von einer Magie zwischen Wort und Tat wohl am deutlichsten in der Propaganda der Nationalsozialisten erwiesen habe. Wenngleich er Benjamin eine „pragmatische[…] Überspitzung“ (ebd., S. 246) seiner Argumentation zugesteht, hält Menninghaus doch fest, dass eine radikale „Opposition gegen jegliche ‚Vermittlung von Inhalten‘ und ‚Motive von Handlungen‘ […] schlechthin irrationalistisch“ (ebd.) sei. Was Menninghaus zurecht als Apotheose bezeichnet, soll nachfolgend anhand der problematischen Fokussierung des BuberBriefes auf den Begriff der Wirkung spezifiziert werden.

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als die bloße Feststellung, dass Benjamin hier seine sprachphilosophischen Überlegungen auf das Politische übertragen habe. Einen die Perspektive auf den Sprachaufsatz ergänzenden, äußert aufschlussreichen Zugang zum Buber-Brief hat Uwe Steiner vorgeschlagen, indem er den Fokus auf das Thema der ‚Beeinflussung durch Motive‘ legt, das für Benjamins eingangs zitierte Definition über die ‚weitverbreitete[…] Meinung‘ zentral ist. Steiner geht davon aus, dass Benjamin im Buber-Brief „ein Dilemma sprachphilosophisch zu überwinden [versucht], auf das ihn die Darlegung der Kantischen Ethik in seinem Aufsatz über den Moralunterricht aus dem Jahre 1913 geführt hatte.“173 Die Verbindung zum Buber-Brief sieht Steiner darin, dass es beide Male um die Frage der Beeinflussung von Handlungen geht. Der sittliche Wille sei, so Benjamin im frühen Aufsatz, „‚motivfrei‘, einzig bestimmt durch das Sittengesetz“ (WB II.1, 48). Im Sittlichen könne das Handeln des Menschen qua Freiheit also nicht durch irgendwelche von außen herangetragenen Motive beeinflusst werden. Der Gedanke taucht im Buber-Brief offensichtlich als Kritik an der Vorstellung politischer Wirksamkeit des Schrifttums durch die „suggestive[…] Verbreitung der Motive“ (Br  I, 325) wieder auf. In den frühen Schriften habe Benjamin, so führt Steiner weiter aus, dieses grundsätzliche Dilemma einer letztlich zum Scheitern verurteilten moralischen Erziehung durch „das Erlebnis der Gemeinschaft“174 aufzufangen versucht. Als „‚Gestaltgewinnung des Sittlichen‘“ (WB II.1, 50) galt Benjamin die Errichtung einer Gemeinschaftsordnung als „religiöser Prozeß“, der „jeder näheren Analyse [widerstrebt]“ (ebd.). Steiner merkt nun an, dass der „Transformationsprozeß, dem Benjamin sein Denken auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und verbindlicheren Formulierungen in den Jahren nach dem Bruch mit der Jugendbewegung unterwirft“175, eben darin liegt, dass die „Systemstelle“176, die die Gemeinschaft in den frühen Schriften eingenommen hat, fortan durch die Sprachmagie ausgefüllt werde. Steiners Hinweise auf eine Verbindung zwischen den sprachphiloso­ phischen Überlegungen, die immer wieder als offensichtlichster Ausdruck einer Zäsur in Benjamins Werk gelesen wurde, mit den frühen Gedanken zum Problem sittlicher Handlungsmotive ist für das Verständnis des BuberBriefes insofern aufschlussreich als damit deutlich wird, dass die im Brief zu beobachtende Erprobung einer nicht-zweckrationalen Verhältnisbestimmung 173 Uwe Steiner: ‚Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen‘. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S.  592-603, hier: S. 595. 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Ebd.

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von Wort und Tat nicht ausschließlich aus sprachimmanenten Überlegungen resultiert, sondern zugleich denjenigen Problemkreis unter veränderten, d.h. politischen Gesichtspunkten wiederaufgreift, der ihn in seinen frühen Überlegungen zum Problem der ‚Vermittlung‘ (bzw. ‚Beeinflussung‘) sittlicher Handlungsmotivation bereits beschäftigt hatte. Beide Aspekte, sowohl die sprachphilosophischen Thesen aus dem Sprachaufsatz als auch die frühen Überlegungen zur Problematik der erzieherischen Beeinflussung sind für den Buber-Brief relevant. Dieser Zusammenhang ist zudem schon sehr früh erkennbar, wenn Benjamin etwa in einem Brief an Carla Seligson aus dem Jahr 1913 das Dilemma zwischen Beeinflussung und Freiheit im Sittlichen zugleich auf das (politische) Schrifttum bezieht: „Taten, Reden, Zeitschriften ändern keines Menschen Willen, nur sein Verhalten, seine Einsicht u.s.f. Das ist aber im Sittlichen ganz gleichgiltig.“ (Br  I, 164)177 Das Thema der ‚Beeinflussung durch das geschriebene Wort‘ ist hier bereits vorgeprägt. Daher lässt sich an Steiners Hinweise auf den Zusammenhang des Briefes mit den frühen Überlegungen zur freien sittlichen Handlung nachfolgend anschließen, verbunden mit grundsätzlichen Fragen: Was macht der Wechsel der „Systemstelle“ von der Gemeinschaft zur Sprache mit dem dargelegten Dilemma? Führt der Blick auf die Sprache zur Lösung des Problems? Findet sich im Brief außerdem eine Art Äquivalent zu dem nicht-analysierbaren religiösen Prozess der Gemeinschaftsbildung? Ist das Pathos der Gemeinschaftsidee aus den frühen Schriften in die emphatische Überhöhung des Magischen der Sprache übergegangen? Benjamins Anmerkung im Brief, dass die Wirkung der Schrift ausschließlich „in ihrem (des Wortes, der Sprache) Geheimnis“ (Br I, 326) zu suchen sei, legt es zunächst nahe, gerade die letztgenannte Frage zu bejahen. Allerdings ist bereits der frühe Text über den Moralunterricht von dem Versuch geleitet, das Dilemma zwischen sittlicher Freiheit und moralischer Erziehung überhaupt erst bis zur größtmöglichen Deutlichkeit hervorzutreiben. Auch im Brief baut Benjamin die Spannung zwischen Wort und Tat zunächst stufenweise auf. Statt folglich nur den hypertrophen Gestus zu dokumentieren, mit dem Benjamin gegenüber einer ‚weitverbreiteten Meinung‘ auf die Sprachmagie insistiert, ist es für das Verständnis des Briefes aufschlussreicher, zu beobachten, wie 177 Im Zusammenhang heißt es dort: „Ich glaube, wir müssen immer darauf gefaßt sein, daß kein einzelner Mensch in Gegenwart und Zukunft in seiner Seele, da wo er frei ist, von unserm Willen beeinflußt und bezwungen wird. Wir haben dafür keine Gewähr; wir dürfen es auch nicht wünschen – denn das Gute geschieht nur aus Freiheit. Schließlich ist jede gute Tat nur das Symbol der Freiheit dessen, der sie wirkte. Taten, Reden, Zeitschriften ändern keines Menschen Willen, nur sein Verhalten, seine Einsicht u.s.f. Das ist aber im Sittlichen ganz gleichgiltig.“ (Br I, 163f.).

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Benjamin das Dilemma zwischen Beeinflussung und Freiheit, Motiv und Motivlosigkeit bzw. -freiheit in dasjenige von Wort und Tat/Handlung übersetzt. Die Pointe des Briefes wird dabei darin liegen, dass Benjamin die Spannung zwischen „Wort und Tat“ (ebd.), „Erkenntnis und Tat“ (ebd.), „Wort“ und „wirkliche[m] Handeln“ (ebd., 327) gar nicht aufzulösen versucht. Ganz im Gegenteil: Zumindest andeutungsweise lässt sich in der Argumentation des Briefes erkennen, dass es Benjamin hier um eine Verhältnisbestimmung von Sprache und Handlung geht, bei der die Spannung als solche zwischen beiden Seiten die Möglichkeit eines anderen Zusammentreffens von Wort und Tat in Aussicht stellt. Nicht die (logische, erkenntnistheoretische) Lösung des auf das Verhältnis von Politik und Schreiben übertragenen Dilemmas bildet die Fluchtlinie des Briefes, sondern die Übersetzung einer dilemmatischen Struktur in eine produktive polare Spannungsbeziehung. Etwas (über-) pointiert könnte man sagen, der Brief ist ein exemplarisches Dokument für einen grundsätzlichen Wechsel: Von der Denkfigur des Dilemmas bzw. der an Buber orientierten Figur des Dualismus hin zur Denkfigur der Polarität. Vor dem Hintergrund dieser Interpretationsperspektive wird der Brief seiner Tendenz nach also lesbar als eine frühe Erprobung eines polaren Denkmodus, der dann nach 1918 im Zentrum seiner Theoretisierung des Verhältnisses von Politik und Ästhetik steht. Diese Tendenz ist vor allem dort zu erkennen, wo Benjamin seine Ansichten über die Magie bzw. die Unmittelbarkeit der Sprache weiter ausfaltet. Nachdem er seine Kritik an dem ‚allgemeinen Verständnis‘ politischen Schreibens formuliert und mit der Sprachmagie eine Wirkweise benannt hat, in der Sprache nicht zum bloßen Mittel der Tat degradiert wird, führt er weiter aus: „Und wenn ich von anderen Formen der Wirksamkeit – als Dichtung und Prophetie – hier absehe so erscheint es mir immer wieder daß die kristallen reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache die uns gegebene und nächstliegende Form ist innerhalb der Sprache und insofern durch sie zu wirken. Diese Elimination des Unsagbaren scheint mir gerade mit der eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart zusammenzufallen und die Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen Magie anzudeuten. Mein Begriff sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils und Schreibens ist: hinzuführen auf das dem Wort versagte. Nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt kann der magische Funke zwischen Wort und bewegender Tat überspringen, wo die Einheit dieser beiden gleich Wirklichen ist. Nur die intensive Richtung der Worte in den Kern des innersten Verstummens hinein gelangt zur wahren Wirkung.“ (Br I, 326; Herv. v. K.D.)

„[K]ristallen reine Elimination des Unsagbaren“ – „hinzuführen auf das dem Wort versagte“ – „der magische Funke“ – „die intensive Richtung der Worte“,

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gegenüber der noch recht diskursiv entfalteten Kritik an einer instrumentellen Sprachauffassung wirkt diese Begriffsreihe nicht nur auf den ersten Blick enigmatisch. Dennoch scheint der Aufbau dieser zentralen Passage des Briefes einer inneren Dramaturgie zu folgen, die ihren eigenen Höhepunkt selbst deutlich markiert: Er liegt in der größtmöglichen Intensivierung einer Richtung des Wortes auf den Kern dessen, was im Inneren der Sprache liegt, aber nicht aussagbar ist. Dabei soll dann am höchsten Intensitätsgrad ein „magische[r] Funke zwischen Wort und bewegender Tat überspringen“. Der innere Zusammenhang der rätselhaften Begriffsreihe scheint darin zu bestehen, dass alle Begriffe einem dynamischen Impuls folgen. In ihnen ist eine spezifische Bewegungsrichtung angezeigt, die auf den ‚Funkenschlag‘ zuläuft. Was ist das für eine Bewegung, die durch „Elimination“, ‚Hinführen‘, „intensive Richtung“ bezeichnet wird? Geht man davon aus, dass der Intensitätssteigerung eine andere Bewegungslogik entsprechen soll als derjenigen einer in der Relation von Mittel und Zweck ausgedrückten vermittelnden In-Beziehung-Setzung von Wort und Tat, lässt sich zunächst sagen, dass Benjamin die Debatte um die Möglichkeit politischen Schrifttums im Buber-Brief grundsätzlich als eine Frage der Bewegung, des ‚Aufeinanderzubewegens‘ perspektiviert. Oder anders formuliert: Das oben angeführte Dilemma zwischen (sittlichen bzw. politischen) Motiven und Freiheit wird von Benjamin im Buber-Brief in die Frage der Bewegung überführt. Das wird besonders deutlich, wenn man nochmals den gesamten Argumentationsverlauf des Briefes rekapituliert. Denn dann lassen sich nun drei unterschiedliche Bewegungsmodi voneinander unterscheiden: Zunächst hatte Benjamin erstens die „herrschende Meinung“ über das Verhältnis von Schreiben und Politik beschrieben, dann hatte er zweitens diese Ansicht kritisch überprüft und drittens dann die Vorstellung der Hinführung „auf das dem Wort versagte“ dargelegt. In allen drei Schritten geht es um die Frage der Bewegung zwischen Wort und Tat. Die „herrschende Meinung“ versteht sich, so Benjamins Darstellung, als eine aktive Beeinflussung des Handelns durch das Wort: „Menschen durch Motive aller Art zu bestimmten Handlungen zu bewegen ist die Absicht des politischen Schrifttums“ (ebd., 325, Herv. v. K.D.), so lautete Benjamins Zusammenfassung dieser Ansicht. Dieses aktivistische Selbstverständnis einer „suggestiven Verbreitung der Motive“ (ebd.) verkehrt Benjamin in seiner Kritik anschließend von seinem sprachphilosophischen Standpunkt ins Gegenteil, indem er darin die Passivität der Sprache als eines auf die Übertragung von intentionalen Gehalten ausgerichteten bloßen Mittels bemängelt. Sowohl im aktivistischen Selbstverständnis als auch von Benjamins Kritik an der Passivität aus ist diese Bewegung von einer kategorialen Unterscheidung

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zweier Punkte getragen: Etwas (Motive, Intentionen) wird von einen Punkt A zu einem Punkt B überführt. Diese Relation ist zweistellig und von einer genauen Trennung etwa im Sinne von Ursache und Wirkung bestimmt. Die dritte Bewegungslogik, die Benjamin in den Begriffen des „Hinführens auf“ und der „intensiven Richtung“ andeutet, liquidiert nun diese aktiv/passivUnterscheidung als solche. Benjamins Vorstellung der „eigentlich sachlichen der nüchternen Schreibart“ ist weder als aktive noch als passive Bewegung zwischen Wort und Tat gedacht, sondern als eine intensive Schreibbewegung im graduellen Modus des Annäherns, Steigerns und der ‚Hinführung‘. Was aber soll hier überhaupt angenähert werden? Geht es um eine unmittelbare Annäherung der Sprache an die Tat? Das Bild vom „magische[n] Funke[n]“ scheint auf etwas anderes zu deuten, nämlich auf eine Annäherung qua Intensitätssteigerung an den größtmöglichen Spannungszustand, wo der Funke schließlich überspringt. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieses graduellen Intensitätsmodus gilt es nachfolgend etwas genauer in drei Schritten zu untersuchen: zunächst folgen erstens ein paar Anmerkungen zur „Elimination des Unsagbaren“, dann wird zweitens ein genauerer Blick auf das der Argumentation des Briefes zugrundeliegende Verhältnis von Polarität und Intensität zu werfen sein; drittens und abschließend wird nochmals auf das Bild vom „magische[n] Funke[n]“ zurückzukommen sein. 1. Zur „Elimination des Unsagbaren“: Am Ende des Sprachaufsatz führt Benjamin zwar an, dass jede Sprache nicht nur „Mitteilung des Mitteilbaren“ sei, sondern „zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren“, wodurch er die „symbolische Funktion“ (WB II.1, 156) angezeigt sieht. Zugleich betont Benjamin aber, dass er es an dieser Stelle bei diesem kurzen Hinweis belassen werde und führt den Gedankengang nicht weiter aus. Steht das Unsagbare im direkten Verhältnis zur Nicht-Mitteilbarkeit? Von den beiden Textstellen aus dem Sprachaufsatz und aus dem Buber-Brief lässt sich das nicht weiter klären. Benjamin trifft aber eine ähnliche Unterscheidung zwischen Mitteilbarkeit und Nicht-Mitteilbarkeit in seinen frühen sprachphilosophischen Notizen: „Die sprachlichen Gebilde, so auch das Wort, teilen eine Mitteilbarkeit mit und symbolisieren eine Nicht-Mitteilbarkeit. Ein Wort teilt also nicht die Sache mit, die es scheinbar bezeichnet; sondern dasjenige, was es in Wahrheit bedeutet.“ (WB VI, 15) Auf die sprachphilosophische Funktion dieser Unterscheidung zwischen Bezeichnung und Bedeutung weist Cornelia Zumbusch hin, indem sie anhand der zitierten Notiz, einer Stelle im Trauerspielbuch (vgl. WB I.1, 217) und den Anmerkungen zur „symbolische[n] Seite der Sprache“ (WB II.1, 156) fragt, ob das Symbol die

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im Sprachaufsatz grundlegende Unterscheidung zwischen instrumenteller und magischer Seite der Sprache durchkreuzt oder darauf anzuwenden ist.178 Hierzu führt Zumbusch weiter aus, dass Benjamin auf der einen Seite mit der Unterscheidung zwischen der mitteilbaren Bezeichnung als semiotische Referentialisierung und der nicht-mitteilbaren, aber symbolisierten Bedeutung „den mystischen Topos des ineffabilen in seine Symboltheorie“179 einträgt. Auf der anderen Seite betont Zumbusch aber zugleich auch, dass dieser im Symbolischen wirksame, spezifische Unsagbarkeitstopos bei Benjamin weder in der Tradition der negativen Theologie (‚Unsagbarkeit‘ Gottes) stehe noch eine dekonstruktive Bewegung des permanenten Sinnentzugs antizipiere. Stattdessen sei bei ihm ein „Postulat der Sinnerfüllung im Symbol“180 zu beobachten, und zwar in der Form einer „Hindeutung“ (WB VI, 16) auf den Sinn. Der „Grundzug des Symbolischen bei Benjamin“ bestehe mit diesem ‚Hindeuten‘, so Zumbusch weiter, nicht in einer durchsichtigen Sinnpräsenz (des Wesens in der Erscheinung), sondern richtet sich auf eine deiktische Funktion, die sich als „durchaus prekärer Vorgang“181 erweist: „Das Symbol bietet keinen problemlosen Zugriff auf eine Sache, sondern initiiert einen Prozeß, an dessen Ende sich Sinnfülle einstellt.“182 Könnte dieses sinnerfüllte Ende im Brief mit dem ‚Funkenschlag‘ angedeutet sein? Die Frage muss vorläufig offen bleiben. Das Prekäre des Vorgangs der Sinnerfüllung liege jedenfalls, so resümiert Zumbusch, letztlich darin, dass Benjamin zwar einerseits auf die Möglichkeit des Sinns hinweist, andererseits aber eine „unaufhebbare[…] Grenze zwischen sinnlichem Zeichen und realisiertem Sinn“183 beibehalten muss. Sowohl der prekäre Vorgang eines Hindeutens als auch die Markierung einer konstitutiven Grenze finden im Brief auffällige Entsprechungen. Erstens betont Benjamin, wie oben gesehen, dass die „Elimination des Unsagbaren […] die Beziehung zwischen Erkenntnis und Tat eben innerhalb der sprachlichen Magie anzudeuten“ vermag. Die Magie garantiert damit nicht eine unmittelbare Beziehung zwischen Sprache und Handlung, sondern deutet sie an, und zwar in dem sie selbst einen ‚wirksamen‘ Prozess einleitet: „hinzuführen auf das dem Wort versagte.“ Der Wirksamkeitsmodus des sachlichen Schreibens realisiert sich damit, analog zum Symbol, weder in einer willkürlichen Bezeichnung von Handlungsmotiven noch in einer Realpräsenz des Handelns durch Sprache. Eine weitere Verwandtschaft zum Symbol stellt sich hier über 178 Vgl. Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 286. Vgl. zum ganzen Argumentationsgang: ebd., S. 285-291. 179 Ebd., S. 287. 180 Ebd., S. 288. 181 Ebd., S. 289. 182 Ebd. 183 Ebd.

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den Aufsatz Geist und Politik ein, der zu Beginn des Untersuchungsteils kurz aufgerufen wurde. (vgl. 5.1) Benjamin zitiert 1913 in einem Brief an Strauss aus diesem nicht überlieferten Aufsatz, in dem er erstmals das „Problem der Politik für den Intellektuellen“ (Br I, 81) verhandelt hatte. Dort heißt es, dass das „Symbolische der Idee verloren“ (ebd.) gehe, wenn der Intellektuelle eine unmittelbare Übertragung des Geistigen in der Realpolitik anstrebt. Wo im Brief eine andere Verhältnisbestimmung noch über das rätselhafte Bild vom ‚Wegschleudern‘ des Geistes ins Feld des Politischen angedeutet wird, scheint nun die Idee des ‚Hinführens‘, ‚Annäherns‘ den Platz übernommen zu haben. Zweitens besteht eine Beziehung zwischen Benjamins Theorie des Symbols und dem Buber-Brief in der Bedeutung der Grenze. Hier hat bereits Samuel Weber darauf hingewiesen, dass der Begriff der „Elimination“ aus dem Brief etymologisch einen Vorgang beschreibt, der „‚über die Schwelle‘ hinausführt“184 und damit ebenfalls auf eine Grenze verweist. Anders als bei der von Benjamin vor allem gegen die Romantik in Anschlag gebrachten konstitutiven Grenze zwischen Zeichen und Sinn scheint mit der Elimination aber stärker als im Symbol eine intensive Bewegung angezeigt; eine Bewegung durch das Wort in das Innere dessen, was Benjamin nachfolgend dann die „Sphäre des Wortlosen“ (Br I, 326) nennt. Was hat es mit dieser Grenze aber auf sich? Folgt man den Aussagen des Briefes, müsste man hier genaugenommen von zwei Grenzen sprechen: erstens scheint eine Grenze zwischen Wort und dem Wortlosem „innerhalb der Sprache“ zu bestehen, auf die das Wort hinführen soll, und zweitens besteht eine Grenze zwischen Sprache und Tat, deren Verhältnis Benjamin nicht durch eine instrumentelle, expansive Tendenz zu bestimmen versucht, sondern im Verb „überspringen“ (des Funkens) andeutet. Hier scheint die Analogie zum Symbolischen selbst wiederum eine Grenze gefunden zu haben. Denn anders als bei der Zweiseitigkeit im Symbolischen entspinnt sich Benjamins Schreibversuch im Brief damit offensichtlich in einer eigentümlichen Dreiecksbeziehung aus Wort, Wortlosem und Tat.185 Dabei ist die doppelte Grenzziehung innerhalb dieser Dreiecksbeziehung insofern nicht 184 Samuel Weber, Der Brief an Buber vom 17.7.1916, S. 605. 185 Ob es neben den offensichtlichen Verbindungen zwischen dem Symbol und dem Unsagbaren weitere Verbindungen gibt oder ob Benjamin den Brief sogar im Horizont einer Fortführung der frühen symboltheoretischen Überlegungen verfasste, wäre auf der Grundlage des Briefes nur spekulativ zu beantworten. Benjamin gibt hier keine weiteren Hinweise. Diese Überlegungen werden im Hauptteil B wiederaufgegriffen. Anhand des Theologisch-politischen Fragments lassen sich dort einige sehr deutlich intertextuelle Korrespondenzen zu Friedlaenders symboltheoretischen Kapitel aus der Schöpferischen Indifferenz aufzeigen. Friedlaenders Symboltheorie kennt dabei neben den zwei Seiten eines Symbols, die er als zwei Pole einer Spannung beschreibt, ein Drittes, das als Mitte zwischen beiden zugleich die Grenze als auch den Bezugspunkt darstellt. Die Dreiecksbeziehung zwischen Wort, Wortlosem und Tat hat eine ähnliche Struktur. (vgl. Kap. 7).

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eindeutig zu bestimmen, weil sie zugleich in das Innere der Sprache weist als auch auf ihr Äußeres, der Tat, gerichtet zu sein scheint. Diese zweifache Grenze weist letztlich auf eine Paradoxie, vielleicht sogar einen manifesten Widerspruch hin. Diese Widersprüchlichkeit wird besonders augenfällig in Benjamins Aussage, „daß die kristallen reine Elimination des Unsagbaren in der Sprache die uns gegebene und nächstliegende Form ist innerhalb der Sprache und insofern durch sie zu wirken.“ (Br I, 326, Herv. v. K.D.) Die Präpositionen innerhalb (bzw. in) und durch markieren in Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen von den ersten Aufzeichnungen an allein durch typographische Markierungen eigentlich die Grundunterscheidung zwischen einer nicht-instrumentellen und einer instrumentellen Sprachauffassung: „Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.“ (WB II., 142) Der Brief hingegen ist das einzige Zeugnis, in dem Benjamin diese Grundunterscheidung, an der sein ganzes sprachphilosophisches Argument hängt, durch ein „insofern durch“ einkassiert. Der Grund für dieses einmalige Zusammenführen von ‚in‘ und ‚durch‘ mag mithin darin liegen, dass Benjamin im Brief in einem Zuge versucht, die Vorstellung der instrumentellen Wirkung von Schrifttum zu unterlaufen und zugleich weiterhin in der – seine eigenen sprachphilosophischen Grundprämissen konterkarierenden – Kategorie der Wirkung zu argumentieren. Zweierlei geht daraus hervor: Erstens scheint es, als müsste der Brief gerade aufgrund der dargelegten Ambivalenz zwischen ‚in‘ und ‚durch‘ die Antwort schuldig bleiben, ob das „Unsagbare“ nun mit dem Ausdruckscharakter der Sprache wie ihn Benjamin im Sprachaufsatz charakterisiert oder mit der Erfüllung eines symbolischen Sinns der Idee in Anlehnung an seine Symboltheorie identisch ist oder vielleicht sogar bereits auf die Idee einer „reinen Sprache“ (WB IV,1, 19) aus dem späteren Aufsatz über Die Aufgabe des Übersetzers vorausweist. Der Gehalt des „Unsagbaren“ (das ‚was‘ des Wortlosen) bleibt aber gerade durch die Doppelung aus ‚in‘ und ‚durch‘ letztlich unklar. Zweitens wird zugleich auch die Art und Weise, also das ‚wie‘ der Beziehung von Wort, Wortlosem und Wirkung durch die doppelte Grenze problematisch. Hier stellt sich vor allem die Frage nach der mittleren Position: Auf der einen Seite steht die „Sphäre des Wortlosen“ offensichtlich zwischen Wort und Tat und bildet somit die Mitte, denn erst über sie will Benjamin die „wahre[…] Wirkung“ (ebd., 327) als eine Wirkung verstanden wissen, die zugleich nichtinstrumentell und durch die Sprache konzipiert ist. Auf der anderen Seite scheint aber auch das Wort selbst wiederum in der Mitte zu stehen, und zwar in der Sprache als solcher zwischen zwei Bewegungsrichtungen: einer „expansiven Tendenz des Wort-an-Wort-Reihens“, die in ein ‚Außen der Sprache‘ zu führen vorgibt, und einer „intensive[n] Richtung der Worte in den Kern

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des innersten Verstummens hinein“. Wenngleich auch dieser zweite Aspekt der Art und Weise der Verhältnisbestimmung zwischen Wort, Wortlosem und Tat unklar bleibt, lassen sich anhand der Rede von der Intensität der Richtung dennoch einige Hinweise finden, worauf Benjamins Argumentation hiermit zielt. Anders als bei Samuel Weber, der in der „Elimination des Unsagbaren“ eine Paradoxie zwischen Erschließen/Aufschließen (der Grenze zum Unsagbaren) und Aufbewahren (des Geheimnisses) am Werk sieht, die auf einen permanenten Entzug der Grenze/Schwelle selbst verweist,186 wird hier davon ausgegangen, dass Benjamin mit der Idee gradueller Intensitätssteigerung eine polare Denkfigur erprobt, die auch im Sprachaufsatz eingelagert ist. 2. Zur „intensive[n] Richtung der Worte“: Zur „intensive[n] Richtung der Worte“: „Nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt  …“, so beginnt Benjamin das für die Argumentation des Briefes ebenso zentrale wie schwer verständliche Bild vom ‚Funkenschlag‘. Bevor das Bild von dem Funken genauer untersucht werden kann, gilt es zunächst einige Beobachtungen an dem Verb ‚erschließen‘ zu machen, das auf die zentrale Thematik der Offenbarung im Sprachaufsatz hinweist. Neben der ‚Magie‘ und dem ‚Namen‘ ist die ‚Offenbarung‘ der dritte zentrale Gegenstand, an dem Benjamin seine sprachmystischen Überlegungen im Sprachaufsatz formuliert. Winfried Menninghaus betont, dass die Rede von der „kristallen reine[n] Elimination des Unsagbaren“ aus dem Buber-Brief im Sprachaufsatz auf den „Kern der Rede von ‚Offenbarung‘ in Sprache“187 verweise. Dort wird die Offenbarung als das „höchste Geistesgebiet der Religion“ bezeichnet, das „zugleich das einzige [ist], welches das Unaussprechliche nicht kennt.“ (WB II.1, 147) Wenn Benjamin im Brief betont, dass das Wort „nicht anders fähig [ist] ins Göttliche zu führen als durch sich selbst und seine eigene Reinheit“ (Br I, 327), steht das im direkten Zusammenhang mit dem Begriff der Offenbarung. Handelt es sich demnach im Brief also um eine Bewegung der Intensivierung, die auf eine Form profaner Offenbarung zuläuft? Und ist im Brief an Buber mit der Beziehung auf das Göttliche dann auch letztlich noch eine „politische Bedeutung der Theokratie“ (ebd., 203) in Aussicht gestellt, die Benjamin im späteren Theologisch-politischen Fragment mit Ernst Bloch radikal ablehnen wird? Oder deutet der Passus vielleicht gar auf die Struktur 186 Dazu heißt es bei Weber: Die „Elimination vollzieht sich, in dem seine Grenze jeweils überschritten, zugleich aber nur verschoben – nie aufgehoben – wird.“ (Samuel Weber, Der Brief an Buber vom 17.7.1916, S. 606). Im Brief findet sich kein Hinweis auf eine solche dekonstruktive ‚Logik des Verschiebens‘. 187 Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 21.

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des nicht weiter analysierbaren religiösen Prozesses zurück, von dem wir gesehen haben, dass Benjamin damit in seinem frühen Text über den Moralunterricht das Dilemma zwischen Freiheit und Erziehung zu lösen versuchte? Es gehört zu den Ambivalenzen des Briefes, dass diese Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Theologie nicht letztgültig plausibel beantwortet werden können. Das liegt sicherlich auch daran, dass in der Figur Buber beide für den jungen Benjamin entscheidenden Diskurs- und Debattenstränge – auf der einen Seite der ‚politische‘ Strang der Jugendbewegung und der Auseinandersetzungen, die am Beispiel Kurt Hiller dargelegt wurden, und auf der anderen Seite die zionistischen Debatten, die Benjamin mit Strauss und später mit Scholem führte – zusammenlaufen und im Brief gegenseitig und nicht immer vorteilhaft diffundieren. Dass er beide Seiten im Brief aber auch ganz bewusst nicht getrennt wissen will, legt Benjamin selbst nochmals am Ende des Briefes nahe, wenn er betont, dass er seine Position im Feld politischer Schreibweisen alles andere als „unjüdisch“ (Br  I, 327) versteht. Trotz dieser im Brief nicht eindeutig entfalteten Zusammenhänge von Theologie, Politik und Sprachphilosophie ist der Rückbezug des Verbs ‚erschließen‘ auf die Überlegungen zur Offenbarung im Sprachaufsatz dennoch aufschlussreich, weil Benjamin dort jene beiden Grundelemente sehr deutlich miteinander verbindet, auf die auch der Brief aufzubauen scheint: die Polarität und die Intensität. Dabei ist weniger der tatsächliche religiöse Gehalt der Offenbarung von Interesse als vielmehr die im Sprachaufsatz zugrundeliegende argumentative Struktur, durch die das „höchste Geistesgebiet der Religion“ überhaupt erst eingeführt wird. Diese Argumentation zielt auf eine Grundpolarität zwischen Aussprechbaren/Mitteilbaren und Unaussprechbaren/Nicht-Mitteilbaren in der Sprache. Denn der Grund dafür, dass Offenbarung überhaupt „immer wieder wie von selbst im Zentrum der Sprachphilosophie“ (WB II.1, 146) gestanden hat, so führt Benjamin seine Überlegungen zur Offenbarung ein, liege in einem „Widerstreit des Ausgesprochenen und Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen“, der „[i]nnerhalb aller sprachlichen Gestaltung waltet“ (ebd.). Die Liste der Polaritäten lässt sich im Brief vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung noch erweitern: Sie besteht aus den Polaritäten von Innen und Außen der Sprache, von Mitteilbarkeit und Nicht-Mitteilbarkeit, aber auch ganz grundsätzlich zwischen Wort/Sprache und Tat/Handlung. Dabei bildet die grundlegende Polarität von Aussprechlichem und Unaussprechlichen – das Walten eines konstitutiven Widerstreits, der nur in der schöpferischen Sprache Gottes gänzlich aufgehoben ist – die Voraussetzung für Benjamins Interesse an der sprachmystischen

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Tradition. Menninghaus weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es Benjamin mit der Thematisierung der Offenbarung nicht um eine „Retheologisierung der Sprachphilosophie“188 gehe, sondern darum, dass das an der religiösen Offenbarung dargelegte Phänomen des klarsten „Sich-Zeigen[s] von etwas Unaussprechlichem“189 auch in jeder anderen Sprache am Punkt ihrer höchsten Klarheit möglich ist. Somit ist festzuhalten, dass Benjamins Interesse an Theologie erstens der „Rückführung religiöser Autorität auf die ‚Magie‘ von Sprache“190 gilt, und zweitens der argumentative Zugang zur Struktur der Offenbarung auch für das politische Schrifttum im Buber-Brief gelten könnte. Hier wurde bereits dargelegt, dass das ‚Zeigen‘ bzw. ‚Hindeuten‘ als symbolische Seite der Sprache auch im Brief an dem Bewegungsmodus des „hinzuführen auf das dem Wort versagte“ präsent ist. Im Sprachaufsatz betrifft dieses ‚SichZeigen‘ eines Unaussprechlichen das geistige Wesen im Sprachlichen. Wie führt Benjamin aber die Spannung zwischen Aussprechlichem und Unaussprechlichem, die auf die die Offenbarung führt, im Aufsatz ein? Und wie ist das für das Verständnis der Rede von der „intensive[n] Richtung der Worte“ im Buber-Brief produktiv zu machen? Der auf die Polarität führende Gedankengang im Sprachaufsatz soll nachfolgend dafür in einem kurzen Exkurs nachgezeichnet werden, weil Benjamin ihn direkt auf die Frage des Verhältnisses von Polarität und Intensität in der Sprache zulaufen lässt. Die Verhältnisbestimmung von geistigem und sprachlichem Wesen setzt Benjamins gleich an den Anfang des Sprachaufsatzes als diejenige sprachphilosophische Aufgabe, die er in immer neuen Anläufen zu bewältigen versucht. Die Identifizierung von geistigem und sprachlichem Wesen als Ausgangsthese genommen bildete dabei zu Beginn zunächst noch den „große[n] Abgrund, dem alle Sprachtheorie zu verfallen droht“ (ebd., 141). Nachdem Benjamin anschließend einige Überlegungen zur Medialität der Sprache und zum Verhältnis von geistigem und sprachlichem Wesen angestellt hatte, kommt er auf die Sprache des Menschen zu sprechen, genauer: auf den Namen. Der Mensch als der Benennende, der den Dingen Namen gibt, stellt für Benjamin den höchsten Verbindungspunkt zwischen der schöpferischen Sprache Gottes und der erkennenden Sprache des Menschen dar. Als „Erbteil“ (ebd. 144) vollendet sich die Schöpfung im Namen. Daraus ergibt sich für ihn zweierlei: Erstens ist die Sprache im Akt des Benennens ganz bei sich selbst und zweitens drückt sich im (nicht durch den) Namen das geistige Wesen des Menschen aus. Oder 188 Ebd., S. 22. 189 Ebd. 190 Ebd.

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anders formuliert: Das geistige Wesen des Menschen ist im Benennen ganz und ausschließlich sprachlich, hat er doch hierin „allein […] die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache“ (ebd., 145). Dabei ist entscheidend, dass im Namen „die intensive Totalität der Sprache als des absolut mitteilbaren geistigen Wesens“ (ebd.) mit der „extensive[n] Totalität der Sprache“ (ebd.), also dasjenige, was sich an den Dingen mitteilt, zusammenfallen. Weil damit intensive und extensive Totalität im Benennen ihren ‚Gipfel‘ (vgl. ebd.) finden und eine Vollkommenheit der Sprache im Verhältnis von geistigem und sprachlichem Wesen garantiert, kann Benjamin auf der Grundlage dieser „Erkenntnis“ (ebd.) die Frage nach der Identität von geistigem und sprachlichem Wesen als „Frage […] von höchster metaphysischer Wichtigkeit“ (ebd.) erneut aufrufen und schlussfolgern: „Wenn das geistige Wesen mit dem sprachlichen identisch ist, so ist das Ding seinem geistigen Wesen nach Medium der Mitteilung, und was sich in ihm mitteilt, ist – gemäß dem medialen Verhältnis – eben dieses Medium (die Sprache) selbst.“ (ebd.)

Die Sprache von diesem Standpunkt, fern von einer instrumentellen oder kommunikativen Bestimmung, kann Benjamin nun also als eine „Mitteilbarkeit schlechthin“ (ebd., 145f.) bestimmen. Wenn aber „Sprache […] dann das geistige Wesen der Dinge [ist]“ (ebd., 145), kann der Unterschied zwischen den einzelnen Sprachen, so Benjamins Argumentation, hinsichtlich ihres je spezifischen Verhältnisses zwischen geistigem und sprachlichem Wesen in der Sprache nicht mehr kategorial bestimmt sein („läßt sich unter keine obere Kategorie mehr fassen“, ebd., 146), sondern nur noch graduell: die „Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen Wesen“ kennt „nur graduelle Unterschiede […], eine Abstufung allen geistigen Seins in Gradstufen.“ (ebd., 146). Und weiter heißt es: „Die Unterschiede der Sprachen sind solche von Medien, die sich gleichsam nach ihrer Dichte, also graduell unterscheiden […].“ (ebd.) Erst in Bezug auf diesen graduellen Unterschied wird dann der Begriff der Übersetzung überhaupt zum zentralen Gegenstand in Benjamins Sprachphilosophie. Zwei Dinge ergeben sich aus diesen Überlegungen zur Offenbarung, die Benjamins Sprachphilosophie grundlegend bestimmen: Erstens herrscht in jeder Sprache ein Widerspruch zwischen Aussprechlichem und Unaussprechlichem. Und zweitens ist der Unterschied der einzelnen Sprachen in ihrem je spezifischen Verhältnis zu dieser Polarität nicht kategorial verschieden, sondern ein gradueller Unterschied, und zwar in Bezug auf die Intensität ihrer Richtung auf die Mitteilbarkeit:

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„Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d.h. je existenter und wirklicher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener, wie es denn eben im Sinne dieser Gleichsetzung [von geistigem und sprachlichem Wesen, K.D.] liegt, die Beziehung zwischen Geist und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste, mit einem Wort; das Ausgesprochenste zugleich das rein Geistige ist. Genau das meint aber der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesen, das sich in ihm ausspricht“ (ebd., 146f.).

Diese Bewegung auf den höchstmöglichen Grad an Aussprechbarkeit scheint auch der Argumentation des Briefes zugrunde zu liegen. Haben dann aber die Begriffe „fixierteste[r] Ausdruck“ oder „das sprachlich Prägnanteste und Unverrückbarste“ auch eine Entsprechung in der „eigentlich sachlichen […] nüchternen Schreibart“ (Br I, 326)? Vor dem Hintergrund des emphatischen Einsatzes des geschriebenen Wortes in der Kriegsrhetorik der Intellektuellen zu Beginn des ersten Weltkrieges, zu denen auch Buber gehört, lässt sich zumindest vermuten, dass Benjamin die nüchterne Klarheit des sprachlichen, und d.h. geistigen Ausdrucks als Gegenmodell zur Instrumentalisierung der Sprache und der damit einhergehenden pathetischen Verkündigung des Kriegserlebnisses verstanden wissen wollte. Auf der anderen Seite wird dieser nüchterne Schreibimpuls wiederum durch Benjamins eigene emphatische Überhöhung des Magischen der Sprache konterkariert. Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz scheint Benjamins Anmerkung, dass er seine Ausführungen in Hinblick auf sein „eigenes praktisches Verhalten“ (ebd., 325) anstellt, auch weniger unmittelbar auf eine konkrete politische Position zu verweisen als vielmehr auf die Art und Weise, wie er das Problem des Verhältnisses von Schreiben und Politik als solches perspektiviert. Die im Sprachaufsatz an der Offenbarung gezeigte Verbindung von Polarität und Intensität lässt sich insgesamt also weniger dem religiösen Gehalt nach als vielmehr hinsichtlich der grundsätzlichen Argumentationsfigur auf den Brief übertragen. Denn auch im Brief „waltet“ der dargelegte Widerspruch zwischen aussprechbaren und nicht-aussprechbaren Elementen in der Sprache. Das Besondere des Briefes gegenüber der rein sprachimmanenten Reflexion im Sprachaufsatz besteht nun aber darin, dass Benjamin diesen Widerspruch auf der Ebene von Sprache und Handeln, Wort und Tat zugleich verdoppelt und durch eine Bewegung „innerhalb der Sprache“ zwar nicht aufzulösen, aber doch einer produktiven Wirkung der Sprache auf die Tat zuführen möchte. Dass Benjamin sich mit der auf die Kategorie der politischen Wirkung ausgerichteten Doppelung aus ‚in‘ und ‚durch‘ Probleme einhandelt, durch die

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sich seine eigenen sprachphilosophischen Prämissen in Widersprüche verfangen, wurde bereits dargelegt. Dennoch sei hier nochmals daran erinnert, dass Benjamin die Spannung zwischen Wort, Wortlosem und der Wirkung des Wortes auf die Tat nicht von der politischen Tat aus betrachtet, d.h. weder vom tatsächlichen Handeln noch vom Motiv des Handelns (man könnte auch von der virtuellen Handlung sprechen), sondern von der in Frage stehenden Wirkung des Wortes aus. Die Frage ist also, wie das Wort „durch sich selbst und seine eigene Reinheit“ (ebd., 327) zu wirken vermag. Dabei ist der Gegenbegriff zur „intensive[n] Richtung der Worte“ im Brief früh schon benannt. Es handelt sich um die bereits angeführte „expansive Tendenz des Wort-anWort-Reihens“. Die expansive Tendenz folgt einer mechanischen Logik, indem sie glaubt, die Grenze zwischen Wort und Tat durch die eigene Ausbreitung sprengen zu können. Dieser Form von Grenzüberschreitung auf ein ‚Außen‘ der Sprache setzt Benjamin eine Bewegung entgegen, die auf diejenige Grenze hinführen soll, die in der Sprache selbst liegt. Vor dem Hintergrund der Intensitätsstruktur im Sprachaufsatz, die auf die Offenbarung hin ausgerichtet ist und eine grundsätzliche Polarität voraussetzt, und der bisherigen Überlegungen des Briefes scheint Benjamins Argument im Brief darauf zuzulaufen, dass für ihn die „expansive Tendenz“ ein Minimum an Wirkung (die Sprache ist hier „ohnmächtig“, ebd., 326) zeitigt, wohingegen die „intensive Richtung der Worte“ als die „wahre[…] Wirkung“ ein Maximum an Wirkung darstellen soll. Im Sinne dieser Logik müsste das „Unsagbare“, die „Sphäre des Wortlosen“ als „Kern des innersten Verstummens“ wiederum der Nullpunkt dieser von einem Minimum bis zu einem Maximum reichenden Skala unterschiedlicher Intensitätsgrade sein. Dieser Nullpunkt ist damit die Voraussetzung einer Wirkung, die in der Expansion am schwächsten ausgeprägt ist und durch die Intensität ihre maximale Kraft entfaltet. Wie sieht dieser Nullpunkt aber aus, in dem zugleich die Möglichkeit einer höchsten Kraftentfaltung angelegt ist? Dass Benjamins Bilddenken grundsätzlich die „spezifische Praxis seiner Theoriebildung profiliert“191 zeigt sich hier sehr deutlich, nutzt Benjamin doch anschließend ein Bild, um den Gedanken dieser Kraftentfaltung auszudrücken: „Nur wo diese Sphäre des Wortlosen in unsagbar reiner Nacht sich erschließt kann der magische Funke zwischen Wort und bewegender Tat überspringen […].“ Der Funke erinnert hier zu allererst an die polare Konstitution des dialektischen Bildes, in dem „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“ (WB V.1, 576) Neben dem später ausführlich eingesetzten Blitz-Motiv findet sich aber noch eine andere Stelle, die deutlicher auf das Bild der Nacht verweist. In dem Kapitel über 191 Sigrid Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, S. 15.

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Symbol und Allegorie in der Romantik im Trauerspielbuch zitiert Benjamin ausführlich eine Passage aus Friedrich Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen, in der es über das Wesen des Symbols heißt: „Jenes Erweckliche und zuweilen Erschütternde hängt mit einer anderen Eigenschaft zusammen, mit der Kürze. Es ist wie ein plötzlich erscheinender Geist, oder wie ein Blitzstrahl, der auf einmal die dunkele Nacht erleuchtet.“ (WB I.1, 340) Benjamin nennt die Stelle „vorzüglich“ (ebd.), weil sie den zeitlichen Charakter des Symbols hervorhebt. Sollte es zwischen den beiden Nächten aus Benjamins Brief und Creuzers Mythologie einen Zusammenhang geben, dann besteht er vor allem darin, dass beides Mal etwas plötzlich Erscheinendes angesprochen ist, das gerade aufgrund seiner zeitlichen Struktur immer etwas Unverfügbares behält. 3. Zum „magische[n] Funke[n]: Im Bild vom ‚Funkenschlag‘ wird vor allem der Unterschied zwischen der für Benjamin problematischen „expansive[n] Tendenz“ und der forcierten „intensive[n] Richtung“ als eine Differenz zwischen einer räumlichen („Verbreitung der Motive“ durch die Kette der Anein­an­ der­reihung von Worten) und einer zeitlichen Konfiguration (der plötzliche ‚Funkenschlag‘) lesbar. Dabei scheint Benjamins Argument darauf hinauszulaufen, dass der Funkenschlag durch seine spezielle zeitliche Konfiguration nicht direkt erzeugt, sondern nur durch Intensivierung vorbereitet werden kann. Andernfalls müsste seine eigene Argumentation selbst wieder in jene aktiv/passiv-Unterscheidung zurückfallen, die mit der „intensiven Richtung“ und der polaren Spannungsherstellung gerade unterlaufen werden sollte. Verfügbar ist also offensichtlich nur die Intensivierung einer Spannungsbeziehung, deren Maximum die Entladung in Funken, Blitzen ermöglicht. Anders formuliert: Benjamins Argumentation zielt nicht auf die Herstellung des Funkens als solchem, sondern auf die Ermöglichung einer Entladung.192 192 Diese Denkfigur taucht in einem späteren Brief an Hugo von Hofmannsthal von 1924 überraschenderweise wieder auf und berührt dabei zudem erneut den Bildbereich des ‚Funkenschlags‘. In dem Brief, der den Satz über die „Überzeugung […], daß jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat“ (Br II, 409), enthält, ohne den keine Untersuchung von Benjamins Sprachphilosophie auskommen kann, wendet sich Benjamin ebenfalls gegen die „Anschauung vom Zeichencharakter der Sprache“ (ebd.), die zu einer synkretistischen Sprachauffassung führe, die sich „gleichsam nomadisierend, bald hier bald da im Sprachbereiche sich behelfen“ (ebd.) müsse. Eine Philosophie hingegen, die ihre Wahrheit in der Sprache als ihrem „angestammten Palast“ sucht, könne „bestimmten Worten zustreben, deren im Begriff verkrustete Oberfläche unter ihrer magnetischen Berührung sich löst und die Formen des in ihr verschlossenen sprachlichen Lebens verrät. (ebd.) Das Bild von der „magnetischen Berührung“ könnte zum einen auf das Wechselverhältnis von Anziehung und Abstoßung zwischen Wort und

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Dieser Ermöglichung setzt Benjamin eine polare Spannungsbeziehung in der Sprache einerseits (zwischen Wort und Wortlosen) und durch die Sprache (zwischen Wort und Tat) andererseits voraus, die durch die Bewegung des Wortes intensiviert werden soll, aber durch die Ausrichtung auf die Wirkung ‚durch‘ problematisch bleibt. Diese Bewegung folgt keiner Logik des permanenten Entzugs, denn dann stünde der ‚Funkenschlag‘ letztlich in gar keinem Verhältnis zur ‚intensive[n] Richtung der Worte“. Benjamin forciert hier keine Figur des ‚Aufschubs‘, sondern der Vorbereitung qua polarer Spannungsintensivierung. Dass in dieser unverfügbaren Plötzlichkeit, die nur vorbreitet werden kann, bei Benjamin später vor allem messianische Energien freigesetzt werden sollen, ist weder im Brief noch im Sprachaufsatz besonders deutlich angelegt.193 Beide Texte argumentieren vielmehr auffällig unhistorisch; selbst dort, wo der Sprachaufsatz mit einer Kommentierung des ersten Genesiskapitel einsetzt, geschieht dies nur aus einem Erkenntnissinteresse an den Strukturen der Sprache als solcher. Erst der Übersetzer-Aufsatz trägt deutlicher geschichtsphilosophische Überlegungen in die Sprachphilosophie ein: einmal als „Fortleben“ (WB IV.1, 11) des Originalwerkes in seinen Übersetzungen und ein weiteres Mal in der „reine[n] Sprache“ (ebd., 14), die sich im Spannungsfeld aller anderen Sprachen bewegt und erst am „messianische[n] Ende der Geschichte“ Tat angewendet werden. Wenn es überhaupt zulässig sein sollte, dieses Bild von der magnetischen, spannungsvollen Berührung auf den Brief zurückzuwenden, wirft das aber vor allem die Frage auf, was sich im Brief in der ‚magnetischen Berührung‘ von Wort und Wortlosem unter der ‚Kruste‘ lösen könnte. Am ehesten könnte man hier vermuten, dass unterhalb der „verkrustete[n] Oberfläche“ von intendierten Motiven und politischen Zwecken dasjenige zum Ausdruck kommt, was Benjamin dann am Ende „meine Gesinnung“ (Br I, 327) nennt. Analog zu dem Brief an Hofmannsthal wäre der „Prüfstein“ (Br II, 409) dieser Gesinnung die Sprache, deren Ideal Benjamin im BuberBrief als nüchtern-sachlich charakterisiert. Erst einige Jahre später wird Benjamin den unsystematisch verwendeten Begriff der „Gesinnung“ durch den Begriff der Haltung ersetzen, in dem er die Frage der eigenen Schreibweise dann explizit verhandelt, ist doch auch dort die „Sprache […] der Prüfstein für eine jede [Haltung]“ (WB III, 244f.). (vgl. hierzu Kap. 10.3). 193 Jean-Michel Palmier betont, dass Benjamin trotzt des Briefes insbesondere von Bubers Schriften zum Messianismus beeinflusst wurde, indem Buber dort „grundlegende Aspekte der Benjaminschen Geschichtsphilosophie vorweg[nahm].“ (Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein, S.  244) Das weiter unten aufgegriffene Thema der ‚Offenbarung‘ legt es zwar nahe, dass im Funkenschlag eine messianische Perspektive eingelagert ist, eine direkte Beziehung vor allem zu Buber lässt sich aber zumindest auf der Grundlage des Briefes nicht nachweisen. Die Polarität von Aussprechlichem und Unaussprechlichem, die bei Benjamin im Begriff der Offenbarung vorausgesetzt wird, kann aber durchaus als eine Transformation jenes Dualismus gewertet werden, von dem weiter oben die Verbindungen zwischen Benjamin und Buber bereits dargelegt wurde.

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(ebd.) in ihrer Klarheit hervortritt. Es spricht daher einiges dafür, dass gerade die fehlende geschichtsphilosophische Fundierung der Argumentation, die in Benjamins späterer Theoriearbeit an einem polaren Geschichtskonzept so zentral werden sollte, das Problematische, die Ambivalenzen und das teilweise Widersprüchliche im Brief erklärt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Brief an Buber nicht trotz der Ambivalenzen und Widersprüche der Argumentationsführung von hoher Bedeutung ist, sondern gerade wegen der eher tentativen Selbstpositionierungsversuchen, denen mit einigen grundsätzlichen Fragen nachgegangen werden sollte. In diesen Uneindeutigkeiten ist der Brief ein exemplarisches Zeugnis des „Werdenden“ (Br I, 325) in der Suche nach einer Selbstpositionierung im Spannungsfeld aus Politik, Theologie und Ästhetik, die sich nicht nur in der Reflexion über das Schreiben, sondern zugleich auch an der konkreten Schreibweise des Briefes selbst dokumentiert. Worum es Benjamin dabei neben dem Ausweis einer bestimmten zeitlichen Struktur einer nicht-instrumentellen Beziehung zwischen Wort und Tat besonders zu gehen scheint, liegt darin, dass polare Spannungsfeld zwischen Schreiben und Politik als solches allererst zur größtmöglichen Deutlichkeit zu bringen. Zwei miteinander zusammenhängende Problemkreise haben sich dabei herauskristallisiert, die Benjamin in seinen systematischen Versuchen über Politik nach 1918 wiederaufgreift: Zum einen die Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Theologie. Erst in den Arbeiten nach 1918, insbesondere im Theologisch-politischen Fragment wird Benjamin nicht nur die Bedeutung der Theologie für die Ausrichtung profanen Handelns konstitutiv negieren, sondern zugleich auch das Verhältnis von Politik und Theologie in polaren Denkfiguren neu ausrichten. Daran schließt sich unmittelbar das zweite grundsätzliche Problem des Briefes an, das an der Un- bzw. Mehrdeutigkeit der Grenze zwischen den Polen von Sprache und Tat, Politik und Theologie, Politik und Schreiben ausgewiesen wurde. Auf eine strengere Bestimmung der Grenze als eine Mitte, die innerhalb einer polaren Spannungsbeziehung zugleich trennt und Beziehungen herstellt, wird Benjamin nach 1918 in Friedlaenders Schöpferische Indifferenz stoßen, in der es für den Einsatz polarer Denkfiguren heißt: „Es gilt die Kultur dieser Grenze.“ (F/M 10, 131) An anderer Stelle hält Friedlaender dazu weiter fest: „In der Tat ist die Grenze das sinnenfälligste Symbol des Verhältnisses des Verhältnisses unseres Wesens zur Welt.“ (ebd., 173) Hier hat Friedlaender eine polare Symboltheorie im Blick, die, so wird in dem nachfolgenden Hauptteil B zu zeigen sein, auffällige theoretische Korrespondenzen mit Benjamins Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Ästhetik nach 1918 besitzt. Diese Mitte, als „rein von aller Differenz“ (ebd., 171) wird Benjamin vor allem in den Figuren des Nihilismus (im Politischen; vgl. Kap. 7.3) und derjenigen des

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Humors (im Ästhetischen, vgl. Kap.  9.4) aufgreifen. Es sind explizit Figuren einer latenten Mitte von polaren Spannungsbeziehungen, die im „magische[n] Funke[n] zwischen Wort und bewegender Tat“ von Benjamin bereits erprobt wurden. Und wenn Friedlaender zudem in der Schöpferischen Indifferenz die Notwendigkeit betont, diese Mitte als Grenze „tastend wie durch Nacht und Nebeln wieder[zu]finden“ (ebd., 172), entsteht über diesem verwandten Bildbereich ein fernes Echo, das es nachfolgend auf konkrete intertextuelle Spuren hin zu konkretisieren gilt.

IV. Hauptteil B – „Arbeit über Politik“: Benjamin, Friedlaender und das Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Politik

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Benjamins Arbeit am Politischen nach 1918. Vorbemerkungen zu einem intertextuellen Arbeitsund Produktionszusammenhang Schreiben Sie mir doch bitte, was es mit dem S. Friedländer auf sich hat. Walter Benjamin (Br II, 68f.)

Mit dem Hauptteil B betreten wir ein Untersuchungsfeld, in dem gezeigt wird, wie sich Benjamins intensive Rezeption von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz im Rahmen seiner ersten größeren, systematischen Bemühung um eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung des Spannungsfeldes von Politik und Ästhetik bis in die Argumentationsführungen und die eingesetzten Denkfiguren hinein niederschlägt. Dieser Rezeption und dem sich daraus ergebenden intertextuellen Resonanzraum gilt es nachfolgend in einer philologischen Spurensuche nachzugehen. Walter Benjamins erste intensive Beschäftigung mit Salomo Friedlaenders Polaritätsphilosophie fällt in eine entscheidende Schreibphase zu Beginn der 1920er Jahre. Angeregt und herausgefordert durch seine Begegnungen mit Ernst Bloch und Hugo Ball in den Jahren 1918/19 in der Schweiz drängt sich für Benjamin zunehmend die Frage nach „dem Begriff des Politischen und seinem philosophisch-systematischen Ort“1 auf. Vor allem an der Auseinandersetzung mit Ernst Blochs 1918 erschienenem Geist der Utopie entzündet sich Benjamins früher Versuch einer kritischen Positionsbestimmung im Feld des Politischen. In dieser Zeit entstehen einige der bedeutendsten Texte Benjamins zum Politischen wie beispielsweise Schicksal und Charakter, Kapitalismus als Religion oder der von Adorno nachträglich mit dem Titel Theologisch-politisches Fragment versehene, kurze und teilweise enigmatische Text über die Differenz von profaner und messianischer Ordnung. Hinzu treten weiterhin noch zahlreiche 1 Uwe Steiner: Walter Benjamins ‚Wendung zum politischen Denken‘. In: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.): Walter Benjamin. Politisches Denken. Baden-Baden 2016, S. 33-72, hier: S. 34. Vgl. auch Chryssoula Kambas: Ball, Bloch und Benjamin. Die Jahre bei der Freien Zeitung. In: dies.: Momentaufnahmen der europäischen Intelligenz. Moderne, Exil und Kulturtransfer in Walter Benjamins Werk. Hannover 2009, S.  67-87. Als grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Ball, Bloch und Benjamin nennt Kambas den „jeweilige[n] Beitrag zur ästhetischen Avantgarde, eine Verbindung von Theologie und geschichtlichem Denken, schließlich die streitbare Auseinandersetzung mit den Intellektuellen.“ (ebd., 67).

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_007

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Notizen, Aufzeichnungen und Schreibversuche zur Geschichtsphilosophie und Politik sowie direkte kritische Interventionen wie die nicht überlieferte Rezension zu Blochs Utopie-Buch. Die meisten dieser Texte beschäftigen sich in unterschiedlicher Weise immer auch mit dem spannungsvollen Wechselverhältnis von Politik und Ästhetik. Das zentrale Schreibprojekt dieser Zeit ist aber die geplante dreiteilige „Arbeit über Politik“ (Br II, 127). Im dritten Teil dieser „Arbeit“, der als eine gleichermaßen ästhetische und politische Auseinandersetzung mit Paul Scheerbarts Roman Lesabéndio konzipiert war, wird Salomo Friedlaender eine gewichtige Rolle spielen. Die Aufgabe der nachfolgenden Untersuchung besteht zunächst darin, diesen verwickelten und sich über mehrere Texte, Notizen und experimentelle Schreibversuche erstreckenden Arbeits- und Produktionszusammenhang zu entfalten, um anschließend darin den bisher kaum wahrgenommenen Stellenwert Friedlaenders anzeigen zu können.2 Die untersuchungsleitende These lautet dabei, dass die intertextuellen Beziehungen zu Friedlaenders Schöpferische Indifferenz in Benjamins erstem großangelegten Selbstverständigungsprojekt über das Politische genau dort eine bisher kaum wahrgenommene Schlüsselposition einnehmen, wo sie als eine Art ‚Scharnier‘ zwischen verschiedenen und auf den ersten Blick nur lose zusammenhängenden Texten der Zeit fungieren.3 2 Dass es sich um einen zusammenhängenden Arbeits- und Produktionszusammenhang handelt zeigt sich in der simultanen Arbeit an mehreren Texten, die in diesem Kontext entstehen. Beispielhaft führt Benjamin das in einem Brief an Ernst Schoen vom 5.12.1919 aus: „Ich beginne eine ausführliche Kritik von Ernst Bloch: Geist der Utopie; dem Werk eines in der Schweiz gewonnenen Bekannten, von dem ich Ihnen wohl schrieb. Sie ist für die Veröffentlichung gedacht. Einen Aufsatz ‚Schicksal und Charakter‘ den ich in Lugano schrieb und zu meinen besten Arbeiten zähle, hoffe ich ebenfalls erscheinen lassen zu können. Prolegomena zu meiner neuen Lesabéndio-Kritik und eine Kritik von ‚La porte étroite‘ von Gide sind ebenfalls dort unten entstanden.“ (Br II, 62) In diese Zeit fällt auch Benjamins erster Kontakt mit Friedlaenders Schöpferische Indifferenz. 3 Wie in der Einleitung der Arbeit bereits ausführlicher dargelegt wurde, soll damit keineswegs ein exklusiver Zugang zu Benjamins Arbeiten über das Politische behauptet werden. Die nachfolgenden Untersuchungen verstehen sich als ein Eingang in diesen Arbeits- und Produktionszusammenhang, der statt der Lektüre im Horizont der großen Diskurslinien, die sich in der Forschung etabliert haben, den Blick auf die kleinteiligeren, konkreten Kontexte wählt, in denen Benjamin seine eigene Position im Spannungsfeld von Erkenntnistheorie, Ästhetik und Politik sucht. Der Blick auf die Friedlaender-Rezeption hat damit genaugenommen eine doppelte Funktion: Zum einen sollen, wie angemerkt, die Auswirkungen der sehr deutlich nachweisbaren intertextuellen Beziehungen für die Konzeption der zu untersuchenden Schriften Benjamins zu Beginn der Weimarer Republik nachgewiesen werden. Zweitens fungiert die Konzentration auf Friedlaender aber auch als eine Art Brennglas, unter dem sich die verschiedenen und von Benjamin nicht immer deutlich markierten

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Der Ausgangspunkt der Untersuchungen wird allerdings durch eine problematische Quellenlage bestimmt, denn die „philosophische Kritik des Lesabéndio“ (ebd., 109), an der sich sowohl das Spannungsverhältnis von Politik und Ästhetik als auch Friedlaenders Rolle direkt untersuchen ließen, ist selbst nicht überliefert. Überhaupt liest sich der ganze nachfolgend auszufaltende Schreib- und Arbeitszusammenhang wie eine abenteuerliche Serie von Verlustgeschichten, die vor allem aus Benjamins häufigem Ortswechsel resultieren. Am 23.11.1919 schreibt Benjamin in einem Brief an Scholem, dass er Scheerbarts Roman Lesabéndio verloren habe, den er für die „Arbeit über Politik“ erneut lesen wollte. (vgl. Br II, 54) Im selben Brief berichtet er außerdem, dass er die Kritik zu Blochs Geist der Utopie momentan nicht schreiben könne, weil er „das Buch mit allen vorbereitenden Glossen“ (ebd., 57) verloren habe. In einem Brief an Scholem vom 14.2.1921 legt Benjamin dann dar, dass er Scholem die Bloch-Rezension von Friedlaender, die Benjamin unlängst entdeckt hatte, nicht zusenden könne, weil sie sich derzeit bedauerlicherweise nicht mehr in seinem Besitz befinde. Hinzu tritt dann noch der Verlust von Benjamins eigener Bloch-Kritik und derjenigen Teile der Arbeit über Politik, an denen Benjamin in diesem Zeitraum arbeitet. Noch bis in den Juli 1927 ragt diese Verlustgeschichte hinein, wenn Benjamin als negative Seite seiner Korsika-Reise anführt, dass ihm „ein Konvolut unersetzlicher Manuscripte abhanden kam, en l’espèce jahrelange Vorstudien zur ‚Politik‘ […].“ (Br III, 281) Von der dreiteiligen ‚Politik-Schrift‘4 wiederum ist nur die prominente Arbeit Zur Kritik der Gewalt erhalten, die zusammen mit einem unter dem Titel Teleologie ohne Endzweck geplanten Text (wahrscheinlich) für den zweiten, mittleren Teil der Arbeit konzipiert war. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass die Gesamtkonzeption der ‚Politik-Schrift‘ – anders als die intensiv erforschte und durch unterschiedliche theoretische Lektüren interpretierte Arbeit Zur Kritik der Gewalt – bisher kaum zum Gegenstand der Forschung geworden ist.5 Wenn Debattenzusammenhänge und Problemstellungen, die in den Schreibversuchen nach 1918 eingelagert sind, bündeln lassen. 4 Nachfolgend wird die Bezeichnung ‚Politik-Schrift‘ einfachheitshalber als Abkürzung für den Arbeits- und Produktionszusammenhang der dreiteiligen „Arbeit über Politik“ verwendet, ohne damit zugleich auf ein abgeschlossenes, aber bedauerlicherweise verlorenes Werk zu rekurrieren. Korrekter, aber unpraktischer wäre wohl die Bezeichnung ‚intertextueller Arbeits- und Produktionszusammenhang des Politik-Schreibprojekts‘. Diese Bezeichnung ist immer mitgedacht, wenn nachfolgend von der ‚Politik-Schrift‘ die Rede ist. 5 Die intensive internationale Diskussion um Benjamins Zur Kritik der Gewalt wurde von Jacques Derridas Lektüre eingeleitet und später durch Giorgio Agambens Homo-sacerProjekt nochmals verstärkt. Beide haben die Forschung zu Benjamins politischem Denken erneut herausgefordert und unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht. Gegenüber

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Kapitel 6

nachfolgend einerseits nicht nochmals der Schwerpunkt auf denjenigen Zusammenhang von Recht, Gewalt, Mythos und Souveränität gelegt werden soll, der in dem viel beachteten Text Zur Kritik der Gewalt verhandelt wird, andererseits jedoch kein einzelner Text, kein abgeschlossenes Werk zur Verfügung steht, an dem ein möglicher ‚Einfluss‘ Friedlaenders unmittelbar abzulesen wäre, dann stellt sich ganz grundsätzlich die Frage: Welche Rolle kann dann überhaupt diesem nicht überlieferten dritten Teil der ‚PolitikSchrift‘ heute in der Benjamin-Philologie zukommen? Zumal für die Frage der Bestimmung des politischen Einsatzpunktes von Benjamins Schreib- und Darstellungsweise, die ohnehin seit jeher in der Rezeption umstritten ist und sich mit den überlieferten Texten vor einem mehr als ausreichenden Materialreservoir für kontroverse Debatten gegenübergestellt sieht. Die Frage richtet sich vor allem darauf, welchen Status den überlieferten Texten und Notizen zugesprochen wird und welches Erkenntnisinteresse sich daran anknüpft. Zunächst gilt hier für den intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang der ‚Politik-Schrift‘ in besonderem Maße das, was Uwe Steiner zu Benjamins Arbeit am Politischen grundsätzlich betont hat: Dass „man nach der zusammenhängenden und verbindlichen Explikation dessen vergeblich sucht, was Benjamin seine ‚Politik‘ nennt.“6 Dieser Umstand schlägt sich bereits darin nieder, dass sich heute nicht mehr restlos klären lässt, welche Teile überhaupt geschrieben wurden und welche möglicherweise unausgeführt dieser auf eine gegenwartbezogene Aktualisierung ausgerichtete Rezeptionslinie treten die nachfolgenden Ausführungen einen Schritt zurück, um die Entstehungs- und Produktionszusammenhänge zu verfolgen. Dass damit notwendigerweise auch Historisierungseffekte einhergehen, muss nicht zwangsläufig der Bemühung um Aktualisierung entgegenstehen, beugt aber möglicherweise allzu unmittelbaren emphatischen Applikationen vor. (vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘. Frankfurt a.  M. 1991; Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002. Zur Rezeption und Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten vgl.: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a.  M. 1994; Bettine Menke: Die ‚Kritik der Gewalt‘ in der Lektüre Derridas. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 3. München 1999, S. 1671-1690; Burkhardt Lindner: Derrida. Benjamin. Holocaust. Zur Kritik der ‚Kritik der Gewalt‘. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hgg.): global benjamin. Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992, Bd. 3. München 1999, S. 1691-1723; Vittoria Borsò et. al. (Hg.): Benjamin – Agamben. Politik, Messianismus, Kabbala. Politics, Messianism, Kabbalah. Würzburg 2010. 6 Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25/2 (2000), S. 48-92, hier: S. 49. In ähnlicher Weise stellt auch Burkhardt Lindner fest: „Palimpsestartig durchdringen die politischen Positionsbestimmungen einander, ohne daß sich eine endgültige Schrift ergäbe.“ (Burkhardt Lindner: Engel und Zwerg. Benjamins geschichtsphilosophische Rätselfiguren und die Herausforderung des Mythos. In: Lorenz Jäger/Thomas Regehly (Hg.): ‚Was nie geschrieben wurde, lesen!‘ Frankfurter Benjamin-Vorträge. Bielefeld 1992, S. 235-265, hier: S. 261).

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blieben. Auch die Frage, ob die Arbeit auf zwei oder drei Teile hin konzipiert wurde, ist zumindest nach älteren Lesarten fraglich.7 Daher streben die nachfolgenden Untersuchungen auch nicht an, über den Umweg intertextueller Beziehungsgeflechte, nachträglich ein idealtypisches, abgeschlossenes Werk zu rekonstruieren. Ohnehin ständen eine solche Perspektive auf ein potentiell abgeschlossenes Werk und die Annahme, in den Texten wäre bereits eine feste Position kondensiert, quer zu dem durchaus heterogenen Experimentierfeld, in dem sich Benjamins Schreib- und Theoriearbeiten in dieser Zeit bewegen.8 Das gilt über die ‚Politik-Schrift hinaus für mehrere Schreibprojekte der Zeit. Benjamin hat unlängst seine Dissertation über den frühromantischen Kritik-Begriff abgeschlossen, macht sich Gedanken über seine berufliche Zukunft, schmiedet bereits erste Habilitationsprojekte und übersetzt zudem die Tableaux Parisiens Charles Baudelaires. In diese Zeit fallen wichtige, teils programmatische Texte, deren Gemeinsamkeit nicht zuletzt darin liegt, dass sie – trotzt ihrer komplexen philosophischen Durcharbeitung – den Charakter von Selbstverständigungstexten haben.9 Diese Texte immer schon als singuläre Werke bzw. als abgeschlossene Schriften zu fassen, würde dem im permanenten status nascendi befindlichen „offene[n] Schreibraum“10 nicht gerecht, in dem sich eine mehrfache Suchbewegung vollzieht: Der Suche nach einer aktuellen Kritikform, der Suche nach einer erkenntnistheoretischen Grundlage des eigenen Schreibens und vor allem der Suche nach einem Denken des Politischen, das sich ganz wesentlich als ein gleichermaßen ästhetisches Denken darstellt. 7

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Benjamin macht über die Pläne zu dieser Arbeit mehrere, teilweise widersprüchliche briefliche Aussagen, bei denen sich nicht mehr entscheiden lässt, ob sie sich auf verschollene oder bloß beabsichtigte Texte beziehen. Anhand der Analyse der überlieferten Scheerbart-Texte und der darin eingeschriebenen Diskussion über das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Ästhetik, die sich als Wideraufnahme der kritischen Auseinandersetzung mit Blochs Geist der Utopie auf dem Gebiet des Ästhetischen lesen lässt, wird die Arbeit dafür plädieren, dass es sich um eine dreiteilige Arbeit gehandelt haben dürfte. Vgl. hierzu auch das Kapitel 9.5. Es ließe sich zumindest vermuten, dass gerade diese experimentelle Suchbewegung der Grund dafür sein könnte, dass die geplante „Arbeit über Politik“ nicht in die Form eines abgeschlossenen Werkes übergegangen ist. Neben den eingangs bereits erwähnten Texten seien hier nur stellvertretend Über das Programm der kommenden Philosophie (1917/18) und die zwar schon 1916 entstandene, aber dennoch im Hintergrund der meisten Texte stehende zentrale sprachphilosophische Schrift Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen genannt, die beide nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Davide Giuriato: Kritische Überlegungen zur neuen Gesamtausgabe der Werke Walter Benjamins. In: Daniel Weidner/Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien, Bd. 2. München 2011, S. 335-339, hier: S. 339.

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Kapitel 6

Zudem ist es problematisch, die überlieferten Notizen, provisorischen Aufzeichnungen und experimentellen Schreibversuche von dem Begriff des Fragments aus in den Blick zu nehmen, wenn mit diesem Begriff die Texte „an der logischen und idealen Einheit eines ‚Textes‘ oder ‚Werkes‘“11 gemessen werden. Denn so blieben sie in ihrer defizitären Struktur als ‚Bruchstücke‘ die bloße Negativfolie eines ideellen Textganzen.12 Burkhardt Lindner hat daher auch gefordert, die Texte nicht länger als „teleologische[…] Stufenfolgen zum vollendeten Werk“13 hin zu lesen, sondern vielmehr „Benjamins nachgelassenes 11

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Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939). München 2006, S.  112-113. Zur Diskussion der „nicht unproblematischen Unterscheidung von ‚abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Texten‘“ (ebd., S. 219) in der Ausgabe der Gesammelten Schriften vgl. auch: ebd., S. 209-222. Diese Ausrichtung des Fragments auf das Ganze steht bekanntlich im Zentrum der frühromantischen Philosophie und Poetik: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung“, so der berühmte programmatische Satz Schlegels. (Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd.  2, hg. v. Hans Eichner. München u.a. 1967, S.  165-255, hier: S.  169 [Nr.  24]) Benjamin hat sich mit der in dem Zitat von Schlegel eingelagerten modernen Poetik des Fragments kritisch und differenziert in seiner Dissertation über den frühromantischen Kritikbegriff auseinandergesetzt. Dabei hat er festgehalten, dass auch dieses Denken des Fragments sich noch auf eine „systematische Tendenz“ (WB I.1, 42) ausrichten kann. Dass durch einen dem Fragment eingeschriebenen ex-negativo-Bezug die Möglichkeit gegeben ist, Kunst doch noch „im Horizont eines wie sehr auch abwesenden Absoluten zu verankern“, hat Eberhard Ostermann für Adorno herausgearbeitet. (vgl. Eberhard Ostermann: Das Fragment. Geschichte einer ästhetischen Idee. München 1991, S. 164) Vgl. als Zusammenfassung dieser problematischen Beziehung von Fragment und Ganzheit auch Monika Schmitz-Emans: Fragment und Fraktale. In: Reto Sorg/Stefan Bodo Würffel (Hg.): Totalität und Zerfall im Kunstwerk der Moderne. München 2006, S. 207-236, hier: 207-209. Wie sehr sich dieser Status des Fragments (als Negativfolie, die dennoch an Ganzheit und Einheit gekoppelt ist) überraschend über alle grundlegenden Differenzen zwischen verschiedenen literaturtheoretischen Ansätzen durchhält, hat unlängst Rolf Parr dargelegt. (vgl. Rolf Parr: Eine kleine Revue literaturtheoretischer Logiken des Fragments. In: Hanna Delf von Wolzogen/Christine Hehle (Hg.): Formen ins Offene. Zur Produktivität des Unvollendeten. Berlin 2018, S. 3-20, hier: S. 15). Die angedeutete systemisch orientierte Signatur moderner fragmentierter Schreibweisen ist für Benjamins frühe Schreibversuche wenig aufschlussreich. Die Frage nach der „systematischen Intention“ wird allerdings erneut aufgegriffen, wenn es um Benjamins Reflexion auf den eigenen Schreibort im Begriff der Haltung geht (vgl. Kapitel 10.3). Burkhardt Lindner: Publizität für das Dickicht der Texte. Zur Arbeit an der neuen BenjaminAusgabe. In: Sigrid Weigel (Hg.): Benjamin-Studien, Bd. 2. München 2011, S. 323-334, hier: S.  331. Für einen Überblick über die Kritikpunkte an einer klassischen editionsphilologischen Praxis, die den Begriff des ‚Fragments‘ konstitutiv an eine werkgenetische Perspektive und dem Ideal abgeschlossener Texte knüpft vgl. die Auflistung bei Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität. Versuch einer Explikation des Ausdrucks und seiner sachlichen Klärung. In: editio 22 (2008), S. 22-46, hier: S. 23-24.

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Schreiben explizit in dem Sinne zum Gegenstand zu machen, dass seine denkerische wie schriftstellerische Produktionsweise ins Zentrum rückt.“14 Um diese Produktionsweise kenntlich zu machen, müssen die bisweilen ‚sperrigen‘ Texte allerdings in ihre konkreten intertextuellen Konstellationen zurückversetzt werden.15 Hier setzt die Untersuchung ein, indem davon ausgegangen wird, dass sich – trotz der prekären Textgrundlage – anhand der „Arbeit über Politik“ in dem Moment aufschlussreiche Einsichten gewinnen lassen, wo man verstärkt den intertextuellen Schreibraum und die politischen Debatten berücksichtigt, in die Benjamin seine ersten Selbstverständigungsversuche über Politik einschreibt. Um innerhalb des Arbeits- und Produktionszusammenhangs der ‚PolitikSchrift‘ den Stellenwert der Rezeption und die produktive Aneignung von Friedlaenders Schriften anzeigen zu können, lassen sich zunächst zwei Briefe Benjamins anführen. Diese Briefe stecken den zeitlichen Rahmen des Untersuchungsfeldes ziemlich präzise ab und geben bereits erste Hinweise auf die verschachtelten Textkonstellationen, die intertextuelle Arbeitsweise und die konkreten Schreibimpulse. Im ersten Brief vom 4.8.1919 bittet Benjamin, der sich nach seinem Doktor-Examen in Iseltwald am Brienzersee aufhält, Gershom Scholem um gelegentliche Zusendung von Ernst Blochs 1918 erschienenen Geist der Utopie (vgl. Br. II, 41). Benjamin hat das Buch offensichtlich relativ schnell erhalten, denn einen Monat später berichtet er Scholem, dass er „seit einer Woche intensiv das Buch von Bloch“ (ebd., 44) lese. Dabei kündigt Benjamin gleichzeitig bereits an, eine Rezension schreiben zu wollen, um dasjenige, „was daran zu loben ist, ihm (dem Manne, nicht dem Buche) zuliebe öffentlich hervorzuheben.“ (ebd.) Wir werden im nachfolgenden Kapitel detailliert beobachten können, wie Blochs Buch Benjamin die Gelegenheit bietet, die eigene Position im Feld des Politischen zu schärfen. Im zweiten Brief, der den Rahmen dieser Untersuchung absteckt und auf den 14 15

Burkhardt Lindner, Publizität für das Dickicht der Texte, S. 327. Unter dem Begriff „Sperrigkeit“ hat Burkhardt Lindner die Chance einer Neuedition der Werke Benjamins zusammengefasst, die darin bestünde, editorische Selektionsentscheidungen im Horizont einer ideellen Werkgenese zugunsten einer Perspektive auf die Komplexität des Werkes zu ersetzen, in deren Fokus die vielschichtigen, mannigfaltig verzweigten und mithin diffusen Schreibprozesse stehen. (vgl. Burkhardt Lindner, Publizität für das Dickicht der Texte, S. 334) Statt von Sperrigkeit könnte man allerdings auch von einer ‚Entauratisierung‘ der Texte und Schriften zugunsten von konkreten Produktionsprozessen und -bedingungen sprechen. In diesem Sinne versteht sich auch die vorliegende Arbeit, indem sie die Texte nicht von vornherein schon von ihrer Singularität und Originalität und von Benjamins Selbstauslegungen her untersucht, sondern zunächst in die konkreten, kleinteiligen (zeitgeschichtlichen, intellektuellen, diskursiven) Kontexte zurückversetzt.

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Kapitel 6

1.12.1920 datiert ist, berichtet Benjamin Scholem, dass er die in Kurt Hillers viertem Ziel-Jahrbuch von 1920 erschienene „höchst beachtenswerte, wesentliche Besprechung von Blochs Buch“ von Salomo Friedlaender, die den Titel Der Antichrist und Ernst Bloch trägt (vgl. F/M 3, 608-623), gelesen habe und die „dessen Schwächen mit großer Strenge an den Tag legt“ (Br II, 109). Die Entdeckung scheint Benjamin nachhaltig beeindruckt zu haben, denn er plant zugleich, sich zu dieser Rezension im dritten Teil seiner „Arbeit über Politik“, also in der Analyse von Scheerbarts Asteroiden-Roman, äußern zu wollen. Auch wenn diese brieflichen Berichterstattungen zunächst den Status bloßer Absichtserklärungen nicht zu überschreiten scheinen, sind sie als Dokumente eines vielschichtigen Produktionszusammenhangs dennoch bemerkenswert.16 Aus einzelnen Texten unterschiedlicher Autoren (Bloch, Friedlaender, Scheerbart) entspinnt sich hier ein intertextuelles Geflecht, in dem nicht bloß interne Relationen zwischen zeitgleich verfassten Texten Benjamins aufzuweisen sind. Vielmehr noch dokumentiert sich hier ein Schreibprozess, der sich gerade durch neue, ursprünglich nicht einkalkulierte Lektüren verändert. Dieses Geflecht von Texten anderer Autoren ist Benjamins Texten nicht äußerlich, etwa als allgemeiner zeitgenössischer oder ideengeschichtlicher Hintergrund und auch nicht als diffuser Subtext, sondern muss als integraler Bestandteil 16

Die Gefahr, Briefe als biographische Zeugnisse „auf den Begriff des Werkes und der Autorschaft völlig schief“ zu beziehen, hat Walter Benjamin selbst in einer kleinen Notiz beschrieben. (WB VI, 95). Zur Problematisierung der Verwendung von Benjamins „Briefwerk […] als Arsenal für Belegmaterial“ vgl. auch Gert Mattenklott: Benjamin als Korrespondent, als Herausgeber von Deutsche Menschen und als Theoretiker des Briefes. In: Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag. Bern u.a. 1992, S.  273-282, hier: S.  273. Mattenklott betont gegenüber einer in der Forschung üblichen Tendenz, die Briefe unvermittelt als biographische Zeugnisse zu verwenden, dass Benjamins Briefe immer schon im Zusammenhang mit einem reflektierten Briefverständnisses stehen, das diese Briefe zu einer „eigene[n] Form zwischen oder gar jenseits von Kunst und Leben“ (ebd.) gerinnen lässt und damit weder der Ort privater Intimitäten noch reiner Träger für Informationsaustausch ist. Für die Frage, inwiefern die in den oben genannten Briefen ausgedrückten Pläne tatsächlich realisiert wurden, ist die Perspektive Mattenklotts auf den „performative[n] Charakter“ (ebd., S.  277) der Briefe Benjamins aufschlussreich. Denn damit eignet den Briefen eine appellative Struktur, die nicht positivistisch denjenigen Ort markiert, an dem sich (lebensweltlich-biographisch) ein werkgenetischer Ursprung dokumentiert lässt, sondern die Briefe sind vielmehr Teil eines experimentellen Schreibprozesses, der sich in ihnen gleichermaßen erprobt und kritisch reflektiert. Zur Kritik an der Lesart der Briefe Benjamins als „Quelle und fortlaufende[r] Kommentar zur Entstehungsgeschichte seines Werks“ vgl. außerdem Gert Mattenklott: Briefe und Briefwechsel. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 680-687, hier: S. 685. Allgemein zur Praxis des Briefschreibens vgl. auch Klaus Garber: Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker. München 2005).

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einer offenen Schreibpraxis betrachtet werden, die sich in „Konfrontationen“17 mit Texten andere Autoren ausprobiert, konkretisiert und verändert.18 Allein die Tatsache, dass der dritte Teil der ‚Politik-Schrift‘ die Kritik eines anderen Werkes (Scheerbarts Lesabéndio) sein sollte, deutet bereits auf eine Denkund Schreibverfahren, das sich explizit an der Zusammenstellung und Konstellierung unterschiedlicher Texte profiliert. Bemerkenswert an Benjamins Inszenierung von Textkonstellationen ist im vorliegenden Falle die daraus ableitbare Schlüsselposition Friedlaenders. Denn vor der gegenüber Scholem brieflich erwähnten Entdeckung der BlochRezension Friedlaenders gibt es keine Indizien, dass Benjamins kritische Auseinandersetzung mit Bloch Eingang in den dritten Teil der Arbeit über Politik, also der „philosophische[n] Kritik des Lesabéndio“ (Br II, 109), gefunden hätte. Auch aus den überlieferten Texten zu Scheerbart ist dieser Zusammenhang zwischen der kritischen Auseinandersetzung mit Bloch und der Lektüre Scheerbarts nicht unmittelbar ersichtlich. Erst in der Konstellation mit der Rezension Friedlaenders lässt sich hier ein Zusammenhang herstellen, der, so wird zu zeigen sein, über die vergleichbare kritische Position gegenüber Bloch weit hinausreicht und bis in die Argumentationsstruktur und die eingesetzten Denkfiguren hineinreicht. Weiterhin gibt es auch keine entscheidenden Anmerkungen, wie die Auseinandersetzung mit Bloch, die für Benjamins Selbstverständigung über Politik als Kontrastfolie entscheidend ist, überhaupt in der konzipierten ‚Politik-Schrift‘ zu verorten wäre. Zwar sieht Anson Rabinbach in der gesamten verlorenen Schrift zur Politik „a response to the Blochean

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„Benjamins Denken entwickelt sich weniger in Deduktionen als in Konfrontationen“, so die prägnante Formulierung dieser Verfahrensweise bei Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geist der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins. Würzburg 1989, S. 11). Vor diesem Hintergrund ist es daher auch wenig produktiv, die im Band 6 der Gesammelten Schriften unter dem Titel Fragmente zusammengedrängten Auszeichnungen und Notizen als Vorstufen oder Ursprünge von abgeschlossenen Texten zu lesen. Aufschlussreicher scheint es, diese Texte unter dem Begriff des „Schreiblabors“ zu fassen und damit für Benjamins Arbeitsweise geltend zu machen, was Burkhardt Wolf für Robert Musils Nachlass betont hat: „Dieses Labor ist weniger als Schauplatz poetischer Kreativität und Erfindungskraft zu verstehen denn als eine Infrastruktur, die geistige Reflexivität ebenso gestattet wie gelehrte Findigkeit, und dies auf der Basis kompressiver und zugleich dispersiver Ordnungsleistungen.“ (Burkhart Wolf: Nicht-Lesen in Musils Bibliothek. Zur Ordnung des Wissens im Mann ohne Eigenschaften. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 62 (2018), S. 205-232). Statt text- und werkgenetische Fragestellungen stünden damit dann vielmehr Ordnungsmodelle und -praktiken im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Benjamin nutzt, um etwa interner Verweisungsstrukturen herzustellen und Wiederverwertungen zu ermöglichen.

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Kapitel 6

challange.“19 Konkrete Hinweise über die Art dieser kritischen Auseinandersetzung lassen sich aber kaum ausmachen. Erst mit Benjamins Entdeckung der Bloch-Kritik von Friedlaender und seinem Plan, auf diese Rezension im dritten Teil der Arbeit einzugehen, lassen sich die in der Benjamin-Forschung bisher allenfalls als lose zusammenhängend wahrgenommenen Texte und Schreibversuche nachweislich miteinander verbinden.20 Damit kommt der Rezension Friedlaenders gewissermaßen eine Art Scharnierfunktion zu. Denn über sie lassen sich die für Benjamins Bemü­ hungen um eine philosophische Auseinandersetzung mit der Politik schon für sich genommenen bedeutenden Arbeiten einerseits über Bloch und andererseits über Scheerbart deutlicher aufeinander beziehen. Denn wenn Benjamin erstens explizit auf Bloch als auf denjenigen verweist, dessen Buch er trotz aller Mängel immerhin als das einzige Buch bezeichnet, „an dem ich mich als einer wahrhaft gleichzeitigen und zeitgenössischen Äußerung messen kann“ (Br II, 46), dann ist es nicht unerheblich, dass wir von heute aus gesehen ausschließlich über die Friedlaender-Rezension Anhaltspunkte dafür haben, an welcher Stelle die Auseinandersetzung mit Bloch Eingang in 19 20

Anson Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment. Berkeley 1997, S.  58. Diese ‚Challange‘ sieht Rabinbach in „Bloch’s promiscuous amalgamation of apocalyptic history and messianism.“ (ebd.). Nicht nur der Zusammenhang der produktiven Rezeption von Bloch, Scheerbart und Friedlaender wurde in der Forschung bisher – mit wenigen Ausnahmen, auf die im Laufe der Untersuchung noch eingegangen wird – kaum berücksichtigt. Auch in der Forschung zu den jeweiligen Beziehungen Benjamins zu den drei genannten Schriftstellern ergibt sich eine augenfällige Schieflage. Wo die Untersuchung der Bedeutung Blochs in der Benjamin-Forschung längst zu einem etablierten Gegenstand geworden ist, fehlt bis heute eine größere Studie zum Verhältnis Benjamins zu Scheerbart und zur phantastischen Literatur, wobei hier neben Scheerbart und Friedlaender auch Alfred Kubin in Betracht zu ziehen wäre. Heinz Brüggemann beschäftigt sich in seiner wichtigen Arbeit über die Rolle der Phantasie bei Benjamin mit Friedlaender; Scheerbart hingegen wird nur in der für die Benjamin-Forschung typischen Aufzählung mit Brecht, Loos und Klee genannt, die sich aus Benjamin Text Erfahrung und Armut ergibt. (vgl. Heinz Brüggemann: Walter Benjamin. Über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 11 und 123-124) In der überschaubaren Forschung zu Paul Scheerbart wurden die Texte Benjamins hingegen durchaus wahrgenommen und teilweise sogar in die Untersuchungen integriert. (vgl. Hubertus von Gemmingen: Paul Scheerbarts astrale Literatur. Bern/Frankfurt a. M. 1976; Eva Wolff: Utopie und Humor. Aspekte der Phantastik im Werk Paul Scheerbarts. Frankfurt a. M./Bern 1982; Clemens Brunn: Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin. Hamburg 22010.) Die vorliegende Arbeit kann das Forschungsdesiderat zu Benjamin-Scheerbart nicht schließen, möchte aber dennoch zumindest einen Beitrag dazu leisten, die marginale Bedeutung Scheerbarts in der Benjamin-Forschung zu revidieren, indem der konkrete Ort angezeigt wird, an dem die Rezeption Scheerbarts in Benjamins Schriften produktiv wird.

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die ‚Politik-Schrift‘ gefunden hat.21 Allein die Tatsache, dass mit dieser Textkonstellation Benjamins kritischer Auseinandersetzung mit Bloch, die sicherlich am deutlichsten an der verlorenen Rezension abzulesen gewesen wäre, eine neue Dimension abgewonnen werden kann, macht es lohnenswert, Friedlaenders Text näher an den Produktionszusammenhang der ‚PolitikSchrift‘ heranzuführen als es bisher der Fall war. Und da es zweitens in der philosophischen Kritik von Paul Scheerbarts Asteroiden-Romans Lesabéndio um nicht weniger gehen sollte als zu zeigen, dass der im Roman dargestellte Planet „Pallas die beste aller Welten sei“ (Br II, 54), darf man davon ausgehen, dass die geplante Äußerung zu Friedlaenders Bloch-Kritik für Benjamins Konzeption des Politischen auch in diesem Zusammenhang maßgebliche Bedeutung gehabt hat. Zu diesem mehrschichtigen Geflecht tritt zudem die Tatsache hinzu, dass Friedlaender und Scheerbart wiederum befreundet waren und im intellektuellen Austausch standen. Friedlaender hat mehrere Texte verfasst, in denen er sich mit Scheerbarts literarischen Arbeiten auseinandersetzt. Benjamins Rezeption Friedlaenders und Scheerbarts fand nicht nur nahezu gleichzeitig statt, ihm war diese Freundschaft bekannt und er wird in späteren Texten beide mehrmals in einem Atemzug nennen und nachdrücklich auf die intellektuelle Beziehung zwischen beiden verweisen. (Vgl. hierzu Kap. 9.1) Somit ragt die Untersuchung zugleich über rein einflussphilologische Fragestellungen hinaus, kann doch die Konstellation in einer Vergleichsperspektive von zwei Punkte aus betrachtet werden: Von Benjamins Konstellierung der angezeigten Texte gleichermaßen wie von Friedlaenders eigener Beschäftigung mit Bloch und Scheerbart. Folglich kreuzen sich im Rahmen dieses skizzierten intertextuellen Arbeitsund Produktionszusammenhangs, der durch die bemerkenswerte Koinzidenz und Verzahnung zunächst scheinbar getrennter Schreibprojekte abgesteckt ist, allgemeine politische Debatten der Zeit, intellektuelle Kommunikationsräume und konkrete Schreibimpulse. Es ergibt sich daraus für Benjamins frühe Schriften zum Politischen eine mehrstellige Konstellation aus produktiven Lektüren, Aneignungs- und Absetzungsprozessen und dem experimentellen Versuch einer gleichermaßen philosophischen, ästhetischen und politischen Standortbestimmung des eigenen Schreibens. Um diese dem Arbeits- und Produktionszusammenhang inhärenten Debatten, sedimentierten Lektüren und Textanschlüsse nachfolgend entfalten zu können und um Friedlaenders Kritik an Bloch mit Benjamins Arbeit an seiner ‚Politik-Schrift‘ näher in 21

Das bedeutet also nicht, dass nicht auch in den anderen, verlorenen oder vorbereiteten Teilen der Arbeit eine Beschäftigung mit Bloch stattgefunden haben könnte. Darüber lässt sich nur heute schlichtweg kein Urteil mehr fällen.

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Kapitel 6

Zusammenhang zu bringen als es bisher in der Forschung der Fall gewesen ist, gehen die nachfolgenden Untersuchungen in drei Schritten vor. Im Kapitel  7 steht Benjamins politisch-philosophische Auseinandersetzung mit Bloch im Zentrum, die sich anhand des Theologisch-politischen Fragment entfalten lässt, wobei insbesondere die Parallelen zu Friedlaenders Bloch-Rezension in den Blick genommen werden. Dabei wird sich zeigen, dass Benjamin und Friedlaender in vergleichbarer Weise eine erkenntnistheoretische Debatte mit Bloch führen, in deren Zentrum die Frage des Verhältnisses von Politik und Theologie steht. Gegen Blochs apokalyptische Utopie-Rhetorik führen Benjamin und Friedlaender Denkfiguren des Polaren ins Feld, in denen sie eine am innerweltlichen Leib und am profanen Glück ausgerichtete politische Gegenkonzeption zu Bloch entwickeln. Im Kapitel 8 stehen dann Benjamins überlieferte Texte zu Scheerbart im Mittelpunkt, um zu zeigen, wo sich im Feld des Ästhetischen Anschlüsse zu Benjamins und zu Friedlaenders Bloch-Kritiken herstellen lassen. Dabei wird sich herausstellen, dass Benjamin die im Theologisch-politischen Fragment stark verdichteten Thesen zur Ordnung des Profanen und zu einer nicht-theokratischen Weltpolitik, die zwar den Messias nicht zum Ziel des eigenen zweckrationalen Handelns machen kann, aber das „Kommen des messianischen Reiches“ (WB II.1, 204) „zu befördern vermag“ (ebd.), im Bereich des Ästhetischen weiterdenkt und auf das Wechselverhältnis von Humor und Technikutopie bezieht. Dieses ungewöhnlich erscheinende Wechselverhältnis hat Benjamin bereits in seinen frühen Scheerbart-Lektüren zu entwickeln versucht. In diesem Abschnitt wird sich zudem zeigen lassen, wie die frühen Vorstellungen über das Verhältnis von Technik und Humor auch in seinen späteren Arbeiten, vor allem in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und in den Passagen-Aufzeichnungen zu Charles Fourier, fortwirken. Nachdem das Verhältnis von Humor und Technikutopie ausgefaltet wurde, ist in Kapitel 9 auf den dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ zurückzukommen, indem dort gezeigt wird, dass Benjamin seine frühen Überlegungen zum Politischen bereits in seiner Konzeption des Humors verdichtet, deren Bedeutung für Benjamins frühes Denkens des Politischen hier erstmals herausgearbeitet werden soll. Durch den Blick auf diese ‚Politik des Humors’ wird zudem eine neue Dimension in Benjamins Bloch-Kritik deutlich. Seine Deutung von Scheerbarts Roman lässt sich als implizite Kritik an der spezifischen Funktionalisierung des Ästhetischen als ‚Vor-Schein‘ des Utopischen in Blochs Geist der Utopie lesen. Benjamins vom Humor ausgehende Kritik weist dabei, so wird zu zeigen sein, bemerkenswerte Schnittmengen mit Friedlaenders Konzeption eines „Humor[s] der Extreme“ (F/M 10, 154) auf, der bei diesem ebenfalls zur Grundlage der Kritik an Bloch wird.

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Das Ziel aller Untersuchungsteile besteht in dem Nachweis, dass bereits in Benjamins frühen Bemühungen um eine philosophische Perspektive auf das Politische eine ästhetische Konzeption in polaren Denkfiguren zum Tragen kommt, die Benjamins Auseinandersetzung mit dem zentralen Problem des Bezuges von Politik und Ästhetik bestimmt und – unabhängig von der in der Forschung häufig angeführten Werkeinteilungen in vormarxistische und marxistisch orientierte Beschäftigungen mit Politik – auch in späteren Arbeiten wirksam bleibt. Insbesondere das Problem einer Bestimmung der Mitte als Grenze zwischen den Polen, von dem wir bereits im Kapitel  5.3 anhand von Benjamins Brief an Buber gesehen haben, dass es für den Einsatz polarer Denkfiguren zentral ist, wird Benjamin in den Begriffen des Nihilismus (Theologisch-politisches Fragment) und des Humors (Scheerbart-Texte) erneut aufgreifen und unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen reformulieren. Die polaren Denkfiguren und Argumentationsweisen ebenso wie die Bestimmung eines latenten Mittelpunkts zwischen den Polen bilden in dem komplexen Arbeits- und Produktionszusammenhangs der ‚Politik-Schrift‘ dann auch diejenigen Vergleichspunkte, von denen her die intertextuelle Konstellation mit Friedlaenders Schriften ihre größte Wirksamkeit entfaltet und einen neuen Blick auf Benjamins frühe Schreibversuche im Spannungsfeld von Politik und Ästhetik freilegt.

Kapitel 7

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘ und Friedlaenders ‚Anti-Bloch‘ im Verhältnis zu Ernst Blochs Geist der Utopie Wie bereits angedeutet wurde, steht es außer Frage, dass die Begegnung mit Ernst Bloch und die geführten Gespräche über Politik nachdrücklich auf Benjamin gewirkt haben und ihn „endlich zur Vertiefung in diese Sache nötigten.“ (Br II, 46)1 Wenngleich Blochs Buch „[u]ngeheure Mängel“ (ebd.) aufweise, sah Benjamin im Geist der Utopie dennoch „das einzige Buch […], an dem ich mich als an einer wahrhaft gleichzeitigen und zeitgenössischen Äußerung messen kann.“ (ebd.) Der Grund liege darin, dass Bloch – anders als die meisten zeitgenössischen Schriften über Politik – „an dem Punkte seiner Verantwortung zu fassen ist“ (ebd., 47). Vor diesem Hintergrund wäre es umso interessanter zu erfahren, welchen Ton Benjamin in seiner Rezension angeschlagen hat, um zwischen freundschaftlicher Zuneigung und Kritik zu vermitteln. Hier ist Jörg Zimmer uneingeschränkt zuzustimmen: „[W]as gäbe man nicht dafür, die Rezension Benjamins zum Geist der Utopie aufzufinden […].“2 Ob die Rezension, die sicherlich vorrangig als kritische freundschaftliche Geste dem Autor gegenüber zu verstehen ist, aber auch für das Verständnis der Position Benjamins im Schnittfeld von Politik, Theologie resp. Metaphysik und Ästhetik aufschlussreich ist, lässt sich nicht mehr klären.3 Fest steht nur, dass die überlieferten Aussagen Benjamins über Blochs Geist der Utopie 1 Folgt man Scholems Erinnerungen, hat sich diese ‚Nötigung‘ nicht nur auf den rein theoretischen Bereich bezogen: „Benjamin wurde damals in den Gesprächen mit Bloch und Ball mit der Frage politischer Aktivität konfrontiert, die er in dem Sinne, wie seine Partner ihn dazu aufforderten, ablehnte.“ (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 103). 2 Jörg Zimmer: ‚Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben‘. Erläuterungen zu Benjamin und Bloch. In: Helmut Hühn/Jan Urbich/Uwe Seiner (Hg.): Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Berlin 2015, S. 259-271, hier: S. 259. Dass Benjamin die Rezension geschrieben hat und in unterschiedlichen Zeitschriften unterzubringen versuchte, wissen wir durch mehrere briefliche Äußerungen und durch Scholem, der eine Kopie der Rezension erhalten hat. (vgl. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S.  119) Benjamin hat u.a. versucht, die Rezension in den Kant-Studien unterzubringen. (vgl. Br II, 94). 3 So betont auch Steiner, dass sich nicht mehr entscheiden lässt, „ob Benjamin die auf Bitten des Autors verfaßte Kritik des Geist der Utopie zum Anlaß nahm, seine philosophischpolitischen Gedanken erstmals niederzulegen.“ (Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 51).

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_008

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Kapitel 7

uneindeutig und teilweise sogar widersprüchlich sind und so in das Bild der ohnehin „komplizierte[n], von seltener Ambivalenz geprägte[n] Beziehung“4 zwischen den beiden passen. Diese Ambivalenz lässt sich am besten von jenem kurzen Text her nachvollziehen, dem Adorno nachträglich den Titel Theologisch-politisches Fragment gegeben hat und dessen „Schlüsselcharakter für Benjamins Denken“ (WB II.3, 946) in der Forschung bereits an mehreren Stellen nachdrücklich hervorgehoben wurde.5 Das Fragment hat allein schon besondere Aufmerksamkeit erhalten, weil es bekanntlich von Adorno auf die späten 1930er Jahre datiert wurde. Benjamin habe ihm, so Adorno, dieses „Fragment der Spätzeit“6 damals als ein neues Stück vorgelesen. Scholem und Tiedemann haben gegen diese Datierung protestiert und den Text vor allem wegen seiner 4 Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein, S. 254. Das trifft nicht nur auf den Zeitraum zu, in dem Benjamin an der ‚Politik-Schrift‘ arbeitet. Auch später wird die Beziehung zu Bloch stets durch Ambivalenzen geprägt sein. Auf der einen Seite beschreibt Benjamin Bloch als den „beste[n] Kenner meiner Sachen“, der ihm „sehr ehrwürdig“ (Br III, 152) sei. Auf der anderen Seite erlaubt ihm seine sehr kritische, bisweilen offen ablehnende Haltung zu späteren Arbeiten Blochs beispielsweise über Thomas Müntzer (vgl. Br II, 226) eine Würdigung „nur aus unendlicher Distanz“ (Br III, 135). Hinzu tritt noch der über Jahre wiederholte Vorwurf Benjamins, dass sich Bloch schamlos in seinen Schriften bedient habe; Benjamin spricht u.a. vom „Ensemble meiner Schriften“, das für Bloch „eine Art Klau-Kammer darstellt“ (Br IV, 61; vgl. zu diesem Vorwurf Benjamins auch Br II, 511; Br III, 439f.; Br  V, 129). Allerdings hat Stefano Marchesoni gezeigt, dass diese Plagiats-Vorwürfe den Blick der Forschung von der Bedeutung des Bloch’schen Motivs des Eingedenkens für Benjamins gleichnamiges Konzeptes abgelenkt hat. Marchesoni geht daher auch von „mindestens zwei Phasen“ der Benjamin’schen Bloch-Rezeption aus und untersucht den ab 1927 erneut einsetzenden Einfluss Blochs auf Benjamin, indem er Benjamins Rekurs auf Bloch unter dem von Brecht und Benjamin verwendeten Begriff der Umfunktionierung fasst. (vgl. Stefano Marchesoni: Zur Vorgeschichte des Eingedenkens. Über Ernst Blochs ‚motorisch-phantastische Erkenntnistheorie‘ in ‚Geist der Utopie‘ und ihre ‚Umfunktionierung‘ bei Benjamin. In: Sigrid Weigel/Daniel Weidner (Hg.): Benjamin-Studien 3 (2014), S. 15-29, hier: S. 24). 5 Werner Hamacher schreibt dazu: „Während die Datierungsfrage nicht eindeutig beantwortet werden kann, da keinerlei Zeugnisse zur Entstehung überliefert sind, bestand seit der ersten emphatischen Reaktion Adornos nie ein Zweifel am philosophischen Rang dieses Textes und an der zentralen Position, die er im Corpus von Benjamins Schriften beansprucht. Er ist immer als eine Art ‚Urzelle‘ seines Werkes – und zwar des frühen wie des späten – angesehen worden.“ (Werner Hamacher: Das Theologisch-politische Fragment. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S.  175-192, hier: S.  175.) Gleichzeitig betont Hamacher aber auch, dass – trotzt der unbestrittenen Bedeutung des Textes – „kaum andere als kursorische Versuche unternommen worden [sind], ihn selber im einzelnen zu erläutern“ (ebd.). 6 Theodor W. Adorno: Charakteristik Walter Benjamins [1950]. In: ders.: Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, hg. und mit Anmerkungen versehen v. Rolf Tiedemann. Revidierte und erweiterte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1990, S. 9-26, hier: S. 25.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘

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Themen und Motive in die Zeit um 1920 verlegt.7 In diesem ‚sogenannten Theologisch-politischen Fragment‘8 findet sich Benjamins bedeutsamste inhaltliche Stellungnahme zu Blochs Buch. Dort heißt es, dass „das größte Verdienst von Blochs ‚Geist der Utopie‘“ darin bestünde, „[d]ie politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben“ (WB II.1, 203). Die Aussage bildet den Abschluss des ersten Absatzes des Fragments, in dem Benjamin eine strikte Trennung zwischen der „Ordnung des Profanen“ und dem „Reich Gottes“ (ebd.) zieht. Die „historische[…] Dynamis“ (ebd.) könne sich nicht, so führt Benjamin in vier jeweils durch ein ‚darum‘ eingeleiteten und beinahe schon apodiktisch vorgetragenen Konsekutivsätzen aus, von sich aus in Form zweckrationalen Handelns auf das Messianische beziehen und zum immanenten Ziel des politischen Handelns machen. Gleich der erste Satz 7 Scholem schreibt: „Alles an diesen zwei Seiten entspricht genau seinen Gedankengängen und seiner spezifischen Terminologie um 1920/21.“ (Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 117). Vgl. zu der Debatte auch die Ausführungen der Herausgeber der Gesammelten Schriften in WB II.3, 946-949. Auch wenn die Frage nach der konkreten Entstehungszeit offen bleiben muss, zeugt doch allein die Tatsache, dass Adorno den Text in die späten 1930er Jahre nicht bloß von Adornos spezifischer Lektürehaltung, sondern auch von einem Zusammenhang des Denkens über Politik jenseits aller Trennungen in eine vor-marxistische und marxistische orientierte Schreibhaltung. Wir werden auf die Datierungsfrage später kurz zurückkommen, wenn wir nach der Bedeutung von Friedlaenders Bloch-Kritik fragen. 8 Nachfolgend wird einfachheitshalber nicht jedes Mal vom ‚sogenannten Fragment‘ gesprochen, sondern der Titel von Adorno beibehalten, wenngleich er in doppelter Hinsicht problematisch ist. Zum einen scheint der Titel einer der Kernaussagen des Textes zuwiderzulaufen, die in einer strikten Trennung von Profanem/Politischem und Messianischem besteht und der Vorstellung einer politischen Theologie eine deutliche Absage erteilt. Hamacher argumentiert daher auch dafür, den Text vielmehr als „‚politisch-atheologisches Fragment‘“ (Werner Hamacher, Das Theologisch-politische Fragment, S. 179) zu bezeichnen. Zum anderen stellt sich auch hier die Frage, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, den Text als Fragment zu charakterisieren. Der Text ist zunächst ein extrem verdichteter Gedankenkomplex, dessen innerer Argumentationsverlauf schlüssig aufeinander aufbaut, um am Ende eine Idee von „Weltpolitik“ (WB II.2, 204) zu benennen, die einen anderen Bezugsmodus von Profanem und Messianischen profiliert als denjenigen eines theokratischen Politikverständnisses, den Benjamin in aller Schärfe zu Beginn kritisiert. Zudem gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Text ein Fragment für eine bestimmte Schrift sein könnte, die dann als Idealtext den Horizont des hier nur fragmentiert Überlieferten darstellen würde. Diesen ‚Idealtext‘ stellt auch die ‚Politik-Schrift‘ nicht dar. Es soll daher nachfolgend auch nicht behauptet werden, dass Benjamin geplant hätte, das Theologisch-politische Fragment in die ‚Politik-Schrift‘ zu implementieren. Vielmehr liegt der Auseinandersetzung um einen nicht-theokratischen Bezug zwischen Politik und Messianischen eine Debattenkonstellation zugrunde, auf die der dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ reagiert, indem dort die Debatte in das Feld des Ästhetischen verlagert und mit einem Konzept des Humors konfrontiert wird. Über die Debatten aus dem dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ lassen sich allerdings wiederum Rückschlüsse auf die Art des Bezüglichkeitsdenkens zwischen Profanem und Messianischem im Fragment ziehen.

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Kapitel 7

des Fragments stellt unmissverständlich fest: „Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft.“ (ebd.) Gershom Scholem hat gezeigt, dass diese strikte Trennung von Messianischem und Profanem und die Vorstellung, die Ankunft des Messias könne nicht zum immanenten Ziel des geschichtlichen Verlaufs werden, weil diese Ankunft das Ende der Geschichte bedeutet, zum Kernbestand des jüdischen Messianismus gehört.9 Irving Wohlfahrt, der sich im Anschluss an Scholem die Frage gestellt hat, inwiefern „eine ‚jüdische‘ Lektüre des Fragments zu konstruieren“10 möglich ist, betont, dass die Trennung zwischen Profanem und Messianischem zugleich auch einer strikten Abgrenzung sowohl von hegelianischer als auch von materialistischer Dialektik gilt: 9

10

Scholem fasst die mit der Idee der Katastrophe verbundene Trennung folgendermaßen zusammen: „Mit besonderer Wucht kommt das bei der Ausbildung der Vorstellung von den Geburtswehen des Messias, das heißt hier der messianischen Zeit, zum Ausdruck. Die Paradoxie dieser Vorstellung besteht darin, daß die Erlösung, die hier geboren wird, gar nicht in irgendeinem kausalen Sinn eine Folge aus der vorangegangenen Historie ist. Es ist ja gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historie und der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikern stets betont wird. Die Bibel und die Apokalyptiker kennen keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. Die Erlösung ist kein Ergebnis innerweltlicher Entwicklung, wie etwa in den modernen abendländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Aufklärung, wo noch in seiner Säkularisierung im Fortschrittsglauben der Messianismus eine ungebrochene und ungeheure Macht beweist. Sie ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von woanders her in sie strahlt.“ (Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a.  M. 1970, S.  121-167, hier: S.  133). Anson Rabinbach wiederum sieht Benjamins Text als „part of a far more general trend toward redefining Jewishness without Judaism“ (Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S.  30). Dabei unterscheidet Rabinbach zwischen vier verschiedenen Dimensionen des jüdischen Messianismus: einen „restorative aspect“ (ebd., 31), zweitens einen „redemptive utopian aspect“ (ebd., 32), drittens „a strong apocalyptic element that opposes salvation to historical immanence“ (ebd.) und viertens „a dilemma for the ethics of messianism between the idea of liberation and the absolute superfluity of any action that is often difficult to sustain“ (ebd., 33). Da die Sprache im ersten Aspekt einen „central place […] as the medium of redemption“ (ebd., 31) erhält, ordnet Rabinbach Benjamins messianisches Denken unter diesem Aspekt ein. Allerdings versperrt Rabinbachs mehrmaliges Insistieren auf Benjamins „[e]soteric intellectualism“ (ebd., 62) den Blick auf die philosophische Argumentationsstruktur und die erkenntnistheoretische Fragestellung des Fragments. Irving Wohlfarth: Nihilistischer Messianismus. Zu Walter Benjamins ‚Theologischpolitischem Fragment‘. In: Ashraf Noor/Josef Wohlmuth (Hg.): ‚Jüdische‘ und ‚christliche‘ Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert. Paderborn 2002, S. 141-214, hier: S. 143.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘

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„Weder einer idealistischen Dialektik, welche Gott und die Welt miteinander vermittelt, noch einer materialistischen, welche den Himmel auf die Erde herunterholt und damit die menschliche Geschichte vergöttlicht, wird hier das Wort geredet.“11

Anhand dieser Abgrenzung diskutiert Wohlfarth dann nochmals die lange Zeit vorherrschenden antagonistischen Rezeptionstendenzen (Materialismus/Theologie; Marxismus/Messianismus; Scholem/Adorno/Brecht), wobei besonders Wohlfarths These hervorzuheben ist, dass das Fragment diese spannungsgeladenen Rezeptionslinien nicht aufzulösen vermag, sondern der Text ganz im Gegenteil die „Metaphysik eines solchen Spannungsfeldes“12 selbst profiliert. An Wohlfarths Hinweise lässt sich nachfolgend anschließen, indem noch deutlicher herausgearbeitet werden soll, dass das Fragment um die zentrale Idee einer konstitutiven Polarität zwischen Profanem und Messianischen kreist.13 Werner Hamacher, der sich dem Text wiederum über Benjamins Über das Programm der kommenden Philosophie und damit über erkenntnistheoretische Fragestellungen nähert, sieht diese Spannungen bereits zu Beginn des Fragments realisiert und betont dabei – entgegen der üblichen Rede vom ausschließlich enigmatischen Charakter des Fragments – die argumentative Struktur: „In ihren ersten Sätzen legt Benjamins Argumentation – denn Argumentation bleibt sie trotz ihres apodiktischen Gestus – die Spannung frei, die für die endliche Vernunft im Begriff der Vollendung und eines als Vollendung begriffenen messianischen Zustandes liegt. Ist nämlich das historische Geschehen die Geschichte endlichen Daseins, so kann es in ihr wohl eine Beziehung auf Vollendung geben, aber weder kann angenommen werden, daß diese Vollendung der Geschichte eine Richtung gibt, noch kann von Endlichem eine Vollendung erstrebt werden, die nicht ihrerseits bloß endlich wäre.“14

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Irving Wohlfarth: ‚Immer radikal, niemals konsequent  …‘. Zur theologische-politischen Standortbestimmung Walter Benjamins. In: Norbert W. Bolz/Richard Faber (Hg.): Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins ‚Passagen‘. Würzburg 1986, S. 116-137, hier: S. 117. Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 146. Auf das nüchterne dialektische Verfahren der Spannungsherstellung zwischen Politik und Theologie wurde bereits in Kapitel  1 der Arbeit hingewiesen. Benjamin löst diese Spannung nirgends auf und versucht sie auch nicht synthetisch zu vermitteln. Die Spannung erhält in seiner Denk- und Schreibweise vielmehr programmatischen Charakter und wird so zum bevorzugten Ort des Einsatzes polarer Denkfiguren. Das lässt sich nirgends so deutlich wie am Theologisch-politischen Fragment darlegen. Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 178.

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Kapitel 7

Damit schreibt sich, so Hamacher, in das Fragment eine radikale „Erfahrung der Zeitlichkeit“ und zwar der „Zeitlichkeit der Geschichte“15 ein, die mit Benjamins Versuch korrespondiert, gegenüber Kants ahistorischen apriorischen Erkenntnisformen die „Frage nach der Dignität einer Erfahrung die vergänglich“ (WB II.1, 158) ist zum Ausgangspunkt des Programms einer kommenden Philosophie zu machen. Noch vor den geschichtsphilosophischen Reflexionen über die historische Zeit, betrifft die Spannung im ersten Abschnitt des Textes aber die BlochReferenz als solche, die sich durch eine auffällige Ambivalenz auszeichnet. In einem Brief an Ernst Schoen betont Benjamin, dass ihm mit Bloch „eine Neigung verbindet, deren Grund ich auch in einigen zentralen Gedanken seines Buches wiederfinde“ (Br II, 72). Gehört auch Blochs Leugnung der „politische[n] Bedeutung der Theokratie“ tatsächlich zu diesen „zentralen Gedanken“? Benjamin führt das im Brief nicht weiter aus. Was beide sicherlich neben der in Blochs Buch zentralen Zeitkritik an der wilhelminischen Gesellschaft, dem Militarismus und Krieg verbindet, ist der Grundimpuls des von Bloch proklamierten „veränderten Denkenwollen[s]“ und „Umdenkenwollen[s]“16 im Verhältnis von Politik, Theologie resp. Metaphysik und Ästhetik. Im Zentrum steht dabei bei beiden die Idee eines kommenden messianischen Ereignisses. Im „Umdenkenwollen“ besteht zudem eine grundsätzliche Gemeinsamkeit vor allem in der kritischen Abwendung vom Neukantianismus.17 Dass aber gerade Bloch die theokratische Idee der Politik geleugnet haben soll, wirkt indes irritierend. Denn immerhin hat Bloch die „Kraft dieses Utopiebuchs“ sehr deutlich „vermittelts eines geschichtlich-teleologischen Hintergrunds“18 bestimmt und zudem betont: „die Seele, der Messias, die Apokalypse sind das Apriori

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Ebd., S. 176. Ernst Bloch: Geist der Utopie [Faksimile der Ausgabe von 1918]. In: ders.: Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 16. Frankfurt a. M. 1977, S. 340. Vgl. Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein, S.  258. Palmier geht noch einen Schritt weiter und sieht eine Gemeinsamkeit in einigen „fast identische[n] philosophische[n] Kategorien (so das Motiv der Antizipation bei Bloch und die Kategorie der ‚Jetztzeit‘ bei Benjamin, des ‚Ursprungs‘ und der ‚Genese‘, des ‚Dunkels des gelebten Augenblicks‘ und des dunkel geahnten Neuen).“ (ebd., S. 256) Anders als Blochs „Verneinung des Kantischen Kritizismus“ (ebd., 261) geht es Benjamin aber, wie wir schon an mehreren Stellen gesehen haben, um eine kritische Aktualisierung der Kantischen Erkenntnistheorie. Hier wird sich später noch ein entscheidender Vergleichspunkt mit der ebenfalls über den Rekurs auf Kant verlaufenden Kritik Friedlaenders an Bloch ergeben. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 433.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘

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aller Politik und Kultur.“19 Wie ist dann aber die Anmerkung über die Absage an eine politische Bedeutung der Theokratie im Theologisch-politischen Fragment gemeint? In diesem Zusammenhang war es Gershom Scholem, der zuerst grundlegende Vorbehalte gegenüber Blochs Buch in der brieflichen Korrespondenz mit Benjamin angemeldet hatte und vor allem die „Ausstrahlungen der zentralen Christologie, die uns dort untergeschoben wird“20 kritisierte. Vor allem aus philologischer Sicht bemängelt Scholem den Umgang mit jüdischen Quellen, die Bloch in unangemessener Weise vermische und als Zeugen für seine geschichtsphilosophische Konstruktion aufrufe. Scholem wirft Bloch eine „Grenzüberschreitung“21 zwischen dem politischen Impuls der Arbeit und den damit verwobenen „jüdische[n] Kategorien“22 vor. Was Scholem hier besonders bemängelt leitet auch Friedlaenders Kritik-Impuls in seiner Rezension des Buchs: Der philosophisch-theologische Synkretismus aus christlicher Eschatologie, jüdischem Messianismus und nietzscheanischem Dionysismus. Benjamin antwortet Scholem kurze Zeit später: „Ich bin völlig mit Ihrer Kritik über das Kapitel ‚Die Juden‘ [aus Blochs Geist der Utopie, K.D.] einverstanden.“ (Br II, 75). Was Scholem also als das „höchst Bedenkliche wahrgenommen zu haben glaube“23 wird offensichtlich von Benjamin als wesentlicher Kritikpunkt anerkannt. Die Vermutung, dass es sich im Theologisch-politischen Fragment daher um eine zumindest ambivalente, doppeldeutige Referenz auf Blochs Buch handelt, wurde dann in der Forschung auch bereits an mehreren Stellen betont. Uwe Steiner geht davon aus, dass Benjamins Referenz „weniger als Befund, denn als Mahnung zu verstehen“24 sei. Auch Wohlfarth versteht die Passage so, dass Benjamins Fragment sich von Blochs Buch genau im „selben 19

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Ebd. Klaus Vondung hat den „Geist der Utopie“ sogar als „Leitsymbol“ des expres­ sionistischen Denkens der Apokalypse beschrieben, wobei der Schwerpunkt vor allem in den expressionistischen Zirkeln auf der Idee einer Politik des Geistigen gelegen habe, die Bloch – trotzt aller sonstigen Unterschiede – etwa mit Gustav Landauers mystischem Anarchismus und Kurt Hillers Logokratie teilte. (Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988, S. 227) Paradigmatisch sei hier Kurt Hillers Vorstellung vom „geistigen Arbeiter“ gewesen. Die „Geist-Utopisten“ (ebd., S.  229) gingen nicht von Marx’ materialistisch-ökonomischer Analyse aus, sondern von einem apokalyptischen Denken, das vom Geist bestimmt wird. Benjamin lehnt dieses Politikverständnis grundsätzlich ab und schreibt einen „Aufsatz mit dem anmutigen Titel ‚Es gibt keine geistigen Arbeiter‘“ (Br II, 76), der auch als verloren gelten muss. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 114. Ebd., S. 113. Ebd., S. 114. Ebd., S. 113. Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 52.

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Kapitel 7

Absatz, in dem es sich mit ihm solidarisiert“25, grundsätzlich absetzt. Ähnlich argumentiert auch Elke Dubbels, wenn sie in der Referenz jene „‚esoterisch tadelnd[e]‘ Spitze“26 realisiert sieht, die Benjamin für seine Bloch-Rezension vorgesehen hatte.27 Damit lässt sich die Bloch-Referenz aber genauso gut als Ausdruck jener grundsätzlichen Differenz deuten, die Benjamin im bereits zitierten Brief an Schoen unmittelbar im Anschluss an die Betonung der verbindenden Neigung zu den zentralen Gedanken Blochs formuliert hat: Dass seine eigene „Idee der Philosophie“ derjenigen Blochs „diametral entgegengesetzt“ (Br II, 73) sei.28 Wo also nun letztlich die ‚verbindende Neigung‘ endet und der ‚diametrale Gegensatz‘ zu Bloch einsetzt, bleibt uneindeutig und die dargelegte Ambivalenz in der Frage, ob Bloch nun die Trennung von Profanem und Messianischem tatsächlich bereits antizipiert hat, lässt sich allein vom ersten Abschnitt des Theologisch-politischen Fragments und der kurzen BlochReferenz kaum weiter auflösen. Benjamin wird im Laufe des Textes auch nicht nochmals darauf zurückkommen. Bei genauerer Betrachtung lässt sich aus dem Argumentationsverlauf des zweiten und dritten Abschnitts des Fragments aber dennoch implizit eine kritische Auseinandersetzung mit Bloch unter zwei Gesichtspunkten herauslesen, die erstens die Differenzen in den Ausrichtungen der Politik auf den Geist (Bloch) bzw. den Leib (Benjamin) und zweitens die unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grundprämissen betreffen, wobei sich der zweite Aspekt dann genauer besehen als eine erkenntniskritische Positionierung gegenüber Blochs Figur eines ‚utopischapokalyptischen Dritten‘ spezifizieren lassen wird. Anhand dieser Gesichtspunkte lassen sich zudem sehr genau Verbindungen zwischen Benjamins und Friedlaenders Kritik an Bloch feststellen. Deutlicher als im ersten Abschnitt wird Benjamins Distanz gegenüber Bloch gleich zu Beginn des zweiten Abschnittes des Theologisch-politischen Fragments, den Benjamin mit dem in Opposition zu einer theokratischen Politik stehenden Satz einleitet: „Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks.“ (WB II.1, 203) Vergleicht man diesen Satz 25 26 27 28

Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 166. Elke Dubbels: Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologischpolitischem Fragment‘. In: Daniel Weidner (Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin 2010, S. 39-65, hier: S. 57. Gegenüber Ernst Schoen erklärt Benjamin, dass er in der Rezension des Buches „höchst ausführlich, höchst akademisch, höchst entschieden lobend, höchst esotherisch tadelnd“ (Br II, 72) vorgehen wolle. Wenn Benjamin in einem späteren Brief betont, dass in den Diskussionen mit Bloch über dessen neueren Publikationen bedauerlicherweise „gar keine Spannungen mehr aufkommen können“ (Br II, 226), dann lässt sich implizit herauslesen, dass das Produktive in den Debatten mit Bloch ohnehin vor allem aus solchen „Spannungen“ resultierte.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘

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mit Benjamins in dieselbe Zeit fallenden Aufzeichnungen Schemata zum psychophysischen Problem, wird deutlich, dass das Glück eine Kategorie des Leibes ist. In diesen Schemata hat Benjamin unter dem „Terminus ‚Gestalt‘“ (WB VI, 78) das „polare[…] Verhältnis“ (ebd.) von Geist und Leib beschrieben und festgehalten: „Geistleiblich ist in jedem Stadium ihres Daseins die Gestalt des Geschichtlichen, Geistleiblichkeit also irgendwie die Kategorie ihres ‚Nu‘, ihrer augenblicklichen Erscheinung als vergänglich-unvergänglicher.“ (ebd.) Im Gegensatz zum Körper, der als Substanz in Zusammenhang mit Gott steht, ist der Leib eine funktionale Kategorie des Historischen und gehört damit nicht zu Gott, sondern zur Menschheit: „Der Leib, die Funktion der geschichtlichen Gegenwart im Menschen, wächst zum Leibe der Menschheit.“ (ebd., 80) Anschließend richtet Benjamin dieses „Leben des Leibes der Menschheit“ (ebd.) dann auf das „Glück“ (ebd.) aus.29 An dieser für Benjamin einschlägigen Verbindung von Leib, Glück und profaner Ordnung lässt sich ein erster deutlicher Gegensatz zu Blochs Geist der Utopie anzeigen. Denn Blochs am seelischen Haushalt orientierter Utopie des „eschatologischen Seelengrundes“30 und der Ausrichtung „auf das Innere und unbekannte sich Vernehmen hinter der Welt“31 steht bei Benjamin eine am Leib orientierte Vorstellung der innergeschichtlichen Handlungslogik entgegen. Wo Benjamin das psychophysische Problem um polare Spannungsfelder (ingenium und Leib, Geist und Sexualität, Funktion und Substanz) herum ausbreitet, verabschiedet Bloch den „psychophysischen[n] Parallelismus“ als „eine bloße, von außen herangetragene Arbeitshypothese der Psychiatrie“, wogegen nur „die Seele besteht, sie ist phänomenologisch selbständig gegeben“.32 Damit ist auch das psychophysische Problem für Bloch gelöst: „[…] und mit dem Wissen um die letzthinige Unabhängigkeit der Seele vom Leib ist auch zugleich ihre körperliche Unzerstörbarkeit einleuchtend gesichert.“33 Benjamin hat 29

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Wenn Benjamin dann weiter betont, dass „[die] leibliche Natur […] ihrer Auflösung entgegen[geht]“ (ebd.), stellt sich ein unmittelbarer Bezug zur „Idee des Glücks“ her. Denn im Fragment heißt es später, dass im „Glück […] alles Irdische seinen Untergang [erstrebt]“ (WB II.1, 204). Wie dieser Untergang mit dem Glück zusammenhängt und wie sich darüber doch noch ein Bezug zum Messianischen im Fragment herstellt, wird später noch zu klären sein. Ebd., S. 227. Ebd. Bloch betont weiter: „Die Seele weint in uns und seht sich hinüber, setzt Gott und den Traum“ (ebd.). Dabei ist dann die Kunst der Ort, an dem dieses ‚Sehnen‘ vorweggenommen wird. Als Auseinandersetzung zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Ästhetik-Konzepten schreibt Benjamin diese Debatte auch in den dritten Teil seiner ‚Politik-Schrift‘ ein. Vgl. hierzu Kap. 9.4. Ebd., S. 416. Ebd.

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hingegen bereits um 1918 in einer Aufzeichnung mit dem Titel Psychologie betont, dass „es keine seelische Verhaltungsweise im Sinne irgend einer von Grund aus von leiblicher wesensverschiedenen [gibt]“ (WB VI, 65). Es gebe, so Benjamin weiter, „nichts ‚Innerliches‘“ (ebd.), das sich nicht auch am Leibe manifestiert. Vermittelt über die „Idee des Glücks“ erhalten die wahrnehmungstheoretischen Fragestellungen um das Verhältnis von Leib und Seele im Theologisch-politischen Fragment eine politische Dimension: Nur entlang des in der Geschichte stehenden und daher wahrnehmbaren Leibes lässt sich eine profane Ordnung am Glück ausrichten.34 An Blochs pathetisch vorgetragener „Metaphysik der Innerlichkeit“ (F/M 3, 609)35 entzündet sich dann auch Friedlaenders Kritik, so dass sich anhand der vergleichbaren Ausrichtung innerweltlichen Handelns auf den Leib eine erste entscheidende intertextuelle Korrespondenz zwischen Benjamin und Friedlaender registrieren lässt. „Und warum so fürchterlich ernst, würdevoll und feierlich düster?“ (ebd., 617), fragt Friedlaender in seiner Rezension. Friedlaenders Kritik an Bloch ist sicherlich nicht deckungsgleich mit derjenigen Benjamins. Allerdings steht zu vermuten, dass Benjamins Interesse an Friedlaenders Bloch-Rezension allein schon aus der Tatsache resultiert, hier eine um ein Vielfaches schärfere und schonungslosere Kritik formuliert zu finden, die er selbst – vornehmlich aus Rücksicht vor der persönlichen Beziehung zu Bloch – so nicht hätte formulieren können.36 Diese kritische Stoßrichtung von Friedlaenders Kritik dokumentiert sich bereits am Motto aus Nietzsches Zarathustra, das er der Rezension voranstellt. Es handelt sich dabei um eine Passage aus Zarathustras Rede Von den Abtrünnigen, die von denjenigen handelt, die „wieder fromm

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Ähnlich hat das bereits Uwe Steiner gezeigt, indem er Benjamins frühe Arbeiten zum Politischen und damit auch das Theologisch-politische Fragment „um eine eigentümliche Metaphysik des Leibes und der Technik zentriert“ sieht. (Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S.  48) Zu Benjamins auf den Leib konzentrierte Vorstellung von Politik führt Steiner weiter aus: „Als eine profane Ordnung ist das Politische auf das Glück als sein Telos ausgerichtet. In der metaphysischen Umdeutung des ursprünglich wahrnehmungspsychologisch hergeleiteten Begriffs des Leibes zeichnen sich in seinen Überlegungen die Umrisse eines kollektiven Subjekts ab, das diesem Glücksstreben zugeordnet ist und das in der Technik über ein Mittel verfügt, unter Einbeziehung der Natur seiner Bestimmung näher zu kommen.“ (ebd., 64). Vgl. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 233. Anson Rabinbach spricht beispielsweise von „Friedländer’s scathing sarcasm“ (Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S.  56). Rabinbachs unmittelbar darauffolgende Charakterisierung Friedlaenders als „an extraordinary figure on the fringes of the Oskar Goldberg circle of modern Jewish ‚Kabbalists‘“ (ebd.) ist allerdings schlichtweg unzutreffend.

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geworden“37 sind. Damit stellt Friedlaender Blochs Geist der Utopie von vornherein unter den Verdacht einer anachronistischen Denkhaltung, da das Buch, mit Zarathustra gesprochen, „alte Sachen aufzuwecken“38 trachtet. Die Götter sind schon tot, Rückkehr ist keine Option. Dieser Verdacht wird von Friedlaender dort am schärfsten und unnachgiebigsten – Benjamin hat von der „große[n] Strenge“ (Br II, 109) des Urteils gesprochen – vorgetragen, wo er auf Blochs „Welt- und Leibverneinung“ (F/M 3, 618) und auf die Idee von der „Erlösung […] vom Leib“39 zu sprechen kommt. „Ja ja, der böse Leib!“ (ebd., 609), kommentiert Friedlaender den Rückzug „aus der verruchten Natur in sein gotisches Wärmestübchen, will sagen in die Seele retour; man macht in lauter ‚Selbstbegegnung‘.“ (ebd.) Vor dem Hintergrund des Publikationsortes von Friedlaenders Rezension hat der Rekurs auf Nietzsche auch eine diskursstrategische Funktion. Als Beitrag in Kurt Hillers Ziel-Jahrbuch ist die Rezension als Intervention in die von Friedlaender selbst maßgeblich geprägten expressionistische Nietzsche-Rezeption angelegt.40 37 38 39 40

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 227. Ebd., S. 229. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 233. Vgl. zu Friedlaenders Nietzsche-Rezeption auch Kap. 3.2. Uwe Steiner hat bereits anhand von Friedlaenders kritischen Bezug auf Nietzsches dionysische Philosophie sehr plausibel nachgewiesen, dass diese Nietzsche-Referenz nicht notwendigerweise ein Hindernis für Benjamins Friedlaender-Rezeption darstellt. Immerhin ließe sich kritisch einwenden, dass Benjamins „Definition von Politik: die Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit“ (WB VI, 99) explizit gegen Nietzsches ‚Übermenschen‘ gelesen werden müsse, wodurch der Bezug auf Friedlaenders ‚dionysisch-glücklichen Leib‘ wiederum auf den ersten Blick suspekt wirkt. Steiner macht zurecht deutlich, dass Friedlaender sich aber gerade explizit gegen die Idee des ‚Übermenschen‘ richtet, weil seine eigene Idee der ‚schöpferischen Indifferenz‘ keiner empirischen Person eignet und „kein Mensch, auch kein großer Mensch, kein ‚Genie‘, […] gar nichts Objektives“ sei, sondern nur der „schöpferisch Unterscheidende (F/M 10, 107), der selbst „nichts Demonstrables“ (ebd. 106) an sich hat. (vgl. auch Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 68f.) Man könnte sagen, dass für Friedlaender die Figur Dionysos jenen Bereich innerweltlichen Handelns absteckt, den Benjamin mit der emphatischen Doppelbezeichnung „profane Ordnung des Profanen“ (WB II.1, 204) belegt. Nebenbei sei hier bemerkt, dass die Bloch-Rezension auch im Rahmen Friedlaenders Werk eine außerordentliche Stellung einnimmt. Vergleicht man nämlich die Bloch-Kritik mit anderen Rezensionen Friedlaenders, scheint allein der außerordentliche Umfang der Rezension drauf hinzuweisen, dass die kritische Auseinandersetzung mit Bloch auch für Friedlaender selbst von einiger Bedeutung war, um die eigene Diskursposition innerhalb der avantgardistischen Debatten um 1918 zu profilieren. Friedlaender hat sich intensiv mit Blochs Buch auseinandergesetzt, was sich allein daran zeigt, dass sich die von ihm zitierten Bloch-Stellen auf beinahe dreiviertel des umfangreichen Buches erstrecken.

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Kapitel 7

Während Bloch „nach dem jüngsten Gerichte und dem Zusammenbruche des physischen Welt [lechzt]“ (ebd.), setzt Friedlaender gegen diesen „modernen Schwärmer“ (ebd.) des Jenseits das „dionysische[…] Ideal des Leibes“ (ebd.) als Agent eines ‚glücklichen Lebens‘ (vgl. ebd. 619), das auf das Diesseits ausgerichtet ist. Auch Benjamin konzentriert im Fragment die profane Ordnung ausschließlich auf das immanente „Glück“ (WB II.1, 204). Friedlaender kommt in diesem Zusammenhang auch auf den expressionistischen Ausdruck des Buches zu sprechen: „Das ist der Ton, der die Musik dieses Buches macht, und dieser Ton ist bis zur Abgeschmacktheit und Absurdität christlich, unzarathustrisch, undionysisch.“ (ebd., 612)41 Denn Bloch bringe zwar einerseits immer wieder Dionysos für sich in Anschlag, mache aus ihm allerding einen „luziferische[n] Jesus“ (ebd., 611). Friedlaender hält dagegen, dass Dionysos etwas ganz anderes sei und sein „Atheismus durchaus kein Umweg zur Apokalypse“ (ebd.) darstelle. Und so schlägt Friedlaender Bloch abschließend direkt einen anderen Weg vor: „Sie schlagen auf rechtem Weg die falsche Richtung ein: es geht aus dem Nichts in die Welt, nicht aus der Welt ins Jenseits. Lassen Sie die Priesterei! Werden Sie nüchtern und profan! […] Schreiben Sie sofort Ihren Anti-Bloch!“ (F/M 3, 621)

In dieser Aufforderung zum Profan-Werden hat Uwe Steiner das „entscheidende Stichwort“42 für die Reflexionen über eine profane statt theokratische Ordnung des Profanen im Theologisch-politischen Fragment gesehen und damit als Erster einen konkreten Einfluss Friedlaenders benannt.43 In vergleichbarer Weise machen Benjamin und Friedlaender den Leib zum Schauplatz der Geschichte, der Politik und des innerweltlichen Handelns und richten ihn auf die Kategorie innerweltlichen Glücks aus. Steiners ‚Stichwort‘These ist auch insofern besonders beachtenswert, als dann die nach wie vor ungeklärte Entstehungszeit des Fragmentes auf die Zeit nach der Veröffentlichung der Rezension Friedlaenders in Kurt Hillers viertem Ziel-Jahrbuch Ende 1920 datiert werden müsste. Neben Benjamins brieflich erklärter Absicht, 41

42 43

An anderer Stelle spricht Friedlaender auch von dem „pfäffisch-geistlich-apokalyptische[n] Stimmklang“ (F/M 3, 613). Auf die zentralen Kapitel über die Musik in Blochs Geist der Utopie geht Friedlaender nur ganz am Rande und indirekt ein. Wenn in den Kapiteln 8 und 9 Benjamins Scheerbart-Texte näher an das Fragment herangerückt werden, lässt sich zeigen, wie sich diese Kritik am apokalyptischen Ton zu einer Kritik an Blochs Ästhetik erweitert. Uwe Steiner: Walter Benjamin. Stuttgart 2004, S. 75. Steiner schlüsselt das Theologisch-Politischen Fragment präzise „von den „unterschiedliche[n] Einflüsse[n]“ auf, „die sich in der frühexpressionistischen Nietzsche-Rezeption“ (Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 48) bündeln.

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Friedlaenders Rezension in den dritten Teil der Politik-Schrift einzubeziehen, wäre also mit einer solchen späteren Datierung auch eine Einbeziehung der Rezension im Theologisch-politischen Fragment denkbar.44 Das wirft dann aber die Frage auf, ob sich über die bemerkenswerte aber dennoch eher äußerliche Vergleichbarkeit in der Ausrichtung an dem Leib hinaus ein intertextueller Resonanzraum zwischen Benjamin und Friedlaender ausweisen lässt, der weitere Aufschlüsse sowohl für das Theologisch-politische Fragment im Allgemeinen als auch für die kritische Auseinandersetzung mit Bloch im Besonderen erlaubt? Da Friedlaender nach Steiners Lesart aber „kein genuin politisches, sondern erklärtermaßen ein umfassend metaphysisches Anliegen“45 verfolge, scheint sich bei ihm die Bedeutung in der Rolle des Stichwortgebers zu erschöpfen. Für Steiner lässt sich die Bedeutung Friedlaenders für Benjamins politische Arbeiten daher auch eher indirekt über Erich Ungers emphatische Bezugnahme auf Friedlaender nachweisen. In Hinblick auf Benjamins Überlegung zur Ordnung des Profanen verfolgt Steiner die sich im Rahmen des psychophysischen Problems abzeichnenden „Umrisse eines kollektiven Subjekts“46 bzw. einer „kollektive[n] Physis“47. Zweifelsohne bildet der kontinuierliche Versuch, das Kollektive in unterschiedlichen erkenntnistheoretischen, ästhetischen und politischen Facetten herauszuarbeiten, einen der entscheidendsten Aspekte in Benjamins politischem Denken und wird in Bezug auf Benjamins Scheerbart-Lektüre auch noch eine zentrale Rolle spielen.48 Steiner ist weiterhin zuzustimmen, dass der Verweis auf Erich 44

45 46 47 48

Für diese spätere Datierung gibt es weitere begründete Vorschläge: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser weisen darauf hin, dass sich das Schema III Leib und Körper aus Benjamins Aufzeichnungen zum psychophysischen Problem, die erst 1922/23 entstanden sind, „wie eine bedeutende Variante“ (WB VI, 678) des Theologisch-politischen Fragments liest. Hamacher nimmt diese Anmerkung auf und betont, dass dadurch „die Vermutung naheliegt, das Theologisch-politische Fragment sei gleichfalls 1922 oder 1923 notiert worden, später also als Scholem und als zunächst die Herausgeber der Gesammelten Schriften angenommen haben.“ (Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 175). Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 70. Ebd., S. 64. Ebd., S. 85. Diese ‚Kontinuitätslinie‘ zieht sich durch Benjamins Werk von den Überlegungen zu den „reine[n] Mittel[n] der Übereinkunft“ (WB II.1, 191) für eine „Technik ziviler Übereinkunft“ (ebd., 192) aus Zur Kritik der Gewalt über den Versuch einer aus Prousts Erinnerungskonzept heraus entwickelten kollektiven mémoire involontaire und der Frage einer Theorie des „Aufwachen[s]“ (WB V.2, 1249) „aus den verdrängten ökonomischen Bewußtseinsinhalten eines Kollektivs“ (ebd., 669) im ‚Passagen-Werk‘ bis hin zur Forderung nach der „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“ (WB I.2, 697) in den geschichtsphilosophischen Thesen.

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Kapitel 7

Ungers Werk Politik und Metaphysik hinsichtlich des Denkens des Kollektiven in den frühen politischen Schriften Benjamins unstreitig bedeutsamer ist als die Subjektphilosophie Friedlaenders.49 Dass der intertextuelle Resonanzraum zwischen den im Theologisch-politischen Fragment eingesetzten Motiven und Denkfiguren und Friedlaenders Bloch-Rezension dennoch über den Status des Stichwortgebens hinausragt, wird deutlich, wenn man die Auseinandersetzung zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch auf der Ebene der unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Grundprämissen weiterverfolgt.50 Dabei ergibt sich in der erkenntniskritischen Perspektive auf Blochs Geist der Utopie 49

50

Immerhin verweist Benjamin an zwei wichtigen Stellen in Zur Kritik der Gewalt direkt auf Ungers Schrift (vgl. WB II.1, 191 und 193). Allerdings gilt es zu betonen, dass Benjamin auch hier nicht unmittelbar auf die Frage kollektiver Subjekte zielt, sondern allererst die Möglichkeiten einer „auf reine Mittel der Politik“ basierenden kollektiven Übereinkunft, die sich dem jeder rechtsetzenden und rechtserhaltenden zugrundeliegenden mythischen Gewaltzusammenhang zu entziehen vermag, mittels „Analogon“ (ebd., 193) zu konkreten zwischenmenschlichen Beziehungen befragt. Eindeutiger wird der über Ungers Schrift laufende Kollektivbezug erst in Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion, in dem er am Ende des Textes stichwortartig notiert: „Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung Unger“ (WB VI, 102). Hier liegt der Kollektivgedanke direkt zugrunde, denn Benjamin verweist auf eine Stelle in Ungers Schrift, in der betont wird, dass nur durch einen tatsächlichen Austritt aus der kapitalistischen Ordnung, d.h. durch ein „räumliche[s] Verlassen der kapitalistischen Herrschaftsgebiete“ (Erich Unger: Politik und Metaphysik [1921], hg. v. Manfred Voigts. Würzburg 1989, S. 48) die Möglichkeit „neuer d. i. wirklicherer Einheiten“ (ebd., S. 46) entstehen könne. Denn die Wirkkraft der kapitalistischen Logik bestehe gerade darin, innerhalb ihres Geltungsbereiches auch „jeden Einwand gegen sich“ (ebd., S. 48) einzubeziehen und kapitalistisch zu verwerten. Manfred Voigts wiederum erkennt Parallelen zwischen Benjamin und Unger bis in die geschichtsphilosophischen Thesen hinein, in dem dort „das Offenbarungs-Judentum […] durch das Messianismus-Judentum“ verdrängt worden sei und dabei „die Herkunft der Vorstellung von der Unterbrechung, Aufbrechung des Zeit-Kontinuums […] auch auf Ungers Vorstellung vom höchsten Leben, das in jedem Augenblick prinzipiell verschiedene, durch kein Kontinuum verbundene Möglichkeiten der Lebendigkeit realisiert“ zurückgehe. (Manfred Voigts, Walter Benjamin und Erich Unger, S. 851). Damit argumentiert die Arbeit letztlich keineswegs gegen Steiners Lesart und die Bedeutung des kollektiven Subjekts in Benjamins Begriff des Politischen, sondern versteht sich als Ergänzung des von Steiner bereits ausgebreiteten Rezeptions- und Produktionskontextes, indem sie die Perspektive auf Benjamins Kritik verlagert. Die bewusst etwas überspannte Differenzmarkierung dient daher auch eher einem heuristischen Zweck: Es gilt nachfolgend zu zeigen, dass mehrere Debattenkontexte in das Fragment eingelagert sind. Daher sei auch nochmals nachdrücklich betont, dass mit den Anmerkungen zur Differenz zwischen Kollektivgedanke (Unger) und Subjektphilosophie (Friedlaender) kein politischer, weltanschaulicher Gegensatz hergestellt werden soll. Unger bezieht sich in mehreren Rezensionen emphatisch auf Friedlaenders Polaritätsphilosophie. Zudem lernt Benjamin Friedlaender im Rahmen einer Vorlesung Ungers kennen; es bestehen also auch persönliche Bekanntschaften.

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zudem ein zweiter Vergleichspunkt zwischen Benjamin und Friedlaender, von dem aus deutlich wird, warum Benjamin von einem ‚diametralen Gegensatz‘ zu Bloch hinsichtlich der unterschiedlichen „Idee[n] der Philosophie“ spricht. Benjamins erkenntnistheoretischer Kritikimpuls gegenüber Bloch kündigt sich bereits ziemlich offensichtlich in seinem Antwortschreiben an Scholem an, wurde aber bisher kaum auf die Argumentationsfiguren im Theologischpolitischen Fragment bezogen. Wie bereits oben angeführt, zeigt sich Benjamin auf der einen Seite grundsätzlich mit Scholems Kritik an der Vermischung von jüdischen und christlichen Kategorien einverstanden. Auf der anderen Seite gilt es an dieser Stelle aber auch zu berücksichtigen, dass er gegenüber Scholem im gleichen Atemzug einräumt, ihm fehle das Wissen über die jüdischen Quellen, um hier seine eigene Position markieren zu können. Außerdem, so Benjamin weiter, könne sich seine eigene „radikale Ablehnung dieser Gedanken“ (Br II, 75) ohnehin weder allein durch eine philologische Quellenkritik noch durch eine ausschließlich ‚jüdische Perspektive‘, wie sie Scholem einnimmt, erledigt haben. Hier schlägt die vorliegende Arbeit einen Perspektivwechsel in Bezug auf den Fokus von Benjamins Bloch-Kritik vor, den Benjamin selbst nahelegt, verschiebt doch Benjamin selbst schon den Fokus seiner kritischen Stellungnahme ausdrücklich auf „das Wesentliche: neben einer Auseinandersetzung mit seiner undiscutierbaren Christologie verlangt das Buch eine über seine Erkenntnistheorie.“ (ebd.) Diese Auseinandersetzung scheint Benjamin zumindest teilweise für seine Rezension von Blochs Buch vorgesehen zu haben. Denn er betont, dass seine Rezension zunächst ein Referat der Grundgedanken von Blochs Buch beinhaltet, bevor die „neun Zeilen des Schlusses“ dann eine „Ablehnung des Buches in seinen Erkenntnisprämissen“ (ebd.) formulieren. Zudem deutet er an, dass erst in dieser Erkenntniskritik deutlich werde, inwiefern „mein philosophisches Denken […] mit diesem nichts gemein“ (ebd.) habe. Diese erkenntnistheoretische Debatte ist besonders hervorzuheben, weil Bloch in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen zum „Eingeden­ken“51 eine Perspektive im Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Messianismus entwickelt, die zumindest in Bezug auf Benjamins späteren geschichtsphilosophischen Arbeiten die größte Nähe aufweisen. Bei Bloch heißt es: „Was niemals vergehen konnte, muß zerschlagen werden, was niemals ganz zu sich kam, muß gelöst und das nie ganz Geschehene in neuen Atemzügen vollendet werden. Freilich scheint das Vergangene fest geworden, eingeschlafen zu sein, da es sich, je länger wir daraus herausgetreten sind, mit zunehmendem Dunkel bedeckt. Aber das alles kann wieder erwachen […]. […] Es besitzt als 51

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 333.

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Kapitel 7 Vergehendes trotz der scheinbaren Fixierung zur Vergangenheit noch ein Heimliches, ein Element des Zukünftigen […]. […] Dieses weiter zu treiben, das Pochende, Unterdrückte, Zukünftige, das nicht werden konnte in all dem zähen Teig des Gewordenen, es reumütig zu lockern, in immer noch lebendiger, besserwissender Mitverantwortlichkeit, es vor allem auch wertgemäß zu beziehen, zu erleichtern und einzuschließen, ist die denkerische, geschichtsphilosophische Arbeit.“52

In der Zeit der ersten kritischen Auseinandersetzung mit Blochs Buch ist Benjamin, wie bereits in den Vorüberlegungen zur Untersuchung dargestellt, selbst gerade erst an den Anfängen der Entwicklung einer eigenen geschichtsphilosophischen Perspektive, die er insbesondere in dem Versuch einer historischen Umformulierung von Kants Erfahrungsbegriff erprobt. Die von Bloch eingesetzten Motive des Unabgegoltenen, Unterdrückten der Vergangenheit finden eine offensichtliche Entsprechung in den geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins. Dieser Vergleich ist für die erkenntnistheoretischen Debatten zu Beginn der 1920er Jahre allerdings wenig aufschlussreich. Ohnehin legt Benjamin in Bezug auf Blochs Erkenntnistheorie den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit hier noch viel stärker auf die dem „Eingedenken“ zugrundeliegende Vorstellung einer „spezifischen Selbstbegegnung“53, die als kommendes Ereignis mit der Vorstellung von einem apokalyptisch-utopischen „Dritten über Jude und Christ“54 zusammenhängt: „Nur dieser denkende Wunschtraum schafft Wirkliches, tief in sich hineinhörend, bis der Blick gelungen ist: in die Seele, in das dritte Reich nach Stern und Götterhimmel […].“55 Benjamins erkenntnistheoretischer Kritikimpuls richtet sich vor allem auf diese Verschränkung von „Ichbegegnung“ und Erlösungsgedanken. Benjamin macht das Problematische dieser Utopie dabei insbesondere an dem expressionistischen Ausdrucksgestus des Buches fest, wodurch „der Gehalt vom Bedürfnis sich auszusprechen überall getrübt“ (ebd., 73) werde. Dass sich an der Betonung dieser ‚Trübung‘ nicht bloß eine formale Stilkritik dokumentiert, sondern vielmehr auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen als solche zurückweisen, wird auch deutlich, wenn man die strukturell ähnliche Kritik in Friedlaenders Bloch-Kritik berücksichtigt. Denn auch Friedlaender kritisiert in seiner Rezension das „apokalyptische[…], schwärmerische[…], bunte[…] Kirchenfensterdeutsch des Buches“ und den „aus Bibel, Kierkegaard, Jena Paul 52 53 54 55

Ebd., S. 335. Ebd., S. 337. Ebd., S. 329. Ebd., S. 341.

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gemischten Ausdruck“ (F/M 3, 611). Auf diese mit Benjamins Anmerkung zum getrübten Ausdruck des Buches vergleichbare Kritik am „gemischten Ausdruck“ kommt auch Friedlaender mehrmals zurück. Er zielt dabei auf den erkenntnistheoretischen Synkretismus des Buches: Durch die „vexierende[…] Interpretation“ (ebd., 613) und den „geschickte[n] Obskurantismus“ (F/M 3, 611) vermische Bloch auf der einen Seite religiöse und dionysische Motive miteinander, auf der anderen Seite sei dann aber ausschließlich die unabhängige Seele Garantie für das „große[…], letzte[…], sprunghafte[…] Ereignis“56. Diese Kritik spitzt zunächst erstmal den kritischen Einwand gegenüber der Vermischung unterschiedlicher christlicher und jüdischer Motive zu, den Scholem aus „orthodoxer“ Perspektive bereits formuliert hatte und den Benjamin teilte. Friedlaender geht aber einen Schritt weiter. Für Benjamins kritischen Fokus auf die Erkenntnisprämissen von Blochs Buch wird Friedlaenders Rezension über die allgemeine Kritik an der Vermischung hinaus dort besonders aufschlussreich, wo Friedlaender dem Geist der Utopie einen anderen erkenntnistheoretischen Zugang gegenüberstellt. Der intertextuelle Resonanzraum zwischen Benjamins und Friedlaender verläuft, so die These, nicht nur – wie bisher üblicherweise angenommen – über eine vergleichbare Kritik an Bloch, sondern auch über die Argumentationsstrategien und Denkfiguren, in denen ein erkenntnistheoretisches Gegenkonzept zu Blochs Buch zum Ausdruck gebracht wird. Friedlaenders Kritik am Geist der Utopie zielt dabei vor allem auf die Vermischung von immanenten und transzendenten Denkfiguren. Indem er Blochs Philosophie dabei zugleich die Vorstellung einer Polarität von Immanenz und Transzendenz gegenüberstellt, manifestiert sich diese Gegenperspektive bereits in der formalen Struktur der Rezension: Friedlaender zitiert Bloch ausführlich und konfrontiert jede Aussage sofort mit einer Gegenposition. Dadurch inszeniert Friedlaender seine Rezension selbst als ein polares Spannungsfeld unterschiedlicher Denk- und Schreibweisen.57 Wie bereits erwähnt stellt Nietzsche dabei die zentrale Referenz für eine am Leib orientierte Vorstellung innerweltlichen Handelns dar. Die Kritik an Blochs erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die, so Friedlaender, der ‚Leibverneinung‘ zugrunde liegen, ist dann wiederum stärker von einem 56 57

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 430. Friedlaenders bereits zitierte Aufforderung, Bloch möge doch sofort seinen „Anti-Bloch“ schreiben ist von hier aus besehen auch nicht als Forderung zu verstehen, die Aussagen aus dem Geist der Utopie einfach in ihr Gegenteil zu verkehren. Vielmehr ist es so gemeint, dass dem Buch schlichtweg der zweite Pol fehlt: Die Immanenz, die erst erlaubt, eine polare Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz aufzuspannen. Der „AntiBloch“ wäre also genaugenommen gar kein zweites Buch, sondern der zweite Pol im Buch selbst.

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Kapitel 7

Rekurs auf Kant getragen: Friedlaender setzt hier dem „heiligen Geist der Apokalypse“ (F/M 3, 609) und der durchgehenden affektpolitischen Codierung der Utopie durch ein „existentielle[s] Pathos“58 den „heilig nüchternen [Geist, K.D.] Kants“ (ebd.) entgegen. Worauf Friedlaender hier zielt, wird an einer Stelle in der Schöpferischen Indifferenz deutlich, an der Friedlaender einen ähnlichen Gedankengang verfolgt. Dort setzt er mit Kant eine „Grenze zwischen Diesseits und Jenseits“ (F/M 10, 382), auf die er gegen den von ihm kritisierten Synkretismus aus religiösen Jenseitsmotiven und atheistischer Immanenzrhetorik nachdrücklich insistiert. Indem Friedlaender dabei die Grenze als solche hervorhebt, adressiert er sie zugleich als ein „tertium“ (ebd.), das einen Bezug zwischen Diesseits und Jenseits gerade dadurch herzustellen versucht, dass es beide Seiten zugleich voneinander trennt und in ein polares Spannungsverhältnis setzt. Eine ähnliche Denkfigur wird uns weiter unten im Bild der gegenstrebigen Pfeilrichtungen begegnen, mit dem Benjamin im zweiten Abschnitt des Theologisch-politischen Fragments einen anderen als theokratischen Bezug zwischen Profanem und Messianischem erprobt. Friedlaenders „tertium“ lässt sich als Kritik an Blochs apokalyptischer Utopievorstellung lesen, die Friedlaender als „Köder des dritten Testaments“ (F/M 3, 611) bezeichnet bzw. als „etwas Drittes, das weder Kreuz noch Thyrsos sein soll“ (ebd., 608) und doch nur in den Schoß der alten Kirche zurückdeutet. Sowohl Friedlaenders scharfe Kritik an Blochs Vorstellung der apokalyptischen Offenbarung eines ‚Dritten‘ zwischen alter Religion und modernem Transzendenzverlust als auch sein Gegenkonzept des ‚Dritten‘ als reine Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz weisen eine bemerkenswerte sachliche Nähe zu der im zweiten und dritten Abschnitt des Theologisch-politischen Fragments wiederaufgegriffenen erkenntnistheoretischen Frage nach dem Verhältnis von Profanem und Messianischem auf. Im vergleichbaren Einsatz polarer Denkfiguren, so die These, spitzen sich Benjamins und Friedlaenders erkenntniskritische Positionen gegenüber Bloch zu und machen so einen intertextuel­ len Resonanzraum zwischen beiden sichtbar, der bis in die eingesetzten 58

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 368. Zu den affektpolitischen Implikationen von Blochs Geist der Utopie vgl. auch Ivan Boldyrev: Gemeinschaft des Wartens. Über das Politische in Blochs ‚Geist der Utopie‘. In: Hans-Ernst Schiller (Hg.): Staat und Politik bei Ernst Bloch. Baden-Baden 2016, S. 49-59. Diese an der Seele ausgerichtete Affektpolitik steht bei Bloch auch in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Sozial- und Zeitkritik. Denn gegen den Determinismus gesellschaftlicher Verhältnisse und „gegen das harte, sinnlose Muß des sozialen Schicksals“ (Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 428) beruft sich Bloch auch auf die Seele als Möglichkeit, von allen gesellschaftlichen Zwängen frei zu werden. Der „Aktionsradius“ (ebd.) des eigenen Inneren reiche dabei, so Bloch weiter, „apriorisch weiter […] als der Ort, den uns die jeweilige soziale Differenzierung angewiesen hat.“ (ebd.).

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Argumentations- und Denkfiguren hineinreicht. Damit zeichnet sich letztlich eine Konstellation zwischen den drei Texten ab, die sich als eine erkenntnistheoretische Debatte um die ‚Figur eines Dritten‘ rekonstruieren lässt und in deren Zentrum die kritische Auseinandersetzung um verschiedene Modi des Bezuges zwischen Politik und Theologie steht. Diese Debatte gilt es nachfolgende entlang des zweiten und dritten Abschnittes von Benjamins Fragment zu entfalten. 7.1

Kritik der Figur eines utopisch-apokalyptischen ‚Dritten‘: Die Denkfiguren der Polarität und Intensität in Benjamins ‚Fragment‘

In der Untersuchung des ersten Abschnitt des Theologisch-politischen Fragments konnte beobachtet werden, wie Benjamin dort sehr deutlich macht, dass die „historische[…] Dynamis“ (WB II.1, 203) sich nicht von sich aus auf die Ankunft des Messias beziehen kann, da ein solcher zweckrationaler Handlungsbezug mit seiner zugrundeliegenden Idee einer heiligen Ordnung des Profanen zu „(religiöse[r]) Idolatrie und (profane[r]) Ideologie“59 führe. Außerdem haben wir bereits feststellen können, dass sich am ersten Satz des zweiten Abschnittes auffällige intertextuelle Beziehungen zwischen Benjamin und Friedlaender sowohl in Bezug auf die Kritik an Blochs „Metaphysik der Innerlichkeit“ (F/M 3, 609) als auch in der vergleichbaren Ausrichtung des Profanen auf den Leib und das innerweltliche Glück ausweisen lassen. Nun ist für den weiteren Verlauf des Fragments aber entscheidend, dass mit dieser Ausrichtung auf das profane Glück offensichtlich die Frage nach einer möglichen Bezugsform zwischen Profanem und Messianischem nicht obsolet geworden ist. Im Gegenteil: Statt dieser profanen Ordnungslogik weiter nachzugehen und beispielsweise in Auseinandersetzung mit der aristotelischen Tradition der eudaimonia (εὐδαιμονία) als Voraussetzung eines guten und gelungenen Lebens zu konkretisieren,60 geht Benjamin im zweiten Abschnitt direkt über zu dem als „wesentliche[s] Lehrstück der Geschichtsphilosophie“ vorgestellten „Problem“ einer „mystischen Geschichtsauffassung“ (WB II.2, 203) und wirft erneut die Frage nach der „Beziehung dieser [profanen, K.D.] Ordnung auf das Messianische“ (ebd.) auf. Dass mit diesem geschichtsphilosophischen „Problem“ zugleich erkenntnistheoretische und politische 59 60

Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 164. „So nennen wir denn in einer Hinsicht gerecht, was das Glück und seine Teile für die staatliche Gemeinschaft schafft und erhält.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik [Griechisch/ Deutsch], übers. und hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart 2017, S. 237 (V,3 1129b18-20).

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Fragestellungen aufgerufen werden, ist über das Fragment hinaus einschlägig für die Argumentationslogik in Benjamins Schreibarbeit am Politischen und lässt sich auch in der zur gleichen Zeit projektierten ‚Politik-Schrift‘ nachweisen. So betont Benjamin beispielsweise in Zur Kritik der Gewalt, dass eine solche Kritik nicht in der Anwendung einer Rechtstheorie auf konkrete Rechtsfälle bestehen kann, sondern vielmehr eine erkenntniskritische Einstellung verlangt, die Unterscheidungen wie diejenige zwischen „sanktionierte[r] und nicht sanktionierte[r] Gewalt“ (ebd., 181) in einer „geschichtsphilosophische[n] Rechtsbetrachtung“ (ebd., 182) nach ihrem „Sinn“ (ebd., 181) befragt. In diesem Text bedeutet das, die Grundlagen des „Wesen[s] der Gewalt“ (ebd.) zu beurteilen, die der Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt vorausgehen. Erst in einer solchen Verknüpfung von geschichtsphilosophischer und erkenntnistheoretischer Perspektive sieht Benjamin „eine kritische, scheidende und entscheidende Einstellung auf ihre [der Geschichte der Gewalt, K.D.] zeitlichen Data ermöglicht“ (ebd., 202).61 Die geschichtsphilosophische Betrachtung von Unterscheidungsoperationen und die politische Kritik derselben setzen demnach die erkenntnistheoretische Analyse des unterscheidenden Grundes als solchem voraus. Eine ähnliche Argumentationslogik scheint auch dem Theologischpolitischen Fragment zugrunde zu liegen, da Benjamin auch dort die im zweiten Abschnitt eingeführte geschichtsphilosophische Problematik an die erkenntniskritische Perspektivierung der Unterscheidung von Profanem und Messianischem bindet. Dabei führt uns Benjamin dann zugleich eine Bezugsform zwischen Profanem und Messianischem „in einem Bilde“ (ebd.) vor, das vor dem Hintergrund des im ersten Abschnitt markierten „radikale[n] Bruch[s]“62 zwischen beiden Seiten weder eine zusammenhangslose Trennung versinnbildlicht noch in eine an Blochs Geist der Utopie kritisierten ‚Vermischung‘ profaner und religiöser Motive zurückfällt, sondern eine dritte Option über die Intensivierung der Beziehung profiliert. Um die damit zusammenhängenden erkenntnistheoretischen Debatten über die ‚Figur eines Dritten‘ in ihre einzelnen Momente entfalten zu können, gilt es zunächst einen genaueren Blick auf die Argumentation im zweiten und dritten Abschnitt des Theologischpolitischen Fragments zu werfen. Übersichtshalber seien dafür diese beiden Abschnitte hier zunächst en bloc wiedergegeben: 61

62

Erst über diese geschichtsphilosophische Reflexion stellt sich bei Benjamin dann auch eine politische Dimension der eigenen Kritikarbeit ein, die darin liegt, dass mit der Erkenntnis der Voraussetzung der Unterscheidungen die Fluchtlinie einer „Durchbrechung“ (WB II.1, 202) der zirkulären Struktur der Gewaltanwendung erkennbar wird. Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 164.

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„Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt. Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. Das Profane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine Kategorie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt. — Während freilich die unmittelbare messianische Intensität des Herzens, des innern einzelnen Menschen durch Unglück, im Sinne des Leidens hindurchgeht. Der geistlichen restitutio in integrum, welche in die Unsterblichkeit einführt, entspricht eine weltliche, die in die Ewigkeit eines Unterganges führt und der Rhythmus dieses ewig vergehenden, in seiner Totalität vergehenden, in seiner räumlichen, aber auch zeitlichen Totalität vergehenden Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Glück. Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis. Diese zu erstreben, auch für diejenigen Stufen des Menschen, welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Methode Nihilismus zu heißen hat.“ (WB II.1, 203f.)

Hinsichtlich der Argumentationsstrategien, Motivkomplex und Denkfiguren, die mit der im zweiten Abschnitt wiederaufgenommen Frage des Bezugs zwischen Profanem und Messianischem verknüpft sind, hat Irving Wohlfarth die entscheidende Frage gestellt: „In welchem geistes- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang stehen die disparaten Motive dieses zweiten Absatzes zueinander – Pfeilrichtung, restitutio in integrum, Glücksstreben der freien Menschheit, ewige Vergängnis, Untergang?“63 Im Zentrum dieser „disparaten Motive“ steht zweifelsohne das schwierige Bild von den zwei Pfeilrichtungen, die qua Gegenläufigkeit nicht nur aufeinander bezogen werden, sondern sich sogar befördern sollen. Dieses Bild hat die Forschung zu den unterschiedlichsten Deutungen herausgefordert.64 Werner Hamacher hat zurecht betont, 63 64

Ebd., S. 174. Jean-Michel Palmier etwa sieht das Pfeil-Bild in einer talmudischen Tradition verortet, die „den guten Taten das Vermögen zuerkennt, die Ankunft des Messias zu begünstigen, auch wenn keine wirkliche Kausalität besteht“. (Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin, S. 279) Elke Dubbels betont, dass Benjamins als „mystisch“ bezeichnete Geschichtsauffassung „ohne Parallele in der mystischen Tradition“ (Elke Dubbels, Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologisch-politischem Fragment‘, S. 55) sei und spricht stattdessen von „Benjamins paradoxer Kräftelehre“ (ebd., 53). Wohlfarths Deutung

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dass gar nicht so sehr das Bild als solches rätselhaft ist, sondern vielmehr die „damit verbundene[…] Versicherung, ‚die profane Ordnung des Profanen‘ vermöge ‚das Kommen des messianischen Reiches‘ so zu ‚befördern‘ wie eine Kraft eine entgegengesetzte andere.“65 Diese Frage, wie eine profane Ordnung gerade dadurch das Messianische befördern kann, dass es sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt, muss aber noch spezifiziert werden: Was heißt hier überhaupt „befördern“, wenn dieses Reich nicht zweckrational als Zielvorgabe innergeschichtlichen Handelns angesprochen wird? Im Verb ‚befördern‘ scheint Benjamin die im ersten Abschnitt bereits eingeführte „historische Dynamis“ erneut zu adressieren, wobei er die historische Bewegungslogik diesmal anders in den Blick nimmt. Denn wenn Benjamin die Frage des Bezugs zwischen Profanem und Messianischem erneut aufruft, um sie diesmal aus der Perspektive des Profanen zu stellen, wie Elke Dubbels in ihrer minutiösen Analyse der Textstruktur dargelegt hat,66 dann

65 66

wiederum rekurriert auf Goethes Gedicht Selige Sehnsucht aus dem West-östlichen Divan und sieht dabei den „Goethesche[n] Pantheismus im Theologisch-politischen Fragment einer heterodoxen Kabbala anverwandelt“. (Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 174f.) Weiter heißt es dort: „Dabei wird er [der Pantheismus,  K.D.] zugleich politisiert: Die ‚selige Sehnsucht‘ alles Lebendigen geht hier ins ‚Glücksstreben der freien Menschheit‘ über. Im Bild der Pfeile konvergieren nicht nur Mystik und Aufklärung, sondern auch Eros und Politik.“ (ebd., S. 175) Ungeachtet der besonderen Bedeutung, die das Gedicht für Benjamin hat und die sich etwa an der Diskussion um die Aufnahme von Florens Christian Rangs Aufsatz über das Gedicht in der geplanten Zeitschrift Angelus Novus dokumentiert (vgl. Br II, 200-203), stellt sich jedoch die Frage, ob der im Gedicht angelegte typische Goethesche Steigerungsgedanke („Auf zu höherer Begattung“) und die ebenfalls dort eingelagerte Idee der Metamorphose („Dieses: Stirb und werde!“, ebd.) tatsächlich dem gleichen Motivkomplex wie das nicht von einer Verwandlung, sondern von der Intensivierung der Gegenläufigkeit der Pfeilrichtungen her gedachte Bild im Fragment entspringen. (Johann Wolfgang v. Goethe: West-Östlicher Divan. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abt./Bd. 3/1: West-Östlicher Divan, Teil 1, hg. v. Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1994, S. 25; vgl. zur kritischen Diskussion des Goethe’schen Steigerungsgedankens auch das Kap.  4.3 und 4.4). Der Zusammenhang von Wandlung und Steigerung scheint indes auf den ersten Blick eine Linie zu Blochs „Stirb und Werde“ (Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 428) aufzutun. Zu Beginn des Unterkapitels Über Seelenwanderung schreibt Bloch: „Was wir sterben nennen, bedeutet, daß es uns erlaubt ist aufzusteigen.“ (ebd., 420) Andererseits muss auch konzediert werden, dass der hier angedeutete Zusammenhang von ‚Sterben und Werden‘ in eine nicht mehr mit Goethes Vorstellungen koinzidierende umfassende mystische Lehre von der Seelenwanderung übersetzt wird und dezidiert gegen „den Körper, den trüben Irrtum der Räume, der Materie und des bloß äußeren physischen Lichts“ (ebd., 425) gerichtet ist. Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S.  187. Auf Hamachers eigene Deutung des Bildes wird an späterer Stelle noch einzugehen sein. Anhand der Struktur und des Argumentationsverlaufes des Fragments erkennt Dubbels „verschiedene Figuren des Messianischen“ und „unterschiedliche Möglichkeiten […], wie Politik und Theologie ins Verhältnis gesetzt werden können“. (Elke Dubbels, Zur Logik

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steht nicht erneut die Vorstellung einer teleologischen Dynamik im Zentrum. Von einer erkenntniskritischen Perspektive aus scheint nun vielmehr die Dynamis des Historischen im Sinne eines inhärenten Vermögens (δύναμις) angesprochen zu sein. Was damit zur Disposition steht, ist die Frage nach der Möglichkeit eines nicht-zweckrational bestimmten Vermögens des Bezugs auf das Messianische. Dieses Vermögen wird uns weder als eine der konkreten Realisierung (ἐνέργεια) des Bezuges vorgelagerte reine Möglichkeit vorgestellt noch wird der Bezug positiv bestimmt, sondern explizit als das „Problem“ einer „mystischen Geschichtsauffassung“ eingeführt.67 In diesem „Problem“ ist die zentrale Fragestellung des Fragments eingelagert, die sich vor dem

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der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologisch-politischem Fragment‘, S. 41). Wenn Dubbels dann den drei Absätzen verschiedene „apokalyptische, mystische und profane Figuren des Messianischen“ (ebd.) zuordnet, wird eine sehr präzise Unterscheidung der unterschiedlichen Perspektiven im Fragment erkennbar, von denen aus Benjamin die Verhältnisbestimmung von Profanem und Messianischen diskutiert. Dabei sei, so Dubbels, der erste Abschnitt getragen von einer „Perspektive der Orthodoxie“ (ebd., S.43), die, wie bereits gesehen, eine klare Absage an die zwecklogische und geschichtsteleologische Beziehung der historischen Dynamis auf die Ankunft des Messias formuliert. Ob die Fluchtlinie des Fragments aber letztlich darin besteht, dass sich bei Benjamin „[i]n Bezugnahme auf und in Abgrenzung von Apokalyptik und Mystik […] eine profane Figur des Messianischen heraus[kristallisiert]“ (ebd., 41), wie Dubbels im weiteren Verlauf nachzuweisen versucht, wird noch kritisch zu hinterfragen sein. Nimmt man Dubbels Unterscheidung zwischen orthodoxer Perspektive (erster Abschnitt) und profaner Perspektive (zweiter und dritter Abschnitt) auf, ließe sich fragen, ob Benjamin Bloch – vor allem aufgrund dessen durchgehender Bezugnahme auf den modernen Atheismus und auf Nietzsches Dionysos – nicht doch zugestanden haben könnte, zumindest vor dem Hintergrund der im ersten Abschnitt eingenommenen theologischen bzw. jüdisch-messianischen Perspektive eine Absage an eine theokratische Politik erteilt zu haben. In diesem Falle müsste allerdings noch stärker zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt unterschieden werden. Denn dann ließe sich die These aufstellen, dass Benjamin Kritik an Bloch erst im zweiten Abschnitt des Fragments einsetzt. Wenn hier eine implizite Kritik an Bloch formuliert sein sollte, dann ist davon auszugehen, dass Benjamin Bloch nicht gleichermaßen zugestanden hat, auch aus politscher bzw. profaner Perspektive die politische Bedeutung der Theokratie geleugnet zu haben. Das hieße aber auch: Die Kritik an Bloch ist keine theologische Kritik (vor dem Hintergrund des ersten Abschnitts), sondern eine erkenntnistheoretische Kritik aus der Perspektive des Profanen, die erst im zweiten Abschnitt entwickelt wird. Zur Unterscheidung von dýnamis und enérgeia vgl. Aristoteles: Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz. Hamburg 62010, S.  233-236 [1046a-1046b]. Im neunten Buch seiner Metaphysik unterscheidet Aristoteles zwei ontologische Modi: das Vermögen (dýnamis) und den Akt der Realisierung (enérgeia). Gegen die Megariker, die davon ausgehen, dass ein Vermögen nur dann wirklich sei, wenn es auch im tatsächlichen Akt der Verwirklichung realisiert wird, betont Aristoteles den eigenen Seinszustand des Vermögens, wenngleich er auch der dýnamis nur eine untergeordnete Bedeutung zugesteht. Vgl. außerdem zur politischen Diskussion dieser Unterscheidung Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002, S. 55-58.

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Hintergrund von Benjamins intensiven Auseinandersetzungen mit Kant durchaus als eine geschichtlich gewendete transzendentalphilosophische Frage formulieren lässt: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit, durch die sich vom Gesichtspunkt einer rein immanenten Ordnung zugleich eine Form potentieller Bezüglichkeit zum Messianischen denken lässt? Dabei lassen sich bei genauerer Betrachtung zwei Seiten dieses Problems voneinander unterscheiden. Erstens betrifft es die inhaltliche Ebene: Mit der geschichtsphilosophischen Reflexion sucht Benjamin im zweiten Abschnitt offensichtlich nach einem Denkmodus, der eine Bezugsform zwischen Profanem und Messianischen ermöglicht ohne hinter den Bruch zurückzufallen, den der erste Abschnitt gesetzt hat. Eine Bezugsform also, die die konstitutive Differenz zwischen Profanem und Messianischem in das Zentrum der Verhältnisbestimmung setzt. Der Ausgangspunkt der Bezugsherstellung muss daher in einer konstitutiven Grenze zwischen beiden Seiten liegen. Zweitens betrifft das Problem gewissermaßen die ‚formale‘ Ebene: Die „mystische Geschichtsauffassung“ in ihrem problematischen Status und damit auch die Frage einer differenziellen Bezugsform lassen sich scheinbar nicht direkt begrifflichdiskursiv explizieren. Warum sonst, so könnte man fragen, führt uns Benjamin die Möglichkeit der Beziehung zwischen Profanem und Messianischem in einem paradoxen Bild vor? Beide Seiten hängen miteinander zusammen. Was dabei bisher in der Forschung allerdings nicht thematisiert wurde: Es handelt sich genau genommen gar nicht bloß um ein einziges Bild, das etwa einer Veranschaulichung oder Repräsentation der mystischen Geschichtsauffassung dient, sondern um eine Bildlogik, die aus einem mehrstelligen Relationsgefüge besteht und sukzessive eine Bezugsform einführt, die weder Profanes und Messianisches vermischt noch beziehungslos gegenüberstellt. Zunächst wird das Bild von den gegenläufigen Pfeilrichtungen in einem Konditionalgefüge vorgestellt, wobei sich die Argumentation aus dem ersten Abschnitt nochmals verschärft: Wenn das Ziel der profanen Ordnung in eine andere Pfeilrichtung weist als diejenige des Messianischen, dann kann sich das Profane nicht nur nicht auf das Messianische beziehen, sondern strebt geradewegs von diesem fort in eine andere Richtung: „Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort […].“ (WB II.1, 203f.) Im zweiten Teil des Bildes markiert dann bereits die einleitende Konjunktion „aber“ einen Einschnitt gegenüber der für sich genommen unproblematischen Gegenläufigkeit der Pfeilrichtungen. Mittels einer Analogie, von der wir bereits im problemgeschichtlichen Hauptteil A gesehen haben, dass sie für den

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zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren (nicht nur) bei Benjamin und Friedlaender zentral ist, wird dieser Einschnitt zu einem Störmoment gegenüber der Linearität der Pfeilrichtungen und präsentiert dabei eine andere Logik der Beziehung zwischen Profanem und Messianischem: „[…] aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Weg zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches.“ (ebd., 204) Eingeführt wird diese paradoxe Bezugsform nicht wie im ersten Abschnitt über eine geschichtsimmanente Teleologie. Sie wird stattdessen durch den Begriff des „Kommens“ angedeutet bzw. im darauffolgenden Satz noch deutlicher durch das „leiseste[…] Nahen[…]“ (ebd.) beschrieben. Damit haben wir es aber mit dem Konditionalsatz im ersten Teil des Bildes auf der einen Seite und der Analogiebeziehung im zweiten Teil auf der anderen Seite offensichtlich mit zwei verschiedenen Bewegungsmodi zu tun. Im ersten Teil handelt es sich um die Linearität gegenläufiger PfeilRichtungen, wogegen der zweite Teil in ein ‚Nahen‘ umschlägt, das nicht mehr recht in das Bild linearer Gegenläufigkeit passen will und einer anderen Bewegungslogik zu gehorchen scheint. Auffällig ist dabei, dass Benjamin im Anschluss des Bildes von verschiedenen „Kategorien“ spricht. Er betont: Das ‚Nahen‘ sei „keine Kategorie des Reichs“, was bedeutet, dass es also in einer urteilslogischen Unterscheidungsoperation nicht auf die Seite des Messianischen zu veranschlagen ist. Als „Kategorie […] seines leisesten Nahens“ scheint es zugleich aber auch nicht schlichtweg auf der entgegengesetzten Seite zu liegen. Wenn Benjamin neben der Pfeil-Richtung zugleich an mehreren Stellen von der Intensität spricht, passt zweiteres auch logisch nicht mehr in die kategoriale Unterscheidung, die sich im Bild lineare Verlaufsform ausdrückt. Intensität rekurriert im Gegenteil auf eine Logik der graduellen Unterscheidung. Diese andere Logik wird mittels der Analogie ausgespielt und modifiziert zugleich den Bildbereich, indem nun von ‚Kräften‘ die Rede ist, die sich durch ihre Entgegensetzung ‚befördern‘ sollen. Weder das „leistete […] Nahen[…]“ noch das „Kommen des messianischen Reiches“ entsprechen also einer Logik antagonistischer Entgegensetzung bzw. einer kategorialen Urteilslogik, sondern deuten auf eine graduelle Annäherung gerade durch Intensivierung ihrer polaren Gegenstrebigkeit. Da Benjamin das ‚Nahen‘ aber weiterhin als eine „Kategorie“ anspricht, so scheint diese gerade zwischen den beiden Denkverfahren von analytischer Trennung und synthetischer Vereinigung zu stehen. Anders formuliert: Aus einer kategorialen Unterscheidung, die Benjamin im ersten Teil des Bildes in einer Konditionalkonstruktion nochmals hervorhebt, wird mittels einer Analogie ein Übergang in eine andere Bildlogik eingeleitet, in der der kategoriale Unterschied aber

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nicht einfach (synthetisierend) aufgehoben, sondern dynamisiert wird, und zwar durch einen graduellen statt kategorialen Unterscheidungsmodus. Zu vermuten wäre hier, dass Benjamin statt einer rein begrifflichen Aufführung der mythischen Geschichtsauffassung eine bildliche Darstellungsweise wählt, weil eine reine Darstellung in Begriffen sprachlich immer schon auf den Modus urteilslogischer Unterscheidung verwiesen wäre, wogegen die bildliche Darstellung ihre Evidenz im Fragment gerade dadurch zu erzeugen vermag, dass sie diesen Unterscheidungsmodus unterläuft und so eine intensive Bezugsform im Zwischenbereich von trennender und verbindender Verstandestätigkeit ansiedelt. Mit diesem eigentümlichen Zwischenbereich drängt sich aber für Benjamins Bild an dieser Stelle eine bisher in der Forschung nicht explizit benannte Linie zu dem bereits ausführlich beschriebenen 51. Fragment des Heraklit auf: „Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinne zusammengeht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“68 Mit Heraklits ebenfalls in einem Bilde dargelegten dynamischen Spannungsdenken, so hat Jürgen-Eckardt Pleines gezeigt, ist ähnlich wie bei Benjamin weder eine analytische Trennung noch eine synthetische Vereinigung bezeichnet. Auch Heraklits polares Spannungsdenken siedelt sich in einem Zwischenraum von Analysis und Synthese an, um einen differenziellen Bezug zwischen zwei Polen zu denken.69 Heraklit habe, so Pleines weiter, „an Gegenbewegungen und damit an das Verhältnis einander widerstreitender Kräfte“ gedacht, „die, indem sie aufeinander wirkten, sich zugleich auf sich selbst bezogen und sich auf diese Weise wechselseitig begrenzten.“70 Auf der einen Seite wird an Benjamins Verschaltung von Grenzdenken (1. Teil des Pfeil-Bildes) und differenziellen Bezug (2. Teil des Pfeil-Bildes) deutlich, dass sein geschichtsphilosophisches Bild in einer gewissen Tradition zu Heraklits dynamischen Spannungsdenken steht. Andererseits funktioniert Benjamins Bild zwar analog, aber doch genau umgekehrt: Indem er die Grenze zwischen Messianischem und Profanem zunächst setzt und die Extreme auf ihren jeweiligen Bereich bezieht, kann er sie als widerstreitende Kräfte anschließend in einen Modus der graduellen Intensitätsbeziehung überführen. Damit erhält aber auch der erste Abschnitt des Fragments eine andere Funktion 68 69

70

DK 22 B 51 zit. nach Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, S. 27 [DK 22 B 51]. „Analysis und Synthesis“ als „entgegengesetzte und miteinander unvereinbare Bestim­ mungsverfahren“ werden beide dann problematisch, so führt Pleines aus, wenn es darum geht „Grenzbegriffe zu bestimmten […], die polare Spannungs-Verhältnisse oder Gegenbewegungen“ zum Ausdruck bringen sollen. (Jürgen-Eckardt Pleines, Harmonia, S. 19). Ebd., S. 48.

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im Gesamtgefüge der Argumentation. Der erste Abschnitt hatte einen Bruch markiert, der in den gegenläufigen Pfeilrichtungen ins Extreme gesteigert wird. Erst die Setzung der Extreme ermöglicht dann den anderen, graduellen Bezugsmodus, der die Differenz nicht aufhebt, sondern von ihr ausgeht. Neben der Traditionslinie, die zu Heraklit führt, ergibt sich hiermit eine zweite auffällige Spur, die an das Intensitätsdenken um 1800 erinnert. Erich Kleinschmidt hat in seiner Untersuchung zur Geschichte der Intensität als Denkfigur gezeigt, dass vor allem diese Setzung von Extremen die Voraussetzung für den im Horizont der Überlegungen zu naturalen Grundkräften stehenden Intensitätsdiskurs um 1800 darstellt: „Die Annahme einer gleitenden Gradualisierung setzt allerdings voraus, dass es eine Rahmung geben muss, innerhalb derer eine Aufteilung sinnvoll erfolgen kann.“71 Erst eine „Theorie der Extreme“72, die ein Maximum und Minimum an Intensität setzt, ermöglicht graduelle Abstufungen. Bei Benjamin sind diese „Minimalbzw. Maximalpunkte[…]“73 im Fragment durch die Extreme des Nicht-Bezugs im ersten Abschnitt auf der einen Seite und durch die Ankunft des Messias, der die Geschichte beendet, auf der anderen Seite benannt. Die Grenzsetzung zwischen diesen Extremen wird bei Benjamin zur erkenntnistheoretischen Voraussetzung einer Bezugsform, die nicht mehr über kategoriale Unterscheidung und binäre Differenzen verläuft, sondern über eine Logik polarer Gradation. Am Beispiel des Philosophen und Mathematikers Johann Heinrich Lambert beschreibt Kleinschmidt dabei die mathematisch-logischen Voraussetzungen dieses Denkansatzes. Entscheidend ist dabei für den Intensitätsdiskurs um 1800, dass die mathematische Differenzialfunktion über einen Nullwert, eine Nullstelle verläuft, die „entweder eine maximale Kräftesumme oder deren Minimierung“74 anzeigt. Kleinschmidt führt zu dieser ersten Ableitung der Differenzialfunktion weiter aus: „In beiden Fällen befindet sich das Potential der wirkenden Kräfte in einem stabilen (Minimum) oder labilen (Maximum) ‚Gleichgewichte und Beharrungsstande‘.“75 Gibt es eine solche Nullstelle auch in Benjamins Fragment, die als Grenze wirkt und zugleich das Potential zur maximalsten Kraftentfaltung enthält? Lässt sich dieses Intensitätsdenken auf Benjamins Fragment ‚übertagen‘?76 71 72 73 74 75 76

Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität, S. 17. Ebd. Ebd., 18. Ebd. Ebd. (Herv. v. K.D.). Eine solche ‚Übertragung‘ beobachtet Kleinschmidt bereits um 1800, indem er betont, dass der Intensitätsdiskurs zwar mathematisch fundiert ist, aber in den vielfältigen diskursiven Zirkulationsformen auch „ohne seine genaue naturwissenschaftliche und

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‚Überträgt‘ man zunächst das bei Kleinschmidt beschriebene Funktionsverhältnis auf das ‚Potential‘ der profanen Ordnung bzw. die historische Dynamis im Sinne eines Vermögens der ‚Beförderung‘, so ist die Kraftentfaltung dort am geringsten, wo das Profane sich zweckrational gerade ‚mit aller Kraft‘ auf das Messianische zu beziehen versucht; das Maximum der Kraftentfaltung hingegen ist dort angesiedelt, wo das Profane sich ganz auf das innerweltliche Glück bezieht. Dieselbe Argumentationsstruktur hat Benjamin bereits in seinem Brief an Buber genutzt, um dort eine nicht-instrumentelle Beziehung zwischen Schreiben und Politik anzugzeigen. (vgl. Kap.  5.3) Im Fragment erhält dieses Intensivierungsdenken nun einen geschichtsphilosophischen Unterbau, der auf das Verhältnis von Politik und Theologie ausgerichtet ist. Die politische Pointe in Benjamins Fragment besteht dann darin, dass das Maximum der profanen Kraftentfaltung mit dem Ende der profanen Ordnung zusammenfällt, d.h. mit jenem Punkt, an dem die profane Ordnung nichtig wird und verschwindet. Von hieraus scheint auch der letzte Abschnitt des Fragments seinen ‚methodischen‘ Sinn zu erhalten: Denn diese Maximierung im Sinne eines polardynamischen Prozesses herzustellen wird im letzten Abschnitt des Fragments dann an eine „Weltpolitik“ (WB II.1, 204) delegiert, deren „Aufgabe“ es sein soll, mittels der „Methode Nihilismus“ die „ewige […] und totale[…] Vergängnis“ (ebd.) der Natur zu „erstreben“ (ebd.). Bisher wurde dieser Nihilismus, auf den das Fragment zuläuft, vor allem mit der anarchistischen Tendenz in Benjamins frühen politischen Arbeiten in Verbindung gebracht.77 Werner Hamacher hat zudem bereits aus dieser „Methode Nihilismus“ Benjamins eigentlichen kritischen Einwand gegenüber Blochs Geist der Utopie herausgelesen. Hamacher lässt es nämlich „dahingestellt“, ob die Leugnung der politischen Bedeutung der Theokratie tatsächlich „das größte Verdienst von Blochs Utopie-Buch ist“78 und widmet sich stattdessen einem anderen Konvergenzpunkt zwischen Bloch und Benjamin, der auf den zweiten

77

78

mathematsiche Begründung [funktioniert], weil sich von Anfang an der Begriff von seinen fundamentalen Vorgaben löste und seinerseits, in einen sprachlichen Intensitätsprozess hineingerissen, als sich verselbstständigende und territorialisierende Denkfigur fluktuierte.“ (Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität, S. 18). So bereits bei Scholem, der von einem „theokratischen Anarchismus als die sinnvollste Antwort auf die Politik“ spricht. (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S.  108). Anson Rabinbach spricht wiederum abwechselnd von „anarchomessianic“ (Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S. 59), von „theocratic anarchism“ (ebd., S. 63) oder insgesamt von „Benjamin’s anarcho-theological writings of 1920-1921“ (ebd., S.  78). Zur Verbindung von Anarchismus und Nihilismus vgl. ferner: Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S.  181, 192 und 211f.; Werner Hamacher, Das theologischpolitische Fragment, S. 180; Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 54f. und 76f. Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 180.

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und dritten Abschnitt verweist. Diese Konvergenz sieht Hamacher in einem vergleichbaren Rekurs auf die mystische Theologie Jacob Böhmes und der Vorstellung, dass die Herstellung des Bezuges von Profanem und Göttlichem über die via negationis läuft. Der Weg zur Verbindung zwischen Weltlichem und Göttlichem ist damit nicht in der Schöpfung selbst be-gründet, sondern durch einen unzugänglichen Schöpfer, der „hinter keinem Vorstellungsbild verborgen“79 ist. Allerdings, so Hamacher, besteht der wesentliche Unterschied zwischen Bloch und Benjamin darin, dass Bloch in seiner gnostischen Perspektive den „Gott der Erlösung“80 davon ausnimmt, wohingegen Benjamin die „radikalere Konsequenz“81 aus Böhmes negativer Bestimmung zieht: „Dieser Weg kann nur der Gang in ‚ein Nichts‘, er kann nur ein Untergang sein. Denn nur ‚ein Nichts‘ übt keine Herrschaft aus, stellt sich nicht als Idol vor Gott oder an seine Stelle und kann als Ziel weder gesetzt noch intendiert werden. […] Das Nihil dieses Nihilismus läßt sich für eine theokratische Ordnung nicht gebrauchen, weil es deren Hierarchie in der An-archie ihres Grundes auflöst.“82

Wäre jedoch Benjamins „Methode Nihilismus“ im Sinne dieser von Hamacher dargelegten mystischen Tradition einer Bewegung der Ent-gründung verpflichtet oder auch nur einer Logik des „Aufschub[s] des Endes“83 verschrieben, wie Elke Dubbels vermutet, stellt sich die Frage, warum und vor allem wie von Benjamin dann überhaupt eine Spannungsbeziehung zum Messianischen inmitten der Konstitution der profanen Ordnung eingetragen wird. Oder anders formuliert: Wäre der Nihilismus tatsächlich bloß negativ bestimmt, hätte er ausschließlich Anteil an der „Vergängnis“ des Profanen und würde keineswegs dadurch auch ‚methodisch‘ die polare Dynamik garantieren, deren andere Seite zugleich mit dem „leisesten Nahen[…]“ (WB II.1, 204) des Messianischen bezeichnet ist. Benjamin selbst wird noch einige Jahre später, also nach der vermeintlichen ‚Wende zum Marxismus‘, implizit auf diesen Nihilismus zurückkommen und für seine politische Positionierung in Anspruch nehmen, wenn er in einem Brief an Scholem betont, dass es „sinnvoll politische Ziele nicht gibt.“ (Br III, 160) Die gleichermaßen geschichtsphilosophische und erkenntnistheoretische Frage, der im Weiteren nachgegangen werden muss, lautet: Wie dieses „nicht“ zu verstehen? Vor allem der der aus nur einem einzigen Satz bestehende letzte Abschnitt des 79 80 81 82 83

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Elke Dubbels, Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologischpolitischem Fragment‘, S. 47.

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Fragments bleibt zweifelsohne enigmatisch, weil er nicht näher ausführt, was genau mit „Nihilismus“ gemeint sein soll. Da der letzte Abschnitt aber gerade dadurch so zentral ist, dass er die Methode benennt, durch die die eigentümliche Bezugsform zwischen Profanem und Messianischem intensiviert werden soll, die der zweite Abschnitt entfaltet, lohnt es sich zu überlegen, ob man ihn, entgegen der bisherigen Lesart, auch anders als rein negativ bzw. anders als in der Tradition der via negationis bestimmen kann.84 Statt einer rein negativen Bestimmung lässt sich vor dem Hintergrund der angezeigten Traditionslinien fragen: Ist dieser Nihilismus vielleicht besser als eine Art ‚Nullstelle‘ innerhalb einer ‚Theorie der Extreme‘ lesbar, die vom Intensitätsdiskurs um 1800 her gedacht wird? Benjamins „unklassifizierbare[n] Nihilismus“85 vom Intensitätsdiskurs und der dort angelegten ‚Nullstelle‘ zu deuten wäre zunächst einmal kein Widerspruch zu seiner anarchistischen Tendenz, sondern könnte vielmehr ihre erkenntnistheoretische Prämisse abgeben. Aufgrund der spärlichen Informationen über die Funktionsweise des Nihilismus im letzten, stark verdichteten Abschnitt bleibt jedoch unklar, ob Benjamin sich im Theologisch-politischen Fragment tatsächlich auf der einen Seite direkt an Heraklits Bogen-und-Leier-Fragment orientiert hat und ob auf der anderen Seite ein unmittelbarer Bezug der „Methode Nihilismus“ zum mathematisch geprägten Intensitätsdiskurs um 1800 besteht. Diese kaum auflösbaren Fragen nach direkten Traditionslinien und diskursiven Aktualisierungen werden aber ohnehin zweitrangig, wenn man sich stattdessen auf den viel offensichtlicheren intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang und auf die konkreten Rezeptionskonstellationen und Debatten konzentriert, in denen Benjamins frühe Arbeit am Politischen zu verorten ist. Hier bietet sich dann erneut die Gelegenheit, den intertextuellen Beziehungen zu Friedlaender nachzuspüren. Denn von allen in diese Zeit fallenden und in den thematischen Zusammenhang stehenden Lektüren und 84

85

Auch Daniel Weidner hat die negative Bestimmung auf die Ordnung des Profanen bezogen: „Erscheint doch der Begriff des ‚Profanen‘, welcher die gegenüber der Religion andere Ordnung bezeichnen soll, letztlich nur negativ konturiert zu sein: als das pro fanum, das vor dem Heiligtum befindliche, das also nur durch einen Abstand ausgezeichnet ist, als solches aber immer schon auf das Heilige bezogen gedacht wird.“ (Daniel Weidner: Einleitung. Walter Benjamin, die Religion und die Gegenwart. In: ders. (Hg.): Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Berlin 2010, S. 7-35, hier: S. 7). Die negative Bestimmung des „pro fanum‘ kann allerdings nicht gleichgesetzt werden mit dem Nihilismus als Methode. Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 182. Wohlfarth merkt an, dass Benjamins Nihilismus weder mit einem „ungebrochen religiösen, voraufklärerischen noch mit dem anderen, anti-religiösen, aufklärerischen ‚europäischen‘ Nihilismus gleichgesetzt werden“ kann. (ebd., S. 181f.).

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theoretischen Auseinandersetzungen, die Benjamin selbst offenlegt, führt hier die direkteste Linie zu Friedlaender. Denn Friedlaender ruft erstens das von Heraklit her gedachte Bild der produktiven Wechselwirkung gegenstrebiger Kräfte nicht nur in unterschiedlichen Kontexten immer wieder auf, sondern macht es zum Epizentrum seiner Polaritätsphilosophie. Zweitens entwickelt er innerhalb dieser Philosophie eine an der kritischen Auseinandersetzung mit Kant geschärfte Idee polarer Gradation, die er ebenfalls unter dem Begriff des Nihilismus fasst. Friedlaenders Theorie eines ‚medialen Nihilismus‘, die er in kritischer Aktualisierung Heraklits und Kants profiliert, gilt es nachfolgend darzustellen, um anschließend darlegen zu können, inwiefern eine vergleichbar gestaltete Medialität des Nihilismus auch in Benjamins Fragment eingelagert ist. 7.2

Friedlaenders ‚medialer Nihilismus‘: Neutrale Grenze, polare Intensität und latente Äquilibristik

Nachvollziehen lassen sich die intertextuellen Korrespondenzen zwischen Benjamin und Friedlaender beispielsweise an dem Kapitel Dionysismus aus der Schöpferischen Indifferenz. Ob Benjamin die Skizze im Zuge seiner nichtsystematischen Lektüre der Schöpferischen Indifferenz tatsächlich studiert hat, ist unklar. Es lässt sich aber zumindest vermuten, dass Benjamin als Leser der Zeitschrift Die weißen Blätter, in der er auch seine Arbeit Zur Kritik der Gewalt veröffentlichen wollte, mit einer ebendort 1913 abgedruckten Vorstufe des Textes vertraut gewesen sein könnte.86 Von besonderem Interesse für die hier verhandelten Problemzusammenhänge ist die Tatsache, dass die Dionysimus-Skizze in unmittelbarer Beziehung zu Friedlaenders Bloch-Rezension steht, da hier einige Argumente bereits formuliert sind, die Friedlaender in seiner Kritik an Bloch wiederaufgreift. Das gilt allen voran für den zentralen Kritikpunkt, den Friedlaender gegen Blochs Geist der Utopie anführt: die „Welt- und Leibverneinung“ (F/M 3, 618). Wie bereits weiter oben ausgeführt, kritisiert Friedlaender an Bloch vor allem die Vermischung von Diesseits- und Jenseitsmotiven zugunsten einer Jenseitssehnsucht, die das Irdische nur als Verfall des Leibes sehe und den alten christlichen Erbsündenblick reproduziere. Dabei hat er vor allem den erkenntnistheoretischen Synkretismus angegriffen, dessen „netter Kunstgriff“ 86

Vgl. Salomo Friedlaender: Dionysisches Christentum. In: Die weißen Blätter  1 (1913), S. 317-327. Zum Unterschied zwischen diesem Text und der Skizze in der Schöpferischen Indifferenz vgl. F/M 10, 648-649.

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(ebd., 611) darin bestünde, „uns Appetit auf eine neue Kirche […] machen“ (ebd.) zu wollen. Aus dieser synkretistischen ‚Verbindung‘, so Friedlaender, entstehe allerdings „keineswegs etwas Vernünftiges, sondern der höhere Schwärmer der ‚Reichszeit‘ als letztes Zeitalter der Offenbarung.“ (ebd., 610) Eine vergleichbare Kritik findet sich bereits in der Dionysismus-Skizze. Das Christentum installiere, so führt Friedlaender dort aus, permanent starre Dichotomien etwa von Immanenz und Transzendenz, Leib und Seele, Gut und Böse, Glück und Unglück, wogegen eine polare Perspektive gerade die Spannung zwischen beiden Polen in den Blick zu nehmen habe, und zwar durch eine Logik des Disjunktiven: „Der Dionysismus besteht in der disjunktiven Kooperation von Gegensätzen, die das Christentum trennt.“ (F/M 10, 267) In Abgrenzung von einer dichotomischen Frontstellung zielt Friedlaender mit der Disjunktion auf ein polares Bezugsverhältnis. Das erkennt man bereits in Friedlaenders Lehrbuch Logik. Die Lehre vom Denken von 1907, in dem er das disjunktive Urteil als vom kategorischen und hypothetischen unterschieden darstellt und auf die darin eingelagerte Dynamik polarer Wechselverhältnisse verweist: „Also die Bedingtheit des disjunktiven Urteils ist gegenseitig: sind Mandeln nicht bitter, so sind sie süß; sind sie nicht süß, so bitter. Die Gedanken werden durch die disjunktive Kopula so verknüpft, daß sie in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander stehen. Diese Kopula wirkt kategorisch und hypothetisch auf ein Mal. Es handelt sich nicht mehr um eine Aussage, nicht mehr um Aussagen, welche im Verhältnis von Grund und Folge stehen; sondern um solche, welche wechselseitig Grund und Folge voneinander sind […].“ (F/M 5, 75f.)

Diese disjunktive Relation wechselseitigen Ausschließens bei gleichzeitiger Abhängigkeit voneinander kommt dem Bild der gegenstrebigen Pfeilrich­ tungen aus Benjamins Fragment bereits sehr nahe; auch bei Benjamin stehen Profanes und Messianisches nicht mehr in einem einlinigen Grund-FolgeVerhältnis. Und dass es Benjamin dabei ebenfalls nicht um substanzielle, sondern um funktionale Zuordnungen geht, hat Uwe Steiner bereits für Benjamins frühes Politik-Verständnis herausgearbeitet: „Wie in Benjamins Reflexion über die Sprache, zielen auch seine Überlegungen in politicis nicht auf substantielle Definitionen, sondern darauf, Begriffe durch funktionale Zuordnung zu distinkten Ordnungen zu definieren.“87 Erst so sei es Benjamin möglich, die Ordnung des Profanen und die Ordnung des Messianischen „kontrastiv zu beschreiben“, ohne die Grenze zwischen ihnen „absolut zu

87

Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 76.

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setzten.“88 Friedlaender wiederum schließt an seine funktionale Bestimmung der „disjunktiven Kooperation“ (F/M 10, 267) dann noch eine Schlussfolgerung an, die noch deutlicher an Benjamins Bild der gegenstrebigen Pfeilrichtungen erinnert, heißt es doch am Ende der Dionysimus-Skizze: „Die Entladung exorbitanter Spannkraft erfolgt immer polar.“ (ebd.) Die Kräfte, die sich in Benjamins Bild von den gegenläufigen Pfeilrichtungen entfalten, werden bei Friedlaender explizit im Modus polare Gegenseitigkeit beschrieben. Friedlaender hat aber nicht nur dasjenige Bild der gegenstrebigen Kräfte häufig bemüht, das im Zentrum von Benjamins Fragment steht und um das er das zentrale erkenntnistheoretische Problem formuliert. Mehr noch hat er in der 12. Skizze seiner Schöpferischen Indifferenz unter dem Titel Symbolik erstens eine detaillierte bildtheoretische Begründung dieser polaren Anschauungsweise geliefert und daran anschließend zweitens einige beispielhafte ‚Denkbilder‘ versammelt, die in auffälliger Korrespondenz zu Benjamins Fragment stehen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Benjamin sich – vor dem Hintergrund seines mindestens seit der Arbeit an der Dissertation ungebrochenen Interesses an der Theorie des Symbols – dieses Kapitel über Friedlaenders polare Bildtheorie im Zuge seiner Lektüre der Schöpferischen Indifferenz nicht angeschaut haben sollte. Aber auch ohne einen direkten Einfluss behaupten zu müssen, drängt sich über die bemerkenswerte Nähe der in Friedlaenders Skizze zur Symbolik verwendeten Beispiele ein Vergleich auf, der eine neue Perspektive auf den Nihilismus in Benjamins Fragment eröffnet. Dabei setzt die Skizze Symbolik mit der Frage ein, wie überhaupt „etwas mit etwas Anderem“ (F/M 10, 378) verglichen werden kann. Friedlaender kommt dann anschließend relativ schnell auf das tertium comparationis zu sprechen, so dass seine Ausführungen auf den ersten Blick auf eine klassische Definition von Metaphernbildungen zuzulaufen scheinen. Tatsächlich hebt das tertium bei ihm aber nicht auf eine Eigenschaft ab, die zwei Dinge gemeinsam haben und ihre Vergleichbarkeit garantiert. Vielmehr ist das ‚Dritte‘ hier angesprochen als das „Absolute“ (ebd.) im Gegensatz zur Relativität der Dinge des Vergleichs. Friedlaender geht es um die erkenntnistheoretische Voraussetzung von Bildvergleichungen, nicht unmittelbar um den Vergleich selbst. Dieses „Absolute“ definiert Friedlaender dann als das „Nichts“ (ebd.), das „gerade der Produzent 88

Ebd. Absolut scheint diese Grenze vor dem Hintergrund des ersten Abschnittes des Fragments nur zu sein, wenn man sie im Rahmen einer instrumentellen politischen Handlungslogik zu überwinden versucht. Wie bereits ausgeführt, wird die Grenze im zweiten Abschnitt nicht aufgehoben, sondern zur Voraussetzung eines intensiven Bezugsverhältnisses gemacht. Wir werden weiter unten noch sehen, dass die Grenze letztlich zum Ort einer Erwartung des Umschlags wird, an dem sich das Ende der Geschichte und die Ankunft des Messias ereignen.

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aller Relativität“ (ebd.) sei. Die Überlegungen zum tertium zielen also nicht auf eine Übertragung von Bedeutungselementen, sondern auf die Frage nach der „Voraussetzung aller Möglichkeit von Unterscheidung“ (ebd.). Bildlichkeit bedeutet für Friedlaender Gegensätzlichkeit, jedes Phänomen ist nur in einer Unterscheidung erkennbar: „Ein Bild, ein Gleichnis muß stets einen Gegensatz enthalten […].“ (ebd., 381) Gilt damit Friedlaenders Interesse aber bloß einer wechselseitigen Ex-negativo-Bestimmungsverhältnis, das sich als eine proto-strukturalistische Bildtheorie bezeichnen ließe? Im weiteren Verlauf der Skizze wird deutlich, dass Friedlaenders Erkenntnisinteresse am Symbol vor allem auf die zwischen beiden Seiten des Symbols angesiedelte Grenze als solcher gerichtet ist, die er in ihrer reinen Medialität auszuweisen versucht: „Jedes Bild, jedes Gleichnis muß, außer seinen Elementen, seinen Faktoren, außer den Seiten seiner Gleichung noch deren neutrale Größe enthalten; der Bindestrich muß präzise abteilen, in ihm muß die Diversität der Seiten restlos stimmen.“ (ebd., 380)

Auf dieses „Zwischen“ (ebd., 378) kommt es Friedlaender an. Es sei, so führt er weiter aus, selbst in „kein[em] Bild“ (ebd., 379) gegeben, also nicht Element des Bildes, sondern die reine mediale Voraussetzung als „eine Art Mitte, Grenze, Brücke“ (ebd., 383). Zur Veranschaulichung dieser polaren Bildtheorie wählt Friedlaender dann folgendes Beispiel: „Spricht man etwa bildlich von ‚Untergang‘, ‚Aufgang‘, so ist immer zu bedenken, daß der sogenannte Untergang eben nicht nach unten geht, sondern ein entgegengesetzter Aufgang ist, und beide Aufgänge von ihrer medialen Grenzscheide aus geschehen. Danach korrigiere man die irreführenden Bilder vom Zugrundegehen, zu Boden fallen; das ist ‚im Grunde‘ die Korrektur der Sinne durch das kritische Urteil.“ (ebd., 381)

Der Untergang als entgegengesetzter Aufgang. Dieses paradoxe Bild korres­ pondiert auffällig mit Benjamins Zusammenführung von Glück, an dem sich das Profane „aufzurichten“ (WB II.1, 203) habe, um sich auf den erstrebten Untergang zuzubewegen, der wiederum das „leiseste[…] Nahen (ebd., 204) des Messianischen als dem Profanen entgegengesetzter Aufgang einer anderen Ordnung „zu befördern vermag“ (ebd.). Zwischen beiden Seiten setzt Friedlaender eine Grenze, die das Bild vom Untergang zu ‚korrigieren‘ habe, indem er die Voraussetzung der Unterscheidungsoperation („kritische[s] Urteil“) nicht von einem substantiellen Grund abhängig macht, sondern in ein mediales Verhältnis übersetzt. Erst durch diese mediale Grenze, so Friedlaender, könne ein kritisches Verhältnis zwischen Auf- und Untergang hergestellt werden. Von dieser polaren Bildtheorie aus entwickelt Friedlaender dann auch eine

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Vorstellung des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz bzw. Diesseits und Jenseits, die er in seiner Bloch-Kritik dann auch gegen den Geist der Utopie anführen wird. In der Schöpferischen Indifferenz heißt es dazu im Anschluss an das Bild vom Auf- und Untergang: „Sobald das tertium comparationis nicht präzise medial getroffen wird, ist das Bild nicht treffend. So ist das religiöse Bild vom ‚Jenseits‘ ersichtlich schief; denn das tertium ist hier doch wohl die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, das recht Innehalten dieser Grenze und Brücke zum gegenseitigen Verkehr sollte kultiviert werden, nicht aber der Übergang ins Jenseits; dieses also ist nur ein pervertiertes Diesseits. Unzutreffende Bilder von so wichtigen Verhältnissen tragen zu Verfehlung des richtigen, das heißt nicht menschlichen, sondern polaren Lebens mehr bei als man glaubt.“ (F/M 10, 382)

Der „gegenseitige[…] Verkehr“, den Friedlaender hier in Aussicht stellt scheint eine differenzielle Bezugsform zu adressieren, deren Fluchtpunkt nicht in einem „Übergang“ liegt, sondern sich durch ein polares Spannungsverhältnis, also qua Gegenstrebigkeit einstellt. Gegenüber Bloch wird Friedlaender in seiner Rezension auf dieses polare Verhältnis von Diesseits und Jenseits insistieren, weil sich solche „wichtigen Verhältnisse“ nicht klären lassen, wenn man die konstitutive Grenze durch die Vorstellung von einem „großen, letzten, sprunghaften Ereignis“89 verwischt. „Es gilt die Kultur dieser Grenze“ (ebd., 131), schreibt Friedlaender an anderer Stelle seines Buches. Wenn Friedlander Bloch vor diesem Hintergrund vorwirft, die Immanenz als rein Negatives zugunsten einer utopisch-erfüllten Transzendenz völlig misszuverstehen, geht es Friedlaender offensichtlich aber nicht bloß um die reine Immanenz des Weltlichen im Sinne eines gegenüber Bloch in Anschlag gebrachten Gegenprinzips. Es gebe durchaus, so Friedlaender, eine „religiöse Intensität“, aber dies beziehe sich nicht direkt auf das Jenseits, sondern „ausgenutzt […] wird sie polar-empirisch für die nächsten Dinge des Alltags.“ (ebd., 269) Wo Bloch, ganz im Einklang mit dem expressionistischen Politikverständnis, die Apokalypse als Apriori aller Politik bestimmt, betont Friedlaender: „Hier scheiden sich die Wege“ (F/M 3, 612). Denn Dionysos führt nicht zur neuen Kirche, „sondern zur Erde, die man schon deshalb nicht verschmähen und fliehen sollte, weil man noch gar nicht eigentlich auf ihr angelangt ist.“ (ebd.) Die Ordnung des Profanen, so könnte man Friedlaenders Ausführungen in das Vokabular Benjamins übersetzen, muss allererst einmal errichtet werden, bevor ein polardifferenzieller Bezug zum Jenseitigen überhaupt gedacht werden kann. Entscheidend ist dabei, dass Friedlaenders Ausführungen nicht auf eine 89

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 430.

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Bestimmung dessen zuläuft, was dieses Jenseits sein könnte. Er spricht nur von einem „schiefen“ Bild, sobald die Grenze zwischen den beiden Polen von Diesseits und Jenseits nicht exakt bestimmt wird. Was das Jenseits aber sei, bleibt dabei unausgesprochen, weil es letztlich nicht aussprechbar ist. Ähnlich bleibt auch in Benjamins Fragment der Messias das konstitutiv „Unverfügbare“90. Stattdessen scheinen das „präzise medial getroffene“ Bild bei Friedlaender bzw. die polardynamische Gegenstrebigkeit der Pfeilrichtungen bei Benjamin den immanenten Zusammenhang des Weltlichen selbst als polares Phänomen auszuweisen. Denn auch bei Benjamin ist das Bild der gegenstrebigen Bewegung ein Bild, das zuallererst Auswirkungen auf eine „profane Ordnung des Profanen“ (WB II.1, 204) hat. Diese emphatische Doppelbetonung der profanen (statt heiligen) Ordnung des Profanen folgt im Fragment unmittelbar auf das Bild von den Pfeilen. Zielt Benjamins Fragment also auf eine Idee der „profanen Ordnung des Profanen“ als eine polare Ordnung? Immerhin ist auch die „Methode Nihilismus“, von der bereits angedeutet wurde, dass sie mit der Beförderung des Untergangs zugleich einen intensiven Bezug auf das Messianische erstreben soll, explizit auf den immanenten Zusammenhang der „Weltpolitik“ ausgerichtet. Dann müsste der Nihilismus im Fragment eine „Methode“ sein, die zugleich die Grenze zwischen den Polen bildet als auch ihren polaren Bezug herstellt. Friedlaender hat dafür in seiner polaren Bildtheorie den Begriff der „medialen Grenzscheide“ geprägt. Aus diesen bildtheoretischen Überlegungen heraus ergeben sich bei ihm erst jene Bilder vom Auf- und Untergang bzw. von der Polarität von Diesseits und Jenseits, die auffällige strukturelle Ähnlichkeiten zum Pfeil-Bild aus Benjamins Fragment enthalten. Für das Verständnis der „Methode Nihilismus“, an der sich die Frage nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen eines polardifferenziellen Bezugsmodus gradueller Intensivierung in Benjamins Fragment knüpft, ist diese „mediale Grenzscheide“ als Voraussetzung der Bilder noch interessanter als die Ähnlichkeit der eingesetzten Bilder selbst. In seinen weiteren Ausführungen über diese „mediale Grenzscheide“ wird Friedlaender sie bemerkenswerterweise ebenfalls als eine polaritätsphilosophische Theorie des Nihilismus adressieren. Friedlaender nennt diese mediale Grenze auch „das Dritte als reine neutrale Größe“ (F/M 10, 124) und führt weiter aus: „man darf nämlich diese [neutrale Größe, K.D.], das Nichts (zéro), nicht mit dem Nein verwechseln.“ (ebd.) Erst wenn man den Unterschied zwischen ‚Nichts‘ und ‚Nein‘, d.h. zwischen Neutralität und Negativität, deutlich erkannt habe, so Friedlaender weiter, 90

Burkhardt Lindner: ‚‚Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk‘. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 472-493, hier: S. 492.

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könne man zu „einer ganz anderen Beurteilung und Schätzung des Nihilismus kommen.“ (ebd., 388) Für Friedlaender ist es „eben nicht möglich, die Aufhebung, das Nichts, anders als medial zu denken.“ (ebd., 160) Der philosophische Versuch, die mediale Grenze zwischen zwei Polen als einen neubeurteilten Nihilismus zu konzipieren, zieht sich wie ein roter Faden durch die Schöpferische Indifferenz und betrifft das in der Geschichte der Philosophie maßgebliche Problem von „Gegensatz und Vermittlung“ (ebd., 124). Dabei richtete sich Friedlaenders Versuch, den Nihilismus nicht als Negativität zu konzipieren vor allem gegen die zentrale Bedeutung der Negation als Motor dialektischer Bewegung bei Hegel. In Abgrenzung von dieser dialektischen Bewegung profiliert Friedlaender seine polaritätsphilosophischen Vorstellungen immer erneut an einem kritischen Aktualisierungsversuch des für ihn epochenmachenden Textes von Kant über den Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763). Werner Hamacher hat bereits darauf hingewiesen, dass sich auch Benjamins Bild von den gegenstrebigen Pfeilen mit diesem Text Kants deuten lässt. Hamacher betont, dass „[d]ie klassischen Texte der Philosophie […] eine Reihe von Bildern gegenstrebiger Bewegungen [kennen], die zum genaueren Verständnis“91 des Bildes beitragen können. Dabei nennt Hamacher neben Platon92 und Aristoteles93 auch Kants Text über die negativen Größen. Alle drei Texte handeln, so Hamacher, in unterschiedlicher Weise von dem „Gesetz der Erhaltung der Kraft“94. Hamacher liest Benjamins Text von diesem Krafterhaltungsprinzip, wobei er eine spezifische Umdeutung bei Benjamin betont: 91 92

93 94

Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 187. Hier rekurriert Hamacher auf eine Textstelle aus Platons Nomoi, in der die „Selbstbeherrschung (verdeutlicht durch das Bild von der Marionette) als Kennzeichen des guten Menschen“ (Platon: Nomoi. In: ders.: Sämtliche Werke [Griechisch/Deutsch]. Bd. IX, hg. v. Karlheinz Hülser. Frankfurt a. M./Leipzig 1991, S. 91 [644b]) diskutiert wird und dabei von der sich befördernden Gegenstrebigkeit unterschiedlicher Gefühle handelt, die, so Hamacher, das „Bild einer Homeostase im Dienst der Erhaltung, nicht im Dienste des Wandels und der Zukunft“ hervorruft. (Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S.  188) Hamacher vermutet, dass Benjamin durch Hölderlin mit dem Bild bekannt gewesen sein könnte. Hier bezieht sich Hamacher auf eine Stelle aus dem Traktat Von der Seele, in der es um die zeitlichen Gegenbewegungen von Begierde (Jetztzeit) und Vernunft (Zukunft) geht. (vgl. ebd.) Ebd. Auch Elke Dubbels kommt auf die Frage des Gleichgewichts zu sprechen, erkennt hier aber ein grundsätzliches Problem des Fragments: Dubbels geht davon aus, dass Benjamin mit dem Bild der gegenstrebigen Pfeilrichtungen und der weltlichen resititutio in intergrum als Pedant zu geistlichen „die kategorische Unterscheidung zwischen Profanem und Messianischem auf[gibt]“ (Elke Dubbels, Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologisch-politischem Fragment‘, S.  55). Damit

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Die ‚Kraft des Messianischen‘ ist hier nicht im Sinne einer „Logik der Intention“95 antizipiert, sondern das „Gesetz der Erhaltung“ wird bei Benjamin „auf eine Zukunft geöffnet, die nicht gegebene Kräfte erhält, sondern unbekannte heranbringt.“96 An Hamachers Hinweis auf die Bedeutung des Textes über den Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen lässt sich hier anschließen. Die Frage, ob und inwiefern Benjamins Theologischpolitisches Fragment im Zusammenhang mit der Tradition des von Hamacher beschriebenen Motivkomplexes der ‚Krafterhaltung‘ steht, lässt sich anhand der intertextuellen Beziehung mit Friedlaender und dessen Auseinandersetzung mit Kants Text einerseits konkretisieren. Auf der anderen Seite wird dieser Traditionsbezug dann aber auch entschieden modifiziert. Denn Friedlaender übernimmt nicht einfach Kants Vorstellung von den negativen Größen, sondern insistiert auf ein schwerwiegendes Missverständnis in der Konzeption der ‚Null‘ in Kants Text. Aus der Perspektive eines polaritätsphilosophischen Nihilismus extrahiert Friedlaender aus Kants Überlegungen ein mediales Konzept des Nihilismus, indem er die ‚Null‘ deutlicher als Kant zu einer eigenständigen Größe macht. Um diesen kritischen Einspruch aufzeigen zu können, muss an dieser Stelle ein kursorischer Blick auf Kants Text zwischengeschaltet werden. In der vorkritischen Schrift über die negativen Größen unterscheidet Kant zwischen zwei Typen von Gegensatzbildung. Zum einen gibt es die logische Entgegensetzung, die durch den Satz des Widerspruchs geregelt wird und der besagt, dass bei zwei entgegensetzten Aussagen über einen Gegenstand nicht beide zugleich wahr sein können. Zum anderen verläuft der reale Gegensatz hingegen nicht über den Satz vom Widerspruch, sondern beruht „auf einer Beziehung zweier Prädikate eben desselben Dinges gegen einander […].“97 Vom zweiten Gegensatz erhofft sich Kant, dass er für die Erkenntnis der Materie aufschlussreich sein könnte. Denn die Undurchdringlichkeit eines Körpers wäre dann nicht länger als bloße Negation von Bewegung zu verstehen, sondern wird als Zurückstoßung selbst eine aktive Kraft. Damit ist dann nicht mehr bloß die Anziehung als Bewegungskraft denkbar, sondern Attraktion und Repulsion sind zwei gleichzeitig aktive Kräfte in einem dynamischen Wechselverhältnis:

95 96 97

aber zeige sich, so schlussfolgert Dubbels, in Benjamins Fragment, „wie schwierig es ist, profane und religiöse Kräfte in einem austarierten Kräfteverhältnis zu halten.“ (ebd.). Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 190. Ebd., S. 189. Immanuel Kant: Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen. In: ders.: Werkausgabe, Bd. II: Vorkritische Schriften bis 1768, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1977, S. 775-819, hier: S. 784 [A 5].

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„Wenn ihr nun Anziehung eine Ursache, welche es auch sein mag, nennet, vermöge deren ein Körper andere nötigt, gegen den Raum den er einnimmt zu drücken, oder sich zu bewegen (es ist aber hier genug, sich diese Anziehung zu gedenken), so ist die Undurchdringlichkeit eine negative Anziehung. Dadurch wird alsdenn angezeigt: daß sie ein eben so positiver Grund sei als eine jede andere Bewegkraft in der Natur, und da die negative Anziehung eigentlich eine wahre Zurückstoßung ist, so wird in den Kräften der Elemente, vermöge deren sie einen Raum einnehmen, doch aber so daß sie diesem selbst Schranken setzen, durch den Conflictus zweier Kräfte, die einander entgegengesetzt sein, Anlaß zu vielen Erläuterungen gegeben, worin ich glaube zu einer deutlichen und zuverlässigen Erkenntnis gekommen zu sein […].“98

Kant betont dabei, dass der „annoch ungebrauchte[…], obzwar höchstnötige[…] Begriff[…]“99 der negative Größen nur durch seine sprachliche Ähnlichkeit auf Negation verweiset, tatsächlich aber „etwas an sich selbst wahrhaftig Positives“100 ist und zwar als Entgegengesetztes: „Und so ist die negative Anziehung nicht die Ruhe […], sondern die wahre Zurückstoßung.“101 Erst mit dieser Vorstellung zweier in ihrer Entgegensetzung gleichwertig gesetzter Kräfte kann tatsächlich von einem polaren Prinzip bei Kant gesprochen werden. Denn solange Kräfteverhältnisse rein logisch vom Satz des Widerspruchs aus gedacht werden, handelt es sich nicht um die Idee eines Spannungsfeldes und um ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis, sondern entweder um ein einseitiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen einem aktiven und einem passiven Element oder um eine bloße logische Ausschließungsbestimmung. Die außerordentliche Bedeutung des Textes sieht Friedlaender dann darin, dass hier erstmals das polare Prinzip zweier entgegengesetzter Kräfte formuliert worden sei. Allerdings habe Kant, so wendet Friedlaender zugleich kritisch ein, in seiner Arbeit noch das „non mit nihil [verwechselt]“ (F/M 10, 392), wodurch er aus der Grenze selbst eine negative Beziehung abgeleitet habe. Daher hält Friedlaender weiter gegenüber Kants Arbeit fest: „Natürlich hat das logische Nichts nicht sensuale Funktionen, wie das reale, man hält es deshalb leichter für simpel gar nichts. Offenbar wäre es logisch absurd, daß dasselbe, was bejaht wird, im selben Sinn auch verneint würde. Das wäre keine Entgegensetzung, das wäre aber gerade Reduktion auf das nihil neutrale aller Möglichkeit von Entgegensetzung, wäre die logische Indifferenz, von der sich die reale gar nicht an sich, sondern durch die andere Art ihres Funktionierens unterscheidet. Dieser Punkt ist eben der Punkt, der, alles unterscheidend, selbst ununterscheidbar bleibt. Die reale Entgegensetzung enthält 98 99 100 101

Ebd., S. 791f. [A 20-21]. Ebd., S. 782 [A 1]. Ebd., S. 781 [A VI]. Ebd.

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Kapitel 7 außer den Extremen noch deren nihil, das als solches auch vom logischen ununterscheidbar ist.“ (ebd.)

Auf das „nihil neutrale“ als erkenntnistheoretische Voraussetzung für die Produktion polarer Spannungsverhältnisse kommt es Friedlaender in der Schöpferischen Indifferenz an. Drei Aspekte können dabei unterschieden werden, um Friedlaenders Nihilismus-Konzept zu verdeutlichen und um es dann anschließend mit Benjamins „Methode Nihilismus“ vergleichen zu können. Erstens ist es nützlich, sich der Bedeutung der ‚Null‘ bei Friedlaender über eine ex negativo-Bestimmung zu nähern. In der Schöpferischen Indifferenz kommt er immer wieder darauf zurück, was die ‚Null‘ nicht ist. Zum einen ist diese ‚Null‘ als ein ‚Nichts‘ nicht negativ bestimmt: „[…] ein Nichts, das schlechthin Mangel ausdrückte, ist nicht etwa ein rundes volles absolutes, sondern eben gerade ein halbes Nichts, nur minus null, nur negative, nicht mediale, indifferente: – – runde und volle!“ (ebd., 335) Zum anderen ist es aber auch nicht positiv bestimmt: „Ebensowenig deckt sich das Nichts mit irgend etwas Positivem“, es hat also kein „positives Sein.“ (ebd., 389) Und zuletzt ist das „Nichts kein Extrem, es ist auch beileibe nicht die Versöhnung seiner Extreme; Ja ist etwas polar Anderes als Nein.“ (ebd., 388) Stattdessen ist es „ein tertium, ein neutrum […], die neutrale Null, welche von der bloß positiven oder bloß negativen sich so scharf unterscheidet, wie eine Vermögensloser, der weder Schulden noch Einnahmen hat, von einem solchen, der nur Schulden oder nur Einnahmen ohne Schulden hat.“ (ebd., 190) Abgesehen davon, dass hier einmal mehr der polare Grundgedanke mittels einer Analogie inszeniert wird, kommt es auf das tertium an, das als neutrale Mitte selbst nicht Teil der extremen Spannung ist, sondern dieser als Möglichkeitsbedingung vorausgeht. An einer anderen Stelle heißt es dazu noch pointierter: „Das Nichts also negiert gar nicht, sondern es poniert und zwar polar, also positiv und negativ zusammen.“ (ebd., 160) Die „mediale Grenzscheide“, die dem Bild von der polaren Korrelation von Auf- und Untergang zugrunde liegt und von dem wir bereits betont haben, dass es in seiner paradoxen Gegenseitigkeit eine deutliche Korrespondenz zu Benjamins Vorstellung vom Untergang des Profanen und der Ankunft des Messias aufweist, ist bei Friedlaender also als Konzept des Nihilismus spezifiziert, besser: als ein Konzept des ‚medialen Nihilismus‘. Neben dem Aspekt der Grenze zwischen den polaren Extremen tritt als zweiter Aspekt die Idee hinzu, über diese Grenze graduelle Intensitätsstufen zwischen den Polen unterscheiden zu können. Das unbestimmte, nicht-erfüllte reine Nichts ist daher bei Friedlaender zugleich das „absolute[…] Integral, aus dessen Intensität sie [die Differenz, K.D.] sich polar extendiert“ (F/M 10, 152). Zu einer

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solchen Logik gradueller Bezüglichkeit qua gegenstrebiger Bewegung heißt es bei Friedlaender: „[…] aber gemeinhin wird auch der Grad unterschätzt: er bedeutet ja nicht nur, wie man ihn zu nehmen pflegt, den Grad des Gleichartigen, sondern auch des extrem Entgegengesetzten; die Gradation der gleichartigen Reihe ist nur die Hälfte der wirklich extremen, diametralen Gradation; und sogar das für gleichartig Gehaltene erscheint, wenn man den Richtungsgegensatz der Gradation bedenkt, viel unterschiedener. Es gibt bloß spezifische Unterschiede, und diese sind gradweis, wenn man den Grad in seiner ganzen Bedeutung, also polar auffaßt“ (ebd., 317f.)102

Den graduellen Bezugsmodus „in seiner ganzen Bedeutung“ zu ermessen bedeutet für Friedlaender beide Aspekte miteinander zu verbinden: die graduelle Differenzierung einerseits und die konstitutive Mitte als reine Grenze zwischen beiden Polen andererseits. Damit bleibt die ‚Null‘, der Nihilismus notwendige Voraussetzung gradueller Bezüglichkeit: „Man erwäge die Gradation der Zahl und vergesse, außer plus und minus, keineswegs, jeder das Zeichen der Null, der Indifferenz, der Mitte beizugeben.“ (ebd., 135) Denn ein ausschließlich gradueller Bezugsmodus, so Friedlaenders Argumentation, würde die Grenze unscharf werden lassen, indem gleitende Übergänge klare Trennungen unterlaufen. Die ‚Null‘, der ‚mediale Nihilismus‘ ist daher zugleich die Voraussetzung als auch die absolute Grenze der graduellen Intensitätsbeziehung zwischen den Polen. Der dritte Aspekt dieses ‚medialen Nihilismus‘ klang bereits im Zusammenhang mit Friedlaenders theoretischen Ausführungen zur Symbolik an: Der ‚Nullwert‘ ist selbst nicht durch ein positives (oder negatives) Sein bestimmt, sondern bleibt „bildlos“, ist in „kein[em] Bild“ (ebd., 379) gegeben und damit also „nichts Demonstrables“ (ebd., 106). Stattdessen erscheint das ‚Nihil‘ nur in der polaren Gegensätzlichkeit als vorausgesetztes Prinzip „indifferente[r] Latenz“ (ebd., 135). Der Nihilismus ist kein stabiles, ‚objektives‘ (vgl. ebd., 107) Prinzip, sondern der „Abgrund, in dem die Wahrheit des Nullgrades schwebt“ (ebd., 148). Die Null steht als latente Figur des Dritten zwischen diesen beiden Extremen, um die polardynamische Wirksamkeit zu ermöglichen, d.h. um „ihre reinste Angrenzung zuzulassen“ (ebd., 145). Erst „in dieser Weise, als neutrale Größe, vollführt der Nullgrad allenthalben die Magie der Äquilibristik […].“ (ebd., 148) 102 Ähnliche Formulierungen finden sich an mehreren Stellen im Werk: „Schließlich ist zu erinnern, daß es andre als gradweise Unterschiede nur scheinbar gibt. Man vergißt nämlich gern, daß unter der Gradation nicht nur die gleichartigen, sondern auch die entgegengesetzten Größen begriffen sind […].“ (ebd., 304)

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Kapitel 7

Zusammenfassend lässt sich demnach zu den drei aufgeführten Aspekten festhalten: Friedlaenders ‚medialer Nihilismus‘ geht erstens von einem ‚Nullwert‘ zwischen den polaren Extremen aus, der die reine Grenze zwischen den Polen bildet; zugleich garantiert er zweitens die graduelle Intensität zwischen den Polen, bleibt dabei aber drittens selbst latent, d.h. in der Schwebe zwischen den Polen, weil er selbst weder positiv noch negativ bestimmt ist, sondern die polare Spannung gegenstrebiger Kräfte immer erneut ausgleichen muss, ohne je an einem festen Punkt stillzustehen. Die damit angezeigte „Schwebung des Gegensätzlichen“ (ebd., 338) rekurriert weder auf einen starren Gegensatz noch auf eine Vermischung, sondern macht aus widerstreitenden Kräften ein immer erneut herzustellendes polardynamisches Verhältnis, dessen Kraft in der Maximierung, d.h. graduellen Intensivierung der Spannung zwischen den Extremen besteht: „Man sehe sich den Punkt an, in dem gleiche Kräfte nach entgegengesetzten Richtungen dringen: er birst ja fast vor Kraftanspannung, er lechzt nach Wirksamkeit.“ (ebd., 207) In Benjamins Fragment scheint eine ähnliche Bewegung auf einen solchen Punkt zuzustreben, die durch die „Methode Nihilismus“ angezeigt wird. Deuten doch die ewige Vergängnis bzw. die „Ewigkeit eines Unterganges“ des Profanen auf der einen Seite und das ImKommen-Bleiben bzw. das „leiseste[…] Nahen[…]“ des messianischen Reiches auf der anderen Seite durch die Wirkung in entgegensetzte Richtungen zugleich von verschiedenen Seiten auf einen Punkt der maximalsten Kraftanspannung hin, an dem dann letztlich das Ende der Geschichte und die gleichzeitige Ankunft des Messias zusammenfallen würden. Irving Wohlfarth hat bereits beschrieben, dass in dem ganzen Theologisch-politischen Fragment eine spezifische „coincidentia oppositorum“103 wirke. Wie gesehen, setzt auch Friedlaenders polare Philosophie des ‚medialen Nihilismus‘ immer wieder erneut bei dieser Denkfigur an. Für das intertextuelle Verständnis vor allem des letzten Abschnittes von Benjamins Fragment ist es möglicherweise neben der coincidentia oppositorum aufschlussreich, dass Friedlaender darauf insistiert, sich zugleich auch auf die „disexcidentia identitas“ (F/M 10, 169) zu besinnen. Dieser vorausgesetzte Punkt bilde die „reine Mitte zwischen Sterben (– ∞) gegen Werden (+ ∞)“ (ebd.). Nur durch diese Mitte könne auch das „heuristische Prinzip der Polarität“ (ebd., 171) seine erkenntniskritische Wirkung entfalten. Ermöglichen damit aber auch die drei von Friedlaender entfalteten Aspekte eines ‚medialen Nihilismus‘ ein anderes als rein negatives Verständnis der stark verdichteten Argumentationslogik des zweiten und dritten 103 Irving Wohlfarth, Nihilistischer Messianismus, S. 190. Vgl. auch ebd., S. 178 u. S. 209.

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Abschnittes von Benjamins Text? Lassen sich vielleicht sogar Anhaltspunkte für eine solche mediale Konzeption des Nihilismus im Fragment ausweisen? 7.3

Benjamins „Methode Nihilismus“: Gibt es eine ‚mittelbare messianische Intensität‘?

Auf der Grundalge des vorherigen Abschnittes bietet sich zunächst ein Vergleich mit den ersten beiden Aspekten von Friedlaenders Konzept eines ‚medialen Nihilismus‘ an: der Grenze und der graduellen Intensitätsbeziehung. Wie wir bereits gesehen haben, wird der Nihilismus bei Benjamin als Methode einer Weltpolitik eingeführt, die die „ewige[…] und totale[…] Vergängnis“ (WB II., 1, 204) der Natur erstreben soll. Diese Vergängnis erstrebt eine in doppelter Hinsicht „frei[e] Menschheit“ (ebd., 203f.). Sie ist frei von theokratischen Ansprüchen und damit einem unmittelbaren Bezug auf die Ankunft des Messias. Und sie ist frei zur Etablierung einer „profane[n] Ordnung des Profanen“ (ebd., 204), die allein auf das immanente, weltliche Glück ausgerichtet ist. Friedlaender hatte nun nachdrücklich betont, dass der Nihilismus weder positiv noch negativ, sondern aufgrund seiner reinen Medialität als „nihil neutrale“ zu bestimmen sei. Nur so könne der Nihilismus als Grenze eines polaren Spannungsverhältnisses fungieren. Dass auch Benjamins „Methode Nihilismus“ nicht rein positiv bestimmt ist, macht das Fragment selbst deutlich, indem die Verwirklichungstendenz des profanen Glücks zugleich den Rhythmus des Untergangs des Irdischen bestimmen soll. Aber auch rein negativ lässt sich der Nihilismus nicht fassen. Denn würde er nur einseitig als Negationsoperator innerhalb des Profanen fungieren, ließe sich rein logisch betrachtet ein solcher Untergang des Profanen letztlich doch noch zweckteleologisch als immanentes Ziel des Profanen formulieren, um die Ankunft des Messias zu beschleunigen oder gar herbeizuführen. Dieser instrumentellen Logik hat Benjamin aber bereits mit dem ersten Abschnitt eine klare Absage erteilt. Falls die „Methode Nihilismus“ in Benjamins Fragment ebenfalls als eine mediale Grenze des Spannungsverhältnisses zwischen Profanem und Messia­ nischem gedacht sein sollte, müsste sich das an der auf den ersten Blick recht irritierenden Einführung eines „Rhythmus der messianischen Natur“ (ebd.) am Ende des zweiten Abschnittes nachweisen lassen, der gerade dort zum Tragen kommen soll, wo der Nihilismus auf das „vergehende[…] Weltliche[…]“ (ebd.) gerichtet ist und die „ewige[…] und totale[…] Vergängnis“ „erstreben“ (ebd.) soll. Wie aber lässt sich diese recht unvermittelt eingeführte Wirkung

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Kapitel 7

des Messianischen in der Natur am Ende des zweiten Abschnitts des Fragments erklären? Elke Dubbels sieht hier das grundsätzliche Problem des Fragments, weil Benjamin mit dem Bild der gegenstrebigen Pfeilrichtungen und der weltlichen resititutio in intergrum als Pedant zu geistlichen „die kategorische Unterscheidung zwischen Profanem und Messianischem auf[gibt]“104. Damit zeige sich in Benjamins Fragment, „wie schwierig es ist, profane und religiöse Kräfte in einem austarierten Kräfteverhältnis zu halten.“105 Als problematisch mag dieses Kräfteverhältnis in der Tat dann erscheinen, wenn man es ausschließlich von der konstitutiven Grenze zwischen der profanen Ordnung und der Ankunft des Messias her denkt wie sie im ersten Abschnitt bereits gesetzt und im ersten Teil des Bildes von den gegenläufigen Pfeilrichtungen nochmals verstärkt wurde. Im zweiten des zentralen Bildes des Fragments hingegen, so wurde bereits gezeigt, kündigt sich hingegen eine graduelle Intensivierung der Beziehung der beiden Pole gerade durch ihre Gegenstrebigkeit an. Die graduelle Intensitätssteigerung, darauf wurde ebenfalls bereits hingewiesen, löst die Grenze nicht auf, sondern dynamisiert sie durch den Hinweis auf das „leiseste[…] Nahen[…]“ (WB II.1, 204). Dieses graduelle Bewegungsprofil im zentralen Bild deutet nicht auf ein statischen Gleichgewichtszustand, sondern eine dynamische Bezugsform gegenstrebiger Kräfte. Vor dem Hintergrund der letzten Sätze des Fragments scheint der Schauplatz dieses dynamischen Bezugs der Nihilismus zu sein, der die innerweltliche Vergängnis und das in dieser Vergängnis zum Ausdruck kommende Messianische („der Rhythmus der messianischen Natur“) zugleich voneinander trennt als auch in eine Beziehung der graduellen Intensität versetzt. Berücksichtigt man also beide Aspekte gleichermaßen, so ließe sich der Nihilismus nicht nur als die methodische Grenze zwischen Profanem und Messianischem ausweisen, sondern auch als Voraussetzung einer von zwei Seiten bestimmbaren Intensitätssteigerung. Denn beide Seiten scheinen schließlich Anteil am Nihilismus zu haben: Die messianische Intensität dadurch, dass die Ankunft des Messias die Geschichte beenden und also in ein ‚Nichts‘ überführen wird; das Profane wiederum dadurch, dass es dieses ‚Nichts‘ durch sein eigenes ‚Glücksstreben‘ befördert. Und immerhin heißt es zuletzt, dass die Intensivierung der Ausrichtung des Profanen auf das Glück zugleich die Intensivierung dessen befördert, was an der Natur „messianisch ist“ (ebd.) Vor diesem Hintergrund lässt sich in Benjamins Argumentation im Fragment durchaus eine strukturelle Ähnlichkeit zu den beiden ersten Aspekten der Friedlaender’schen Konzeption 104 Elke Dubbels, Zur Logik der Figuren des Messianischen in Walter Benjamins ‚theologischpolitischem Fragment‘, S. 55. 105 Ebd.

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eines ‚medialen Nihilismus‘ identifizieren, also hinsichtlich der neutralen Grenzbestimmung zwischen den Polen und der Idee einer Intensivierung der differenziellen Beziehung durch die Steigerung ihrer Spannung. Allerdings lässt sich gegen diesen strukturellen Vergleich ein entschei­ dender Einwand formulieren, der die Tatsache betrifft, dass das Fragment die mediale Beziehung des Nihilismus zu beiden Seiten der polaren Spannung nicht gleichermaßen deutlich zum Ausdruck bringt. Auf der einen Seite ließ sich bereits sehr deutlich zeigen, dass der Nihilismus dasjenige Medium ist, durch das die Vergängnis des Weltlichen erstrebt werden soll. Von einem ‚Medium der messianischen Intensität‘, das der Nihilismus ebenfalls darstellen müsste, damit er im Sinne eines polaren Spannungsgefüges zugleich die Grenze zwischen beiden Polen bildet als auch die Intensitätsbeziehung befördern kann, ist auf den ersten Blick jedoch nicht gleichermaßen die Rede. Stattdessen wird der „Rhythmus der messianischen Natur“ recht unvermittelt und ohne weitere Erklärungen am Ende des zweiten Abschnittes eingeführt. Betrachtet man allerdings die beinahe schon schematischen Ausführungen, die im zweiten Abschnitt auf das Bild von den gegenstrebigen Kräften folgen und bei der jedem theologischen Motiv ein profanes entgegengesetzt wird, fällt auf, dass Benjamin genau eine Gegenüberstellung nicht aufführt, die aber als Leerstelle umso bemerkenswerter ist. So ist dort die Rede von einer „geistlichen restitutio in integrum“ (ebd.), der eine „weltliche“ „entspricht“ (ebd.). Diese Entsprechung führt Benjamin weiter aus: Erstere führt zur Ewigkeit im Sinne von „Unsterblichkeit“ (ebd.), zweitere zur „Ewigkeit eines Untergangs“ (ebd.). Erstere betrifft individuell den „inneren einzelnen Menschen“ (ebd.), zweitere betrifft die kollektive, „freie[…] Menschheit“ (ebd., 203f.). Soweit die eindeutig markierten Gegensatzpaarbildungen. Sodann fehlt aber eine einzige Paarbildung, die im „Rhythmus der messianischen Natur“ (ebd., 204) zwar angedeutet aber nicht explizit benannt wird: Wenn es eine „unmittelbare messianische Intensität des Herzens gibt“ (ebd.), die den einzelnen Menschen betrifft, so müsste es im Sinne der überdeutlich markierten Logik der Gegensatzbildung im Fragment auch eine ‚mittelbare messianische Intensität‘ geben. Es scheint so, als kreise das Fragment genau um diesen Aspekt, den Benjamin als Unausgesprochenes zur Leerstelle und damit zu dem eigentlichen geschichtsphilosophischen „Problem“ des Fragments macht, das er im Bild von den gegenstrebigen Pfeilen und den sich qua Gegenstrebigkeit befördernden Kräften vorführt. Das von Adorno sogenannte ‚Theologisch-politische Fragment‘ ließe sich von hieraus gewissermaßen als ‚Fragment über das Problem einer mittelbaren messianische Intensität‘ betiteln. Der Gedankenstrich, den Benjamin nahezu exakt in die Mitte des zweiten Abschnittes setzt, scheint diese Leerstelle auch typographisch zu markieren.

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Wie aber müsste man diese ‚mittelbare messianische Intensität‘ näher charakterisieren, wenn man sie von der These über die mediale Konzeption der „Methode Nihilismus“ aus perspektiviert? Zunächst gilt es zu betonen, dass sie nicht gleichzusetzen ist mit der Ankunft des Messias selbst, denn dann wäre die messianische Intensität nicht mittelbar, sondern könnte zum immanenten Zweck der Ordnung des Profanen werden. Werner Hamacher hat bereits darauf hingewiesen, dass das Fragment stattdessen deutlich zwischen dem Messias und dem Messianischen unterscheidet.106 Der Messias bleibt das konstitutiv „Unverfügbare“107; von seiner Ankunft wird nach dem ersten Abschnitt nicht mehr direkt gesprochen. Keine noch so intensive Beziehung zwischen Profanem und Messianischem kann die Ankunft des Messias herbeiführen bzw. beschleunigen. Zwischen der „Ewigkeit eines Untergangs“ und dem ewigen Nahen des Messianischen gibt es keine unmittelbare Beziehung. Der „Rhythmus der messianischen Natur“ bringt sich daher offenbar auch nicht durch die Ordnung des Profanen im Sinne einer instrumentellen Handlungslogik zum Ausdruck. Vielmehr scheint mit der dem Messianischen entgegengesetzten Tendenz der profanen Ordnung auf die „Ewigkeit eines Unterganges“ etwas Messianisches innerhalb dieser Ordnung des Profanen wirksam zu werden. Diese Unterscheidung von ‚in‘ und ‚durch‘ ist als grundlegendes Differenzkriterium aus Benjamins Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die die Sprache des Menschen bekannt. Zudem haben wir in Kapitel  5.3 bereits beobachten können, wie Benjamin diese Unterscheidung in seinem programmatischen Brief an Martin Buber von 1916 bereits auf die Frage der politischen Wirkung des Schreibens zu übertragen versucht hatte. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass diese Unterscheidungsoperation zwischen einem instrumentellen ‚durch‘ und einem medialen ‚in‘ auch im Theologisch-politischen Fragment mitgedacht ist und dort in eine nihilistisch-mediale Bezugsweise im Spannungsverhältnis von Politik und Theologie übersetzt wird. Daraus ergibt sich für die Logik des Fragments, dass das Messianische innerhalb der profanen Ordnung durch den Rhythmus des weltlichen Untergangs „nur sofern [sie] mitteilbar ist“ (WB II.1, 142) wirksam wird; nicht aber als unmittelbare, zweckrationale Bezugnahme des Profanen auf das Messianische im Sinne eines geschichtsimmanenten Telos. Ebenso wie im Sprachaufsatz das Verhältnis von geistigem und sprachlichem Wesen, das dort den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Unterscheidung von ‚in‘ und ‚durch‘ bildet, ein Verhältnis innerhalb der Sprachen ist, die sich 106 Vgl. Werner Hamacher, Das theologisch-politische Fragment, S. 178. 107 Burkhardt Lindner: ‚Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 472-493, hier: S. 492.

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„nach ihrer Dichte, also graduell unterscheiden“ (ebd., 146), scheint auch die Frage der „Methode“ der Politik im Fragment auf die Unterscheidung unterschiedlicher Grade der Bezugsherstellung von Profanem und Messianischem gerichtet zu sein. Während eine zweckrationale, theokratische Politik sich vom Messianischem gerade dadurch entfernt, dass sie es „von sich aus“ (ebd., 203) forciert, scheint der Nihilismus hingegen einen Weg (méthodos) hin zur größtmöglichen Dichte anzuzeigen. Dann bestünde das geschichtsimmanente Potential der historischen Dynamis darin, an den Punkt der, wie Friedlaender sagen würde, „reinste[n] Angrenzung“ (F/M 10, 145) zwischen Profanem und Messianischen zu reichen. Was aber an dieser messianischen Intensität tatsächlich ‚mitteibar‘ sein könnte und sich so in einer nihilistischen „Weltpolitik“ ausdrückt, benennt das Fragment nicht, sondern führt nur den „Rhythmus der messianischen Natur“ an. Einen Hinweis darauf, was Benjamin hier im Sinn gehabt haben könnte, kann eine vermutlich zeitgleich entstandene Notiz für eine geplante Rezension des Aufsatzes Das Recht zur Gewaltanwendung von Herbert Vorwerk, der 1920 in Blätter für religiösen Sozialismus publiziert wurde, geben. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser gehen davon aus, dass diese Notiz möglicherweise „in die Vorstudien zum Gewalt-Aufsatz von 1921 einging“ (WB VI, 691). Das liegt insofern nahe als in den relativ ausführlichen Notizen Argumentationsmuster wiederzufinden sind, die im GewaltAufsatz ausgearbeitet werden. Relativ zu Beginn dieser Aufzeichnungen trifft Benjamin aber auch eine Unterscheidung, die für die Frage, wie eine messianische Intensität mittelbar innerhalb der „profane[n] Ordnung des Profanen“ (WB II.1, 204) wirksam sein könnte, aufschlussreich ist. Benjamin stellt dort dem „gewalttätigen Rhythmus der Ungeduld, in welchen das Recht existiert und sein Zeitmaß hat“ (WB VI, 104) einen „guten Rhythmus der Erwartung, in welchem das messianische Geschehen verläuft“ (WB VI, 104), entgegen. Die politische Bedeutung dieses messianischen Rhythmus besteht darin, dass er aus der zirkulären Struktur herausgelöst ist, in der das Recht sich immer wieder erneut begründen muss. Dieser Zirkel verweist auf die ausführlichere Diskussion in Zur Kritik der Gewalt, hatte doch Benjamin dort dargelegt, dass die „Problematik des Rechts“ (WB II.1, 190) darin bestehe, immerzu Gewalt als rechtssetzendes oder rechtserhaltendes Mittel anwenden zu müssen. ‚Ungeduldig‘ ist der Rhythmus, weil das Recht in dem Moment, wo es keine der beiden Mittel direkt anwendet, „auf jede Geltung“ (ebd.) verzichten würde. Es dürfe also, so führt Benjamin weiter aus, keine Lücke entstehen, da sonst nicht nur einzelne Fälle der Rechtsanwendung, sondern die Bannkraft des Rechtes als solche durchbrochen werden könnte. Daher fußt das Recht auch nur auf einer „untergeordnete[n] Wirklichkeit“ (WB VI, 104). Es

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hat keinen festen Ursprung, sondern besteht nur in einem problematischen Zirkel immer erneuter Gewaltanwendung als Mittel der prekären Stabilität des Rechts. Der messianische „Rhythmus der Erwartung“ hat nicht dasselbe „Zeitmaß“ und ist auch in einer andern „Wirklichkeit“ verortet. Diesem Rhythmus eignet keine ‚ungeduldige‘, „intensive Verwirklichungstendenz“ (ebd.), durch die sich das Recht zu ‚begründen‘ glaubt. Bezieht man diese Unterscheidung auf das Theologisch-politische Fragment, scheint Benjamin auch den „Rhythmus der messianischen Natur“ nicht im Sinne einer solchen problematischen „intensive[n] Verwirklichungstendenz“ (ebd.) zu adressieren, sondern als einen „Rhythmus der Erwartung“ innerhalb der profanen Ordnung. Die Form der Intensivierung, die diesem Rhythmus entspricht, ist eine Intensivierung der gegenstrebigen Kraftanspannung von Messianischem und Profanem. Darin scheint das Messianische, nicht der Messias selbst, mittelbar eine latente Wirksamkeit im Profanen zu entfalten. Damit ließe sich auch die Aufgabe der „Methode Nihilismus“ näher bestimmen als Ermöglichung dieses „Rhythmus der Erwartung“ als Ausdruck einer ‚mittelbaren messianische Intensität‘. Das bedeutet aber auch, den Nihilismus weder mit der Immanenz der historischen Dynamis noch mit der Transzendenz des Messianischen gleichzusetzten. Vielmehr scheint der Nihilismus als eine spezifische Figur des Dritten im Sinne einer Mitte zwischen den Polen bestimmt, der eine Beziehung zu beiden Seiten unterhält, indem er die Pole zugleich voneinander trennt und in eine polardifferenzielle Intensitätsbeziehung setzt. Fluchtpunkt dieser intensiven Polaritätsbeziehung scheint dabei letztlich ein nicht mehr in die Zeitstruktur der historischen Dynamis eingefasster, sondern für die profane Handlungslogik konstitutiv unverfügbarer Augenblick des ‚Umschlagens‘ zu sein. Auf dieses ‚Umschlagen‘ kommt Benjamin noch einige Jahre später wieder zu sprechen, wenn er gegenüber Scholem die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Einbahnstraße beschreibt und dabei sowohl einen beziehungslosen Gegensatz zwischen Religion und Politik als auch eine Vermittlung ausschließt. Stattdessen betont er: „Ich spreche hier von einer Identität, die sich allein im paradoxen Umschlagen des einen in das andere (in welcher Richtung immer)“ (Br III, 158) als denkbar erweist. Im Fragment führt uns Benjamin zwischen dem Konditionalgefüge im ersten Teil des Pfeil-Bildes und der Analogiebeziehung im zweiten Teil bildlich vor, welche Voraussetzungen diesem „paradoxen Umschlagen“ zugrunde liegen: Es ist die Intensivierung einer Spannungsbeziehung, die hier früh schon als Voraussetzung bestimmt wird für „die kleine Pforte, durch die der Messias treten“ (WB I.2, 704) kann. Im Augenblick dieses ‚Umschlagens‘ fallen dann das Ende der Geschichte und die Ankunft des Messias zusammen. Der Nihilismus ist dabei weder der Vermittler einer

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dialektischen Bewegung hin zu diesem ‚Umschlagplatz‘ noch ‚befördert‘ er ihn durch die Logik eines letzten, ereignishaften Sprungs zu einer apokalyptischen Offenbarung, wie es bei Bloch gedacht ist. Als Medium der Vergängnis des Weltlichen ist der Nihilismus vielmehr zugleich das Medium der latenten Wirkung des Messianischen. Das geschichtsphilosophische „Problem“, das uns Benjamin im Pfeil-Bild vorführt und das die Frage nach einer nichtteleologischen Bezugsform zwischen Profanem und Messianischem betrifft, wird im Nihilismus nicht gelöst, sondern in ein mediales Verhältnis übersetzt, das den Bezug in einen permanenten Schwebezustand überführt: Der Schwebe zwischen „ewige[r] und totaler Vergängnis“ und dem „leisesten Nahen[…] (WB II.1, 204) als Im-Kommen-Bleiben des Messias. Die latente Wirksamkeit im Profanen ist damit nicht einer Logik der apokalyptischen „Erlösung“108 verschrieben, sondern entfaltete sich eben in dem, was Benjamin in den zitierten Notizen als „Rhythmus der Erwartung“ (WB VI, 104) bezeichnet hat. In seine späteren geschichtsphilosophischen Thesen begründet Benjamin diesen Punkt des Umschlagens von einem „Begriff der Gegenwart als der ‚Jetztzeit‘, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.“ (WB I.2, 704) Solche Berührungspunkte sind wahrscheinlich ausschlaggebend dafür gewesen, dass Adorno das Theologisch-politische Fragment in den 1930er Jahren als ein aktuelles Stück wahrnehmen konnte. Auch Irving Wohlfarth kommt auf diesen Zusammenhang zu sprechen und vermittelt die frühen mit den späteren geschichtsphilosophischen Reflexionen über die auch hier bereits in Anschlag gebrachten sprachphilosophischen Überlegungen. Wohlfarth verweist auf den Übersetzer-Aufsatz und die dort angeführte „Sprache der Wahrheit […], in welcher die letzten Geheimnisse, um die alles Denken sich müht, spannungslos und selbst schweigend aufbewahrt sind“ (WB IV.1, 16). Diesem letzten Zustand der Spannungslosigkeit, den Benjamin auch dort an das „messianische Ende ihrer [der Sprachen, K.D.] Geschichte“ (ebd., 14) bindet, könne, so Wohlfarth, „nur entsprochen werden, indem sich das Denken scheinbar unversöhnlichen Spannungen aussetzt“109. Für Wohlfarth zeigt sich in der Spannung eine Art paradoxer Hinweis auf den Umschlagspunkt hin zu dem nicht verfügbaren, spannungslosen Zustand der Sprache der Wahrheit. Diesen Umschlagspunkt erklärt er dann mittels einer Analogie zum dialektischen Bild, in dem „das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält“ (WB I.2, 702f.). Die zugrundeliegenden Zeitstrukturen im Theologischpolitischen Fragment und den späteren bildtheoretischen Überlegungen sind offensichtlich sehr ähnlich. Neben der von Wohlfarth begründeten 108 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 341. 109 Irving Wohlfarth, ‚Immer radikal, niemals konsequent …‘, S. 120.

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werkimmanenten Kontinuitätslinie zum dialektischen Bild, das eher die Nachgeschichte im Sinne von Aktualisierungen und Umschriften betrifft, konnten die vorangegangenen Untersuchungen bereits anhand der konkreten Arbeits- und Produktionszusammenhänge zeigen, dass im Fragment deutliche strukturelle Ähnlichkeiten zu der polaren Bildtheorie aus der von Benjamin in jener Zeit rezipierten Schöpferischen Indifferenz von Friedlaender bestehen. Das scheint auch zuletzt noch auf die Zeitstruktur des Fragments zuzutreffen, führt Friedlaender doch seine symboltheoretischen Untersuchungen am Ende in einer Reflexion über die Zeit zusammen, mit der er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein polares Verhältnis setzt. Dieser polare Zeitbegriff korrespondiert zum einen auffällig mit dem Rhythmus von Werden und Vergehen im Fragment und weist zum anderen auch Ähnlichkeiten zu Benjamins späterer dialektischen Konstellation auf: „Das Jetzt, als gemeinsame Grenze von Zukunft und Vergangenheit, steht still; aber dieser ewige Stillstand ist lebendiger als das Werden für sich und das Vergehen für sich. Das Vergehen ist kein Stillstand, sondern eine Gegen-Werden, ‚Entwerden‘, die negative Zukunft. So sind auch Zeitliches und Ewiges gar nicht entgegengesetzt, sondern die Zeit ist die in sich gegensätzliche Allegorisierung des Ewigen; oder wie Platon sagt: die Zeit ist das bewegte Abbild der Ewigkeit. Das Jetzt entfliegt nur dem halben Blick. Die Vergangenheit steht nicht still, nur dem schiefen Blick. Die Zukunft zögert nicht, sie stürmt von der Seite so unaufhaltsam auf die Gegenwart ein, aus der sie entspringt, wie von der anderen Seite das Vergehen, das denselben Ursprung hat. Der dreifache Schritt der Zeit ist vielmehr der Flug ihres schwebenden, von den Flügeln der Vergangenheit und der Zukunft getragenen zentralen Jetzt der Person.“ (F/M 10, 384)

Die Flügel, das Stürmen der Zukunft und das Schwebende zwischen Vergangenheit und Zukunft, Flug und Stillstand: Viele der hier versammelten Motive erinnern sehr deutlich an den Engel der Geschichte aus Benjamins berühmter neunten geschichtsphilosophischen These. Wo der Angelus Novus zwischen Verweilen-Wollen und dem historische Katastrophenzusammenhang des ‚Fortschrittssturms‘ (vgl. WB I.1, 698), der den Angelus Novus daran hindert, einzuhalten, „die Toten [zu]wecken und das Zerschlagene zusammen[zu] fügen“ (ebd., 697), eingespannt wird, ist das bei Friedlaender das Vergehen ebenso wie das Werden notwendige Bedingung der Erkenntnis des „Jetzt“ aus einem nicht mehr nur „halben Blick“. Friedlaender greift hier nochmals das bereits zitierte polare Bild von Auf- und Untergang auf und übersetzt es auf die Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei ist dann das Vergehen selbst nicht nur passiv gedacht, sondern wird als „‚Entwerden‘“ konstitutiver Bestandteil der polaren Zeitstruktur. Auch Benjamins Vorstellung von der Errichtung einer „profane[n] Ordnung des Profanen“ (WB II.1, 204)

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ist dieser aktive Abbau als ein „‚Entwerden‘“, wie es bei Friedlaender heißt, eingeschrieben. Beiden gemeinsam ist dabei die Vorstellung einer latenten, schwebenden Mitte als polar eingefasstes „Jetzt“. Während Friedlaender in seinem subjektphilosophischen Interesse stärker auf die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen zielt, lässt sich zumindest vermuten, dass Benjamins Interesse gerade auf das polare Strukturmodell in Friedlaenders bildtheoretischer Anschauungsweise gerichtet ist, sucht da er im Fragment genau eine solche polare Anschauungsweise für das geschichtsphilosophische Problem der Verhältnisbestimmung von Politik und Theologie darzustellen versucht. Mit dem „zentralen Jetzt der Person“ versucht Friedlaender am Ende seiner SymbolSkizze die Idee einer „mystischen Union“ (F/M 10, 385) als „persönliche Indifferenz“ (ebd.) aus der Idee des rein medialen Nihilismus zu begründen. Benjamin nutzt dieselben Argumentations- und Denkfiguren, profiliert an ihnen aber das für ihn zentrale Problem einer „mystische[n] Geschichtsauffassung“ (WB II.1, 203). Beiden gemeinsam ist dabei vor allem der grundlegende anti-teleologische Zug in der polaren Anschauungs- und Darstellungsweise ihrer Probleme. Das Ende der Geschichte ist bei Benjamin nicht das geschichtsimmanente Ziel der profanen Ordnung im Sinne einer Ursache-WirkungsLogik, sondern eine sich plötzlich inmitten der Ordnung einstellende Ankunft des Messias. Ganz ähnlich formuliert es auch Friedlaender: „Dieses ‚Ende‘ liegt niemals im Äußersten, sondern stets inmitten. Vom Nichts, als wie von der Mitte aus, läßt sich der Unterschied nach entgegengesetzten Richtungen hin in das Unendliche verfolgen. Anfang und Ende sind Mitte! Hier ist die Grenze des Grenzenlosen.“ (F/M 10, 127) Beiden gemeinsam ist zuletzt auch, dass sie diese dargelegte Struktur eines latenten Dritten als Schwebepunkt zwischen den Polen explizit gegen den utopischen Erfüllungsgedanken aus Blochs Geist der Utopie anführen. Um diese Kritik zu verdeutlichen sei hier abschließend eine Passage zitiert, an der Bloch den Grundgedanken seines Utopie-Buches an einigen Begriffen verdeutlicht, die bemerkenswerterweise auch in Zentrum von Benjamins Fragment stehen, wobei Benjamin sie „diametral entgegengesetzt“ (Br II, 73) verwendet. Am Ende seines Kapitels über die Gestalten der universalen Selbstbegegnung oder Eschatologie schreibt Bloch: „Das seelische Leben schwingt zwar über den Leib hinaus, es gibt ein seelisches Keimplasma und die transphysiologische Unsterblichkeit wird vom Verlust des Leibes nicht betroffen. Aber daß das seelische Leben auch über die Vernichtung der Welt hinausschwinge, dazu muß ein im tiefsten Sinne ‚fertig‘ geworden sein und seine Taue mit Glück um die Pfosten der jenseitigen Landungsstelle geworfen haben, soll nicht auch das seelische Keimplasma in den Abgrund des ewigen

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Kapitel 7 Todes gerissen, und das Ziel, auf das es bei der Organisierung des Erdenlebens vor allem ankommt, das ewige Leben, die auch transkosmologische Unsterblichkeit, die alleinige Realität des Seelenreichs, die Restitutio in integrum aus dem Labyrinth der Welt – durch Satans Erbarmen verfehlt werden.“110

Benjamin dürfte mitunter diese Stelle im Sinn gehabt haben, wenn er später gegenüber Scholem spöttisch vom „zentraleuropäische[n] Büro für Selbstbegegnung“ (Br III, 548) spricht. Die Kritik, die sowohl Friedlaender als auch Benjamin an dieser Perspektive Blochs üben, liegt in der Vorstellung, dass die Seele ihre „Taue“ bereits „um die Pfosten der jenseitigen Landungsstelle geworfen habe“ und der Leib damit bloß die weltliche Hülle vorstellt, von der sich das „seelische Leben“ befreien müsse. Wie bereits zu Beginn der Untersuchung betont wurde, erkennen sowohl Benjamin als auch Friedlaender Blochs grundsätzlichen Impuls des „Umden­ken­wollen[s]“111 im Verhältnis von Politik, Theologie/Metaphysik und Ästhetik an. Beide kritisieren aber andererseits entschieden den Modus des In-Bezug-Setzten bei Bloch. In vergleichbarer Weise versuchen Benjamin und Friedlaender dort den Bezug zwischen Profanem und Messianischen (Benjamin) bzw. Immanenz und Transzendenz (Friedlaender) als ein polares Spannungsverhältnis zu denken, wo Bloch hingegen in seinem expressionistischen Ausdrucksgestus diese Differenz gerade durch ein Denken des „Sprung[s]“112 zu überbrücken sucht, das sich an einer am individuellen seelischen Haushalt ausgerichteten „Metaphysik der Innerlichkeit“113 profi­ liert. Und wo Bloch die apokalyptische Offenbarung eines ‚Dritten‘ als „Erfüllung“114 des utopischen Wunsches nach einer anderen Welt denkt und mithin als „Erntefest[es] der Apokalypse“115 vorstellt, installieren Benjamin und Friedlaender eine ‚latente Figur des Dritten‘ zwischen den gegenläufigen Polen von Profanem und Messianischen bzw. Immanenz und Transzendenz, die sie beide bezeichnenderweise unter dem Begriff des Nihilismus fassen. Für Benjamin ist bereits seit seiner Auseinandersetzung mit seinem Jugendfreund, dem Dichter Fritz Heinle, die Unterscheidung von messianischer Erwartung und christlicher Erfüllung zentraler Bestandteil seiner Reflexionen über das Verhältnis von Politik und Theologie. (vgl. Kap. 5.1) Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit Bloch taucht dieser Gegensatz zwischen christlicher 110 111 112 113 114 115

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 442. (Herv. v. K.D.). Ebd., S. 340. Ebd., S. 435. Ebd., S. 184. Ebd., S. 342 Ebd., S. 445.

Benjamins ‚Theologisch-politisches Fragment‘

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Eschatologie und jüdischem Messianismus unter veränderten Vorzeichen wieder auf. Das Theologisch-politische Fragment ist dabei der Versuch, nicht nur das Problem als solches in seiner Paradoxie herauszuarbeiten, sondern zugleich auch eine eigene Position zu entwickeln, die seine systematischen Überlegungen zum Politischen zu Beginn der 1920er Jahre bestimmen. Dafür entwickelt er mit den Denkfiguren der Polarität, der Intensität und des Nihilismus einen Modus polardifferenzieller Bezüglichkeit zwischen Politik und Theologie, die noch dem konstellativen dialektischen Bild zugrunde liegt. Friedlaender wiederum installiert das neutrale Nichts in der Schöpferischen Indifferenz explizit gegen die „phantastischen Träume der Utopisten“ (ebd., 307), die die Vorstellung der „mediale[n] Indifferenz“ (ebd., 334) „prosaisch machen soll.“ (ebd., 307) Nur ein ‚prosaischer‘ Blick auf die Neutralität der Mitte verhindert die Gefahr, dass „stumpfsinnige Zusammenhänge oder gar Sprünge entstehen“ (ebd., 181). Wir werden im nachfolgenden Untersuchungsteil beobachten können, wie Benjamin und Friedlaender diesen ‚prosaischen Blick‘ als Nüchternheit in sehr ähnlicher Weise in Paul Scheerbarts Roman Lesabéndio realisiert sehen. Beide nehmen den Roman in einer gleichermaßen philosophischen, ästhetischen und politischen Lektüre zum Anlass, um die Kritik an Bloch im Feld des Ästhetischen weiterzuführen. Die untersuchten Denkfiguren, mit denen Benjamin und Friedlaender Blochs Utopie-Buch kritisieren, werden in dieser ästhetischen Debatte von beiden erneut aufgegriffen. Neben den ausgewiesenen strukturellen Ähnlichkeiten in der Konzeption eines ‚medialen Nihilismus‘ ergibt sich dabei ein weiterer Vergleich über eine andere Figur des ‚Dritten‘, die bisher kaum für Benjamins frühe Arbeiten über das Politische in Anschlag gebracht wurde: der Humor.

Kapitel 8

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“: Humor, Heiterkeit und Technikutopie in Benjamins Scheerbart-Lektüren „Nur im Humor kann die Sprache kritisch sein.“ Walter Benjamin (Br I, 349) „[…] und wer dazwischen neutral bleibt, wird den Humor der Gewißheit davontragen, daß nun erst der Sprache eine schwebende Standfestigkeit verliehen sei […].“ Salomo Friedlaender (F/M 10, 181)

8.1

„Geistig hat er bei mir seine zweite Metamorphose durchgemacht“ – Paul Scheerbart in Benjamins Schriften

An der vergleichbaren kritischen Auseinandersetzung mit Ernst Blochs Geist der Utopie konnte im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden, dass sich zwischen Benjamins Theologisch-politischem Fragment und Friedlaenders Rezension Der Antichrist und Ernst Bloch auffällige strukturelle Ähnlichkeiten und manifeste intertextuelle Korrespondenzen ergeben, die bis in die Argumentationsstruktur und die für einen medialen Nihilismus mobilisierten Denkfiguren hineinreichen. Diese Dreieckskonstellation, die als eine erkenntnistheoretische Debatte um die Figur eines ‚Dritten‘ zwischen Politik und Theologie rekonstruiert wurde, muss nachfolgend zu einer Viereckskonstellation erweitert werden. Denn sowohl Benjamins kritische Auseinandersetzung mit Bloch als auch der Rekurs auf Friedlaender stehen in engem Zusammenhang mit dem Arbeits- und Produktionszusammenhang des dritten Teils der projektierten großen „Arbeit über Politik“ (Br I, 127). Dieser dritte Teil sollte eine „philosophische Kritik des Lesabéndio“ (ebd., 109) von Paul Scheerbart werden, in der Benjamin beabsichtigte, den im Roman dargestellten Planeten Pallas als „die beste aller Welten“ (Br II, 54) vorzustellen. Diese Implementierung der dargestellten erkenntnistheoretischen Debatte in die Analyse von Scheerbarts Asteroiden-Roman weist darauf hin, dass sich die kritische Auseinandersetzung mit Bloch offensichtlich in das Feld des Ästhetischen verlagert und dort weitergeführt wird. Dadurch ergeben sich aber

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_009

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Kapitel 8

zwei Fragen, denen es mit Blick auf Benjamins Scheerbart-Lektüren sukzessive nachzugehen gilt: Warum und wie erhält die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit Bloch Einzug in die Untersuchung eines literarischen Textes? Und welche Rolle kommt Friedlaender dabei zu? Es wurde in Kapitel  6 bereits ausführlich dargelegt, inwiefern die Entdeckung der Bloch-Rezension von Friedlaender die Konzeption des dritten Teils der ‚Politik-Schrift‘ verändert haben könnte. Erst mit der Lektüre von Friedlaenders „höchst beachtenswerte[r], wesentliche[r] Besprechung von Blochs Buch“ (Br II, 109), zu der Benjamin sich „wahrscheinlich im dritten Teil meiner ‚Politik‘ […] äußern“ (ebd.) wolle, ist überhaupt erstmalig die Rede davon, dass die Auseinandersetzung mit Bloch eine Rolle in der ‚Politik-Schrift‘ spielen sollte. Die begründete Vermutung, Friedlaenders Rezension habe den Anlass zur Weiterführung der Debatte mit Bloch geboten, könnte außerdem noch ein anderer Brief an Scholem vom 4.8.1921 nahelegen. Benjamin bedankt sich dort zunächst für Scholems positive Worte zum Text Zur Kritik der Gewalt und kündigt gleichzeitig an, sich nun an den „nächste[n], letzte[n] Aufsatz zur Politik“ (Br II, 177) begeben zu wollen. Dabei betont er, dass dieser Aufsatz „wohl viel größer als die bisherigen werden wird.“ (ebd.) Es ist unklar, welchen Aufsatz Benjamin damit tatsächlich meint. Bezieht man das Adjektiv „nächste“ auf die Abfolge der einzelnen Teile der Schrift, könnte damit der Text Teleologie ohne Endzweck gemeint sein, in dem sich Benjamin „mit Erkenntnistheorie der Biologie“ (ebd., 140) beschäftigen wollte und der zusammen mit dem Text Zur Kritik der Gewalt den mittleren von drei Teilen der Schrift bilden sollte. Die Rede vom „letzten Aufsatz“ könnte sich aber genauso gut auf den tatsächlich letzten Teil der Arbeit, also der Kritik von Paul Scheerbart Roman Lesabéndio, beziehen. (vgl. ebd., 180) Dann wäre allerdings zu vermuten, dass die Ausweitung des Textumfangs mit der Entdeckung von Friedlaenders Rezension zusammenhängt. Endgültig klären lässt sich das aus heutiger Sicht freilich nicht mehr, ist doch die Scheerbart-Analyse, also der dritte Teil der Arbeit, nicht überliefert. Auf die prekäre Text- und Quellengrundlage, die eine detaillierte philologische Rekonstruktion der Debatten um die ‚Politik-Schrift‘ erschwert, wurde ebenfalls bereits ausführlich in den methodischen Vorüberlegungen zu dieser Untersuchungskonstellation eingegangen. Umso bedeutender ist es aber, dass wir zumindest durch Benjamins affirmativen Bezug auf Friedlaenders Bloch-Rezension Anhaltspunkte dafür haben, welche Schwerpunkte die Auseinandersetzung mit Bloch im dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ gehabt haben dürfte. Darüber hinaus kann die vorliegende Untersuchung aber auch noch – anders als etwa in Bezug auf den Text Teleologie ohne Endzweck – auf zwei

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

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Texte und zahlreiche Notizen sowie verstreute Aussagen Benjamins über Scheerbart zurückgreifen, die zunächst im Fokus stehen werden. Bei den überlieferten Texten zu Scheerbart handelt es sich zum einen um die erste Lesabéndio-Kritik mit dem Titel Paul Scheerbart: Lesabéndio (WB II.2, 618620), die vermutlich zwischen 1917 und 1919 entstanden ist (vgl. WB II.3, 1423), und zum anderen um den späteren französischen Text Sur Scheerbart (WB II.2, 630-632), der „mutmaßlich in den späteren dreißiger Jahren entstanden“ (ebd., 1438) ist. Zwischen diesen beiden Texten stehen die „Prolegomena zur zweiten Lesabéndio-Kritik“ (Br II, 54), die für die ‚Politik-Schrift‘ angefertigt wurden, aber nicht überliefert sind. Neben unterschiedlichen Notizen spielt Scheerbart außerdem in Erfahrung und Armut eine zentrale Rolle; einem Text, dessen besondere Bedeutung in Benjamins Werk ohnehin außer Frage steht.1 Es wäre ohne Zweifel verlockend, die erste Lesabéndio-Kritik als eine Art Ursprung, Keimzelle der Beschäftigung mit Scheerbart zu deuten und den späteren, französischsprachigen Text als eine Art Quintessenz. In dieser werkgenetisch-teleologischen Lesart blieben allerdings die offensichtlichen Verschiebungen und Schwerpunktverlagerungen in der Perspektive auf den Roman unberücksichtigt. Das gilt insbesondere für den späten Text, der in einem anderen Kontext steht als die frühen Texte. Die Tatsache, dass Benjamin Scheerbart später als „un frère jumeau de Fourier“ (WB II.2, 632) bezeichnet, der zwar „l’œuvre de l’utopiste français“ (ebd.) nicht kannte, aber dennoch zwischen beiden Ähnlichkeiten aufzuweisen seien, weist zwar auch auf ältere Motive zurück, steht aber hier viel unmittelbarer im Zusammenhang mit den Passagen-Aufzeichnungen über Fourier. (vgl. WB V.2, 764-799). Somit zeugen die Scheerbart-Texte insgesamt einmal mehr davon, dass Benjamin seine Texte immer in einem konkreten Produktionszusammenhang und meist zu konkreten Anlässen verfasst und dabei unterschiedliche Deutungsperspektiven entwickelt hat, wobei ältere Texte aktualisiert werden und nicht bloß Vorstufen darstellen. Andererseits kristallisieren sich aber gerade an 1 Burkhardt Lindner spricht vom „Schlüsselcharakter des Textes“ und zielt dabei vor allem auch auf den Schwellencharakter des Textes zwischen Weimarer Republik und Exilzeit. Außerdem wirke der Text, so Lindner weiter, „[d]urch das ‚wir‘ […] wie ein Manifest.“ (Burkhardt Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S.  451-464, hier: S.  453). Den Charakter eines Manifestes hebt auch Gérard Raulet besonders hervor. (vgl. Gérard Raulet: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin. Münster 2004, S.  10 u.  ö.). Auf den Text Erfahrung und Armut wird im Laufe der Untersuchung noch mehrmals zurückzukommen sein. ‚Schwellencharakter‘ hat er dabei, so die These, in einem spezifischen Sinne: Er weist zugleich auf die frühen Motive der ersten Scheerbart-Lektüren zurück und zugleich auf die in den 1930er Jahre entstehenden materialistischen Arbeiten voraus, in denen Scheerbart dann an mehreren Stellen weiderauftaucht.

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diesen Umschriften, Wiederaufnahmen und Aktualisierungen von Motiven, Themenkomplexen und Argumentationen wiederum einige Grundannahmen in der Lektüre heraus, um die herum sich Benjamins Deutung des Romans arrangiert. Die einzelnen Texte stellen demnach weder ein werkgenetisches Kontinuum noch eine beziehungslose Reihe dar. Benjamin selbst nutzt stattdessen den Begriff „Metamorphose“ (Br II, 54), um die Perspektivverschiebungen hervorzuheben, die seine Beschäftigung mit Scheerbart „durchgemacht“ (ebd.) haben. Diese Beschreibung ist auch insofern bezeichnend als dass der Begriff im Roman selbst und auch in Benjamins Deutung eine wesentliche Rolle spielen wird. Ein Beispiel für diese „Metamorphose[n]“ stellt die Rolle dar, die Benjamin Scheerbart im Rahmen eines Interviews zukommen lässt, das er während seiner Moskau-Reise 1926 der Moskauer Abendzeitung (Večernjaja Moskva) über Europäische und sowjetische Kunst gibt. Dort findet sich eine bemerkenswerte Passage über Paul Scheerbart: „Nach dem Niedergang des Expressionismus herrscht jetzt in der modernen deutschen Kunst eine große Flaute. Es gibt weder neue originelle Begabungen noch neue schöpferische Ideen oder Theorien. Die bemerkenswertesten Werke der deutschen Literatur sind nach wie vor die des vor nicht allzu langer Zeit verstorbenen Pauls Scheerbarts, obgleich sie beim breiten Publikum keinen Erfolg haben. Scheerbarts Bücher sind utopische kosmologische Romane, in denen dem Problem der interplanetaren Beziehungen nachgespürt wird und Menschen als Schöpfer von Maschinen und Erschaffer einer idealen Technik dargestellt werden. Die Romane sind durchdrungen vom Pathos der Technik, von dem für die Literatur ganz und gar neuen und ungewohnten Pathos der Maschine, das indes weit davon entfernt ist, soziale Bedeutung aufzuweisen, weil die Helden Scheerbarts die Weltharmonie anstreben und das Erschaffen von Maschinen für sich nicht aus ökonomischen Gründen wichtig ist, sondern als Beweis für gewisse ideale Wahrheiten. Diese Abstraktheit ist auch der Grund dafür, daß die Romane keine besondere Beachtung finden.“ (WB VII.2, 880)

Die „bemerkenswertesten Werke der deutschen Literatur“? Dieses überras­ chende Urteil wirft Fragen auf. Zum einen in Bezug auf den Kontext der Aussage: Warum nennt Benjamin während seines Aufenthalts in Moskau, der auch der Suche nach einer eigenen politischen Position dient, gerade Scheerbart als Repräsentanten einer Literatur, die vor dem Hintergrund der revolutionären Umwälzungen in Russland Geltung beanspruchen kann? Das Moskauer Tagebuch gibt hier Hinweise. Benjamin scheint den Aktualitätswert der „utopische[n] kosmologische[n] Romane“ Scheerbarts vor dem Hintergrund der sowjetischen „Umstellung der revolutionären Arbeit in die technische“ (WB VI, 367) durch „Elektrifizierung, Kanalbau, Fabrikeinrichtung“ (ebd.,

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368) begründen zu wollen, denn Scheerbart habe in besonderer Weise den „revolutionären Charakter der technischen Arbeit herauszustellen gewußt“ (ebd.). Ob Benjamin allerdings mit der Betonung einer besonderen Aktualität Scheerbarts auch die Hoffnung verbunden hat, dass es möglicherweise zu einer bisher ausgebliebenen breiteren Rezeption kommen könnte, darf indes bezweifelt werden. Benjamins abschließende Bemerkung über die „Abstraktheit“ ließ sich immerhin auch als Einschränkung potentieller Aktualisierbarkeit lesen. Zudem stößt er bereits während seines Moskau-Aufenthalts auf Unmutsbekundungen, wenn seine dortigen Gesprächspartner Bernhard Reich und Asja Lacis gegen die Interview-Aussagen protestierten. Reich spricht sogar von „gefährliche[n] Blößen“ (WB VI, 313), die Benjamin sich dadurch gegeben habe. Verwunderung mag Benjamins Aussage aber auch in Hinsicht auf die Stellung Scheerbarts in seinem Werk auslösen, zumal wenn man sie vor dem Hintergrund der frühen ästhetischen Essayistik betrachtet, in denen Benjamin vor allem Hölderlin und Goethe größere Arbeiten widmet. Tomas Fitzel, der wohl als Erster die verstreuten Aussagen Benjamins über Scheerbart zusammengetragen und in einem Aufsatz untersucht hat, spricht von Scheerbart als einer „konstant[en], wenn auch nur marginal[en]“2 Figur, die sich durch Benjamins gesamtes Schaffen ziehe. Mindestens ebenso marginal darf aber auch die Bedeutung Scheerbarts in der Benjamin-Forschung genannt werden. Neben Fitzels eher überblicksartiger Gesamtschau hat vor allem Uwe Steiner die „hervorragende Bedeutung, die Scheerbart für Benjamins politische Philosophie und den Stellenwert der Technik […] hat“3, herausgearbeitet. Steiner geht davon aus, dass Benjamin vermutlich anhand des Romans von Scheerbart „näher dargelegt“4 hätte, wie die in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt entwickelte Idee, die Technik sei ein gewaltloses Mittel „ziviler Übereinkunft“ (WB II.1, 192), zu verstehen sei.5 Denn was Benjamin 2 Tomas Fitzel: ‚… zum verborgenen Anstaunen …‘ Walter Benjamin und Paul Scheerbart. In: Juni. Magazin für Literatur und Kultur 27 (1997), S. 145-166, hier: S. 147. 3 Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 80. 4 Ebd., 79. 5 In eine vergleichbare Richtung zielt auch Daniel Tyradellis, wenn er an Benjamins ScheerbartLektüre die Frage richtet, inwiefern sich daran „seine Behauptung erhellen [lässt], dass es Techniken der Übereinkunft als reine Mittel jenseits der Gewalt gibt“. Allerdings legt Tyradellis den Schwerpunkt dabei dann nicht auf die intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhänge der ‚Politik-Schrift‘, sondern nutzt Benjamins ScheerbartLektüre für eine medientheoretische Diskussion über das Verhältnis von Politik und Medien. (vgl. Daniel Tyradellis: Lesabéndio revisited. Phantasma und Gewalt. In: Hendrik Bumentrath u.a. (Hg.): Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen. Berlin 2009, S.  23-35, hier: S. 24).

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an Scheerbart vor allem fasziniert habe, so Steiner weiter, sei „das gelungene Zusammenspiel von Mensch und Technik“6. Besonders hervorzuheben ist hier Steiners These, wonach Benjamins Fokus auf Scheerbarts „Utopie des Leibes“ (WB VI, 148) als eine Art „Gegenentwurf zur negativen Utopie des letzten Menschen in Nietzsches Zarathustra“7 verstanden werden kann. Vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Kapitel dargelegten grundverschiedenen Perspektivierung des psychophysischen Problems bei Benjamin und Bloch ließe sich in diesem an der Technik orientierten „Gegenentwurf“ auch eine Kritik an der dem Geist der Utopie attestierten ‚Leibverneinung‘ vermuten. Die Bedeutung der Technik in Scheerbarts Roman wird Benjamin noch in dem späten, französischsprachigen Text in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellen, wenn er anmerkt, dass Scheerbarts Texte von einer werkumfassenden Grundidee geprägt sind: „Cette idée – cette image, plutôt – était celle d’une humanité qui se serait mise au diapason de sa technique, qui s’en serait servie humainement.“ (WB II.2, 630) Wie Benjamin dieses InEinklang-Bringen genauer bestimmt, wird nachfolgend zu untersuchen sein. Dabei scheint das „Pathos der Technik“, das Benjamin Scheerbart in der oben zitierten Interviewpassage zuspricht, in gewisser Weise sein eigenes Pathos zu werden. Die „Utopie des Leibes“, die Benjamin Scheerbarts Texten abliest, bindet sich jedenfalls von den frühesten Auseinandersetzungen bis hin zu den Passagen-Aufzeichnungen an die Utopie der Technik. Dieser Zusammenhang soll nachfolgend auf die projektierte ‚Politik-Schrift‘ zurückgebunden werden. Im Fokus steht dabei die Untersuchung der Beziehung zwischen Scheerbarts Roman und der technischen Utopie als konkreter Schauplatz jener Reflexion über die Möglichkeiten einer allgemeinen Verhältnisbestimmung von Literatur und Politik, die als konstitutiver Bestandteil von Benjamins früher systematischer Beschäftigung mit dem Politischen zu betrachten ist. Dabei wird sich zeigen lassen, dass er die Verhältnisbestimmung von Literatur und Utopie insbesondere im Medium des Humors perspektiviert, der die Beziehung zwischen beiden Seiten nicht dialektisch vermittelt; im 6 Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 79. 7 Ebd., 81. Wenn durchaus davon ausgegangen werden muss, dass Benjamins besondere Betonung des Leibes, wie wir es zu Beginn des vorherigen Kapitels bereits gesehen haben, auch von Nietzsche her zu lesen ist, führt Steiner sehr plausible Argumente dafür an, dass sich Benjamin in seiner Scheerbart-Lektüre den Zusammenhang von Leib und Technik gerade gegen Nietzsches Übermenschen abarbeitet. Steiner führt diese Argumentation dann auf die besondere Bedeutung des in Scheerbarts Roman zentralen Aufgehens des einzelnen Leibes in denjenigen der Menschheit weiter, was Benjamins besonderer Betonung der „kollektive[n] Physis“ (ebd., S. 85) als Schauplatz des Politischen entspricht.

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Humor strebt Benjamin vielmehr danach, eine polare Spannungsbeziehung zwischen beiden Seiten hervorzutreiben. In dieser Ausrichtung auf die politischutopische Funktion des Humors ist zugleich eine ästhetische Auseinandersetzung mit Blochs Geist der Utopie eingelagert, die auf die im vorangegangenen Kapitel entfaltete erkenntnistheoretische Debatte zurückweist. Um diese am Humor manifestierte und bis in das ‚Passagen-Werk‘ hineinreichende Debatte entfalten zu können, wird in mehreren Schritten vorgegangen. Zunächst ist es notwendig, in einem ersten Schritt genauer auf Benjamins Romanlektüre einzugehen. Die in dieser Lektüre zugrundeliegenden technikphilosophischen und -utopischen Grundannahmen entfaltet der Text allerdings mitunter nur sehr skizzenhaft. Es kann aber anhand späterer Texte gezeigt werden, wie Benjamin auf diese frühen Überlegungen zurückgreift. Daher folgt im Anschluss an die frühe Romanlektüre ein umfassenderer Blick auf Benjamins technikphilosophische Utopievorstellung anhand der Arbeit über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und anhand der Verwandtschaftsbeziehungen, die Benjamin zwischen Paul Scheerbart und Charles Fourier noch im ‚Passagen-Werk‘ herstellt. Die dort angestellten Überlegungen über das Verhältnis von Technik, Utopie und Humor, in denen Benjamin eine wahrnehmungsgeschichtlich argumentierende und am Leib orientierte Idee des In-Einklang-Bringens von Natur, Mensch und Technik formuliert, weist er selbst überraschenderweise auf seine frühesten Arbeiten zurück, die es dann anschließend im Kapitel 9 wieder in den Blick zu nehmen gilt. Von hier aus kann dann auch der Ort im Arbeits- und Produktionszusammenhang der ‚Politik-Schrift‘ angezeigt werden, an dem Benjamin die kritische Debatte mit Bloch im Feld des Ästhetischen weiterführt, indem er seine eigene am Humor ausgerichtete Vorstellung einer produktiven Spannungsbeziehung zwischen Kunst und Utopie gegen die Ästhetik des Vor-Scheins in Blochs Geist der Utopie profiliert. 8.2

„[…] daß der Pallas die beste aller Welten sei.“ – Benjamins Lektüre des Lesabéndio

Pauls Scheerbarts 1913 erschienener Asteroiden-Roman Lesabéndio, von dem Benjamin als „le plus important de ses romans“ (WB II.2, 631) spricht, handelt von dem Planeten Pallas und seinen Bewohnern, den Pallasianern, die durch unterschiedliche Tätigkeiten damit beschäftigt sind, ihren Planeten zu verschönern: „Alle Tätigkeit der Pallasianer konzentrierte sich aber darum: den Stern Pallas weiter auszubauen – umzubauen – besonders landschaftlich zu

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verändern – prächtiger und großartiger zu machen.“8 Die Bewohner selbst bestehen nur aus einer Art Saugfuß, mit dem sie sich springend fortbewegen können. Wenn Sie nicht gerade arbeiteten, verbringen die Pallasianer ihre Zeit in „geselligen Zusammenkünften“9, rauchen zur Entspannung ein Blasenkraut oder schlafen in einer Art Ballon, der sich nachts um ihre Körper bildet. Dieses gesellige, friedvoll-harmonische Leben der Pallasianer läuft auf ein eigentümliches Ende des einzelnen Lebens zu, denn die Bewohner des Planeten sterben nicht wirklich. Der Tod ist aber weder durch Unsterblichkeit noch durch irgendein transzendentes Prinzip überwunden. Vielmehr werden die Bewohner irgendwann müde und bitten dann einen anderen Bewohner darum, sich in diesem auflösen zu dürfen. Diese Auflösung als ein Aufgehen im Anderen ist schmerzfrei: „une mort exempte de douleur en se dissolvant dans le corps d’un de leurs cadets“ (ebd., 631), schreibt Benjamin dazu. Der Tod ist damit auf dem Planeten Pallas ersetzt durch ein Prinzip unendlicher Metamorphose. Diese phantastischen Metamorphosen geben einen ersten Hinweis darauf, was Benjamin an dem Roman besonders interessiert haben dürfte. Denn die Idee unendlicher Metamorphosen steht auch im Zentrum von Benjamins frühen Aufzeichnungen zur Phantasie, die mithin als ästhetiktheoretischer Kommentar zur Funktion der Phantasie in Scheerbarts Roman gelesen werden können. Die Aufzeichnung Phantasie, die etwa um 1920/21 entstanden ist und nach Angaben der Herausgeber eine „motivische Nähe […] zum Theologischpolitischen Fragment“ (WB VI, 697) aufweist, beginnt mit einer überraschenden Festlegung, nämlich derjenigen, dass die deutsche Sprache kein Wort für „die Gestalten der Phantasie“ (ebd., 114) habe. Nur das Wort „Erscheinung“ (ebd.) käme diesen Gestalten noch einigermaßen nahe. Diese Leerstelle resultiere, so Benjamin weiter, aber auch gar nicht aus einem Sprachmangel, sondern liegt im Wesen der Phantasie selbst begründet, die „mit Gestalten, mit Gestaltung nichts zu tun“ (ebd.) habe. Die Erscheinungen der Phantasie zeichnen sich indes ganz im Gegenteil durch eine „Entstaltung des Gestalteten“ (ebd.) aus. Anschließend trifft Benjamin dann eine wichtige Unterscheidung zwischen der Phantasie und dem Phantastischen: Das höchste Gesetz der Phantasie bestehe darin, dass sie entstalte, aber „niemals zerstört“ (ebd., 115). Sie ist nicht aktiv, sondern rein empfangend, spiele sie sich doch in „jenem Bereich der Gestalt“ ab, wo „diese sich selbst auflöst“ (ebd.). Dem Phantastischen hingegen eigne ein willkürlich-aktiver Zug zur Zerstörung, denn diese nähere sich nur

8 Paul Scheerbart: Lesabéndio. Ein Asteroidenroman. Kehl 1994, S. 29. 9 Ebd., S. 40.

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von außen den Gestalten. Zu diesem Unterschied zwischen Phantasie und Phantastischem hält Benjamin dann zusammenfassend fest: „Allen phantastischen Gebilden ist ein Moment des Konstruktiven eigen – oder (vom Subjekt aus gesprochen) der Spontaneität. Echte Phantasie dagegen ist unkonstruktiv, rein entstaltend – oder (vom Subjekt aus gesehen) rein negativ.“ (ebd., 115)10

Benjamin scheint für Scheerbarts Roman auf den ersten Blick nur die eine Seite der Unterscheidung, die „[e]chte Phantasie“, geltend machen zu wollen. Denn näher bestimmt Benjamin die Phantasie in seinen Notizen noch als eine „subjektive[…] Konzeption […] durch reine Empfängnis“ (WB VI, 115). Auch in seinem ersten Lesabéndio-Text spricht Benjamin davon, dass der Autor des Romans „erfüllt“ sei „vom Geiste der Empfängnis und der Idee.“ (WB II.2, 618) Diese Idee der „reinen Empfänglichkeit“ (WB VI, 111) weist wiederum zurück auf Aufzeichnungen zum kindlichen Farbsehen, die in unmittelbarer Beziehung zu den Phantasie-Notizen stehen und offensichtlich auch in Zusammenhang mit Benjamins Scheerbart-Lektüre gebracht werden müssen. Es handelt sich dabei um ein Konvolut an Texten, die vermutlich teilweise bis auf das Jahr 1914 zurückzudatieren sind und Titel wie Die Farbe vom Kinde aus betrachtet, Über die Fläche des unfarbigen Bilderbuches, Zur Malerei tragen. (vgl. WB VI, 110-114) Daneben kann auf den erst 1977 von Giorgio Agamben wiederentdeckten Dialog Der Regenbogen. Gespräch über die Phantasie (WB VII.1, 19-26) zurückgegriffen werden. Benjamin entwickelt in den Texten eine Theorie des kindlichen Farbensehens, indem er es deutlich von der Reflexion und der Verstandestätigkeit des Erwachsenen abgrenzt und auf die Unterscheidung unterschiedlicher künstlerischer Produktionsweisen hin zuspitzt, wobei er dann das Kind und den Künstler – ganz im Sinne der frühromantischen Ästhetik – zusammenführt.11 Weiterhin bestimmt Benjamin das 10

11

Benjamin nimmt von dem hier negativ konnotierten Phantastischen allerdings die Groteske aus, die „nicht zerstörend entstaltet, sondern zerstörend überstaltet“ (WB VI, 115). Das spielt für Scheerbarts Roman aber nur eine untergeordnete Rolle. Die Frage, ob die Ausnahmestellung der Groteske Benjamins Interesse für Friedlaenders groteske Schreibweise begründet, kann die vorliegende Arbeit nicht weiterverfolgen. Da es keine Analysen oder Kommentare von Benjamin über Friedlaenders Grotesken gibt, ist der Blick auf Friedlaenders Grotesken für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse nicht aufschlussreich. Den Bezug auf die Romantik im Vergleich von Künstler und Kind stellt Heinz Brüggemann in seiner Arbeit über die Phantasie- und Farb-Aufzeichnungen her. (vgl. Heinz Brüggemann: ‚Fragmente zur Ästhetik / Phantasie und Farbe‘. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 124-133, hier: S. 127). An anderer Stelle fasst Brüggemann zusammen: „Die Ineinanderbildung von Kind und

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kindliche Sehen vor allem durch einige Ex-negativo-Bestimmungen: Das Kind betrachtet die Farbe weder als „schichthafte[n] Überzug der Substanz“ noch als „Deckmantel individuell einzelner Dinge“ (WB VI, 110). Das principium individuationis gilt im kindlichen Betrachten der Farbe offensichtlich nicht; die Farbe ist nicht bloß ein kontingenter Zusatz zum „Dasein toter kausaler Substanzen“ (ebd. 111). Statt dieser kategorialen, ordnenden Reflexion besteht die Freude des Kindes im Farbschauen gerade in der „Veränderung der Farbe im beweglichen Übergang von Nüancen“ (ebd., 110). Statt in kategorialen Urteilen spielt sich dieses kindliche Sehen also im Modus gradueller Intensitätsbeziehungen ab. Während der Erwachsene eine starre Ordnung der Dinge durch eine klare Trennung unterschiedlicher Gegenstandsformen zu installieren versucht, erfreut sich das Kind anhand der Farben an einer unendlichen Dynamik von Formveränderungen in Raum und Zeit. Hierhin offenbart sich ein anderer Bezug zwischen den Dingen, jenseits einer klassifikatorischen Ordnung, nämlich „die zusammenhängende Anschauung der Phantasiewelt“ (ebd.). Die sich daraus ergebende ‚paradiesische Ordnung‘ (vgl. ebd., 111) „im Zustande der Identität, Unschuld, Harmonie“ (ebd., 111f.), die sich in der Kunst also dort einzustellen vermag, wo sich die künstlerische Produktion nicht auf eine klassifikatorische, objektivierende und vergegenständlichende bzw. ‚verdinglichende‘ Wahrnehmungsweise beruft, scheint Benjamin insbesondere durch den metamorphotischen Auflösungs- als Entstaltungsprozess am Lebensende der Pallasianer in Scheerbarts Roman realisiert zu sehen. Dafür sprechen auch die weiteren Ausführungen zu der „phantasievolle[n] Entstaltung der Gebilde“ (ebd., 115), die nicht zerstörerisch wirken: „Sie ist erstens zwanglos, kommt aus dem Innern, ist frei und daher schmerzlos, ja leise beseligend – und zweitens führt sie niemals in den Tod, sondern verewigt den Untergang den sie heraufführt in einer unendlichen Folge von Übergängen.“ (ebd.)

Beide Aspekte, die Schmerzlosigkeit sowie die unendliche Metamorphose, charakterisieren deutlich das eigentümliche Lebensende der Pallas-Bewohner. Da der Leib zudem, wie bereits im vorangegangenen Kapitel nachgewiesen, bei Benjamin zum Schauplatz profaner Politik wird, lässt sich durch die offensichtliche Nähe zwischen den frühen wahrnehmungstheoretischen Aufzeichnungen und der Romanlektüre vermuten, dass Benjamins politische Künstler folgt der romantischen Tradition der Idealisierung des Kindes zur Kunstfigur einer von den Konditionierungen der Gesellschaft und des zweckgerichteten, identifikatorischen Denkens noch nicht reglementierten Erfahrung.“ (Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 191.).

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Lektüre des Romans insbesondere über die Korrespondenz zwischen Phantasie und den sich am Leib vollziehenden Metamorphosen verläuft. Dass mit dem zitierten ‚verewigten Untergang‘ bzw. der in der Aufzeichnung anschließend erwähnten „ewige[n] Vergängnis“ (ebd.) zugleich ein direkter Bezug zur „Ewigkeit eines Untergangs“ (WB II.1, 204) bzw. zur „ewigen und totalen Vergängnis“ (ebd.) der profanen Ordnung aus dem Theologisch-politischen Fragment gegeben ist, deutet ebenfalls bereits Benjamins politische Lektüre des Romans an. Die immanente, auf kein transzendentes Prinzip ausgerichtete Gesellschaftsordnung des Pallas scheint jene „profane Ordnung des Profanen“ (ebd.) exemplarischen zu verwirklichen, indem Scheerbart den im Theologischpolitischen Fragment zentralen Begriff der „Weltpolitik“ (ebd.) gewissermaßen gerade durch seinen phantasievollen kosmischen Humor ernst nimmt: „La sérénité doucement émerveillée avec laquelle l’auteur relate les étranges lois naturelles des autres mondes, les grands travaux cosmiques qu’on y entreprend, les entretiens noblement naïfs de leurs habitants font de lui un de ces humoristes qui tel Lichtenberg ou Jean Paul, ne semblent jamais oublier que la terre es un astre.“ (WB II., 632)

Auf diesen Zusammenhang von Humor, Naturgesetzen und Weltpolitik wird weiter unten noch genauer einzugehen sein. Zunächst ist noch erwähnenswert, dass Benjamins zusammenfassenden Aussagen über die beiden Aspekte der phantasievollen Entstaltung in der Notiz Phantasie geradezu unmittelbar auf Scheerbarts Lesabéndio hinzuweisen scheinen: „Alle Entstaltung der Welt wird also in ihrem Sinne eine Welt ohne Schmerz phantasieren, welche dennoch vom reichsten Geschehen durchflutet wäre.“ (WB VI, 115) Dieser Aspekt der „Welt ohne Schmerz“, der bei Benjamin konstitutiv für die Phantasie ist, stellt erneut den deutlichen Zusammenhang zwischen seinen frühen ästhetischen Notizen und der Romanlektüre heraus. Insgesamt deutet sich damit also die Tendenz bei Benjamin an, die ästhetischen Überlegungen zur kindlichen Phantasie in einer politischen Lektüre des Romans auf die Ordnung des Pallas-Planeten zu übersetzen, schließlich wird die phantasievolle Metamorphose als ein Prozess unendlicher Übergänge unmittelbar auf das Leben und Sterben der Bewohner bezogen: Die Metamorphose, das unendliche Gestaltwerden und -wandeln konstituiert die gesellschaftliche Ordnung auf dem Planeten, bestimmt mithin den „Rhythmus des Pallaslebens“ (WB II.2, 619). Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund außerdem noch, dass die Lesabéndio-Kritik in der ‚Politik-Schrift‘ auf den Text Zur Kritik der Gewalt folgen sollte, steht zu vermuten, ob nicht Benjamins Blick auf den eigentümlichen Tod des einzelnen Pallasianers, der weder ein Opfertod ist noch durch ein theokratisches Prinzip in der politischen

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Handlungslogik legitimiert werden muss, als Gegenkonzept zu der im GewaltAufsatz kritisierten politischen Verfügung des bloßen, nackten Lebens durch den Souverän gelesen werden kann. Wenn das nackte Leben niemals zum Gegenstand einer wirklich profanen Politik werden darf, hat Scheerbart das Problem des Sterbens in seiner utopischen Phantasie durch den Rhythmus immanenter Verwandlungs- und Umwandlungsprozesse aufgehoben – oder: humorvolle Phantasie ersetzt hier souveräne Verfügungsgewalt. Außerdem ließe sich das Auflösen der Pallasianer im Körper eines anderen Bewohners buchstäblich als ein gewaltfreier Akt „ziviler Übereinkunft“ (WB II.1, 192) lesen, wie ihn Benjamin in seinem Gewalt-Aufsatz gegen den Gewaltzusammenhang des Rechts geschildert hat, denn die Pallas-Bewohner müssen erst gebeten werden, „dem Sterbenden einen Dienst zu leisten.“12 Die bis hierhin dargelegten Beziehungen zwischen den frühen ästhetischen Schreibversuchen und der politischen Romanlektüre betreffen allerdings bislang vorwiegend die inhaltliche Ebene des Romans, so dass sich die Frage stellt, was die frühen Überlegungen zur Phantasie über die ästhetische Konzeption des Romans als solcher aussagen. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf Heinz Brüggemanns detaillierte Untersuchung zu den frühen Überlegungen zur Farbe, Malerei und Phantasie hinzuweisen, in denen diese Aufzeichnungen in ihre kunsttheoretischen und -historischen Kontexte verortet werden. Wie bereits im Rahmen der Untersuchung zu Benjamins Rezension von Hans Wohlbolds Neuausgabe der Goethe’schen Farbenlehre dargelegt wurde (vgl. Kap. 4), hat Brüggemann hinsichtlich des am kindlichen Sehen orientierten „reine[n] Sehen[s]“ (WB VI, 111), das sich – jenseits von Begriffsdenken und Repräsentationslogik – im reinen Medium der Farbe abspielt, Benjamins „unablässige[s] Bemühen[…]“ rekonstruiert, „die Grenzen des konventionalisierten, formatierten Sehens experimentell, sammelnd, kulturtheoretisch in Richtung des subjektiven, kindlichen, halluzinativen Wahrnehmens zu überschreiten, um anderen Bilderfindungen jenseits dieser Grenzen zu begegnen […].“13 Neben diesem passiven, rein empfangenden Pol reflektiert 12

13

Paul Scheerbart, Lesabéndio, S.  50. Der Roman schildert diesen Akt der Übereinkunft folgendermaßen: „Der Pallasianer stirbt, wenn erst sein Körper ganz trocken geworden ist, sodaß man beinahe durchsehen kann. Dann aber hat der Sterbende den Wunsch, von einem Lebenden aufgesogen zu werden; der Lebende saugt den Sterbenden durch die Poren in sich auf. Dieser Prozeß geht aber nicht so einfach vor sich. / Es ist zunächst nötig, daß der Aufsaugende auch damit vollkommen einverstanden ist, daß er aufsaugt. Wenn nun Jemand aufgesogen werden will, so fragt er zunächst bei dem, der ihn aufsaugen soll, höflich an. Sagt der ‚Ja‘ – so geschieht das Gewünschte gemeinhin sofort.“ (ebd., S. 49f.) Dass Benjamin den ‚Akt der zivilen Übereinkunft‘ unmittelbar mit dem Humor des Romans in Verbindung bringt, wird an späterer Stelle noch zu zeigen sein. (vgl. Kap. 9.4). Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 194.

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Benjamin aber zugleich auch auf den aktiven, schöpferisch-konstruktiven Pol, der sich im „Medium der Form“ (WB VII.2, 563) bewegt und als schöpferische Einbildungskraft der Phantasie gegenübergestellt wird. Das lässt sich vor allem an einer schematischen Gegenüberstellung beider Pole ablesen, die zu den Notizen des Regenbogen-Gesprächs gehören. Dort setzt Benjamin dem rein rezeptiven, d.h. empfangenden Pol, der mit der „Schönheit der Natur und des Kindes“ (WB VII.2, 563) assoziiert ist, den rein produktiven Pol entgegen, der sich im „Medium der Formen“ realisiert und mit der „Schönheit der Kunst“ (ebd.) assoziiert ist. Dabei versteht Benjamin die Gegenüberstellungen aber nicht als unversöhnlichen Gegensatz. Vielmehr sind beide Seiten von einer polaren Spannungsbeziehung her gedacht, da auch die reine Anschauung und die Phantasie „noch dem produktiven künstlerischen Prozeß, den Kunstwerken selber, vorgelagert sind […].“14 Benjamins frühen Überlegungen zur Phantasie sind vor allem der Herausarbeitung dieser Polarität verpflichtet. An dieser polaren Spannung von Gestaltung und Entstaltung, Formung und Entformung, Empfänglichkeit und Einbildungskraft liest Brüggemann eine grundsätzliche Polarität in Benjamins frühen ästhetiktheoretischen Versuchen ab: „So läßt sich in den frühen Fragmenten zur Ästhetik der Entstehungsprozeß einer Polarität verfolgen, die für Benjamin wenn auch nicht als ein Urphänomen, so doch als Konstellation von Extremen das Spannungsfeld der ästhetischen Moderne bestimmt.“15

Diese Polarität, darauf macht Brüggemann dann weiterhin aufmerksam, lässt sich noch bis in die Arbeit an dem ‚Passagen-Werk‘ hinein beobachten, wenn dort zwischen Breton und Le Corbusier „eine Polarität“ zwischen „Surrealismus und Konstruktivismus, von Verschränkung und Transparenz“16 aufgebaut wird, die bis auf die frühen ästhetischen Versuche zurückweist. Das Interesse für diese grundlegende ästhetische Polarität manifestiert sich auch an Benjamins Lektüre des Lesabéndio, wobei er sich in seiner Untersuchung von Scheerbarts ästhetischer Konzeption des Planeten Pallas und 14 15

16

Ebd., 169. Vgl. dazu auch WB VI, 116. Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 220. Diese Polarität, darauf macht Brüggemann weiterhin aufmerksam, lässt sich bis in die Arbeit am ‚Passagen-Werk‘ hinein beobachten, da die anhand von Breton und Le Corbusier aufgespannte „Polarität“ zwischen „Surrealismus und Konstruktivismus, von Verschränkung und Transparenz“ auf die frühen ästhetischen Versuche zurückweist. (Heinz Brüggemann: ‚Fragmente zur Ästhetik/Phantasie und Farbe‘, S. 131. Vgl. auch ders., Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 123 und WB V.1, 573). Heinz Brüggemann: ‚Fragmente zur Ästhetik/Phantasie und Farbe‘, S. 131. Vgl. auch ders., Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 123 und WB V.1, 573.

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seiner Bewohner vor allem für das spezifische Zusammenwirken beider Pole zu interessieren scheint. Wie bereits gezeigt, spricht Benjamin auf der einen Seite von der reinste[n] Sinnlichkeit“ (WB II.2, 618) des Romans, die auf die kindliche „Empfängnis“ (ebd.) zurückweist. In seinem späten Text stellt Benjamin den Zusammenhang zwischen kindlichem Sehen und Scheerbarts Texten nochmals sehr deutlich heraus, wenn er zu Scheerbarts Stil anmerkt: „Il a la fraîcheur des joues de nourrisson.“ (ebd., 632) Damit unterlaufe Scheerbarts literarische Phantasie, so Benjamin, zugleich die hermeneutischen Interpretationsebenen von „Innerlichkeit, […] Ausdeutung und Erklärung“ (ebd.). Hier kündigt sich ein Übergang bzw. eine Verbindung der beiden Pole an, deutet doch die Betonung dieser der Tiefenhermeneutik entzogenen Oberflächlichkeit der Textstruktur bereits Benjamins besonderes Interesse an dem „Transparenztraum“17 in Scheerbarts literarischen Versuchen zur Glasarchitektur an. Neben dem Pol der phantasievollen ‚Entstaltung‘, dessen Wirkung er vor allem in der Metamorphose der Bewohner am Ende ihres Lebens erkennt und an der sich deutliche Verbindungslinien zu seiner Vorstellung einer rein immanenten, profanen Ordnung herstellen lassen, macht Benjamin für den Roman aber auch ganz direkt den zweiten, konstruktiven Pol geltend. So betont er auf der anderen Seite zugleich die „strenge Fügung des erzählenden Aufbaus“ (WB II.2, 619) des Romans, was diesmal auf den konstruktiv-schöpferischen Pol der polaren Spannungsbeziehung hindeutet. Dieser konstruktive Pol, der sich nicht auf die Entstaltung, sondern im Gegenteil auf die Formgenese richtet, findet in Benjamins Lektüre ebenfalls eine Entsprechung am Leib der Pallasianers; hier richtet er diesmal aber nicht den Blick auf das Sterben der Pallas-Bewohner, sondern auf ihre Geburt und den Akt der Namensgebung. Er führt dazu aus: „Die Menschen auf diesem Sterne haben kein Geschlecht (richtiger: es ist davon nicht die Rede und es wird also wohl unbekannt sein), die neuen Pallasianer werden in Nußschalen eingeschlossen in den Tiefen des Pallas gefunden. Ihre Geburt ist Zertrümmerung dieser Schalen. Nach den ersten Worten, die sie im Anblick des Lichtes lallen, werden sie genannt: Biba und Bombimba, Labu, Sofanti, Peka und Manesi und die anderen.“ (WB II.2, 618)

In Erfahrung und Armut wiederholt Benjamin diese Szene der Namensgebung als „Zug zum willkürlich Konstruktiven“ (WB II.1, 216) und vergleicht diese „entmenschte“ (ebd.) Namensgebung mit der vergleichbaren Namensgebung der Russen, die ihre Kinder beispielsweise nach dem Revolutionsmonat 17

Vgl. hierzu Manfred Schneider: Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche. Berlin 2013, S. 199-207.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

381

benennen. Hier handle es sich, so Benjamin weiter, um zwei Fälle der „Veränderung der Wirklichkeit, nicht ihrer Beschreibung“ (ebd., 217). In Sur Scheerbart erwähnt Benjamin diesen Akt der Namensgebung dann erneut. (vgl. WB II.2, 631) Das Konstruktive liege insbesondere daran, so Benjamin in Erfahrung und Armut weiter, dass Scheerbart die Technik ernstgenommen habe; und zwar indem er sich für die „Frage interessiert, was unser Teleskop, unsere Flugzeuge und Luftraketen aus den ehemaligen Menschen für gänzlich neue sehens- und liebenswerte Geschöpfe machen.“ (WB II.1, 216) Auf das damit zusammenhängende Motiv der ‚Entmenschung‘ wird später noch zurückzukommen sein. Hier ist zunächst entscheidend, dass Benjamin den konstruktiven Pol aus seinen frühen Überlegungen zum Ästhetischen in Scheerbarts Roman ebenfalls am Leib orientiert sieht. Indem Benjamin also beide Pole auf Scheerbart bezieht, scheint der Roman für ihn zu einem herausragenden Dokument des produktiven Umgangs mit jenem polaren Formarsenal zu werden. Die Harmonie zwischen diesen beiden Polen des Phantastischen und des Konstruktiven wird vom Roman aber auch selbst sehr deutlich zum Gegenstand gemacht, und zwar zunächst in Form der beiden ästhetischen Grundrichtungen, in denen sich die Verschönerung und das permanente aktive Auf- und Umbauen des Planeten gestaltet. Dieser Planet besteht aus zwei polar angeordneten Trichtern, dem Nord- und Südtrichter, die durch Seilbahnen miteinander verbunden sind. Die Seilbahn macht deutlich, dass die Beziehung zwischen den beiden Seiten der immanenten polaren Ordnung des Planeten technisch vermittelt ist; auf der einen Seite steht dabei die Arbeit am Auf- und Umbau der Trichter, auf der anderen Seite der gesellige Müßiggang. Angeleitet durch die beiden künstlerischen Führer Labu und Peka nimmt dann die Verschönerung dieser Trichter zwei gegensätzliche Richtungen an, die „den schärfsten Gegensatz“18 bilden. Auf der einen Seite ist es das Ziel Pekas, den ganzen Planeten „durch kristallinische, regelmäßige, säulenartig eckige, gradlinig feste, hart und starr aufstrebende Steingebilde“19 zu verschönern. Labu indes hat auf der anderen Seite „nicht das geringste Verständnis für das Regelmäßige“20; er bevorzugt unregelmäßige Formen und ihm schwebt vor, „überall Glasur, Email, Stukkatur an[zu]bringen, um damit knorrige, wurzelartig dicke, kuppel- und schildartige Formen zu bilden“21. Manfred Schneider hat angemerkt, dass in diesem Gegensatz „die irdische Debatte um

18 19 20 21

Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 47. Ebd., S. 40. Ebd., S. 47. Ebd., S. 41.

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Kapitel 8

1910 zwischen Jugendstil und futuristischer Moderne nachhallt.“22 Berücksichtigt man Benjamins frühe ästhetischen Aufzeichnungen zur Phantasie, scheinen bei ihm die beiden Künstler Labu und Peka darüber hinaus und allgemeiner die beiden Pole der phantastischen Empfänglichkeit einerseits und der konstruktiven Einbildungskraft andererseits zu repräsentieren, was sich direkt an den grundverschiedenen Formbildungsprozessen manifestiert, die die beiden Künstler verfolgen. Obwohl Pekas und Labus Kunsttendenzen in einem polaren Spannungsverhältnis stehen, garantieren sie aber gerade in ihrer Gegensätzlichkeit den friedvollen Balancezustand auf dem Planeten, denn sie wohnen trotz ihres „schärfsten Gegensatz[es]“ „doch nachbarlich dicht nebeneinander – gleichsam Wand gegen Wand.“23 Steht Benjamins Faszination für Scheerbarts Roman demnach im Zeichen dieses harmonischen Ausgleichs jener polaren Spannungsbeziehung, die die ästhetische Moderne für ihn auszeichnet? Die überlieferten Texte zeigen, dass Benjamins politische Lektüre des Romans weniger in dem harmonischen Ausgleich als solchem begründet ist, sondern vielmehr in der Störung des Gleichgewichts, durch die ohnehin die eigentliche Handlung des Romans eingeleitet wird und die ästhetische Polarität erneut hervorruft, um sie diesmal auf die Spannung sowohl zwischen Immanenz und Transzendenz als auch zwischen Kunst und Technik hin zu erweitern. Denn Lesabéndio, der Hauptprotagonist und Namensgeber des Romans, konfrontiert die im Sinne der beiden künstlerischen Haupttendenzen arbeitenden Bewohner mit einer Idee, die er beim Betrachten des Sternenhimmels hat. Er entdeckt dort einen Doppelstern und geht davon aus, dass auch der Planet Pallas ein solcher Doppelstern sein könnte, der aus einem Kopf und einem Rumpf besteht. Seine Idee, die zunächst in unterschiedlichen Gesprächskonstellationen kritisch diskutiert wird, um sie anschließend in die Tat umzusetzen, besteht darin, einen Turm zu bauen, der das Rumpfsystem (also den bisherigen Trichterplaneten) mit seinem Kopfsystem verbinden kann. In einer langwierigen gemeinschaftlichen Anstrengung bauen die Pallasianer dann diesen Turm. Damit weist der konstruktive Pol in der ästhetischen Konzeption des Romans sukzessive über die immanente Ordnung des Planeten hinaus auf das große Projekt des nicht mehr länger vorwiegend künstlerischen, sondern technisch interessierten Führers Lesabéndio. In dem Projekt des Turmbaus, das Lesabéndio initiiert, wird dann die Ordnung des Planeten aber selbst in einen metamorphotischen Prozess hineingezogen.

22 23

Manfred Schneider, Transparenztraum, S. 204. Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 47.

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Biba, ein älterer, philosophisch interessierter Bewohner, fasst Lesabéndios Turmbau-Traum zusammen: „Eigentlich ist ja der Turm nur ein großes Sprungbrett für Lesabéndio. Für dich, lieber Lesa, wird der ganze Turm gebaut. Du willst oben in das Kopfsystem des Pallas – mit ihm eins werden.“24 Lesabéndio antwortet: „Ich werde getrieben – von unbekannten Mächten – immerzu geradeaus – zur Höhe empor.“25 Doch die Umsetzung des Turmbauplans gestaltet sich als überaus schwierig, fordert größte Anstrengungen und auch Opfer. Neben den gesellschaftlichen Konflikten und Verwerfungen, die der Plan eines den Planeten überragenden Turmbaus hervorbringt, wird zudem die Kritik der beiden Künstler Peka und Labu auf den Plan gerufen, die sich bisher ganz auf die Verschönerung des Planeten konzentriert hatten. Peka mahnt: „Die große Kunst der Rhythmisierung in den Flächen- und Raumpartien gilt ihnen garnichts mehr; sie wird ihnen nie mehr etwas gelten.“26 Der technische Turmbau beginnt die selbstreferentielle Verschönerung, das l’art pour l’art zu stören. Darüber hinaus gibt Peka auch zu bedenken, dass mit der ausschließlichen Konzentration aller Kräfte auf den Turmbau das harmonische Lebensgefüge im Doppeltrichter aus den Fugen zu geraten droht: „Der Plan ist aber zu groß: Wir riskieren, aus dem Gleichgewicht zu kommen.“27 Dass der Turmbau jedoch einen neuen, höheren Gleichgewichtszustand realisiert, kündigt sich erst ganz am Ende des Romans immer deutlicher an. Denn die Bewohner beginnen zu bemerken, dass sich eine große Veränderung des Planeten ankündigt: „Wir bemerken, daß sich im Pallas ein Zusammenziehen von Rumpf- und Kopfsystem anbahnt.“28 Die Voraussetzung dieser intensiven „gegenseitigen Annäherung“29 liegt darin, das „Persönlichkeitsbewußtsein vollkommen [zu] verlieren“30, von dem die Bewohner ohnehin nicht genau wissen, was das eigentlich sein soll. Die Auflösung der Persönlichkeit manifestiert sich direkt an Lesabéndio, der dadurch erstmals das Phänomen des Schmerzes auf den Planeten bringt. Benjamin hält dazu fest: „Tandis qu’auparavant les gens du Pallas ont connu une morte exempte de douleur en se dissolvant dans le corps d’un de leurs cadets, ils vont, désormais, épouser la douleur grâce à Lesabéndio qui, par sa fin, devra être le premier à l’éprouver.“ (WB II.2, 631) 24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 144. Ebd., S. 146. Ebd., S. 154. Ebd., S. 90. Ebd., S. 131. Ebd., S. 217. Ebd., S. 150.

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Kapitel 8

Als „Lehre von der Bedeutung der Schmerzen“ findet Lesabéndios Erprobung allerdings zunächst „unter den Pallasianern keine Anhänger“31. Nur Lesabéndio „empfand immer deutlicher die Wichtigkeit der Schmerzen“32 und erklärt den Bewohnern die Bedeutung des Schmerzes für die Metamorphose hin zu etwas Größerem: „Größte Qual und größte Seligkeit treten nicht nur sehr oft – nein – in unserem Sonnensystem – fast immer zusammen auf. Daran muß man sich gewöhnen. Die Sonne sagte mir schon, daß wir den Schmerz nicht fürchten dürfen – der Todesschmerz ist vielleicht der größte Schmerz. Er enthält aber auch die größte Seligkeit – diese Auflösung im Größeren und Stärkeren ist eine ganz außerordentlich großartige Empfindung. […] Sterben ist eigentlich auch nur ein Sichunterordnen. Das ist oft sehr schwer zu verstehen, da es ja der größten Selbständigkeit scheinbar widerstrebt. Indessen – es handelt sich ja immer um ein Sichunterordnen dem Größeren gegenüber. […] Darum müssen wir alle darauf hinwirken, daß wir uns zusammenfinden. Wir kämen zusammen weiter. Dann wird es uns schließlich vielleicht auch mal möglich, uns dem ganzen großen Sonnensystem unterzuordnen – vielleicht sterben wir mal in ihm – in dem ganzen großen System, in dem alle Planeten, Kometen und Meteorgeister leben.“33

Im Zuge der letztlichen Verbindung von Kopf- und Rumpfsystem hat Lesabéndio dann „die größten Schmerzen auszustehen.“34 Benjamin betont bereits in seinem frühen Scheerbart-Text nachdrücklich diese schmerzvolle Voraussetzung für die Metamorphose des Planeten: Lesabéndio sei der Erste, der „den Schmerz auf den Pallas führt und ihn als erster erleidet.“ (WB II.2, 619) An dieser durch die Technik des Turmbaus angestrengten polaren Bezugsherstellung zwischen Rumpf und Kopf lässt sich ein weiterer Grund für Benjamins politische Lektüre des Romans anzeigen, der sich diesmal im Vergleich mit Benjamins Aufzeichnungen zum psychophysischen Problem nahezu aufdrängt. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel anhand von Benjamins kritischer Distanz zu Bloch dargelegt, hat Benjamin den polaren Zusammenhang von Geist und Leib als „Modification von Gestalt zu Gestalt“ (WB VI, 78) inmitten des geschichtlichen Prozesses bestimmt. Das „polare[…] Verhältnis“ zwischen beiden Seiten sei als „Geistleiblich[es]“ „irgendwie die Kategorie ihres ‚Nu‘, ihrer augenblicklichen Erscheinung als vergänglichunvergänglicher“ (ebd.). Diese Idee der Modifikationen und Metamorpho­ sen des Inmitten-des-geschichtlichen-Prozesses-Stehens des Leibes, an dem 31 32 33 34

Ebd., S. 207. Ebd., S. 208. Ebd., S. 206f. Ebd., S. 212.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

385

Benjamin die Vorstellung von einer profanen Ordnung des Profanen ausrichtet, ereignet sich im Roman unmittelbar am Leib des Lesabéndio, bringt folglich die immanente Ordnung des Planeten aus dem Gleichgewicht und erzeugt eine polare Spannung zwischen Rumpf- und Kopfsystem in deren Mitte das technische Projekt des Turmbaus angesiedelt ist. Wo im Theologisch-politischen Fragment die „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) zwischen Profanem und Messianischem eine Beziehung qua Polarität herstellt, scheint Benjamins Aufmerksamkeit auf dem Turmbau darin begründet, dass im Roman diese polar ‚vermittelnde‘ Position durch die Technik bezeichnet ist, die Lesabéndios ehrgeizig verfolgten ‚weltpolitischen‘ Plan der Zusammenführung von Kopf- und Rumpfsystem Realität werden lässt. Der gelingende Umwandlungsprozess des Lesabéndio macht dann auch den übrigen Bewohnern „die Bedeutung des Schmerzes klar[…]“35, denn erst durch ihn konnte der Planet „zu neuem Leben […] erwachen.“36 Die bereits für das Theologisch-politische Fragment beschriebene Struktur von Auf- und Untergang realisiert sich im Roman durch den spannungsgeladenen, schmerzhaften Prozess des Untergangs der immanenten Planetenordnung und des sich gleichzeitig damit zumindest von fern ankündigenden Aufgangs einer höheren Ordnung. Der durch das Turmbauprojekt eingeleitete Umwandlungsprozess entpuppt sich dabei am Ende des Romans als eine allen Asteroiden gemeinsame Tendenz des Näherzusammenrückens. Das fühlt der selbst zum Stern gewordene Lesabéndio: „Darauf fühlte Lesa, daß er mit seinem Doppelstern auch hinüberreichen konnte zu den anderen Asteroïden. Und dort sprach man überall von der Notwendigkeit der gegenseitigen Annäherung. ‚Der Asteroïdenring muß ein Einheitliches werden!‘ sagten Alle, ‚wir kommen weiter, wenn wir zusammen sind – wie die Geister der Saturnringe. Es wird natürlich noch viele Schmerzen erzeugen.‘“37

Aus einer Ordnung ohne Schmerz entwickelt sich durch den Schmerz aber offensichtlich nicht einfach eine neue Ordnung durch einen einmaligen Akt. Das hätte Benjamin denn auch vermutlich genauso wenig interessiert wie etwa Blochs Vorstellung vom apokalyptisch-utopischen „sprunghaften Ereignis“38. Lesabéndios Ankündigung der Erzeugung immer neuer Schmerzen erinnert vielmehr an das, was Benjamin „die Ewigkeit eines Untergangs“ (WB II.1, 204) im Fragment genannt hat. In diesem Sinne ist das Zusammenrücken 35 36 37 38

Ebd., S. 215. Ebd. Ebd., S. 217. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 430.

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Kapitel 8

des Doppelsterns der Ausgangspunkt für neue polare Spannungen zwischen Kopf und Rumpf, zwischen der immanenten Ordnung des Planeten und der technisch in Gang gesetzten Transzendierung dieser Ordnung. Weiterhin betont Benjamin, dass Lesabéndio mit seiner Auflösung „mehr und mehr den früheren Rhythmus des Pallaslebens“ (WB II.2, 619) verwandle.39 Dass Benjamin dabei die Auflösung der alten Ordnung und den Übergang zu einer neuen Ordnung, in der sich aus der planetenimmanenten Polarität zwischen den Nord- und Südtrichter eine höhere polare Ordnung von Rumpf und Kopf ergibt, zudem in seinem späteren Text eine „restitutio in integrum du Pallas“ (ebd., 631) bezeichnet, deutet einmal mehr auf die motivische Nähe seiner Romanlektüre zum Theologisch-politischen Fragment und dem Arbeits- und Produktionszusammenhang der frühen ‚Politik-Schrift‘. Im vorherigen Kapitel wurde bereits ausführlich dargelegt, dass Benjamin im Fragment die weltliche restitutio als die „Ewigkeit eines Unterganges“ (WB II.1, 204) bzw. als „ewige[…] und totale[…] Vergängnis“ (ebd.) bestimmt. Die ‚Sternwerdung‘ des Lesabéndio zeitigt im Roman einen ähnlichen Vorgang, wobei sich die bei Benjamin am Glück orientierte Permanenz des Untergangs näher als ein „ins Unendliche“ führender, „nicht zu einem Schluß“40 kommender, permanenter Prozess der Umwandlung darstellt: „Und so läuft alles Zusammenkommen auf große lange Zeit hindurch vorzubereitende Umwandlungsprozesse hinaus. Die Sterne kommen eben zu anderen Sternen, um ihr ganzes Wesen ein wenig oder recht energisch – umzuwandeln.“41

Das Glück des „neue[n] Leben[s] – ein Pallas-Leben“42, auf das Scheerbarts Roman in dieser unendlichen Metamorphose ausgerichtet ist, realisiert sich durch den Untergang der einzelnen Person in ein größeres Gefüge: „Und da reckte er [Lesabéndio, K.D.] kraftvoll seinen ganzen Leib – und er fühlte, daß sein Leib der ganze Pallas-Rumpf war.“43 Das „Sichunterordnen dem Größeren gegenüber“, von dem Lesabéndio in der oben zitierten Erklärung der Bedeutung des Schmerzes spricht, ist genaugenommen ein technischer Vorgang. Die mit der schmerzvollen Leibmetamorphose des Lesabéndio und der kollektiven Anstrengung der Bewohner gleichermaßen zusammenhängende 39

40 41 42 43

Die Betonung der Veränderung des Lebensrhythmus ist ein wesentlicher Aspekt, der Benjamin auch in dem späten Text zu Scheerbart noch genauso wichtig zu sein scheint, wenn er dort ebenfalls schreibt: „En même temps, la dissolution de son architecte dans son astre commencera à changer le rythme de celui-ci.“ (WB II.2, 631). Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 180. Ebd., S. 162. Ebd., S. 216. Ebd., S. 218.

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387

Technik schafft erst die Grundlage für die Realisierung des Traumes der Verbindung von Rumpf- und Kopfsystem. Die Technik wird zum Motor und zum Organ einer anderen gesellschaftlichen Ordnung, durch die sich die natürlich gegebenen Voraussetzungen (Kopf- und Rumpfsystem) in ein anderes Verhältnis setzten lassen. Für Benjamins Bemühung um eine politische Lektüre des Romans dürfte das insofern von besonderem Interesse gewesen sein, als dass er über die Deutung des Romans die gleichermaßen in Zusammenhang mit seinen systematischen Überlegungen zum Politischen stehenden Aufzeichnungen zum psychophysischen Problem und zur Phantasie resp. zur ästhetischen Polarität von Phantasie und Konstruktion miteinander verbinden konnte. Uwe Steiner hat bereits detailliert dargelegt, dass sich hierhin die „Umrisse eines kollektiven Subjekts ab[zeichnen], das diesem Glücksstreben zugeordnet ist und das in der Technik über ein Mittel verfügt, unter Einbeziehung der Natur seiner Bestimmung näher zu kommen.“44 Durch den nicht mehr künstlerisch, sondern technisch realisierten Turmbau geht der einzelne Leib in ein größeres Kollektiv auf. Das Medium der Metamorphose zu einem höheren Zustand gemeinschaftlichen Glücks ist demnach die Technik. In dem letzten Stück der Einbahnstraße, das den Titel Zum Planetarium trägt, scheint Benjamin auf diesen sich bereits in der frühen Scheerbart-Lektüre ankündigenden Zusammenhang aus Technik und „kollektive[r] Physis“45 zurückzukommen, wenn er dort betont, dass „in der Technik eine Physis [organisiert]“ (WB IV, 147) werde, die über das einzelne Individuum hinaus auf die kollektive Physis der Menschheit zielt. Außerdem werden wir im nachfolgenden Kapitel sehen können, dass Benjamin noch in den Passagen-Aufzeichnungen auf die Metamorphose der Ordnung im Lesabéndio rekurriert, wenn er die „Revolution als eine[…] Innervation der technischen Organe des Kollektivs“ (WB V.2, 777) bestimmt. Wie Benjamin das Verhältnis zwischen profanem Glück und technischer Utopie näher bestimmt und worin genau die „geistige Überwindung des Technischen“ (WB II.2, 619) besteht, die er dem Roman attestiert, wird allerdings aus dem frühen Text zu Scheerbart nicht weiter ersichtlich. Einen Hinweis gibt hier der spätere französischsprachige Text, in dem die wesentlichen Elemente enthalten sind, die auch Benjamins frühe Deutung bereits geleitet haben. Dort schreibt Benjamin zu der das literarische Schaffen Scheerbarts bestimmenden Idee:

44 45

Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 64. Ebd., S. 85.

388

Kapitel 8 „Cette idée – cette image, plutôt – était celle d’une humanité qui se serait mise au diapason de sa technique, qui s’en serait servie humainement. A un tel état de choses Scheerbart crut voir deux conditions essentielles, à savoir: que les hommes sortent de l’opinion basse et grossière qu’ils sont appelés à ‚exploiter‘ les forces de la nature; que, par contre, ils demeurent convaincus que la technique, tout en libérant les humains, libérerait fraternellement par eux la création entière.“ (WB II.2, 630f.)

Dieses im Einklang mit der Schöpfung stehende Verhältnis zwischen Natur und Mensch scheint sich zumindest andeutungsweise bereits in seiner Aufzeichnung zur Phantasie anzukündigen. Benjamin betont dort zum Ende hin, dass die Phantasie, die es „nur mit der Natur zu tun“ (WB VI, 117) hat, keine neue Natur schafft, sondern die vorhandene nur im „stetig wechselnden Übergang“ (ebd.) kennt. Auch ein latenter Verweis auf das Verhältnis von Auf- und Untergang aus dem Theologisch-politischen Fragment ist hier denkbar. Benjamins notiert weiter: „Im großen Spiel der Naturvergängnis wiederholt sich ewig die Naturauferstehung als ein Akt. (Sonnenaufgang) / Phantasie ist im letzten und im ersten.“ (ebd.) Erst mit der Scheerbart-Lektüre tritt aber die Technik zwischen Menschen und Natur als Ort der Herstellung eines nicht-ausbeuterischen Verhältnisses zur Natur, was auch die Grundlage aller späteren technikphilosophischen Überlegungen unter materialistischen Vorzeichen bleiben wird. Benjamins Anmerkung über das In-Einklang-Bringen von Menschen und Natur qua Technik aus dem späteren Scheerbart-Text ist zudem aufschlussreich, weil damit deutlich wird, dass die Technik kein Selbstzweck ist, sondern zum Medium wird, in dem zwei Zeitachsen zusammenzulaufen scheinen: Die Technik weist zugleich zurück auf die Schöpfung und sie weist auf einen kommenden Zustand der befreiten Menschheit. Dieses befreiende Potential der Technik begleitet auch die weiteren Arbeiten Benjamins in den 1920er und 30er Jahren. Deutlicher herausgearbeitet und methodisch durch eine spezifisch polar-dialektische Geschichtsbetrachtung abgesichert, wird die sich in den frühen Aufzeichnungen angelegte Utopie eines veränderten Verhältnisses von Mensch und Natur, in der die „forces de la nature“ durch die Technik nicht ausgebeutet, sondern für die Befreiung des Menschen produktiv gemacht werden, aber erst im Begriff der „zweiten Technik“ (WB VII.1, 359 u.ö.), den er in der Arbeit über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt. Auf diesen Begriff der „zweiten Technik“ wird im nachfolgenden Kapitel unter anderem einzugehen sein, um zu zeigen, wie dort noch diejenige technische Utopievorstellung fortwirkt, die Benjamin in seiner frühen Auseinandersetzung mit Scheerbart bereits formuliert hat. Die Rekonstruktion dieser Verbindung zwischen einerseits den

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

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frühen Überlegungen zur Utopie des Technischen in der Scheerbart-Lektüre und den wahrnehmungsgeschichtlichen Ausführungen über die „zweite Technik“ im späteren Kunstwerk-Aufsatz andererseits wird sich insbesondere an einer sich auffällig ähnelnden Ausrichtung des Politischen am Leib und im Humor zeigen. Der Verlust des dritten Teils der ‚Politik-Schrift‘ bedingt diesen ‚Umweg‘ über die späteren Überlegungen zum Verhältnis von Technik, Utopie und Leib. An diesen Überlegungen kann aber nicht nur gezeigt werden, wie bestimmte Debatten aus der frühen Arbeit am Politischen nachwirken; sie erlauben überdies die unterschiedlichen Reprisen, die Benjamin explizit in die späteren Texte einschreibt, als einen produktiven Verstehenszusammenhang zu etablieren. Damit dient diese nicht-chronologische Darstellung dem Versuch, die Produktionszusammenhänge nicht unter einem werkgenetischen, entwicklungslogischen Gesichtspunkt in den Blick zu nehmen, sondern nachträglich von ihrer konstruktiven Reziprozität. Der Name Scheerbart taucht dabei allerdings im Kunstwerk-Aufsatz nicht direkt auf, sodass sich die Verbindungen hier allein in einer textimmanenten Lektüre nur sehr oberflächlich ermitteln ließen.46 Erst über die Brücke, die Benjamin in den Passagen-Aufzeichnungen über Charles Fourier zurück auf seine frühe ‚Politik-Schrift‘ schlägt, lässt sich hier eine deutlichere Verbindung ziehen. Fourier wiederum spielt auch eine entscheidende Rolle im Kunstwerk-Aufsatz. Daher nehmen die nachfolgenden Überlegungen ihren Ausgangspunkt in Benjamins teilweise überraschenden Anmerkungen über das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Fourier und Scheerbart. Indem die Passagen-Aufzeichnungen auf Benjamins frühe Einlassungen zum Verhältnis von Technik, Natur und Utopie zurückweisen, lässt sich zugleich ein weiterer überraschender Bezug zwischen den frühen metaphysischen und den späten materialistischen Arbeiten nachweisen, der sich über das Fortwirken der ästhetischen Debatten um die Funktion des Humors ergibt.

46

Ob diese Nicht-Nennung Scheerbart im Kunstwerk-Aufsatz in einer Art Vorsichtsmaßnahme begründet ist, die als späte Reaktion auf das Unverständnis zu verstehen ist, mit dem Benjamin konfrontiert wurde, nachdem er Scheerbarts literarische Technikutopie in seinem Moskau-Interview besonders hervorgehoben hatte, muss zwar Spekulation bleiben, könnte aber durchaus eine Erklärung abgeben.

390 8.3

Kapitel 8

„Aufknacken der Naturteleologie“: „Zweite Technik“, Natur und Humor (Paul Scheerbart und Charles Fourier)

Die grundlegendste Gemeinsamkeit zwischen Paul Scheerbart und Charles Fourier in Benjamins Werk besteht darin, dass ihnen zwar keine eigenständige, größere Arbeit gewidmet ist,47 beide aber an entscheidenden Stellen immer wieder auftauchen – mitunter sogar in direktem Bezug aufeinander. Beide werden von Benjamin immer dort ins Feld geführt, wo er das Verhältnis von Technik, Utopie und Humor verhandelt. Das ist dann auch der Anlass dafür, dass Scheerbart an mehreren Stellen im Umfeld des Passagen-Projekts, insbesondere eben im Zusammenhang mit Benjamins Überlegungen zu Fourier, auftaucht. Mit einigen Überlegungen zu Fouriers frühsozialistischer Utopie des Phalanstère setzt bekanntlich Benjamins Passagen-Exposé Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts ein. Die Passage, so berichtet Benjamin dort, die eigentlich einem ökonomischen Kalkül diente („Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren.“ WB V.1, 45), werde bei Fourier zum architektonischen Modell einer utopischen Wohn- und Lebensgemeinschaft. Dass sich seine utopische Gesellschaftsordnung an der Passage entzündet, zeige dabei vor allem die Verwurzelung von Fouriers Denken im 19. Jahrhundert an. In den Aufzeichnungen zu Fourier schreibt Benjamin: „Nur in der sommerlichen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, nur unter seiner Sonne kann man Fouriers Phantasie sich verwirklicht denken.“ (WB V.2, 785) Damit nimmt Fourier eine exemplarische Doppelrolle ein, die mit der Doppelfunktion der für Benjamins geschichtsphilosophischen Blick auf das 19. Jahrhundert zentralen Idee der „Wunschbilder“ (WB V.1, 46) korreliert, in denen sich „das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie der Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären“ (ebd., 46f.) versucht. ‚Aufhebung‘ und ‚Verklärung‘: beide Aspekte macht Benjamin auch für Fouriers Utopie geltend. Auf der einen Seite spricht er von der „reaktionären Umbildung“ der Passage zum utopischen Phalanstère. In der französischen Version des Textes wird Benjamin noch deutlicher, wenn er betont, dass die Konstruktionsidee von ‚Passagen-Städten‘ „un caractère de fantasmargorie“ (ebd., 63) erzeuge. Auf der anderen Seite ergebe sich 47

Auch der in dieser Untersuchungskonstellation in den Blick genommene Komplex der Scheerbart-Analyse kann – im Gegensatz zu Benjamins frühen größeren Arbeiten über Hölderlin oder Goethe – nicht als im eigentlichen Sinne eigenständige Arbeit bezeichnet werden, weil es als Teil der ‚Politik-Schrift‘ konzipiert ist. Dass es dennoch gute Gründe dafür gibt, die Bedeutung der Arbeit über Scheerbart den Aufsätzen über Hölderlin und Goethe zur Seite zu stellen, diskutiert das abschließende Kapitel 9.5.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

391

bei Fourier aber aus „l’intégration de la technique dans la vie sociale“ (ebd., 64) eine hellsichtige Utopie, deren konstruktives Moment sich nicht in den sehr wohl vorhandenen „pittoresken Elemente[n]“ (WB III, 428) erschöpfe, sondern zugleich durch die Vorstellung einer „Arbeit am Aufbau“ (ebd.) einer anderen Gesellschaft über das 19. Jahrhundert hinausweise. Der imaginäre, oder besser metaphorische Schauplatz einer „harmonischen Assoziation“ (WB V.2, 769) sei dabei die Maschine (vgl. WB V.1, 47), wodurch sich Fouriers Utopie der freien Assoziation als eine technische zu erkennen gibt, deren Wunschbildproduktion sich am Stand der zeitgenössischen Produktionsbedingungen orientiert.48 Somit ist die Fouriersche Utopie zugleich symptomatisch für das 19. Jahrhundert als auch utopisch: Sie zeigt den gleichermaßen ökonomischen, kulturellen, politischen sowie den geschichtsphilosophischen Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse an als auch ihr utopisch-befreiendes Wunschpotential. In diesem Zusammenhang kommt Benjamin auch kurz auf Scheerbart zu sprechen: Im Gegensatz zu den sich am Glas entzündenden gesellschaftlichen Wunschbildern und Utopien des 19. Jahrhunderts, seien erst bei Scheerbart tatsächlich die „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ (WB V.1, 46) einer an der modernen Architektur orientierten Utopie gegeben. Damit sei aber, so folgert Benjamin, „Scheerbart in seiner ‚Glasarchitektur‘ dem Utopisten Fourier [verwandt].“ (ebd., 47) Worin aber genau besteht diese überraschende Verwandtschaft? Auch hierzu gibt das Passagen-Konvolut zu Fourier Auskunft. Benjamin notiert dort, dass dessen „Vorstellung von der Verbreitung der phalanstères durch explosions“ mit „zwei Vorstellungen meiner ‚Politik‘ zu vergleichen sind: die von der Revolution als einer Innervation der technischen Organe des Kollektivs […] und die vom ‚Aufknacken der Naturteleologie‘.“ (WB V.2, 777) Wie dieser Vergleich konkret ausgefallen wäre, lässt sich nicht mehr restlos klären. An einer Stelle der französischen Version des Passagen-Exposés Paris, Capitale du XIXeme Siecle, die unmittelbar auf die knappe Notiz aus dem Fourier-Konvolut verweist, kommt Benjamin zumindest implizit auf diese beiden Vorstellungen seiner ‚Politik‘ zurück, indem er sie auf Fouriers Utopie bezieht: 48

Im Fourier-Konvolut schreibt Benjamin zur Maschinen-Utopie näher: „Man kann das Phalanstère als eine Menschenmaschine bezeichnen. Das ist kein Vorwurf, meint auch nichts Mechanistisches sondern bezeichnet die große Komplikation seines Aufbaus. Es ist eine Maschine aus Menschen.“ (WB V.2, 772) Benjamins hieran anschließendes Interesse für Fouriers soziale Kombinationslehre menschlicher Passionen, die auf die Maschinenvorstellung und die konkrete architektonische Realisierung der sozialen Utopie folgt, lässt sich an den unterschiedlichen Exzerpten im Fourier-Konvolut nachvollziehen. Dieser Aspekt kann im Rahmen dieser Arbeit aber nicht weiterverfolgt werden.

392

Kapitel 8 „Un de traits les plus remarquables de l’utopie fouriériste c’est que l’idée de l’exploitation de la nature par l’homme, si répandue à l’époque postérieure, lui est étrangère. La technique se présente bien plutôt pour Fouriere comme l’étincelle qui met le feu aux poudres de la nature. Peut-être est-ce là la clé de sa représentation bizarre d’après laquelle le phalanstère se propagerait ‚par explosion‘. La conception postérieure de l’exploitation de fait de l’homme parles propriétaires des moyens de production. Si l’intégration de la technique dans la vie sociale a échoué, la faute en est à cette exploitation.“ (WB V.1, 64)

Der Vergleichspunkt zwischen Fouriers Idee einer „Verbreitung der phalanstères durch explosions“ und Benjamins nicht weiter explizierten Vorstellungen von der „Revolution als einer Innervation“ und dem „Aufknacken der Naturteleologie“ liegt offensichtlich in der Idee, durch die Technik (Benjamin) resp. der Maschine (Fourier) eine Umwandlungsbeschleunigung hin zu einem nichtausbeuterischen Naturverhältnis zu bewirken. Während Fourier in seinen affektpolitischen Überlegungen auf die Befreiung und das harmonische Zusammenwirken der menschlichen „douze passions“ (WB V.2, 776) zielt,49 geht es Benjamin, so wird sich im Folgenden zeigen, vor allem um die Idee einer durch die Technik organisierten „kollektive[n] Physis“50. Die knappe Notiz aus Benjamins Fourier-Aufzeichnung ist aber aus einem anderen Grund von noch größerer Bedeutung für die Untersuchungskonstellation: Mit dem Verweis auf „zwei Vorstellungen meiner ‚Politik‘“ scheint Benjamin zu suggerieren, dass eben diese „Politik“ aus den frühen 1920er Jahren auch in der gleichermaßen politischen wie geschichtsphilosophischen Konzeption des ‚Passagen-Werks‘ Geltung beanspruchen dürfe. Ließe sich daraus umgekehrt aber auch eine Schlussfolgerung hinsichtlich der Konzeption des dritten Teils dieser ‚Politik-Schrift‘ ziehen? Das würde bedeuten, dass die beiden Ideen eines nicht-ausbeuterischen Verhältnisses zur Natur und einer Revolutionierung des sozialen Lebens durch die Technik, von denen wir weiter oben gesehen haben, dass Benjamin sie explizit in seinem späten Scheerbart-Text hervorhebt, bereits in Benjamins früher „Arbeit über

49

50

Vgl. hierzu Eva Johach: Universale Analogien und passionelle Serien. Eine Einführung in Charles Fourier. In: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft  2 (2011), S.  149-163. Auf die von Johach beschriebene Übersetzung des Newton’schen Attraktionsgesetzes in eine „attraction passionelle“ (ebd., S. 150) in Fouriers sozialer Utopie kann hier nicht näher eingegangen werden. Es ist einer späteren Arbeit aufgegeben, zu untersuchen, ob gerade die in Fouriers Analogisierung eines naturwissenschaftlichen Gesetzes mit einem sozialen Bewegungsprofil eingelagerte polare Denkfigur der Spannung aus Bewegung und Ordnung (Attraktion und Repulsion) Benjamins Interesse für Fourier begründet hat. Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 85.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

393

Politik“ (Br II, 127) eine zentrale Rolle gespielt haben.51 Vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Abschnitt zitierten Passage aus Benjamins spätem Scheerbart-Text, wonach dieser mit der technischen Utopie im Lesabéndio ebenfalls ein nicht-ausbeuterisches Verhältnis zur Natur gestaltet habe, liegt es jedenfalls zunächst einmal sehr nahe, das Pendant zu den Ansichten Fouriers, die Benjamin zu einem Vergleich mit seiner frühen ‚Politik-Schrift‘ veranlasst haben, in der Auseinandersetzung mit Scheerbart zu suchen. Neben der Verbindung zu Scheerbart lässt sich außerdem noch vermuten, dass das „Aufknacken der Naturteleologie“ den Gegenstand des nicht überlieferten Textes Teleologie ohne Endzweck gebildet haben dürfte.52 Der Text wäre insbesondere für die Frage aufschlussreich, inwiefern Benjamin in ihm bereits früh eine Fortschrittskritik formuliert hat, die er später in einem marxistisch informierten Vokabular in verschiedenen Texten entfaltet. Das kann heute zwar nicht mehr restlos aufgeklärt werden, dennoch geben die späteren materialistisch orientierten Arbeiten Hinweise darauf, warum er seine frühen politischen „Vorstellungen“ noch in die Passagen-Aufzeichnungen einschreibt. Bevor auf das Verhältnis zwischen Scheerbart und Fourier zurückgekommen werden kann, gilt es zunächst die Spuren der Vorstellungen vom „Aufknacken der Naturteleologie“ und der „Revolution als einer Innervation der technischen Organe des Kollektivs“, die Benjamin mit Scheerbart und Fourier gleichermaßen verbindet, näher zu verfolgen.

51

52

Rolf Tiedemann hält im Anmerkungsapparat der Gesammelten Schriften fest, dass es „unsicher“ sei, „ob Benjamin mit dem Rückbezug auf seine Politik „sehr allgemein von den politischen Vorstellungen spricht, die sein Denken grundieren, oder ob er konkret jene Schrift über ‚Politik‘ im Sinn hat, die er um 1919/20 plante“ (WB V.2, 1334). Die nachfolgenden Ausführungen beanspruchen zu zeigen, dass es begründete Hinweise dafür gibt, dass Benjamin hier tatsächlich die frühe ‚Politik-Schrift‘ und dabei insbesondere seine Arbeit über Scheerbarts Lesabéndio im Sinn hatte. Diese Annahme wird vor allem für den Kunstwerk-Aufsatz produktiv zu machen sein. Denn in der wechselseitigen Aufklärung zwischen frühen und späten Arbeiten lässt sich zeigen, wie Benjamins konzeptionelle Veränderung des Kunstwerk-Aufsatzes, die in dem Versuch einer kritischen Abkehr von Georg Lukács’ Entfremdungs- und Verdinglichungstheorie begründet ist, zugleich einhergeht mit einer Konzeption ‚technisch-spielerischer Heiterkeit‘, die auf den Zusammenhang von Humor und Technikutopie in der frühen Scheerbart-Lektüre zurückweist. Sam Dolbear und Hannah Proctor gehen dem Verweis auf das „Aufknacken der Naturteleologie“ ebenfalls nach, legen den Schwerpunkt dabei aber auf den hier nicht weiterverfolgten Aspekt einer ‚revolutionären Pädagogik‘, die in der kindlichen Wahrnehmungsweise einen nicht-teleologischen Zusammenhang von Mensch und Natur sieht. Vgl. Sam Dolbear/Hannah Proctor: ‚Cracking Open the Natural Teleology‘. Walter Benjamin, Charles Fourier and the Figure oft the Child. In: Pedagogy, Culture and Society 24 (2016), S. 495-503.

394

Kapitel 8

Aufschlussreich ist hier der Aufsatz über Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. Am Ende des zweiten Teilabschnittes dieses Aufsatzes zeichnet Benjamin eine kritische Genealogie der von ihm vor allem im sozialdemokratischen Theoriemilieu um die Jahrhundertwende verorteten gänzlich „verunglückte[n] Rezeption der Technik“ (WB II.2, 475). Benjamin wirft dort unterschiedlichen Theoretikern vor, dass sie in ihrer positivistischen, d.h. ausschließlich naturwissenschaftlich ausgerichteten Rezeption der technischen Entwicklungen die „destruktive Seite dieser Entwicklung“ (ebd.) verkannt haben. Ein dialektischer Zugang zu diesem technischen Fortschritt, so Benjamins Forderung an eine gesellschaftskritische Methode, habe indes eine gleichermaßen historische wie ökonomische Perspektive zu berücksichtigen, weil so erst eine notwendige Problematisierung des Begriffs des Fortschrittes als solchem ermöglicht werde. Denn gerade der durchtechnisierte Weltkrieg habe gezeigt, dass die „zerstörenden Energien der Technik“ (ebd.) stets mitbedacht werden müssen. In der XI. geschichtsphilosophischen These kommt Benjamin auf diese Kritik zurück, indem er dort die in den vorangegangenen Thesen entwickelte Kritik am Fortschrittsbegriff auf die Arbeitsideologie der Sozialdemokratie anwendet. Stärker noch als im Fuchs-Aufsatz stellt Benjamin dabei ein destruktives Verhältnis zwischen der Ideologie des technischen Fortschritts und der Naturbeherrschung über den „vulgärmarxistische[n] Begriff“ (WB I.2, 699) von Arbeit her, den er hier beispielhaft in den Schriften Josef Dietzgens repräsentiert sieht. Diesem Begriff der Arbeit korrespondiert, so Benjamins Vorwurf, ein „unheilverkündende[r]“ (WB I.2, 699) Naturbegriff: „Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüber stellt.“ (ebd.) Man habe, so könnte Benjamins Argument zusammengefasst werden, aus dem Entwicklungsgang der Technik eine sich zwangsläufig abspielende Naturgesetzlichkeit gemacht, deren erhofftes befreiendes Telos in Wirklichkeit die Ausbeutung der Natur mit der Ausbeutung des Proletariats zusammenschließe und immer erneut reproduziere. Im Aufsatz über Eduard Fuchs nennt Benjamin das die „Illusionen des Positivismus“ (WB II.2, 475), durch die ausgeblendet bleibe, dass der technische Fortschritt unter einer kapitalistischen Produktionsweise immer auch „Rückschritte der Gesellschaft“ (ebd., 474) bedeute. Das von Benjamin in den PassagenAufzeichnungen notierte und von ihm selbst auf seine frühesten politischen Überlegungen zurückgebundene „Aufknacken der Naturteleologie“ bestünde also hiernach in der Überwindung eines ideologisch naturalisierten, tatsächlich aber ökonomisch begründeten Gewalt- und Herrschaftsverhältnisses von Naturausbeutung und kapitalistischer Produktionsweise.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

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Im Anschluss an die Dietzgen-Kritik in der XI. geschichtsphilosophischen These trägt Benjamin dann eine überraschende Gegenperspektive vor, die sich auf die frühsozialistischen Utopien Charles Fouriers bezieht: „Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen erweisen die Phantastereien, die so viel Stoff zur Verspottung eines Fourier gegeben haben, ihren überraschend gesunden Sinn. Nach Fourier sollte die wohlbeschaffene gesellschaftliche Arbeit zur Folge haben, daß vier Monde die irdische Nacht erleuchteten, daß das Eis sich von den Polen zurückziehen, daß das Meerwasser nicht mehr salzig schmecke und die Raubtiere in den Dienst des Menschen träten. Das alles illustriert eine Arbeit, die, weit entfernt die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern. Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, ‚gratis da ist‘.“ (WB I.2, 699)

Warum Benjamin in einer Zeit, von der er selbst schreibt, dass in ihr der „Ausnahmezustand“ (ebd., 697) zur Regel geworden ist, gerade auf Fourier als Beispiel für ein nicht-ausbeuterisches Verhältnis zwischen Natur und Mensch rekurriert, erschließt sich nicht unmittelbar aus den Thesen selbst. Allerdings zeugen sowohl die Fourier-Referenz also auch die Mahnung aus dem FuchsAufsatz, die Technik dialektisch zu betrachten, davon, dass es Benjamin nicht bloß um eine konservative Technikkritik geht. In der Arbeit über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wird Benjamin hier noch deutlicher, indem er die Technik im Dienst einer „zunehmende[n] Befreiung des Menschen aus der Arbeitsfron“ (WB VII.1, 360) charakterisiert und darin zugleich die Möglichkeit eines nicht auf Beherrschung ausgerichteten Verhältnisses zur Natur erblickt. Auch hier kommt er auf Fourier zurück und betont, dass dessen „Werk […] das erste geschichtliche Dokument dieser Forderung“ (ebd.) gewesen sei. Ein genauerer Blick auf die Argumentation im KunstwerkAufsatz wird zeigen können, wie das „Aufknacken der Naturteleologie“ zugleich mit der zweiten in den Passagen-Aufzeichnungen erwähnten Vorstellung zusammenhängt, nämlich mit „der Revolution als einer Innervation der technischen Organe des Kollektivs“ (WB V.2, 777). An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, der umfangreichen Rezeption zu Begriffen wie der Aura oder der Reproduzierbarkeit eine weitere detaillierte Interpretation anzuschließen. Vor dem Hintergrund des dargelegten Erkenntnisinteresses an der Verbindung zwischen den frühen Arbeiten über Scheerbart und den materialistischen Untersuchungen zur Technik soll im nachfolgenden Exkurs stattdessen der Fokus auf die Methode der Herstellung von polaren Spannungsbeziehungen gelegt werden, aus denen sich in der Arbeit über Das Kunstwerk im Zeitalter

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Kapitel 8

seiner technischen Reproduzierbarkeit Benjamins Idee eines utopischen Gehalts der „zweiten Technik“ ergibt. Das zeigt sich besonders eindrücklich an der mit einigen Fußnoten versehenen zweiten Fassung der Arbeit.53 Im Vergleich mit der ersten Fassung des Aufsatzes lässt sich zeigen, dass Benjamins theoretische Perspektivenverschiebung in der zweiten Fassung einhergeht mit einer Reformulierung und Aktualisierung von Motiven und Argumenten zum Verhältnis von Technik, Utopie und Humor aus dem Kontext der frühen Arbeit zum Politischen. 8.4

Exkurs: „Heiterkeit“ und „zweite Technik“ in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Der Kunstwerk-Aufsatz präsentiert sich selbst als eine Prognose über die „Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“ (WB VII.1, 350); genau genommen handelt es sich um eine Arbeit an der Einführung neuer Begriffe für diese Tendenzen, da sich, so Benjamins Diagnose, Begriffe wie „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“ (ebd.) als nicht mehr zulänglich für die Veränderungen erweisen, die sich im Gebiet des gesellschaftlichen Überbaus bereits vollzogen haben und sich noch ankündigen. Benjamin weist aber nicht nur die Begriffe des 19. Jahrhunderts entschieden zurück, weil in ihnen der Kunst ein „unhistorische[r], abstrakt magische[r] Charakter“54 zugesprochen werde. Er beansprucht zugleich, Begriffe zu entwickeln, die nicht nur an den gegenwärtigen Stand der Kunstproduktion heranreichen, sondern selbst wiederum eine konsequente 53

54

Diese Fußnoten charakterisiert Benjamin gegenüber Adorno als eine „Anzahl von Anmerkungen […], die Schnitte durch den politisch-philosophischen Unterbau der im Text gegebenen Konstruktionen darstellen.“ (Br V, 240) Der Text ist in den Gesammelten Schriften im Supplement-Band VII publiziert, da er erst später aufgefunden wurde. Es handelt sich dabei um jene Fassung, „in der Benjamin sie zuerst veröffentlicht sehen wollte, und die bei der Umschmelzung in ihre französische Fassung auf die Version reduziert wurde, in der sie zu seinen Lebzeiten erschien […].“ (WB VII.2, 661). Bezieht man die erste Rohfassung in die Zählung mit ein, die den Entwurf für die späteren Fassungen darstellt, handelt es sich bei der zweiten Fassung genaugenommen eigentlich um die dritte Fassung. Diese genauere Zählung nimmt Burkhardt Lindner in der Neuedition der Kunstwerk-Aufsätze im Rahmen der Ausgabe Werke und Nachlaß vor. (vgl. WuN 16, 317). Da nachfolgend weiterhin nach der Ausgabe Gesammelte Schriften zitiert wird und Irritationen vermieden werden sollen, wird hier die nach wie vor übliche Bezeichnung ‚zweite Fassung‘ verwendet. Burkhardt Lindner: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 229-251, hier: S. 242.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

397

Konfrontation mit den von ihm als ‚urgeschichtlich‘ bezeichneten rituellen Praktiken ermöglichen sollen.55 In ideologiekritischer Abgrenzung von den überkommenen Begriffen strebt Benjamin im Aufsatz eine Konfrontation zwischen „der wirklich magisch ausgerichteten Kunst der Urzeit“ (WB I.3, 1050) und den gegenwärtigen Entwicklungstendenzen in der Kunstproduktion an. Dabei wird Benjamin alte Begriffe aber nicht bloß ersetzen, sondern die Umwälzungsprozesse im Bereich der Kunst gerade an der polaren Spannung zwischen alten und neuen Begriffen zu entwickeln versuchen. Das betrifft insbesondere die berühmte und zentrale These vom „Verfall der Aura“ (ebd., 354), die Benjamin vor dem Hintergrund der Annahme einer konstitutiven Geschichtlichkeit menschlicher Wahrnehmungsweisen entfaltet. Was bekanntlich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, wenn nicht gänzlich verloren geht, so doch entschieden in den Hintergrund tritt, sei die „Echtheit“ (ebd., 353) des Kunstwerkes. Diese Echtheit des Kunstwerkes habe, so führt Benjamin weiter aus, bisher sowohl die Garantie seiner materiellen Dauer gewährleistet als auch die Voraussetzung seiner Tradierbarkeit im Sinne einer „geschichtlichen Zeugenschaft“ (ebd.) dargestellt.56 Durch die sukzessive Entwicklung von Reproduktionstechniken werde das Kunstwerk nun aus diesem Traditionszusammenhang zugleich herausgerissen und entlassen, denn dieser Prozess hat zwei Seiten: er ist „Krise und Erneuerung“ (ebd.) und umfasst damit gleichermaßen eine destruktive und eine konstruktive Entwicklung. Als Elemente des geschichtlichen Wandels menschlicher Wahrnehmungsweisen versucht Benjamin beide Seiten durchgängig zusammenzudenken. Zwar bezieht sich Benjamin in seiner Darstellung 55

56

Bei Benjamin heißt es dazu: Der Kunstwerk-Aufsatz bemühe sich um eine „Kritik des aus dem neunzehnten Jahrhundert uns überkommenen Begriffs der Kunst […]. Von diesem Begriff wird zu zeigen versucht, daß er den Stempel der Ideologie trägt. Sein ideologischer Charakter ist in der Abstraktion zu erblicken in welcher er die Kunst im allgemeinen und ohne Ansehung ihrer geschichtlichen Konstruktion aus magischen Vorstellungen definiert.“ (WB I.3, 1050). Burkhardt Lindner hat gezeigt, dass gerade hierhin ein deutlicher Unterschied zwischen Benjamin auf der einen Seite und Heidegger bzw. Adorno auf der anderen Seite besteht, die sich beide in ihren Analysen der modernen Ästhetik nicht auf die reproduktionstechnischen Veränderungen, sondern auf Hegels Diktum vom ‚Ende der Kunst‘ stützen. (vgl. Burkhardt Lindner, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 239-242) Benjamin geht hingegen einen weiten Schritt hinter Hegel zurück und strebt eine Konfrontation zwischen moderne Reproduktionstechniken und rituellen Praktiken der ‚Urzeit‘ an. Diese Echtheit bemisst sich bei Benjamin nicht zwangsläufig an die Autorität des Künstlers. Burkhardt Lindner hat zurecht darauf hingewiesen, dass Echtheit „keine wahrnehmungstheoretische, sondern eine diskurstheoretische Kategorie“ sei, „in der je historisch die Vorstellung über Echtheit geregelt wird.“ (Burkhardt Lindner, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 237).

398

Kapitel 8

der historischen Veränderungen in der Wahrnehmung und Kunst an zwei Stellen auch auf die Hegelsche Logik des dialektischen Umschlags einer quantitativen Veränderung in einen qualitativen Sprung (vgl. ebd., 358 und 380), die geschichtlichen Veränderungsprozesse scheint Benjamin in seiner Argumentation aber nicht durch diese dialektische Verlaufslogik erklären zu wollen. Vielmehr betont er gleich zu Beginn der Arbeit, dass die Veränderungen durch die technische Reproduzierbarkeit sich „in der Geschichte intermittierend, in weit auseinanderliegenden Schüben, aber mit wachsender Intensität durchsetzt.“ (ebd., 351) Durch den Blick auf diesen nicht-einlinigen Intensitätsrhythmus, der sich in „wechselnden Grade[n]“ (ebd., 359) vollziehe, kann Benjamin sich auch auf ältere Dokumente – etwa auf Charles Fouriers Utopie – berufen, um die intermittierenden historischen Bewegungen anzuzeigen. Für die Darstellungsweise und Argumentationslogik des Textes resul­ tiert daraus eine permanente polare Gegenüberstellung, die er insbesondere in der hier besprochenen zweiten Fassung des Aufsatzes mehrmals selbst als „Polarität“ bezeichnet. (vgl. ebd., 357 und 368; zudem WB VII.2, 667). Burkhardt Lindner hat daher auch zurecht nachdrücklich hervorgehoben, dass sich Benjamins methodisches Verfahren nicht allein in der Destruktion alter Begriffe oder der Etablierung neuer Begriffe (Reproduzierbarkeit, Aura) erschöpfe. Die Erprobung „seine[r] Dialektik als experimentelle Methode“ basiere „wie sonst in keinem Text“ vielmehr konstitutiv auf ein „Denken in Polaritäten“.57 Und gegenüber der Hegel’schen Dialektik als Negations- und Aufhebungsbewegung führt Lindner weiter aus: „Die zentralen Kategorien bilden sozusagen Ellipsen mit doppelten Brennpunkten (Polen). Das Gewicht der Pole zueinander verschiebt sich je nach historischer Konstellation, aber die Polbildung selbst bleibt dabei bestehen.“58 Genaugenommen handelt es sich dabei um drei miteinander zusammenhängende Polaritäten, die Benjamin sukzessive entfaltet: Erstens die Polarität von Kult- und Ausstellungswert, mit der die Funktion der Kunst in unterschiedlichen gesellschaftlichen Praktiken angezeigt wird; zweitens die zentrale Polarität von erster und zweiter Technik, in der Benjamin zwei verschieden Formen des Verhältnisses von Mensch und Natur unterscheidet; und drittens die Polarität von Schein und Spiel, die auf den utopischen Gehalt weist, der in der ästhetischen Einübung in die durch die zweite Technik entstehenden 57 58

Ebd., S. 247. Als Beispiele nennt Lindner: „Urzeit – Gegenwart; Ausstellungswert – Kultwert; Sakralität – Profanität; Maler – Chirurg; Kino – Theater; Kontemplation – Zerstreuung usw.“ (ebd.). Ebd., S. 248.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

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neuen Apperzeptionsmöglichkeiten liegt. Vor diesem Hintergrund betont Benjamin gegenüber Max Horkheimer, dass der Kunstwerk-Aufsatz „den Versuch“ mache, „den Fragen der Kunsttheorie eine wahrhaft gegenwärtige Gestalt zu geben: und zwar von innen her, unter Vermeidung aller unvermittelten Beziehung auf Politik.“ (Br  V, 179) Eine mittelbare Beziehung auf Politik hingegen gibt es in allen drei von Benjamin verhandelten Polaritäten, und zwar dadurch, dass diese Beziehung nicht zweckrational, sondern wahrnehmungsgeschichtlich begründet wird. Diese drei zwischen Ästhetik und Politik changierenden Polaritäten sollen nachfolgend in ihrer Thesenhaftigkeit kurz referiert werden. Kultwert und Ausstellungswert: Diese Polarität bildet den Ausgangspunkt der Analyse. In ihr spannt Benjamin den größtmöglichen historischen Bogen, indem er die kultische Funktion der Kunst in rituellen Praktiken bis auf ihre ‚urgeschichtlichen‘ Zusammenhänge zurückbezieht. Die Kunstgeschichte sei, so führt Benjamin hier aus, „als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufs in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken.“ (ebd., 357) Die Polarität besteht zwischen dem Kultwert und dem Ausstellungswert. Dabei stehe der Kultwert „im Dienste der Magie“ (ebd., 358), deren Tendenz darauf ziele, das Kunstwerk überwiegend „im Verborgenen zu halten“ (ebd.). Als Beispiel nennt Benjamin hier die vom profanen Bereich abgeschottete Statue im Priestertempel, die zum Gegenstand kultischer Praktiken werde. Auf der anderen Seite wiederum habe die „Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Rituals“ (ebd.) die Ausstellbarkeit des Kunstwerkes begünstigt. Das sorge insbesondere für eine Mobilität des Kunstwerkes, das jetzt nicht mehr nur an einem einzigen und zudem verborgenen Ort seinen Platz findet. Auf der Grundlage dieser Polarität lautet Benjamins erste, sehr naheliegende These nun, dass mit der Verschiebung vom Kult- zum Ausstellungspol eine Veränderung der Funktion des Kunstwerkes einhergeht. Allerdings sieht man besonders an dieser polaren Gegenüberstellung, dass es Benjamin nicht einfach um die Darstellung einer historischen Ablösung geht, sondern um die „Konfrontation“ (ebd., 358) beider Praktiken. In der polaren Darstellung will Benjamin beide Seiten der Spannung gleichermaßen in ihren „Zusammenhängen zu ihrem Recht kommen zu [...] lassen“ (ebd., 356). Darauf folgt dann die noch entscheidendere These, dass nämlich mit der Verlagerung auf den Ausstellungswert im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit das Kunstwerk beginne, auf eben diese technische Reproduktionsmöglichkeit hin angelegt zu werden. Die geschichtsphilosophische Pointe, die Benjamin seiner Analyse

400

Kapitel 8

der polaren Spannungen unterlegt, betrifft dann allerdings gar nicht mehr unmittelbar das einzelne Kunstwerk als solches, sondern läuft auf einer Unterscheidung zweier Technikbegriffe hinaus. Erste und zweite Technik: Die im „Dienste der Magie“ stehende kultische Kunstübung zeichne sich, so Benjamin weiter, durch drei Merkmale aus. Sie ist erstens eine „Ausübung magischer Prozeduren (das Schnitzen einer Ahnenfigur ist selbst eine magische Verrichtung)“ (ebd., 359), zweitens eine „Anweisung zu solchen (die Ahnenfigur macht eine rituelle Haltung vor)“ (ebd.) und drittens handelt es sich um „Gegenstände einer magischen Kontemplation (die Betrachtung der Ahnenfigur stärkt die Zauberkraft des Betrachtenden)“ (ebd.). Alle drei Merkmale seien dabei begründet in einem spezifischen Verhältnis von „Mensch und seine[r] Umwelt“ (ebd.). Hieran unterscheidet Benjamin dann zwei verschiedene Technikbegriffe: Die Erste Technik stelle den Menschen ganz in den Mittelpunkt, weil die „Technik nur erst verschmolzen mit dem Ritual existiert.“ (ebd.) Die höchste Ausformung dieser Verschmelzung bestehe im kultischen Menschenopfer. Benjamin führt zu der Polarität zwischen erster und zweiter Technik weiter aus: „Die technische Großtat der ersten Technik ist gewissermaßen das Menschenopfer, die der zweiten liegt auf der Linie der fernlenkbaren Flugzeuge, die keine Bemannung brauchen. Das Ein für allemal gilt für die erste Technik (da geht es um die nie wiedergutzumachende Verfehlung oder den ewigen stellvertretenden Opfertod). Das Einmal ist keinmal gilt für die zweite (sie hat es mit dem Experiment und seiner unermüdlichen Variierung der Versuchsanordnung zu tun). Der Ursprung der zweiten Technik ist da zu suchen, wo der Mensch zum ersten Mal und mit unbewußter List daran ging, Abstand von der Natur zu nehmen. Er liegt mit anderen Worten im Spiel.“ (ebd., 359)

Diese Gegensatzpaare laufen auf die Unterscheidung zwischen erster Technik als „Beherrschung der Natur“ (ebd.) und zweiter Technik als „Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit“ (ebd.) zu. Die Funktion der gegenwärtigen Kunst bestehe dabei in der „Einübung in dieses Zusammenspiel“ (ebd.) der zweiten Technik. Diese Einübung ist notwendig, denn die zweite Technik scheint bei Benjamin politisch in zwei Richtungen ausschlagen zu können: sie könne zur „Knechtung“ durch die Technik führen oder Schauplatz der Befreiung durch die Technik werden. Die Voraussetzung der Befreiung liege dabei darin, die „Verfassung der Menschheit“ an die „neuen Produktivkräfte[…]“ (ebd., 360) anzupassen. Es geht um die Befreiung aus denjenigen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen, die als „gesellschaftliche[…] Elementarkräfte“ (ebd., 360) wie Naturgewalten erscheinen, tatsächlich aber historische Kräfte sind. Diese Argumentation weist auf das „Aufknacken der

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Naturteleologie“ zurück, also auf die Befreiung von einem ideologischen Verblendungszusammenhang, in dem gesellschaftlich produzierte Kräfteverhältnisse als Naturverhältnisse erscheinen. Die Revolution habe das Ziel, diesen Prozess der Anpassung an ein neues Naturverhältnis durch die Technik zu beschleunigen: „Revolutionen sind Innervationen des Kollektivs: genauer Innervationsversuche des neuen, geschichtlich erstmaligen Kollektivs, das in der zweiten Technik seine Organe hat.“ (ebd.) In dieser Revolution melden sich die Ansprüche der zweiten Technik an die Menschheit an: „die zunehmende Befreiung des Menschen aus der Arbeitsfron“ (ebd.) Hierhin könne der „emanzipierte Einzelmensch“ dann seinen Spielraum erweitern. Die Rede vom Spiel weist auf die dritte Polarität. Schein und Spiel: Die Unterscheidung zwischen Schein und Spiel steht im Rahmen von Benjamins Überlegungen zur veränderten Funktion der filmischen Darsteller:innen gegenüber den Bühnenschauspieler:innen. Während die Bühnen-Schauspielkunst auf der Einheit von Ort, Zeit und einfühlender Schauspielhandlung basiere, zergliedere sich die Arbeit der Filmdarstellenden in viele kleine Einzelteile, die erst später im Schnitt zusammengefügt werden. Exemplarisch macht Benjamin die Leistung der Filmdarsteller:innen am Akt des Erschreckens fest: Die Bühnenschauspieler:innen müssen sich in eine Rolle hineinversetzen, um einen authentischen Ausdruck des Erschreckens zu erzeugen, könne am Filmset mit einem ‚Trick‘ gearbeitet werden. Filmdarsteller:innen könnten hingegen in einer Situation, die mit dem Film nichts zu tun hat, erschreckt werden und der dabei erzeugte Gesichtsausdruck ließe sich dann für den Film verwenden. Benjamin resümiert dazu: „Nichts zeigt drastischer, daß die Kunst aus dem Reich des ‚schönen Scheins‘ entwichen ist“ (ebd., 368). Zum Scheincharakter der Kunst legt Benjamin dann eine längere Fußnote in der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes an, die dieses Entweichen des Scheins theoretisch und historisch einholt. Benjamin führt dazu zunächst aus, dass die Funktion des schönen Scheins „in dem Zeitalter der auratischen Wahrnehmung […] begründet“ (ebd.) sei. Neben Hegel führt Benjamin vor allem Goethe an und zitiert dafür eine Passage zum Verhältnis von Hülle und Schein aus seinem Wahlverwandtschaften-Aufsatz.59 Da diese ästhetische Funktion aber im Verfall sei, könne nun, so Benjamin weiter, der Blick zurückgerichtet werden auf den Ursprung des Scheins. Dieser liege in der „Mimesis als dem Urphänomen aller künstlerischen Betätigung.“ (ebd.) Auf diese Mimesis kommt es Benjamin in seiner Fußnote eigentlich an. Zu dieser Mimesis führt er weiter aus: 59

Vgl. zum Verhältnis von Hülle und Schein weiter unten das Kap. 9.4.

402

Kapitel 8 „Der Nachahmende macht, was er macht, nur scheinbar. Und zwar kennt das älteste Nachmachen nur eine einzige Materie, in der es bildet: das ist der Leib des Nachmachenden selber. Tanz und Sprache, Körper- und Lippengestus sind die frühesten Manifestationen der Mimesis.“ (ebd.)

Aus dieser Charakterisierung der Mimesis folgert Benjamin schließlich, dass „in der Mimesis“ eine „Polarität“ „waltet“, die zu bedenken sei: diejenige zwischen Schein und Spiel. Vor dem Hintergrund der These von der Geschichtlichkeit menschlicher Wahrnehmungsweisen betont Benjamin dann, dass diese Polarität nur dann aufschlussreich ist, wenn man sie geschichtlich perspektiviert. In dieser Betonung liegt vor allem die Einsicht, dass die Polarität von Schein und Spiel überhaupt erst mit der Herauslösung der Kunst aus der ‚urgeschichtlichen‘ Einfassung im Ritual hervortreten könne. Daher bestimmt Benjamin die Bedeutung dieser Polarität von Schein und Spiel weiterhin „durch die weltgeschichtliche Auseinandersetzung zwischen der ersten und zweiten Technik“ (ebd.). Der Schein gehöre ganz zu den magischen Praktiken der ersten Technik, in der die Kunst vor allem Kultwert besitze. Das Spiel hingegen eigne der zweiten Technik, weil das Spiel das „unerschöpfliche Reservoir aller experimentierenden Verfahrungsweisen der zweiten Technik sei.“ (ebd.)60 Hier sieht Benjamin den utopischen Gehalt der zweiten Technik: Der Verlust von Schein und Aura gehe einher mit dem „ungeheure[n] Gewinn an Spiel-Raum“ (ebd., 369) Diesen Spielraum sieht Benjamin vor allem im Film ermöglicht. Die drei Polaritäten, um die herum Benjamin seine Argumentation entfaltet, sind nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern treten im Aufsatz in ein komplexes Wechselverhältnis, was sich auch auf den daraus resultierenden Begriff der Utopie auswirkt. Insbesondere das Verhältnis der Polarität von erster und zweiter Technik zur Polarität von Schein und Spiel ergibt eine Doppelung im Begriff der Utopie. Erstens handelt es sich um eine kollektive 60

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich hier aber eine Doppelung des Arguments, die auf den utopischen Gehalt der zweiten Technik verweist. Auf der einen Seite scheint Benjamin ein rein historisches Argument anzuführen: Die in der Mimesis eingelagerte Polarität sei im Ritual noch ungetrennt, deute sich im schönen Schein der idealistischen Ästhetik dann langsam an und komme im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit dann vollends zum Ausdruck. Auf der anderen Seite ergibt sich diese Verlaufsform aber überhaupt erst durch Benjamins Verfahren der Polarisierung und Einführung neuer Begriffe, die gleichermaßen in jedem Stadium latent vorhanden, aber nicht immer entfaltet seien. Erst in der Logik der zweiten Ebene kann die Polarität auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wirksam bleiben und geht nicht auf in eine einlinige Aufhebung des Scheins durch das Spiel. Hier zielt das Argument also weniger auf eine deterministische historische Kausallogik, sondern auf das Befreiungspotential des Spielmoments durch die zweite Technik, das Benjamin in der historischen Veränderung erkennen will.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

403

Utopie: Beschleunigt durch die Revolution entstehe durch die zweite Technik eine „kollektive Physis“61, die in dieser Technik ihre „Organe“ (WB VII.1, 360) hat. Der Begriff der „zweiten Technik“ läuft damit offensichtlich nicht bloß auf ein harmonisches Verhältnis von Menschen und Natur hinaus, sondern zielt auf eine Umgestaltung des wahrnehmungsgeschichtlich begründeten Inmitten-der-Geschichte-Stehens des Leibes. In seinen Paralipomena zur zweiten Fassung notiert Benjamin dazu knapp: „Der durch die Liquidation der ersten Technik befreite Leib.“ (WB VII.2, 666) In der Fußnote der zweiten Fassung, auf die die Aufzeichnung rekurriert, hat Benjamin den Satz leicht verändert: „[…] der durch die Liquidation der ersten Technik emanzipierte Einzelmensch, welcher seinen Anspruch erhebt.“ (WB VII.1, 360) Die Ersetzung von „Leib“ durch „Einzelmensch“ zeigt zweitens, dass der Aufsatz bei der in Aussicht gestellten kollektiven Physis, in der Benjamin die „Bewältigung der gesellschaftlichen Elementarkräfte“ (ebd.) sieht, nicht stehen bleibt. Vielmehr dient diese „Bewältigung“ als „Voraussetzung für das Spiel mit den natürlichen“ (ebd.) Elementarkräften. Diese „vorerst utopisch[e]“ (ebd.) Befreiung betrifft dann nicht mehr das Kollektiv, sondern „die durch die erste [Technik, K.D.] verschütteten Lebensfragen des Individuums – Liebe und Tod […].“ (ebd.) Die Befreiung des Einzelmenschen setzt die Neuorganisation des Kollektivs, der Gesellschaft im Ganzen voraus. Mit der Differenzierung im Utopiebegriff selbst kann Benjamin in der zweiten Fassung des Aufsatzes die beiden Polaritäten von erster und zweiter Technik einerseits und von Schein und Spiel andererseits deutlicher herausarbeiten als es in der ersten Fassung der Fall war. Die Voraussetzung für die Einführung der Begriffe der ersten und zweiten Technik ist dabei jedoch eine folgenschwere, entscheidende Perspektivenverschiebung in der Grundkonzeption des Aufsatzes. Dieser Perspektivwechsel wird sich nachfolgend als eine argumentative Verschiebung erweisen, die nicht nur auf die Überlegungen zur technischen Utopie in Benjamins teilweise gleichzeitig entstehenden Passagen-Aufzeichnungen zu Fourier deuten. In ihnen, so die These, lässt sich auch eine Rückbesinnung auf Überlegungen zum Verhältnis von Technik, Utopie und Humor aus den frühen Scheerbart-Lektüren nachweisen. In der ersten Fassung des Aufsatzes hatte Benjamin noch nicht von erster und zweiter Technik, sondern von erster und zweiter Natur gesprochen. Im sechsten Abschnitt der ersten Fassung heißt es, dass die „emanzipierte Technik“ (WB I.2, 444) zwar aus ihrem rituell-magischen Dienst entlassen ist, dem Menschen aber dadurch nicht automatisch einen neuen Spielraum ermöglicht. Durch „Wirtschaftskrisen und Krieg“ (ebd.) stehe diese Technik 61

Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 85.

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Kapitel 8

der Gesellschaft vielmehr als „eine zweite Natur gegenüber und zwar […] als eine nicht minder elementare wie die der Urgesellschaft gegebene es war.“ (ebd.) Der Mensch habe diese Technik zwar selbst erfunden, könne sie aber „schon längst nicht mehr meister[n]“ (ebd.). Vermittelt über Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) bezieht sich Benjamin hier auf das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis in Karl Marx’ Das Kapital. Marx hatte dort beschrieben, wie aus einem durch menschliche Arbeitskraft erzeugtem Produkt dadurch ein „sehr vertracktes Ding […] voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“62 wird, dass es über ihren bloßen Gebrauchswert hinaus den Charakter einer Ware erhält. In der Warenförmigkeit der Produkte vergegenständliche sich der dort eingelagerte gesellschaftliche Arbeitscharakter und tritt dem Menschen als etwas Fremdes gegenüber. Der Fetischcharakter der Ware entsteht also – ‚analog‘ zur Religion63 – dadurch, dass sich die durch Arbeit erzeugte Ware von eben dieser Arbeit trennt und verselbständigt. Die Ware erhält den Charakter eines natürlichen Dings und verblendet so den gesellschaftlichen Zusammenhang mit den ihr zugrundeliegenden Produktionsverhältnissen. Der gesellschaftlich durch Arbeit produzierte Wert geht über in einen quasi-natürlichen Wert der Ware selbst. Diesen Zusammenhang aus Entfremdung und der Produktion eines Scheins des Natürlichen durch die Verdinglichung stellt Lukács dann in den Mittelpunkt seiner Arbeit über Geschichte und Klassenbewußtsein, indem er ihn auf eine umfassende ideologiekritische Analyse gesellschaftlicher Verblendungszusammenhänge erweitert und auf den Prozess der Rationalisierung in der Moderne bezieht. Die Struktur der scheinhaften Natürlichkeit, die Marx ökonomisch aus dem Warencharakter der Dinge herleitet, bestimmt für Lukács im Allgemeinen das bürgerliche Bewußtsein über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Denn dem bürgerlichen Denken mangele es, so hält Lukács fest, insbesondere in historischer Perspektive an der Vermittlung zwischen der nur scheinbar natürlichen Faktizität des So-Seins der bürgerlichen Gesellschaft und ihres historischen Entstehens. Daraus ergebe sich im bürgerlichen Bewusstsein ein unvermitteltes, „unmittelbare[s] Hinnehmen von Gegenständlichkeitsformen“64, die „als selbstverständliche, als schlechthin hinzunehmende Faktizität akzeptiert“65 werde. Und weiter schlussfolgert Lukács, dass dasjenige, was historisch vermittelt erklärt werden müsste, nämlich die 62 63 64 65

Karl Max: Das Kapitel. Kritik der politischen Ökonomie, Bd.  1. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 23. Berlin 222007, S. 85. Vgl. ebd., S. 86. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]. In: ders.: Werke, Bd. 2: Frühschriften II. Neuwied/Berlin 1968, S. 161-517, hier: S. 339. Ebd., S. 340.

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Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft selbst, einen ahistorischen Charakter erhält: „[…] die unerklärte unerklärbare Faktizität des Daseins und Soseins der bürgerlichen Gesellschaft erhält den Charakter eines ewigen Naturgesetzes oder eines zeitlos geltenden Kulturwerts. Dies ist aber zugleich die Selbstaufhebung der Geschichte.“66 An mehreren Stellen nennt Lukács diesen Schein eines „ewigen Naturgesetztes“ auch „zweite Natur“, so etwa dort, wo er die Schwierigkeit einer philosophischen Erkenntnis der gesellschaftlich produzierten rationalen Funktionssysteme beschreibt. Eine kritische Analyse stehe hier immer wieder vor dem Problem des Scheins einer objektiven Notwendigkeit, die sich diese Systeme geben. Zu diesem zunächst methodischen Problem führt er weiter aus, es sei zugleich der objektive „Widerstreit“67 zwischen einem „Zustande[…], in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß ‚naturwüchsigen‘, die irrationell-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, ‚selbsterzeugten‘ Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte (pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan haben. ‚Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung‘, sagt Marx, ‚besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.‘“68

Mit der Übernahme des Begriffs der zweiten Natur in der ersten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes scheint Benjamin diesen Verdinglichungs- als Naturalisierungsprozess unmittelbar auf die Technik als eine dem Menschen fremd gegenüberstehende Macht zu übertragen, die gerade aus diesem naturalisierten Verhältnis heraus ihre destruktiven Kräfte entfalten kann.69 66 67 68 69

Ebd. Ebd., S. 307. Ebd. An anderen Stellen bezieht Lukács den Begriff der „zweiten Natur“ beispielsweise direkt auf Marxens Analyse des Fetischcharakters der Ware (vgl. ebd., S. 260) oder aber auf den Zusammenhang von Gewalt und Ökonomie (vgl. ebd., S. 417f.). Dass Benjamin den Grund für diese destruktive Kraftentfaltung insbesondere in einer missglückten Rezeption der Technik durch die sozialdemokratischen Theoretiker der Jahrhundertwende sah, wurde bereits dargelegten. Vor dem Hintergrund des Zusammenhangs mit Marx’ Warenanalyse wird dann auch deutlich, warum Benjamin im Aufsatz über Eduard Fuchs kritisiert, dass in dieser Rezeption Technik einzig als Mittel zur „Erzeugung von Waren“ (WB II.2, 475) in den Blick genommen wurde. Damit haben diese Theoretiker, so könnte man Benjamins Hinweis auf die Ware hier zusammenfassen, an der Naturalisierung gesellschaftlich erzeugter Produktionsverhältnisse mitgewirkt. In den Paralipomena zum Kunstwerk-Aufsatz hat sich die Problematik aber verschoben.

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Durchaus in kritischer Distanz zu Lukács stellt Benjamin nachfolgend aber nicht eine an Hegel orientierte dialektische Vermittlung von ‚Basis‘ und ‚Überbau‘ ins Zentrum seiner Überlegungen, was bekanntlich später zu heftigen Debatten mit Adorno über den Unterschied zwischen reiner Polarisierung und dialektischer Vermittlung am Beispiel des Verhältnisses von Ware und dialektischem Bild führen wird.70 Statt einer ideologiekritischen Vermittlung im Sinne Lukács’ wechselt Benjamin den Schauplatz seiner Überlegungen durch eine Begriffsverschiebung. In der zweiten Fassung des KunstwerkAufsatzes spricht Benjamin nicht mehr länger von erster und zweiter Natur, sondern eben von erster und zweiter Technik. Burkhardt Lindner hat zurecht drauf hingewiesen, dass es sich bei dem Wechsel vom Begriff der Natur hin zur Technik „nicht um eine bloße Veränderung der Terminologie [handelt], sondern um eine grundsätzliche Verschiebung der Problematik. Sie ersetzt nicht die alte Unterscheidung von Lukács, sondern trägt in dessen Konzeption eine andere Dialektik ein.“71 Genauer führt Lindner dazu weiter aus: Der Blick auf die „kapitalistische Struktur der Verdinglichung […], wird nunmehr als ein Transformationsprozess im Technischen begriffen.“72 Auch Lindner verweist dafür auf den

70

71 72

Der Blick richtet sich hier nicht auf die Sozialdemokratie, sondern auf die Gefahren einer faschistischen Mobilisierung der Massen durch die Technik. Wo Marx vom „mystische[n] Charakter der Ware“ (Karl Marx, Das Kapital, S.  85) spricht, scheint Benjamin in der Parole ‚Blut und Boden‘“ (WB VII.2, 666) vor allem die Gefahr einer neuen magischen Instrumentalisierung zu sehen, die sowohl die Utopie der ersten als auch der zweiten Natur konterkariert: „‚Blut‘ – das geht wider die Utopie der ersten Natur [als Befreiung des Leibes, K.D.], die seine Medizin allen Mikroben zum Tummelplatz geben will. ‚Boden‘ – das geht wider die Utopie der zweiten Natur, deren Realisierung ein Vorrecht desjenigen Typus von Menschen sein soll, der in die Stratosphäre aufsteigt, um Bomben von dort herabzuwerfen.“ (ebd.). Vgl. hier Adornos Brief vom 5. Juni 1935 in: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin. Briefwechsel 1928-1949, hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. 1994, S. 122-126. Adorno wirft Benjamin in mehreren Briefen vor, die dem dialektischen Bild immanente Polarisierung (etwas zwischen Fetisch und Utopie) nicht dialektisch zu vermitteln (vgl. etwa ebd., S.  139f.), wodurch gerade der Fetischismus als „das eigentliche Korrelat der Verdinglichung“ (ebd., S.  124) in den Hintergrund trete. Diesen Mangel an interpretatorischer Deutlichkeiten bezeichnet Adorno auch als „interpretative[…] Verspannung“ (ebd., 120), was im Umkehrschluss darauf deutet, dass Adorno sehr deutlich die zentrale Stellung polarer Spannungsfiguren in Benjamins Arbeiten wahrgenommen hat. In diesem Zusammenhang ist auch Adornos ausführliche briefliche Reaktion auf den Kunstwerk-Aufsatz zu lesen, in der er Benjamin ebenfalls ein undialektisches Vorgehen – diesmal hinsichtlich der Dialektik aus Magie und Freiheit im autonomen Kunstwerk – vorwirft. (vgl. ebd., S. 168-177). Burkhardt Lindner: Nachwort. Die Schicksalsstunde der Kunst. In: WuN 16, S. 671-692, hier: S. 685. Ebd.

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Gegensatz von Naturbeherrschung auf der einen Seite und der Vorstellung von einer durch die Technik erzeugten kollektiven Physis der Menschheit auf der anderen Seite, in der ein nicht-ausbeuterisches Verhältnis zur Natur erprobt werde. Genauer lässt sich die Verschiebung der Unterscheidung von der Natur zur Technik als eine Verschiebung des Spannungsverhältnisses als solchem beschreiben. Aus einer Spannung zwischen der Natur (des Menschen, die Benjamin am Leib orientiert) und der Technik, die als ein „zweite Natur“ dem Menschen als etwas Verdinglichtes entfremdet gegenübertritt, wird in der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes eine Spannung, die der Technik selbst inhärent ist, so dass diese damit zugleich zum Schauplatz geschichtlicher sowie politischer Auseinandersetzungen und utopischer Fluchtlinien wird. Solange Benjamin noch an der Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur festgehalten hat, standen Mensch und Technik in einem rein äußerlichen Verhältnis, das gerade dadurch verstärkt wurde, dass die Technik als entfremdete „zweite Natur“ dem Menschen gegenübergestellt wurde. Zudem blieb die Verhältnisbestimmung zwischen Mensch, Natur und Technik, die hier noch konsequent als Aufhebung der ideologischen Entfremdung gedacht war, auf die Frage eines ihr angemessenen Bewusstseins beschränkt, wodurch Benjamins bereits zu Beginn der 1920er Jahre einsetzende Orientierung des Politischen am Leib, die im Kunstwerk-Aufsatz wahrnehmungsgeschichtlich erweitert wird, in den Hintergrund zu geraten drohte. Erst das Hineinverlegen der Verhältnisbestimmung in das Technische selbst ermöglichte es Benjamin, die Veränderung des Leibes an das Technische anzuschließen. Das Problem der Entfremdung und Verdinglichung wird damit zu einem Problem des dem Technischen inhärenten Spannungsverhältnisses (erste und zweite Technik). Mit dieser durch die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Technik ermöglichten Perspektive auf eine dem Technischen selbst eingelagerten Spannung führt die zweite Fassung zugleich eine zweite Unterscheidung in die Argumentationsführung des Aufsatzes ein, die in der vorliegenden Untersuchung besondere Aufmerksamkeit verdient, weil sie sukzessive zurückführen wird auf Überlegungen zum Humor, die Benjamin bereits im Zusammenhang mit seiner ersten Scheerbart-Lektüre angestellt hatte. In einer Anmerkung bzw. Variante zur zweiten Fassung, die sich direkt auf die Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Technik bezieht, die Benjamin in der vierten Fußnote der zweiten Fassung dann ausführlich behandelt, spricht er davon, „die Heiterkeit des Kommunismus dem tierischen Ernst des Faschismus entgegenzusetzten.“ (WB I.3, 1035) Auch auf die Bedeutung dieser Notiz hat Burkhardt Lindner erstmals nachdrücklich

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hingewiesen und dabei die politische Dimension des mit der Heiterkeit assoziierten Spielcharakters betont, den Benjamin gegen die Blut-und-BodenIdeologie des Faschismus ins Feld führt.73 Wenngleich Benjamin die „Haltung des Heiter-Gelassenen“74, wie Lindner es nennt, in dieser Notiz noch einmal auf die Unterscheidung von erster und zweiter Natur folgen lässt, scheint die Heiterkeit allerdings den an Lukács orientierten ideologiekritischen Begriff der „zweiten Natur“ auszuhebeln, denn immerhin führt Benjamin die Unterscheidung von „Ernst und Spiel“ (WB VII.1, 359), die in der ersten (an Lukács orientierten) Fassung noch keine Rolle spielt, unmittelbar in Bezug auf die neuen Begriffe der ersten und zweiten Technik ein. Dabei ist dann die Unterscheidung von Spiel und Ernst bzw. von Heiterkeit und Ernst offensichtlich keine Frage mehr des allein ideologisch auszumessenden falschen Bewusstseins, sondern steht ab der zweiten Fassung in direktem Zusammenhang mit der Unterscheidung zweier sich am Leib manifestierenden affektiven Dispositionen. Die Veränderungen in der Konzeption des Kunstwerk-Aufsatzes von der ersten zur zweiten Fassung, die sich mit der Unterscheidung von Heiterkeit und Ernst ankündigen, vollziehen sich schrittweise in mehreren Etappen und betreffen hier vor allem das Kapitel der ersten Fassung in Relation zu den Kapiteln VI. und XI. bzw. deren Fußnoten in der zweiten Fassung. In einem ersten Schritt scheint Benjamin in dem Kapitel der ersten Fassung nur die Begriffe erste und zweite Natur durch erste und zweite Technik ersetzen zu wollen. Damit erhält aber gleichzeitig auch die Unterscheidung von Ernst und Spiel Einzug in den Abschnitt (vgl. WuN 16, 108 und 146), was dafür spricht, dass Benjamin den Begriff der Technik unmittelbar mit der Unterscheidung von Ernst und Spiel zusammendenkt. Nicht nur im Abschnitt , sondern in der gesamten ersten Fassung spielt die Unterscheidung von Ernst und Spiel noch keine Rolle. In einem weiteren Schritt kündigt sich dann an, dass Benjamin die Passage über die erste und zweite Technik einerseits und die Unterscheidung von Ernst und Spiel andererseits in separaten Teilen statt unmittelbar in einem Abschnitt behandeln will (vgl. ebd., 150-152). In der endgültigen Fassung rekurriert Benjamin dann zwar bereits in der dem Abschnitt VI. zugehörigen Fußnote 4 auf den durch die zweite Technik zu erlangenden Spielraum, verlegt 73

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Vgl. hierzu auch Burkhardt Lindner: Die ‚Heiterkeit des Kommunismus‘. Notizen zum Politischen bei Benjamin. In: Text + Kritik 31/32 (2009), S. 70-87. Auch Lindner hält fest, dass für die Notizen zur ‚Heiterkeit‘ vor allem „der Begriff des Spiels und des Spielraums“ (ebd., 70) zentral sind. Burkhardt Lindner, Nachwort. Die Schicksalsstunde der Kunst, S. 687.

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die Polarität von Schein und Spiel sowie ihre ästhetikgeschichtliche Einordung dann aber in den Abschnitt XI. Insgesamt lässt sich an der Beobachtung dieser Veränderungen feststellen, dass ein wesentlicher Aspekt der Ausarbeitung der zweiten Fassung darin besteht, die drei weiter oben angeführten Polaritäten, die in der ersten Fassung vor allem im Abschnitt ineinander verschränkt und noch nicht vollständig ausformuliert sind, voneinander zu trennen, um sie deutlicher hervorheben zu können. Diese veränderte Argumentationsführung ist in der Ausgabe Gesammelte Schriften nur schwer nachzuvollziehen, da sich dort die fraglichen Stellen und Notizen auf vier Teilbände erstrecken. Etwas einfacher lassen sich die Veränderungen in der Neuausgabe Werke und Nachlaß rekonstruieren, da hier alle Texte in einem Band versammelt sind. Beide Seiten, Spiel und Ernst, treten dabei nach Benjamin „in jedem Kunstwerk verschränkt auf“ (WB VII.1, 359), wobei der Anteil der jeweiligen Seite den graduellen Unterschied der Verschränkung abgibt. Die je spezifische Ausgestaltung dieser Verschränkung zeuge dann davon, dass „die Kunst der zweiten wie der ersten Technik verbunden ist.“ (ebd.) Einmal mehr wird hier deutlich, dass es Benjamin ab der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes um die der Technik selbst inhärente Spannung geht. Zu unterscheiden sind die beiden Seiten jedoch in Bezug auf ihr jeweiliges „Ziel“ (ebd.); während die erste Technik auf Naturbeherrschung zielt, kann das Ziel der zweiten Technik nur dann als eine solche Naturbeherrschung erscheinen, wenn sie vom Standpunkt der ersten Technik, also der magisch-instrumentellen Logik und des Menschenopfers, betrachtet wird. Diese rein destruktive Vermischung von erster und zweiter Technik wirft Benjamin vor allem der faschistischen (Kriegs-)Mobilisierung der Massen durch die Technik vor. In dieser politischen Technikdiagnose wiederholt Benjamin zugleich die Mahnung, in der Rezeption der Technik neben der konstruktiven nicht die destruktive Seite zu vergessen. Der destruktiven Seite korrespondiert der Ernst, das Menschenopfer und die erste Technik; der konstruktiven Seite entspricht hingegen der durch die zweite Technik erweiterte heitere Spielraum, in dem sich die Gesellschaft eine neue Organisation gibt, in der auch die durch die Arbeit bedingte Entfremdung des Individuums aufgehoben sein wird. In dem Radiovortrag Reuters ‚Schelmuffsky‘ und Kortums ‚Jobsiade‘ scheint Benjamin 1930 schon einmal eine ähnliche Unterscheidung zu treffen: „Wir wollen es den Psychoanalytikern überlassen herauszukriegen, welche Beziehung es zwischen Humor und Geburt gibt. Ich, meinesteils, bin geneigt, sie für sehr viel stichhaltiger anzusehen als die zwischen Tod und Tragik.“ (WB II.2, 652) Wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen, bestimmt die Unterscheidung zwischen Humor/Geburt und Tragik/ Tod nicht nur die Unterscheidung zwischen ‚kommunistischer Heiterkeit‘

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(Entstehung eines neuen Kollektivs) und ‚faschistischem Ernst‘ (Menschopfer) in der Rezeption und Funktionalisierung der Technik, sondern scheint zugleich auf das bereits dargelegte Verhältnis von Humor und Geburt in Paul Scheerbarts Lesabéndio zurückzuweisen. Der Verweis auf den Radiovortrag deutet insgesamt eher auf eine grundsätzliche Kontinuität in der Reflexion über das Verhältnis von Leib und Humor in Benjamins Arbeiten. Ein evidenterer Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Benjamins Umorganisation des Kunstwerk-Aufsatzes und den frühen Arbeiten über Scheerbart ergibt sich indes über die Referenz auf Charles Fourier, die in der vierten Fußnote der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes erstmals auftaucht. Erst mit der Ersetzung der Unterscheidung von erster und zweiter Natur durch die Begriffe der ersten und zweiten Technik scheint Benjamin auf Fouriers Werk als ein „Dokument“ (WB VII.1, 360) rekurrieren zu können, in dem bereits die „Forderung“ (ebd.) nach der Befreiung des einzelnen Menschen aus den Gewalt- und Herrschaftszusammenhängen der ersten Technik zum Ausdruck kommt. Die Voraussetzung dieser Befreiung ist, so Benjamin, die Organisation einer kollektiven Physis durch die Revolution. In der ersten Fassung taucht Fourier jedenfalls noch nicht auf. Was bedeutet es aber, dass Benjamin nun in der zweiten Fassung des Aufsatzes die auf die Einführung des Begriffes der zweiten Technik folgenden Ausführungen über die „Revolutionen“ als „Innervationen des Kollektivs“ (ebd.) und über die Emanzipation des Einzelmenschen aus der ersten Technik, die auf Naturbeherrschung zielt und deren Überwindung Benjamin später das „Aufknacken der Naturteleologie“ (WB V.2, 777) nennt, mit einem Verweis auf Fourier abschließt? Von beiden Aspekten haben wir bereits weiter oben gesehen, dass Benjamin sie noch in den Passagen-Aufzeichnungen zu Fourier als „Vorstellungen meiner ‚Politik‘“ (ebd.) auf die frühen Überlegungen zum Politischen zurückführt, weil diese Doppelung aus „Revolution“ und „Aufknacken“ offenbar bereits seine ersten Auseinandersetzungen mit Paul Scheerbarts Lesabéndio begleitet hat. Besteht folglich also auch zwischen dem Versuch, in der Umorganisation des Kunstwerk-Aufsatzes eine eigene, nicht mehr strikt an Lukács’ Entfremdungsthese orientierte materialistische Position zu entwickeln und den eher metaphysischen Überlegungen zum Verhältnis von Technik und Utopie in der frühen Scheerbart-Analyse ein argumentativer Zusammenhang? Der Zusammenhang müsste über die Verhältnisbestimmung zwischen der Heiterkeit im Kunstwerk-Aufsatz und dem Humor in den frühen Scheerbart-Texten sowie dem späteren Fourier-Konvolut hergestellt werden. Daher ist hier erneut auf das Verhältnis zwischen Scheerbart und Fourier zurückzukommen.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

8.5

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‚Heitere Entmenschung‘ und kollektiver Leib

Hier ist zunächst festzustellen, dass Fourier im Rahmen der Ausarbeitung der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes eine durchaus ambivalente Stellung einnimmt: Auf der einen Seite habe Fourier zwar die „Umrisse“ (WB VII.2, 666) einer Lösung der Probleme der ersten Technik bzw. der „ersten Natur“75 zu erkennen gegeben, andererseits habe er aber die neuen technischen Voraussetzungen nicht vollständig bedacht und fasste daher (genauso wie Sade) eine „unmittelbare Verwirklichung des menschlichen Freudenlebens ins Auge.“ (ebd.) Diese Ambivalenz korrespondiert sehr genau mit jener Doppelrolle, die Fourier in Benjamins Passagen-Exposé einnimmt und von der bereits eingangs dargelegt wurde, dass sie gleichzeitig symptomatisch für das 19. Jahrhundert und prognostisch in Bezug auf den utopischen Gehalt der Technik ist. Auch Scheerbart nimmt eine solche Doppelrolle in Benjamins Werk ein, die ähnlich wie bei Fourier sowohl eine symptomatologische als auch eine prognostisch-utopische Seite hat. Das wird besonders in Erfahrung und Armut deutlich. Neben den Kubisten, Paul Klee, Adolf Loos und Bertolt Brecht führt der Text auch Scheerbart an, der ein produktives Verhältnis zu dem von Benjamin dort diagnostizierten Verlust an tradierbarer Erfahrung und der Krise des Erzählens entwickelt hat. Benjamin geht davon aus, dass mit der „ungeheuren Entfaltung der Technik“ (ebd., 214), die durch die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges beschleunigt wurde, eine „ganz neue Armseligkeit […] über die Menschen gekommen“ (ebd.) ist. Den Stand der technischen Entwicklung in ihrer Bedeutung für Kultur und Bildung habe vor allem Scheerbart in seinen literarischen Texten wahrgenommen und produktiv verarbeitet. Dabei seien seine Texte zur Glasarchitektur symptomatisch für eine ‚illusionslose‘ (vgl. WB II.1, 216) Einsicht in die Zeitverhältnisse. Indem Scheerbart sich zu dem „neue[n] Barbarentum“ (ebd., 215) „rückhaltslos[…]“ (ebd., 216) bekenne, könne er daraus die Möglichkeit einer der Zeit angemessene ästhetische Position „zum willkürlichen Konstruktiven“ (ebd.) beziehen, der zugleich ein utopisches Moment eigne. Denn der Verzicht auf die tradierten Bildungsgüter geschehe insbesondere bei Scheerbart „lachend“ (ebd., 219), wodurch seine literarischen Texte überhaupt erst auf eine „Veränderung der Wirklichkeit, nicht ihrer Beschreibung“ (ebd., 217) zielen. Der offensichtlich in diesem Lachen eingelagerte utopische Gehalt scheint gerade Benjamins Interesse an 75

Wie bereits weiter oben dargelegt, rekurriert Benjamin in dieser Übergangsnotiz ein letztes Mal auf die Begriffe der ersten und zweiten Natur. In der endgültigen Fußnote 4 der zweiten Fassung sind die Begriffe dann durch die Technik ersetzt.

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Kapitel 8

Scheerbarts Asteroiden-Roman Lesabéndio zu begründen, schließlich fasst er am Ende seines ersten Scheerbart-Textes zusammen, dass das „entscheidende Wort über dies Buch gesprochen werden [könne], weil es voll Humor sei“ (WB II.2, 619). Dass gerade durch den Humor das „entscheidende Wort“ über die ästhetische Realisierung der utopischen Gehalte des Romans gesprochen werden könne, erklärt zudem, warum Benjamin Scheerbart in seinem späteren Text als „un frère jumeau de Fourier“ (ebd., 632) bezeichnet. Auch in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts begründet Benjamin die Verwandtschaft zwischen Scheerbart und Fourier über den Humor. (vgl. WB V.1, 47) Da der entscheidende Grund für Benjamins Vergleich zwischen Scheerbart und Fourier im Humor liegt, ist für die Frage des Verhältnisses zwischen der frühen ‚Politik-Schrift‘, dem Kunstwerk-Aufsatz und den PassagenAufzeichnungen aber noch eine andere Notiz aufschlussreich, die sich im Konvolut zu Fourier findet. Benjamin kommt dort noch einmal auf das Verhältnis von „Revolution“ und „Aufknacken“ zurück und führt weiter aus: „Zur Erklärung der Fourierschen Extravaganz ist die Micky Maus heranzuziehen, in der sich, ganz im Sinne seiner Vorstellungen, die moralische Mobilmachung der Natur vollzogen hat. In ihr macht der Humor die Probe auf die Politik. Sie bestätigt, wie recht Marx hatte, in Fourier vor allem einen großen Humoristen zu sehen. Das Aufknacken der Naturteleologie geschieht nach dem Plan des Humors.“ (WB V.2, 781)

Der Vergleich zwischen Fourier und der Micky Maus verweist direkt auf den XVI. Abschnitt des Kunstwerk-Aufsatzes und stellt damit ganz offensichtlich in ein und derselben Notiz gleichzeitig einen Bezug zum KunstwerkAufsatz und zu dem bereits für die frühe ‚Politik-Schrift‘ geltend gemachten „Aufknacken der Naturteleologie“ her. Was hat es aber mit der Micky Maus als Beispiel für eine „moralische Mobilmachung der Natur“ auf sich? Und warum macht der Humor dabei „die Probe auf die Politik“? An der Micky Maus lassen sich mindestens zwei Rezeptionslinien in Benjamins Reflexion über die Phänomene des Humors, des Lachens und der Heiterkeit unterscheiden, die im Zusammenhang mit diesen Fragen stehen. Die eine Linie führt zu Sigmund Freud, die andere zu Paul Scheerbart. Für die erste Rezeptionslinie ist das zitierte Fourier-Notat auf den XVI. Abschnitt des Kunstwerk-Aufsatzes zu beziehen. Dort setzt Benjamin mit einer Reflexion über die filmische Großaufnahme ein, die in der Vergrößerung nicht bloß bereits Bekanntes verdeutlicht, sondern „völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein“ (WB VII.1, 376) bringt. In der Großaufnahme gebe sich damit „eine andere Natur“ (ebd.) zu erkennen. Durch das „Stürzen und Steigen, […] Unterbrechen und Isolieren, […] Dehnen und Raffen des

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Ablaufs, […] Vergrößern und […] Verkleinern“ (ebd.) der Kamera, so Benjamin weiter, erfahren wir – analog zu dem von der Psychoanalyse entdeckten „Triebhaft-Unbewußten“ (ebd.) – etwas über das „Optisch-Unbewußte[…]“ (ebd.), das überall den Raum durchwirkt, ohne dass wir es mit dem bloßen Auge erkennen könnten. Die Analogie zur Freud’schen Psychoanalyse endet nicht in der Übersetzung eines individualpsychologischen Phänomens in ein kollektives. Indem Benjamin die Parallelisierung noch weitertreibt, habe er es damit aber keineswegs, so betont Burkhardt Lindner, auf die bereits zu seiner Zeit gängige „Analogie zwischen der Filmrezeption im dunklen Kino mit dem nächtlichen Träumen“76 abgesehen. Vielmehr geht Benjamin davon aus, dass sich das Publikum durch die Kamera „die individuellen Wahrnehmungsweisen des Psychotikers oder des Träumenden zu eigen zu machen vermag.“ (ebd., 377) Die politische Chance dieser kollektiven Wahrnehmungsweise bestehe in einer kollektiven Konfrontation mit dem durch die Kamera allererst sichtbar gemachten Optisch-Unbewußten. Benjamin führt dazu aus: „Wenn man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den großen Massen erzeugt hat – Spannungen, die in kritischen Stadien einen psychotischen Charakter annehmen – so wird man zu der Erkenntnis kommen, daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte Entwicklung sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen deren natürliches und gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann. Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar. Die gewaltigen Mengen grotesken Geschehens, die im Film konsumiert werden, sind ein drastisches Anzeichen der Gefahren, die der Menschheit aus den Verdrängungen drohen, die die Zivilisation mit sich bringt. Die amerikanischen Groteskfilme und die Filme Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten.“ (ebd., Herv. i. O.)

Das Gelächter als Therapeutikum scheint zumindest kurzfristig eine Immunität gegen die destruktiven Kräfte von Massenbewegungen zu erzeugen und erhält somit eine dezidiert politische Ausrichtung.77 Allerdings hat Sigrid Weigel bereits darauf hingewiesen, dass Benjamins Freud-Übertragung diffe­ renziert betrachtet werden muss, da Benjamins Ausführung zum OptischUnbewussten keineswegs „auf eine schlichte Analogiebildung zwischen 76 77

Burkhardt Lindner, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 246. Dass diese ‚immunologische Hoffnung‘ bereits mit der Abfassung der These historisch überholt zu werden droht, macht Benjamin dann in der dazugehörigen Fußnote am Micky-Maus-Farbfilm deutlich. (vgl. WB VII.1, 377).

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technischem und psychischem Apparat hinausläuft, wie sie aus zahlreichen Konzepten der Psychophysiologie aus dem sogenannten nervösen Zeitalter und auch aus der Kybernetik bekannt ist.“78 Ganz im Gegenteil, so Weigel weiter, argumentiere Benjamin „jenseits von Freuds bekanntem Bonmot, der Mensch sei ein ‚Prothesengott‘, das in der Vorstellung gründet, die Werkzeuge seien Organprojektionen, mit denen der Mensch seine Organe vervollkommnet.“79 Benjamins Übersetzung des „Triebhaft-Unbewußten“ in ein „Optisch-Unbewußte[s]“ scheint an dieser Stelle also beschränkt zu bleiben auf die psychische Disposition der Masse und verlängert sich nicht zugleich auch auf Freuds Begriff der Technik als prothetisches Supplement. Damit führt von Freud aber auch kein direkter Weg zu Benjamins Fourier-Notat über den Zusammenhang von Technik und Humor, den Benjamin dort gleichermaßen auf den Kunstwerk-Aufsatz und die frühen Scheerbart-Lektüren bezieht.80 Ohnehin scheint der Verweis auf Freud für den hier fokussierten Zusammenhang aus frühen politischen Überlegungen, Kunstwerk-Aufsatz und ‚PassagenWerk‘ nicht weit zu tragen, ist doch die Theorie vom Optisch-Unbewussten bereits in der ersten Fassung des Aufsatzes vorhanden (vgl. WB I.2, 460-462) und spielt für die Einführung der für uns zentralen Unterscheidung von Ernst und Heiterkeit also nur eine untergeordnete Rolle. Oder anders formuliert: Die Theorie vom therapeutischen Gelächter ist nicht ausschlaggebend für die Ersetzung der Differenz von erster und zweiter Natur durch die Begriffe der ersten und zweiten Technik. Im Gegensatz zur Vorstellung der Technik als Prothese geht es Benjamin, wie bereits gesehen, um eine wirkliche Neuorganisation des kollektiven Leibs durch die Technik. Dass die Micky Maus dafür exemplarisch ist, deutet sich in einer zweiten Rezeptionslinie der oben zitierten Passagen-Notiz an, die diesmal nicht zu Freuds Psychoanalyse führt, sondern auf die bereits früher einsetzenden und unmittelbar mit Benjamins wahrnehmungsgeschichtlich fundierten und am Leib orientierten Überlegungen zur Erfahrungsarmut verweist. Das lässt sich besonders deutlich an einer Notiz über die Micky Maus von 1931 zeigen, die Benjamin anlässlich eines Gespräches mit Gustav Glück verfasste. Dort heißt es knapp, dass sich in den Micky-Maus-Filmen 78 79 80

Sigrid Weigel: Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt a. M. 2008, S. 311. Ebd. Ob indes in Benjamins Ausführungen zur therapeutischen Wirkung des Gelächters eine spezifische Umformung der affektökonomischen Überlegungen Freuds zum Witz, zur Komik und Humor aus Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) oder weiteren Studien zum Humor eingelagert ist, wäre der Gegenstand einer anderen Untersuchung.

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„die Menschheit darauf vor[bereitet], die Zivilisation zu überleben.“ (WB VI, 144) Darin ist einerseits bereits die Vorstellung von der Micky Maus als einer „Figur[…] des Kollektivtraums“ (WB VII.1, 377) eingelagert wie sie im Kunstwerk-Aufsatz erscheint, andererseits deutet die Notiz aber auch auf die dem Technikbegriff inhärente Spannung aus Destruktion und Konstruktion hin wie sie Benjamin im Text über Erfahrung und Armut dem „neue[n] Barbarentum“ (WB II.1, 215) attestiert. In diesem Text ist Benjamin bereits auf die Micky Maus eingegangen und hat festgehalten, dass für die gegenwärtigen Menschen, „die an den endlosen Komplikationen des Alltags müde geworden sind und denen der Zweck des Lebens nur als fernster Fluchtpunkt in einer unendlichen Perspektive von Mitteln auftaucht“ (ebd., 218), in der Micky Maus „erlösend ein Dasein [erscheint], das in jeder Wendung auf die einfachste und zugleich komfortabelste Art sich selbst genügt“ (ebd.). In der Abkehr von einer rein zweckrationalen „Perspektive“, die Benjamin auch, wie bereits gesehen, der positivistischen Technikrezeption vorwirft, treffen sich offensichtlich die Micky Maus und Benjamins Überlegungen zu einer „befreite[n] Technik“ (WB I.3, 1047), schließlich erkenne „das Publikum sein eigenes Leben“ (WB VI, 145) in der Micky Maus gerade dadurch wieder, dass in ihr eine Umwandlung stattfindet, in der „Natur und Technik, Primitivität und Komfort […] vollkommen eins geworden“ (ebd.) sind. Die Micky Maus ist gewissermaßen die Blaupause für einen der Gegenwart angemessenen Begriff vom Menschen, in dem der alte „Grundsatz des Humanismus“ (WB II.1, 216) von der „Menschenähnlichkeit“ (ebd.) keine Geltung mehr hat, da er auf einer Tradition beruht, an der sich vor allem durch die epochale Wirkung der destruktiven Kräfte der Technik, wie sie erstmals im Ersten Weltkrieg zu Tage traten, keine „Erfahrung zu machen [lohnt]“ (WB VI, 144).81 Dieser abgebrochenen Tradition des Humanismus, die Benjamin in seinem Essay über Karl Kraus mit den „Götzenbildern des idealen, des romantischen Naturwesens ebenso wie des staatsfrommen Musterbürgers“ (WB II.1, 364) assoziiert, stellt er ebendort den „Unmensch als […] Bote realeren Humanismus“ (ebd., 366) entgegen. Diese Perspektive auf einen neuen Humanismus führt Benjamin im Kraus-Aufsatz weiter aus, indem er erneut Bezug auf die schon in Erfahrung und Armut zentralen Figuren Loos, Scheerbart und Klee Bezug nimmt:

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In der Notiz zur Micky Maus heißt es im Zusammenhang dazu: „Diese Filme desavouieren, radikaler als je der Fall war, alle Erfahrungen. Es lohnt sich in einer solchen Welt nicht, Erfahrungen zu machen.“ (WB VI, 144).

416

Kapitel 8 „Der Durchschnittseuropäer hat sein Leben mit der Technik nicht zu vereinen vermocht, weil er am Fetisch schöpferischen Daseins festhielt. Man muß schon Loos im Kampfe mit dem Drachen ‚Ornament‘ verfolgt, muß das stellare Esperanto Scheerbartscher Geschöpfe vernommen oder Klees ‚Neuen Engel‘, welcher die Menschen lieber befreit, indem er ihnen nähme, als beglückte, indem er ihnen gäbe, gesichtet haben, um eine Humanität zu fassen, die sich an der Zerstörung bewährt.“ (ebd., 367)

Dass Benjamin den Begriff des Unmenschen hier unmittelbar von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz herleitet, wird später noch zu untersuchen sein.82 Festzustellen ist hier zunächst, dass Benjamin mit den Referenzen auf den Kampf gegen das selbstreferentielle Ornament, auf eine neue integrale Sprache und auf die malerische Reduktion des Menschen nicht nur die bürgerliche Technikrezeption kritisiert, sondern immer wieder das mit seinen frühen Überlegungen zur phantasievollen Entstaltung zusammenhängende Motiv des „Entmenschte[n]“ (WB IV.1, 515) aufgreift. Deutlich wird das ebenfalls in seiner Notiz zu Micky Maus, in der es heißt: „Die Micky-Maus stellt dar, daß die Kreatur noch bestehen bleibt, auch wenn sie alles Menschenähnliche von sich abgelegt hat.“ (WB VI, 144) Dieses Motiv des ‚Ablegens des Menschenähnlichen‘, das neuerdings hinsichtlich einer dort möglicherweise angelegten Theorie des Posthumanen in den Fokus gerückt ist,83 hebt Benjamin auch an den „nicht-menschliche[n] Körper[n]“ (WB II.2, 619) der Pallasianer aus Scheerbarts Lesabéndio hervor.84 Auch der Begriff der zweiten Technik, mit dem die Heiterkeit und das Spiel assoziiert ist, scheint noch auf dieses frühe Motiv der ‚Entmenschung‘ bezogen zu sein, denn Benjamin betont, dass in ihm nicht einfach die Illusion eine Harmonie zwischen Mensch und seiner Natur refiguriert werde, sondern die Technik vielmehr dazwischen tritt, um einen „Verbesserungsvorschlag“ (WB I.3, 1047) an diese Natur zu richten. Das Kunstwerk, und hier insbesondere der Film, mache die Probe auf diese Verbesserung, indem sie in die neuen Apperzeptionsmöglichkeiten einübt. 82

83 84

Vgl. Kap 9.3 und 9.4. Benjamin schreibt in seinen Aufzeichnungen zum Kraus-Essay: „Der Unmensch – zuerst von S.  Friedländer in den schöpferischen Indifferenzpunkt all der tausend Spielarten vom Vollmenschen bis zu Übermenschen gestellt worden.“ (WB II.3, 1102). Vgl. hier stellvertretend Daniel Mourenza: On Some Posthuman Motifs in Walter Benjamin: Mickey Mouse, Barbarism and Technological Innervation. In: Cinema. Journal of Philosophy and the Moving Image 7 (2015), S. 28-47. Das Motiv der Entmenschung steht auch im Zusammenhang mit Benjamins Überlegun­ gen zum Verhältnis von Kind und Phantasie, wobei Benjamin auch kurz Friedlaenders Schöpferische Indifferenz zitiert. (vgl. WB IV.1, 515; vgl. zu dieser Stelle auch Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 110-112).

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

417

Beide Seiten, das Ablegen des Menschenähnlichen und die Organisation eines neuen Leibes, gehören zu diesem Prozess und bilden die beiden Pole einer Spannungsbeziehung, die in der Technik zur Entfaltung kommt. Der gestaltend-konstruktive Gegenpol zum entstaltenden, leibmetamorphotischen Prozess der ‚Entmenschung‘ bindet sich dabei von den frühen ScheerbartLektüren bis in die Passagen-Aufzeichnungen an die Idee sukzessiver Anpassungen an die Technik, von der Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz schreibt, sie seien „Innervationsversuche des neuen, geschichtlich erstmaligen Kollektivs, das in der zweiten Technik seine Organe hat.“ (WB VII.1, 360) Zur menschlichen Natur steht die Technik damit aber auch nicht in einem äußerlichen Verhältnis als zweckrationales Mittel, sondern wird zum genuinen Schauplatz dieser Verwandlung hin zu einer „kollektive[n] Physis“85. Beide Seiten, die Entstaltung sowie die Gestaltung bildeten bereits die konstitutive Polarität in Benjamins frühen Überlegungen zur kindlichen Wahrnehmung von Verwandlungen und zur Phantasie, die er auf eine politische Lektüre von Paul Scheerbarts Lesabéndio und die Leibmetamorphose der Pallas-Bewohner hin umlegt. Das Motiv der ‚Entmenschung‘ durchzieht Benjamins politischen Überlegungen zum Verhältnis von Technik, Natur und Utopie von der frühen Scheerbart-Lektüre bis in das Passagen-Konvolut zu Fourier. Im Abschlussstück Zum Planetarium aus der Einbahnstraße heißt es passend dazu, dass in der Technik die Natur nicht beherrscht, sondern umgewandelt wird: „Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrzehntausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.“ (WB IV, 147) Diese neue Spezies „organisier[e]“ sich „in der Technik“ eine neue „Physis“ (ebd.). Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist jedoch nicht allein die ‚posthumane‘ Perspektive von Interesse, sondern zugleich die Tatsache, dass Benjamin immer wieder auf den Humor, das Lachen, die Heiterkeit dieser ‚entmenschenden‘ Leibmetamorphose verweist. Dass in dieser technischen ‚Neuorganisation der Physis‘ beide Aspekte, die ‚Entmenschung‘ und der Humor, unmittelbar zusammenhängen, macht Benjamin insbesondere an Scheerbart deutlich, habe doch niemand sonst den „nackten Zeitgenossen […] froher und lachender begrüßt als Paul Scheerbart.“ (WB II.1, 216) An den Pallas-Bewohnern, aber auch an der Micky Maus, bei Fourier und im Begriff der zweiten Technik scheint sich bei Benjamin anzukündigen, dass die Menschheit den Menschen in der Technik lachend überlebt. In diesem Lachen bereitet sich die Menschheit auf die Überwindung des alten Humanismus vor. 85

Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 85.

418

Kapitel 8

Ästhetisch hat dieses Lachen also hier keine therapeutische, sondern eine metamorphotische Wirkung. Dabei deutet sich an dieser Passage aus Erfahrung und Armut an, dass der Humor zwei Seiten hat; eine konstruktive und eine destruktive. Auf der einen Seite bezieht Benjamin den Humor auf Scheerbarts konstruktive Technikvision, in der „aus den ehemaligen Menschen […] gänzlich neue sehensund liebenwerte Geschöpfe“ (ebd.) entstehen. Gegenüber der Tradition phantastischer Romane scheint sich für Benjamin an dieser nicht mehr an der „Menschenähnlichkeit“ (ebd.) orientierten Technikvision das wirklich Neue in Scheerbarts Werk anzukündigen. Denn im Gegensatz zu Jules Verne, so Benjamin weiter, in dessen „tollsten Vehikeln doch immer nur kleine französische oder englische Rentner im Weltraum herumsausen“ (ebd.), habe Scheerbart insbesondere an dem im Lesabéndio dargestellten Geburtsakt und an der „‚entmenschte[n]‘“ (ebd.) Namensgebung die Konsequenzen auch für das Bild des Menschen in der Gegenwart gezogen. Der Verweis auf Jules Vernes kleinbürgerliches Figurenkabinett zeigt, dass Benjamin Scheerbarts Humor zugleich eine kritische Seite beimisst: Der von ihm attestierte Humor der Geburt und der Namensgebung zeitigt zugleich eine spezifische Kritik an der bürgerlichen Technikrezeption, die Benjamin hier als eine „[o]rganische“ (ebd.) dem konstruktiven Humor Scheerbarts gegenüberstellt.86 Eine ähnliche kritische Dimension von Humor, Komik und Lachen, die sich vor allem am Leib manifestiert, ist häufiger in Benjamins Schriften zu entdecken. So attestiert Benjamin beispielsweise Proust eine solche kritische Dimension der Komik, dessen Werk eine „subversive Seite“ (ebd., 316) gerade dadurch eigne, 86

Auf das „Organische“ kommt Benjamin in seinen Notizen zum Kunstwerk-Aufsatz zurück und betont dort, dass der „leibliche[…] Organismus“ (WB VII.2, 666) des einzelnen Menschen ebenso seine Forderungen an die Technik stellt wie das Kollektiv insgesamt, das sich ihrer „bemächtigt“ (ebd.). Die Anmerkung steht in Zusammenhang mit Benjamins Versuch, eine Differenz am Utopiebegriff selbst herauszuarbeiten, die dann, wie gesehen, zusammen mit der Unterscheidung von erster und zweiter Technik eine grundsätzliche Perspektivverschiebung in der zweiten Fassung nach sich zieht. Die Kritik an einer ‚organischen Technikrezeption‘ wie sie Benjamin bereits in Erfahrung und Armut formuliert, zielt auf eine Perspektive, die die Technik zu einem bloßen Mittel, einem Werkzeug macht oder als prothetische Erweiterung rezipiert, ohne diejenigen Konsequenzen hinsichtlich der Veränderung des Menschen selbst zu ziehen, die Scheerbart in der Entstaltung des ‚Menschenähnlichen‘ gezogen habe. Dass Benjamin die Kritik an einer ‚organischen Technikrezeption‘ bereits in Erfahrung und Armut mit Scheerbart formuliert, zeigt, dass über die Idee einer radikalen Transformation resp. Metamorphose des (kollektiven wie individuellen) Leibes die frühen Scheerbart-Lektüren und Benjamins Reformulierung der Argumentation des Kunstwerk-Aufsatzes in seiner zweiten Fassung deutlich aufeinander beziehbar sind.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

419

dass er der „saturierten Gesellschaft“ (ebd., 315) nicht nur den Spiegel vorhält, sondern sie mehr noch „im Gelächter nieder[schleudert]“ (ebd., 316). Auch diese Komik richtet sich insbesondere auf die bürgerliche Gesellschaft, gebe es doch in deren „Vorurteile[n] und Maximen keine, die seine gefährliche Komik nicht annihiliert.“ (end., 315). Denkt man hier an die Darstellung der gealterten, teilweise deformiert wirkenden Figuren auf der Matinee bei der Fürstin Guermantes im letzten Band der Recherche, die unmittelbar auf das berühmte Stolpern über den Pflasterstein und die Selbstverpflichtung zu dem großen Romanprojekt folgt, liegt es nahe, dass Benjamin mit seinen Anmerkungen zur kritischen Funktion der Komik vor allem an eine Annihilation gedacht hat, die sich nicht nur auf moralische Maximen oder Bewusstseinsinhalten bezieht, sondern immer auch direkt am Leib ausrichtet. Da Benjamin vor diesem Hintergrund in seinem oben zitierten Fourier-Notat betont, dass gerade der Humor die „Probe auf die Politik“ macht, scheint in der Spannung aus ‚Ablegen des Menschenähnlichen‘ und der Neuorganisation eines individuellen wie kollektiven Leibs zugleich eine andere Kritikform an der bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Bewusstsein und ihrer Technikrezeption zum Tragen zu kommen als diejenige der ausschließlich an Hegel orientieren dialektischen Vermittlung von erster und zweiter Natur, die Benjamin in Anlehnung an Lukács noch in das Zentrum der ersten Fassung stellte. Es lässt sich daher auch vermuten, dass Benjamin in der Betonung der „Heiterkeit des Kommunismus“ (WB I.3, 1035), von der wir gesehen haben, dass sie als Unterscheidung von Ernst und Spiel in der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes unmittelbar mit der Einführung der Begriffe von der ersten und zweiten Technik zusammenhängt, eine ähnliche Perspektive wie in seinen frühen Überlegungen zum Scheerbart’schen Humor einnimmt, indem sich in der Heiterkeit die konstruktive Seite der technisch begründeten Leibmetamorphose mit der destruktiven Seite einer Kritik an einer mit dem Ernst assoziierten Funktionalisierung des Leibes verbindet. Allerdings steht nun nicht mehr die bürgerliche Technikrezeption, sondern die faschistische Mobilisierung der Technik für den Krieg im Mittelpunkt, da sich darin die alte Verbindung von erster Natur und Menschenopfer reproduziere. Einen weiteren Hinweis darauf, dass Benjamin seine Anstrengung um eine eigene materialistische Position in den 1930er Jahren an der Unterscheidung zwischen einer an Hegels Dialektik orientierten Kritik und einer auf die frühen Überlegungen zum Politischen zurückweisenden Kritik durch den Humor ausrichtet, gibt eine Stelle aus der französischen Fassung des Passagen-Exposés. Benjamin kommt dort auf eine Textstelle bei Marx zu sprechen, an der dieser gegenüber Karl Grün Fouriers „‚conception colossale de l’homme‘“ (WB V.1, 64) betont hat. Benjamin schreibt in diesem Zusammenhang:

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Kapitel 8 „Marx a pris position en face de Carl Grün pour couvrir Fourier et mettre en valeur sa ‚conception colossale de l’homme‘. Il considèrait Fourier comme le seul homme à côté de Hegel qui ait percé à jour la médiocrité de principe du petit bourgeois. Au dépassement systématique de ce type chez Hegel correspond chez Fourier son anéantissement humoristique.“ (ebd.)

Dieser Passage entspricht einer Notiz aus dem Fourier-Konvolut, in der Benjamin Georgi Plechanow zitiert: „‚Unter allen Zeitgenossen Hegel’s war Ch. Fourier der Einzige, der die bürgerlichen Verhältnisse ebenso klar durchschaute wie jener.‘“ (WB V.2, 768) Wenngleich Benjamin davon spricht, dass Fouriers Position derjenigen Hegels ‚korrespondiert‘, scheinen die ‚dialektische Überwindung‘ und die ‚humoristische Vernichtung‘ doch zwei deutlich voneinander unterschiedene Kritikformen darzustellen. Dieser Unterschied wird in dem Moment besonders deutlich, wo man ein Blick auf den Zusammenhang der Rede von der „kolossale[n] Anschauung des Menschen“ (ebd., 771) bei Marx wirft. Diese Charakterisierung geht zurück auf Marx’ Besprechung von Karl Grüns erstmals 1845 erschienenen Arbeit Die sociale Bewegung in Frankreich und Belgien. Im Fourier-Konvolut zitiert Benjamin eine längere Passage aus Marx’ 1847 im Westphälischen Dampfboot erschienenen kritischen Rezension. In dieser Passage, die sich bereits im zweiten Band von Die deutsche Ideologie formuliert findet, kritisiert Marx die kleinbürgerliche Perspektive, mit der Grün Fouriers Überlegungen zur Befreiung der Liebe und zu seiner sozialen Kombinationslehre der menschlichen Passionen betrachtet. Wo Grün nur „moralische Philisterglossen“ (WB V.2, 771) verfassen konnte, habe Fourier die „kolossale Anschauung der Menschen […] der bescheidenen Mittelmäßigkeit der Restaurationsmenschen […] mit naivem Humor gegenübergestellt.“ (ebd.)87 Marx kritisiert an Grün insbesondere, dass dieser seine kleinbürgerliche Perspektive zusammengeschlossen hat mit den „ideologischen Phrasen der deutschen Philosophie“88, die gegen die „wirklichen Darstellungen“ der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die „französische[n] Sozialisten“89 in Anschlag gebracht werden. Neben den Junghegelianern zielt Marx’ Kritik hier einmal mehr auf Hegel selbst, den er bekanntlich ‚vom Kopf auf die Füße stellen‘ wollte.90 Das korrespondiert mit der Tatsache, dass er an Grüns Arbeit 87 88 89 90

Vgl. hierzu auch Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: dies: Werke (MEW), Bd. 3. Berlin 1958, S. 502. Ebd. Ebd. „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ (Karl Marx, Das Kapital, S. 27).

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

421

insbesondere den Vorwurf richtet, Fouriers konkreten Überlegungen zu den ökonomischen Bedingungen gesellschaftlicher Veränderungen ignoriert bzw. durch kleinbürgerliche Maßstäbe überblendet zu haben. Fouriers Humor und seine Überlegungen zur Liebe haben hingegen wirklich eine Position vorbereitet, die eine Überwindung der idealistischen Konzentration ausschließlich auf das „Wesen des Menschen, d.h. […] das Bewußtsein von sich selbst“91 bedeutet und die wirkliche Kritik der Gesellschaftsstrukturen sowie der konkreten Lebensverhältnisse ermöglicht. Diese Ausführungen zu Marx’ materialistischer Kritik an einer durch Karl Grün repräsentierten idealistischen Perspektive auf das Wesen des Menschen, die die konkreten ökonomischen Produktionsverhältnisse nicht deutlich genug berücksichtigt, müssen mitbedacht werden, um Benjamins Referenz auf Marx’ Anmerkungen zu Fouriers Humor einordnen zu können. Immerhin beginnt auch der Kunstwerk-Aufsatz, der in der zweiten Fassung an zentraler Stelle mit der Einführung des Unterschiedes von Ernst und Spiel erstmals auf Fourier rekurriert, gleich am Anfang mit einem Verweis auf Marx’ Analyse des Kapitalismus und der Frage nach den „Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst möglich machen.“ (WB VII.1, 350) Die „Bedingung“ für eine solche „Abschaffung“ in der „Revolution[…] als Innervation[…] des Kollektivs“ (ebd., 360) scheint für Benjamin mit seinem Verweis auf Fouriers Humor aber nicht nur eine Frage der Ökonomie, sondern zugleich des heiteren Umgangs mit der Technik. In seiner Unterscheidung zwischen Hegels „dépassement systématique“ und Fouriers „anéantissemant humoristique“ scheint Benjamin Marx’ Diagnose zu dem idealistischen Fokus auf das Wesenhafte des Menschen auf seine Überlegungen zur Veränderung des menschlichen Leibs durch die Technik umzulegen, wodurch nicht mehr nur nicht das Wesen des Menschen im Mittepunkt steht. Mehr noch scheint im Humor der Umgang mit der Technik eine Kritik an der bürgerlichen Technikrezeption ebenso wie an einer nur am Bewusstsein orientierten Ideologiekritik (Lukács) möglich, deren utopische Fluchtlinie ein neues, ‚entmenschtes‘ Kollektiv und ein neuer ‚entmenschter‘ Mensch bilden. Dabei ist die Gegenüberstellung von ‚dialektischer Überwindung’ und ‚humoristischer Vernichtung‘ genaugenommen aber gar keine Paraphrasierung der Marx’schen Argumentation, der nirgends von einer solchen ‚Vernichtung‘ spricht. In den Bezug auf Marx’ Anmerkungen zu Fourier schreibt Benjamins zugleich eine Aktualisierung seiner frühesten Definition zum Humor hinein. In seiner etwa um 1918 verfassten Aufzeichnung zum Humor betont Benjamin, dass der „humorvolle Akt“ „unter ausdrücklicher Ignorierung der Person“ ein „Akt der urteilslosen Vollstreckung“ 91

Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, S. 502.

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Kapitel 8

(WB VI, 130) sei: „Man lacht im Humor nicht über einen Menschen: vielmehr gehört das Gelächter, und zwar das laute, in den Humor hinein.“ (ebd.) Somit lasse der Humor „dem Objekt als solchem Gerechtigkeit widerfahren.“ (ebd.) Diesen „paradoxe[n] Fall“ (ebd.) eines Aktes ‚humorvoller Vollstreckung‘, den Benjamin explizit von Friedlaender her bestimmt und der zudem im Zusammenhang mit seiner Scheerbart-Lektüre steht, ist ausdrücklich politisch gedacht, denn am Ende heißt es mit Verweis auf den Gewalt-Aufsatz, dass das „Gelächter in seiner Relation zum richtenden Wort“ (ebd.) zu betrachten sei. In seinen Aufzeichnungen zum Essay über Karl Kraus und der oben bereits dargelegten Figur des „Unmensch“ kommt Benjamin ebenfalls auf die frühen Notate zum Humor zurück und betont, dass der „Humor im Reich der Sprache die dämonischen Gewalten in dem des Rechts [überwindet]“ (WB II.3, 1107). In der mit Fourier assoziierten ‚humoristischen Vernichtung‘ scheint Benjamin die frühe Idee des Humors als „Akt der urteilslosen Vollstreckung“ zu aktualisieren. Der Humor hat dabei offensichtlich zwei Seiten. Erstens hat er eine kritische Funktion: Er lässt dem alten, am Humanismus orientierten Menschenbild Gerechtigkeit widerfahren, indem er diesem Menschen, ohne Verletzung seiner Integrität, im Lachen mit der technischen Wirklichkeit konfrontiert. Zweitens hat er eine konstruktiv-utopische Funktion: In der humorvollen bzw. heiteren Rezeption der Technik überwindet (‚vernichtet‘) der Humor alles Menschenähnliche und bereitet sich auf die Umgestaltung in Richtung auf einen neuen Leib vor. In diesem Sinne scheinen für Benjamin die Micky Maus, die Pallasianer, aber auch die neuen, befreiten Menschen in Fouriers Wunschpassagen lachend die „Probe auf die Politik“ zu machen. Lachend bereitet sich die Menschheit hier drauf vor, in der Technik „die Zivilisation zu überleben.“ (WB VI, 144) Auch in der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes scheint Benjamin insbesondere mit der Einführung der Polarität von Heiterkeit und Spiel und der Perspektive auf die Liquidation der ersten Technik durch die Neuorganisation des Kollektivs in der zweiten Technik die frühen Überlegungen zum Humor aus materialistischer Perspektive mitbedacht zu haben.92 Die Abkehr von einer an Lukács orientierten ‚dialektischen Überwindung‘ hin zu einer ‚humoristischen Vernichtung‘ vollzieht sich an der Idee der 92

Wenn erste und zweite Natur sich nicht mehr in einem äußerlichen Verhältnis gegenüberstehen, sondern die Frage der Entfremdung als auch der Emanzipation von den „gesellschaftlichen Elementarkräfte[n]“ (WB I.3, 1047) zur Frage der „befreite[n] Technik“ (ebd.) selbst wird, geht es nicht mehr um einen dialektischen Aneignungsprozess, sondern um die Polarität von Destruktion (erste Technik und Ernst) und Konstruktion (zweite Technik und Heiterkeit), die Benjamin erst in der zweiten Fassung und in Distanz von einem rein ideologiekritischen Vokabular formuliert.

Die „philosophische Kritik des Lesabéndio“

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Heiterkeit des Spiels, die die Marxsche Frage nach den Bedingungen der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise in die Unterscheidung von ernster und heiterer Technikrezeption verlagert. Damit sind in Benjamins Anstrengungen um eine eigene materialistische Position aber nicht bloß Restbestände seiner früheren, metaphysisch ausgerichteten Technikrezeption eingelagert. In der polar-dialektischen Ausrichtung der Methode der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes greift Benjamin vielmehr explizit auf seine frühen Überlegungen zum Verhältnis von Technik, Utopie und Humor aus seinen Scheerbart-Analysen zurück und stellt sie als Ausdruck einer heiterhumorvollen Technikrezeption neben die frühsozialistischen Ideen Fouriers und den neuesten Entwicklungen des Films, wie sie sich in der Gestalt der Micky Maus darstellen. Die Reorganisation des Verhältnisses von Menschen und Natur geschieht bei allen in einem lachenden Umgang mit dieser Technik. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die aufgezeigten Beziehungen sowie die expliziten Reprisen legen es nahe, dass Benjamins mit seiner Abkehr von Lukács’ am Bewusstsein orientieren Ideologiekritik hin zu einer wahrnehmungsgeschichtlichen und am Leib orientierten Technikrezeption nicht nur im Zusammenhang mit seinen teilweise gleichzeitig entstehenden FourierNotaten stehen, sondern auch auf Überlegungen zurückkommt, die er bereits in seiner frühen Auseinandersetzung mit Scheerbarts Technikutopie angestellt hat. Dafür sprechen zwei weitere Überschneidungen: Zum einen spielt das Thema der Verdinglichung, das er im Kunstwerk-Aufsatz unter marxistischen Theorievorzeichen in den Blick genommen hat, bereits als Negativfolie eine Rolle in Benjamins frühen Aufzeichnungen über die Phantasie. Die objektivierende, vergegenständlichende Wahrnehmung attestiert Benjamin dort den Erwachsenen und stellt ihr die kindliche Phantasie gegenüber, die sich für Gestaltwandlungsprozesse interessiert. Diese Idee der Metamorphose wirkt in der Forderung nach einer „Innervation[…] des Kollektivs“ (WB VII.1, 360) durch die Technik fort. Bei Fourier genauso wie früher bereits bei Scheerbart verbindet Benjamin das sogar explizit mit dem Thema der Phantasie, das dadurch eine politische Dimension erhält. Statt von einem dialektischen Aneignungsprozess der zweiten Natur, wie Lukács ihn perspektiviert, scheint Benjamin in der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes Technik als Schauplatz von Gestaltwandlungsprozessen zu denken, deren Grundlage die Polarität von Gestaltung und Entstaltung ist. Mit diesen metamorphotischen Prozessen hängt auch der zweite Aspekt zusammen: Gegen den am Ernst der ersten Technik manifestierten Opfertod setzt Benjamin die Heiterkeit des Spiels, das vor allem ein am Leib manifestiertes Verwandlungsspiel ist. Diesen Aspekt hat Benjamin insbesondere an dem humorvoll gestalteten Geburtsvorgang und den Akt der Namensgebung in Scheerbarts Roman fest gemacht. In der Idee

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Kapitel 8

des Ablegens des Menschähnlichen und der Organisation eines neuen Leibes scheint auch dieser Gedanke unter materialistischen Vorzeichen in der Idee der Organisation eines neuen Leibes fortzuwirken und sich auf Benjamins Reflexionen über die Gefahren und die Chance der Technikrezeption in und durch die Masse umzulegen. Eine detailliert philologische Untersuchung zu der Art und Weise dieser Übersetzungs- und Aktualisierungsvorgänge wäre nur an der verlorenen zweiten Arbeit über Scheerbart nachvollziehbar, die den dritten Teil der frühen ‚Politik-Schrift‘ bilden sollte. Die offensichtlichen Kontinuitäten in der Reflexion über das Verhältnis von Technik, Natur, Utopie und Humor machen aber dennoch deutlich, dass es verlohnt, an den überlieferten Texten näher zu untersuchen, welche Debatten Benjamin über den Humor zu Beginn der 1920er Jahre führt. Diese frühen Debatten werden sich dabei im nachfolgenden Kapitel als eine ästhetische Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen des Politischen der Literatur zu erkennen geben. Die Argumentationsführungen und die eingesetzten Denkfiguren wirken auch in den zentralen Argumentationsfiguren aus dem Kunstwerk-Aufsatz wie etwa in der Polarität von Schein und Spiel oder in der berühmten, den Aufsatz abschließende Forderung nach der „Politisierung der Kunst“ (WB VII.1, 384) nach.

Kapitel 9

Politik des Humors: Benjamin – Scheerbart – Friedlaender – Bloch In dem Kapitel zu Benjamins früher Auseinandersetzung mit Scheerbart konnte bereits gezeigt werden, wie er in der Deutung des Lesabéndio seine ästhetischen Versuche über die kindliche Phantasie einerseits und seine Aufzeichnungen über das psychophysische Problem andererseits auf eine politische Lektüre des Romans umlegt. Im Fokus von Benjamins Aufmerksamkeit stehen dabei insbesondere das durch den Turmbau eingeleitete Auflösen der immanenten polaren Ordnung des Planeten und die daraus resultierende Erzeugung neuer polarer Spannungen, die folglich dann das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz (Kopf- und Rumpfsystem des Planeten) und die Beziehung von Kunst und Technik betreffen. Im Roman selbst heißt es dazu, die gesamte gemeinschaftliche Anstrengung des Turmbauprojektes, die Lesabéndios schmerzhafter Metamorphose und der Verbindung von Kopfund Rumpfsystem vorausgeht, sei „eine technische geworden“.1 Welche Rolle kommt der Kunst aber in diesem technischen Umwandlungsprozess noch zu? Dass die Kunst auf dem Planeten ins Abseits zu geraten und durch die Konzentration auf die Technik ersetzt zu werden droht, mahnen vor allem die beiden Kunstführer Labu und Peka an, die vor dem Beginn des Turmbauprojekts die ästhetische Ausgestaltung des Planeten bestimmt hatten: „‚Die rein künstlerischen Dinge‘, sagte Labu, ‚werden auf dem Pallas nicht mehr geschätzt. […] ‚Wir sind‘, sagte Peka traurig, ‚sehr überflüssig. […] Der Nutzbau hat den Kunstbau verdrängt.‘“2 Auch Benjamin scheint auf den ersten Blick die Ausrichtung auf die Technik stärker noch als die ästhetische Seite des Romans hervorheben zu wollen, da er bereits in seinem frühesten Text zum Roman betont: „Die Verflechtungen der Liebe, die Probleme der Wissenschaft und der Kunst, ja die Perspektive des Sittlichen ist gänzlich ausgeschaltet, um den reinsten unzweideutigsten Erscheinungen der Technik das utopische Bild einer geistigen Gestirnwelt entfalten zu können.“ (WB II.2, 619)

1 Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 154. 2 Ebd., S. 136f.

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_010

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Kapitel 9

Da also erst der Turmbau „apportera des changements dans l’ordre stellaire“ (WB II.2, 631), bestimmt die Technik den über „die Region der Kunst“ (ebd., 619) hinausragenden utopischen Gehalt des Romans. Hat Benjamins politische Lektüre des Romans also immer schon die ästhetische Perspektive überschritten? Immerhin betont er am Ende seines frühen Scheerbart-Textes, dass die „Kunst […] nicht das Forum der Utopie“ (ebd.) sein könne. Diese Ansicht würde aber allein schon den permanenten ästhetischen Debatten nicht gerecht, die im Roman den Turmbau begleiten.3 Zudem deutet sich in der Ausrichtung des Turmbauprojekts auf die Technik immer deutlicher an, dass die bisherige polare ästhetische Ordnung, die durch die beiden Kunstführer repräsentiert wird, nicht einfach zurückgelassen oder gesprengt wird, sondern auf einer zweiten Ebene durch die Technik erneut zum Tragen kommt, sind doch in Lesabéndios Plan von einer Zusammenführung des Planeten wiederum zugleich Phantasie und (technische) Konstruktion verbunden, also jene beiden Kräfte, die für Benjamin das polare Feld der modernen Ästhetik umspannen. Dass aber auch Benjamin in der Realisierung des Turmbaus nicht einfach einen Verdrängungsprozess des Ästhetischen zugunsten des Technischen eingeleitet sehen will, deutet sich insbesondere in der These an, wonach die „geistige Überwindung des Technischen“ den „Gipfel“ der „strengen Fügung“ (ebd.) des Romans ausmache. Mit der technischen Utopie ist für Benjamin also keineswegs bereits das letzte Wort über den Roman gesprochen. Vielmehr läuft Benjamins Analyse darauf zu, zwischen Kunst und Utopie ein spezifisches Spannungsverhältnis herzustellen. Denn im letzten Teil seines frühen Scheerbart-Textes versucht sich Benjamin nochmals an einer Verhältnisbestimmung von Kunst und Utopie, indem er den Fokus auf die besondere Stellung des Humors in Scheerbarts Roman legt. Dieser soll auf der einen Seite die Kunst übersteigen, auf der anderen Seite „scheint“ es ihm aber doch, als könne von der ästhetischen Realisierung aus das „entscheidende Wort über dieses Buch gesprochen werden, weil es voll Humor ist“ (ebd.). Im Zusammenhang heißt es dazu:

3 Noch während der großen Anstrengungen des Turmbaus entstehen neue ästhetische Debatten um das „Gerüst“ bzw. das nackte „Gerippe“ des Turms. (Ebd., S. 103). Peka mahnt an, dass dieser rein technisch forcierte Turmbau „zur Verschönerung unseres Sterns nicht viel beitragen“ werde. (Ebd.) Daher verspricht man den beiden künstlerischen Führern, parallel zum Bau Verschönerungen vornehmen zu können, was aber nicht in die Tat umgesetzt wird, weil der rein technische Vorgang alle Kräfte bindet. Erst später wird dann eine Art leuchtendes Pflanzenarrangement in die Mitte des Turmes eingesetzt, das vornehmlich zur Entspannung dient. (vgl. ebd., S. 147-149). Inmitten des Turms bekommt die Natur somit eine neue Rolle.

Politik des Humors

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„Die Kunst ist nicht das Forum der Utopien. Wenn es trotzdem scheint, als könne von ihr aus das entscheidende Wort über dies Buch gesprochen werden, weil es voll Humor sei, so ist es doch dieser Humor, der umso sicherer die Region der Kunst übersteigt, und das Werk zu einem geistigen Zeugnis macht. Dessen Bestand ist nicht ewig und nicht in sich allein begründet, aber das Zeugnis wird in dem Größeren, von dem es zeugt, aufgehoben sein. Von dem Größeren – der Erfüllung der Utopie – kann man nicht sprechen – nur zeugen.“ (WB II.2, 619f.)

Um die komplexe Argumentation dieser abschließenden Passage der ersten Scheerbart-Analyse wird es nachfolgend gehen, indem der darin eingelagerte intertextuelle Debattenzusammenhang entfaltet werden soll. Bereits bei einem ersten Blick auf den verwickelten, teilweise chiastischen Satzbau und das vorsichtige Herantasten an eine Verhältnisbestimmung zwischen Kunst und Utopie, das sich vor allem im Einsatz des Verbes ‚scheinen‘ ausdrückt, wird deutlich, dass hier weniger eine eindeutige Lösung des Problems vorgetragen wird, als vielmehr die Inszenierung mehrerer ineinandergreifender Spannungsverhältnisse: zwischen Kunst und Utopie, Wort und Wortlosem, Immanenz des Werkes und ‚Übersteigen‘ der Region der Kunst, Autonomie des Werkes und Auflösung „in dem Größeren“, Sprechen und Zeugen. Der Humor scheint dabei eine spezifische Form von Grenze zwischen Kunst und Utopie anzuzeigen, die Benjamin ganz am Ende auf den entscheidenden Gegensatz von „sprechen“ und „zeugen“ zulaufen lässt. Die im Roman selbst ausführlich verhandelte Spannung zwischen Kunst und Technik legt Benjamin damit insgesamt auf die Frage um, was Kunst überhaupt für die Veränderung der Welt leisten kann, wobei der Humor hier offensichtlich sowohl das Verhältnis von Ästhetik und Technik als auch von Ästhetik und Utopie in spezifischer Weise in eine spannungsvolle Beziehung zueinander setzt. Die Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen wird es sein, zu zeigen, dass in der Kombinatorik dieser Spannungsverhältnisse bereits Elemente einer ästhetischen Debatte eingetragen sind, die die Voraussetzung für Benjamins Vorhaben bilden, sich in der für die ‚Politik-Schrift‘ geplanten zweiten Lesabéndio-Kritik zu Friedlaenders Bloch-Rezension äußern zu wollen. In dieser Debatte greift Benjamin seine kritische Auseinandersetzung mit Blochs Geist der Utopie erneut auf, um sie im Ästhetischen weiterzuführen. Gegenstand dieser Auseinandersetzung ist dabei, so die These, die spezifische utopische Funktionalisierung des Ästhetischen bei Bloch. Hier kann anhand der genaueren Betrachtung des Zusammenhangs von Kunst, Utopie, Technik und Humor gezeigt werden, inwiefern Benjamins Scheerbart-Interpretation immer auch als implizite Antwort auf Ernst Blochs Geist der Utopie gelesen werden muss. Neben der erkenntnistheoretischen Debatte zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch, die bereits anhand des Theologisch-politischen

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Kapitel 9

Fragments entfaltet wurde, kann Benjamins Auseinandersetzung damit eine weitere Dimension hinzugefügt werden, die diesmal nicht nur den UtopieBegriff als solchen betrifft, sondern auf die Herzkammer von Blochs Buch zielt: das Vermögen zur Antizipation der Utopie durch die Ästhetik des Vorscheins. Dafür ist nachfolgend in vier Schritten vorzugehen: Zunächst sind einige einleitende Anmerkungen darüber zu machen, warum und wie Benjamin plant, sich in der Lesabéndio-Analyse gerade zu Friedlaenders BlochRezension (und also nicht unmittelbar zu Bloch selbst) äußern zu wollen. (9.1) Danach folgt ein Exkurs zur Funktion des Ästhetischen im Geist der Utopie, um die Kontrastfolie für die in der Scheerbart-Analyse eingelagerten intertextuellen Debattenzusammenhänge deutlich herausarbeiten zu können. (9.2) Anschließend wird dann an einigen bis dahin erarbeiteten Motiven und Denkfiguren detailliert zu zeigen sein, wie Friedlaender (9.3) und Benjamin (9.4) ihre Kritik an Blochs Verhältnisbestimmung von Ästhetik und Politik von ihren vergleichbaren Konzeptionen eines an ihren Scheerbart-Lektüren profilierten Humors formulieren. Abschließend sind dann noch einige grundsätzliche Anmerkungen zur Gesamtkonzeption von Benjamins dreiteiliger ‚Politik-Schrift‘ zusammenzutragen (9.5). 9.1

Humor und Utopie: Eine intertextuelle Debattenkonstellation zwischen Benjamin, Friedlaender und Bloch

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Benjamin und Friedlaender ein vergleichbares Interesse für Paul Scheerbarts literarisches Werk teilen, wobei beide stets die besondere literarische Qualität der kosmologischen Phantasien hervorheben und sich um die öffentliche Aufmerksamkeit für die Texte und ihren Autor bemühen. Bei beiden scheint sich dabei die Lektürefaszination insbesondere an der Vorstellung zu entzünden, dass Scheerbarts Texte eine philosophische Deutung geradezu verlangen. Friedlaender und Scheerbart verkehrten beide in der Berliner BohèmeSzene vor dem Ersten Weltkrieg, wodurch sie eine freundschaftliche Beziehung verbindet, die sich sehr eindrücklich in dem überlieferten Briefverkehr dokumentiert. In seinen autobiographischen Erinnerungen beschreibt Friedlaender Scheerbart als „persönliche[n] Freund“ (F/M 18, 103) und als „entzückende[n] Mensch[en], dessen geniale Besonnenheit von Traum und Rausch buchstäblich und bildlich nicht zu trennen war“ (ebd., 142). Die Doppelcharakterisierung aus Besonnenheit und Traum/Rausch, die auf Nietzsches Polarität des Apollinischen und Dionysischen zurückweist, hat Friedlaender an diesem „lachende[n] Heilige[n]“ (ebd., 143) besonders angezogen. Sie erst

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mache ihn zu dem „bedeutendste[n] Humorist[en]“ (ebd., 142) seiner Zeit. Dieser Humor, den Friedlaender in seinen persönlichen Erinnerungen immer wieder für den Autor in Anschlag bringt, bestimmt aber zugleich auch seinen Blick auf Scheerbarts literarisches Schaffen. Von der Polarität Besonnenheit/ Rausch aus profiliert Friedlaender sehr deutlich eine ähnliche Perspektive auf die ästhetischen Grundprinzipien in Scheerbarts Lesabéndio, wie es Benjamin mit der Polarität aus entstaltender kindlicher Phantasie und konstruktiver Einbildungskraft getan hat. So betont Friedlaender in seiner bereits 1913 erschienenen Rezension zu Scheerbarts Lesabéndio, dass dessen Humor das „Symptom“ (F/M 2, 372) sei für die ästhetische Polarität aus einerseits einer „Exzentrizität der Seele“ (ebd.), die, wie es in einer ebenfalls 1913 erschienenen, längeren Abhandlung mit dem Titel Paul Scheerbart. Ein Medaillon heißt, die „unermeßliche[…] Phantasie“ (ebd., 377) des Autors bestimme, und andererseits einer damit „verschwisterte[n] […] dichterische[n] Einbildungskraft“ (ebd., 372), die Scheerbarts „künstlerische Konstruktion von mathematischer Strenge“ (ebd., 373) auszeichne. Ähnlich wie Benjamin in seinen frühen Aufzeichnungen zur Phantasie und seinem ersten Scheerbart-Text assoziiert Friedlaender die erste Seite dieser Polarität, also die Phantasie, ebenfalls mit Scheerbarts „kindliche[r] Faszination“ (ebd., 378) für die Glasarchitektur und die zweite Seite, also die konstruktive Einbildungskraft, mit dem Bemühen um „ästhetische[…] Exaktheit“ (ebd.). Friedlaender spricht dabei von einer dichterischen „Besonnenheit“ (ebd., 377), Benjamin von „Nüchternheit“ (WB II.2, 619). Benjamin hat zudem betont, dass gerade die nüchterne Konstruktion des Lesabéndio die hermeneutischen Kategorien der „Innerlichkeit, […] Ausdeutung und Erklärung“ (ebd., 618) unterlaufen habe. Friedlaender betont in vergleichbarer Weise die „radikalste Verbannung aller Möglichkeit der Verfinsterung“ (F/M 2, 378) in Scheerbarts Ästhetik, die sich durch ein „Bedürfnis nach Lauterkeit, Klarheit, Durchschauung, Durchdringung“ (ebd.) auszeichne. Benjamin ist schon früh auf die intellektuelle Freundschaft zwischen Friedlaender und Scheerbart aufmerksam geworden und nennt Scheerbart auch später noch „Friedlaenders große[n] Freund[…]“ (WB IV.1, 600).4 In dem 1931 im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung publizierten Text Für arme 4 Scholem berichtet, dass er Benjamin den Roman Lesabéndio zur Hochzeit geschenkt hat. Die Lektüre des Romans erfolgt also erst vier Jahre nach der Veröffentlichung der Rezension (vgl. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 52). Auf die Beziehung zwischen Friedlaender und Scheerbart ist Benjamin sicherlich u.a. auch durch den Text Fasching als Logik aufmerksam geworden, der, nach seiner Erstveröffentlichung 1912 in der Wochenschrift Pan, in der Grotesken-Sammlung Rosa die schöne Schutzmannsfrau (1913) wiederaufgenommen wurde. Benjamins intensive Beschäftigung mit Friedlaender setzt mit dieser Sammlung ein. Friedlaender bezeichnet Scheerbart in dem erwähnten Text als den Einzigen,

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Sammler bezieht Benjamin Friedlaender und Scheerbart zudem in einer für seine Lektüre beider Autoren bemerkenswerten Weise. In diesem kurzen Text, der in vielerlei Hinsicht das polare Gegenstück zu Benjamin bekannteren ‚Denkbild‘ Ich packe meine Bibliothek aus bildet, stellt Benjamin die Frage, wie gegenwärtige Sammlertätigkeit vor dem Hintergrund der Inflation einerseits und der Verteuerung antiquarischer Bücher andererseits überhaupt noch möglich sei. Dabei versucht Benjamin einen Typus des literatursoziologisch und zeitdiagnostisch interessierten Sammlers (der ‚arme Sammler‘) zu entwickeln, der im Kontrast zum ‚klassischen Sammler‘ steht.5 Der Unterschied zwischen beiden Sammlertypen besteht vor allem in Hinsicht auf das Interesse an und die Funktion der Sammlung. Wo sich das „rätselhafte[…] Verhältnis zum Besitz“ beim ‚klassischen Sammler‘ nicht durch den „Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit […]“ (WB IV.1., 389) bestimmt,6 sind die „Schätze“ des ‚armen‘ Sammlers „nicht unbedingt aus ihrem Funktionszusammenhange gelöst“ (WB V.1, 275), bezieht sich doch seine Sammlung ohnehin auf „Leute, die keine gesammelten Werke hinterlassen, in den Literaturgeschichten nie mehr als ein paar Zentimeter eingenommen und dennoch über ihre Epoche Bemerkenswerteres zu sagen haben als viele der Arrivierten.“ (WB IV.1, 599)

der sich über das moderne, von Robert Mayers Erhaltungsgesetz inspirierte Denken der Kraft keinen Irrtümern hingibt. (vgl. F/M 7, 162). 5 Diese Unterscheidung zwischen ‚klassischem‘ und ‚armen‘ Sammler bildet dann auch den polaren Kontrast zwischen Ich packe meine Bibliothek aus, in der Benjamin über sein intimes Verhältnis zu seinen Sammlungen spricht, und dem Text Für arme Sammler. Stellt man beide Texte gegenüber, wird deutlich, dass beide Texte aufeinander reagieren. Als Beispiel seien hier nur die unterschiedlichen Orte genannt, an denen die jeweiligen Sammlertätigkeiten stattfinden: Wo der ‚klassische‘ Sammler mit „feine[r] Witterung“ (WB IV.1, 392) sowohl in den repräsentativen Antiquariaten als auch auf Dachböden und auf Aktionen seine Jagd auf unentdeckte, vergessene, wertvolle Schätze aufnimmt, spielt sich die Tätigkeit des ‚armen‘ Sammlers in der Öffentlichkeit auf den Bücherramschmärkten ab: „All das findet man auf Bücherwagen, in den Ramschabteilungen der Warenhäuser, wo die Bücher zu 45 oder 95 Pf. gestapelt liegen“ (ebd., 600f.). Der ‚klassische‘ Sammler versucht aus bibliophiler Sicht zumindest tendenziell kanonische Literatur zusammenzutragen. Anders der ‚arme‘ Sammler: Er muss die kanonisierte Literatur ausblenden, die literaturhistorische Werteskala ignorieren und seinen Blick auf randständige, abseitige Literatur legen. Den armen Sammler haben vor allem „Erstlingswerke der nicht durchaus prominenten Schriftsteller“ (ebd., 599) zu interessieren. 6 Dem Sammler, so schreibt Benjamin in seinen Notizen zum ‚Passagen-Werk‘, „fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen.“ (WB V.1, 53) Sein Verhältnis steht im „diametrale[n] Gegensatz zum Nutzen“ (WB V.1, 271). Seine Tätigkeit ist auf das Auratische als „profane[…] Manifestation der ‚Nähe‘“ (ebd.) abgestellt. Ihn interessiert die Materialität mehr als der kulturelle Sinnzusammenhang. Seine Sammlertätigkeit ist nicht hermeneutisch unterlegt, denn er ist „Physiognomiker der Dingwelt“ (WB IV.1, 389).

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Literatur solcher „Leute“ zu sammeln sei ein, so Benjamin, „sammlerisch und soziologisch ungemein interessantes Unternehmen“ (ebd., 600), da es sich um Bücher handle, die nicht bereits kanonisiert sind, sondern etwas über die „literarische Signatur ihres Zeitalters“ (ebd., 599) aussagen. Für diese Sammlung der jüngst vergangenen Literatur nennt Benjamin dann als herausragendes Beispiel die Werke von Salomo Friedlaender und Paul Scheerbart (vgl. ebd., 600). Sie sind dadurch besonders wertvoll, weil sie Literaturen am Puls der Zeit sind und damit dem Erkenntnisinteresse des armen Sammlers von besonderem Nutzen sein können. Ihr besonderes Merkmal besteht darin, dass sie eigentlich jede Sammlungsordnung durcheinanderbringen; es ist Literatur der „unscheinbare[n] Zwischenklasse“ zwischen kanonisierter Literatur und den tagesaktuellen Publikationen. Dieser liminale Status verleiht ihnen, so die Pointe bei Benjamin, besonderen Erkenntniswert. An ihnen lassen sich die Zeichen der Zeit ablesen. Hier deutet sich also an, dass Benjamin Friedlaender und Scheerbart gleichermaßen vor allem hinsichtlich der kritischen Erkenntnis der Gegenwart rezipiert. Ob Benjamin aber auch Friedlaenders Texte über Scheerbart von 1913 wahrgenommen hat, bleibt fraglich. In seinen Aufzeichnungen zum Karl Krauss-Essay zitiert er aber immerhin eine Passage aus dem Text Paul Scheerbart. Ein Medaillon, in der Friedlaender betont, dass es bei Scheerbart keine „kardinale[…] Gewohnheit[…] des Menschen“ gebe, die er durch seinen „heiligernsten Spaß“ nicht „ins Wanken zu bringen“ vermochte. (F/M 2, 376; vgl. WB II.3, 1104) Diese Aussage steht im Zusammenhang mit dem Motiv der „Entmenschung“ (F/M 2, 379), das Friedlaender den Scheerbart’schen Figuren abliest und das Benjamin als „Typus des ‚Unmenschen‘“ (WB II.3, 1004) in seinen Notizen aufgreift. Vor diesem Hintergrund ist es zwar einigermaßen überraschend, dass Benjamin Friedlaender nicht ebenfalls in Erfahrung und Armut erwähnt. Allerdings finden sich in seinen Aufzeichnungen Stellen, in denen deutlich wird, dass Benjamin Friedlaender in einer Reihe mit denjenigen Autoren sieht, die er als „Auswanderer aus dem Europa des Humanismus“ (WB II.3, 1112) bezeichnet und die versuchen, das alte humanistische Menschenbild zugunsten eines ‚konstruktiven Barbarentums‘ zu überwinden: „Scheerbart und Ringelnatz, Loos und Klee, Brecht und S. Friedländer – sie alle stoßen von den alten Ufern, den überreichen Tempeln voll von edlen, mit Opfergaben feierlich behängten Menschenbildern, ab, um sich dem nackten Zeitgenossen zuzuwenden, der schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt.“ (Ebd.)

Das für Benjamins unter materialistischen Vorzeichen für seine Überlegungen zur Utopie der Technik aktualisierte zentrale Motiv der „Entmenschung“ leitet sich damit direkt aus seinen parallelen Lektüren von Scheerbarts Romanen

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Kapitel 9

und Friedlaenders Texten zu Scheerbart und der Schöpferischen Indifferenz her. Das ist außerdem insofern interessant, als Friedlaender selbst in seinem Text über Scheerbart versucht, den Gedanken der ‚schöpferischen Indifferenz‘ am Roman zu schärfen. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass Friedlaender dieses Motiv der „Entmenschung“, mit dem Scheerbart zeige, dass der „Mensch nicht viel mehr als einen kosmischen Zufall [bedeutet]“ (F/M 2, 372), unmittelbar mit Scheerbarts „übermenschliche[r] Heiterkeit und Komik“ (ebd., 378) in Verbindung bringt. Entscheidend ist dabei die Rede vom „heiligernsten Spaß“ (ebd., 376), die zwei Referenzen zusammenschließt. Auf der einen Seite scheint darin die Polarität von Nüchternheit und Rausch, die Friedlaender Scheerbart in Anlehnung an Nietzsches Dionysos/Apollon-Polarität attestiert, direkt in eine Doppelbestimmung des Humors übersetzt, die an Benjamins Doppelbestimmung des Humors als Kritik und Utopie erinnert. Zum zweiten scheint Friedlaender „heiligernsten Spaß“ auf die für ihn und Benjamin gleichermaßen zentralen Überlegungen von Hölderlin zur Möglichkeit einer „abendländische[n] Junonische[n] Nüchternheit“7 zu rekurrieren, in der Hölderlin die Möglichkeit einer für die Moderne angemessenen Poetik aus der Polarität von griechischem „heiligen Pathos“8 und der den antiken Konzepten entgegenlaufenden modernen Nüchternheit diskutiert. Benjamin greift die Idee der „‚heilignüchterne[n]‘ Poesie“ (WB I.1, 104) etwa in seiner Dissertation oder in seinem frühen Hölderlin-Aufsatz auf.9 Den damit zusammenhängenden kalkulierten Konstruktionscharakter legt Friedlaender mit der Anmerkung zum „heiligernsten Spaß“ auf Scheerbarts Humor um. Die Frage der Möglichkeit einer modernen poetischen Erkenntnisfähigkeit, die Hölderlin im Begriff der „abendländische[n] Junonische[n] Nüchternheit“ diskutiert, scheint Friedlaender im Humor einer Lösung zuführen zu wollen. Immerhin liege doch bei Scheerbart gerade in diesem Humor die Grundlage für eine poetische „Anschauung“ (F/M 24, 126), die „umwittert“ sei „von einem echt philosophischen Geist“ (ebd., 127).10 Zu Scheerbarts Humor hält er dann weiterhin auch fest: 7 8 9 10

Friedrich Hölderlin: Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, 4.12.1801. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hg. v. Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt. Frankfurt a. M. 1992, S. 459-462, hier: S. 460. Ebd. Vgl. dazu weiter unten Kap. 9.4 und außerdem die Ausführungen in Kap. 1.2. Dass Scheerbart nicht gänzlich einverstanden mit diesem Zusammenschluss aus Dichtung und Philosophie war, zeigt sein Brief an Friedlaender vom 23.8.1904, in dem Scheerbart diesen Zusammenschluss in seiner abschließenden Grußformel humorvoll ‚dekonstruiert‘ und den Gedanken der Polarität, den Friedlaender ihm vorschlug,

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„Seinen Humor verlor er niemals. Dieser hohe Mensch bückte sich humoristisch, um in der niedrigen Enge seines Daseins Platz zu finden. So leutselig er war, so leicht er sich mit jedem zu duzen und gemein zu machen schien, so fein unterschied er die Menschen. Er war von ästhetischer Robustizität. Sein Humor war seine Religion. Er verabscheute, was nicht friedlich, gerecht, fromm war. Aber er blieb der lachende Heilige, der humoristisch gewitterte. Der Weltkrieg versetzte ihn in einen seelischen Sturm, der zusammen mit der leiblichen Zerrüttung tödlich wirkte. Der Mensch war ihm nur ein Provinzialismus, er empfand sich als Medium kosmischer Wesen. –“ (F/M 18, 142f.)

Der von Friedlaender hergestellte Zusammenhang von Humor und dem Bild vom Menschen („Provinzialismus“) deutet hier erneut darauf, warum Benjamin im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Überwindung des ‚Menschenähnlichen‘ in der Technik auf beide gleichermaßen rekurriert. Ähnlich wie Benjamin, der diese Überwindung an der schmerzvollen Leibmetamorphose des Lesabéndio festmacht, betont auch Friedlaender die „ungemeine[…] Verwandlungsfähigkeit“ (F/M 2, 372) der Pallas-Bewohner und die am Leib manifestierten „Folterqualen des Bemühens“ (ebd., 373), die dieser metamorphotische Prozess voraussetzt. Benjamins und Friedlaenders Scheerbart-Lektüren berühren sich damit gleich in mehrerlei Hinsicht deutlich. Dabei verdichtet sich die von beiden angestrengte philosophische Deutung von Scheerbarts kosmologischtechnischen Utopien insbesondere in der Aufmerksamkeit auf die ästhetische Funktion des Humors. Allerdings hat Benjamin nirgends angekündigt, sich im dritten Teil seiner ‚Politik-Schrift‘, der „philosophische[n] Kritik des Lesabéndio“ (Br  I, 109), unmittelbar zu Friedlaenders ScheerbartInterpretationen äußern zu wollen, sondern eben zu dessen Kritik an Ernst Blochs Geist der Utopie. Zu dieser Kritik wurde bereits im Kapitel über das Theologisch-politische Fragment dargelegt, dass Benjamin und Friedlaender erstens eine am Leib orientierte weltliche Handlungslogik gegen Blochs an der einzelnen Seele orientieren „Metaphysik der Innerlichkeit“ richten und zweitens Blochs Vorstellung eines utopisch-apokalyptischen Dritten die Idee eines medialen Nihilismus entgegensetzen, durch den die Beziehung auf das Verhältnis von Dichtung und Philosophie anwendet: „Und über Philosophie im Allgemeinen u. Besonderen müßten wir mal reden. […] Ich glaube, die Philosophie geht ‚immer‘ darauf aus, eine Art ‚Weltformel‘ zu finden. Könnten wir nicht nach Art der Religionskriege – veritable Philosophenkriege arrangieren? Sie könnten dann die Formalisten, ich die Antiformalisten anführen. Das Anführen würde mir einen furchtbaren Spaß machen. Jedenfalls müßte die Sache sehr lustig werden. Ich schreibe sobald wie möglich. 100000000 lustige Weltformel- und Antiweltformel- und Weltantiformelgrüße – auch von meiner Frau - - - von Ihrem Ihnen sehr ergebenen P. Scheerbart.“ (zit. n. F/M 24, 152f.).

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zwischen Profanem und Messianischem (Benjamin) bzw. Immenenz/Diesseits und Transzendenz/Jenseits (Friedlaender) als polares Spannungsgefüge profiliert wird. Vor dem Hintergrund der vergleichbaren Aufmerksamkeit auf die Funktion des Humors in Scheerbarts Texten ist Benjamins Entschluss, sich in seinem Scheerbart-Text zu Friedlaenders Bloch-Kritik äußern zu wollen, ein dritter Aspekt hinzuzufügen, der bisher ausgeklammert blieb: Friedlaenders Kritik an Blochs apokalyptischer Utopie und seiner einseitigen Ausrichtung auf das utopische Jenseits liegt gleich an mehreren Stellen der Vorwurf der Humorlosigkeit zugrunde: „Mit eurem erschwindelten ‚Jenseits‘ macht ihr das ‚Diesseits‘ zuschanden und wollt das geschändete Diesseits mit Hilfe jenes Jenseits reparieren? Das ist nur zum Lachen. Euch fehlt jeder Humor, jeder gute Wille, jeder bon sens, auf den verruchten Erbsünder endlich einmal dionysisch einzuwirken […].“ (F/M 3, 611)

Am Dionysischen, so konnte bereits in Kapitel  7 gezeigt werden, richtet Friedlaender seine am Leib orientierte profane Perspektive auf die Politik aus, die auffällige Schnittmengen mit Benjamins ebenfalls am Leib ausgerichteten Vorstellung von einer „profane[n] Ordnung des Profanen“ (WB II.1, 204) aufweist. Weiter richtet Friedlaender dann direkt an Bloch den Vorschlag eine Umkehr seiner Argumentation: „ […] je weniger ‚ernst‘ das Heilige ist, je mehr es lächeln und lachen kann, desto wertvoller ist es, dionysisch genommen.“ (F/M 3, 619) Dass Friedlaender hier das Adjektiv „ernst“ in Anführungszeichen setzt, deutet einen performativen Einsatz jenes Humors an, dessen Fehlen er Bloch attestiert, gelten doch die Anführungsstriche nicht einer vorsichtigen Einschränkung. Sie sind vielmehr Ausdruck von Friedlaenders beliebtem Spiel mit Doppeldeutigkeiten und betreffen dabei sowohl den mit der christlich begründeten Transzendierung zusammenhängenden Ernst des „Menschenopfer[s]“ (ebd., 620) als auch den Vornamen Blochs, der die Erde einmal mehr zu einem „Jammertal“ (ebd., 621) mache. An anderer Stelle wiederum geht dann Friedlaenders Gegenvorschlag, „Welt und Leib immer fruchtbarer zu kultivieren und wertzuschätzen“ (F/M 3, 615) einher mit dem Vorwurf „den Geist der Heiterkeit, Festlichkeit und Lebensverklärung, die Musik, zur Jenseiterei“ zu „mißbrauchen“ (ebd., 621). Mit dem Stichwort „Musik“ deutet sich an, dass Friedlaender den Vorwurf der Humorlosigkeit vor allem auch auf den großen Mittelteil über die Philosophie der Musik bezogen wissen will, in dem Bloch immerhin die Funktion und die Bedeutung der Kunst für die Utopie zum Zentrum seines Buches macht. Den gegen diese noch näher zu untersuchende Ästhetik in Anschlag gebrachten „Geist der Heiterkeit“ hat Friedlaender, wie bereits gesehen, zeitlebens insbesondere in Scheerbarts Texten realisiert

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gefunden. In seiner Bloch-Rezension scheint Friedlaender diesen ästhetischen Humor auf eine politische Kritik von Blochs Utopie-Buch zu übersetzen. Und wenn Benjamin wiederum am Ende seines eigenen Scheerbart-Textes den Humor zum Schauplatz einer Diskussion über das Verhältnis von Ästhetik und Utopie einerseits und von Ästhetik und Technik andererseits macht, liegt die Vermutung sehr nahe, dass im Aspekt des Humors, an dem Friedlaender seine Bloch-Kritik leitmotivisch ausrichtet, begründet ist, warum Benjamin diese Rezension im dritten Teil seiner ‚Politik-Schrift‘ aufzugreifen plante. Auf die kritische Argumentation und die polaren Denkfiguren, die sich in vergleichbarer Weise bei Benjamin und Friedlaender in ihren gegen Blochs Geist der Utopie gerichteten Humor-Konzeptionen anbinden, wird zurückzukommen sein. Vorher stellt sich aber noch die Frage: Wie verhält sich überhaupt dieser Vorwurf der Humorlosigkeit zu Blochs ästhetischen Überlegungen im Geist der Utopie? Um diese Frage beantworten zu können, ist im nachfolgenden Exkurs ein genauerer Blick auf die Funktion des Ästhetischen im Geist der Utopie zu werfen. Erst von hier aus erhalten dann auch die Ausführungen zum Humor bei Benjamin und Friedlaender ihr intertextuelles Profil. Dieser Exkurs ist zudem noch notwendig, weil der Mangel an Humor, den Friedlaender der Bloch’schen Utopie vorwirft, zumindest differenzierter betrachtet werden muss. Denn bevor Bloch im Geist der Utopie das längste Stück über die Philosophie der Musik einleitet, reflektiert er in einem für die Debattenkonstellation sehr aufschlussreichen Kapitel über den komischen Helden und sein utopisches Potential. 9.2

Exkurs: Der Humor als Energiereservoir der Utopie. Don Quijote in Ernst Blochs Geist der Utopie

Gert Ueding hat in der Forschungsliteratur zu Blochs Geist der Utopie eine „bemerkenswerte Lücke“11 hinsichtlich der Phänomene des Lachens, des Witzes, des Komischen und des Humors hervorgehoben, wobei er zugleich anmerkt, dass sich diese Diskrepanz im Verhältnis von Humor und Utopie grundsätzlich sowohl auf die philosophische als auch auf die literarische Utopie-Tradition ausweiten lasse. Ueding bemüht sich um dieses Desiderat, indem er die besondere Bedeutung von Lachen, Komik und Humor vom Geist 11

Gert Ueding: Komische Utopie – Utopie des Komischen. In: Francesca Vidal (Hg.): Einblicke in Blochsche Philosophie. Anlässlich des 70. Geburtstages von Gert Ueding. Mössingen 2012, S. 55-70, hier: S. 56.

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der Utopie bis hin zum Prinzip Hoffnung (und darüber hinaus) anhand der in Blochs Werk immer erneut einsetzenden Don Quijote-Interpretationen nachzeichnet, und stellt heraus, wie Bloch anhand der Figur Don Quijote mehrmals die Unterscheidung zwischen abstrakter und konkreter Utopie ausgearbeitet hat. An anderer Stelle geht Ueding sogar noch einen Schritt weiter und stellt die These auf, dass sich um Blochs Cervantes-Lektüren alle wesentlichen Elemente seiner Philosophie versammeln: „Die Bedeutung des subjektiven Faktors fürs geschichtliche Sein, die Funktion des Traums, der messianische Wille zur Weltveränderung, die überschreitende Wirksamkeit der Leitfigur und der Einschlag in den absoluten Augenblick, das sind nicht nur Qualifikationen Don Quijotes und seines utopischen Geschicks, sondern zugleich die Leitbegriffe von Blochs Philosophie […]. […] weder Faust noch Don Juan, noch Prometheus (um nur einige aus Blochs Heiligenkalender zu nennen) vereinen derart umfassend seine philosophischen Hauptgedanken auf sich, wie dies, gleich einem Brennglase, der Ritter von der traurigen Gestalt tut: Ob es sich um die Konzeption der Ideologie als Konglomerat aus Antiquarischem und Utopischem handelt, um die Unterscheidung von abstrakter und konkreter Utopie, um die Funktion der subjektiven Phantasie im Weltprozeß, um die bedeutende Leerstelle, die nach dem Abtun der religiösen Entfremdung dennoch erhalten bleibet und ihrer utopischen Erfüllung harrt, es gibt keine andere Einzelinterpretation Blochs, die derart umfassend seine philosophischen Gedanken illustriert.“12

Diese besondere Bedeutung des Don Quijote für Blochs Utopieverständnis lässt sich bereit im Geist der Utopie nachweisen. Dort setzt das Kapitel Der komische Held mit der Überlegung ein, dass jeder junge Mensch – gleichermaßen von Träumen und Tatendrang erfüllt – naiv in die Welt strebt, um seine Wunschvorstellungen zu realisieren. Gerade weil der junge Mensch mit seinen utopischen Vorstellungen notwendigerweise an der kalten Faktizität der gesellschaftlichen Verhältnisse scheitern muss, ergeben sich für Bloch strukturelle Ähnlichkeiten nicht nur zu der tragischen Verblendung des Don Quijote, sondern auch zu dessen utopischen Kraftanstrengungen, sodass „ein sehr eindringlicher Blick auf Don Quixote geworfen werden“13 müsse. Da sich an seiner lächerlichen Rittergestalt der „erste[…], ekstatische[…] Sturm-undDrang-Geist der Utopie am reinsten“14 zu verkörpern scheint, ist Don Quijotes Handeln also für Bloch trotzt aller ‚Übertreibungen‘15 exemplarisch: „Wer leben

12 13 14 15

Gert Ueding: Utopie in dürftiger Zeit. Studien über Ernst Bloch. Würzburg 2009, S. 100. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 55. Gert Ueding, Komische Utopie – Utopie des Komischen, S. 62. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 55.

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will, muß sich irgendwie stets belügen. Es gibt keinen Menschen, der ohne die wohltätigen Folgen des Träumens auch nur einen Schritt gehen könnte […].“16 Bloch liest der Figur dabei einen symptomatischen Doppelcharakter ab, der den Weg von seinem elendigen Landjunker-Dasein hin zu dem „phantastischen Austritt in seinen Wachtraum von Welt“17 bestimme. Auf der einen Seite betont Bloch Don Quijotes „ebenso heftige wie monomanische Art“18, die durch die fatale Lektüre von mittelalterlichen Ritterromanen ein „weitgespannte[s], alles einbeziehende[s] Wahnsystem“19 installiere. Selbst dort, wo kurzzeitig eine Entzauberung seiner Träume und Wünsche droht, vermag Don Quijote diese ‚vorübergehenden Störungen‘20 durch seine „unerschütterliche[…], durch nichts zu enttäuschende[…], völlige problemlose[…] Monomanie des Guten“21 einzufangen. Dadurch, dass er Dichtung und Handeln in fataler Weise vertauscht habe, blieb er „der nutzlose Reine, der keinem helfen konnte, obwohl er auch die schmutzigste Sache mit dem siebenarmigen Leuchter bestrahlte.“22 Neben dieser zwar konsequenten, aber doch wirkungslosen Träumerei betont Bloch allerdings auf der anderen Seite zugleich auch, dass Don Quijotes Narrheiten gerade vor dem Hintergrund dessen, was Georg Lukács in seiner Theorie des Romans unter die bekannte Formel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“23 verdichtet hat, differenzierter betrachtet werden müssen. Denn sein Irrsinn sei symptomatisch für die Zeitumstände. Lukács hatte in seiner Romantheorie bereits die Serie von unangemessenen, scheinhaften Abenteuergeschichten des Don Quijote als geschichtsphilosophischen Ausdruck eines „Fehlen[s] des transzendentalen Zugeordnetseins für die menschlichen Bestrebungen“24 charakterisiert. Als Dokument dieses Verlustes sei Cervantes’ Roman die erste und „ewige Objektivation dieser Struktur“25. Auch Benjamin hat sich in 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd. Ebd., S. 56. Ebd., S. 55. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 59 Ebd. Ebd., 60. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Bielefeld 2009, S. 30. Ebd., S. 73. Ebd., S. 76. Genauer noch führt Lukács dazu aus: „So steht dieser erste Roman der Weltliteratur am Anfang der Zeit, wo der Gott des Christentums die Welt zu verlassen beginnt; wo der Mensch einsam wird und nur in seiner, nirgends beheimateten Seele den Sinn und die Substanz zu finden vermag; wo die Welt aus ihrem paradoxen Verankertsein im gegenwärtigen Jenseits losgelassen, ihrer immanenten Sinnlosigkeit preisgegeben wird […].“ (Ebd., S. 78).

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seinem Erzähler-Aufsatz darauf berufen, dabei die im Roman bekundete „tiefe Ratlosigkeit des Lebenden“ (WB II.2, 443) aber stärker auf den Verlust von Erzählbarkeit und Erfahrungsvermittlung bezogen. Bloch wiederum bezieht sich auf Lukács’ Diagnose vom Verlust des „transzendentalen Wege[s]“26, um zu betonen, dass Don Quijotes Irrsinn vor dem Hintergrund der „Gottleere seiner Zeit“27 tiefsinniger ist, als es zunächst erscheint. Denn genaugenommen müsse man „zwei Sorten von Irrsinn“28 unterscheiden: Neben dem Irrsinn als bloße geistige Verfallserscheinung gebe es schließlich noch einen zweiten, „anzeigende[n] Irrsinn mit großem, geschichtsphilosophischem Hintergrund“, der relativ zu den Zeitumständen zu beurteilen sei. Diese zweite Form des Irrsinns lasse sich auch als ein „Geöffnetsein zu vollkommen neuen, dem bisherigen gesunden Leben völlig unzugänglichen Inhalten“ betrachten, das sich „auffallend formal und inhaltlich mit Philosophischem berühren“ könne.29 Denn an der „bodenlose[n] Wunschgeographie Quixotes“30 manifestiere sich nicht nur ein scheinhaftes Wahnsystem, sondern zugleich eine utopische Kraftquelle, an der sich die Gewissheit aufrichten könne, „daß dieses, was es gibt, nicht die Wahrheit sein kann, und daß es über der vorliegenden Tatsachenlogik noch eine verschollene und verschüttete Logik geben muß, in der erst die Wahrheit wohnt.“31 Damit verdichtet sich für Bloch aber gerade an dem Phänomen des Komischen der Grund dafür, warum die Figur Don Quijote ein „problematisch bedeutsame[r] Typus“32 genannt werden muss. Diese Bedeutsamkeit ergibt sich aus dem Doppelsinn des Komischen also solchem, der dem geschichtsphilosophischen Index des Irrsinns korrespondiert. Auf der einen Seite sei Don Quijote die „Karikatur eines phantasma bene fundatum“33: Die Unstimmigkeit zwischen seinen phantasmatischen Anschauungen bzw. Taten und der gesellschaftlichen Realität regt hier zum Lachen an. Bloch nennt das auch das „lieblose[…] Messungsvergnügen des Kontrastes zwischen Wollen und Können, der hier einen sich herrlich, heroisch gebärdenden Menschen 26 27 28 29 30 31

32 33

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 61. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 64. Ebd. Auch Gert Ueding betont Blochs Interesse für diese „utopische Energie“ des Don Quijote. (vgl. Gert Ueding, Utopie in dürftiger Zeit. Studien über Ernst Bloch, S. 96) Dabei macht Ueding zudem darauf aufmerksam, dass sich diese Perspektive noch bis in Das Prinzip Hoffnung fortschreibt, wo Bloch denselben Sachverhalt unter dem Begriff der „utopische[n] Wunschgestalt katexochen“ (ebd., S. 98) fasst. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 65. Ebd., S. 59.

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in der Blamage seiner Transzendenz […] zugrunde gehen läßt.“34 Auf diesen komischen Kontrast-Effekt kommt es Bloch allerdings weniger an, scheint sich doch in dem distanzierten Genuss an der Inkongruenz zwischen Wunsch und Weltzustand nur das Selbstverständnis derjenigen zu bestätigen, die sich mit dem Ist-Zustand der Welt abgefunden haben.35 Worauf Bloch stattdessen am Komischen der Figur Don Quijote insistiert, besteht in einem spezifischen ‚Kipp-Moment‘, das die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst mit in das Lachen einzubeziehen vermag und dadurch zugleich negiert.36 Statt von einem ‚Kippen‘ spricht Bloch allerdings – dem expressionistischen Ausdruckscharakter seines Utopieverständnisses entsprechend – von einem Punkt des ‚Hineinstrahlens‘ des Komischen in die gesellschaftlichen Verhältnisse, wodurch der ehemalige Blick auf die Unstimmigkeit der Wahnvorstellung Don Quijotes umschlägt und sich auf die Unfertigkeit, den grundlegenden Defekt der Welt richtet: „[…] das Humoristische kann an diesem Punkte in eine neue Komik hineinstrahlen, aber im ganz anderen Sinn, sofern nämlich das geschundene, verkannte Ich die Dinge und Menschen fühllos durch sich hindurch passieren läßt und dergestalt am Ende nicht mehr, wie in der Komödie, das Ich zur Welt, sondern die Welt zum Ich in die komische Spannung, in die Komik der sich in den Weg stellenden Wesenlosigkeit gerät. Irgendwann geschieht es, daß gerade

34 35

36

Ebd., S. 66. In Das Prinzip Hoffnung scheint Bloch diesem „Messungsvergnügen“ dann doch ein Erkenntnispotential abzugewinnen, wenn er betont, dass es „ohne bedeutendes Ziel und entsprechend klägliches Zurückbleiben […] keine komische Wirkung [gäbe].“ (Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In: ders.: Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd.  5. Frankfurt a. M. 1977, S. 1227f.) Gert Ueding sieht daher Blochs Interesse an Don Quijote auch in der „Erforschung jener historischen Stadien und natürlichen Vorgänge, in denen der Gleichklang von subjektivem und objektivem Faktor als totale Hoffnungsmanifestierung […] nicht gelungen ist. […] Zugespitzt kann man sagen, daß im besten Fall das utopische Bewußtsein in bisheriger Geschichte den Realitätsrang einer Donquichotterie erlangte, dann nämlich, wenn die Hoffnung als Prinzip (gerade als Prinzip) subjektiv unbedingt ergriffen, doch an den objektiven Verhältnissen zuschanden wurde. Noch pointierter gesagt: Don Quijote – das ist das Prinzip Hoffnung als equestrische Utopie in der Geschichte.“ (Gert Ueding, Utopie in dürftiger Zeit. Studien über Ernst Bloch, S. 102). Wolfgang Iser hat das Komische als ein solches „Kipp-Phänomen“ bestimmt, in dem beide Seiten der komischen Situation wechselseitig in einen Negationsstrudel geraten, was zu einer kommunikativen, intellektuellen, körperlichen Krisenerfahrung führt, die im Lachen gelöst wird. (vgl. Wolfgang Iser: Das Komische: Ein Kipp-Phänomene. In: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hg.): Das Komische. München 1976, S. 398-402.). Bloch scheint ein ähnliches Kipp-Phänomen im Blick zu haben, um es zugleich auf die geschichtsphilosophische Situation der Moderne und die Erkenntnis der noch nicht realisierten, aber stets latent vorhandenen Möglichkeiten der Utopie zu beziehen.

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Kapitel 9 um diesen belustigenden Helden das Lachen jäh verstummt, das Lachen der Verfolgung, aber nicht das Lachen der Freiheit […].“37

In diesem „Lachen der Freiheit“ erkennt der Leser einerseits zwar weiterhin, dass Don Quijotes Opfer und Leidenschaften gerade deshalb „fruchtlos“38 bleiben mussten, weil er keine Einsicht in die „geschichtsphilosophische[…] Situation der Umwelt und Überwelt“39, d.h. in den Verlust der „transzendentalen Bedingungen“40 mittelalterlicher Ritterabenteuer gewonnen hat. Andererseits stelle sich in diesem Lachen aber auch ein hoffnungsfrohes Vernehmen ein: „daß mithin das Träumen, das bedeutsame, zwar beantwortete, aber in nichts garantierte Leichtsein, das unbegreifliche sich Freuen an sich, – der Wahrheit und Realität […] näher steht als das Drückende, Belegbare, Unzweifelhafte der faktischen Umstände mit ihrer gesamten sinnlich realsten Brutalität.“41 In diesem Lachen könne „der bloße Wahn zur Ahnung“42 übergehen, die darin besteht, dass etwas an den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen selbst „nicht stimmt“43. An dieser Möglichkeit der Ahnung durch das befreiende Lachen liest Bloch dem Humor eine für den utopischen Gehalt der Ästhetik maßgebende Funktion ab. Dabei wird zugleich deutlich, dass diese Funktion des Humors als utopisches Energiereservoir einmal mehr auf die für den Geist der Utopie konstitutiven Unterscheidung von reiner Immanenz und transzendentaler Hoffnung hinausläuft, der Benjamin und Friedlaender gleichermaßen kritischdistanziert gegenüberstehen. Die von Friedlaender kritisierte „Metaphysik der Innerlichkeit“ (F/M 3, 609), die den profanen Leib im „Pathos […] apokalyptische[r] Attitude“ (ebd., 622) ausschließlich zum Schauplatz irdischen Leidens degradiere, erhält im Humor eine spezifische ästhetische Ausprägung. Denn was im Humor als befreiendes Lachen aufbricht, besteht bei Bloch letztlich in einem „Leichtmachen, Hinausheben“ der „unsterbliche[n] Seele“44 gegenüber dem „Nichts der gottleeren Welt“45. Die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz, in der Bloch das produktive Wechselverhältnis von Kunst, Humor und Utopie begründet sieht, entfaltet er dann zusätzlich 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 76. Ebd., S. 64. Ebd., S. 59. Ebd., S. 62. Ebd., S. 75f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 74.

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in einer längeren Reflexion über die Theorie des Dramas, die er in das Kapitel über den komischen Helden einschiebt und in der er eine intensive Auseinandersetzung mit Georg Lukács’ Tragödientheorie führt. Die Pointe dieser Ausführungen liegt darin, dass er die Bedeutung der geschichtsimmanenten Tragödie zuletzt und überraschenderweise wieder in den noch am tragischen Todeskampf ablesbaren Humor umschlagen lässt. Die Diskussion um den gegenwärtigen Stand der Tragödie und des Tragischen leitet Bloch mit einer ausführlichen Darlegung der Argumentation von Lukács’ Arbeit über die Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst aus dessen Essaysammlung Die Seele und die Formen (1911) ein, die Bloch bis zu einem bestimmten Punkt gelten lässt. Der Grund dafür, dass Bloch Lukács’ Tragödientheorie „mit Absicht und Verneigung ausführlicher dargestellt“46, liegt zweifelsohne in dem bereits oben angeführten Einverständnis mit der geschichtsphilosophischen Krisendiagnose von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“. Werner Jung hat die Gemeinsamkeiten zwischen dem jungen Bloch und dem jungen Lukács sehr pointiert zusammengefasst und dabei herausgestellt, dass ihre Wege sich trotz aller Gemeinsamkeiten dann aber gerade dort trennen, wo sie in der „Suche nach einer neuen transzendentalen Landkarte“47 jeweils unterschiedliche ästhetische Richtungen einschlagen. Diese Richtungen deuten auf „völlig unterschiedliche Ansichten über die Überwindungsmöglichkeiten und -formen“48 des geteilten modernen Krisenszenarios. Lukács’ Tragödientheorie von 1911 hebt mit dem Vorwurf an, dass gerade die lebensphilosophische Vorstellung von einem allgemeinen und produktiven Strömen, Fluten, Fließen des Lebens die individuellen menschlichen Beziehungen ‚erstarren‘49 lasse: „Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; alles wird zerstört und alles zerschlagen, nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben.“50 Und weiter: „Das Leben ist das Unwirklichste und Unlebendigste alles denkbaren Seins.“51 Gegen das Leben als „Anarchie des Helldunkels“52 setzt Lukács dann die strenge Form der echten Tragödie. Dieser Absage an einen emphatischen Begriff des Lebens, wie er um 1900 in unterschiedlichen kulturkritischen Projekten von 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., S. 69. Werner Jung: Bemerkungen zu den frühen ästhetischen Theorien von Bloch und Lukács. Bei Gelegenheit der Lektüre von Blochs Briefen an den Jugendfreund Georg Lukács. In: ders: Von der Utopie zur Ontologie. Zehn Studien zu Georg Lukács. Bielefeld 2001, S. 28-44, hier: S. 34. Ebd. Georg Lukács: Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays. Berlin 1911, S. 325-373, hier: S. 328. Ebd. Ebd., S. 329. Ebd., S. 328.

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Kapitel 9

Dilthey, Simmel oder Bergson zirkuliert, und der damit einhergehenden durchaus irritierenden Nobilitierung des neoklassizistischen Dramatikers Paul Ernst als Stellvertreter einer für die Moderne adäquaten Tragödie („die neuerstandene Tragédie classique“53), liegt zugleich eine metaphysisch orientierte Kritik sowohl an dem auf die konkreten gesellschaftlichen Lebensverhältnisse ausgerichteten Naturalismus als auch den avantgardistischen Gegenbewegungen zugrunde. Eine angemessene Begegnung mit den diagnostizierten Krisenerfahrungen der Moderne erkennt Lukács ausschließlich in der mystischen und der tragischen Lebensform („die Pole der Lebensmöglichkeiten“54), wobei er sich ganz auf die Tragödie konzentriert, da diese es vermag, der Geschichte einen Sinn abzuringen: „Der Kampf der Tragödie um die Geschichte ist ihr großer Eroberungskrieg gegen das Leben; der Versuch, ihren – dem gewöhnlichen Leben unnahbar fernen – Sinn in ihm zu finden, aus ihm herauszulesen, als seinen wirklichen verborgenen Sinn.“55

Dieser geschichtsphilosophische Sinn der Tragödie besteht für Lukács in der Konfrontation des Helden mit seinem Tod als die absolute Grenze des Lebens, an der er sein Schicksal erkennt. Die metaphysische Begründung der Notwendigkeit der Tragödie besteht dabei in der „Sehnsucht des Menschen nach seiner Selbstheit“56, der er in der Todeserfahrung habhaft wird: „Das Erleben der Grenze ist das zum Bewußtsein, zum Selbstbewußtsein Erwachen der Seele […].“57 Erst in dieser von Gott verlassenen, neuen Tragödie könne dann das Leben wirklich lebendig werden; erst die Tragödie gebe den chaotischen, orientierungslosen Lebensverhältnissen eine zureichende Form („Das Wunder der Tragödie ist ein Formschaffendes“58). Da dieser nicht mehr transzendental abgesicherte Tod als absolute Grenze aber eine streng immanente Lebenswirklichkeit sei, ist auch die Tragödie letztlich ganz auf das Diesseits ausgerichtet: „Das tragische Leben ist das am ausschließlichsten diesseitige aller Leben.“59 Bloch erkennt nicht nur Lukács’ einschlägige Krisendiagnose an. Indem er aus ihr zugleich das tragische Potential einer „Enthüllung des nur noch im 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., S. 351. Ebd., S. 345. Ebd., S. 359. Ebd., S. 348. Ebd., S. 346. Ebd., S. 343. Ebd., S. 345.

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Menschen lebendigen, schlafenden Gottes“60 herausliest, greift er zugleich die in Aussicht gestellte Möglichkeit der Tragödie als Hoffnung auf ihre Wiedergeburt in der Gegenwart auf. Im unmittelbaren Anschluss kritisiert Bloch an Lukács Tragödientheorie dann aber, dass diese sich etwa mit der Loslösung von der Tradition antiker Tragödien – Bloch nennt hier nur die aristotelische Dramentheorie – zugleich auch „aller transzendierend metaphysischen Gedankenformen“61 beraubt habe. Die relative Geltung der Tragödie, die Bloch anerkennt, schlägt hier um in die Kritik am Mangel einer transzendentalen Fluchtlinie. Um diese Kritik zu begründen, greift Bloch zu einer bemerkenswerten doppelten Argumentation. Zunächst und erstens bringt der Philosoph des transzendentalen Hoffenkönnens gegen die „Lukácssche[…] Definition von formal-ethischer Immanenz des Tragischen“62 selbst ausgerechnet die Geltung der Immanenz als „real mitspielenden Hintergrund“63 für die Tragödie in Anschlag. Wo Lukács nur „nackte Seelen […] mit nackten Schicksalen einsame Zwiesprache“64 unter Absehung aller konkreten gesellschaftlichen Lebensverhältnisse halten lässt, bestehe die tragische Konstitution des modernen Menschen, so Bloch weiter, doch gerade in seinem Kampf mit dem „Schlammartige[n], Gallertige[n], Unberechenbare[n], beliebig Steckenbleibende[n], falsch Komplizierte[n], launisch, bösartig Fortunahafte[n] und Intermittierende[n] des äußeren Kausalnexus“65, den es auf der Bühne ebenso deutlich zur Darstellung zu bringen gelte. Nicht aber als bloße „Ichbegegnung“, sondern als transzendental zu überwindende „Hemmnisbegegnung“66. Der Lukács’schen Formmetaphysik stellt Bloch also eine Öffnung der Tragödie für diejenigen modernen chaotischen Lebensverhältnisse entgegen, die Lukács unbedingt auszuschließen versucht. Werner Jung hat gezeigt, dass sich diese 60

61 62 63 64 65 66

Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 69. Bloch rekurriert hier auf eine Stelle in Lukács’ Essay, an der es heißt: „Gott muß die Bühne verlassen, doch Zuschauer muß er noch bleiben: das ist die historische Möglichkeit der tragischen Zeitalter. Und weil die Natur und das Schicksal nie so schreckenhaft seelenlos waren wie heute, weil nie die Seelen der Menschen so allein ihre verlassenen Wege betraten, darum können wir wieder eine Tragödie erhoffen; wenn alle schwankenden Schatten einer uns freundlichen Ordnung, die unsere feigen Träume zur eigenen, erlogenen Sicherheit in die Natur hineingeworfen haben, aus ihr völlig entschwunden sind. ‚Erst wenn wir ganz gottlos geworden sind,‘ sagt Paul Ernst, ‚werden wir wieder eine Tragödie haben.‘“ (Georg Lukács, Metaphysik der Tragödie, S. 331f.). Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 69. Ebd., S. 70f. Ebd., S. 74. Ebd., S. 68f. Vgl. auch Georg Lukács, Metaphysik der Tragödie, S. 333. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 74. Ebd., S. 71.

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grundverschiedenen Perspektiven auf die Tragödie insbesondere an den entgegengesetzten Stellungen zu dem Drama Strindbergs ablesen lassen.67 Gerade an dieser Forderung einer konkreten statt nur formalen Immanenz der Tragödie schlägt Blochs Argumentation aber um und überholt sich gewissermaßen selbst. Denn Bloch zielt mit seinem Einwand gegenüber Lukács keineswegs auf die lebensimmanente Überwindung der Hemmnisse, sondern auf eine Hinführung zur letzten, wirklichen „r e a l e n , a b s o l u t e n Ichbegegnung“68, die über die Immanenz des Lebens hinausweisen soll. Wo es Lukács um die diesseitige Ichbegegnung als „Weihe des Zum-Schicksalerhoben-seins“69 geht, in der nicht notwendigerweise gestorben werden muss, sondern das Erleben des Todes als eine absolute Grenze zur Erfahrung der eigenen seelischen Begrenztheit führen kann, insistiert Bloch auf das tatsächliche „Sterbenmüssen der echten Tragödie“70. Dass Blochs detaillierte Nachzeichnung von Lukács’ Essay über die Tragödie auf diesen Gegensatz zuläuft, zeigen bereits die ersten Sätze, mit denen er seine dramentheoretischen Überlegungen einleitet: „Aber, so könnte man fragen, wird denn der ernste Held jedesmal zerissen? Oder, anders gesprochen, ist es denn wesentlich zum Ernstwerden, daß er sichtbar zerissen wird? Ja, es ist wesentlich. Einige sagen zwar nein. Sie leugnen das Blutenmüssen. Auch Lukács schließt sich dem in gewisser Weise an. Wir stehen anders, uns ist der Held der Blutende und erst in ganz anderem Sinn der Vollendete, der bedingt Vollendete. Es ist ein bitteres Spiel, das Tragische.“71

Nachdem Bloch die Grundzüge der Lukács’schen Tragödientheorie referiert hat, kommt er nochmals auf diesen Todesernst zurück und stellt erneut in 67

68 69 70 71

Da bei Strindberg die gesellschaftlichen „Verhältnisse über die bloß noch regierenden Personen“ herrschen, habe Lukács eine ablehnende Haltung zu dessen Dramen einnehmen müssen. (Werner Jung, Bemerkungen zu den frühen ästhetischen Theorien von Bloch und Lukács, S. 38) Denn Lukács insistiere darauf, dass immer ein heroischer, „erhabener-subjektiver Rest übrig“ (ebd., S. 37) bleibe als Repräsentation eines konkreten Humanen. Bloch hingegen beziehe sich auf Strindberg, weil bei diesem diejenigen Verhältnisse auf „expressionistischen, rein ausdruckshaft gegenständlichen Weg“ (Ernst Bloch, Geist der Utopie, S., 72) zur Darstellung kommen, die es zu überwinden gelte. (vgl. Werner Jung, Bemerkungen zu den frühen ästhetischen Theorien von Bloch und Lukács, S.  41). Auf eine Formel gebracht könnte man demnach die tragödientheoretischen Differenzen zwischen Lukács und Bloch als Gegensatz zwischen Form und Ausdruck beschreiben. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 71. Georg Lukács, Metaphysik der Tragödie, S. 344. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 75. Ebd., S. 67.

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deutlichem Kontrast zu Lukács fest: „Der Mensch kann nicht diesseitig zu Ende leben, wenn anders die Bühne ein Ernstfall ist.“72 Nur der letzte, „tragische[…] Kampf“73 eröffnet bei Bloch den Horizont für die wirklichen „transzendenten Fragestellungen“74, die nicht immanent, durch Einstimmung des tragischen Helden in sein Schicksal gelöst werden können. Diese Fragen deuten auf die Notwendigkeit einer sprunghaften Überwindung des „immanente[n] Weg[es]“75, die Bloch in seinen ästhetischen Reflexionen anzuzeigen versucht. An diesem tragischen Ernstfall schlägt Blochs Argumentation aber nochmals um und führt ihn zurück auf die utopische Bedeutung des Humors. Das kündigt sich bereits in der Vorstellung an, wonach gerade am tragischen Tod die Hoffnung reifen könne, dass der „zerschmetterte[…] Heroe[…] […] irgendwann einmal gegen Zeus triumphieren wird“76. Diese letzte Hoffnung des Triumphes als ein Hinausgelangen aus der Immanenz der Verhältnisse, die sich für Bloch am zu Ende gehenden Leben, am „untergehenden Menschen“77 verdichtet, ist für ihn überraschenderweise selbst nicht mehr Teil der Tragödie. Wenn in der Kunst die Möglichkeit einer transzendentalen Rettung zum Vorschein kommen könne, manifestiere sich das letztlich nicht im tragischen Kampf als solchem, sondern an einer „höchst bedeutsame[n] ironische[n] Spur“, die sich „von unten heraufschmiegte“78. Sie besteht in der reinen Möglichkeit des Humors als solchem inmitten der trostlosen Verhältnisse: „Daß er möglich ist, der Humor, bedeutet nicht, unter Tränen zu lächeln, in dem Sinn, daß man, jederzeit aufs Neue in Träumen eingesperrt, sein Leben glücklich und vornehm führen könne, indes der Grund der Welt unverändert, real traurig sei. Sondern sein Leichtmachen, Hinausheben bedeutet gerade – und hier blitzt ein feiner, rätselhafter Lichtstrahl, ein nur von innen genährtes, unerklärliches, in nichts gestütztes, mystisches Wissen ins Leben herein –, daß darin etwas nicht stimmt, daß die Tränen nicht ganz ernst zu nehmen sind gegen unsere unsterbliche Seele, so entsetzlich real sie auch mitsamt dem Weltgrund erscheinen mögen, dem sie entstammen […].“79

Die Möglichkeit des Humors scheint nicht nur, wie Blochs Aufzählung zunächst suggeriert, vom einfachen Witz über den humoristischen Roman 72 73 74 75 76 77 78 79

Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Ebd., S. 70. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd. Ebd.

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und der Komödie zum „große[n] komische[n] Roman“80 zu führen, sondern als „Spur“ eines anderen Wissens auch noch am Ende des tragischen Untergangs des Lebens wirksam zu werden. An der komischen Figur Don Quijote lasse sich belegen, dass „das scheinbar so völlig illusionshafte Hoffenkönnen“81 bedeutsamer und realer ist als jedes tragische Zugrundegehen. Daher stehe der komische Held Don Quijote letztlich auch „dem Erhabensten näher als der tragische, der untergehende Heros mit dem Leiden des allzu ernst Genommenhabens von Welt“82. Als „schöpferischer und realitätszersetzender Pragmatismus des Seelenhaften“83 wird der Humor zum Statthalter einer Utopie dessen, was in der Immanenz der tragischen Verhältnisse nicht realisiert werden kann. Im Humor bewegt sich die Seele „auf der wirklich unwirklichen, verdichtet, utopisch wirklichen Ebene des von uns als wesenhaft Gesehen überhaupt.“84 In dem aus allen tragischen Verhältnissen herauslösenden Lachen bezeugt der Humor damit bei Bloch die höchste Funktion des Ästhetischen: Hinzuweisen auf die Möglichkeit der Erlösung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich an den Ausführungen zum komischen Helden Don Quijote im Geist der Utopie bereits Elemente einer ästhetischen Theorie ankündigen, die Bloch in seinen späteren Werken dann systematisch entfalten wird: die Ästhetik als Vor-Scheinen des Utopischen.85 In dem langen Kapitel über die Philosophie der Musik wird Bloch dann noch deutlichere Hinweise darauf geben, dass bereits sein expressionistisches Frühwerk auf eine solche Vorschein-Ästhetik zuläuft, indem er zweimal die Metapher des Fensters benutzt, um sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetisch den utopischen Gehalt der Kunst hervorzuheben. Erstens heißt es zur Rezeption der Musik: „Es kommt darauf an, einen Punkt zu finden, von dem aus ein Blick auf die gleichsam in den Fenstern des Werkes liegenden utopischen Bedeutungsländern zu werfen ist.“86 Und zur ästhetischen Produktion der Künstlers heißt es zweitens etwas ausführlicher:

80 81 82 83 84 85

86

Ebd., S. 74 Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 77. Der Begriff des Vorscheins selbst taucht nur an zwei Stellen und in einem anderen Zusammenhang auf. (vgl. ebd., S. 250 und S. 280) Für die Bedeutung des Scheins vgl. aber exemplarisch die hier nicht näher zu verfolgenden musiktheoretischen Überlegungen zur transzendenten Oper als „Schein“ des „Sinnhafte[n]“. (Ebd., S. 167). Ebd., S. 184.

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„Nur bleibt, abschließend zu sagen, der Künstler, auch der, welcher künstlerisch am Ausbrechendsten ein Predigender, ein Erkennender, ein Inhaltlicher sein will, stets im Diesseits steht. Es sind aufregende, aber vorerst nur gemalte, nur in sich selbst gefärbte Fensterscheiben, diese Wachträume besser gewollter Welt; und solches ist das Kriterium der ästhetischen Erhellung, auf ihre letzten Kategorien hin angesehen […].“87

Diese „letzten Kategorien“, das macht Bloch unmittelbar im Anschluss deutlich, markieren aber zugleich auch die Grenzen dieser Wachträume: „[…] wie könnten die Dinge vollendet werden, ohne daß sie apokalyptisch aufhören; wie könnte jedes Ding und jeder Mensch an seine oberste Grenze, dem Sprung entgegen, getrieben werden, dargestellt, das heißt immer noch, wenn auch mit expressionistischer Abkürzung und Direktheit, gespiegelt doch, was darüber das Wichtigste ist, vollkommen erleuchtet, solange das innere-obere Licht noch verborgen ist und der Sprung seiner ganz anders verwandelnden Einsetzung des Herzens Jesu in die Dinge, die Menschen und die Welt noch aussteht.“88

Eine ‚vollkommene Erleuchtung‘ eigne den ästhetischen Wachträumen also in keinem Falle; weder antizipieren sie die Utopie restlos, noch können sie diese ersetzen. Ihre Funktion sowohl in rezeptions- als auch in produktionsästhetischer Hinsicht besteht vielmehr in einem nicht mehr am reinen Wohlgefallen oder am Genuss orientierten ‚aisthetischen Eingestelltsein‘89, das mit der das Utopische vorscheinen lassenden Möglichkeit des Kunstwerkes korrespondiert. Diese spezifische Form des ästhetischen Scheins unterscheidet Bloch an anderer Stelle sehr deutlich vom bloßen, trügerischen oder vertröstenden Schein.90 Eine solche Unterscheidung des wirklichen 87 88 89

90

Ebd., S. 183. Ebd. „Es handelt sich dabei durchaus nicht um die objektiven oder auch normativen Bedingungen des ästhetischen ‚Gefallens‘, das die unwichtigste Sache von der Welt ist, sofern allein schon der Begriff ‚Aisthesis‘ nicht gefühlsbetonte Empfindung, sondern durchaus dasselbe wie Wahrnehmung, adäquate Erfüllung bedeutet.“ (Ebd., S. 182). „Was hier aber mit den feurigen Armen des sich nach Hause Wünschens emporgehoben wird, ist keine zurechtgestellte Lüge des wie immer erfreulichen Scheins, der eben als Schein unter der Wahrheit zu stehen hat. Es ist jedoch ebensowenig, womit zwar der Schein zu einem gewissen vertröstenden und irreführenden Widerschein umgewertet wird, die Versprechung zu irgend einer menschenleeren Hinterwelt, zu irgend einem sinnlichen Reflex der seit alters als menschenfrei gedachten, allgemeinen Idee, sei sie als Nus, als Pneuma oder auch als Wille zum Leben, als kontemplativ begonnenes Nirvana fixiert.“ (Ebd., S. 226).

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vom trügerischen Schein erinnert an Hegels Nobilitierung des schönen Scheins gegenüber den Täuschungen der bloß empirischen, unmittelbaren Erscheinungen der Dingwelt. Anders jedoch als Hegel, der das Schöne zwar einerseits als „das sinnliche Scheinen der Idee“91 hervorhebt, andererseits die philosophische Bedeutung dieses Scheinens für die Entwicklungsgeschichte des Begreifens aber unter dem Diktum vom Ende der Kunst mit der Romantik auslaufen lässt, beansprucht Bloch auch in der Gegenwart noch eine kritische Relevanz des ästhetischen Scheins.92 Dabei erkennt allerdings auch Bloch im Schein ein geschichtliches Durchgangsstadium, seien doch die ästhetischen Gebilde „als bloße befestigte Unterwegs zu betrachten und so lange als bloße vestigia anabaseos zu verfolgen, bis sie mit dem Reigen der geschichtsphilosophischen Sternbilder, ja des ganzen Weltprozesses erscheinen.“93 Das Ende der Kunst steht hier gewissermaßen noch aus. Im Gegensatz zu Hegel bestimmt Bloch dieses Durchgangsstadium aber nicht rein geschichtsimmanent. Vielmehr garantiere der ästhetische Schein gegenüber der bloß scheinhaften Faktizität der gesellschaftlichen Verhältnisse immer erneut das „Vernehmen“94 einer latent wirksamen „andere[n] Wahrheit“95. Die Pointe scheint hier darin zu bestehen, dass das Ende der Kunst in der Kunst selbst als Hoffenkönnen zur Erscheinung kommt. Der höchste Ausdruck dieses Vernehmens als ästhetischer Schein realisiert sich im Geist der Utopie an der Musik. Dadurch stehen Blochs Reflexionen über den ästhetischen Schein aber zugleich in einer gewissen Spannung zur Dominanz des Visuellen in der Tradition des Scheins. Statt eines „Hellsehen[s]“96 und im Gegensatz zum bisherigen „Primat des Schauens“97, dem in der Doppelung aus Leuchten/Glänzen und Sichtbarwerden/SichZeigen traditionell eine komplexe Lichtmetaphorik eignet,98 insistiert Bloch auf ein „Hellhören“99, in dem das Licht des Scheins eine neue „Zuflucht“100 91

Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 1. In: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 151. 92 Für eine differenzierte Perspektive zu diesem „Gerücht“ vom Ende der Kunst vgl. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a. M. 2002. 93 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 184f. 94 Ebd., S. 227. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 233. 97 Ebd., S. 234. 98 Zur Wortbedeutung von Schein und seinem doppelten Ursprung in ‚lucere‘ und ‚apparere‘ vgl. Josef Früchtl: ‚Schein‘. In: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, hg. v. Karlheinz Barck (u.a.). Stuttgart 2010, S. 365-390, hier: S. 367. 99 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 233. 100 Ebd.

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gefunden habe. Dass Bloch seine „Ethik und Metaphysik der Innerlichkeit, die die Rettung und letzte Heimlichkeit der Welt sein wird“101, insbesondere von diesem musikalischen „Hellhören“ her bestimmt, ist ganz im Sinne der expressionistischen „Dominanz des Akustischen“ zu verstehen, „der man Blochs Arbeit zurechnen kann […].“102 Von diesem akustischen Vernehmen könne, so resümiert Bloch seine Philosophie der Musik, „allein noch der Schein kommen […], der das Wirrsal, die unfruchtbare Macht des bloßen Seienden, das rohe, verfolgungssüchtige Tappen der demiurgischen Blindheit, wenn nicht gar den Sarg des gottverlassenen Seins selber zuschanden zu machen und auseinander zu sprengen hat […].“103 Neben der grundsätzlichen Betonung von Kunst und Ästhetik als „Integral der blochschen Philosophie“104 wurde insbesondere diese zentrale Bedeutung der Ästhetik des Vorscheins für Blochs Philosophie der Utopie bereits an mehreren Stellen ausdrücklich hervorgehoben. Horst Hansen betont die ästhetische Antizipation dessen, was in der Realität noch nicht verwirklicht wurde.105 Inge Münz-Koen beschreibt die Utopie bei Bloch als „Verweishintergrund des Ästhetischen, der sich gleichermaßen im schönen wie im trügerischen Schein manifestieren kann“106 und wodurch dann Kunst zu einem „Zeichenvorrat“ werde, „der das verborgene Utopische zugleich verhüllt und erhellt.“107 Gert Ueding wiederum hat schon sehr früh betont, dass Blochs „Ästhetik des Vorscheins den philosophischen Gedanken ganz in sich aufnimmt und in sich darstellt.“108 Die Utopie als Vor-Schein bezeuge dabei nicht weniger als das „Noch-Nicht-Realisierte, das Offene, Fragmentarische, das Noch-Nicht des natürlichen und gesellschaftlichen Seins.“109 Aber auch die zeitgenössische Rezeption hat diese prominente Stellung der Ästhetik in Blochs Philosophie der Utopie bereits registriert. Dabei rief Blochs ästhetische Utopievorstellung nicht nur Kritik bei seinen Gegnern hervor, sondern 101 Ebd. 102 Andreas Käuser: Schreiben über Musik. Studien zum anthropologischen und musiktheoretischen Diskurs sowie zur literarischen Gattungstheorie. München 1999, S. 120. 103 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 234. 104 Werner Jung: ‚Vor-Schein‘. In: Beate Dietschy/Doris Zeilinger/Rainer  E.  Zimmermann (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin/Boston 2012, S. 664-672, hier: S. 666. Vgl. hierzu auch Francesca Vidal: ‚Ästhetik‘. In: ebd., S. 13-38. 105 Vgl. Hors Hansen: Willensmetaphysik und Weltanschauung im Denken von Ernst Bloch. Berlin 1992, S. 43. 106 Inge Münz-Koen: Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität des Utopischen bei Bloch, Adorno, Habermas. Berlin 1997, S. 35. 107 Ebd., S. 37. 108 Gert Ueding: Blochs Ästhetik des Vor-Scheins. In: Ernst Bloch: Ästhetik des Vor-Scheins, Bd. 1, hg. v. Gert Ueding. Frankfurt a. M. 1974, S. 7-27, hier: S. 7. 109 Ebd., S. 8.

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machte sich auch bei denjenigen bemerkbar, die ihm durchaus nahestanden bzw. vergleichbare gesellschaftskritische Projekte anstrebten. So hebt Karl Mannheim in seiner Rezension von 1919 einerseits lobend hervor, dass Bloch die „Bedeutung“ metaphysischer Fragestellungen „gegenüber der heutigen Philosophie wieder lebendig“ gemacht habe.110 Andererseits betont er aber, es mangle diesem „schwer zugänglichen, esoterischen, in der deformierten Sprache der dekadenten Mystik unserer Zeit geschrieben Buch“111 gerade dadurch an notwendiger systematischer Durcharbeitung, dass Bloch die logische Argumentationsführung dem „Stil[…] und der ästhetischen Symmetrien“112 opfere. Unmissverständlich ist daher auch Mannheims Urteil zu dem expressionistischen Pathos des Buches: „Seine religiöse Intention erstickt im Ästhetizismus […].“113 Es wurde bereits weiter oben gezeigt, dass auch Benjamins und Friedlaenders erkenntnistheoretischen Einsprüche gegen das Buch von der Kritik am expressionistischen Ton anheben. Wenn Siegfried Kracauer, der zeitlebens eine zwar wohlwollende, aber dennoch kritische Distanz gegenüber Blochs Utopie-Buch einnahm, noch in einem Brief an Bloch anlässlich dessen 80. Geburtstags schreibt, dass Bloch im Gegensatz zu anderen Denkern der Utopie, die nur mit dem Begriff operieren, „tatsächlich das Land Orplid ferne leuchten“114 sehe, dann lässt sich in diesem Rekurs auf Blochs Annahme, dass „das Künstlerische wieder als eine versetzte seherische Begabung erscheinen“115 werde, zumindest eine implizite Ambivalenz in der Stellung zur Ästhetik des Vorscheinens kaum überhören. Wie bereits weiter oben angeführt, liegt es nahe, Benjamins Vorhaben, sich in seiner gleichermaßen ästhetischen und (technik)philosophischen Analyse des Lesabéndio von Paul Scheerbart vermittelt über Friedlaenders BlochRezension auch mit Blochs Geist der Utopie auseinandersetzten zu wollen, als eine ästhetische Debatte um die Funktion der Kunst im Spannungsfeld aus Humor, Technik und Utopie in den Blick zu nehmen. Vor dem Hintergrund der nun ausführlich offengelegten zentralen Bedeutung des ästhetischen Scheins im Geist der Utopie gewinnt diese Annahme an zusätzlicher Plausibilität, ist doch Benjamins kritische Reflexion über den ästhetischen Schein ein zentraler Gegenstand seiner ästhetischen Kommentierungs- und Theoriearbeit im 110 Karl Mannheim: Ernst Bloch: Geist der Utopie. In: Éva Karádi/Erzsébet Vezér (Hg.): Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis. Frankfurt a. M. 1985, S. 254-259, hier: S. 255. 111 Ebd., S. 254. 112 Ebd., S. 257. 113 Ebd. 114 Siegfried Kracauer: Brief an Ernst Bloch zum 80. Geburtstag (8. Juli 1965). In: Ernst Bloch: Briefe 1903-1975, Bd. 1, hg. v. Karola Bloch u.a. Frankfurt a. M. 1985, S. 399-403, hier: S. 401. 115 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 182.

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Spannungsfeld von Politik, Erkenntnistheorie und Ästhetik bereits von seinen früheren Aufzeichnungen zur Phantasie bis hin zur Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften. Benjamins Auseinandersetzung mit den konkreten politischen Ideen oder den theologischen Motiven im Geist der Utopie liegt zuallererst eine ästhetische Debatte über den Schein zugrunde, die sich an der utopischen Funktion des Humors entzündet. 9.3

„Auflösung in nichts“ und „Humor der Extreme“: Friedlaenders Humorkonzeption zwischen Kant und Scheerbart

In der Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen der utopischen Funktion des Humors verdichten sich Benjamins und Friedlaenders kritische Auseinandersetzung mit dem Geist der Utopie. Denn erst die Bestimmung des Humors als Indikator einer im Ästhetischen vorscheinenden Möglichkeit der Utopie scheint den Grund dafür abzugeben, warum Friedlaender dem Geist der Utopie Humorlosigkeit attestiert. Oder anders gesagt: Nicht obwohl, sondern gerade weil Bloch sich auch intensiv mit dem Humor beschäftigt, hält Friedlaender dem Buch einen Mangel an Humor vor. Auch Benjamins Einlassung am Ende seiner ersten Lesabéndio-Kritik, wonach die Kunst erstens nicht das Forum der Utopie sei, zweitens ein ästhetisches Urteil über den Roman durch den Humor gefällt werden kann, das drittens auf die Unterscheidung zwischen Sprechen und Zeugen abzielt, ist als kritische Antwort auf Blochs unter anderem an dem komischen Helden Don Quijote entwickelter ‚Vorschein-Ästhetik‘ lesbar. Zunächst soll Friedlaenders kritische Auseinandersetzung mit Blochs Humorkonzeption in den Blick genommen werden. Friedlaender setzt in seiner Rezension mit der Humor-Kritik dort an, wo er vorschlägt, dass „man dem Autor wohlwollend zu Hilfe kommen“ könnte, indem man „seinen utopischen Geist von seinem christlichen Buchstaben vielleicht zu befreien“ (F/M 3, 616) versuche. Denn, so Friedlaender weiter, das „Trefflichste seines Werkes scheint uns genügend damit ausgezeichnet, daß man sich bemüht, diesen energischen Irrtum [der christlichen Perspektive, K.D.] noch energischer zu berichtigen.“ (Ebd., 616f.) Diese ‚Berichtigung‘ mündet, wie bereits im Kapitel  7 gesehen, in dem Vorschlag, „nüchtern und profan“ (ebd., 621) zu werden und den „Anti-Bloch“ (ebd.) zu schreiben. Dieser „AntiBloch“ würde darin bestehen, die Utopie nicht mehr ins Jenseits zu projizieren, sondern im Diesseits auszuspielen: „Sie schlagen auf rechtem Weg die falsche Richtung ein: es geht aus dem Nichts in die Welt, nicht aus der Welt ins Jenseits.“ (Ebd.) Dieser ‚Weg vom Nichts in die Welt‘ wurde bereits als Konzept eines medialen Nihilismus dargestellt, mit dem Friedlaender die einseitige

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Perspektive auf das Jenseits zugunsten einer polaren Spannung zwischen Diesseits und Jenseits ersetzt. Friedlaender kommt auf diese Denkfigur des Weges vom Nichts in die Welt aber bereits vorher schon einmal zu sprechen, wobei deutlich wird, dass er in der Kritik an der Humorlosigkeit von Blochs Buch zugleich einen Gegenvorschlag vorträgt, der zum einen auf Scheerbart und zum anderen auf seine eigene Konzeption eines polaren Humors verweist. Die entsprechende Passage lautet: „Der Weg zum Himmel ist in Wahrheit der Weg zum Garnichts. Und hier verdient alles Christentum nur den Fluch der Lächerlichkeit – etwa nach der Definition Kants, wonach das Lächerliche in der Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts besteht […].“ (Ebd., 619)

Nachdem Friedlaender Bloch darauf aufmerksam macht, dass das „glücklichste Leben“ (ebd.) sich am Diesseits auszurichten habe – eine Perspektive, von der wir gesehen haben, dass sie deutliche Parallelen zu Benjamins Ausrichtung der profanen Politik am Glück aufweist – führt Friedlaender also seine Kritik an Blochs ‚Diesseitsflucht‘ weiter aus, indem er offensichtlich auf den  § 54 aus Kants Kritik der Urteilskraft, der den Titel Anmerkungen trägt, rekurriert. Es handelt sich dabei um den abschließenden Paragraphen einer sich über 25 Paragraphen erstreckenden Deduktion der reinen ästhetischen Urteile, in der Kant zunächst die bereits vorher ausgefaltete Idee, wonach ästhetische Urteile über schöne Gegenstände Allgemeingültigkeit beanspruchen können, deduktiv begründet, um sich daran anschließend dann über mehrere Paragraphen mit zeitgenössischen Debatten über die Einteilungen und die Systematik der Künste zu verständigen. In  § 54 rekapituliert Kant zunächst nochmal die grundlegende Differenz von Wohlgefallen durch Beurteilung und „dem, was vergnügt (in der Empfindung gefällt)“116. Nachdem er einige Reflexionen über die Musik anstellt, kommt Kant auf den Scherz zu sprechen, dessen ästhetisches Spiel bei einem Gedanken anhebt, der sich zugleich sinnlich ausdrückt und den Verstand zum Nachdenken anregt. In der Erzählung eines Witzes etwa sucht der Verstand eine innere Logik, die er in der Auflösung nicht findet, was aber kein Missvergnügen erzeugt, sondern zum Lachen führt: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“117 Weiter heißt es: „unsere Erwartung war gespannt und verschwindet plötzlich in nichts.“118 Zwischen Körper und Gemüt entsteht hier dadurch eine Wechselwirkung, dass zwei Reaktionen im Kontrast zueinander 116 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 270 [B 222]. 117 Ebd., 273 [B 225]. 118 Ebd., S. 273f. [B226].

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treten: Dem Verstand ist die Auflösung der ‚Erwartung in nichts‘ „gewiß nicht erfreulich“119, das Gemüt erfreut sich an der Auflösung hingegen „einen Augenblick sehr lebhaft“120. In diesem mit der Verwandlung einer Erwartung in das Nichts seiner Auflösung einhergehenden Kontrasteffekt entsteht eine Lust, die sich auf die Gesundheit des Körpers auswirke. Das weist zurück auf den Beginn des Paragraphen, wo Kant auf Epikur rekurriert und dessen Vorstellung aufruft, wonach es Vergnügungen gebe, die rein körperlich wirken und „einem Gefühl der Beförderung des gesamten Lebens des Menschen“121 dienen. Friedlaenders Rekurs auf Kant an einer zentralen Stelle seiner Bloch-Kritik ist einer kritisch-konstruktiven Doppelstrategie verpflichtet, die er in Kants eher harmlose Kontrastdefinition hineintransportiert. Denn es ist anzunehmen, dass Friedlaender aus zwei Gründen auf Kants Überlegungen zur ‚diätetischen Funktion‘ des Scherzes rekurriert. Zum einen spezifiziert er in diesem Verweis seine grundsätzliche Kritik an Bloch dadurch, dass er sie hier als Auseinandersetzung mit Blochs Humor-Konzeption und darüber hinaus mit der ästhetischen Funktionalisierung der Kunst insgesamt vorträgt. Zum anderen ist darin auch ein konstruktives Gegenkonzept zum Geist der Utopie angedeutet, das auf seine eigene Humor-Konzeption und auf seine Deutung des Scheerbart’schen Humors verweist. Diese beiden Strategien sollen nachfolgend näher ausgefaltet werden. Erstens zur kritischen Dimension: Kants Ausführungen zur Beförderung der Gesundheit scheint Friedlaender hier unmittelbar gegen die „Leibverneinung“ (F/M 3, 618) anzuführen, die er Blochs Buch immer wieder vorwirft. Da Blochs Philosophie der Utopie an der eignen Leibvorstellung kranke, so könnte man Friedlaenders Argument mit Kant pointieren, biete der Humor die Gelegenheit, ein „Gleichgewicht der Lebenskräfte im Körper“122 herzustellen. Am Lachen soll der Leib gesunden. Diese am Leib orientierte HumorKonzeption steht in deutlichem Kontrast zur Funktion der Ästhetik bei Bloch als einer „Übergangsstelle zum noch nicht Bewußten“123, das wiederum den Weg zur Überschreitung der Immanenz anzeigt. Wie bereits ausführlich dargelegt, ist der inmitten der historischen Weltlage stehende Leib bei Bloch nur das anzeigende Symptom einer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács) des Menschen. Zur Verbildlichung dieser Situation ruft Bloch gleich an mehreren Stellen seines Buches das Motiv der Nacktheit auf: Der „nackt[e] 119 120 121 122 123

Ebd., S. 273 [B 225]. Ebd. Ebd., S. 270 [B 222]. Ebd., S. 273 [B 226]. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 215.

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und frierend[e]“124, den geschichtlichen Kräften ausgelieferte Mensch müsse zwischen seinem „Ich und dem schweigenden, und verlassenden, vor seiner Verwandlung zum heiligen Geist zögernden Gott“125 eine neue Verbindung herstellen, die über die Unantastbarkeit der Seele, nicht über den Leib verläuft. Denn nur die „Unabhängigkeit der Seele vom Leib“126 garantiert hier die utopische Möglichkeit einer „Wiederherstellung des Großen Menschen aus dem Labyrinth der Welt.“127 Und an anderer Stelle heißt es, der Leib sei nur Ausdruck „unser[es] häßliche[n], geschwürübersäte[n] Ich[s]“128, den es zu betrachten gilt, wie er ist, nämlich „nackt“129. Erst im letzten, messianischapokalyptischen Ereignis könne es dann eine wirkliche Perspektive auf „Genesung[…]“130 geben. Friedlaenders Rekurs auf Kants Überlegungen zur Gesundung durch das Lachen, die sich durch Ent-spannung einer ‚Erwartung in nichts‘ vollzieht, scheint unmittelbar gegen diese Vorstellung einer ‚apokalyptischen Genesung‘ gerichtet zu sein. Diese Gesundung zielt nicht wie bei Bloch auf utopische „Erfüllung“131 oder Aufbau („Der Wunsch baut auf und schafft Wirkliches.“132), sondern vollzieht sich in der Auflösung, die auf den zweiten Aspekt in Friedlaenders Kant-Rekurs hinweist. Zweitens zur konstruktiven Dimension: In dieser mit Kant vorgetragenen Kritik an Bloch scheint zugleich ein Nexus aus Humor und Gesundheit fortzuwirken, den Friedlaender früher bereits in seinen Scheerbart-Interpretationen vorträgt, als er der „Scheerbartschen Heiterkeit“ (F/M 2, 377) eine ästhetische

124 125 126 127 128 129 130

Ebd., S. 423. Ebd., S. 230. Ebd., S. 227. Ebd. Ebd., S. 348. Ebd. Ebd., S. 439. Bloch ruft hier erneut das Motiv der Nacktheit des Menschen auf: „[…] dann stehen wir nackt vor Gott, halb, lau, unklar und doch ‚vollendet‘, im Sinn der tragischen Situation vollendet, wenngleich aus ganz anderen Wünschen, Zusammenhängen und Zeitmaßen zerschlagen als aus denen unseres Werks und seiner dem Satan mühevoll abgerungenen Zeit; vielmehr jetzt herrscht Satans apokalyptischer Zeitpunkt, und nichts fällt bei diesem verfrühten, satanisch beliebigen, aber unwiderruflichen Werkschluß vor Gott ins Gewicht als die Fülle unseres erlangten Reinseins und Gerüstetseins, unseres seelischen Besitzes und geistlichen Eingedenkens, unseres überhaupt Gewordenseins, die Ahnung, die rufende Kenntnis unseres Namens als des endlich gefundenen Namens Gottes, damit nicht alles verloren sei, damit nicht der Gang um sein Ziel betrogen werde, und alle seine Genesungen: Leben, Seelen, Werke, Liebeswelten zugrundegehen müssen, ohne daß auch nur ein Keim davon im Staub des kosmischen Vertanseins übrig bleibt.“ (Ebd.). 131 Ebd., S. 342. 132 Ebd., S. 341.

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Resistenz gegen „alle Vergiftungen des Menschen durch den Menschen“ (ebd.) attestierte, wodurch in seinem „Werk die wunderbaste Gesundheit“ (ebd.) zum Ausdruck komme. Sowohl in seinem Rekurs auf Kant als auch in seinen Arbeiten über Scheerbart liegt das Hauptaugenmerk demnach auf den innerweltlichen Leib, von dem wir bereits gesehen haben, dass Friedlaender ihn ähnlich wie Benjamin zum konstitutiven Schauplatz einer innerweltlichen Ordnung macht. Viel stärker aber noch als in seinem Bezug auf Kants Vorstellung vom Gleichgewicht der Kräfte wird im Querverweis auf die früheren Arbeiten über Scheerbart deutlich, dass Friedlaenders Rede von einem äquilibrierenden Humor eine politische Dimension eignet, die in einem deutlichen Kontrast zu Blochs Menschenbild steht. Das kommt insbesondere dort zum Ausdruck, wo Friedlaender ähnlich wie Bloch auf die Nacktheit des Menschen zu sprechen kommt, um daraufhin in Scheerbarts Humor allerdings eine ganz andere Sicht auf diesen nackten Menschen am Werk zu sehen. Eine Sicht, die sich ganz auf das Diesseits richtet und auf das Motiv von der „Entmenschung“ (F/M 2, 379) bezogen ist: „Nur aus dem Dionysismus seiner [Scheerbarts, K.D.] Seele ist die unbeschreiblich fieberhafte Vibration seiner Visionen zu verstehen, zugleich ihre übermenschliche Heiterkeit und Komik. Diese Visionen sind von einer nicht selten scharfsinnig, wissenschaftlich anmutenden ästhetischen Exaktheit, der Ausgeburt einer rückhaltlosen Offenheit, Aufrichtigkeit der Instinkte, die sich keiner Nacktheit zu schämen brauchen. Scheerbart ist objektiv. Aber diese Objektivität ist allemal das Gegenteil einer stabilen: sie ist die Verwandlung selber.“ (Ebd., 378; Herv. v. K.D.)

Anders als bei Bloch versuche Scheerbart demnach nicht, die Nacktheit zu überwinden, sondern bringt sie ganz im Gegenteil in seiner „rückhaltlosen Offenheit“ zu einer Darstellung, die Scham nicht zu fürchten braucht. Kurz vorher schreibt Friedlaender bereits zu diesem in deutlichem Kontrast zu Blochs stehenden Menschenbild Scheerbarts: „Der kleine Kerl, der Mensch, ist kaum noch eines Lächelns wert; er ist vergessen.“ (Ebd., 377) Und: Die „Gelenkigkeit des Subjekts“, die Scheerbarts Menschbild zugrunde liege, gehe bei ihm beinahe schon „ins Schlangenhafte“ (ebd., 378). Die „rückhaltlose[…] Offenheit“, die Friedlaender Scheerbart attestiert, hat auch Benjamin an Scheerbarts „rückhaltlose[m] Bekenntnis“ zum „nackten Zeitgenossen“ (WB II.1, 216) betont. Benjamin und Friedlaender teilen demnach die Perspektive auf den Zusammenhang von Humor und Abbau von „Menschenähnlichkeit“ (WB II.1, 216). Gegen die „Priesterei“ (F/M 3, 621), die Friedlaender Blochs Anti-LeibUtopie vorwirft, scheint ihm Scheerbart gerade durch sein heiter-humorvolles Begrüßen des „nackten Zeitgenossen“ eine Art „priesterliche[s] Gegenpriestertum“ (F/M 2, 378) zu repräsentieren.

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In der zitierten Passage macht Friedlaender außerdem sehr deutlich, dass er diese Heiterkeit ganz ähnlich wie Benjamin insbesondere an den in Scheerbarts Werk immer wieder zu beobachtenden leiblichen Gestaltwandlungsprozessen festmacht. Hieran knüpft sich das humoristische Gegenkonzept zu Blochs Verschränkung von Utopie und Humor. Das wird besonders in einem Brief Friedlaenders augenscheinlich, den er 1904 an Scheerbart schreibt. Bezugnehmend auf Scheerbarts Immer mutig! Ein Nilpferdroman verbindet Friedlaender das Motiv der Nacktheit des Menschen und die Verwandlungsfähigkeit mit einem seiner eigenen Lieblingsmotiven, der Maske: „Ich bin aufmerksam auf alle Stellen gewesen, wo Ihre Wahrheit den Schleier der Poesie lichtet: daß zuletzt Nacktheit nur die beste Verkleidung ist, wissen wir; es ist in infinitum eine Maske die Maske der anderen.“ (F/M 24, 125) Während bei Bloch der Schein des Ästhetischen beweist, dass ein die Immanenz der Verhältnisse überwindenden wollendes ‚Hoffenkönnen und -dürfen‘ gerechtfertigt ist, taucht der Schein in Friedlaenders Scheerbart-Deutung im Gegensatz dazu als etwas auf, das es zu lichten gilt. Die Anmerkung über das Lichten des Schleiers gibt einen Hinweis darauf, warum Friedlaender im Rahmen seiner BlochKritik auf den § 54 aus der Kritik der Urteilskraft rekurriert, kommt doch auch Kant auf diesen Aspekt zu sprechen. Zum Wechselspiel aus Anspannung der Erwartungen, die sich im Verstand beim Zuhören einer Geschichte ergibt, und Auflösung der Spannung durch das Lachen, heißt es bei Kant: „Merkwürdig ist, daß in allen solchen Fällen der Spaß immer etwas in sich enthalten muß, welches auf einen Augenblick täuschen kann; daher, wenn der Schein in nichts verschwindet, das Gemüt wieder zurücksieht, um es mit ihm noch einmal zu versuchen, und so durch schnell hintereinander folgende Anspannung und Abspannung hin und zurück geschnellt und in Schwankung gesetzt wird, die, weil der Absprung von dem, was gleichsam die Saite anzog, plötzlich (nicht durch ein allmähliches Nachlassen) geschah, eine Gemütsbewegung und mit ihr harmonisierende inwendige körperliche Bewegung verursachen muß, die unwillkürlich fortdauert und Ermüdung, dabei aber auch Aufheiterung (die Wirkung einer zur Gesundheit gereichenden Motion) hervorbringt.“133

Im Humor verschwindet der Schein und löst sich in nichts auf. Es liegt nahe, dass Friedlaender in seiner Bloch-Rezension vor allem auch diese Bewegung hin zur Auflösung des Scheins im Sinn hatte, wenn er auf Kant verweist. In dem sich hierhin abzeichnenden Gegensatz zwischen einer Ästhetik des Vorscheins und einer Auflösung des Scheins im Humor stellt sich Friedlaenders 133 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 274f. [B 227].

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Humorkritik also genaugenommen als eine Kritik an der utopischen Funktionalisierung des ästhetischen Scheins dar. Friedlaenders Anmerkung über das Lichten des Schleiers in seinem Brief an Scheerbart gibt sich zugleich auch als eine Lektüreperspektive zu erkennen, die durchgehend seine Deutungsversuche der Scheerbart’schen Texte bestimmt: Das humorvolle Spiel mit der Nacktheit und der Verwandlung des Leibes bezeichnet für ihn das Herzstück von Scheerbarts ästhetischen Konstruktionen gerade dadurch, dass dieses Spiel kein rein ästhetizistisch-selbstreferentielles Phänomen ist, sondern „Wahrheit“ offenlegt. Was aber tritt hier im ‚Lichten des Schleiers‘ zu Tage? Ein unendliches Maskenspiel. Keine Substanz, sondern immer neue Masken „in infinitum“. In dem von „Scheerbart inauguriert[en] […] Welttheater“ (F/M 2, 377) gebe es keine „Festgestelltheiten“ (ebd., 376) des Menschen im Sinne einer verborgenen und zu enthüllenden Wesenhaftigkeit. Damit greifen für Friedlaender in Scheerbarts ‚Schleierlichten‘ offensichtlich ästhetisches Spiel und philosophische sowie anthropologische ‚Wahrheiten‘ ineinander. In diesem Sinne ist auch die ‚ästhetische Objektivität‘, die Friedlaender Scheerbart in der weiter oben zitierten Passage aus seiner Abhandlung von 1913 attestiert, immer das „Gegenteil einer stabilen“, sie kommt vielmehr in der „Verwandlung selber“ zum Ausdruck. Objektivität ist also nicht von irgendeiner mimetischen Abbildhaftigkeit oder einem Realismus her gedacht, sondern betrifft die Darstellung einer konstitutiv instabilen Welt, die in ihrer permanenten Verwandlung und damit in jenen Momenten darzustellen ist, in denen sie immer erneut aus dem Gleichgewicht gerät. Die für den Verstand unerfreuliche ‚Auflösung der Erwartung in nichts‘, die Kant im kurzen Augenblick des Lachens für die Herstellung eines Gleichgewichtes der menschlichen Kräfte auffängt, wird in Scheerbarts „ästhetische[r] Exaktheit“ ebenso wie in Friedlaenders eigenem Projekt einer ‚schöpferischen Indifferenz‘ auf Dauer gestellt und zu einem permanenten Prozess wiederholter Auflösungen und Umwandlungen gemacht, der den Menschen immer aufs Neue „ins Wanken zu bringen“ (F/M 2, 376) vermag, ohne durch eine prästabilierte Harmonie oder einen endgültig zu erreichenden Gleichgewichtszustand abgesichert zu sein. Wenn „das Leben […] die Ars magna der Äquilibristik“ (ebd., 303) ist, dann nur als immer erneute Anstrengung des Ausgleichens. Das immer erneute Ins-Wanken-Bringen ist das Gegenteil von Blochs Vorstellung einer apokalyptischen „realen, absoluten Ichbegegnung“134, die er in der Tragödie bereits ästhetisch vor-scheinen sieht. Dabei bringt Friedlaender in dem zitierten Brief an Scheerbart die Einwände, die er später gegen Bloch aufführt, bereits auf eine politische Pointe, wenn er betont, dass es auf der 134 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 71.

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Welt „kein Ende [giebt]“ (F/M 24, 126), und schon gar kein tragisches. Damit ist sowohl jeder apokalyptischen als auch theokratischen Handlungslogik der Weg abgeschnitten. In dem Brief richtet sich die Anmerkung zur Tragödie direkt auf den vorletzten Aphorismus aus Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft, der den Titel D i e g r o s s e G e s u n d h e i t trägt und in dem Nietzsche das „Ideal eines Geistes“ in Aussicht stellt, „der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess […].“135 Eine solche „Umwertung aller Werte“ (F/M 2, 378) macht Friedlaender unmittelbar für die „ästhetische[n] Demonstration[en]“ (ebd.) Scheerbarts geltend. Das Ideal der Gesundheit scheint Friedlaender damit in Scheerbarts unendlichem Verwandlungsspiel realisiert zu sehen. Wo Nietzsche – die Tradition des Erhabenen aufgreifend und auf die Figur des Übermenschen weisend – in diesem Ideal aber zugleich etwas „verwunderliches, versucherisches, gefahrenreiches“136 vernimmt, wodurch die „g r o s s e G e s u n d h e i t “ zugleich den „g r o s s e [ n ] E r n s t “137 anzeigt, in der „die Tragödie b e g i n n t “138, habe Scheerbart hingegen, so Friedlaender, in seiner „Weltkugelstimmung“ (F/M 24, 126) erstmals „den Humor der Unendlichkeit erfaßt“ (ebd.). Gegen die Gefahr, selbst in Nietzsches Gefahren-Rhetorik zu verfallen, beruft sich Friedlaender auf die an Scheerbart geschulte Vorstellung unendlicher Metamorphosen und spielt damit gleichzeitig Nietzsche gegen Nietzsche selbst aus: Die Idee des am Horizont der Fröhlichen Wissenschaft erscheinenden Zarathustras von der ewigen Wiederkunft, die Friedlaender auf einen humorvollen Umgang mit der Unendlichkeit der Polarität umlegt, gegen die nur halb warnende und halb herbeirufende Rede von der kommenden Tragödie. Auf Zarathustra kommt Friedlaender dann auch in seiner Bloch-Rezension zu sprechen, wenn er betont, dass dieser „vollends […] freudig auf solche Utopismen [verzichtet]“ (F/M 3, 614). Was in dem Brief von 1904 gegen Nietzsche gerichtet ist, scheint Friedlaender also noch einige Jahre später auch gegen Blochs tragisches „Pathos“ der „apokalyptischen Attitude“ (F/M 3, 622) geltend zu machen, wobei sich der Schauplatz umkehrt und die kritische Distanz gegenüber Nietzsches Rede von der kommenden Tragödie zur Kritik an Blochs Rede von der Komik als Indikator der Nähe zu „dem Erhabensten“139 wird. Während Bloch, wie gesehen, den Humor noch am Ende des tragischen Zeitalters 135 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: ders.: Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999, S. 343-651- hier: S. 637. 136 Ebd., S. 636. 137 Ebd., S. 637. 138 Ebd. 139 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 76.

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wiederauftauchen lässt, weil in ihm die Hoffnung auf Transzendierung zur Erscheinung komme, lichtet Scheerbart für Friedlaender auch diesen Schleier, wechseln sich doch bei ihm „Tragödie und Komödie“ (F/M 24, 126) in der Welt stetig gegenseitig ab. Damit taugen aber weder Tragödie noch Komödie als Statthalterinnen für sich anbahnende Transzendierungsereignisse. Entstehung und Auflösung, „Pech“ und „Glück“ (ebd.), Aufgang und Untergang sind vielmehr in ihrem unendlichen Wechselspiel miteinander zu betrachten: „So ist jeder Sonnenuntergang andererseits ein Sonnenaufgang, vice versa. Der Ton liegt also überall auf der Weltfreude und nicht auf der Welttrauer.“ (Ebd.) Dadurch sei Scheerbarts Literatur „so unfeierlich profan“ (ebd., 125) und Medium einer „langsame[n] Auferziehung zur guten Laune“ (ebd.). Anhand von Benjamins früher Scheerbart-Deutung wurde bereits gezeigt, dass Benjamin in seinen frühen ästhetischen Versuchen das Bild vom Sonnenaufgang und -untergang ebenfalls nutzt (vgl. WB VI, 117), um es später in einer politischen Lektüre von Scheerbarts Lesabéndio auf den Zusammenhang von Auflösung einer immanenten Ordnung und Aufgang einer neuen polaren Ordnung umzulegen, der die Polaritäten der ersten Ordnung nicht löst, sondern etwa als Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz erneuert. (vgl. Kap. 8.2) Das Wechselspiel von Auf- und Untergang betonen beide an Scheerbarts Humor der unendlichen Leibmetamorphose. Der Humor ist demnach das ästhetische Prinzip unendlicher Auflösung und Verwandlung, das beide gegen eine teleologische Perspektive in Anschlag bringen. In Kapitel  7 wurde zudem bereits gezeigt, dass diese Polarität aus Auf- und Untergang auch die Spannung zwischen „leiseste[m] Nahen[…]“ des Messias und weltlicher „Ewigkeit eines Untergangs“ (WB II.1, 204) in Benjamins Theologisch-politischem Fragment genauso bestimmt wie Friedlaenders symboltheoretisch ausgeführte Überlegung zum polaren Verhältnis von Diesseits und Jenseits. (vgl. Kap. 7.2 und 7.3) Der Hinweis auf die Parallelität zwischen Benjamins politischer Lektüre des Lesabéndio und Friedlaenders Überlegungen zu einem durch den Humor realisierten, rein immanenten und unendlichen Verwandlungsspiel gibt bereits für sich genommen ein wichtiges Indiz dafür ab, inwiefern Friedlaenders gleichermaßen ästhetischer wie politischer Kritikimpuls in seiner BlochRezension Benjamins Aufmerksamkeit hervorrufen konnte. Dass Benjamin Friedlaenders Überlegungen zum Humor aber auch direkt rezipiert hat, deutet eine Rezension von 1934 zu Max Kommerells Jean Paul-Studie an, die sich vor allem kritisch mit Kommerells Ausführungen zu Jean Pauls Humor auseinandersetzt. Dort kommt Benjamin unmittelbar hintereinander auf Scheerbart und Friedlaender zu sprechen und betont, dass Friedlaender eine mit Jean Paul verwandte „Dimension des Humors“ erblickt habe, in der die „exzentrische Spannung des Ich als ‚schöpferische Indifferenz‘ den Ruhepunkt“ bildet, „um

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den die Weltwaage balanciert.“ (WB III, 412) Diese Anmerkung rekurriert implizit auf den Themenkomplex der Unendlichkeit, der in Jean Pauls Theorie vom Humor als vernichtender Kontrast zwischen Endlichem und Idee ebenso zentral ist wie auch in Friedlaenders Anmerkungen zum „Humor der Unendlichkeit“ bei Scheerbart.140 In der Rezension verfolgt Benjamin diesen Themenkomplex zwar nicht weiter, seine Anmerkung zu Friedlaender erlaubt aber dennoch zu fragen, ob der von ihm hergestellte Zusammenhang von Humor und ‚schöpferischer Indifferenz‘ auch den Grund für sein Vorhaben abgegeben haben könnte, sich in seiner frühen ‚Politik-Schrift‘ gerade mit der Humorkritik in Friedlaenders Bloch-Rezension auseinanderzusetzen. Auch wenn die Frage letztgültig nur durch den verlorenen dritten Teil dieser Schrift zu beantworten wäre, lässt sich zumindest untersuchen, inwiefern dieser Zusammenhang überhaupt in der Bloch-Rezension zum Tragen kommt. 140 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Hamburg 1990, hier: S. 124f. Friedlaender hat bereits 1907 eine Anthologie zu Jean Paul herausgegeben, in deren Einleitung er Jean Paul als Denker (vgl. F/M 2, 223-238) vorstellt. Benjamin hat diese Anthologie sehr geschätzt. Friedlaenders Stellung zu Jean Paul verdient zweifelsohne eine eigene Abhandlung genauso wie Benjamins Verweis in der späteren Kommerell-Rezension und seine eigenen Einlassungen zu Jean Pauls Humor. Benjamin scheint jedenfalls in seiner Rezension zu Kommerell zu suggerieren, dass er Scheerbart und Friedlaender gewissermaßen als ‚Erben‘ des Jean Paul’schen Humors sieht. Für den intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang der frühen ‚Politik-Schrift‘ sind diese Zusammenhänge allerdings nur bedingt aufschlussreich. Gerade Benjamins Auseinandersetzung mit Kommerell ebenso wie sein weiter oben kurz aufgerufener Essay zu Karl Kraus stehen in anderen Produktionszusammenhängen. Dass die Texte zu Kommerell und Kraus gewissermaßen antithetisch zueinanderstehen und dabei in je spezifischer Weise auf Scheerbart und Friedlaender rekurrieren, gehört zum ‚Fortleben‘ der frühen Auseinandersetzungen um den Zusammenhang von Politik und Humor. Es bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten, diesen intertextuellen Spuren nachzugehen und auf die Parallelitäten zwischen Friedlaenders und Benjamins Jean Paul-Rezeption hin zu verfolgen. Hier wäre dann auch der Ort zu fragen, inwiefern sich Benjamin und Friedlaender mit ihrer Perspektive auf das Nüchterne und Profane in Scheerbarts Texten möglicherweise auf Jean Pauls Definition vom Humor als „das umgekehrte Erhabene“ (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, S.  125) berufen; nicht zuletzt auch gegen Blochs Vorstellung vom Humor als dem Erhabensten am nächsten liegende. Außerdem wäre in dieser Untersuchungskonstellation dann auch nochmals genauer zu untersuchen, welche Stellung in diesem Zusammenhang die Tatsache einnimmt, dass Benjamin bereits in seiner Dissertation über den frühromantischen Kritikbegriff als Beispiel für die Reflexivität der Transzendentalpoesie auf Schlegels Ausführungen zum Humor zurückgreift. (vgl. WB I.1, 93) Aus den bibliographischen Notizen wissen wir, dass Benjamin bereits im Zuge seiner Arbeit and der Dissertation Arbeiten Friedlaenders rezipiert hat, in denen eine Kritik an der Romantik formuliert wird. Auch hier wäre dann zu untersuchen, inwiefern sich Benjamins Konfrontation zwischen der Frühromantik und Goethe mit einer ähnlich gelagerten Kritik bei Friedlaender vergleichen lässt.

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Hier ist nochmals auf Friedlaenders Kant-Rekurs in der Rezension zurückzukommen, in den Friedlaender jenen ‚Balancierpunkt‘ hineinverlegt, auf den Benjamin später rekurriert. Es wurde bereits angemerkt, dass Friedlaender aus Kants einmaliger ‚Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts‘ ein auf Dauer gestelltes humorvolles Verwandlungsspiel macht, auf das eine unabschließbare Äquilibristik reagiert. Bei genauerer Betrachtung erweitert Friedlaender in dieser Perspektive auf ein permanentes Verwandlungsspiel aber nicht nur Kants Definition auf den philosophischen Gedanken immanenter Unendlichkeit hin, sondern scheint die Definition grundsätzlich ummontieren zu wollen. Denn auch dem ‚in nichts‘ kommt hier eine veränderte Rolle zu, wenn man bedenkt, dass Friedlaenders Hauptargument gegen Bloch lautet, dass eine profane politische Perspektive „aus dem Nichts in die Welt [geht], nicht aus der Welt ins Jenseits.“ (F/M 3, 621) Überträgt man diese Argumentation auch auf die Frage der Struktur des Humors, stünde das ‚Nichts‘ dann, anders als bei Kant, nicht am Ende als Auflösung, sondern wäre auf eine indifferente Perspektive des Inmitten bzw. ‚Dazwischen‘ verpflichtet, die nach Friedlaender allererst eine polare Perspektive auf die Phänomene der Welt genauso wie auf das in der Bloch-Rezension zentrale Verhältnis von Immanenz und Transzendenz ermöglicht. Damit wäre dieses ‚Nichts‘ zugleich aber im Sinne der bereits dargelegten polaritätsphilosophischen Grundprämissen Friedlaenders weder positiv noch negativ, sondern als reine Neutralität zwischen den Polen bestimmt. Spätestens hier ist an die im Kapitel  7.2 entfaltete Diskussion zu erinnern, die Friedlaender in seiner Schöpferischen Indifferenz mit Kant über das ‚Nichts‘ führt und in seine Konzeption eines medialen Nihilismus münden lässt. Inwiefern hängt diese Auseinandersetzung aber auch mit Friedlaenders an Bloch gerichteten Vorschlag zusammen, eine Vorstellung aufzugeben, die „das Leiden mit dem ‚Diesseits‘, mit dem Leben selber identifiziert“ (F/M 3, 619), um stattdessen das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz als eine immerwährende polare Spannungsbeziehung in den Blick zu nehmen? Anders gefragt: Hängt Friedlaenders Humorkritik sowie sein an Scheerbart orientiertes Gegenkonzept des Humors auch mit jenem medialen Nihilismus zusammen, in dem Friedlaenders die polare Spannung zwischen Diesseits und Jenseits denkt? An diesem Nihilismus konnte bisher immerhin die deutlichsten Ähnlichkeiten zwischen Benjamin und Friedlaender aufgezeigt werden. Hier sei nochmals kurz an die Argumentation aus dem Kapitel 7.2 erinnert: Es konnte gezeigt werden, wie Friedlaender die Idee des medialen Nihilismus unmittelbar von Kants Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen her konzipiert. Friedlaender hatte das Epochale dieses Textes darin erkannt, dass dort mit der Idee der Eigenständigkeit der negativen

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Größe erstmals das polare Prinzip zweier entgegengesetzter Kräfte formuliert worden ist. Allerdings habe Kant noch den Fehler begangen, so Friedlaenders kritische Aktualisierung des Textes im Sinne seiner eigenen Polaritätsphilosophie, das „non mit nihil“ (F/M 10, 392) zu verwechseln, wodurch die Grenze zwischen positiven und negativen Größen selbst nur eine rein negative Bestimmung blieb. Friedlaender entwickelt dagegen einen Begriff vom ‚nihil‘ als einer neutralen Größe zwischen plus und minus. Dieses „nihil neutrale aller Möglichkeit von Entgegensetzung“ (ebd.) bestimmt sein Konzept eines medialen Nihilismus, der sich durch drei Eigenschaften auszeichnet: Dieser Nihilismus ist weder positiv noch negativ bestimmt, sondern die reine Null als Mitte; damit ist der Nihilismus zugleich die Grenze, die die entgegengesetzten Größen auf der einen Seite voneinander trennt und sie auf der anderen Seite zugleich in eine polare Spannungsbeziehung bringt; und drittens bleibt diese Mitte selbst immerzu in der Schwebe, weil sie zwar der polaren Entgegensetzung vorausgesetzt ist, selbst aber nur in der Polarität in Erscheinung treten kann. Dadurch ist der Indifferenzpunkt aller Differenzen ein latenter Mittelpunkt. Wenngleich nun die Diskussion um die negative Größe in Kants Überle­ gungen über die ‚Auflösung einer gespannten Erwartung in nichts‘ in die Kritik der Urteilskraft nicht hineinragen, muss vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Überlegung Kants in Friedlaenders Nihilismus-Konzeption angenommen werden, dass Friedlaender in seiner Bloch-Rezension auf das ‚in nichts‘ aus Kants Definition eine ähnliche Perspektive eingenommen haben dürfte wie in der Diskussion, die er in der Schöpferischen Indifferenz bereits geführt hat. Das wäre allein schon plausibel, weil gerade Kant in seinen Überlegungen zur lachenden ‚Auflösung in nichts‘ selbst auf Denkfiguren des Polaren rekurriert, die es Friedlaender erlaubten, daran eine polare Konzeption des Humors anzuschließen. Bei Kant heißt es in diesem Zusammenhang: „Denn wenn man annimmt, daß mit allen unseren Gedanken zugleich irgend eine Bewegung in den Organen des Körpers harmonisch verbunden sei, so wird man so ziemlich begreifen, wie jener plötzlichen Versetzung des Gemüts bald in einen, bald in den anderen Standpunkt, um seinen Gegenstand zu betrachten, eine wechselseitige Anspannung und Loslassung der elastischen Teile unserer Eingeweide, die sich dem Zwerchfell mitteilt, korrespondieren können […].“141

Von einer „schnell hintereinander folgende[n] Anspannung und Abspannung“ hatte Kant kurz vorher schon geschrieben. Und auch in der Analogie zwischen einem „Ball“, den wir „noch eine Zeitlang hin und her schlagen, indem wir bloß 141 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 275 [B 227-228].

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gemeint sind, ihn zu greifen und fest zu halten“142, und den sich als unzulänglich erweisenden Ideen, die wir uns in der Erwartung des Sinns einer sich als Scherz herausstellenden Geschichte gemacht haben, kommt zum Ausdruck, dass das Vergnügen und das Lachen aus einem polaren Wechselspiel entstehen. Genauso wie in Bezug auf die Aktualisierung von Kants ‚Versuch über die negative Grösse‘ für einen medialen Nihilismus scheint Friedlaender auch im Humor das ‚Nichts‘ als Voraussetzung dieser polaren Spannungsbeziehungen in den Mittelpunkt zu stellen und an dem, was er in Kants Ausführungen angelegt sieht, seine eigenen polaritätsphilosophischen Schlüsse über dieses ‚Nichts‘ als latente Mitte zu ziehen. Diese Mittelposition des Humors wird auch an einer Stelle von Friedlaenders Brief an Scheerbart deutlich, die unmittelbar auf die Ausführungen zum „Humor der Unendlichkeit“ folgt. Um den Ort des Humors zu bestimmen, schreibt er dort: Weil er „selbst seit einigen Jahren dem Weltgedanken von der Polarität des ∞ auf der Fährt sei“, habe er sich „in Allem und Jedem auf das Wesen der Mitte eingeschworen“ (F/M 24, 127). Vom „Gesetz der Mitte“ erst können die „Weltextreme […] in concreto vermittelt“ werden, „und zwar gradatim in infinitum.“ (Ebd.) Neben dem auch für Benjamin zentralen Gedanken gradueller Intensitätsbeziehung, durch die sich die Pole einer Spannung nur „approximativ“ (ebd.) aufeinander zubewegen können, ist damit auch die Figur der Mitte selbst als eine schwebende, niemals endgültig zu erreichende Position bestimmt: „also das Weltwesen ist niemals mit sich zu identifizieren: das wäre ein Ende.“ (Ebd.) In Anlehnung an Nietzsches Zarathustra führt er Scheerbart dieses mittlere Wesen als Seiltänzer vor: „Ein ewig mittleres Wesen […] wird sich alle Tugenden des Gleichgewichts aneignen und eine ähnliche Liaison mit der Welt fertig bringen wie die Sohle des Seiltänzers mit dem schwanken Seil. Es wird wie ein Stern in sich selber hängen und sich weder durch den Schein des Sturzes noch durch den des Stillstands aus seiner Schwebe bringen lassen.“ (Ebd., 129)

Drei Dinge folgen aus diesem Motiv für Friedlaenders Konzept des Humors als ‚Auflösung in nichts‘. Erstens: Das Nichts steht nicht am Ende, sondern ist eine Position, die sich in der Auflösung von Differenzen als eine erkenntnistheoretische ausweist. Wenn sich die Welt bis ins Unendliche polar gestaltet, liegt der Punkt, von dem aus das erkannt werden kann, in einem immer wieder erneut zu erprobenden Gleichgewichtszustand, der sich von allen Differenzen löst, d.h. indifferent wird. Erst in dieser mittleren Position des ‚Nichts an Differenz‘, so Friedlaenders Argument, könne der „Humor der Unendlichkeit“ 142 Ebd., S. 274 [B 227].

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die Polarität regieren. Zweitens: Friedlaender bezeichnet diese Position in der Schöpferischen Indifferenz explizit als „Humor der Extreme“ (F/M 10, 154). Auffällig ist an der entsprechenden Passage im Buch, dass die Argumentation, die auf den Begriff vom „Humor der Extreme“ hinführt, zugleich eine Auseinandersetzung sowohl mit dem christlichen Menschenbild als auch demjenigen vom Antichristen ist, deren synkretistische Vermischung Friedlaender, wie bereits gesehen, Bloch einige Jahre später vorwerfen wird. (vgl. Kap. 7.1) An diesem Punkt verbindet sich der Humor einmal mehr mit Friedlaenders polaritätsphilosophischen Grundprämissen und den der daraus resultierenden Kritik am vorherrschenden Bild des Menschen: „Der gute Christ würde beispielsweise die ‚ewige Seligkeit‘ positivieren wollen – und sofort seine recht guten Antichristen finden, welche sie kräftig negativieren und Wunders glauben, dieses unentbehrliche Wesen durch Widerlegung vertilgt zu haben; als ob jemals Nein und Ja einander vertilgen könnten! Dennoch besteht grade in der Vertilgung, aber als wie in einem eigentümlichen indifferenten Medium sui generis, das ewig Selige als ein ewig Erschütterbares, dem die balancierende Selbstbemühung um seine Unerschütterlichkeit niemals erspart bleibt.“ (Ebd., 153f.)

Dieses „indifferente[…] Medium“ zwischen Christ und Antichrist stellt Friedlaender dann wenige Zeilen später als den „Humor der Extreme“ heraus: „Die Extreme erkennt man daran, daß sie ernst bleiben, zumal wenn sie einander Lügen strafen; dagegen die Indifferenz, plötzlich entdeckt, lacht und, wie die Extreme sie auch quälen mögen immer seren bleibt; sie hat den Humor der Extreme […].“ (Ebd., 154)

Auf diesen Indifferenzpunkt des Humors kommt es Friedlaender an, wenn er gegen Blochs Versuch, „dionysischen Wein in die alten christlichen Schläuche [zu] füllen“ (F/M 3, 616), seine eigene Position aus „Heiterkeit und Vernunft“ (ebd., 618) in Kants Definition vom Lachen als einer ‚Auflösung gespannter Erwartung in nichts‘ einschreibt. Anders als Kant, verlegt er das ‚Nichts‘ in die Mitte, um von diesem neutralen Punkt aus einen humorvollen Umgang mit den Extremen zu erproben. Das Hin und Her von An- und Abspannung, das Kant vor die ‚Auflösung der Erwartung in nichts‘ setzt, wird damit bei Friedlaender zum unendlichen Wechselspiel der Polaritäten durch die Indifferenz. Von dieser indifferenten Mitte lacht der Humor, anders als in Blochs Ausführungen zum Don Quijote, nicht über die Welt (hinaus) als vorscheinender „Weg zur […] Heimkehr“143, sondern in sie hinein. Drittens: Am Ende seiner Ausführungen 143 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 379.

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bindet Friedlaender seine Überlegungen in seinem Brief an Scheerbart nochmals zurück auf die Ästhetik, indem er auf den „Schein“ des Sturzes wie des Stillstands aus dem Seiltänzer-Motiv zurückgreift: „Schein und Wesen sind intrikat in einen gordischen Knoten unendlich verschlungen: Dieses steckt in, nicht hinter jenem. Der Sinnenschein, die Unendlichkeit seiner Reihen, deren Polarität, der mittlere Charakter jedes Reihenglieds: Das ist das Wesen!“ (F/M 24, 129)

Unterhalb oder hinter dem Schein ist kein Wesen verborgen. Das hatte Friedlaender bereits an einer früheren Stelle in Bezug auf die Unendlichkeit des Maskenspiels betont. Die Kritik an der Idee eines verborgenen Wesens hinter dem Schein bildet auch die Grundlage der Kritik an einer ästhetischen Funktionalisierung des Scheins in Blochs Utopie-Buch. An der zitierten Briefstelle spezifiziert Friedlaender sein Argument allerdings nochmals, indem er Schein und Wesen ineinander verknotet und auf einen mittleren Charakter hin ausrichtet, der nur durch das Spiel hindurch sichtbar wird. Dass der mittlere Charakter nur im endlosen Wechselspiel aus Schein und Wesen besteht, korrespondiert unmittelbar mit Friedlaenders Grundvorstellung von der Indifferenz als einer den Polaritäten zwar erkenntnistheoretisch vorausgesetzten Position, die selbst aber immerzu latent bleiben muss, weil sie nur durch die Entäußerung in den Polaritäten in Erscheinung treten kann. In diesem Sinne eignet dem Humor eine permanente Doppelbewegung: Als Mitte zwischen den Extremen von Schein und Wesen markiert er diejenige Position, von der aus das unendliche Wechselspiel in seiner konstitutiven Unendlichkeit in den Blick genommen werden kann. Zugleich ist in diesem Humor dann aber selbst ein permanenter Prozess der Auflösung in Gang gesetzt, durch den die eigene latente Position des Inmitten zwischen Schein und Wesen überhaupt erst bestimmbar wird. In der Schöpferischen Indifferenz schreibt Friedlaender zu dieser Doppelcharakterisierung: „In der Dünnheit und äquilibrischen Sensitivität der Mitte verhüllt und verrät sich die ungemeine Indifferenz […].“ (F/M 10, 562; Herv. v. K.D.) Sollte Benjamin auf diesen Satz aus den Aphorismen der Schöpferischen Indifferenz aufmerksam geworden sein, dürfte er ihn besonders im Zusammenhang mit der Diskussion um das Verhältnis von Schönheit und Wahrheit und der Frage nach dem ‚schönen Schein‘ interessiert haben, die er in Goethes Wahlverwandtschaften dann ausführlich anhand der Figur Ottilie führt. Dort hat er eine vergleichbare Spannungsbeziehung zwischen Wesen und Schein bzw. Hülle und Verhülltes hergestellt: „[…] der schöne Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten. Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle.“

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(WB I.1, 195) Hier drückt sich ein ähnlich intrikates Verhältnis von Schein und Wesen, Hülle und Verhülltes aus wie in Friedlaenders Definition. Benjamin dynamisiert hier die einfache Gegenüberstellung von Schein und Wesen bzw. Oberfläche und Tiefe in einem komplexen Wechselspiel der Positionen, deren Fluchtlinie noch im Trauerspielbuch nicht „Enthüllung“, sondern „Offenbarung“ (ebd., 211) ist. Die komplexe Argumentation dieser Diskussion zu rekonstruieren, in der Benjamin den Schein zugleich aus seiner unmittelbaren Verschränkung mit der Schönheit herauslöst und dennoch zu retten versucht, würde nicht nur den Rahmen der Untersuchung sprengen, sondern auch vom intertextuellen Arbeits- und Produktionszusammenhang an dem dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ wegführen, in dem Friedlaenders Ausführungen zum Schein von Interesse sind.144 Aufmerksamkeit verdient an dieser Stelle dennoch, dass Benjamin und Friedlaender in vergleichbarer Weise das intrikate Verhältnis von Schein und Wesen bzw. Schönheit über eine komplexe Figur der Mitte her bestimmen, die zugleich die Grenze markiert als auch einen differenziellen Bezug herstellt. Bei Benjamin handelt es sich dabei um den Begriff des „Ausdruckslose[n]“ (WB I.1, 181), den er als eine Gegenkategorie zur Vorstellung vom Kunstwerk als einer „Totalität“ (ebd.) einführt, in der er vermittels des schönen Scheins das Wahre, Gute und Schöne in problematischer Weise organisch ineinandergreifen sieht. Eine „Unterbrechung der Totalität des Scheins“145 vermag das Ausdruckslose herbeizuführen, weil es als eine „kritische Gewalt“ (ebd.) wirkt: „Was diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt und der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose.“ (Ebd.)146 Bezogen auf die Ebene der Dar144 Stellvertretend für die umfangreiche Forschung zu dem Themenkomplex des ‚schönen Scheins‘ im Wahlverwandtschafts-Aufsatz sei hier nur auf drei Titel verwiesen, die unterschiedliche Deutungszugänge anbieten und so die kontroversen Debatten repräsentieren: Winfried Menninghaus: ‚Das Ausdruckslose‘. Walter Benjamins Kritik des Schönen durch das Erhaben. In: Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin 1892-1940. Zum 100. Geburtstag. Bern u.a. 1992, S.  33-76; Burkhardt Lindner: ‚Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk. In: ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S.  472-493; Jan Urbich: Das Ausdruckslose. Zur Dialektik des Scheins bei Benjamin. In: Helmut Hühn/ders./Uwe Steiner (Hg.): Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation. Berlin 2015, S. 90-127. 145 Burkhardt Lindner, ,Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 489. 146 Eingeführt ist dieser Begriff gegen den ‚Schein der Reinheit‘ (vgl. WB I.1, 175), der eine lange Rezeptionstradition dazu verleitet habe, in Ottilie wahlweise eine Heilige oder eine ihr tragisches Schicksal erleidende Heldin zu sehen. Da Ottilie aber bis zuletzt, so Benjamin, kein Wort über den „Entschluß zum Sterben“ (ebd., 176) verliert, deutet ihr Schweigen weder auf ein Schicksal noch auf Unschuld, sondern auf den Mangel an sittlichem „Entschluß“ (ebd.), der nicht rein ist, sondern die mythischen Gewalten, die Benjamin von Beginn an als den Sachgehalt des Romans in seiner Analyse verfolgt, im

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stellung und der von Benjamin ins Zentrum seiner Arbeit gestellten These, dass Goethe in seinem Spätwerk den ihn lange bestimmenden mythischen Kräften, die im Schein fortwirken, Einhalt zu gebieten versucht, ist das Ausdruckslose das Gegenteil jenes „entstellten Symbolbegriffs“ (ebd., 337), den Benjamin im Trauerspielbuch scharf angreift und noch auf den ‚Klassiker‘ Goethe bezieht: Jene Vorstellung lasse, so Benjamin, im „symbolische[n] Gebilde […] das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen.“ (Ebd.) Gegen diese „schrankenlose Immanenz der sittlichen Welt“ (ebd.) stellt Benjamin im WahlverwandtschaftsAufsatz aber nicht die Allegorie, sondern explizit den „Torso eines Symbols“ (ebd., 181), in dem die „falsche, irrende Totalität“ (ebd.) zerschlagen werde. Auf die hier zugrundeliegenden theologischen Zusammenhänge von Entsühnung, Versöhnung und Rettung soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Für den Vergleich mit Friedlaenders Ausführungen zum Verhältnis von Schein und Wesen ist hingegen von Interesse, dass Benjamin den Begriff des Ausdruckslosen unmittelbar vom Begriff der „Cäsur“ (ebd.) aus Hölderlins Anmerkungen zur Ödipus-Übersetzung her bestimmt. Was Hölderlin als „gegenrhythmische Unterbrechung“ (ebd.) des Verses beschreibt, überträgt Benjamin auf ein grundsätzliches Darstellungsprinzip, das einen Hiatus in die organische Verbindung insbesondere von Ästhetik und Ethik im schönen Schein einträgt. Ähnlich wie die Indifferenz als Mitte zwischen den Polen steht auch Benjamins Verweis auf Hölderlin im Zeichen der Herausarbeitung einer latenten Figur der Mitte, ist doch die Zäsur zugleich die Grenze als auch der Ort der Herstellung einer polaren Bezüglichkeit. Bezogen auf das Ausdruckslose als Mitte zwischen Schein und Wesen heißt es daher auch im Wahlverwandtschafts-Aufsatz: „Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein und Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen.“ (Ebd.) Erst über diese Grenzfunktion des Ausdruckslosen kann Benjamin dann später ein Spannungsverhältnis zwischen Hülle und Verhülltem konzipieren, in der auch der Schein seine Funktion erhält: „Zum Schein nämlich steht das Ausdruckslose, wiewohl im Opfertod reproduziert. Nur das „moralische[…] Wort“ (ebd., 181) könne diese Kräfte bannen; da es als ein ethisches aber keiner ästhetischen Repräsentation eignet, muss es notwendigerweise ohne Ausdruck bleiben. Damit weist der ganze Themenkomplex um das Ausdruckslose, in dem die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik verhandelt wird, gleich an mehreren Stellen größte Nähe zu Benjamins im Kap. 5.3 ausführlich dargelegten Überlegungen von Wort und Wortlosem auf, die er in Hinblick auf die Frage nach dem politischen Verhältnis von Schreiben und Tat verhandelt. Im Hintergrund von beiden Debatten steht die von Benjamin selbst aus dem Jüdischen hergeleitete Grundvorstellung, dass sowohl Freiheit und Sittlichkeit als auch Schuld nur im Akt des Handels ihren rechtmäßigen Ort haben. (vgl. WB VI, 54-56). Diese Handlung kann durch die Kunst weder ersetzt werden, noch vermag Kunst stellvertretend zu versöhnen.

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Gegensatz, doch in derart notwendigem Verhältnis, daß eben das Schöne, ob auch selber nicht Schein, aufhört ein wesentlich Schönes zu sein, wenn der Schein von ihm schwindet.“ (Ebd., 194) Nur „im Verhüllten“ könne das Schöne letztlich erscheinen, wodurch aber weder der enthüllte Gegenstand noch die Hülle (schöne Schein) das Schöne darstellt, sondern „der Gegenstand in seiner Hülle“ (ebd., 195). Damit steht aber auch das Ausdruckslose in keinem Verhältnis zu irgendeinem zu enthüllenden Wesen, sondern korrespondiert unmittelbar mit der Idee der „Unenthüllbarkeit“ (ebd.). In seinem Hölderlin-Aufsatz von 1916 hat Benjamin auf die Zäsur schonmal rekurriert, indem er sie dort als eine „Indifferenz“ (WB II.1, 125) ausweist, die eine Grenze zwischen Leben und Kunst bildet. Diese Grenze setzt Benjamin beides Mal gegen die Vorstellung einer Ästhetisierung des Lebens genauso wie gegen die scheinhafte ästhetische Versöhnung mit dem Leben.147 Verweist diese mit dem Ausdruckslosen korrespondierende Anmerkung über die „Indifferenz“ auf Friedlaender? Einen Hinweis im WahlverwandtschaftsAufsatz findet sich nicht und es sollen hier auch keineswegs einflussphilologische Untersuchungen zwischen dem Wahlverwandtschafts-Aufsatz und Friedlaenders Schöpferische Indifferenz folgen.148 Aber auch ohne einen direkten Bezug herstellen zu müssen, zeigt sich doch, dass beide auf das von ihnen in vergleichbarer Weise identifizierte intrikate Verhältnis von Schein 147 Dass auch das Ausdrucklose als Einwand gegen eine nurmehr ästhetische Rechtfertigung des Lebens im Sinne Nietzsches zu lesen ist, deutet Benjamin in seinen Notizen zum Wahlverwandtschafts-Aufsatz an, wo er anmerkt, dass Nietzsche dem „Schein […] tief verfallen war“ (WB I.3 838). Vgl. hierzu auch Burkhardt Lindner, ,Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 487-488. 148 Einen Hinweis auf einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ausdruckslosen und Friedlaenders Indifferenz gibt aber Benjamins Rezension einer graphologischen Studie von Anja und Georg Mendelssohn aus dem Jahr 1928. Dort führt Benjamin aus, dass die gegenwärtige „Existenzfrage“ (WB III, 138) der Graphologie darin liege, sich von der lebensphilosophisch motivierten Vorstellung Ludwig Klages zu lösen, wonach die Schrift als „sittliche[r] Gradmesser für den Charakter des Schreibenden“ (ebd., 137) herhalten könne. Denn das Moralische sei immer „ohne Physiognomie, ein Ausdrucksloses“ (ebd.). Ein „Widerstand gegen die Versuchung moralischer Schriftauswertung“ (ebd.) könne aber nicht in der bloßen Ausschließung dieser Perspektive bestehen, sondern nur durch einen „dialektische[n], unablässig erneuert[n] Ausgleich“ (ebd., 138) zwischen den Extremen von Klages’ moralischer Ausdrucksbewegung und Mendelssohns psychoanalytisch informierter Bildschrift. Dieser Ausgleichpunkt ist, so Benjamin weiter, „niemals auf der goldenen Mittelstraße zu suchen“ (ebd.), sondern als „schöpferische[…] Indifferenz“ (ebd.) „Bannkreis eines Geschehens, Kraftfeld einer Entladung“ (ebd.). Indem Benjamin dem Ausdruckslosen ebenfalls eine zeitliche Struktur attestiert, in der Moralisches nicht repräsentiert wird, sondern „unsichtbar oder blendend aus der konkreten Situation herausspringt“ (ebd., 137) scheint er einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ausdruckslosen und der ‚schöpferischen Indifferenz‘ Friedlaenders herzustellen.

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und Wesen mit einer Figur der Mitte reagieren, die zugleich die Grenze zwischen Schein und Wesen bildet als auch eine polare Spannungsbeziehung zu denken ermöglicht. Auffällig ist dabei weiterhin, dass beide diese Figur der Mitte als etwas bestimmen, deren Wirkung innerhalb einer polaren Spannungsbeziehung sich gerade dadurch entfaltet, dass sie sich selbst einer näheren Bestimmung genauso wie der Darstellung entzieht; weder das Ausdrucklose noch die Indifferenz kommen als Gestalt zur Erscheinung. Das Ausdruckslose führt das bereits im eigenen Begriff vor.149 Aber auch Friedlaender betont immer wieder, die Indifferenz sei „nichts Demonstrables“ (F/M 10, 106). An dem Begriff der Unaussprechlichkeit wiederum entwickelt er zudem mehrmals seine Argumentation für eine Philosophie der Indifferenz als ein „Inmitten“ aller „unterschiedenen, vereinzelten Erscheinungen“ (ebd., 129): „Man wähnt, wenn man alle Dinge vernichtet, so vernichtet man alles: aber man vernichtet bloß die Erscheinung, deren Wesen unaussprechlich innig ist […].“ (Ebd., 129) Die Vorstellung vom ‚Vernichten‘ findet sich nicht nur direkt in der Idee der „Vertilgung“ (ebd., 153) wieder, von der wir bereits gesehen haben, dass Friedlaender darin den „Humor der Extreme“ realisiert sieht, sondern als ‚Vernichten‘ des Er-scheinenden besteht zugleich eine strukturelle Nähe zur Idee des ‚Verlöschens‘ des Scheins (vgl. WB I.1, 193), in dem Benjamin die „paradoxeste, flüchtigste Hoffnung“ (ebd., 200) erkennt.150 Gegen alle „phantastischen Träume der Utopisten“ (F/M 10, 307) unterlegt Friedlaender seine Kritik an Blochs Vor-Schein-Ästhetik unmittelbar mit seiner Idee einer „unaussprechlich unscheinbar[en]“ (ebd., 151) Indifferenz, in der der polare Humor als permanenter Prozess der Auflösung des Scheins und nicht als Antizipation des Utopischen im Schein wirkt. Auch in Benjamins Ausführungen zum Ausdruckslosen wurde bereits eine kritische Distanz zum Geist der Utopie vermutet. So schreibt Burkhardt Lindner etwa, dass „Benjamins Denken der Hoffnung […] anders als das Blochsche [verfährt]“, weil das Messianische bei ihm eben das „Unverfügbare“ bleibe; im Gegensatz zu Bloch, der „die großen Kunstwerke als Wunschenergie und utopischen Vorschein der 149 Burkhardt Lindner verweist auf den „gestalttheoretischen Sachverhalt“, von dem her Benjamin das Ausdruckslose seinem Wortlaut nach bestimmt. Diesen gestalttheoretischen Zusammenhang übertrage Benjamin „auf eine metaphysische Problematik“; das Ausdruckslose werde im Kunstwerk gerade dadurch wirksam, „daß es nicht […] Gestalt gewinnt.“ Würde „die erhabene Gewalt des Wahren“ (WB I.1, 181) zur künstlerischen Darstellung kommen können, wäre sie göttliche Offenbarung und nicht mehr Kunstwerk. (Burkhardt Lindner, ‚Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 489). 150 An diesem ‚Verlöschen‘ nutzt Benjamin im Wahlverwandtschafts-Aufsatz auch das einzige Mal den Begriff polar, wenn er betont, dass die „höchste Intensität“ der Verbindung zwischen Schönheit und Schein „deutlich polar in triumphierendem und verlöschendem Schein“ (WB I.1, 194) erreicht werde.

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freien Menschheit beschwört.“151 Diese Hoffnung erscheint für Benjamin dort, wo im Roman eigentlich keine Hoffnung mehr in Aussicht steht, so dass sie uns letztlich auch „[n]ur um der Hoffnungslosen willen […] gegeben“ (WB I.1, 201) ist, wie es im letzten Satz des Aufsatzes dann heißt.152 Ohne auf das „Mysterium der Hoffnung“ (ebd.), das Benjamin hier entfaltet, näher eingehen zu können, wird darin deutlich, dass die Hoffnung als theologische Kategorie hier den „Ort eines Ausstehenden“ anzeigt, „das als solches nicht darstellbar ist, aber in seiner Notwendigkeit aufgewiesen werden kann.“153 Diese messianische Hoffnung wirkt latent im Ausdrucklosen. In diesem Bezug auf den theologischen Begriff der Hoffnung sieht auch Jörg Zimmer eine „versteckte Replik und Auseinandersetzung mit Bloch“154. Während es bereits dem frühen Bloch, so Zimmer, „um einen intentionalen, Utopie verwirklichenden Begriff der Hoffnung“155 geht, der „in den geschichtlichen Verlauf eingeschrieben“156 werde, beziehe sich die Hoffnung bei Benjamin auf die Ankunft des Messias, die nicht zweckrational intendiert werden kann, sondern eben das Ende der Geschichte darstellt, wie Benjamin es im Theologisch-politischen Fragment gegen eine theokratische Handlungslogik im Politischen darlegt. Als Unterscheidung zwischen Erlösung bzw. ‚Erfüllung‘ und Erwartung hatte Benjamin diesen Konflikt bereits mit seinen Jugendfreund Fritz Heinle ausgetragen.157 Im Ausdruckslosen findet Benjamin eine ästhetische Antwort auf die Frage des messianischen Hoffens, die diesmal aber nicht nur gegen eine christliche Erlösungsperspektive, sondern auch gegen Blochs Vorstellung einer Realisierung theologischer Gehalte innerhalb der profanen Ordnung gerichtet ist. Gegen eine solche Vorstellung richtet sich das Ausdruckslose als eine Kategorie, die hinsichtlich der theologischen Perspektive als latente Figur entwickelt wird und hinsichtlich der profanen 151 Burkhardt Lindner, ,Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 492. 152 Die Hoffnung, die nur um der Hoffnungslosen willen gegeben ist, macht Benjamin auf den letzten drei Seiten in einer stark verdichteten Deutung entlang dreier Stränge fest, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann: Zum einen an einer biographischen Anekdote aus Goethes Leben (vgl. WB I.1, 199); dann an einem Satz aus Wahlverwandtschaften, der kurz vor dem Tod des Kindes fällt und an dem Benjamin die „Cäsur des Werkes“ (ebd.) erkennt; und drittens verschiebt Benjamin die Perspektive auf die Darstellungsebene, auf der die „‚Haltung des Erzählers‘ zutage“ (ebd., 200) trete. 153 Burkhardt Lindner, ,Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 490. 154 Jörg Zimmer, ‚Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben‘, S. 260. 155 Ebd., S. 267. 156 Ebd., S. 268. 157 In einem Brief an Carla Seligson von 1913 schreibt Benjamin: „Noch einmal sah ich die Notwendigkeit der Idee, die mich gegen Heinle stellt. Ich will die Erfüllung, die man nur erwarten kann und er erfüllen. Aber die Erfüllung ist etwas zu Ruhiges und Göttliches, als daß sie anders, als aus brennendem Winde folgen könnte.“ (Br I, 182). Vgl. hierzu auch Astrid Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen, S. 175-193.

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Ordnung als solcher eine permanente polare Spannungsbeziehung zwischen Messianischem und Profanen ermöglicht. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Nicht Erscheinungen, sondern die Auflösung der Erscheinung steht dabei bei Benjamin genauso wie bei Friedlaender im Mittelpunkt. Während Benjamin stärker das Messianische betont, Friedlaender hingegen die erkenntnistheoretische Positionierung des Inmitten in den Blick nimmt, treffen sich beide doch in der Figur eines Dritten als Mitte, die nicht in Erscheinung tritt, sondern unausgesprochen bleibt. An ihr entwickeln beide einen permanenten Prozess der Auflösung, der die polare Spannungsbeziehung zwischen Messianischem und Profanen bzw. Immanenz und Transzendenz grundiert. Benjamins häufiger Hinweise auf Friedlaenders Schöpferische Indifferenz an jenen Stellen, wo er dieses Unaussprechbare zu konzipieren versucht, deutet darauf, dass er die Struktur der Indifferenz – d.h. ihre Grenzposition, ihre Medialität, aber auch ihre Latenz – zum Anlass nimmt, um seine eigene Position zu schärfen. Diese verwandte Struktur ließ sich am Vergleich zwischen dem Ausdruckslosen und der Indifferenz nachweisen und zugleich auf die darin angelegte Kritik am Geist der Utopie beziehen. Benjamin nutzt in seinen Arbeiten häufiger eine solche Figur der Mitte als eine Grenze, die zugleich ein polares Spannungsverhältnis ermöglicht. Neben dem Ausdruckslosen ist hier etwa an das „Gedichtete“ (WB II.1, 105) aus seinem frühen Aufsatz über Hölderlin zu erinnern, das als ein „Grenzbegriff“ (ebd., 106) wirken soll, an dem Dichtung und Leben aufeinander bezogen werden, ohne in Form einer Ästhetisierung des Lebens ineinander überzugehen. Als programmatischer Hintergrund dieser Konzeptualisierung von latenten Figuren der Mitte ist wiederum die Überlegung über die Sprache als Medium einer „Mitteilbarkeit schlechthin“ (ebd., 145f.) aus Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zu nennen, worin er das Spannungsverhältnis von geistigem und sprachlichem Wesen verhandelt. Hinsichtlich der Kritik an Blochs Vor-Schein-Ästhetik ist hier aber noch eine weitere Figur der Mitte zu berücksichtigen, die bisher viel weniger Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren hat: Der Humor als Grenzbegriff zwischen Kunst und Utopie, wie Benjamin ihn in seinen frühen Texten zu Scheerbart entwickelt. Diese Figur des Humors ist neben die Medialität der Sprache, das Gedichtete und das Ausdruckslose als eine entscheidende Figur in Benjamins frühen ästhetischen Essays zu stellen. An ihr ergeben sich deutlich Ähnlichkeiten zu Friedlaenders Bestimmung des Humors der Extreme als einer Mitte zwischen den Polen, an der er ein unendliches Spiel der Metamorphose mit der Auflösung des Scheins kurzschließt. In diesen nachfolgend darzulegenden Ähnlichkeiten der Konzeption des Humors, so die These, scheint auch begründet, warum Benjamin plante, sich in seiner für die ‚Politik-Schrift‘ geplanten LesabéndioKritik mit Friedlaenders Bloch-Rezension auseinanderzusetzen.

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Kapitel 9

Humor vs. Vorschein: Benjamins Unterscheidung zwischen „sprechen“ und „zeugen“

Zunächst sei hier nochmals die entscheidende, abschließende Passage aus Benjamins erster Lesabéndio-Kritik vollständig zitiert, in der die bisher ausgefalteten Debatten zusammenlaufen und von Benjamin auf die Frage des Verhältnisses von Kunst, Utopie und Humor hin zugespitzt werden: „Die Kunst ist nicht das Forum der Utopien. Wenn es trotzdem scheint, als könne von ihr aus das entscheidende Wort über dies Buch gesprochen werden, weil es voll Humor sei, so ist es doch dieser Humor, der umso sicherer die Region der Kunst übersteigt, und das Werk zu einem geistigen Zeugnis macht. Dessen Bestand ist nicht ewig und nicht in sich allein begründet, aber das Zeugnis wird in dem Größeren, von dem es zeugt, aufgehoben sein. Von dem Größeren – der Erfüllung der Utopie – kann man nicht sprechen – nur zeugen.“ (WB II.2, 619f.)

Auf die komplexe Argumentation dieser abschließenden Passage und den verwickelten Satzbau wurde bereits ebenso hingewiesen wie auf die Inszenierung mehrerer ineinandergreifender Spannungsverhältnisse: Zwischen Kunst und Utopie, Wort und Wortlosem, Immanenz des Werkes und ‚Übersteigen‘ der Region der Kunst, Autonomie des Werkes und Auflösung „in dem Größeren“, die alle in der abschließenden Gegenüberstellung von „sprechen“ und „zeugen“ ihren Höhepunkt finden. In der Differenz von „sprechen“ und „zeugen“ nimmt Benjamin eine Absage an eine intentionale Ausrichtung der Kunst auf die „Erfüllung der Utopie“ vor, die an die Unterscheidung von theokratischer und profaner Politik aus dem Theologisch-politischen Fragment genauso erinnert wie an die bereits mit Fritz Heinle geführte Diskussion um die Differenz zwischen christlicher Eschatologie und jüdischem Messianismus. Wo im Fragment der Grundsatz formuliert wird, dass das Messianische nicht zum zweckrationalen Ziel profaner Handlungslogik werden kann, so scheint im Ästhetischen keine Möglichkeit zu bestehen, dass die Kunst sich unmittelbar auf das „Größere[…]“, wie es in der oben zitierten Passage heißt, beziehen kann. Eine weitere Ähnlichkeit besteht zudem noch zum „leisesten Nahen[…]“ (WB II.1, 204) des Messianischen, das die konstitutive Grenze zwischen Messianischem und Profanem voraussetzt. Zwischen Sprechen und Utopie besteht zwar ein konstitutiver Hiatus, doch im Verb „zeugen“ deutet sich zugleich eine spezifische Form latenter Bezüglichkeit an. Die Analogien zwischen den beiden zentralen Unterscheidungsoperationen legen die Vermutung nahe, dass es im dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘, also der „philosophische[n] Kritik des Lesabéndio“ (Br I, 109), darum ging, die systematischen Überlegungen zum Politischen auf die Frage der Kunst hin umzulegen.

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In beiden Fällen scheint in die Unterscheidungsoperation zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit Blochs Geist der Utopie eingeschrieben zu sein, die Benjamin dazu dient, die eigenen erkenntnistheoretischen, politischen sowie ästhetischen Grundprämissen zu profilieren. Im Kapitel 7 wurde in diesem Zusammenhang bereits festgestellt, dass im Fragment eine implizite Kritik an Bloch formuliert ist, obwohl Benjamin dort schreibt, dass es „das größte Verdienst von Blochs ‚Geist der Utopie‘“ gewesen sei, „[d]ie politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben“ (WB II.1, 203). Die Ambivalenz dieser Aussage ergab sich aus dem „geschichtlich-teleologischen Hintergrund[… ]“158 von Blochs Utopie-Buch, mit dem „die Seele, der Messias, die Apokalypse“ zum „Apriori aller Politik und Kultur“159 gemacht werden. Und so konnte auch die von Benjamin entwickelte Idee einer nicht-theokratischen, rein profanen Ordnung, die auf der polaren Spannungsbeziehung zwischen Profanem und Messianischen aufbaut, als Gegenkonzept zu Blochs apokalyptisch-utopischer Politik gelesen werden. Dieses polare Gegenkonzept hat Benjamin in dem komplexen Bild von den entgegenlaufenden Pfeilbewegungen, die sich gerade durch ihre Gegenläufigkeit dennoch aufeinander beziehen können, zum Ausdruck gebracht. Dass sich diese Diskussion auch auf die Frage der utopischen Funktion der Kunst erstreckt, wird in Bezug auf eine Stelle aus Blochs Buch deutlich, an der er ebenfalls das Bild von den Pfeilbewegungen nutzt, nicht aber für ein profanes Politikverständnis, sondern für die Idee einer Ästhetik des Vorscheins: „Den heute zuhörenden Menschen ist das Letzte nicht mehr so leicht gegeben, wie in den seligen Zeiten der Götternähe; aber dafür lassen ihre Künstler die Pfeile, des Ausdrucks wenigstens wieder nach dieser esoterischen Richtung fliegen; und wie das Heilige nicht tiefer als bis zur Kunst herabsinken kann, so läßt sich auch umgekehrt das farbig verdunkelte Hellfühlen expressionistischer Kunst mit ihrer radikalen Gegenstandsorientierung als der nächste Raum vor dem Haus der kommenden Parusie verehren.“160

Zwar wird hier auch nochmals deutlich, dass sowohl Bloch als auch Benjamin ihre politischen Vorstellungen an einem kommenden messianischen Ereignis ausrichten, was den maßgeblichen Grund dafür abgibt, warum Benjamin sich überhaupt um eine so intensive und nachhaltige Auseinandersetzung mit Bloch bemüht. Allerdings tritt gerade darin zugleich auch der Gegensatz in der grundverschiedenen Funktionsbestimmung des Ästhetischen für die Utopie zu Tage. 158 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 433. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 183.

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Denn deutlicher vor allem als der ambivalente Rekurs auf Bloch im Fragment oder die nur bedingt aufschlussreichen brieflichen Zeugnisse, die zusammen mit dem Verlust der Bloch-Rezension nicht abschließend zu klären erlauben, wie genau Benjamin seine im strikten Sinne politische Argumentation im Detail gegenüber Bloch geführt hat, geben die im Zitat versammelten Motive einen Eindruck davon, was Benjamin veranlasst haben dürfte, im dritten Teil seiner ‚Politik-Schrift‘ die Debatte um das Spannungsverhältnis der Theologie zur Politik entlang der Kritik von Blochs Vorschein-Ästhetik weiterzuführen. Dabei stehen gleich mehrere der von Bloch eingesetzten Motive Benjamins Vorstellung von der Polarität zwischen Kunst und Utopie diametral entgegen. Allein das Bild von den intentional auf das Göttliche zielenden Pfeilen, durch die eine unmittelbare Nähe („der nächste Raum“) zur „kommenden“ Gegenwärtigkeit Gottes hergestellt werden könne, steht quer zu Benjamins PfeilBild, in dem sich das „Kommen des messianischen Reichs“ (WB II.1, 204) als „leiseste[s] Nahen[…]“ (ebd.) dadurch ergibt, dass die profane Ordnung sich in die entgegengesetzte Richtung aufbaut. Auch der expressionistische „Ausdruck[…]“ dieser auf das Göttliche gerichteten ästhetischen „Wachträume besser gewollter Welten“161, wie es gleich im Anschluss an die zitierte Passage bei Bloch weiter heißt, steht in Kontrast zur Unverfügbarkeit und Unaussprechlichkeit des Messianischen bei Benjamin, was sich später dann im Wahlverwandtschafts-Aufsatz im Ausdruckslosen auch begrifflich manifestiert. Bloch erkennt in der Kunst das Vermögen einer intentionalen Ausrichtung auf das Messianische, wodurch der Kunst eine Nähe zum Göttlichen im Sinne einer grenzüberschreitenden „Übergangsstelle“162 attestiert wird. „Hier scheiden sich die Wege“ (F/M 3, 612), so hatte Friedlaender in seiner Bloch-Rezension auch in Hinblick auf den Vorschein des Utopischen in Blochs Humorkonzeption geschrieben. Da sich bei Benjamin wiederum schon die profane Ordnung nur auf sich selbst beziehen kann, so dass sich der Messias gewissermaßen immer nur in ihrem Rücken nähert, kann auch die Kunst nicht zum „Forum“ der Antizipation des Utopischen werden. Wenn man von dem „Größeren“ nicht sprechen kann, eignet ihm offensichtlich die Eigenschaft des Unaussprechlichen; diese Grenze hin zum Unaussprechlichen kann ästhetisch nicht überschritten werden. Bei Bloch ist es hingegen die Musik, in der ein „sonst Unsagbare[s]“163 akustisch vernehmbar wird und damit zur Erscheinung kommt.

161 Ebd. 162 Ebd., S. 215. 163 Ebd., S. 234.

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Es liegt daher durchaus nahe, dass Benjamin mit seiner Unterscheidung zwischen „sprechen“ und „zeugen“ in der Abschlusspassage des ScheerbartTextes auf Blochs utopische Funktionalisierung des Ästhetischen im Geist der Utopie reagiert haben könnte. Was Benjamin allerdings genau mit dem Verb „zeugen“ dem Verb „sprechen“ gegenüberstellt, ist auf den ersten Blick nicht unmittelbar einsichtig. Deutlich ist zunächst nur, dass er damit auf jene Unterscheidung von etwas Unaussprechbaren gegenüber etwas Aussprechbaren abhebt, wie sie seit seinen frühesten sprachphilosophischen Überlegungen zentral ist. Das ‚Unaussprechliche‘ ist dort mit der Offenbarung und damit dem Göttlichen assoziiert (vgl. WB II.1, 146). Im Sprachaufsatz von 1916 taucht das Verb allerdings nicht auf, und es findet sich auch in den Aufzeichnungen und Notizen nirgends eine längere Auseinandersetzung, auf die man sich berufen könnte. Vielmehr eröffnet das Verb ein ganzes Panorama an semantischen Möglichkeiten, und es lässt sich vermuten, dass Benjamin einen großen Teil dieses Bedeutungsfeldes hier zumindest evoziert, um sich tentativ dessen zu nähern, was gerade nicht zur Sprache kommt. Die im Verb „zeugen“ eingefalteten Bedeutungen gilt es nachfolgend sukzessive auszufalten, um selbst wiederum eine Annäherung an die Argumentation der Abschlusspassage des ersten Scheerbart-Textes zu ermöglichen. Dabei lassen sich an den einzelnen Bedeutungsfacetten zugleich Beziehungen zu unterschiedlichen Werkzusammenhängen herstellen.164 Im Verb „zeugen“ steckt zunächst „zeigen“ im Sinne von hindeuten oder hinweisen. Als Akt einer prekären „Hindeutung“ (WB VI, 16) weist dieser Aspekt auf die frühen symboltheoretischen Überlegungen, die anhand von Benjamins programmatischem Brief an Buber bereits ausführlich besprochen wurden. (vgl. Kap.  5.3) Benjamin geht nicht von der symbolischen Sinnpräsenz aus, sondern von einem „Postulat der Sinnerfüllung im Symbol“165, wodurch dem Symbol eine gestische Funktion des Hindeutens, Zeigens eignet. Auch das der Sprache unzugängliche Utopische ist in diesem Sinne nicht im Kunstwerk präsent, kann mithin im Sinne einer Zweck-Mittel-Logik nicht intentional zur Erscheinung gebracht werden. Ganz im Gegenteil scheint die abschließende Passage aus dem Scheerbart-Text genauso wie das Theologisch-politische Fragment durch das bestimmt, was Benjamin im Trauerspielbuch den „Tod der 164 Die Entfaltung des nachfolgenden Panoramas an Bedeutungsmöglichkeiten orientiert sich lose an dem Lemma „zeugen“ aus dem Grimm’schen Wörterbuch, ohne jedoch jeder dort gelegten Spur nachzugehen. Vgl.: ‚ZEUGEN, verb.‘. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities (https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=Z05063). Zuletzt aufgerufen am 03.06.2021. 165 Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 288.

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Intention“ (WB I.1, 216) nennt. An der Stelle, wo Benjamin im Fragment das Nicht-Intentionale des Profanen hinsichtlich der Ankunft des Messias als die „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) konzipiert, die zugleich eine Grenze zwischen Profanem und Messianischem herstellt und eine polare Intensitätsbeziehung qua Gegenstrebigkeit zu denken ermöglicht, steht in der oben zitierten Abschlusspassage des ersten Scheerbart-Textes der Humor als eine Grenze, der ebenfalls eine eigentümliche Doppelcharakteristik eignet: Dieser Humor erlaubt als ästhetisches Phänomen einerseits „das entscheidende Wort über dies Buch“ zu sprechen, andererseits übersteige das Buch aber gerade durch den Humor „umso sicherer die Region der Kunst“. In dieser gewissermaßen bidirektionalen Bewegung des Humors reflektiert Benjamin offensichtlich die für ihn schon vor 1918 virulente Frage des Verhältnisses von Politik und Literatur bzw. Schreibweise nun als Frage des spezifischen Darstellungsmodus desjenigen utopischen Gehaltes, der in der Kunst nicht sprachlich artikulierbar und damit nicht in Erscheinung treten kann, sondern nur bezeugbar ist. Ähnlich wie in Friedlaenders Ausrichtung des „Humor[s] der Extreme“ auf das Unaussprechliche weist Benjamins doppelte Charakterisierung des Humors als Grenze zwischen den von ihm dargelegten Spannungsverhältnissen eine besondere Beziehung zu demjenigen auf, wovon nicht gesprochen werden kann. Auf dieses Unaussprechliche hat Benjamin zudem bereits in seinen frühen Auseinandersetzungen mit Kurt Hiller und Martin Buber rekurriert, um die Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Schreibweise des kritischen Intellektuellen auszumessen.166 Die Unterscheidung zwischen „sprechen“ und „zeugen“ greift diese Diskussionen in seiner Auseinandersetzung mit Bloch wieder auf, um sie auf die Doppelbewegung des Humors zu beziehen, der gleichzeitig in die Kunst hinein- und aus ihr herausweist. Durch den Humor wird aber auch das Kunstwerk insgesamt hinsichtlich seiner Beziehung zu dem unaussprechbaren Utopischen in doppelter Weise bestimmt: Es vermag einerseits vermittels des Humors auf das Unaussprechliche hinzudeuten, andererseits ist das Kunstwerk als „geistige[s] Zeugnis“ (WB II.2, 619) dadurch aber „nicht ewig und nicht in sich allein gegründet“ (ebd.), wie es in der Abschlusspassage des ersten Scheerbart-Textes heißt. Es wird, so Benjamins eigene, enigmatische ‚Hindeutung‘ „in dem Größeren, von dem es zeugt, aufgehoben sein.“ (ebd.) Wie dieses ‚Zeugen‘ als Hindeutung gerade 166 Vgl. das Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit. Chryssoula Kambas vermutet, dass Benjamin möglicherweise plante, die Auseinandersetzung mit Hiller im ersten Teil der ‚PolitikSchrift‘ wiederaufzunehmen. (vgl. Chryssoula Kambas: Walter Benjamin liest Georges Sorel: Réflexions sur la violence. In: dies.: Momentaufnahmen der europäischen Intelligenz. Moderne, Exil und Kulturtransfer in Walter Benjamins Werk. Hannover 2009, S. 49-65, hier: S. 54).

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im Humor eine nicht-transgressive, aber dennoch bezeugende Beziehung zum Unaussprechlichen unterhält, wird deutlich, wenn man zwei Notizen zum Humor aus Benjamins frühen ästhetischen Aufzeichnungen heranzieht, die in ihren je unterschiedlichen Perspektivierungen mit der Doppelcharakterisierung des Humors im Scheerbart-Text korrespondieren. Auch in diesen Aufzeichnungen weist einmal die politische Dimension des Humors über das Ästhetische hinaus, das andere Mal steht hingegen das genuin ästhetische Vermögen, durch den Humor auf den Gehalt zu deuten, im Mittelpunkt. In beiden Fällen wird der Humor aber gleichermaßen mit dem Wortbzw. Ausdruckslosen assoziiert. Beide Seiten sollen nachfolgend etwas näher beleuchtet werden. Zunächst scheint sich Benjamins Definition des Humors als „Rechtsprechung ohne Urteil, d.h. ohne Wort“ bzw. als „Akt einer urteilslosen Vollstreckung“ (WB VI, 130) inhaltlich auf dasjenige zu beziehen, wovon Scheerbarts Lesabéndio Zeugnis ablegt, nämlich die „geistige Überwindung des Technischen“ (WB II.2, 619). Der urteilslose Akt der Vollstreckung lasse dem Objekt des Humors „als solchem Gerechtigkeit widerfahren“ (WB VI, 130), heißt es weiter in der Definition. Der Gegenstand, dem Scheerbarts Roman mit der technischen Utopie diesen eigentümlichen urteilslosen Prozess macht, ist, so Benjamins Lektüre, der gegenwärtige Mensch bzw. das traditionelle, humanistische Menschenbild. Der Humor steht damit auch hier in unmittelbarer Beziehung zum bereits ausführlich dargelegten Motivkomplex der ‚Entmenschung‘, der Benjamins Scheerbart-Deutungen von den frühesten Texten bis zu den Passagen-Aufzeichnungen bestimmt. Der Heiterkeit bzw. dem Spott gegenüber „l’humanité actuelle“ genauso wie der „humanité future“ (WB II.2, 632), den Benjamin Fourier und Scheerbart gleichermaßen attestiert, scheint er dabei diesem „humorvollen Akt […] einer urteilslosen Vollstreckung“ (WB VI, 130) assoziieren zu wollen. Der Menschheit, die die Energien der Technik bisher nur als Mittel zur Kriegsführung verschwendet hat und dabei zugleich überzeugt war, der Mittelpunkt der Welt zu sein,167 hat Scheerbart, 167 In diesem Sinne ist Benjamins einleitende Passage aus dem späten Scheerbart-Text zu verstehen: „Paul Scheerbart avait déjà publié une vingtaine de volumes lorsque, un beau matin d’août 1914, on put lire de lui un article dans le Zeitecho – hebdomadaire que les artistes et les écrivains allemands s’étaient empressés de fonder pour agrémenter de l’élan de leur plume ou de leur pinceau les assauts des soldats allemands. Cet article qui allait à l’encontre du courant était toutefois de tournure assez savante pour échapper à la censure. En voici le début tel qu’il s’est gravé dans ma mémoire: ‚Et que je proteste d’abord contre l’expression ‚guerre mondiale‘. Je suis certain qu’aucun astre, si proche soit-il, n’ira se mêler de l’affaire où nous sommes impliqués. Tout porte à croire qu’une paix profonde ne cesse de planer sur l’univers stellaire.“ (WB II.2, 630) Neben der für Benjamin zentralen Forderung, die der Technik inhärente destruktiv-konstruktive

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so könnte man Benjamins Lektürehaltung zusammenfassen, nicht einfach ein gerichtliches Urteil gesprochen, denn der Humor sei schließlich urteilslos. Vielmehr hat Scheerbart an dieser aus allen Traditionszusammenhängen gerissenen Menschheit seinen Humor vollstreckt, indem er „lachend“ literarische „Bauten, Bilder[…] und Geschichten“ gestaltet hat, in der „die Menschheit sich darauf vor[bereitet], die Kultur, wenn es sein muß, zu überleben.“ (WB II.1, 219) Inwiefern ist dieser humorvolle Akt der Vollstreckung am klassischen Menschenbild aber urteilslos? In seiner frühen Humor-Definition bestimmt Benjamin die Urteilslosigkeit von der Bedingung her, dass im Humor „nicht über einen Menschen“ gelacht wird, da die „Integrität“ der Person nicht „verletzt“ (ebd.) werden dürfe. Benjamin nennt dies einen „paradoxe[n] Fall einer Rechtsprechung die das Recht ohne Beachtung des Wesens der Person überhaupt, gegen Personloses, wortlos vollzieht.“ (ebd.) Was Benjamin in diesem Zusammenhang meint, wenn er betont, dieser Humor sei dadurch urteilslos, dass er im Lachen nicht richtet und also nicht die „dämonischen Gewalten“ (WB I.3, 1107) des Rechts beschwört, und inwiefern das von ihm auf Scheerbarts Roman übertragen wird, mag der Blick auf zwei Romanpassagen verdeutlichen, die Benjamin hier im Sinn gehabt haben könnte. Die erste Stelle betrifft ein Lachen, das im Roman selbst kritisiert wird, weil es tatsächlich ein Urteil über die Menschen fällt. Nax, ein Gast auf dem Planeten Pallas, bekommt Heimweh, kann aber doch überredet werden, dem Turmbau weiterhin beizuwohnen. Seinen künftigen Aufenthalt knüpft er allerdings an eine Bedingung. Er nimmt dem Lesabéndio das Versprechen ab, zum Planeten Erde mitreisen zu dürfen: „‚Meinetwegen bleibe ich auch noch hier. Aber Ihr müßt mir versprechen, mich später mit einem Pallasianer zum Stern Erde zu senden. Ich habe neulich ein Buch gefunden, in dem wird erzählt, die Erdianer könnten garnicht von der tollen Idee abkommen, daß sich die Sterne gegenseitig so anziehen, wie die Sterne ihre Oberflächenstücke anziehen. Das finde ich so schnurrig. Und deshalb möchte ich die Erdianer, die ja die drolligsten Lebewesen unseres Sonnensystems zu sein scheinen, doch mal kennen lernen. Dann kann ich doch wieder mal tüchtig lachen. Ihr seid mir zu ernst.“168 Dialektik zu berücksichtigen, weist die aus der Erinnerung zitierte Passage zugleich auf die abschließende Bemerkung über die Verwandtschaft zwischen Scheerbart, Lichtenberg, Jean Paul und Fourier voraus: Sie haben alle gerade durch ihren Humor nie vergessen, dass die Erde nur ein Planet unter vielen ist. Diese kosmologische Perspektive teilen für Benjamin Scheerbarts nicht mehr ‚menschenähnliche‘ Figuren mit der „erdumkreisenden Micky-Maus“ (WB VII.1, 377). 168 Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 151.

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Diese Art des Lächerlich-Machens, die tatsächlich über den Menschen lacht, finden die Pallasianer keineswegs lustig. Biba, der Planeten-Philosoph, mahnt daher auch streng, dass diese Ideen der gegenseitigen Anziehung keineswegs ein Lachen über den Menschen begründen: „Aber so köstlich erscheint mir das Lächerliche doch nicht zu sein.“169 Ein Lachen, das ein direktes Urteil über die Menschen und ihre kosmologischen Ideen fällt, lassen die Bewohner also nicht gelten. Und auch Lesabéndio hatte bereits in einer früheren Diskussion über die Menschen und das Erdenleben betont: „Man sollte deswegen auch über niedriger stehende Lebewesen auf anderen Sternen niemals zu schnell ein abfälliges Urteil aussprechen.“170 Auch Benjamin scheint diese Art von urteilendem Lachen nicht mit dem Motiv der ‚Entmenschung‘ in Verbindung bringen zu wollen, heißt es in Erfahrung und Armut doch auch nicht, dass Scheerbart den Menschen auslacht; vielmehr ist das Lachen konstruktiv, denn darin begrüße Scheerbart den neuen Menschen lachend. Daher könnte im Verb „zeugen“ auch durchaus eine Anspielung auf den Geburtsvorgang der Pallasianer impliziert sein, an dem Benjamin immerhin den konstruktiven Pol der ästhetischen Konzeption des Romans festmacht und den er in seiner politischen Lektüre als Beispiel für die radikalen Konsequenzen nennt, die Scheerbart aus der Bedeutung der Technik zieht. Dem Humor eignet in seiner Vollstreckung damit immer auch ein „Zug zum willkürlichen Konstruktiven“ (WB II.1, 216). Er ist nicht urteilend oder denunzierend, sondern verändert die Wirklichkeit und lässt so dem Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren. Diese Gerechtigkeit muss in Bezug auf Benjamins Scheerbart-Analysen als eine historische Gerechtigkeit verstanden werden. Es ist die „humorvolle Vollstreckung“ an einer Menschheit, die sich überlebt hat und daher durch die Mittel der Technik verändert werden muss. Das Lachen steht damit im Zusammenhang mit der zentralen Idee des Romans von der Auflösung und Umwandlung des Leibes. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 24. Die Aussage steht in Zusammenhang einer Diskussion, die Lesabéndio mit Biba über die Vor- und Nachteile des Erdenlebens führt. Nachdem Lesabéndio die These aufgestellt hat, dass das Erdenleben durchaus „Vorzüge besitzen“ (ebd., S.  23) könnte, hält Biba entgegen: „‚Ich bitte dich‘, sagte darauf der Biba ganz weich, ‚scherze nicht: Du kannst doch nicht behaupten, daß diese Erdbewohner, die sich gegenseitig in Horden vernichten, irgendwelche Lichtseiten in ihrem Leben aufweisen könnten.‘“ (Ebd.) Lesabéndio wiederum entgegnet, dass immerhin einige Erfindungen der Menschen wie das Fernrohr auf ein kosmologisches Interesse deuten. Außerdem hätte ein gewisser Peter Simon Pallas den Stern Pallas bereits entdeckt und dem Planeten seltsamerweise denselben Namen gegeben wie die Bewohner selbst. Ein vorschnelles, richtendes Urteil sei daher unangemessen.

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Dieser historische Prozess der Veränderung wird an einer anderen Stelle des Romans deutlich, an der sich eine Form des Lachens langsam ausbreitet, die Benjamin wiederum als gelungenes Beispiel im Sinn gehabt haben könnte, als er seine Überlegungen zum Verhältnis von Humor, Technik und Utopie anstellte. Diese für den Roman zentrale Form des Humors betrifft den Prozess der Umwandlung des Leibes, der sich direkt an Lesabéndio selbst vollzieht. Es konnte insbesondere an Benjamins Ausführung zu Scheerbart in Erfahrung und Armut gezeigt werden, dass es gerade diese am Leib manifestierte Metamorphose ist, in der Benjamin die lachend-heitere Begrüßung des neuen Menschen bei Scheerbart erkennt. Eine Entsprechung findet sich hier im Roman an einer Stelle, wo Lesabéndio über diesen Verwandlungsprozess nachdenkt und „sich auf das Kommende vor[bereitet]“171. Diese zentrale Passage des Romans sei hier ausführlich zitiert, weil darin der Zusammenhang von Humor und Verwandlung in der sukzessiven Entfaltung des Lachens, das sich zunächst nur leise ankündigt, zum Ausdruck kommt: „‚Die Rätsel des Lebens‘, sagte er mit harter Stimme und nach oben gerichtetem Gesicht, ‚kann man wohl sehr ernst nehmen. Es ist aber wohl nicht nötig, wenn man sie immerzu sehr ernst nimmt. Man kann sie auch mal sehr lustig nehmen. Dadurch werden sie ganz bestimmt nicht unbedeutender. Es ist wohl nicht nötig, immer sehr ernst zu sein. Und grade, wenn man Abschied nimmt von alten Zuständen, dann könnte man wohl ganz besonders lustig sein. Jedenfalls wird die Veränderung der Lebensform doch einige Rätsel lösen. Und das kann uns doch ganz heiter stimmen. Man könnte sogar lachen, daß man so voll Bangen ist – da man nicht weiß, wie es kommen wird – ob es enden wird oder nicht. Daß man das nicht weiß – das ist doch nicht traurig. Man könnte darüber auch lachen.‘ Er lachte aber nicht. Er befühlte seine durchsichtigen Hände. Er dachte an die große Sonne und an das gewaltige Planetensystem und an den Asteroïdenring. ‚Wenn ich das könnte!‘ rief er plötzlich begeistert, ‚die vielen Asteroïden, die so verschieden voneinander sind, einander zu nähern! Wenn ich das könnte! Oben! Aber – weiß ich, ob ich oben noch weiß, daß ich jemals etwas wollte? Wenn nun oben Alles zu Ende geht mit mir – dann lebe ich nicht mehr – empfinde nichts mehr von der Sonne und ihren Bewunderern. Dann ist Alles aus. Ist das traurig? Ist das zu beklagen, wenns mit mir kleinem Wurm für immer zu Ende ist? Muß ich nicht froh sein, daß es mir mal vergönnt war, hineinzublicken in ein großes Weltgetriebe, das viel größer ist als alles Andere, das mir nahe kam? Und – kanns mir nicht gleich sein, wies kommt? Wenn in ein paar Stunden alles aus ist – so kann doch ich nicht dafür. Warum bin ich traurig, wenn ich denke, daß alles aus sein könnte – da oben?‘ Er breitete beide Arme weit aus und reckte sich hoch auf – so hoch er konnte – vierzig Meter hoch. Und er blickte hinauf zur Decke und schrie: 171 Ebd., S. 184.

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‚Ich weiß nicht, ob ich noch etwas erleben werde. Aber darum bin ich nicht traurig. Ich will lachen.‘ Er lachte aber abermals nicht. Langsam wurde Lesa wieder kleiner. Und als er ganz klein geworden, lächelte er und sagte: ‚Daß ich wieder klein wurde, finde ich so lustig. Vielleicht werde ich so klein oben wie ein Quikkoïaner. Und die sind immer lustig. Sie freuen sich, solange sie sich freuen können. Warum soll ich mich nicht auch freuen? Und wenn ich noch viel kleiner würde, – ich würde mich auch freuen. Wenn nur das Große groß bleibt. Und das bleibt doch groß. Der unendliche Raum kann nicht so klein werden wie ein Punkt. Ich aber kanns. Und daß ich das kann, ist auch etwas Großes. Jetzt muß ich doch lachen.‘ Und er lachte ganz leise ein wenig. Und dann lachte er immer mehr und immer lauter. Und er lachte so laut, daß die vierundvierzig Wände zitterten. Und er bemerkte das. Und er lachte noch einmal laut auf und war dann ganz still. Da wars ihm so, als hörte er an allen Ecken und Enden immerzu leise lachen und kichern, und er rief: ‚Warum lacht Ihr auch? Lacht Ihr über mich?‘ Er horchte. Doch jetzt hörte er nichts mehr.“172

In nuce sind hier alle Motive versammelt, die Benjamins besondere Aufmerksamkeit begründen und die er in seiner politischen Lektüre des Romans hervorhebt: Die „Veränderung der Lebensform“, die Voraussetzung der Umwandlung dieses Lebens in der Auflösung und Umwandlung des Leibes; der Prozess des Annäherns der Ordnungen, von dem nicht klar ist, „wie es kommen wird“; das Unaussprechliche dieses Neuen; und letztlich die Heiterkeit, die sich erst langsam Bahn bricht, um dann in einem kollektiven Gelächter aufzugehen. Dieses kollektive Lachen ist anschlussfähig zu einer weiteren Dimension von Benjamins früher Humor-Definition, die direkt auf den Hinweis folgt, dass im Humor nicht über den Menschen gelacht wird: „[…] vielmehr gehört das Gelächter, und zwar das laute, in den Humor hinein. Es ist Teilnahme am Vollstreckungsakt. Unbelachter Humor ist keiner.“ (WB VI, 130) Dass das Lachen am Ende der zitierten Roman-Passage aber wieder verstummt, liegt an Lesabéndios Frage: „Lacht ihr über mich?“ Lesabéndios Annahme, das könnte der Fall sein, lässt die Pallasianer verstummen. Sie lachen nicht über, sondern mit ihm. Denn in diesem kollektiven Gelächter kommt das konstruktive Moment der gesellschaftlichen Ordnung des Planeten zum Ausdruck. Das kollektive Gelächter ist Ausdruck einer Übereinkunft, den Prozess der Verwandlung, der durch den technischen Bau des Turmes realisiert wird, tatsächlich gemeinsam anzustreben. Diese Form der Übereinkunft durch das 172 Ebd., S. 185-187.

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Lachen wird auch noch an anderer Stelle besonders eindrücklich dargestellt. Die Pallasianer bauen zunächst ein Modell des Turmes, um daran die Argumente für und wider das Projekt zu diskutieren. Da es „nicht gut“ sei, „wenn die Pallasianer solch ein großes Projekt beginnen, ohne sich vorher geeinigt zu haben“173, kommen sie zu einer Generalversammlung zusammen und können sich zunächst nicht recht einigen, ob das Turmbauprojekt nun in Angriff zu nehmen sei. Lesabéndio kommt zu spät zur Diskussion, seine spektakuläre Ankunft erzeugt aber letztlich das einstimmige Ergebnis: „Er [Lesabéndio, K.D.] löste vorsichtig seinen Saugfuß von seiner Kopfhaut los und schoß jetzt fünfzig Meter ausgestreckt mit eingezogenen Flügeln und grade wie ein Stock den Kopf nach unten zur Tiefe. Und er hörte nochmals das Geschrei und dann wieder den lang gezogenen, dumpfen Glockenton. Und danach hörte er den lang gezogenen, dumpfen Glockenton zum dritten Male. Und dann sah er die zehn Etagen des Modellturms mit seinen Teleskopaugen ganz deutlich – und er sah auch alle Pallasianer. Und dann kam er nach unten und schoß von oben mitten ins Innere des Modellturms hinein. Und da riefen alle: ‚Lesabéndio!‘ Und dann lachten alle. Und dann sagte der Dex: ‚Nun haben alle Pallasianer einstimmig – einstimmig – einstimmig – dreimal einstimmig beschlossen, Deinen Turm zu bauen […].“174

Das wortlose Lachen erzeugt die Einigung; ein Lachen, das fortan die Perspektive auf den Turmbau bestimmen wird, trotz aller Schmerzen und kritischen Debatten, die die Arbeit permanent begleiten werden. In diesem einstimmigen Lachen bereiten die Pallasianer zugleich auch bereits ihre eigene Verwandlung vor, die sich an ihrem Leib vollzieht. Diese Übereinstimmung vollzieht sich im Lachen wortlos, denn sie richtet den Blick nicht auf dasjenige, was durch die Veränderung entstehen soll, sondern ausschließlich auf den Turmbau selbst, in dessen Modell sie die Übereinkunft treffen und an dessen Realisierung sich das bereits dargelegte kollektive Gelächter dann entfalten wird. Sollte Benjamin im dritten Teil der ‚Politik-Schrift‘ tatsächlich vorgehabt haben, die Technik als ein gewaltloses Mittel „ziviler Übereinkunft“ (WB II.1, 192) darzustellen, wie es Uwe Steiner bereits vermutete,175 begründet sich diese Übereinkunft nicht allein in der Technik des Turmbaus als solchem, 173 Ebd., S. 99. 174 Ebd., S. 99-100. 175 Vgl. Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 79.

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sondern in dem vorausgehenden Lachen, welches das kollektive Einverständnis allererst erzeugt. Scheerbarts technische Utopie scheint in Benjamins Lektüre immer zugleich eine des Humors zu sein. Hierin scheint zugleich begründet, warum Benjamin in der Abschlusspassage des Scheerbart-Textes betont, dass der Humor die „Erfüllung der Utopie“ nicht zu einem sprachlichen Ausdruck bringt. Im wortlosen Lachen wirkt keine ästhetische Antizipation des Utopischen, sondern ein Hindeuten auf dasjenige, was ohnehin im Roman noch im Moment der Leibmetamorphose unsicher bleibt: „Man könnte sogar lachen, daß man so voll Bangen ist – da man nicht weiß, wie es kommen wird – ob es enden wird oder nicht. Daß man das nicht weiß – das ist doch nicht traurig. Man könnte darüber auch lachen.“176 Die Politik der kollektiven Übereinkunft ist zunächst vor allem eine heitere Politik des Humors, weil im Humor das Glücksstreben der Bewohner in kollektives Handeln übergeht, das einen Prozess der Auflösung der immanenten Ordnung einleitet, ohne bereits absehen zu können, was dieser Ordnung tatsächlich konkret folgt. Insgesamt wäre an dieser ‚Politik des Humors‘ als Akt ziviler Übereinkunft dann auch zu vermuten, dass die Lesabéndio-Kritik als dritter Teil der ‚Politik-Schrift‘ im Humor eine Antwort auf die Gewalt des Rechts gibt, die im zweiten Teil der Arbeit in Zur Kritik der Gewalt offengelegt wird. Dem Humor hat Benjamin jedenfalls auch später noch das Vermögen zugesprochen, die „dämonischen Gewalten“ des Rechts zu „überwinde[n]“ (WB II.3, 1107). Dass dieser Art des Humors eine unmittelbar politische Dimension eignet, wird auch später noch an anderen Stellen deutlich. So etwa in einer Rezension, die Benjamin 1928 über drei Bücher von Viktor Schklowski, Alfred Polgar und Julien Benda verfasst. Alle drei Autoren haben als kritische Intellektuelle „scharfe Abbilder des heutigen Europa“ (WB III, 107) zu zeichnen versucht. In ihnen komme „die beispiellose Aktualität“ zum Ausdruck, „die das Politische für die Literaten bekommen hat.“ (Ebd., 111). Die Möglichkeit einer politischen Schreibweise, die damit zur Disposition steht, diskutiert Benjamin dort in Bezug auf Alfred Polgar anhand der wiederaufgenommenen frühen Definition des Humors, wonach dieser in Gerechtigkeit gründe: „Wäre die Philosophie der Kunst weniger von ästhetischen Floskeln überwuchert als es seit 50 Jahren der Fall ist, man könnte sicherer auf ein Verständnis für diesen einfachen, gewichtigen Tatbestand rechnen: daß aller Humor in Gerechtigkeit seinen Ursprung hat. Freilich in einer, die den Menschen nicht wichtig nimmt, sondern die Sachen, sodaß ihr die sittliche Ordnung statt als

176 Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 185.

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Kapitel 9 Gesinnung oder als Handlung in einer rechten, geglückten Verfassung der Welt […] erscheint.“ (Ebd., 110).

Zunächst ist ersichtlich, dass hier das Motiv der Absehung vom Menschlichen einmal mehr mit dem Humor in Verbindung gebracht wird: „Nur weil eben der Humor die Dinge – nicht aber dieses Aussichtslose: die Menschen – ins Lot zu bringen sich vorsetzt, sieht er scheel, mißtrauisch auf deren sittliches Pathos.“ (Ebd.) Daraus entwickelt Polgar seine Zeitkritik, die von der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und der Tatsache ausgeht, dass der Mensch darin bloßes Mittel geworden ist: „Wie unter einer Tarnkappe verschwand ‚das Individuum‘ in der Uniform.“177 Neben Polgars Zeitkritik, in der Benjamin die Möglichkeit eines „verantwortliche[n], in Form gebannte[n] Verhaltens“ (ebd.) des Intellektuellen als kritischer Zeitgenosse exemplarisch realisiert sieht, sind hier noch zwei weiteren Anmerkungen zu treffen. Zum einen adressiert Benjamin mit den „ästhetischen Floskeln“ dasjenige, was er zwei Jahre später als „Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß“ (ebd., 286) der gegenwärtigen Literaturwissenschaft vorwirft, die in diesen Begriffen ihre unzeitgemäßen Analysen vorträgt. (vgl. auch Kap. 1.2 und 1.3) Mit Scheerbarts nüchtern-sachlicher Darstellungsweise, die im Humor begründet sei und die Benjamin in seiner ersten LesabéndioAnalyse als „Überwindung des Sinnes“ (WB II.2, 618) gegen „Innerlichkeit, […] Ausdeutung und Erklärung“ (ebd.) in Anschlag bringt, scheint er schon früh an der Scheerbart-Lektüre ein (literatur-)kritisches Gegenmodell zu 177 Alfred Polgar: Ich bin Zeuge. Berlin 1928, S. 171. Kurz danach heißt es dann: „Die Uniform versinnbildlicht das. Ihre bündig ausgesprochene Idee: Du hast aufgehört, Zweck zu sein, und bist Mittel!“ (Ebd., S. 172) Polgars Buch setzt mit der Annahme ein, dass „1917 […] die Uhr stehengeblieben“ sei und die Zeit damit „aus den Fugen“ geraten sei. (Ebd., S. 17). Damit nimmt die Zeitkritik ähnlich wie bei Scheerbart ihren Ausgangspunkt von den technischen Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Ähnlich wie Scheerbarts Literatur ist Polgars Zeitkritik damit ein Gegenbeispiel zu der „Flut an Kriegsbücher[n]“ (WB II.1, 214), die keinerlei Erfahrung vermitteln und auch das Fortleben des Weltkrieges nach 1918 nicht bedenken. Daneben gibt es zahlreiche Gedankengänge, zeitkritische Beobachtungen und gesellschaftskritische Analysen, die Benjamin interessiert haben dürften. Außerdem korrespondiert Polgars Kritik an der Kriegseuphorie der Dichter, die zum „heldische[n] Sterben“ (Alfred Polgar, Ich bin Zeuge, S. 66) aufrufen und einen Opfertod „um einer ‚Sache‘ willen“ (ebd., S. 74) besingen, der Kritik an der Funktion des Dichters, die Benjamin schon im frühen Hölderlin-Aufsatz ähnlich formuliert. Weitere Überlegungen, die Benjamin interessiert haben dürften, betreffen beispielsweise das Verhältnis von Technik, Werbung und Literatur (vgl. ebd., S. 225) oder die Vorstellung, das Theater als einen „Apparat“ (ebd., 235), also hinsichtlich der technischen Bedingungen der Theateraufführung in den Blick zu nehmen.

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entwickeln. Noch in der Diskussion über die Aktualität des Politischen für die Literatur kurz vor der letzten Phase der Weimarer Republik scheint daher in den Anmerkungen zur Überwindung der „ästhetischen Floskeln“ durch den Humor ein Rückbezug auf Scheerbart immerhin möglich. Zum anderen ist es nicht unerheblich, dass die in der Rezension hergestellte Verbindung aus politisch-literarischer Zeitdiagnostik und Humor, der unter Absehung klassischer humanistischer Ideale die Frage einer „geglückten Verfassung der Welt“ stellt, ein Buch Polgars mit dem Titel Ich bin Zeuge betrifft. Hier kommt ein weiterer Aspekt von „zeugen“ zum Ausdruck, der auf die Zeugenschaft im Sinne eines Verfahrens der Beglaubigung genauso wie im Sinne von ‚Zeuge sein‘ beruht. Eine solche zeitdiagnostische Kompetenz hat Benjamin, wie bereits gesehen, in seinem Text Für arme Sammler auch Scheerbart und Friedlaender zugesprochen. (vgl. WB IV.1, 600)178 Diese zeitdiagnostische Komponente kann auch im Sinne von ‚Zeugnis für‘ verstanden werden, etwa als exemplarische ästhetische Verarbeitung bestimmter Zeittendenzen.179 Wo Benjamin in Bezug auf Polger den zeitdiagnostischen Humor für die Frage der 178 Das betrifft zugleich die zeitgeschichtliche Verortung des Humoristen, der eben keine überhistorische Figur sei, sondern wenn überhaupt als eine „konstante Form für wechselnde geistesgeschichtliche Gehalte“ (WB III, 422) zu betrachten sei. 179 Das ist bei Benjamin aber weder autorzentriert noch im repräsentativen Sinne gemeint, sondern scheint insbesondere in Bezug auf Scheerbart auf eine klare, nüchterne Einsicht in die Zeitverhältnisse bezogen, attestiert doch Benjamin Scheerbart an anderer Stelle „in einer Sprache, die so klar und farblos ist wie Glas, die größten Linsen zur Vorschau in die Zukunft geschliffen“ (WB III, 385) zu haben. Diese „Vorschau“ ist nicht Vorschein, sondern erstens in Bezug auf das Utopische als ein Hindeuten gemeint und zweitens in Bezug auf die Zeitdiagnostik auf die klare Einsicht in jene technischen Entwicklungstendenzen bezogen, von denen auch das eigene Schreiben abhängig ist. Dass eine solche Perspektive sich nur vom Werk und nicht allein vom Autor her begründet, zeigt auch eine Stelle aus dem Wahlverwandtschafts-Aufsatz, in dem Benjamin ebenfalls vom Zeugnis spricht: Man habe sich, so Benjamin, „gegenwärtig [zu]halten, daß der einzige rationale Zusammenhang zwischen Schaffendem und Werk in dem Zeugnis besteht, das dieses von jenem ablegt.“ (WB I.1, 155). Eine andere Richtung ergibt sich im ‚Zeugnis-Sein für‘ noch hinsichtlich des materiellen Trägers einer Zeugenschaft, der einen Traditionszusammenhang zu stiften vermag. Dann ist das Zeugnis, etwa als Dokument, Gegenstand einer Bewahrung. Dieser Aspekt des ‚Zeugens‘ scheint gerade vor dem Hintergrund des Bruchs mit der humanistischen Tradition, der seine programmatische Formel im „neue[n] Barbarentum“ (WB II.1, 215) finden wird, schon im frühen Scheerbart-Text kaum eine Rolle zu spielen. Vielmehr scheint im frühen Text die Technik bereits einen Vorgang zu (be-)zeugen, der im Kunstwerk-Aufsatz dann der Reproduktionstechnik zugeschrieben wird: „die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken“ zu bringen und sie „aus dem Bereich der Tradition ab[zulösen]“ (WB VII.1, 353). Erst in den geschichtsphilosophischen Thesen wird ein Bezug auf die Tradition dann unter anderem durch den Humor wiederauftauchen, der dort neben „Zuversicht, […] Mut, […] List, […] Unentwegtheit“ in die „Ferne der Zeit zurück[wirkt]“. (WB I.1, 694).

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Kapitel 9

„Politisierung der Intelligenz“ (WB III, 113) geltend macht und auf das schriftstellerische Engagement in „‚Kleine[n] Form[en]“ (ebd., 112) wie der Glosse bezieht, mit der schnelle kritische Interventionen in der Gegenwart möglich werden, betrifft derselbe zeitdiagnostische Humor bei Scheerbart jedoch noch den Roman als Gattung. Das deutet aber zugleich auf die zweite HumorDefinition aus Benjamins frühen ästhetischen Aufzeichnungen hin, die diesmal nicht den Humor als Phänomen ausweist, das im Zeugen auf das Utopische „die Region der Kunst übersteigt“, sondern in die Kunst hineinweist. Denn neben der Funktion des Humors für eine technisch vermittelte zivile Übereinkunft betrifft der Humor in Benjamins frühem Scheerbart-Text zugleich die Frage der Funktion der Kunst als solcher für die bezeugten utopischen Gehalte. Diese zweite Ausführung zum Humor führt auf eine frühe, wahrscheinlich um 1917/18 verfasste titellose Notiz über „Form u […] Gehalt jedes Kunstwerkes“ (WB VI, 125). In ihr versucht Benjamin diese beiden Kategorien in Hinblick auf den Roman gegen den Bereich des rein Stofflichen abzugrenzen, das immer „etwas Wiederholtes“ (ebd.) sei. Die dabei zugrundeliegende philosophisch-ästhetische Frage nach der Form/InhaltBestimmung weist auf einen Problemkomplex im Verhältnis von Wahrheit, Erkenntnisfähigkeit und Kritik des Kunstwerkes, das sich bei Benjamin von den frühen Notizen an immer wieder neu um die Begriffe Wahrnehmung, Anschauung und Darstellung herum stellt und sich wie in einem Brennglas in seiner philosophischen Arbeit an dem Begriff der Idee bündelt.180 Dabei steht in Benjamins unterschiedlichen Ausführungen zum Ideengehalt von den frühesten Aufzeichnungen über die Dissertation und das Trauerspielbuch bis in die Passagen-Aufzeichnungen hinein immer wieder der Topos des Unaussprechlichen im Zentrum. So auch in der genannten Notiz, wobei Benjamin überraschenderweise dort den Humor in Zusammenhang mit den Gehalten des Kunstwerkes bringt: „Ewiger Gehalt des Romans sind daher diejenigen metaphysischen Erscheinungen welche nicht primär sprachlich auftreten können, deren ursprüngliches Wesen kontradiktorisch der sprachlichen Schicht im Sinne des Ausgesprochenen und Aussprechbaren (natürlich nicht im allerweitesten Sinne) entgegengesetzt sind. Solcher Art ist nach der Definition der Humor, daher ist er ein ewiger Stoff des Romans und die Prosa seine einzige sprachliche sekundäre Ausdrucksform. Anderer ewiger Gehalt des Romans ist zu suchen.“ (WB VI, 125f.)

180 Zum Begriff der Idee vgl. Hans Heinz Holz: ‚Idee‘. In: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd.2 Frankfurt a.M 2000, S. 445-478.

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Wenngleich Benjamin hier noch zu erwägen scheint, dass „im allerweitesten Sinne“ ein Übergang zur Sprache möglich ist, ergeben sich durch die Vorstellung von der Schicht des Unaussprechlichen einerseits und durch den damit assoziierten Humor andererseits zwei verschiedene Verortungen der Passage. Der erste, offensichtlichste Kontext der Notiz besteht zweifelsohne in der Ausarbeitung der Überlegungen zum Gehalt sowohl im Abschlusskapitel Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe aus der Dissertation, in der Benjamin die kunsttheoretischen Überlegungen Goethes und der Frühromantiker gegenüberstellt, um darin das „reine Problem der Kunstkritik an den Tag“ (WB I.1, 110) treten zu lassen, als auch in der Unterscheidung von Sach- und Wahrheitsgehalt aus dem Wahlverwandtschafts-Aufsatz. Im nachträglich angefügten Abschlusskapitel der Dissertation bespricht Benjamin den Unterschied zwischen Form und Gehalt hinsichtlich der „philosophischen Grundbegriffe […], welche die Kunsttheorie fundieren.“ (ebd.) Die frühromantische Kunstphilosophie setzt die Idee als Apriori und konzentriert sich auf die Form als Ausdruck der unendlichen Reflexionsstufen hin zum Absoluten der Kunst. Darin ist die „Kritisierbarkeit des Kunstwerkes“ im Gegensatz zur „Unkritisierbarkeit“ (ebd.) des Kunstwerkes bei Goethe begründet, der hingegen das Ideal als Apriori bestimmt. Anders formuliert: Wo die Frühromantiker im Medium der Kunst einen auf die Form bezogenen und durch die Kritik realisierten unendlichen Reflexionsvorgang entwickeln, der einen gattungsübergreifenden Zusammenhang der einzelnen Kunstwerke in der übergeordneten Idee der Kunst als ihrer Einheit ermöglichen soll, basiere Goethes Vorstellung vom „Ideal der Kunst“ (ebd., 111) nicht auf einem solchen rein formalen Prozess, sondern findet die nurmehr unterbrochene, diskontinuierliche Einheit in den Gehalten, die „in einer begrenzten Vielheit reiner Inhalte“ (ebd.) erfassbar sind. In Bezug auf die eingangs zitierte Notiz über die ewigen Gehalte und den Humor sind hier die weiteren Ausführungen zu Goethe aufschlussreich. Jedes einzelne Kunstwerk stehe im Verhältnis zu diesen reinen Inhalten, die Benjamin mit Goethe als „Urbilder“ (ebd.) bezeichnet. Diese „Urbilder“ tauchen selbst aber in keinem einzelnen Werk auf, wodurch das Verhältnis von Kunstwerk zu dem Unbedingten, mithin zur Idee der Versöhnung bei Goethe „entsagend gedacht“ (ebd., 114) ist. Das Kunstwerk könne den Urbildern nur „in mehr oder weniger hohem Grad […] gleichen“ (ebd., 111). Ähnlich wie im Verb „zeugen“ wird damit das Verhältnis von Kunstwerk und Gehalt über einen Abstand bestimmt, der Vermischungen und Übergänge ausschließt. Zu diesem eigentümlichen, über die Denkfigur der Intensitätsgrade differenzierten mimetischen Vorgang des ‚Gleichens‘ führt Benjamin weiter aus:

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Kapitel 9 „Denn die Urbilder sind unsichtbar und das ‚Gleichen‘ bezeichnet eben die Beziehung des höchsten Wahrnehmbaren zum prinzipiell allein Anschaubaren. Dabei ist Gegenstand der Anschauung die Notwendigkeit des im Gefühl sich als rein ankündigenden Inhalts, vollständig wahrnehmbar zu werden. Das Vernehmen dieser Notwendigkeit ist das Anschauen.“ (Ebd., 112)

Die Unterscheidung zwischen Wahrnehmbarem und Anschaubarem steht in Zusammenhang mit Benjamins intensiver Auseinandersetzungen um den Begriff der Anschauung, die er mit Kant und den Frühromantikern insbesondere über die Frage der Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung führt. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann hier weder näher auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes eingegangen werden, die an dem Verhältnis von Schönheit und Schein diskutiert wird,181 noch auf Benjamins damit im Zusammenhang stehenden Reflexionen über den Symbolbegriff.182 Aufschlussreich ist hier aber eine Erinnerung, die Scholem zur Diskussion über diese Stelle notiert. Scholem erinnert sich, dass er gegen die Stelle protestiert hat, indem er die „theologische Überführung der Anschauung in die akustische Sphäre“183 des Vernehmens kritisierte. Diese Diskussion zwischen beiden findet zeitgleich zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit Blochs Geist der Utopie statt, wodurch sich zumindest vermuten lässt, dass Scholem in der Kritik am Akustischen auch eine problematische Nähe zu Blochs Ästhetik zu bedenken gibt. Und tatsächlich scheint sich durch das „Vernehmen“ in der zitierten Stelle zumindest auf den ersten Blick überraschenderweise die größtmögliche Nähe zu Blochs Geist der Utopie einzustellen, der in der Musik ein ästhetisches Vernehmen und „Wiederschein[en]“ des „sonst Unsagbaren“184 betont hat. Benjamin allerdings ließ Scholems Protest zur Sphäre des Akustischen „nicht gelten“185. Denn, so notiert Scholem aus der Erinnerung Benjamins Antwort, „[g]erade das sei der Punkt: Die Sphären seien nicht zu trennen, und es gebe keine reine Anschauung, die nicht ein Vernehmen sei, freilich nicht das Vernehmen einer Stimme, sondern einer Notwendigkeit.“186 In der ‚Stimmlosigkeit‘, die das Vernehmen offensichtlich bestimmt, unterscheiden sich Benjamin und Bloch dann doch wiederum 181 Vgl. hierzu genauso wie zu den zitierten Stellen aus der Dissertation Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, S. 71-89. 182 Vgl. zur Frage des Verhältnisses von Anschauung, Urbild und Symbol Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 310-317. 183 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 108. 184 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 234. 185 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 108. 186 Ebd.

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deutlich.187 Benjamin geht es nicht um eine Art Evidenzverfahren, in dem die Gehalte augenscheinlich werden, so dass hier auch keine Analogie zu Blochs „Hellhören“188 besteht, von dem aus Bloch die Funktion des Scheins bestimmt. Bei Benjamin handelt es sich Im Gegensatz dazu offenbar um eine eigentümlich stimmlose, d.h. wort- und ausdruckslose „Notwendigkeit“, die sich ankündigt. Das Ideal der Kunst reicht bei Benjamin nicht in den Bereich der Wahrnehmung, wird nicht ästhetisch vorgebildet und kann daher im Kunstwerk auch nie „rein erschein[en]“ (WB I.1, 112). Die Erscheinungen bleiben von demjenigen, was sich als „notwendige Wahrnehmbarkeit“ (ebd.) vernehmen, aber nicht benennen lässt, unterschieden. Es bleibt das konstitutiv „Nichtzunennende“189. Zwischen den Idealen und dem einzelnen Kunstwerk bleibt eine Lücke bestehen, die Benjamin kurz vorher bereits als „Brechung“ (ebd., 111) bezeichnet hat, wodurch jedes Kunstwerk genauso wie jedes Phänomen in Bezug auf die Urbilder „Unvollendetes, Unabgeschlossenes“ (ebd., 226) bleiben muss, wie es im Trauerspielbuch dann heißen wird. Im Verhältnis von Ursprung und konkreten Phänomenen ist eine Denkfigur eingelagert, die deutlich an den Grundgedanken der Schöpferischen Indifferenz erinnert. Friedlaender hat, wie bereits gesehen, die Indifferenz als eine erkenntnistheoretische Voraussetzung beschrieben, die selbst aber nur durch die polaren Phänomene hindurch, also nur durch die polare Entäußerung der Indifferenz als latenter Mittelpunkt erkannt werden kann. Benjamin scheint das „Problem des Ursprungs“ (WB I.1, 226) ähnlich zu perspektivieren. Denn auch bei ihm hat Ursprung mit Entstehung nichts zu tun: „Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint.“ (Ebd.) Zwischen den Polen von Werden und Vergehen ist der Ursprung angesiedelt, der sich in dem „Faktischen“ dieser Doppelbewegung aber „niemals zu erkennen“ (ebd.) gibt, sondern den latenten Punkt zwischen den Polen meint, der zwar ‚wiederhergestellt‘ (vgl. ebd.) sein will, aber doch ‚unabgeschlossen‘ bleiben muss. In der Indifferenz und in dem an Goethe orientierten Begriff des Ursprungs perspektivieren Friedlaender und Benjamin beide eine Idee, die nie ganz zu sich selbst kommt, sondern immer

187 Auf eine ähnliche Unterscheidung des utopischen Gehalts in Hinsicht auf das Akustische und die Musik scheint übrigens auch Burkhardt Lindner bereits hinweisen zu wollen, wenn er im Anschluss an die Darstellung von Benjamins Anmerkungen zur Musik im Wahlverwandtschafts-Aufsatz relativ nahtlos auf den Gegensatz zu Bloch zu sprechen kommt, ohne explizit die Philosophie der Musik aus dem Utopie-Buch zu benennen. (vgl. Burkhardt Lindner, Goethes Wahlverwandtschaften‘. Goethe im Gesamtwerk, S. 491f.). 188 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 233. 189 Rolf Tiedemann, Studien zur Philosophie Walter Benjamins, S. 76.

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nur durch das polare Spannungsfeld seiner Extreme hindurch erkennbar wird.190 Zum zweiten Kontext der oben zitierten Aufzeichnungen über die ‚ewigen Gehalte‘: Die bisherigen Ausführungen weisen zugleich bereits voraus auf die Überlegungen zum Schein im Wahlverwandtschafts-Aufsatz, in dem das Verhüllte nur in der Hülle, niemals aber als Enthülltes für sich zur Darstellung kommen kann. Diese Überlegungen stehen, wie bereits gesehen, der Bloch’schen Vor-Schein-Ästhetik ebenfalls diametral entgegen. Noch deutlicher wird der Gegensatz zu Blochs Vor-Schein-Ästhetik allerdings, wenn man berücksichtigt, dass die Notiz über den Zusammenhang zwischen ewigen Gehalten und Humor neben ihrem offensichtlichen Zusammenhang mit der Dissertation noch in einen anderen Kontext zu stellen ist, der ebenfalls um das Verhältnis von Idee, Urbild und Unaussprechlichem kreist. Denn in dem Bezug von Humor und ewigen Gehalten weist die frühe Notiz zum einen auf die Definition des Humors als wort- und urteilslose Vollstreckung, zum anderen führen die mit den ewigen Gehalten in Verbindung gebrachten Urbilder zurück auf Benjamins Schriften zur Phantasie.191 Denn auch hier rekurriert Benjamin auf Goethes Urphänomen, das er „als ästhetische[n] Begriff[…] interpretiert“192 und auf das nicht-produzierende bzw. nichtschöpferische, sondern empfangende Farbsehen bezieht: „Im Farbsehen läßt die Phantasieanschauung im Gegensatz zur schöpferischen Einbildung sich als Urphänomen gewahren.“ (WB IV.2, 613) Diese mit der rein empfangenden Phantasie assoziierten Anschauungsweise der Urphänomene korrespondiert mit den Ausführungen zu Goethe in der Dissertation, wonach die „Kunst selbst […] nicht ihre Urbilder [schafft]“ (WB I.1, 112).193 Und auch die frühe Arbeit 190 In diesem Sinne scheint auch in Benjamins Anmerkung über die „Konfiguration Idee“ (ebd., 227) durch ihre polaren Extreme eine intertextuelle Beziehung für die erkenntniskritische Vorrede des Trauerspielbuches denkbar, der hier allerdings nicht weiter nachgegangen werden kann. 191 Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser gehen in ihren Anmerkungen zur Notiz ebenfalls von einer solchen Verbindung aus, wenn sie betonen, dass die Notizen ihrem „Schriftduktus“ und der „Blattnachbarschaft“ (WB VI, 703) nach die ersten Versuche einer Arbeit über ästhetische Grundbegriffe seien, die Benjamin angelegentlich einer Notiz über Malerei plante. Sie berufen sich hierfür auf einen Brief an Ernst Schoen, in dem Benjamin schreibt: „Abgesehen davon aber denke ich schon lange darüber nach wo endlich freier Raum, Entfaltung und Größe für die ‚ästhetischen‘ Grundbegriffe überhaupt gefunden werden könnten und sie aus ihrer ärmlichen Isoliertheit (die in der Ästhetik das ist was bloße Artistik in der Malerei ist) erlöst werden könnten.“ (Br I, 415). 192 Ebd., S. 84. 193 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Heinz Brüggemann, Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie, S. 210-220, hier: S. 211.

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über Scheerbart ist auf diese Ausführungen zum Verhältnis von Phantasieanschauung und Urphänomenen beziehbar, wenn es dort heißt, dass der Roman Lesabéndio „erfüllt vom Geist der Empfängnis und der Idee“ (WB II.2, 618) sei. Diese Idee erscheint im Kunstwerk selbst aber nicht, denn gerade durch diesen „Geist der Empfängnis“, also durch die Phantasie, sei der Roman „unscheinbar“ (ebd.). In dieser ‚Unscheinbarkeit‘ hat Benjamin möglicherweise frühe Überlegungen zum Verhältnis von Phantasie und Auflösung des Scheins modifiziert wiederaufgenommen, heißt es doch in den frühen Aufzeichnungen zur Phantasie: „Die Entstaltung zeigt […] die Welt in unendlicher Auflösung begriffen, das heißt aber: in ewiger Vergängnis. Sie ist gleichsam das Abendrot über dem verlassnen Schauplatz der Welt mit seinen entzifferten Ruinen. Sie ist die unendliche Auflösung des gereinigten, von aller Verführung entladenden schönen Scheins. Ebenso aber wie der Schein rein ist in seiner Auflösung ist er es in seinem Werden. Im Morgenrot erscheint er anders aber nicht uneigentlicher als im Abendrot.“ (WB VI, 115)

Die am Leib manifestierte Polarität zwischen Auf- und Untergang wurde bereits als wesentliches Kriterium für die Differenz zwischen Benjamin und Friedlaender auf der einen und Bloch auf der anderen Seite behandelt. Dass Benjamin die Auflösung des Scheins in einer der zitierten Passage angefügten Fußnote mit der „untergehenden Menschheit“ (ebd.) zusammenbringt, deutet sowohl auf das Verhältnis von ewigem Untergang und messianischem Nahen aus dem Theologisch-politischen Fragment als auch auf das Motiv der ‚Entmenschung‘ hin, das von den frühen Scheerbart-Lektüren über den Kunstwerk-Aufsatz bis in die Passagen-Aufzeichnungen immer wieder an die Verwandlung der Natur durch die Technik gebunden ist. In der Phantasie vollzieht sich für Benjamin diese Entstaltung des Gestalteten im Sinne eines am Leib der Pallasianer (Geburt und metamorphotischer Tod) begründeten Prozesses des Intensiv-Werdens der Gegenstrebigkeit von Auflösung und Kommendem, wie ihn Benjamin als polare Doppelbewegung bereits im Theologisch-politischen Fragment für eine profane Ordnung des Profanen entwickelt. In der zitierten Passage aus den frühen Phantasie-Aufzeichnungen wird diese polare Struktur vor allem aber auf die Debatte über das Verhältnis des Kunstwerkes zum utopischen Gehalt beziehbar: Nur in der Form der Auflösung können diejenigen metaphysischen Erscheinungen als ideale Gehalte des Kunstwerkes vernommen werden, die unaussprechlich bleiben. In der durch die Phantasie ermöglichten entstaltenden Auflösung scheint Benjamin zugleich die genuin ästhetische Funktion des Kunstwerkes in Hinblick auf die

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bezeugten utopischen Gehalte am deutlichsten den ästhetischen Wunschträumen Blochs entgegenzustellen, die dieser als „rufend, zeugend“194 charakterisiert. Wo Bloch in diesem ‚Zeugen‘ eine konstruktiv-aufbauende, „tätige, vertretende, pragmatisch wahre, konstitutive Phantasie“195 am Werk sieht, ist die Phantasie bei Benjamin dadurch zeugend, dass sie unkonstruktiv bleibt und zu demjenigen, wovon sie zeugt, in einem nicht überbrückbaren Spannungsverhältnis steht, wodurch wiederum eine vorscheinende „Erfüllung der Utopie“ im Ästhetischen nicht vorweggenommen werden kann. Die Ideale kommen im Kunstwerk nicht zur Erscheinung. In der Forschung zu Scheerbart wurde bereits vermutet, dass ein solches Ideal in der Tendenz zu Versöhnung von Metaphysik und Technik durch die kosmische Phantasie liegen könnte.196 Sollte Benjamin in seinen Anmerkungen über „die geistige Überwindung des Technischen“ und dem „utopische[n] Bild einer geistigen Gestirnwelt“ (WB II.2, 619) eine ähnliche Vorstellung von der ‚Versöhnung‘ durch die „Erfüllung der Utopie“ (ebd., 610) im Blick gehabt haben, ist die Kunst also keinesfalls der stellvertretende Ort ihrer Realisierung. Realisiert im Sinne des Konstruktiven und nicht im Sinne der Phantasie wird im Lesabéndio ohnehin nicht eine Utopie, sondern ein technischer Bau als die „reinste[…], unzweideutigste[…] Erscheinung“ (WB II.2, 619). Dieser Turmbau deutet zwar auf das „utopische Bild einer geistigen Gestirnwelt“ (ebd., 619), bringt diese Welt selbst aber nicht zum Ausdruck: „In diesem Sinne ist jede Erschließung und Beschreibung des Sterninneren ein Schritt, der von der eigentlichen Aufgabe abführt und die gesetzten Grenzen überschreitet“ (ebd.), schreibt Benjamin zu diesem Verhältnis von Roman und Idee. Das findet ihre Entsprechung auch im Roman selbst. So betont der Philosoph Biba in einer Diskussion zum Turmbau: „‚Was dann kommt‘, versetzt lachend der Biba, ‚wenn der Turm gebaut ist, das wissen wir nicht – das werden wir aber wissen, wenn wir ihn gebaut haben. […]‘“197 Auch der Philosoph spekuliert also nicht über das Kommende, sondern überzeugt durch sein Lachen zur Fortführung des Baus. In diesem immer wiederkehrenden wortlosen Lachen manifestiert sich zum einen die bereits dargelegte konstruktive, mithin schöpferische Funktion des Humors als Medium der Übereinkunft zur gemeinsamen Arbeit am Bau. Dadurch, dass Biba keine Ideen über das Kommende zur Sprache bringt, sondern eben lachend alle Spekulationen unterbindet, scheint Benjamin in 194 Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 65. 195 Ebd., S. 66. 196 Vgl. Roland Innerhofer: Deutsche Science Fiction 1870-1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung. Wien u.a. 1996, insb. S. 344-360 u. S. 460. 197 Paul Scheerbart, Lesabéndio, S. 54.

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diesem wortlosen Humor zugleich aber auch jene metaphysischen Gehalte bezeugt zu sehen, die nicht zur Erscheinung kommen. Dieses Verhältnis von konstruktiver Ordnung und Auflösung scheint auch den Hintergrund für eine denkbare Übertragung der Überlegungen zum Verhältnis von Kunstwerk und Gehalt auf die Romanlektüre zu sein, ist doch die Argumentation des frühen Scheerbart-Textes grundsätzlich vergleichbar mit jenen bereits dargelegten Überlegungen aus der Dissertation über das „Ideal der Kunst“, dem eine „notwendige Wahrnehmbarkeit“ (WB I.1, 112) eignet, ohne jedoch im Kunstwerk selbst zum Ausdruck zu kommen.198 Im Spannungsfeld aus technischer Konstruktion und Metamorphose der Planetenordnung, die in der Phantasie als Prozess der Auflösung und Umwandlung verläuft, bezeugt der Roman scheinbar ebenfalls „die Notwendigkeit des im Gefühl sich als rein ankündigenden Inhalts, vollständig wahrnehmbar zu werden.“ (WB I.1, 112) Medium dieses wort- bzw. ausdruckslosen, notwendigen „Vernehmen[s]“ (ebd.) ist in Benjamins Romanlektüre aber nicht das Gefühl, sondern der Humor, hat doch der Humor Anteil an jenen Gehalten, die „nicht primär sprachlich auftreten können, deren ursprüngliches Wesen kontradiktorisch der sprachlichen Schicht im Sinne des Ausgesprochenen und Aussprechbaren […] entgegengesetzt sind“ (WB VI, 126), wie es in der frühen Notiz über die Gehalte des Kunstwerkes heißt. An dieser Stelle lässt sich abschließend noch eine weitere Dimension des Verbs „zeugen“ hinsichtlich der Funktion des Humors anzeigen, die in den vorangegangenen Ausführungen zwar immer schon impliziert war, aber noch nicht eigens verhandelt wurde. Sie führt uns auf einen Vergleich zwischen Benjamins Betonung der Nüchternheit bei Scheerbart und Hölderlin. Im Zentrum steht dabei die Bedeutung des Verbs „zeugen“ im Sinne von ‚erzeugen‘, ‚herstellen‘, ‚bilden‘, ‚machen‘ die mit der bereits wiederaufgegriffenen Polarität von unkonstruktiver Phantasie und konstruktiv-schöpferischer Einbildungskraft zusammenhängt. Diese Polarität, das wurde bereits gezeigt, bestimmt nicht nur ganz allgemein Benjamins Blick auf die ästhetische Moderne, sondern wird von ihm auch auf Scheerbarts Darstellung der immanenten Ordnung des Planeten und ihre Auflösung durch die Technik bezogen. Ähnlich wie in Bezug auf das Verhältnis von Phantasie und Gehalt betrifft der Aspekt des ‚Zeugens‘ als ‚Herstellen‘ und ‚Machen‘ das genuin ästhetische 198 Ob Benjamin damit in seinem frühen Scheerbart-Text das Verhältnis von Kunstwerk und idealen Gehalten in seiner politischen Lektüre des Lesabéndio direkt auf die Funktionsbestimmung der Kunst für die Utopie überträgt, ist fraglich. Dennoch scheint hier zu dem ersten Kontext der Notiz zumindest eine strukturelle Nachbarschaft durch die vergleichbare Argumentationsführung zu bestehen.

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Vermögen, diesmal aber nicht in Bezug auf die entstaltende Phantasie, sondern in Bezug auf das, was Benjamin in seinem frühen Scheerbart-Text die „strenge Fügung des erzählenden Aufbaus“ (WB II.2, 619) nennt; also den spezifischen ästhetischen Darstellungsmodus in Relation zu den nicht zur Erscheinung kommenden utopischen Gehalten. Dieser Darstellungsmodus ist für Benjamin mindestens ebenso entscheidend wie dasjenige, wovon in der Darstellung gezeugt wird. So heißt es beispielsweise in seinem Radiovortrag zu Lichtenberg: „Wir aber sollten jedenfalls wissen, daß die Art, wie ein Zeugnis abgelegt wird, manchmal wichtiger sein kann, als das Zeugnis selbst.“ (WB IV.2, 715) Was hier auf die Kunst physiognomischer Zeichendeutung bezogen ist, lässt sich auch auf Benjamins Reflexionen über den Darstellungsmodus des ‚(Be-)zeugens‘ im Roman beziehen. Dabei ergibt sich der Zusammenhang zwischen dem Humor und dem ‚Zeugen‘ im Sinne von ‚Machen‘ und ‚Herstellen‘ diesmal allerdings nicht allein aus der Wortgeschichte des Verbs „zeugen“, sondern lässt sich von Benjamins mehrfachen Bezugnahmen auf Hölderlins „abendländische Junonische Nüchternheit“199 her bestimmen. Dabei sind hier zwei Stellen aufschlussreich: Erstens betrifft es eine Stelle aus Benjamins Dissertation, an der er das ‚Zeugen‘ als ‚Machen‘ aufruft, um das Unscharfe und teilweise Mystifizierende in der zentralen frühromantischen „Idee der Poesie als Prosa“ (WB I.1, 103) durch Hölderlins Reflexionen über die Nüchternheit zu verdeutlichen, und zweitens betrifft es die methodischen Überlegungen zum „Gedichtete[n]“ (WB II.1, 105) aus dem frühen Aufsatz über Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. Auf beide Aspekte ist hier etwas ausführlicher einzugehen, um anschließend zeigen zu können, inwiefern hier eine sachliche Beziehung zwischen der an Hölderlin orientierten Reflexionen über eine nüchterne Darstellungsweise und dem frühen Scheerbart-Text besteht. Wenngleich Hölderlin und die Frühromantiker ansonsten nicht vergleichbar seien, habe Hölderlin, so führt Benjamin am Ende seiner Dissertation aus, dennoch im Nüchternen das prosaische Darstellungsprinzip benannt, auf das es auch den Frühromantikern ankam, ohne dass sie es in dieser Klarheit formulieren konnten. Die Nüchternheit betreffe eine prosaische Darstellung, die nach ihrem „gesetzlichen Kalkül“ (WB I.1, 104) und ihren reflektierenden Verfahrensweisen bestimmt ist und nicht durch Inspiration, Mania, Rausch

199 Friedrich Hölderlin: Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, 4.12.1801. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, hg. v. Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt. Frankfurt a. M. 1992, S. 459-462, hier: S. 460.

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oder Eingebung.200 Der in diesem Zusammenhang zentrale Halbsatz aus dem aufgerufenen Hölderlin-Zitat, der in mehrerlei Hinsicht – bezogen auf den Schreibstil, die Haltung des Autors, die Polarität von Kunst und Leben – als geheimes Motto vieler Überlegungen Benjamins angesehen werden kann, lautet dabei, dass man bei jedem Ding und Menschen, aber eben auch bei jedem Kunstwerk „darauf zu sehen [hat], daß es Etwas ist, daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist, daß die Art, wie es bedingt ist, bestimmt und gelehrt werden kann.“ (ebd., 105) Diese Anmerkung über die „Mittel“ dürfte Benjamins Aufmerksamkeit mindestens von vier Gesichtspunkten her auf sich gezogen haben, denen er in seinen Arbeiten immer erneut vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von geschichtsphilosophischem Standort und gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Schreibens nachgeht: In Bezug auf die sprachliche Medialität, die technisch-materiellen Grundlagen

200 Die ganze Passage betrifft die Frage nach der frühromantischen „Funktion der Prosa“ (WB I.1, 102) und damit die Theorie des Romans und steht am Ende des Kapitels über Die Idee der Kunst, in der Benjamin alle prominenten Begriffe der frühromantischen Kunsttheorie (progressive Universalpoesie, Transzendentalpoesie, Ironie, Roman, Prosa und Poesie) zusammenführt. Benjamin beginnt diese letzte Passage mit der Darstellung der Transzendentalpoesie und richtet seinen Blick auf die Vorstellung von der immanenten Reflexion des Gemachtseins im Gemachten, in der eine Beziehung des einzelnen Werkens auf die Idee der Kunst zum Ausdruck komme. Das „Organ der Transzendentalpoesie“ (WB I.1, 96) sind die symbolischen Formen, deren höchste wiederum der Roman ist, in dessen „Ungebundenheit“ und Regellosigkeit“ (ebd., 98) das doppelte Spiel aus „Selbstbegrenzung“ und „Selbsterweiterung“ (ebd.) bzw. Reflexion und Ironie am radikalsten ausgeprägt sei. Hierin ist wohl am deutlichsten der im ersten Teil der Dissertation ausführlich dargelegte Reflexionsvorgang im Ich bei Fichte auf die Kunst übertragen. Aus dem Roman entwickeln die Frühromantiker dann, so Benjamin weiter, ihre zentrale Idee der Poesie als Prosa, die zwar einerseits ihre einflussreiche Modernität sowohl für spätere Kunstbewegungen als auch für den modernen Kritikbegriff begründet, anderseits aber besteht gerade in diesen nur postulierten und nur annäherungsweise in den eignen Arbeiten dargestellten Gedanken „das höchste Problem des poetischen Dichters“ (ebd., 101). Dieses Problem besteht in der gestaltenden Integration und Vereinigung der unterschiedlichen Darstellungsformen im Roman. Gerade in Hinblick auf die Reflexion der Darstellungsformen in der Darstellung selbst erkennt Benjamin in Hölderlins Anmerkungen über das „gesetzliche[…] Kalkül“ (ebd., 104) eine klarere, unverstellte Formulierung einer modernen Poetik, die sich ebenso wie die Frühromantiker weder an dogmatische Kunstregeln orientiert noch sich mit dem Geniekult berührt, der nochmals die Ekstase und die Inspiration statt die kalkulierte Verfahrensweise des Machens in den Mittelpunkt stellt. Außerdem scheint erst in der Nüchternheit, die „ja im Sprachgebrauch geradezu eine metaphorische Bezeichnung des Nüchternen“ (ebd., 103) sei, deutlich zu werden, dass der Schein des Schönen in der kalkulierten Schreibweise keinen Platz mehr hat (vgl. ebd., 106).

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der konkreten ‚Schreibszene‘ (Schreib-Zeug)201, die Mittel der Darstellung (Bilder, Motive) und die Transparenz sowie Gesetzmäßigkeit der kalkuliert eingesetzten Mittel. In diesen Mitteln sei die jeweilige „Art dieses Machens“ ein „Zeugnis […] bewußte[r] Tätigkeit im Werk“ (ebd.). In der Nüchternheit als bewusste Art des Machens, Zeugens habe Hölderlin, so Benjamins Resümee, die spezifische Form und Eigenständigkeit moderner Dichtung gegenüber der Antike herausgestellt: Erst in der permanenten Reflexion auf die technē des Dichtens bezeugt sich die spezifische nüchterne Erkenntnisfähigkeit moderner Dichtung. Dass Benjamin Hölderlin hier an zentraler Stelle seiner Dissertation aufruft, dient aber nicht nur zur Verdeutlichung einer kunsttheoretischen Tendenz der Frühromantiker. Der Rekurs auf Hölderlin betrifft auch das geschichtsphilosophische Problem der Frühromantiker, das Benjamin in der Dissertation mehrmals kurz als Frage nach dem romantischen Messianismus streift, ohne es weiter auszuführen. Auf die Dichtung bezogen taucht im Kapitel über Die Idee der Kunst ein strukturell ähnliches Problem dort auf, wo Benjamin auf die Idee der progressiven Universalpoesie zu sprechen kommt. Benjamin hält zunächst fest, dass die Idee der Kunst als „Idee eines Kontinuums der Formen“ (ebd., 87) bei den Frühromantikern nicht bloß eine Abstraktion sei, sondern selbst ein durch Reflexion herzustellendes Werk. In Bezug auf das einzelne Werk besteht dieser Reflexionsvorgang immer erneut in drei Schritten: Im Kunstwerk wird eine Reflexion über sich selbst vorausgesetzt, die dann in der Kritik entfaltet wird und die relative Einheit des Kunstwerks aufbricht in Richtung auf die Einheit der Kunst.202 Benjamin macht hier einerseits sehr deutlich, dass das nicht zeitlich, sondern sachlich gemeint ist, wodurch die Frühromantiker sich konsequent von der modernen „Ideologie des Fortschritts“ (ebd., 93) unterscheiden. Anders als bloß eine zeitliche Aneinanderreihung sei die Idee der Einheit der Kunst „ein unendlicher Erfüllungs-, kein bloßer Werdeprozeß“ (ebd., 92). Dieser unendliche „Erfüllungsprozeß“ scheint Benjamin aber andererseits gerade dadurch problematisch, dass Schlegel ihn 201 Zu dieser Bedeutungsebene von „zeugen“ im Sinne des ‚Schreib-Zeugs‘ heißt es später in den Passagen-Aufzeichnungen zu Baudelaire: „Der mythische Begriff der Aufgabe des Dichters ist durch den profanen des Werkzeugs zu definieren. […] Dieser Werkzeugcharakter stellt den Gebrauchswert dar, der schwer in Tauschwert eingeht.“ (WB V.1, 433) Eine andere Linie, die mit dem Begriff der Technik in pädagogischer Hinsicht zusammenhängt, hier aber nicht weiterverfolgt werden kann, betrifft dann noch Benjamins zahlreiche Arbeiten zum Kinderspielzeug. 202 „[…] die Reflexion ist nicht, wie die Urteilskraft, ein subjektiv reflektierendes Verhalten, sondern sie liegt in der Darstellungsform des Werkes eingeschlossen, entfaltet sich in der Kritik, um sich endlich im gesetzmäßigen Kontinuum der Formen zu erfüllen.“ (WB I.1, 88).

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von der Antike aus denkt. Benjamin zitiert hier direkt aus Schlegels Rede über die Mythologie: „‚Alle Gedichte des Altertums schließen sich eins an das andere, bis sich aus immer größeren Massen und Gliedern das Ganze bildet … Und so ist es wahrlich kein leeres Bild zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andere Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere?‘“ (Ebd., 90)

Eine schönere und bessere Wiederholung, in der alle Bücher zu einem großen Buch werden: Gerade an dieser geschichtsphilosophischen Orientierung der Transzendentalpoesie „nicht mit Hinsicht auf das reflexive Moment in der Poesie, sondern mit Hinblick auf die ältere Fragestellung Schlegels nach dem Verhältnis der griechischen zur modernen Poesie“ (ebd., 95) erkennt Benjamin eine „Unklarheit“ (ebd.), die er vor allem für die Herausarbeitung eines spezifisch modernen Begriffs sowohl der Dichtung als auch der Kritik problematisiert. Hier scheint Hölderlin dann nicht nur hinsichtlich der Tendenzen in den kunsttheoretischen Überlegungen der Frühromantiker, sondern auch in Hinblick auf Benjamins eigene geschichtsphilosophischen Überlegungen klarer zu urteilen, indem er mit dem Begriff der Nüchternheit zugleich stärker von der Polarität zwischen Antike und Neuem ausgeht. Anders als Schlegels Idee einer überbietenden Wiederholung des Antiken konzipiert Hölderlin das Verhältnis über den Gegensatz von Rausch und Nüchternheit als eine Polarität, die gerade in ihrer Spannung eine differenzierte Bezüglichkeit zur Antike erlaubt. (vgl. Kap.  1.2) Benjamin scheint Hölderlin hier vor allem gegen die Rede von einem neuen Zeitalter der Mythologie aufzurufen, wodurch der primäre Grund für den Hinweis auf Hölderlins Nüchternheit, die produktiven Tendenzen der frühromantischen Kunsttheorie zu verdeutlichen, mindestens doppeldeutig wird. Die Frage des Verhältnisses von Mythos und Dichtung hat Benjamin auch schon in seiner Arbeit Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin an zentraler Stelle mit der Idee der Nüchternheit in Verbindung gebracht. Scholem sieht in diesem frühen Aufsatz den Beginn einer mit der Hinwendung zur Geschichtsphilosophie unmittelbar zusammenhängenden kritischen „philosophischen Durchdringung des Mythos“, die ihn dann „so viele Jahre lang, im Grunde wohl bis an sein Ende, […] beschäftigt hat“203. Viel stärker als die Verhandlung des Mythischen in der Dissertation folgt der Gedichtvergleich von 1914/15 einem auch biographisch motivierten zeitkritischen Deutungsimpuls, schließlich 203 Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 44.

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steht im Hintergrund des Vergleiches der beiden unterschiedlichen Dichterbilder, die Hölderlin in den Gedichten gestaltet, das Bild des Dichterfreundes Fritz Heinle, der in seinem Selbstmord den einzigen Ausweg sah, der Einberufung zum Weltkrieg zu entkommen. Der Subtext des Gedichtvergleichs liegt daher auch in einer kritischen Auseinandersetzung mit der „zur Legitimation der Kriegsführung benutzte[n] […] Ästhetisierung eines ‚Opfertodes‘“204. Analog dazu sieht Benjamin in Hölderlins erstem Gedicht Dichtermut noch eine vergleichbare Beschwörung des mythologischen, schicksalhaften Todes des Dichters, wodurch sich das Gedicht in seinem „beschworne[n] Griechentum“ als „von der Mythologie der Griechen […] beherrscht“ (WB II.1, 110) bzw. „vom Mythologischen noch durchwuchert“ (ebd., 109) zu erkennen gibt. Entgegen der gängigen Interpretation des Spätwerkes Hölderlins als Ausdruck des Wahnsinns erkennt Benjamin im zweiten Gedicht Blödigkeit das „Ergebnis einer klärenden Durcharbeitung“205 des Mythos, wodurch die Vermischung von Leben und Dichtung zugunsten einer kritischen Differenzbestimmung ersetzt werde. Die nunmehr unmythologische[…] und unmythische[…]“ (ebd., 126) künstlerische Darstellungsweise sei das Produkt einer Nüchternheit, in der die kritische Reflexion auf das eigene schriftstellerische Tun die späte Dichtung „jenseits aller Erhebung im Erhabenen“ (ebd., 125) stelle. Daraus erst ergebe sich, so folgert Benjamin, ein „unmythischer, schicksalsloser Lebensbegriff“ (ebd., 111). Die gleichermaßen geschichtsphilosophische, erkenntnistheoretische und politische Aufgabe des „ästhetische[n] Kommentar[s]“ (ebd., 105) bestimmt Benjamin im Aufsatz als Notwendigkeit, im Vergleich einen immanenten Prozess von einer Vermischung von Mythos und Dichtung hin zu einer kritisch durchgearbeiteten Verhältnisbestimmung auszuweisen. Hierfür entwirft Benjamin mit dem Begriff des „Gedichtete[n]“ (ebd.) eigens einen heuristischen Begriff differenzieller Bezüglichkeit. Diese Aufgabe, die Benjamin in seinen ausführlichen methodischen Vorüberlegungen bestimmt, bezeichnet er folgendermaßen: „Die innere Form, dasjenige, was Goethe als Gehalt bezeichnete, soll an diesen Gedichten aufgewiesen werden.“ (Ebd.) Als die immanente „Wahrheit der Dichtung“ (ebd.) weist der Rekurs auf Goethe, darauf hat Günter Hartung hingewiesen, auf „die zentralen Fragen der Benjaminschen Philosophie“206, wie sie später etwa an der Unterscheidung von Sach- und 204 Patrick Primavesi: Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 465-471, hier: S. 466. 205 Ebd. 206 Günter Hartung: ‚Mythos‘. In: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd.2 Frankfurt a.M 2000, S. 552-572, hier: S. 557.

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Wahrheitsgehalt im Wahlverwandtschaft-Aufsatz weiterentwickelt werden. Allerdings gehe es im ästhetischen Kommentar, so betont Benjamin weiter, nicht darum, zu beurteilen, ob Hölderlin die Aufgabe angemessen gelöst habe. Es gehe vielmehr darum, überhaupt zu ermitteln, welche dichterische Aufgabe gestellt wurde. Die Leistung der Dichtung ergebe sich daher auch nicht aus der Lösung der Aufgabe, sondern wird bestimmt durch den „Ernst und die Größe der Aufgabe selbst“ (ebd.). Dabei sei diese Frage nach der gestellten „Aufgabe“ allerdings nicht von einer autorzentrierten Interpretation her zu beantworten, sondern könne nur immanent und von der ästhetischen Kommentierung aus am Gedicht selbst ausgewiesen werden: „Sie ist auch als Voraussetzung der Dichtung zu verstehen, als die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt.“ (Ebd.) Diese bezeugte „geistig-anschauliche Struktur“ finde ihren Ort im „Gedichtete[n]“ (ebd.), das er zunächst als „Sphäre“ bzw. „Bezirk“ (ebd.) bestimmt und später dann als „in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ordnung.“ (Ebd., 106). Zwischen Geistigem und Anschaulichem sei das Gedichtete „Grenzbegriff in doppelter Hinsicht“ (ebd.), stelle es doch Form und Inhalt nicht in einen antagonistischen Gegensatz, sondern weise gerade den Bezirk ihrer „immanente[n] notwendige[n] Verbindung“ (ebd.) aus. Als Mitte zwischen Inhalt und Form bzw. Leben und Kunst grenzt das Gedichtete die Pole voneinander ab und ermöglicht zugleich einen differenziellen Bezug zwischen beiden Seiten. Im Gegensatz zum Gedicht selbst, in dem der Zusammenhang von Inhalt und Form streng bestimmt sei, zeichne sich der Bezirk des Gedichteten also dadurch aus, dass darin der funktionale Zusammenhang von Inhalt und Form selbst erkennbar werden könne. Damit ist das Gedichtete für Benjamin eine Sphäre, die den Akt der im Gedicht manifestierten Verbindung als eine mögliche, d.h. nicht durch ein mythologisches Schicksalsverhältnis bestimmte Setzung innerhalb der „Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten“ (ebd.) ausweist. Der Zusammenhang von Inhalt und Form, wie er im Gedicht ausgedrückt wird, offenbart sich in der Region des Gedichteten damit nicht als ewig-substantieller, sondern als spezifisch funktionaler Zusammenhang. Dieser Bezirk ist damit zugleich der Ort einer Reflexion über das eigene Machen, mithin der „Selbst-Darstellung von Dichten und Denken“.207 In dem nachfolgenden Gedichtvergleich überträgt Benjamin dann diese methodischen Überlegungen sowohl auf die Grenze als auch auf die Möglichkeit einer „Beziehung von Kunstwerk und Leben“ (ebd., 108), die ebenfalls funktional statt substantiell bestimmt ist. Der Versuch, durch den Begriff des Gedichteten eine Grenze zwischen Leben und Kunst zu ziehen, steht im 207 Patrick Primavesi, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, S. 465.

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Zusammenhang mit Benjamins Kritik sowohl an einer Versöhnung durch das Ästhetische als auch an der Vorstellung, Kunst im Leben aufgehen zu lassen: „[…] je unverwandelter der Dichter die Lebenseinheit zur Kunsteinheit überzuführen sucht, desto mehr erweist er sich als Stümper.“ (Ebd., 107) Die Kritik an eine Totalisierung des Ästhetischen bzw. einer Vermischung der Kunst mit dem Leben hat Astrid Deuber-Mankowsky auf Benjamins Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie und den literarischen wie theoretischen Produktionen des George-Kreises zurückgeführt: „Er nahm […] diese Gehalte – die Frage des Verhältnisses von Leben und Kunst, Leben und Wissenschaft, Leben und Gesetz – auf, um sie der Lebensphilosophie zu entwenden und der philosophischen Kritik zuzuführen.“208 In diesem Zusammenhang zeigt Deuber-Mankowsky zugleich, wie in der Idee des „Gedichteten“, ähnlich wie auch im Ausdruckslosen aus dem Wahlverwandtschafts-Aufsatz, die kritische „Bestimmbarkeit“ (ebd., 106) des dichterischen „Gehalt[s]“ (ebd., 105) auf eine Zäsur, eine Grenzmarkierung in den Bezügen zwischen Leben und Dichtung, Ethik und Ästhetik verweist, in der sich Benjamin an Kants transzendentalphilosophische Grundsätze orientiert.209 Insgesamt bestimme Benjamin dabei das Verhältnis, die Bezüglichkeit zwischen Dichtung und Leben von einer notwendig apriorischen Grenze, eines Abstands oder „Hiatus“210 aus. Denn die eigentümliche, „nicht auf der Hand liegende[…] Verbindung von Transzendentalphilosophie und ästhetischem Kommentar“211 sei nicht gekoppelt an die Fluchtlinie einer potentiellen Überschreitung im ästhetischen Akt, sondern wird, als Sorge um die Grenze, von Deuber-Mankowsky als Kern der philosophischen Anstrengung Benjamins definiert.212 Allerdings sei hier nochmals ausdrücklich betont, dass Benjamin mit der Konzeptualisierung des „Gedichteten“ keineswegs bestrebt ist, ausschließlich eine absolute Grenze ohne 208 Astrid Deuber-Mankowsky: Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen. Jüdische Werte, kritische Philosophie und vergängliche Erfahrung. Berlin 2000, S. 166f. 209 Vgl. ebd., S.  105. Zur Kritik an der illegitimen Vermengung und an der Überschreitung dieser Grenzen, die zum Ästhetizismus und zum Heroenkultus führen, vgl. auch die Unterscheidung von moralischer Individualität und moralischer Stellvertretung im Wahlverwandtschafts-Essay (WB I.1, 157). Die Trennung, die „diskontinuierliche[…] Struktur“ (ebd., 213) von Logik, Ethik und Ästhetik als Aufgabe des Denkens zeitigt für Deuber-Mankowsky eine philosophische Ethik, die sich, vor dem Hintergrund des Primats der Handlung im Ethischen (vgl. WB VI, 55), als konkrete „ethische Gesinnungsgenossenschaft“ (Br  I, 78) darstellt, wobei Deuber-Mankowsky eine Kontinuitätslinie der Beziehung Benjamins zu Heinle, Noeggerath über Rang bis Brecht zieht, was mithin impliziert, dass letztlich dieses Denken des Ethischen im Kern unverändert bleibt. 210 Astrid Deuber-Mankowsky, Der frühe Walter Benjamin, S. 224. 211 Ebd., S. 217. 212 Ebd., S. 89.

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die Möglichkeit eines Bezugs zu denken, wie es in Deuber-Mankowskys Studie bisweilen suggeriert wird. Vielmehr ist das Denken der Grenze als Bedingung der Möglichkeit der Herstellung von polaren Bezüglichkeiten explizit mitgedacht: „Die Einsicht in die Funktion setzt aber die Mannigfaltigkeit der Verbindungsmöglichkeiten voraus.“ (Ebd., 106) Diese Verbindungsmöglichkeiten verweisen die Erkennbarkeit dann auch auf „die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt.“ (ebd., 105) Das ist hier einmal mehr bei Benjamin über die Denkfigur der Intensität gedacht. Welcher Art der Zusammenhang im Gedichteten ist, so Benjamin, davon „zeugt die Methode seiner Darstellung“ (ebd., 108). Gegenstand der Darstellung und damit der Beobachtung durch den ästhetischen Kommentar ist die „Intensität der Verbundenheit“ (ebd.) als ein gradueller Modus der Bezüglichkeit zwischen zwei Polen. Diese Doppelbestimmung des Gedichteten als einer Mitte, als Grenze und Voraussetzung der Intensivierung eines spannungsgeladenen Bezugs weist nochmals deutliche strukturelle Ähnlichkeiten zu Friedlaenders Konzept der ‚schöpferischen Indifferenz‘ auf. Benjamins Überlegungen zu Hölderlins nüchterner Darstellungsweise in der Dissertation und dem früheren Gedichtvergleich wurden an dieser Stelle so ausführlich dargelegt, weil zu vermuten ist, dass diese Ausführungen und die in denselben Zeitraum fallenden Anmerkungen über Scheerbarts „Nüchternheit“ (WB II.2, 619) als durchaus aufeinander bezogene Reflexionen über ästhetische Darstellungsfragen betrachtet werden können. Sowohl zu Benjamins Betonung von Hölderlins Forderung, die technē des Schreibens, mithin das „Handwerksmäßige[…]“ (WB I.1, 105) des künstlerischen Hervorbringens als „Zeugnis […] bewußte[r] Tätigkeit“ (ebd.) in den Mittelpunkt einer modernen Poetik zu stellen, als auch zu den geschichtsphilosophischen Überlegungen über die Überwindung des Mythologischen gibt es Resonanzen im Verb „zeugen“ am Ende von Benjamins Scheerbart-Text: In Bezug auf die „strenge Fügung des erzählenden Aufbaues“ (WB II.2, 619) und in Bezug auf die „Nüchternheit und Sprödigkeit“ (ebd.) der Darstellung des „technischen Vorgangs“ (ebd.). Insbesondere die dem kritischen Gedichtvergleich unterlegte Auseinandersetzung mit dem Krieg und der Funktion des Dichters finden in Benjamins Lesabéndio-Lektüren dort eine Entsprechung, wo er Scheerbart eine nüchterne, „geistige Überwindung des Technischen“ (ebd.) attestiert, die die destruktiven Kräfte der Technik, die sich in den Materialschlachten des Weltkrieges entladen haben, zugunsten einer konstruktiven Durchdringung des Technischen bannt.213 Als kalkuliert-nüchterne Durcharbeitung des 213 Im Kunstwerk-Aufsatz ist diese Bannung der destruktiven Kräfte weiterhin präsent, wenn Benjamin dort, wie bereits gesehen, der mythischen Rezeption der Technik durch den

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Technischen lädt Scheerbart, so scheint Benjamin argumentieren zu wollen, den technischen Turmbau in seinem Roman nicht mit mythischen Sinn auf. Gerade der Humor sei vielmehr Ausdruck für die „Überwindung des Sinnes“ (ebd., 618) zugunsten einer „keuschen und strengen Deutung der Geschehnisse, die an ihre äußerste, reinste Oberfläche angeschlossen ist.“ (ebd., 619) Auch später noch scheint dieser zweite Aspekt, den Benjamin an Hölderlins Nüchternheit und am „Gedichteten“ festmacht, nämlich die mit der Polarität von Antike und Moderne zusammenhängende Durcharbeitung und letztlich Überwindung des Mythologischen, eine strukturelle Entsprechung in den Scheerbart-Lektüren zu haben. So etwa noch 1929 im Surrealismus-Essay, in dem er den rauschhaften „Mystifikation[en]“ (WB II.1, 302) der Technik durch die Surrealisten die „gut ventilierten Utopien eines Scheerbart“ (ebd., 303) entgegenhält.214 Ohne vor diesem Hintergrund die heuristische Konstruktion des „Gedich­ teten“ als eine differenzielle Grenzregion zwischen Leben und Dichtung direkt auf die Scheerbart-Lektüre übertragen zu wollen, scheint doch im Faschismus, die das Menschopfer fordert, den heiteren Spielcharakter einer konstruktiven Technikrezeption gegenüberstellt. (vgl. hierzu das Kap. 8.3). 214 Dass dieser späte Rekurs auf Scheerbart mit der Nüchternheit zusammenhängt, zeigen die Vorarbeiten zum Surrealismus-Essay, in denen es an der entsprechenden Stelle deutlicher noch als im Text selbst heißt: „Es ist sehr lehrreich, den überstürzten Anschluß des Surrealismus an das unverstandene Maschinenwunder […] mit der scharfen, heiteren Nüchternheit Scheerbartscher Utopien zu vergleichen.“ (WB II.3, 1028) Das richtet sich explizit gegen das bei den Surrealisten im Rausch noch präsente ‚Magische‘ (vgl. WB II.1, 302). Im Kontrast dazu sieht Benjamin bei Scheerbart und Brecht einen Prozess in „Richtung auf eine von allen magischen Elementen gereinigte Sprache“ (WB II.3, 956). Diese zur Durcharbeitung des Mythologischen bei Hölderlin durchaus analoge Überwindung des Magischen bei Scheerbart steht in sachlichem Zusammenhang mit Benjamins erneut einsetzenden sprachtheoretischen Überlegungen zum mimetischen Vermögen. In diesem Zusammenhang steht auch die durch Scholem überlieferte Formel von der „Liquidation der Magie“. (Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 259) Die vor allem politischen Debattenzusammenhänge dieser sprachtheoretischen Überlegungen gehören nicht mehr im engeren Sinne zu dem hier untersuchten Arbeitsund Produktionszusammenhang, sondern zeigen vielmehr einen weiteren Aspekt der vielfältigen und teilweise bereits nachgezeichneten Fortwirkung der frühen ScheerbartLektüren aus dem Umkreis der ‚Politik-Schrift‘. Es bleibt daher einer späteren Arbeit vorbehalten, den Spuren der Funktion des Scheerbart-Rekurses im SurrealismusEssays nachzugehen. Zu zeigen wäre hier vor allem wie der mit der Organisation einer neuen Physis durch die Technik zusammenhängende „Bildraum[…]“ der „profane[n] Erleuchtung“ (WB II.1, 310), der auf das dialektische Bild und die Theorie des Erwachens vorausweist, nicht nur von den Surrealisten, einer an Marx geschulten materialistischen Perspektive und einer auf das Kollektive übertragenen Rezeption der Freud’schen Psychoanalyse getragen ist, sondern zugleich auch von den „heiteren Nüchternheit“ der Technikutopie Scheerbarts.

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Humor als das von Benjamin herausgestellte nüchterne Darstellungsprinzip im Lesabéndio eine strukturelle Ähnlichkeit zu bestehen. Wo das „Gedichtete“ als Mitte zwischen Leben und Dichtung „die geistig-anschauliche Struktur derjenigen Welt [ist], von der das Gedicht zeugt“ (ebd., 105), scheint in Benjamins Lesabéndio-Lektüre der Humor eine vergleichbare Position eines „geistige[n] Zeugnis[ses]“ (WB II.2, 619) als einer Mitte einzunehmen, an der die kalkulierte künstlerische Gestaltung als „strenge[…] Sachlichkeit“ (ebd., 618) und utopischer Gehalt aufeinander beziehbar werden, ohne sich zu vermischen. Ähnlich wie das „Gedichtete“ weist Benjamin den Humor am Ende seines Textes als eine Grenzregion aus, die gleichzeitig in die „Region der Kunst“ (ebd., 619) hinein- und über sie hinausweist. In der bereits ausführlich dargelegten Doppelcharakterisierung des Humors in der Abschlusspassage des Scheerbart-Textes lässt Benjamin den Humor offenbar nicht nur vom Phantasie-Pol aus, also von der bereits dargelegten „Entstaltung des Gestalteten“ (WB VI, 114), sondern auch vom Pol der konstruktiv-nüchternen Darstellung des Technischen in der „strengen Fügung des erzählenden Aufbaus“ (WB II.2, 619) auf das Problem der Undarstellbarkeit des utopischen Gehalts reagieren.215 In kritischer Distanz zu Blochs Vorstellung der Kunst als vor-scheinendes Utopiereservoir wird der Humor zum Agnes einer produktiven ästhetischen Polarität aus Phantasie und Konstruktion, Entstaltung und Gestaltung, Untergang und Aufgang, also derjenigen Polaritäten, die seit dem Theologisch-politischen Fragment zugleich auch Benjamins systematischen Überlegungen zum Politischen bestimmen. Darin zeigt sich die zentrale Bedeutung von Benjamins frühen Arbeiten über 215 Dabei ist dieses am Humor verhandelte Darstellungsproblem, auf das Benjamin in seiner Scheerbart-Deutung verweist, nicht mehr das klassische Problem von Subjektivität und Objektivität, das noch die „dichtungsgeschichtliche Situation des Erzählens“ des 19. Jahrhunderts bestimmt hat, wie Wolfgang Preisendanz es beschrieben hat. (Wolfang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 31985, S. 7) Von Hegels Diagnose der prosaischen Verhältnisse aus fragt Preisendanz, „ob nicht der Grundzug des humoristischen Erzählens, die Polarität von Erzählgegenstand und Erzählweise, in Korrespondenz tritt mit jener Spannung zwischen Poesie einerseits, Verbindlichkeit der vorgegebenen Wirklichkeit andererseits […].“ (Ebd., 11) Das Problem der Subjektivität scheint sich für Benjamin am Lesabéndio offenbar nicht in gleicher Weise zu stellen. Denn Benjamin insistiert immer wieder darauf, dass Scheerbart im Roman die menschliche Perspektive hinter sich gelassen hat, wie bereits mehrfach am Motiv der ‚Entmenschung‘ dargelegt wurde. Das Darstellungsproblem scheint vielmehr den im Technischen realisierten Akt permanenter Leibmetamorphose zu betreffen, der nirgend stillsteht, sondern immer erneut in der durch den Humor wirksamen Polarität aus Einbildungskraft und Phantasie in Gang gesetzt wird. Nicht das einzelne Subjekt, sondern das Kollektiv ist zugleich Subjekt und Objekt des Humors.

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Scheerbart, an denen sich abschließend noch einige grundsätzliche Überlegungen anfügen lassen. 9.5

Kritik und Synthese. Das ‚Gedichtete‘, das ‚Ausdruckslose‘ und der ‚Humor‘ (Hölderlin, Goethe, Scheerbart) Nirgends kann man aber die Eigenart eines Denkstils klarer erfassen, als da, wo das Denken vor die Aufgabe der Synthese gestellt ist. Karl Mannheim216

In den methodischen Vorüberlegungen (Kap. 6) wurde in Bezug auf Benjamins Texte zu Beginn der 1920er Jahre bereits kurz auf den offenen Schreibprozess hingewiesen, an dem sich die vielfältigen philosophischen, ästhetischen und politischen Selbstverständigungsversuche dokumentieren. Das betrifft insbesondere die Suche nach einer zeitgemäßen Theorie und Praxis der Kritik, von der die „Kunstkritik“ zwar „nur ein Ausschnitt“ (Br II, 72) bilden sollte, aber dennoch in Form der frühromantischen Kunstkritik den produktiven Ausgangspunkt darstellt. In seiner Dissertation fällt Benjamin ein differenziertes Urteil: Auf der einen Seite haben die Frühromantiker das Kunstwerk und seine kritische Beurteilung von allen dogmatischen Kunstregeln befreit, auf der anderen Seite könne eine rein immanente Kritik „keinen heutigen Denker völlig befriedigen“ (WB I.1, 72). Dass Benjamin sich im Anschluss an die Dissertation Gedanken über aktuelle Formen von Kritik macht, dokumentiert unter anderem ein Brief vom 2.2.1920 an Ernst Schoen. Benjamin berichtet dort von intensiven Überlegungen, die im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage nach dem „Prinzip der großen literarisch-kritischen Arbeit“ (Br II, 72) stehen und „das gesamte Feld zwischen Kunst und eigentlicher Philosophie“ (ebd.) betreffen. Weiter heißt es dann zur eigenen Arbeit: „Außerdem werde ich mir eines ursprünglichen Grundes und Wertes der Kritik auch in meinen eigenen Arbeiten bewußt.“ (Ebd.) In der Benjamin-Forschung standen hinsichtlich dieser frühen Anstrengun­ gen um eine aktuelle ästhetische Kritikform neben der Dissertation von jeher und mit weitem Abstand die diskursprägende Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften und dahinter und rezeptionsgeschichtlich etwas später 216 Karl Mannheim: Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischhistorischen Denkens in Deutschland. In: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 408-508, hier: S. 495.

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einsetzend der Aufsatz über Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin. In Bezug auf die vorangegangenen Untersuchungen zu den intertextuellen Arbeitsund Produktionszusammenhängen der frühen ‚Politik-Schrift‘ ist es allerdings nicht unbedeutend, dass Benjamin im Anschluss an seinen brieflichen Bericht an Schoen direkt auf seine Bloch-Rezension verweist, wollte er doch in dieser Kritik ausweisen, inwiefern seine eigene „Idee der Philosophie“ (ebd., 73) sich „diametral entgegengesetzt“ (ebd.) zu derjenigen von Bloch verhält. In den vorangegangenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass diese Kritik sowohl eine politische („Methode Nihilismus“) als auch eine ästhetische Dimension (‚medialer Humor‘) hat, an denen Benjamin seine eigene Position profiliert. Mehr noch konnte gezeigt werden, wie diese kritische Auseinandersetzung mit Bloch über Friedlaenders Bloch-Rezension in die Deutungsarbeit am Lesabéndio eingeht. Für den dritten Teil der ‚PolitikSchrift‘ liegt dadurch ein Arrangement mehrerer Kritiken vor: Benjamins Bloch-Kritik, Friedlaenders Bloch-Rezension und die „philosophische Kritik des Lesabéndio“ (Br I, 109). Durch den Vergleich mit Friedlaenders kritischer Bloch-Rezension konnten zwischen Benjamin und Friedlaender intertextuelle Beziehungen und strukturelle Ähnlichkeiten nachgewiesen werden, die sich bis in die vergleichbaren Argumentationen und eingesetzten Denkfiguren hinein manifestieren. Diese Kritiken bilden zusammen ein konfrontatives Textarrangement, das von einer rein immanenten Lektüre aus kaum aufschlussreich ist, sondern eine Perspektive verlangt, die den Kritiker Benjamin von den zeitgenössischen Kontexten und Debatten sowie den von ihm selbst inszenierten Textkonstellationen her betrachtet. Insbesondere für die spätere Praxis des Rezensierens scheint diese Form der kritischen Intervention in aktuelle Debatten durch das Konstellieren mehrerer Texte bei Benjamin stilprägend.217 Für Benjamins frühe Arbeit an einer zeitgemäßen Kritikform und der Suche nach den eigenen gleichermaßen philosophischen, ästhetischen und politischen Grundprämissen ist die Bedeutung seiner Arbeit an Scheerbarts Lesabéndio daher auch auf eine Ebene mit den Arbeiten über Goethe und Hölderlin zu stellen. Diese Bewertung geht zugleich über die reine Tatsache hinaus, dass in allen drei Arbeiten die ästhetische Kritik zentral ist. Auch auf der sachlichen Ebene sollten die drei Arbeiten stärker zusammen betrachtet werden. Denn mit dem Gedichteten (Hölderlin-Aufsatz), dem Ausdruckslosen (Goethes Wahlverwandtschaften) und dem Humor (Scheerbart-Texte) verhandelt Benjamin in allen drei Zusammenhängen Denkfiguren, die auf das Problem einer 217 Vgl. zu einer solchen Konstellation die Untersuchung zu Benjamins Rezension der von Hans Wohlbold besorgten Neuausgabe der Farbenlehre Kap. 4.

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Kapitel 9

Verhältnisbestimmung des Ästhetischen zur Erkenntnistheorie, zur Ethik und zur Politik reagieren. Wo das Gedichtete stärker die Frage der Erkenntnisfähigkeit von der technē des Schreibens verhandelt, das Ausdruckslose wiederum das Ethische als Fragen nach der Freiheit sittlicher Handlungen, betrifft der Humor das Darstellungsproblem utopischer Gehalte im Kunstwerk, wobei das jeweils nur die offensichtlichsten Schwerpunkte sind und Überschneidungen in den vorangegangenen Untersuchungen teilweise auch angezeigt werden konnten. An allen drei Denkfiguren können zudem vielfältige Wirkungsweisen auch in späteren Schriften nachgewiesen werden, wobei die vorangegangenen Untersuchungen zu zeigen versucht haben, dass von Benjamins Überlegungen zum Scheerbart’schen Humor die deutlichste Verbindung zu seinen späteren materialistischen Umschriften der frühen politischen Arbeiten besteht. In den drei mit der Suche nach einem zeitgemäßen Kritikbegriff zusammenhängenden Denkfiguren verhandelt Benjamin nicht weniger als die seit Über das Programm der kommenden Philosophie virulente Frage nach der Möglichkeit eines philosophischen Systems, das sein Vorbild in Kants Einteilung der Kritik in die Bereiche von Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik wählt; wobei ‚zeitgemäß‘ dann in diesem Zusammenhang zugleich verlangt, den historischen Abstand zu Kant durch eine geschichtsphilosophische Legitimation des Systems zu markieren. Die Überlegungen zum Humor sind daher den Ausführungen über das Gedichtete und das Ausdruckslose an die Seite zu stellen. Erst von den drei Denkfiguren zusammen gibt sich das Systematische in Benjamins Suche nach einer ästhetischen Erkenntnistheorie und einer politischen Philosophie zu erkennen. Allen drei Denkfiguren sind dabei auch vergleichbare Abgrenzungsbemühungen eingeschrieben, die auf zeitgenössische Debatten und Diskurse reagieren. So richten sich die Denkfiguren in vergleichbarer Weise gegen die avantgardistischen Programme einer Diffusion von Leben und Kunst, gegen die Versöhnung des Lebens im Ästhetischen durch den schönen Schein, gegen die Idee einer vor-scheinenden Antizipation besser gedachter Welten im Ästhetischen, gegen die ideologische Instrumentalisierung der Kunst für politische Zwecke. Gegen diese politischästhetischen Zeittendenzen sind die drei Denkfiguren getragen von ein und derselben erkenntniskritischen Grundoperation, die immer wieder dem Versuch dient, scheinbare Antagonismen, Dualismen bzw. Dichotomien, bei denen diejenige von Kunst und Leben sicherlich in allen drei Denkfiguren die grundlegendste ist, in die Form einer polar-differenziellen Spannungsbeziehung zu übersetzen. Als ein Drittes zwischen den Polen sind das Gedichtete, das Ausdruckslose und der Humor in Benjamins frühen Arbeiten Figuren der Mitte, die auf der einen Seite als konstitutive Grenze funktionieren und Vermischungen und Transgressionen zwischen den Polen verhindern. Auf der anderen Seite

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konnte gezeigt werden, dass allen drei Figuren gerade als Grenze das Vermögen zur Herstellung graduell zu unterscheidender Intensitätsbeziehungen qua Gegenstrebigkeit eignet. Im genuin politischen Zusammenhang konnte das ebenfalls für die Figur der Nihilismus aus dem Theologisch-politischen Fragment aufgezeigt werden, was ein weiteres Indiz für die politische Dimension der drei Denkfiguren darstellt. In dieser Doppelcharakterisierung aus Grenze und polarer Intensitätsbeziehung eignet allen drei Denkfiguren damit zugleich eine spezifische Form der Latenz: Sie deuten auf etwas, das nicht präsent ist und von Benjamin als Unverfügbares, als Hoffnung und als Messianisches adressiert wird. Als Mitte zwischen den Polen weisen sie auf etwas, das entzogen, bildlos, unscheinbar bleibt. Alle drei Aspekte, die Grenzfunktion, das Vermögen zur polaren Intensitätssteigerung und die Bildlosigkeit teilen die Denkfiguren, wie an mehreren Stellen dargelegt, mit Friedlaenders Grundgedanken der ‚schöpferischen Indifferenz‘. In diesen intertextuell nachweisbaren Korrespondenzen liegt Benjamins produktive Rezeption der Schriften Friedlaenders im Zusammenhang mit seinen frühen Bemühungen um eine Verhältnisbestimmung von Politik und Literatur begründet. An diesem Vergleich zwischen den drei Figuren lässt sich abschließend noch eine kurze Bemerkung zur Textgestalt der frühen „Arbeit über Politik“ (Br I, 127) anfügen, die sich aufgrund der bereits dargelegten problematischen Überlieferungssituation als vorsichtige philologische Spekulation darstellt, sich mithin einer konjekturalen Praxis, d.h. einer „Figur bedingten Wissens“218 bedient. Die Bemerkung betrifft die Frage nach der Aufteilung der ‚Politik-Schrift‘ in zwei oder drei Teile. Benjamins eigene Aussagen sind hier teilweise widersprüchlich und geben auch nicht immer deutlich zu erkennen, ob er von geplanten oder bereits ausgeführten Arbeiten spricht. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser gehen in ihrem Kommentarteil der Gesammelten Schriften noch davon aus, dass es sich um zwei Teile handelt, von denen der „erste Teil ‚Der wahre Politiker‘ mit Sicherheit […] und dessen zweiter ‚Die wahre Politik‘ mit den beiden Kapiteln ‚Abbau der Gewalt‘ und ‚Teleologie ohne Endzweck‘ […] mit Wahrscheinlichkeit ausgeführt wurden.“ (WB II.3, 943) Die Grundlage für die Annahme, dass es sich um zwei Teile handelt, bilden die Erinnerungen Scholems, die auch Eingang in die erste Ausgabe der Briefe gefunden haben.219 Die fragliche Stelle, an der sich die unterschiedlichen Lesarten knüpfen, findet 218 Uwe Wirth: Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens. In: Caroline Welsh/Stefan Willer (Hg.): ‚Interesse für bedingtes Wissen‘. Wechselbeziehungen zwischen den Wissenskulturen. Paderborn 2008, S. 269-294, hier: S. 269. 219 Zu Scholems Erinnerung über die Textgestalt der Politik-Schrift und zu Benjamins BlochRezension vgl. Gershom Scholem, Geschichte einer Freundschaft, S. 52 und S. 119.

508

Kapitel 9

sich in einem Brief von Benjamin an Scholem vom 1.12.1920. In der ersten zweibändigen Ausgabe der Briefe wird die dort erwähnte philosophische Kritik von Paul Scheerbarts Lesabéndio mit dem ersten Teil der Politik-Schrift, also dem Teil Der wahre Politiker gleichgesetzt.220 In der sechsbändigen Ausgabe der Gesammelten Briefe hingegen wird diese Lesabéndio-Kritik als dritter Teil eingestuft, wenngleich die Herausgeber betonen, dass die „Lesung dritter […] nicht zweifelsfrei“ (Br II, 111) sei. Auch Chryssoula Kambas geht in ihrer Rekonstruktion der Schrift davon aus, dass die Lesabéndio-Kritik zum ersten Teil gehört.221 Uwe Steiner wiederum, der sich in unterschiedlichen Arbeiten um Aufklärung des Kontextes dieser ersten intensiven philosophischen Auseinandersetzung mit Politik bemüht hat, konnte plausibel nachweisen, dass es auf der Grundlage der überlieferten Texte thematisch sinnvoller ist, von drei Teilen auszugehen.222 Danach ergebe sich für die Arbeit ein dreiteiliger Aufbau mit folgenden Titeln: 1. Der wahre Politiker, 2. Die wahre Politik, 3. LesabéndioKritik. Die Arbeit folgt hier der Lesart der Gesammelten Briefe und Uwe Steiner, da erst in der eigenständigen Behandlung derjenigen Texte, die mit der philosophischen Kritik von Paul Scheerbarts Roman zusammenhängen, der konkrete Zusammenhang dargestellt werden kann, der sich mit der Frage des Verhältnisses von Politik und Ästhetik beschäftigt. Im Vergleich mit Benjamins Wahlverwandtschafts-Arbeit lässt sich hier aber noch ein anderer Grund für die Dreiteilung der ‚Politik-Schrift‘ vermuten. Betrachtet man die Prolegomena und Aufzeichnungen zur Wahlverwandtschafts-Arbeit, findet sich dort eine schematische „Disposition“ (WB I.3, 835) zur Arbeit, die sehr detailliert den Aufbau und die Argumentationsführung der Arbeit wiedergibt. Die drei Teile der Arbeit geben sich dabei in ihrer spezifischen dialektischen Struktur zu erkennen: Der erste Teil trägt dort die Überschrift „Das Mythische als Thesis“ (ebd.), der zweite Teil lautet „Die Erlösung als Antithesis“ (ebd., 836) und der dritte Teil ist betitelt mit „Die Hoffnung als Synthesis“ (ebd., 837). Könnte Benjamin für die Architektur der ‚Politik-Schrift‘ eine vergleichbare dialektische Struktur im Sinn gehabt haben? Festzustellen ist, dass sich das mit dem Humor oben verglichene Ausdruckslose im dritten Teil der Arbeit findet. Sollte Benjamin tatsächlich eine ähnliche Struktur für die ‚Politik-Schrift‘ in Betracht gezogen haben, ließe sich vermuten, dass damit dann auch einiges für die Eigenständigkeit der LesabéndioKritik als dritter Teil der Arbeit spricht. Der „Hoffnung als Synthesis“ eignet 220 Vgl. Walter Benjamin: Briefe, Bd. I, hg. v. Gershom Scholem/Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. 1978, S. 228 und S. 247. 221 Vgl. Chryssoula Kambas, Walter Benjamin liest Georges Sorel, S. 54. 222 Vgl. Uwe Steiner, Der wahre Politiker, S. 66 und passim.

Politik des Humors

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im Wahlverwandtschafts-Aufsatz bekanntlich keine dialektische Vermittlung und Aufhebung der Gegensätze, sondern weist auf etwas Unverfügbares, das nicht positiv benannt wird, sondern durch den Prozess des „Untergang[s] des Scheins“ (WB I.1, 193), der die Versöhnung nicht intentional realisiert, sondern nur die „paradoxeste, flüchtigste Hoffnung“ (ebd., 200) auf Versöhnung andeutet. Analog zu dieser ‚flüchtigen Synthesis‘ vermittelt auch der Humor in den Scheerbart-Texten nicht intentional Kunstwerk und utopische Gehalte, sondern setzt beide in eine Spannung, deren Bezug über ein hindeutendes ‚Zeugen‘ verläuft. Dass in dieser „gespannte[n] und problematische[n] […] Vermittlung“ (Br IV, 18) eine spezifische dialektische Methode der Polarisierung am Werk ist, die zwischen den an der Offenbarung orientierten sprachphilosophischen Prämissen und der Suche nach einer Verhältnisbestimmung zwischen Kunst und Politik verortet ist, nimmt Benjamin auch später unter materialistischen Vorzeichen noch für sich in Anspruch. (vgl. Kap.  1.1 und 1.2) Diese nicht-sprachliche, nicht in Erscheinung tretende „Synthesis“, die Spannung zwischen Aussagbaren und Unaussprechlich nicht auflöst, sondern als Figur der Mitte in das Zentrum der Überlegungen stellt, teilen jedenfalls das Ausdruckslose und der Humor. Denn auch der Humor artikuliert keine Synthese im hegelschen Sinne, sondern deutet auf eine „Synthesis“ im kollektiven Gelächter, wie es am Lesabéndio gezeigt wurde. In diesem Gelächter drückt sich kein direkter Bezug auf dasjenige aus, was unaussprechlich bleibt, sondern es zeugt wortlos von einer Übereinkunft, einer Zuversicht, aber auch von einer Hoffnung einer anderen Planetenordnung. In diesem Sinne heißt es dann auch in Benjamins früher Aufzeichnung zum Humor: „Wenn das Wort nicht mehr vermittelt ist der Humor da.“ (WB VI, 130)

V. Passage III – Schreiben inmitten der Extreme

Kapitel 10

Haltung und Indifferenz Gibt es zeitlose Bilder, so gibt es zeitlose Theorien gewiß nicht. Walter Benjamin (WB III, 258)

10.1

Grenze, Intensität, Latenz

Das abschließende Kapitel  10 macht es sich zur Aufgabe, die bisher unter verschiedenen Gesichtspunkten und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Debattenkonstellationen untersuchte Aufmerksamkeit Benjamins und Friedlaenders auf latente Positionen der Mitte zwischen polaren Extremen auf die Reflexionen über den prekären Schreibort als kritischer Intellektueller und Schriftsteller inmitten der politischen sowie ästhetischen Extreme der Zeit zu beziehen. Insbesondere im Kapitel 1.2 konnte bereits gezeigt werden, dass Benjamin den zeitdiagnostischen Einsatz polarer Denkfiguren an die Frage einer kritischen politischen Schreibweise koppelt, deren Möglichkeiten und Probleme er im Begriff der ‚Haltung‘ verhandelt; einerseits hinsichtlich einer kritischen materialistischen Methode als die „Haltung des Materialisten“ (Br IV, 19) und andererseits hinsichtlich der Selbstreflexion des Schriftstellers über seine Haltung zu den konkreten ökonomischen Produktionsvoraussetzungen von Literatur. Dabei ist allerdings der Begriff der ‚Haltung‘ als solcher noch nicht näher untersucht worden. In den verschiedenen Untersuchungskonstellationen konnte bisher außer­ dem herausgearbeitet werden, dass die bei Benjamin und Friedlaender vergleichbare Reflexion auf einen latenten Indifferenzpunkt immer wieder um drei Aspekte kreist. Diese Indifferenz als prekäre Mitte bildet erstens eine Grenze zwischen zwei extremen Polen, zweitens wird sie zur Voraussetzung intensiver Bezugsformen qua Gegenstrebigkeit dieser Pole und drittens bleibt sie dabei selbst als „schwebende[…] Mitte“ (F/M 10, 328) latent. Diese Art von latenter Mitte betraf bei Benjamin das ‚Wortlose‘, einen medial konzipierten Nihilismus und den Humor genauso wie das ‚Ausdruckslose‘ oder das ‚Gedichtete‘ in seinen großen Aufsätzen über Goethe und Hölderlin. Vor diesem Hintergrund gilt es nachfolgend zu untersuchen, inwiefern der gleichermaßen erkenntnistheoretisch als auch darstellungsästhetisch begründete Zusammenhang der

© Brill Fink, 2023 | doi:10.30965/9783846767689_011

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Kapitel 10

drei genannten Aspekte unter ‚systematischen‘1 Gesichtspunkten auch einen Vergleich zwischen Benjamins durchgehend zu beobachtender Affinität für den Einsatz des Begriffs der Haltung und Friedlaenders polaritätsphilosophisch konzipierten Begriff der Indifferenz anbietet. Dafür wird nachfolgend in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst folgen unter V.2 einige kurze Anmerkungen zum historischen Kontext der Reflexion über den Schreibort im intellektuellen Feld der Weimarer Republik. Anschließend steht unter 10.3 die von Benjamin selbst als „aufschlussreich[…] bezeichnete, tatsächlich aber rätselhafte und daher erklärungsbedürftige „etymologische Betrachtung“ (WB VI, 425) über den Begriff der Haltung im Zentrum, die er 1931 während einer Busreise von Nizza nach Juan-les-Pins anstellt. An dieser Tagebuchnotiz lassen sich unterschiedliche Einsatzfelder des Begriffes der Haltung abstecken. 10.2

Haltung des Wartens? Typologien und Reflexionsfiguren prekärer Selbstverortung

Im März 1922 erscheint in der Frankfurter Zeitung ein kurzer Aufsatz Sigfried Kracauers mit dem Titel Die Wartenden, der die „Entleerung des uns umfangenden geistigen Raumes“2 thematisiert. Das von Kracauer entworfene zeitdiagnostische Panorama greift dabei einige der für die 1920er und 30er Jahre zentralen gesellschafts- und kulturkritischen Motive und Krisentopoi auf und fragt nach symptomatischen Verhaltensweisen, mit denen unterschiedliche Typen auf die diagnostizierten Krisenmomente der Gegenwart reagieren. Allen voran stützt sich Kracauer dabei auf Georg Lukács, indem er erstens die These von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“3 aufgreift, die hier als „das metaphysische Leiden an dem Mangel eines hohen Sinnes“4 bzw. als „Vertriebensein[s] aus der religiösen Sphäre“5 erscheint, und zweitens nutzt er den ideologiekritischen Begriff der „Entfremdung“6 und schließt ihn mit dem „metaphysische[n] Leiden“ kurz. Daneben ruft er weiterhin die an Nietzsches Historismus-Kritik orientierte Übersättigung an allen Bildungsgütern auf, nennt die von Simmel herkommende Analyse der Vereinzelung 1 Inwiefern von einer ‚systematischen‘ Reflexion in Bezug auf Benjamins Begriffseinsatz gesprochen werden kann, wird im Untersuchungsteil 10.3 zu diskutieren sein. 2 Siegfried Kracauer: Die Wartenden [1922]. In: ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a. M. 1977, S. 106-119, hier: S. 106. 3 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, S. 30. 4 Siegfried Kracauer, Die Wartenden, S. 106. 5 Ebd., S. 107. 6 Ebd.

Haltung und Indifferenz

515

im großstädtischen Leben, schlägt einen großen Bogen von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in dem er die ‚transzendentale Vereinsamung‘ von der neuzeitlichen Subjektkonstituierung sowie den damit einhergehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Rationalisierungsprozessen herleitet, greift die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft in Anlehnung an Ferdinand Tönnies auf und kommt auch auf das Problem des Relativismus als Krise der Wissenschaften im Allgemeinen sowie des historistischen Geschichtsbewusstseins im Speziellen zu sprechen. Der „Schrecken“ des durch den Verlust transzendentaler Versicherungen entstandenen „Horror vacui“7 löse, so Kracauer, ein Begehren nach religiösen Absicherungen und neuen Gemeinschaftsformen aus, das auf der einen Seite von unterschiedlichen esoterischen ‚Lehren‘ und ideologischen Bewe­ gun­gen bedient werde und auf der anderen Seite zu einer Rückkehr zu den traditionellen Kirchen führe.8 Weder der ernstzunehmende Rückgang zum christlichen Glauben oder die problematischen esoterischen Lehren noch die Flucht vor der Krise in massenkulturelle Zerstreuungsangebote interes­ sie­ren Kracauer im weiteren Verlauf des Textes. Vielmehr markieren diese Umgangs- und Verhaltensformen mit der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ die extremen Pole eines Spannungsfeldes. Kracauer richtet seine Aufmerksamkeit daher auch anschließend auf das Feld zwischen diesen beiden extremen Polen von ‚neuer Religiosität‘ und Zerstreuung und skizziert knapp eine Typologie, die „drei Arten des Verhaltens“ kennt: Erstens die Haltung des „prinzipiellen Skeptiker[s]“9, dessen Idealtyp Max Weber repräsentiert und der sich gegenüber allen metaphysischen/religiösen Fragen als ein Entsagender und Verzichtender darstellt. Zweitens nennt Kracauer die „Haltung […] der Kurzschluß-Menschen“10, die ein unbändiger „Wille zu Glauben“ 7 8

9 10

Ebd., S. 109. In ähnlicher Weise hat auch Benjamin in Erfahrung und Armut hervorgehoben, dass eine auffällige Reaktion auf die geistige Situation der Zeit im „beklemmenden Ideenreichtum“ bestehe, „der mit der Widerbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam“ (WB II.1, 214f.). Kracauer scheint mit der Erwähnung der Steiner’schen Anthroposophie ebenfalls diese „zwischen Wissenschaft und Religion sich ausspannend[n] Scheinbrücke[n]“ (Siegfried Kracauer, Die Wartenden, S.  110) im Sinn zu haben. Neben diesen esoterischen Lehren und den Rückbezug auf die alte Kirche nennt Kracauer zudem noch das Auftauchen „messianische[r] Sturm- und Dranggeister kommunistischer Färbung“ (ebd.), was ganz deutlich an Ernst Bloch erinnert, und hierarchische Gemeinschaftsordnungen, wie sie ihren exemplarischen Ausdruck im George-Kreis finden. Siegfried Kracauer, Die Wartenden, S. 113. Ebd., S. 114.

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Kapitel 10

und eine „ungeduldige[…] Sehnsucht“11 antreibt, das sie allzu schnell „in ein bergendes Gehäuse hineinzuschlüpfen“12 veranlasst, was wiederum zu „Selbstbetrug[…]“13 führe. Die dritte Art bezeichnet Kracauer dann als „Haltung des Wartens“14, die gewissermaßen zwischen den anderen beiden steht, da die Wartenden „die Brunst messianischer Enthusiasten ebenso zurückweisen wie die Eingliederung in esoterische Zirkel“15. Der Wartende entsagt nicht, wählt aber auch nicht die erstbeste Gelegenheit, um eine neue „Beziehung zum Absoluten zu erlangen.“16 Die „Überspannung des theoretischen Denkens“17 veranlasst ihn vielmehr zu einem „zögernde[n] Geöffnetsein“18. Wollte man versuchen, Benjamins Schreibhaltung innerhalb dieser Typologie zu lokalisieren, wäre die ‚Haltung des Wartenden‘ sicherlich die nächstliegende. Immerhin hat Benjamin in seinen Passagen-Aufzeichnungen sogar die Konzeption einer „Metaphysik des Wartens“ als „unerläßlich“ (WB V.2, 1029) bezeichnet. Benjamin unterscheidet dabei ebenfalls drei Typen bzw. Figuren, die aber anders gelagert sind als bei Kracauer, weil sich zumindest die ersten beiden Figuren im Zusammenhang mit dem Phänomen der Langenweile zur rein immanenten Zeit verhalten: „Man muß sich nicht die Zeit vertreiben – muß die Zeit zu sich einladen. Sich die Zeit vertreiben (sich die Zeit austreiben, abschlagen): der Spieler. Zeit spritzt ihm aus allen Poren. – Zeit laden, wie eine Batterie Kraft lädt: der Flaneur. Endlich der Dritte: er lädt die Zeit und gibt in veränderter Gestalt – in jener der Erwartung – wieder ab: der Wartende.“ (WB V.1, 164)

In einer damit zusammengehörigen Notiz wird der Wartende gegenüber den anderen beiden Figuren sogar als „synthetische[r] Typ“ (WB V.2, 1034) bezeichnet: Er „lädt und gibt die Energie der ‚Zeit‘ in veränderter Form weiter“ (ebd.).19 Ähnlich wie bei Kracauer wird der Wartende damit nicht mit einem 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Ebd., S. 115. Ebd., S. 114. Ebd., S: 115. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117. Ebd. Ebd., S. 118. Ebd., S. 116. Der Themenkomplex ‚Langeweile‘ (vgl. WB V.1, 156-178) aus den Passagen-Aufzeichnungen steht in enger Beziehung zu Benjamins Überlegungen zur Muße und zum Müßiggang (vgl. WB V.2, 961-970). Martin Jörg Schäfer hat diese Aufzeichnungen zum Müßiggang bereits explizit unter der Perspektive der ‚Muße als Schreibhaltung‘ untersucht und auf Benjamins „Selbstbeschreibung[en] des eigenen schriftstellerischen Tuns“ bezogen. (Martin Jörg Schäfer: Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit,

Haltung und Indifferenz

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Zustand der „Entspannung“20 assoziiert, der aufgrund seines wartenden „Geöffnetseins“21 bloß passiv der kommenden Dinge harrt. Diese passive Form des Wartens hat Benjamin insbesondere in seinen Notizen zu den geschichtsphilosophischen Thesen als Verhängnis der sozialdemokratischen Theorie beschrieben. Diese habe, so Benjamin, die Revolution als ein „Ideal“ und als „unendliche Aufgabe“ (WB I.3, 1231) bestimmt, so dass sie fortan nur noch auf diese Revolution warten musste: „War die klassenlose Gesellschaft erst einmal als unendliche Aufgabe definiert, so verwandelte sich die leere und homogene Zeit sozusagen in ein Vorzimmer, in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte.“ (Ebd.)

Diese Art von Warten impliziert eine historische Kausallogik, die, so Benjamins Argument, nicht auf einen revolutionären Bruch mit der Zeit führe, sondern die Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen der Fortschrittsideologe reproduziere.22 Der Wartende bei Benjamin hingegen verändert die Zeit, indem er sie mit Erwartungen auflädt. Damit ist das Warten bei Benjamin, ähnlich wie bei Kracauer, eine „angespannte Aktivität“23. Auffällig ist zunächst ganz grundsätzlich, dass Kracauer und Benjamin ihr typologisches Interesse im Begriff der Haltung formulieren. Bei beiden steht dabei im Hintergrund die problematische Situation des kritischen Intellektuellen als politischer Akteur inmitten der als polarisiert wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese problematische Situation hat Benjamin brieflich gegenüber Kracauer einmal pointiert in der Frage zusammengefasst: „Aber für wen schreibt man?“ (Br III, 228) Die damit verbundene Frage nach dem

20 21 22

23

Ästhetik. Zürich/Berlin 2013, S. 249-323, hier: S. 250) Wenngleich der Bezug auf Muße und Müßiggang in Bezug auf die Untersuchung des Begriffs der Haltung in der vorliegenden Arbeit nicht weiterverfolgt wird, kann die Arbeit hier anschließen, indem der Begriff der Haltung nachfolgend ebenfalls als ein Begriff aufgefasst wird, der seinen „erkenntnisträchtige[n] Charakter“ (ebd., S. 251) dort erhält, wo Benjamin ihn mit der Reflexion über die eigenen Schreibverfahren im konkreten Schreibakt zusammenschließt. Siegfried Kracauer, Die Wartenden, S. 117. Ebd. In einer anderen Notiz zitiert Benjamin Josef Dietzgen direkt: „Wir warten unsere Zeit ab … Wird doch unsere Sache alle Tage klarer und das Volk alle Tage klüger.“ (WB I.3, 1249) Benjamin resümiert knapp: „Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Vorstellung, mit dem Strom zu schwimmen.“ (Ebd.) Die Notiz weist auf die bereits besprochene XI. geschichtsphilosophische These, in der Benjamin dem Zeit-, Natur- und Technikverhältnis der sozialdemokratischen Theorie Charles Fouriers utopische Phantasien entgegenhält. (vgl. hierzu Kap. 8.3). Siegfried Kracauer, Die Wartenden, S. 117.

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Kapitel 10

Ort und der politischen Interventionsmöglichkeit des kritischen Schriftstellers und Intellektuellen zwischen Politik und Ästhetik in der Weimarer Republik hat mannigfaltige Typisierungen, Programme und Modelle hervorgebracht, die auf die Polarisierungstendenzen der Zeit reagieren. Ob Kurt Hillers im ersten Ziel-Jahrbuch versammelten Aufrufe zu tätigem Geist (1916), die mit Heinrich Manns kurzem Aufsatz unter dem programmatischen Titel Geist und Tat eingeleitet werden, Ernst Blochs Geist der Utopie (1918), Hugo Balls Zur Kritik der deutschen Intelligenz (1919), Alfred Webers soziologische Studie über Die Note der geistigen Arbeiter (1923) und Karl Mannheims daran anschließende Überlegungen zur „sozial freischwebende[n] Intelligenz“24, Alfred Döblins quasipädagogischer Antwortbrief an einen Studenten unter dem Titel Wissen und Verändern! (1931) oder Bertolt Brechts Vorstellung von einem ‚eingreifenden Denken‘25, das Benjamin wiederum dort aufgreift, wo er in dem geplanten Zeitschriftenprojekt Krisis und Kritik die bürgerliche Intelligenz auf die Reflexion der eigenen Position inmitten der gesellschaftlichen Verhältnisse verpflichtet, damit aus dieser Einsicht wiederum „eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion“ (WB VI, 619) entstehen kann: Diese allseitig erweiterbare Reihe deutet an, dass das Spannungsfeld von Literatur und Politik in den Zwischenkriegsjahren unzählige Spielarten kritischer und zeitdiagnostischer Textformen hervorbringt, die immer auch mit einer selbstreflexiven Positions- und Rollenbestimmung des kritischen Intellektuellen und Schriftstellers unterlegt sind.26 In der uneinheitlichen Gemengelage literarischer Ausdrucksformen (Spätexpressionismus, Neue Sachlichkeit, engagierte Literatur) und 24 25 26

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 135. Vgl. Bertolt Brecht: Eingreifende Denken: In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften I, hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a. M./ Weimar 1992, S. 524-525. Für eine gute überblicksartige historische Einordung der Figur des kritischen Intellektuellen in Deutschland vgl. Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: ders.: Eine Art Schadensbegrenzung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt a. M. 1987; S. 25-54. Diese Fragen beschäftigen aber nicht nur den kritischen Intellektuellen, sondern stellen sich mindestens seit der Jahrhundertwende auch für den Wissenschaftler und sein Erkenntnisinteresse an der Gegenwart. Als paradigmatisch für diese Diskurse kann hier sicherlich Max Webers großer Aufsatz über die Frage der Objektivität der Sozialwissenschaften bezeichnet werden, der die Reflexion auf die eigene Position des Erkennenden inmitten der gesellschaftlichen Verhältnisse als konstitutiven Bestandteil von Gegenwartserkenntnis hervorhebt: „Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-andersGewordenseins andererseits.“ (Max Weber: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und

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im Zusammenhang mit teilweise zugespitzten intellektuellen Debatten sehen sich Schriftsteller demnach vor entscheidende Fragen gestellt: Was für ein Schriftstellertypus ist der engagierte Intellektuelle als kritischer Zeitgenosse? Welche Rolle kann der kritische Intellektuelle einnehmen? Welche Rolle spielt die Literatur als Ort von Gesellschaftskritik? Gerade die für Benjamin vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Machtergreifung und der beginnenden Exilzeit zunehmend dringlicher wer­ dende Kritik am Historismus, an der Sozialdemokratie und an den gängigen modernen Fortschrittsnarrativen veranlasst ihn allerdings, über Kracauers oben dargestellte, eher formale Bestimmung der zögernden ‚Haltung des Wartenden‘ hinaus vor allem in den Passagen-Aufzeichnungen das messianische Warten mit einer dialektischen Theorie des kollektiven Erwachens zu kombinieren. Diese wird von ihm genauso wie das Warten als eine spezifisch polare, in der Mitte eines Spannungsverhältnisses stehende Form der „Synthesis“ (WB V.1, 579) beschrieben: als schwebender Zustand zwischen Traum- und Wachzustand. Die ‚Haltung des Wartenden‘ und die ‚Theorie des Erwachens‘ bilden somit selbst wiederum zwei Pole eines Spannungsfeldes, zwischen denen sich Benjamins geschichtsphilosophische Konstruktionen seit den späten 1920er Jahren aufspannen. Einschlägig für Benjamins Arbeit an diesem Spannungsfeld ist der 1929 verfasste Essay Der Sürrealismus, da sich dort verschiedene Interessenschwerpunkte, theoretische Bemühungen und mitunter konkrete Einflüsse zwar nicht erstmalig, aber doch besonders auffällig kreuzen. Erstens hat Benjamin betont, dass der Essay „einige Prolegomena der Passagen-Arbeit enthält“ (Br III, 472). Das betrifft insbesondere die am Ende des Essays nur knapp skizzierte Idee der Erzeugung eines „Bildraume[s] […], in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht.“ (WB II.1, 310) Das weist auf die geschichtsphilosophischen Überlegungen zum dialektischen Bild. Dass am „Beginn“ (Br  V, 96) der Arbeit an dem ‚Passagen-Werk‘ die Lektüre von Louis Aragons Le paysan de Paris (1926) stand, hat Benjamin später gegenüber Adorno dann auch selbst kenntlich gemacht, wobei er den Unterschied zugleich dort markiert, wo es um seine ‚Theorie des Erwachens‘ geht.27

27

sozialpolitischer Erkenntnis [1904]. In: ders: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 71988, S. 146-214, hier: S. 170). Die Differenz zu Aragon macht Benjamin dann in seinen erkenntnistheoretischen Aufzeichnungen deutlich: „Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit gegen Aragon: Während Aragon im Traumbereiche beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Element bleibt – die ‚Mythologie‘ – und dieser Impressionismus ist für die vielen gestaltlosen Philosopheme des Buches verantwortlich zu machen – geht es hier um Auflösung der ‚Mythologie‘ in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur geschehen durch die Erweckung eines noch nicht

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Kapitel 10

Neben dieser Linie, die vom Surrealismus-Essay zur Frage einer geschichtsphilosophischen Dialektik als „Jetzt der Erkennbarkeit“ (WB V.1, 578) führt, deutet die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, wie es im Untertitel des Surrealismus-Essays heißt, auf einen zweiten Interessens- und Erkenntnisschwerpunkt, der Benjamins Arbeiten der 1930er Jahre bestimmt und die Frage nach der „Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft“ (WB II.2, 778) betrifft. Diese zweite Linie nimmt ihren Ausgangspunkt im Surrealismus-Essay von dem Versuch, die „Energien der Bewegung ab[zu] schätzen“, und zwar unter dem zeitdiagnostischen Blick auf die „Krisis der Intelligenz, genauer gesagt, des humanistischen Freiheitsbegriffs“ (WB II.1, 295). In Hinblick auf diese Krise benennt Benjamin dann auch direkt dasjenige Problem, das den Surrealismus zur dieser letzte[n] Momentaufnahme der europäischen Intelligenz macht: Die europäische Intelligenz (über den Surrealismus hinaus, der hier eher exemplarisch ist) steht nämlich in Bezug auf ihre eigene Politisierung, die bereits die Frage einer Alternative zur faschistischen ist, vor einer grundlegenden „Entscheidung“ (ebd.) der Positionsbestimmung zwischen den extremen Polen von Anarchismus und „revolutionärer Disziplin“ (ebd.), mithin zwischen einer individuellen Gesinnung und dem Parteieintritt. Als Frage der politischen Theorie genauso wie als Frage der konkreten sozialen Praxis, als welche Benjamin den Surrealismus primär perspektiviert, taucht die „Entscheidung“ am Ende des Essays erneut auf und wird weniger direkt vom Surrealismus als vielmehr in einer kritischen Distanz von ihr auf das Gebiet der bereits genannten „profane[n] Erleuchtung“ verwiesen. Beide dargelegten Seiten von Benjamins theoretischen Bemühungen der 1930er Jahre weisen vielfältige Berührungspunkte auf und stehen im Zusam­ menhang mit dem, was Benjamin in einer Rezension von 1928 bereits die „Überprüfung des Wahrnehmungsinventars“ nennt, „die unser Weltbild noch unabsehbar verändern wird“ (WB III, 151). Auf der einen Seite ‚baut‘ er sich in Texten wie dem Kunstwerk-Aufsatz, der Arbeit über Eduard Fuchs sowie den Passagen-Exposés und Passagen-Konvoluten für seine eigene „Haltung des Materialisten“ (Br IV, 19) genauso wie für eine „materialistische[…] Kunsttheorie“ (Br V, 193) ein methodisches „Teleskop“ (ebd.), das den Begriff des Fortschritts systematisch durch den der Aktualisierung ersetzt. Auf der anderen Seite untersucht er in Texten wie Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, die er als „une analyse de l’attitude bewußten Wissens vom Gewesenen.“ (WB V.1, 571f.) Die Kritik an den mythologischen ‚Restbeständen‘ weist zurück auf die Kritik aus dem Surrealismus-Essay, in dem Benjamin den Surrealisten eine problematische Nähe zu magischen, mystifizierenden Praktiken in ihrer Konzentration auf das Erlebnis des Rausches vorwirft. (vgl. WB II.1, 302f).

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des écrivains français contemporains“ (WB II.3, 1516) bezeichnet, im Vortrag Der Autor als Produzent, in den Essays über Brecht, aber auch in kritischen Texten wie Theorien des deutschen Faschismus unterschiedliche politische Selbstpositionierungen von Autoren anhand konkreter Darstellungspraktiken und Schreibweisen. Im Folgenden wird diese zweite Seite zu untersuchen sein, indem der Fokus auf die Bedeutung des Begriffs der Haltung sowohl als Reflexionsfigur für den eigenen Schreibort als auch als kritische Analyse­ kategorie unterschiedlicher schriftstellerischer Schreibtechniken, Autorinsze­ nierungen und ästhetischer Verhandlungen des Politischen gelegt wird. 10.3

„Allure“/„Haltung“ – Gehen/Unterbrechung. Benjamins „etymologische Betrachtung“ über den Begriff der Haltung Dennoch gefällt ihm an der Etymologie nicht die Wahrheit oder die Herkunft des Wortes, es ist vielmehr die Wirkung einer Überbelichtung, die sie gestattet: das Wort wird wie ein Palimpsest gesehen: mir scheint dann, dass ich Ideen auf der Höhe der Sprache habe – was ganz einfach das Schreiben ist (ich spreche hier von einer Praxis, nicht von einem Wert). Roland Barthes28

An einer auf den ersten Blick abgelegenen Stelle zwischen autobiographischen Betrachtungen und Reisenotizen rückt Benjamin eine von ihm selbst als „aufschlussreich[…]“ bezeichnete „etymologische Betrachtung“ (WB VI, 425) über den Begriff der Haltung ein, die ihm an der prekären Schwelle zwischen Schlafund Wachzustand plötzlich „in den Sinn [kam]“ (ebd.): „Wie ich am 5ten Mai nachts todmüde im Autobus vom Casino de la Lotée in Nizza nach Juan-les-Pins zurückfuhr, kam mir eine aufschlussreiche etymologische Betrachtung in den Sinn. Die Franzosen sagen allure, wir: Haltung. Beide Worte sind aus dem ‚Gehen‘ genommen. Um aber das gleiche – in wie begrenztem Sinn es das gleiche ist, sagt aber diese Bemerkung, zu bezeichnen, spricht der Franzose vom Gange selbst – allure –, der Deutsche von seiner Unterbrechung – Haltung.“ (Ebd.)

Was hat es mit diesem kurzen Eintrag aus dem von Mai bis Juni 1931 datierten „Tagebuch“ (ebd., 422) auf sich? Zunächst lässt sich feststellen, dass dasjenige, was hier als „etymologische Betrachtung“ inszeniert wird, offensichtlich keine 28

Roland Barthes: Über mich selbst. Berlin 2010, S. 98. (Herv. i. O.)

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detaillierte, philologisch motivierte begriffsgeschichtliche Explikation darstellt, sondern eine wachträumerische Begriffsassoziation, die ebenso unvermittelt wieder abbricht, wie sie sich als plötzlicher Einfall im „todmüde[n]“ Busreisenden eingestellt hat. Damit eignet diesem Tagebucheintrag ein im doppelten Sinne performativer Charakter: Erstens verhandelt die Stelle inhaltlich ein plötzlich auftauchendes Aperçu über das Spannungsverhältnis von Bewegung („allure“ bzw. „Gang selbst“) und Unterbrechung („Haltung“) und inszeniert diese ‚Eingebung‘ zugleich auf der formalen Ebene durch mehrere Parenthesen, die der Textbewegung selbst einen intermittierenden Charakter verleihen. Das spiegelt sich zweitens auch auf der Ebene des Tagebuches insgesamt wider, unterbricht doch das Aperçu deutlich den vorangegangenen diaristischen Bericht. Dieser die Textbewegung unterbrechende Charakter der unvermuteten „etymologische[n] Betrachtung“ erlaubt es zugleich aber auch, verschiedene Anschlüsse zu anderen Reflexionen aus dem Tagebuch und darüber hinaus zu anderen Texten herzustellen, die eine „aufschlussreiche“ Textdeutung allererst ermöglicht. Liest man das Aperçu als eine in Szene gesetzte Reflexion über das Schreiben, scheint der intermittierende Charakter der Textbewegung eine solche ‚sprunghafte‘ Lektüre- und Deutungspraxis geradezu zu verlangen. Das gilt auch, wie noch an mehreren Stellen zu zeigen sein wird, für Benjamins Einsatzweisen des Begriffs in seinen Schriften: So wie die „etymologische Betrachtung“ sich nicht auf eine strenge Definition des Begriffs festlegt, sondern vielmehr ein Spannungsfeld zwischen Dynamik und Unterbrechung inszeniert, verhalten sich auch die fluktuierenden Einsatzweisen des Begriffs in Benjamins Schriften. Indem nachfolgend vor diesen Hintergrund die zwischen Bewegung und Unterbrechung changierenden Wechselbeziehungen zwischen dem Aperçu, dem Reisebericht und verschiedenen Einsatzfeldern des Begriffs näher untersucht werden, kann der Deutungsradius der Textstellen sukzessive ausgeweitet werden. Denn die nächtliche Betrachtung steht erstens in Zusammenhang mit Überlegungen, die am Morgen desselben Tages angestellt wurden und der zitierten Passage unmittelbar vorausgehen; zweitens ist es im Kontext des Reiseberichts insgesamt zu verorten; drittens gehört die Passage zu einem Konvolut von Texten, die Benjamin unter dem Titel Material zu einem Diskurs über Brecht (vgl. WB II.3, 1372) versammelt hat; viertens und abschließend gilt es zu zeigen, wie Benjamin den Begriff der Haltung als Reflexionsfigur des eigenen Schreibens inmitten der Extreme auffasst. Erstens: Der nächtlichen Autobus-Szene geht eine Eintragung desselben Tages („Juan les pins 5 Mai morgens“, WB VI, 424) voraus, die als Vorgeschichte aufschlussreich ist, weil sie die „etymologische Betrachtung“ als ein Aperçu über das

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Schreiben als solches lesbar macht. Dieser morgendliche Eintrag besteht aus einer längeren Reflexion über den Schreibstil Ernest Hemingways, in deren Verlauf der Unterschied zwischen einem „gute[n]“ und einem „schlechte[n]“ (ebd.) Schriftsteller daran bemessen wird, wie sie jeweils Denken und Aussprechen aufeinander abstimmen. Der ‚schlechte‘ Schriftsteller, so Benjamin, sage mehr als er denkt, wohingegen der ‚gute‘ Schriftsteller derjenige sei, „der nicht mehr sagt als man denkt.“ (Ebd.) Dieser Unterscheidung folgt unmittelbar ein einschränkender Hinweis, der zu erkennen gibt, dass Benjamin hier die Frage einer zeitgemäßen politischen Schreibweise verhandelt: Der ‚gute‘ Schriftsteller sei nämlich, so betont Benjamin nachdrücklich, nicht „im Sinne Vertreter des ‚Klaren und Einfachen‘“ (ebd.) aufzufassen. Diese kritische Abgrenzung scheint vor allem gegen das offizielle literaturpolitische Programm der KPD gerichtet zu sein. Ein Jahr nach Benjamins Tagebucheintrag wird Georg Lukács dieses Programm des ‚Klaren und Einfachen‘ in einem Artikel in der Linkskurve auf die Forderung zuspitzen, den Begriff der Tendenz durch denjenigen der Parteilichkeit zu ersetzen. In Lukács‘ Idee von der Faktizität des Politisch-Seins der Literatur, die sich durch das ‚marxistische‘ Basis-Überbau-Theorem begründet, geht es um die „richtige dialektische Abbildung“29 und „Darstellung der objektiven Wirklichkeit mit ihren wirklichen treibenden Kräften, mit ihren wirklichen Entwicklungstendenzen […].“30 Klare und einfache Darstellung der gesellschaftlichen Strukturen gilt dann als Ausweis richtiger parteilicher Stellungnahme. Im Kapitel 1.2 konnte bereits gezeigt werden, dass Benjamin sich kritisch von einer vergleichbaren Definition des Verhältnisses von Politik und Literatur bei Bernard von Brentano absetzt. Wenn Benjamin 1934 in seinem Vortrag Der Autor als Produzent wiederum seine Betrachtungen über politisches Schreiben vom Begriff der Tendenz aus entwickelt, um die Frage der politischen Tendenz an die „literarische Tendenz“ (WB II.2, 684) zu knüpfen, lässt sich vermuten, dass in dieser Begriffsverwendung auch ein Einspruch gegen Lukács Konzeption von ‚Parteilichkeits-Literatur‘ eingelagert ist. Die morgendliche Tagebuchaufzeichnung von 1931 über Hemingways Schreibstil nutzt indes noch nicht den Begriff der Tendenz, sondern führt eine Analogie zwischen Schreiben und Gehen ein, um eine andere Bezugsform von Schreiben und Denken zu entwickeln, die auf die dann folgende „etymologische Betrachtung“ über den Begriff der Haltung vorausweist:

29 30

Georg Lukács: Tendenz oder Parteilichkeit [1932]. In: ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985, S. 109-121, hier: S. 119. Ebd., S. 118.

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Kapitel 10 „Eben diesen höchst naheliegenden Abweg aber gilt es zu meiden. Es ist die Grundlage aller Einsicht in die Dinge des Stils, daß es dies: Sagen was man denkt überhaupt nicht gibt. Das Sagen ist nämlich nicht nur ein Ausdruck sondern vor allem eine Realisierung des Denkens, die es den tiefsten Modifikationen unterwirft genau so wie das Gehen auf ein Ziel zu nicht nur der Ausdruck eines Wunsches es zu erreichen sondern seine Realisierung ist und ihn den tiefsten Modifikationen aussetzt. Wie aber diese Modifikationen ausfallen, ob sie den Wunsch veredeln, präzisieren oder ihn unscharf und allgemein werden lassen, das hängt vom Training des Schreibenden ab. Je mehr er seinen Körper in Zucht hat, je genauer er seinen Körper aufs Gehen beschränkt, die überflüssigen ausfahrenden und schlenkernden Bewegungen meidet, desto mehr wird sein Gang selber zu einem Kriterium des Wunschziels, wird es veredeln oder es fallen lassen, wenn es der Mühe nicht wert ist.“ (WB VI, 425)

Die Analogie zwischen Gehen und Schreiben will Benjamin als deutlichen Gegensatz zu der instrumentellen Zweck-Mittel-Logik des ‚Klaren und Einfachen‘ verstanden wissen, die den genuin darstellungsästhetischen Gehalt politischer Schreibweisen gerade dadurch überspringe, so Benjamins Argument, dass sie das Geschriebene zu einem bloß nachträglichen „Ausdruck“ eines vorher bereits Gedachten herabsetzt. Aber verpflichtet die von Benjamin dargestellte eigentümliche sparsame Ökonomie des Schreibens, die auf alle manierierten Expressionen („die überflüssigen ausfahrenden und schlenkernde Bewegungen“) verzichtet, den ‚guten‘ Schriftsteller nicht letztlich auch auf einen ‚klaren und einfachen‘ Schreibstil? Und scheint darüber hinaus nicht die „Einsicht“, dass es „dies: Sagen was man denkt überhaupt nicht gibt“, auch den zurückhaltenden Schreibstil des ‚guten‘ Schriftstellers zu problematisieren, dem Benjamin attestiert hatte, dass er zwar nicht mehr sage als er denke, aber – so müsste man ergänzen – doch wohl das, was er denkt, sagt? Die Fragen so zu stellen, suggeriert, dass hier zwei literaturpolitische Programmatiken gegenüberstehen. Die zitierte Passage zeigt aber, dass Benjamin keineswegs auf die Formulierung eines Programms zielt. Dabei erinnert die Unterscheidung zwischen „Ausdruck“ und „Realisierung“ des Denkens, die mit dem „Gehen auf ein Ziel“ und dem ‚Gehen als solchem‘ analogisiert wird, zunächst an Heinrich von Kleists Aufsatz Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. Anders als in Kleists Überlegungen über verschiedene experimentelle Strategien ‚umwegigen‘ Anfangens, die letztlich immer auf das Auffinden eines „Ende[s]“31 im Sinne des 31

Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. An R. v. L. In: ders: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. v. Klaus Müller-Salget. Frankfurt a.M 1990, S. 534-540, hier: S. 535.

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‚Fertig-Gedachten‘ bezogen bleiben, scheint Benjamin die Spannung zwischen Denkprozess und Gedachtem aufrecht erhalten zu wollen. Denn das von ihm anhand des Schreibstils Hemingways aufgeworfene Problem zwischen Denken und Schreiben wird mittels der eingeführten Analogie zwischen Gehen und Denken nicht aufgelöst, sondern vielmehr noch verstärkt, indem es in das Zentrum des Schreibens selbst hineinverlegt wird. Damit verlagert Benjamin zugleich die Diskussion um eine politische Schreibweise auf die Reflexion eines Spannungsverhältnisses zwischen Gedachtem und Denkprozess, zwischen Geschriebenen und Schreibprozess, was wiederum einem einfachen Übertragungsprozess – sozusagen vom Kopf in die Schreibhand – zuwiderläuft. Besteht das Differenzkriterium zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚schlechten‘ Schreibstil dann letztlich darin, inwiefern der Denk- bzw. Schreibprozess als solcher im Schreiben nicht nur einkalkuliert, sondern in der Schrift auch sichtbar wird? Die Frage muss zunächst offen bleiben, denn sie ist erst vor dem Hintergrund des Begriffs der Haltung beantwortbar. Zunächst lässt sich die Spannung zwischen ‚Gehen auf ein Ziel hin‘ und dem ‚Gang als solchem‘ auf einer grundsätzlicheren Ebene reformulieren als Spannung zwischen einem transitiven und einem intransitiven Schreibakt.32 Hier scheint die zitierte Passage zumindest auf den ersten Blick deutlicher, indem sie mit der Betonung des „Gang[s] selber“ als „Kriterium des Wunschziels“ für ein intransitives Schreibverfahren zu votieren scheint. Stärker noch als die Betonung der Eigenständigkeit des Denk- bzw. Schreibprozesses scheint Benjamin allerdings den Blick auf die Tatsache lenken zu wollen, dass dieser Prozess nicht linear ist, sondern permanenten „Modifikationen“ unterworfen bleibt, die sowohl produktive („veredeln, präzisieren“) als auch destruktive („unscharf und allgemein werden“) Energien freisetzen können. Während der Begriff ‚Modifikation‘ an Benjamins darstellungstheoretische Überlegung zur Methode als „Umweg“ (WB I.1, 208) aus der erkenntniskritischen Vorrede des Trauerspielbuch erinnert, deutet der Hinweis, dass die Spannung zwischen den produktiven und destruktiven Seiten der permanenten „Modifikationen“ durch die körperliche „Zucht“ kontrolliert werden könnten, hingegen irritierenderweise auf die ‚Haltung‘ als Ausdruck (soldatischer) Körperdisziplinierung, wie er vor allem in den anthropologischen Diskursen der 1930er Jahre virulent ist. Zu diesem Diskurs hat Helmuth Lethen in seiner Studie über Verhaltenslehren der Kälte betont, dass Haltung als Idee von einer „auf Dauer gestellte[n] Entscheidung“ vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik ein 32

Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Roland Barthes: Schreiben, ein intransitives Verb? In: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, S. 240-250.

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„Zauberwort“ für die Konstruktion eines männlich-soldatischen Habitus geworden sei, in dessen Zentrum die Vorstellung von einem „wehrhaften Subjekt[…]“ steht, das vom „Pathos des Einzelkämpfers“ getragen werde.33 Neben Helmuth Plessner, Martin Heidegger und Carl Schmitt werden bei Lethen immer wieder auch Benjamin und Brecht als Referenzpunkte für eine Rekonstruktion der Debatte über die „Kunstfigur“ der „kalte[n] persona“34 genannt. Auch das Historische Wörterbuch der Philosophie konzentriert sich unter dem Lemma ‚Haltung‘ ausschließlich auf eine „Grundkategorie der modernen, lebensphilosophisch bestimmten Kulturanthropologie und Existenzphilosophie“35. Obwohl anhand von Autoren wie Erich Rothacker, Karl Jaspers oder Arnold Gehlen zumindest angedeutet wird, dass der Begriff der Haltung Schnittmengen zu klassischen Handlungstheorien, zur Charakterologie und Typuslehren des 19. Jahrhunderts sowie zur Frage von Lebensstil und Lebensform aufweist, liegt die Betonung dennoch vor allem auf dem dezisionistischen Impuls des ‚Haltung-Einnehmens‘.36 Dass dem Begriff der Haltung „etwas nicht zu leugnendes Altbackenes“37 anhaftet, wie Phillip Wüschner feststellt, liegt wohl nicht zuletzt auch an seiner dominierenden anthropologisch-existentialistischen Prägung in den 1930er und 1940er Jahren. Theodor  W.  Adorno wiederum wird in einem 1950 gehaltenen Radiovortrag rückblickend vor allem die politischen Implikationen dieses Haltungsbegriffes scharf kritisieren und eine Kontinuitätslinie bis in die Nachkriegszeit feststellen: „Begriffe aus dem Vorfaschismus, wie der der Haltung, des Einsatzes, auch etwa des soldatischen Menschen, treten zwar im Augenblick abgelöst von der 33 34 35 36 37

Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994, S. 148. Ebd., S. 11. Gerhard Funke: ‚Haltung‘. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3. Basel 1974, Sp. 990-991, hier: Sp. 990. Vgl. zum Begriff der Haltung bei Erich Rothacker auch Volker Böhnigk: Haltung, Stil, Typus, Kultur. Rothackers begriffsgeschichtlicher Entwurf einer nationalsozialistischen Kulturtheorie. In: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012), S. 71-83. Phillip Wüschner: Eine aristotelische Theorie der Haltung. Hexis und Euexia in der Antike. Hamburg 2016, S. 41. Dem Begriff der Haltung haftet nicht nur etwas Altbackenes an. Er ist darüber hinaus auch noch in seiner psycho-physischen Doppelung ambivalent: Er kann einen körperlichen Ausdruck meinen (vor allem in Hinblick auf die soldatische Disziplinierung des Körpers), aber auch einen seelisch-geistigen Ausdruck bezeichnen (als Selbstverhältnis, Glauben, Meinen etc.). In beiden Aspekten drückt er aber vornehmlich etwas Festgesetztes, Feststehendes, Unbewegliches, Starres aus. Es wird daher zu zeigen sein, welche Strategien Benjamin nutzt, um den Begriff ausgerechnet zu einem Begriff zu machen, der zwischen Bewegung und Unterbrechung changiert.

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politischen Zielsetzung auf, der sie ihren fragwürdigen Ursprung verdanken. Dafür aber werden sie zu Fetischen gemacht. Man zelebriert eine Art des Heroismus an sich als Ideal richtigen Menschentums. Aber es wäre doch zu bedenken, wofür eigentlich dieser Heroismus einsteht, oder ob dem Begriff der heroisch auf sich selbst beharrenden Innerlichkeit überhaupt jene Würde und Substantialität zukomme, die er mit herrischer Geste beansprucht.“38

In seiner militärisch-bürgerlichen Doppelkonnotation artikuliere sich, so hebt auch Wüschner hervor, ein „Geschmack von Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit, Redlichkeit – im Zweifel sogar Männlichkeit als ein Wert an sich“39. Gerade die ‚bürgerliche Haltung‘ gerät dabei allerdings vor allem am Ende der 1920er Jahre in eine Krise. So diagnostiziert beispielsweise Otto Gmelin in seiner Naturgeschichte des Bürgers von 1929 eine gefährliche „Auflösung bürgerlicher Haltung“40 durch technische Neuerungen wie „Telegraph, Telephon, Radio“41, durch „Entindividualisierung“42, durch „Amerikanisierung“43 oder durch den sowjetischen „Kollektivismus“44. Es ist kein Zufall, dass diese – kulturkritische Motive mobilisierende – Diagnose über das Prekäre ‚bürgerlicher 38

39 40

41 42 43 44

Theodor W. Adorno: Die auferstandene Kultur. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20/2, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 453-464, hier: S. 458f. Adorno bezeichnet ‚Haltung‘ zudem mehrmals als exemplarischen Ausdruck des ‚Jargons der Eigentlichkeit‘, treffe doch auf die ‚Haltung‘ in besonderer Weise zu, was diesen ‚Jargon‘ auszeichne: „Der Jargon bändigt Engagement zur festen Einrichtung und bestärkt überdies die subalternsten Redenden in der Selbstachtung: sie seinen schon etwas, weil aus ihnen ein jemand spricht, auch wo er ganz nichtig ist.“ (Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd.6, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S.  413-526, hier: S.  421). Das betrifft bei Adorno insbesondere die Vorstellungen eines unveräußerlich-souveränen Subjekts: „Der Befund von Heideggers existentialer Analyse, derzufolge das Subjekt eigentlich sei, soweit es sich selbst besitzt, zeichnet positiv denjenigen aus, der souverän über sich als über sein Eigentum verfügt, Haltung hat; Verinnerlichung und Apotheose des naturbeherrschenden Prinzips.“ (Ebd., 498). Gerade der dezisionistische Charakter dieser souveränen ‚Selbstverfügung‘ laufe, so Adorno, im Begriff der Haltung „auf heroisierende Mythologie zu“ (ebd., 499). Phillip Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, S. 41. Otto Gmelin: Naturgeschichte des Bürgers. Beobachtungen und Bemühungen. Jena 1929, S. 101. Im Hintergrund stehen hier deutlich die Wirtschafts- und politischen Krisen am Ende der Republik, vor deren Hintergrund die Definition von ‚Haltung‘ folgendermaßen lautet: „Voraussetzung für Entwicklung und Fortschritt im Einzelnen und in der Gemeinschaft ist die Sicherheit. Deshalb ist Sicherung in jeder möglichen Hinsicht Grundelement bürgerlicher Haltung. […] Das Bedürfnis nach Sicherheit, wo und wie es sich zeigt, ist Kriterium bürgerlicher Einstellung und Veranlagung.“ (Ebd., S. 20). Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102.

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Haltung‘ mit einem Kapitel endet, das den Titel „Entscheidung“45 trägt. In der dezisionistischen Rhetorik der Gefahr und des Existenzkampfes nähern sich mitunter die bürgerliche und die soldatische Haltung am Ende der Weimarer Republik sukzessive einander an. Ist Benjamins Rede von der Haltung nun in diese dezisionistischen Rhetoriken und in den diskursiven Zusammenhang der Suche nach stabilen Verhaltens- und Handlungsmaximen einzuordnen? In seiner Kritik Theorien des deutschen Faschismus setzt sich Benjamin mit dem Begriff der ‚soldatischen Haltung‘ und der damit einhergehenden „Apotheose des Krieges“ (WB III, 240) auseinander. Die Kritik richtet sich explizit gegen die von Ernst Jünger herausgegebene Sammelschrift Krieg und Krieger, indem die ‚soldatische Haltung‘ und ihre politischen Implikationen als die fatale „metaphysische Abstraktion“ (WB III, 247) des Krieges durch Nationalismus, Schicksalsgläubigkeit und Heroenkult kritisiert werden. Dabei betont Benjamin: „‚Haltung‘ – in all ihren Reden das dritte Wort. Wer würde leugnen, daß die soldatische eine ist. Sprache aber ist der Prüfstein für eine jede und ganz und gar nicht nur, wie man gern annimmt, für die des Schreibenden.“ (Ebd., 244f.)

Damit wird deutlich, dass Benjamin die omnipräsente Rede über Haltungen nicht nur sehr deutlich registriert hat, sondern sich mit der Anmerkung zur Sprache als „Prüfstein“ zugleich von diesen Redeweisen abzusetzen versucht. Was Benjamin hier am Einsatz des Begriffs der Haltung kritisiert, wird besonders deutlich in Ernst Jüngers Beitrag über Die totale Mobilmachung, in der eine soldatische Haltung propagiert wird, mit der alle gesellschaftlichen „Energien“, vor allem der Massen, „bis ins innere Mark, bis in den feinsten Lebensnerv“ auf den Krieg ausgerichtet werden sollen.46 Wenn Benjamin 45 46

Ebd., S. 100. Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. In: ders. (Hg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930, S. 9-30, hier: S. 14. Weiter heißt es zu dem zwischen ‚antimodernen‘ und ‚radikalmodernen‘ Vorstellungen schwankenden Bild von den zu mobilisierenden ‚Energien der Masse‘: „Sie zu verwirklichen, ist die Aufgabe der totalen Mobilmachung, eines Aktes, durch den das verzweigte und vielfach differenzierte Stromnetz des modernen Lebens durch einen einzigen Griff am Schaltbrett dem großen Strome der kriegerischen Energie zugeleitet wird.“ (Ebd.) Zur Frage des Verhältnisses von Krieg und Moderne vgl. auch Thomas Weitin: Notwendige Gewalt. Die Moderne Ernst Jüngers und Heiner Müllers. Freiburg i.B. 2003. Benjamins kritische Anmerkung, dass Haltung „in all ihren Reden das dritte Wort“ ist, trifft aber weniger auf den Text von Jünger als auf denjenigen Ernst von Salomons zu. (vgl. Ernst von Salomon: Der verlorene Haufe. In: Ernst Jünger: Krieg und Krieger. Berlin 1930, S. 101-126) Aber auch in dem Vorwort wird der „innere Zusammenhang“ der Sammelschrift bereits über den „deutschen Nationalismus“ als „Haltung“ beschrieben: „Seine Haltung ist […] die eines heroischen Realismus, und das, was er zu begreifen wünscht,

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gegen die in der Schrift entlang des Begriffs der Haltung geforderte „Bereitschaft zur Mobilmachung“47 betont, dass die Notwendigkeit einer sprachkritischen Überprüfung von Haltungen „nicht nur“ den „Schreibenden“ betrifft, scheint er auf die Dringlichkeit einer politischen Kritik zu insistieren, die den rein innerliterarischen Diskurs über schriftstellerische Haltungen in Richtung auf gesellschaftliche Verhaltens- und Handlungsformen übersteigt. Benjamins eigene sprachkritische Überprüfung des Einsatzes des Begriffs der Haltung vollzieht sich allerdings genau an diesem „Schreibenden“. So heißt es in seinem Vortrag Der Autor als Produzent: „Die beste Tendenz ist falsch, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzukommen hat. Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas macht: nämlich schreibend.“ (WB II.2, 696)

An dieser Stelle ist eine nähere Betrachtung der Vorstellung von einem „[n] ützliche[n]“ (ebd.) ‚Vormachen‘ zunächst zurückzustellen, da hierauf weiter unten im Kontext von Benjamins Beschäftigung mit Brecht und der Idee eines „Modellcharakters der Produktion“ (ebd.) einzugehen sein wird. Hier ist zunächst allein die Tatsache von Interesse, dass Benjamin die Frage einer sprachkritischen Haltung, wie er sie in seiner Kritik an Ernst Jünger formuliert, direkt an den Schreibakt als solchen bindet. Dass Benjamin im Zusammenhang dieser sprachkritischen Beurteilung von Haltungen im politischen Kontext der letzten Jahre der Weimarer Republik möglicherweise auf frühe sprachphilosophische Überlegungen aus dem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zurückgreift,

47

ist jene Substanz, jene Schicht einer unbedingten Wirklichkeit, von der sowohl die Ideen wie die verstandesmäßigen Schlüsse nur die Äußerung sind.“ (Ernst Jünger: Vorwort. In: ders. (Hg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930, o.S.) Der ‚Haltung‘ wird dabei vor allem ein zwischen Verstand und Gefühl angesiedelter symbolischer Charakter des die Gegenwart bestimmenden kriegerischen ‚Gesetzes‘ zugesprochen: „Daher ist diese Haltung zugleich eine Symbolische, insofern sie jede Tat, jeden Gedanken und jedes Gefühl als das Symbol eines einheitlichen und unveränderlichen Seins begreift, dem es unmöglich ist, sich seiner eigenen Gesetzmäßigkeit zu entziehen.“ (Ebd.). Zum Phänomen der ‚soldatischen Männlichkeit‘ in der Literatur vgl. Torsten Voß: Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeit in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.E.  Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch. Bielefeld 2016; Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper: Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Frankfurt a. M. 1978. Zur Rolle der Medien für das Körperbild in der Weimarer Republik vgl. den Aufsatz von Michael Cowan/Kai Marcel Sicks: Technik, Krieg und Medien. Zur Imagination von Idealkörpern in den zwanziger Jahren. In: dies. (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst und Massenmedien 1918 bis 1933. Bielefeld 2005, S. 13-29. Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, S. 16.

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legt ein Eintrag aus dem Moskauer-Tagebuch nahe, in dem es ebenfalls um die Diskussion zeitaktueller politischer Schreibweisen geht. Gegenüber Bernhard Reich, der Benjamin auffordert, seine Schriften schneller zu publizieren, damit ihre politische Wirkung intensiviert werden könne, rekurriert Benjamin auf „Gedanken“ aus seinem frühen Sprachaufsatz, die ihm „niemals zweifelhaft geworden sind: ich verwies ihn auf die Polarität aller sprachlichen Wesenheit: Ausdruck und Mitteilung zugleich zu sein.“ (WB VI, 331) Benjamin führt diese Polarität vor allem gegen eine von ihm diagnostizierte Tendenz in gegenwärtig vorherrschenden politischen Schreibweisen an, die er als „rücksichtslose Ausbildung des Mitteilenden in der Sprache“ (ebd.) bezeichnet und „unbedingt auf Sprachzerstörung hinaus[läuft]“ (ebd.). Gegen eine rein instrumentelle Zwecklogik des Schreibens insistiert Benjamin mit dem Ausdruckscharakter auf eine Wirkung, die sich nicht ‚durch‘, sondern nur ‚in‘ der Sprache entfaltet. Diese Grundunterscheidung wurde in der vorliegenden Arbeit bereits an mehreren Stellen auch für Benjamins Reflexion auf das Spannungsverhältnis von Literatur und Politik geltend gemacht. (vgl. 5.3 und 7.3) Stärker als im Sprachaufsatz geht es Benjamin im Moskauer-Tagebuch aber darum, keine der beiden Seiten absolut zu setzen, sondern ihre polare Spannung als diejenige zweier extremer Pole zu betonen, zwischen denen er seine eigene schriftstellerische Position sprachkritisch verortet: Einerseits laufe, wie bereits erwähnt, eine rein mitteilende Instrumentalisierung der Sprache auf ihre ‚Zerstörung‘ zu. Das andere Extrem besteht in einer Verabsolutierung und „Erhebung ihres Ausdruckscharakters“ (WB VI, 331), die im „mystischen Schweigen“ (ebd.) endet. Auf einer allgemeineren Ebene ließe sich diese Polarität auch als diejenige zwischen Autonomie und Heteronomie des Schreibens fassen. Die eigene Position scheint Benjamin hier vor allem als eine latente Mitte zwischen beiden Polen verstanden wissen zu wollen, die von jeweils „konkrete[n] Aufgaben und Schwierigkeiten“ (ebd.) abhängt, nicht aber von der immer schon getroffenen Wahl eines stabilen Standpunktes, wie ihn die oben dargelegten existentialistischen Theorien der Haltung suchen. In diesem Sinne betont Benjamin, dass ihn „nicht […] bloße Überzeugungen noch auch abstrakte Entschließungen“ „wirklich weiterzubringen vermöchten“ (ebd.). Auf dieses sprachkritisch formulierte Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen zeitgenössischen Tendenzen des politischen Schreibens scheint auch Benjamins Anmerkung über die „Zucht“ im Sinne einer kalkulierten Haltung in seiner Unterscheidung zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚schlechten‘ Schreibstil in der Tagebuchnotiz aus dem Mai 1931 zu rekurrieren. Dabei spricht Benjamin nämlich genau genommen davon, seinen Körper „in Zucht“ zu bringen, um ihn auf das Gehen als solches ‚beschränken‘ zu können. Gegen die existentialistische Entscheidung für eine feststehende Position

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insistiert Benjamin auf die Bewegung, die Beweglichkeit des Schreibens selbst, die, so ließe sich die Unterscheidung von „allure“ und „Haltung“ auffassen, nur kurzzeitig einhält, um immer wieder erneut aufzubrechen und andere Schreibpositionen zu suchen.48 Das mutmaßlich bewusst hervorgehobene Paradoxe dieser Argumentation besteht darin, dass die ‚Beschränkung‘ nicht eine Reduktion auf einen, festen Standpunkt bezeichnet, sondern in der Dynamisierung von Positionen gerade eine Vervielfältigung möglicher Perspektiven fordert. Diese Paradoxie setzt Benjamin ins Zentrum seiner Reflexion über den Begriff der Haltung, indem er „Haltung“ mit „allure“ konfrontiert. Dieses Wechselspiel aus ‚Anhalten‘ und ‚Weitergehen‘ erinnert zudem an die Reflexion über die strategisch kalkulierten Einsatzpunkte engagierten Schreibens, wie Benjamin sie in dem Auftaktstück Tankstelle in der Einbahnstraße inszeniert hat. Dort hatte Benjamin ein Konzept potentieller „literarische[r] Wirksamkeit“ (WB IV.1, 85) vorgeführt, das an kleine Schreibformen gebunden ist, die nur kurzzeitig an wohlbedachten „verborgene[n] Nieten und Fugen“ (ebd.) einsetzen, ohne der „universale[n] Geste des Buches“ (ebd.) verpflichtet zu sein. (vgl. hierzu auch 1.2) Die kleinen Schreibformen scheinen eine Beweglichkeit zu erlauben, die immer wieder an anderen Stellen kurzeitig intervenieren.49 Dass diese ‚intermittierende Dynamik‘ ein spezifisches Konzept politischer Autorschaft vorstellt, zeigt dann eben auch die „etymologische Betrachtung“ über die Haltung, die bei genauerer Betrachtung ebenfalls auf einem polaren Spannungsverhältnis aufbaut. Auch in der ‚plötzlichen‘ „etymologische[n] Betrachtung“ zum Verhältnis von „allure“ und „Haltung“ lässt sich ein Fortwirken, genauer: eine politische ‚Übersetzung‘ früherer sprachphilosophischer Überlegungen vermuten, allerdings nicht aus dem frühen Sprachaufsatz, sondern aus Die Aufgabe des Übersetzers. Dass die mit dem Themenkomplex der Übersetzung verbundene 48

49

In dieser ‚Beschränkung‘ scheint auch Benjamins früheste Skepsis gegenüber einer allzu schnellen Vermittlung zwischen Schreiben und Politik nachzuwirken, der er vor allem in seinem Brief an Martin Buber von 1916 ein Konzept der Bezugsherstellung durch Intensivierung der polaren Spannung entgegenhält. (vgl. hierzu 5.3) Außerdem artikuliert sich in der Rede von der Beschränkung ein wesentliches Merkmal von Benjamins Einsatz des Begriffs der Haltung, das weiter unten nochmals aufgegriffen wird: eine spezifische Strategie des Zögerns und Zauderns. Gilles Deleuze und Félix Guattari haben diese spezifische Dynamik für eine ‚minoritäre Literatur‘ am Beispiel Kafkas als Verhältnis von „Territorialisierung“ und Deterrito­ rialisierung“ beschrieben. (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.  M. 82012, hier: S.  28). Diese Argumentationsfigur, die hier für das „Pragerdeutsch“ (ebd.) Kafkas ausgewiesen wird, ließe sich auch auf Benjamins Reflexion über den eigenen Schreibort zwischen deterritorialisierender Bewegung und kurzzeitiger (Re-)Territorialisierung durch Haltung beziehen.

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Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Sprachen zueinander eine Rolle in der „etymologische[n] Betrachtung“ spielt, ist schon durch die Gegenüberstellung des französischen Wortes „allure“ mit dem deutschen Wort „Haltung“ evident. Vor dem Hintergrund der Konjunktur des Haltungsbegriffs in den 1930er Jahren lässt sich Benjamins Konfrontation der „Haltung“ mit „allure“ auch als Strategie lesen, den dominierenden diskursiven Bedeutungshorizont zu öffnen. Dabei deutet die semantische Nähe von ‚les allures‘ zu ‚l’attitude‘ darauf, dass es Benjamin darum geht, dem Begriff der „Haltung“ neue Bedeutungsdimensionen abzugewinnen. Diese Erweiterung des semantischen Spektrums gelingt Benjamin durch eine von ihm nicht markierten, sondern in der Inszenierung einer ‚Etymologie‘ vielmehr verborgenen und dadurch umso folgenschwereren Verschiebung der ‚Übersetzung‘. Er vergleicht nicht „Haltung“ und ‚l’attitude‘, was nähergelegen hätte, sondern konfrontiert „Haltung“ mit einem ‚Fremdwort‘, das die Bedeutung verschiebt und dynamisiert. Darüber hinaus findet sich im Übersetzer-Aufsatz an zentraler Stelle ein ähnlicher Vergleich zwischen einem deutschen und einem französischen Wort, an dem Benjamin ein ‚Grundgesetz‘ der Übersetzbarkeit der Sprachen ineinander entwickelt, das für die Argumentationsstrategie der „etymologische[n] Betrachtung“ aufschlussreich ist: „Dieses Gesetz, eines der grundlegenden der Sprachphilosophie, genau zu fassen, ist in der Intention vom Gemeinten die Art des Meinens zu unterscheiden. In ‚Brot‘ und ‚pain‘ ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art es zu meinen, dagegen nicht. In der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie, absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten. Während dergestalt die Art des Meinens diesen beiden Wörtern einander widerstrebt, ergänzt sie sich in den beiden Sprachen, denen sie entstammen.“ (WB IV.1, 14)

Ließe sich die Unterscheidung zwischen „Gemeinte[m]“ und „Art des Meinens“ auf die Unterscheidung zwischen Gedachtem und Denkprozess aus Benjamins Reflexion über den ‚guten‘ und den ‚schlechten‘ Schreibstil umlegen? Mit der Art des Meinens käme in die Unterscheidungsoperation dann eine zusätzliche Komponente zum Tragen, die in Benjamins Reflexion über die Schreibstile möglicherweise gerade durch die Analogie mit dem Gehen impliziert ist: Wenn die Spannung zwischen Gedachtem/‚Gehen auf ein Ziel hin‘ und Denkprozess/‚das Gehen als solches‘ einkalkuliert wird, verändert das nicht bloß das Gedachte, sondern setzt einen spezifischen Modus der Bewegung voraus, verändert mithin auch das Schreiben/Gehen selbst. Diesen veränderten

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Modus der Spannung zwischen Gedachtem und Denkprozess scheint die „etymologische Betrachtung“ als ein polares Schreibkonzept vorzuführen: als Spannung zwischen Bewegung und ihrer Unterbrechung. Wie stehen dann aber „allure“ und „Haltung“ genau zueinander? Auch hier scheint die oben zitierte Passage aus dem Übersetzer-Text aufschlussreich. Das Verhältnis von ‚Brot‘ und ‚pain‘ wird dort in dreifacher Weise charakterisiert: In Hinblick auf die „Art des Meinens“, also ihren je spezifischen Modus des Bezugs auf das Gemeinte, verhalten sich ‚Brot‘ und ‚pain‘ ‚widerstrebig‘ zueinander. In Bezug auf das „Gemeinte“ ergänzen sie sich gerade durch diese Widerstrebigkeit. Das „Gemeinte“ als solches hingegen ist mit keiner der beiden Seiten zu identifizieren, sondern scheint zwischen beiden als latenter Punkt des Bezugs von zwei polaren Seiten aus in der Mitte zu stehen. Diese drei Charakterisierungen konnten bereits an verscheiden Stellen der Arbeit als Grundelemente sowohl des Einsatzes polarer Denkfiguren als auch der Konzeption eines latenten Indifferenzpunktes bei Benjamin und Friedlaender herausgearbeitet werden: Erstens besteht eine Grenze, die die Pole in ein Verhältnis der Gegenstrebigkeit setzt, zweitens ermöglicht gerade diese polare Gegenläufigkeit eine graduelle Intensitätsbeziehung, und drittens ist der Punkt in der Mitte als Voraussetzung der polaren Spannung latent, schwebend. Steht diese Struktur auch im Hintergrund von Benjamin „etymologische[r] Betrachtung“? Die ‚Ergänzung‘ der beiden polaren Seiten ‚Brot‘ und ‚pain‘, die Benjamin im Übersetzer-Aufsatz andeutet, besteht weder in einem Ähnlichkeits- oder Abbildverhältnis noch in der vermittelnden Übertragung des Sinns (vgl. WB IV, 9-12). Auch „allure“ und „Haltung“ verbindet kein äquivalenter Bezeichnungsakt, was Benjamin in der „etymologischen Betrachtung“ nachdrücklich betont („in wie begrenztem Sinn es das gleiche ist“, WB VI, 425). Zwar entstammen sie, so Benjamin, beide „aus dem ‚Gehen‘“, bezeichnen es aber beide nicht, sondern markieren in ihrer polaren Spannung vielmehr „das Gleiche“ (ebd.) an den beiden Enden dessen, was als Bezeichnetes selbst in Form einer Leerstelle latent bleibt. In ihrer polaren Spannung markieren beide Seiten vielmehr den Abstand zu einem in der Mitte liegenden Bezugspunkt als einer Grenze, die weder von „allure“ noch von „Haltung“ überschritten werden kann. Eine solche Beziehung aus einer polaren Differenzbestimmung und einer latenten Mittelposition kennt auch der Übersetzer-Aufsatz, wobei Benjamin hier außerdem auch noch den Aspekt hinzufügt, der bereits mehrfach für das mit dem Einsatz polarer Denkfiguren verbundene Intensitätsdenken geltend gemacht wurde, nämlich eine unendliche Annäherungsbewegung, die nur von einer polargegenstrebigen Bewegung beschreibbar ist:

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Kapitel 10 „Bei den einzelnen, den unergänzten Sprachen nämlich ist ihr Gemeintes niemals in relativer Selbständigkeit anzutreffen, wie bei den einzelnen Wörtern oder Sätzen, sondern vielmehr in stetem Wandel begriffen, bis es aus der Harmonie all jener Arten des Meinens als die reine Sprache herauszutreten vermag. So lange bleibt es in den Sprachen verborgen. Wenn aber diese derart bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die Übersetzung, welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag.“ (WB IV.1, 14)

Es liegt die Vermutung nahe, dass zwar nicht die messianische Perspektive, aber die polare Argumentationsstruktur dieser Passage aus dem ÜbersetzerText auch im Hintergrund der „etymologische[n] Betrachtung“ steht, die folglich drei Eigenschaften impliziert: Erstens sind „allure“ und „Haltung“ polare Begriffe, die zweitens in ihrer polaren Gegenstrebigkeit in einem graduell gedachten Intensitätsverhältnis zueinander stehen und drittens abgegrenzt werden von einer ‚latenten Mitte‘, die als Unbenanntes zwischen ihnen steht. Die Gedankenstriche im nächtlichen Aperçu scheinen damit auch diese ‚Mitte‘ typographisch zwischen „allure“ und „Haltung“ anzudeuten. Die Intensitätsbeziehung zwischen den Polen besteht dabei offenbar auch bei „allure“ und „Haltung“ in einer permanenten über-setzenden Verwandlung von Gehen in unterbrechender Haltung et vice versa. Die Möglichkeit ihrer permanenten gegenseitigen Über-setzung ermöglicht somit einen intensiven Bezug zwischen beiden Polen. Nur die Mitte selbst scheint in dieser Pendelbewegung zwischen den Polen latent zu bleiben. In diesem Sinne lässt sich durchaus annehmen, dass hier Benjamins frühe sprachphilosophische Vorstellung von einer „Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen“ (WB II.1, 151), die den Begriff der Übersetzung bei Benjamin grundsätzlich bestimmt, selbst wiederum ‚übersetzt‘ wird in ein dynamisches Konzept politischer Autorschaft. Erst von der Unterbrechung aus, so lässt sich zudem festhalten, wird das Gehen selbst als Akt der „Realisierung“ erkennbar und umgekehrt. In diesem Sinne hatte Benjamin bereits im Tagebuch von 1931 von den „Modifikationen“ gesprochen, die den Schreibfluss permanent verändern. Dass für den Versuch einer Deutung der „etymologischen Betrachtung“ hier die drei Merkmale herangezogen wurden, die vor allem die intertextuelle Konstellation zwischen Benjamin und Friedlaender betrifft, ist auch darin begründet, dass sich bei Friedlaender eine zu Benjamins Unterscheidung zwischen „allure“ und Haltung“ verwandte Reflexion finden lässt. Zum Schwebezustand der Indifferenz schreibt Friedlaender an einer Stelle der Schöpferischen Indifferenz: „Schon unser Stehen und Gehen ist schwebend“

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(F/M 10, 328). Die Indifferenz bedürfe, so Friedlaender, „keines ‚festen‘ Grundes“, keines souveränen Standpunktes, denn ein solcher „Standpunkt“ sei vielmehr ein „Schwebepunkt, Abgrund und Abgrund würden in ihm zentral gipfeln, er wäre die … ‚Aufhebung‘ zumal des Menschen, dessen fliegende Überwindung: Identität des Zweideutigen, Schwebung des Gegensätzlichen.“ (Ebd., 338) Dass Friedlaender diesen latenten Punkt inmitten der Extreme, von dem Benjamin sagt, dass er „dialektischer, unablässig erneuter Ausgleich, kein geometrischer Ort“ (WB III, 138) sei, dann selbst wiederum als die „eigentlichere Haltung“ (F/M 10, 343) bezeichnet, ist ein starkes Indiz dafür, dass beide in ähnlicher Weise ihre polaren Denk- und Schreibverfahren auf die Frage der eigenen Schreibposition inmitten der Polaritäten zurückbinden. Ähnlich wie im Falle des Begriffs der Haltung zirkuliert auch der Begriff der Indifferenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Friedlaender hinaus in unterschiedlichen Diskursen und Debatten. So hat Georg Simmel etwa die „geistige Haltung der Großstädter“50 als eine Lebensform und Kultur der „gegenseitige[n] Reserve und Indifferenz“51 charakterisiert. Max Brod wiederum hat 1908 mit Schloß Nornepygge sogar bereits den Roman des Indifferenten, wie der Untertitel lautet, geschrieben, in dem sich um den Hauptprotagonisten Walder Nornepygge eine sogenannte „Differenzierten-Loge“52 sammelt, die im „steten Abwechseln zweier polarer Gegensätze“53 und im allgemeinen ‚Hin- und Herpendeln‘ aller Phänomene der Wahl eines einzigen Stils, einer festen Weltanschauung, ja überhaupt irgendwelcher Handlungen entsagt und „von dem Lächerlichen jeder Beflissenheit sehr überzeugt“54 ist. Aber auch Friedlaenders eigenes Konzept der ‚schöpferischen Indifferenz‘ kann – im Gegensatz zu Benjamins (oder auch Brechts) Verwendung des Haltungsbegriffs – als durchaus einflussreich bezeichnet werden. Wolfgang Martynkewicz betont, dass vor allem durch Friedlaender „[d]ie Formel von der ‚schöpferischen Indifferenz‘ […] Anfang der zwanziger Jahre in Mode“55 gekommen sei. Zudem habe Friedlaender, so Martynkewicz an anderer Stelle, bereits um 1900 vor dem Hintergrund der Entropie-Diskurse, der Erschöpfung, der Décadence, der durch die Psychoanalyse vorangetriebenen Auflösung der festen Einheit des 50 51 52 53 54 55

Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1995, S. 116-131, hier: S. 122. Ebd., S. 126. Max Brod: Schloß Nornepygge. Der Roman des Indifferenten. Leipzig 1918, S. 14. Ebd., S. 26. Ebd., S. 12. Wolfgang Martynkewicz: 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Berlin 2019, S.  35. Kurz zuvor spricht Martynkewicz allerdings wiederum von „Friedlaenders Thesen über Polarität“ als einem „Geheimtipp“, der „damals unter den Intellektuellen“ zirkulierte. (Ebd., S. 34).

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Ichs und der allgemeinen Überforderungsempfindungen „das Lebensgefühl der ästhetischen Moderne“56 beschrieben: „[…] die Empfindung einer Entzweiung, einer Polarität, die für das Ich zur Herausforderung wird, und die Suche nach einem Nullpunkt. […] Das Ich muss Herr werden über die Differenzen, die sich nicht abschaffen, sondern nur ausbalancieren lassen. ‚Die Existenz ist weder schwer noch leicht, sondern das Kunststück der Balanße.‘ [vgl. F/M 24, 397; K.D.] Von einer solchen Kunst des Gleichgewichts träumten damals viele.“57

Eine spezifische Ausprägung dieses Traums findet sich bei den Dadaisten. Denn Hanne Bergius hat gezeigt, wie die „polarisierende Methode der Theorie des schöpferischen Weltausgleichs von Salomo Friedlaender“58 für die dadaistische Bewegung als „konzeptuelle[r] Einfluss“59 prägend wurde. Auch in Benjamins Reflexionen über den Begriff der Haltung lässt sich ein Fortwirken der frühen Rezeption von Friedlaenders Schöpferische Indifferenz vor allem dort vermuten, wo Benjamin die Mitte zwischen den dargelegten polaren Spannungsgefügen nicht auf einen souveränen Standpunkt verpflichtet, sondern auf die Latenz dieser Position zwischen den Polen. Auf diese latente Mitte zwischen „allure“ und Haltung“ ist noch etwas näher einzugehen. Dass Benjamins Aperçu eine Reflexion über das Schreiben ist, konnte bereits dargelegt werden. Die Frage ist dann allerdings, was Benjamin mit dieser Mitte anzuzeigen versucht, die mit dem Wort „Gehen“ auf eine Dynamik zwischen den Polen verwiesen ist. In der oben zitierten Passage aus dem ÜbersetzerAufsatz deutet die Mitte der Spannung zwischen ‚Brot‘ und ‚pain‘ in ihrer Latenz auf die „reine Sprache“, die bis zum „messianische[n] Ende“, in der sie dann als „Sprache der Wahrheit“ (WB IV.1, 16) „spannungslos“ (ebd.) erscheint, nur als ein zwischen den Polen liegender Zwischenraum erkennbar ist, der in der Dynamik der Pole permanent als „Ahnung und Beschreibung“ (ebd.) umkreist wird. Was ist aber das ‚Mittlere‘, auf das „allure“ und „Haltung“ in ihrer polaren Spannung verweisen? Vor dem Hintergrund der Untersuchungen des Hauptteils B liegt es nahe, hier den politischen Gehalt des Schreibens zu vermuten. Mit Konzepten wie der „Sphäre des Wortlosen“ (Br I, 326), der „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) und der Konzeption eines ‚medialen Humors‘ (vgl. hierzu 9.4), deren auffällige konzeptuelle Verwandtschaft mit 56 57 58 59

Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin 2013, S. 293. Ebd., S. 293f. Hanne Bergius: Montage und Metamechanik. Dada Berlin – Artistik von Polaritäten. Berlin 2000, S. 5. Ebd., S. XIII.

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dem „Gedichtete[n]“ (WB II.1, 105) aus dem frühen Hölderlin-Aufsatz oder dem „Ausdruckslose[n]“ (WB I.1, 181) aus Goethes Wahlverwandtschaften ausführlich beschrieben wurden, hat Benjamin die Spannung zwischen Politik und Literatur zu verschiedenen Zeiten und im Rahmen unterschiedlicher politischer Debattenkonstellationen von einer latenten Mitte aus konzipiert. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Mitte zwischen „allure“ und „Haltung“ ebenfalls als ein Bezeichnetes, Gedachtes, mithin also als der politische Gehalt der eigenen Schreibweise verstehen, der nur annäherungsweise, nur im Modus des prekären Anzeigens, Hindeutens und ‚Zeugens‘ (vgl. WB II.2, 620) Wirkung entfaltet. Es ist demnach davon auszugehen, dass der „etymologische[n] Betrachtung“ ebenfalls eine polar-differenzielle Bestimmung politischer Schreibweisen zugrunde liegt. Gerade die Latenz der Mitte scheint bei Benjamin dabei eine Schreibhaltung des Seriellen, des Abbrechens und Neuanfangens einzufordern, die immer erneut Annäherungen an diese Mitte erprobt. Darüber hinaus stellt die „etymologische Betrachtung“ als eine in Szene gesetzte Reflexion über diese politische Schreibweise eine Reflexion über den problematischen Ort des kritischen Schriftstellers dar. Das wird noch deutlicher, wenn man die nächtliche Autobus-Szene im Kontext des Tagebuches insgesamt betrachtet. Zweitens: Der Reisebericht setzt am „4 Mai morgens ¼ I“ (WB VI, 422) in Juan-les-Pins mit einer Reflexion über die Intention der diaristischen Aufzeichnungen ein. Benjamin berichtet davon, dass er „müde“ (ebd.) sei, was vor allem auf die ständigen ökonomischen Sorgen als freier Schriftsteller in den Jahren der Weltwirtschaftskrise bezogen ist: „Das wichtigste aber: ich bin müde. Müder vor allem den Kampf , den Kampf um das Geld, von dem ich nun noch einmal einige Reserven gesammelt habe, um hier sein zu können.“ (Ebd.) Diese „Kampfmüdigkeit an der ökonomischen Front“ (ebd., 423) geht bis zu einer nüchternen („von keiner akuten Panik eingegeben[en]“, ebd.) „Bereitschaft, mir das Leben zu nehmen.“ (Ebd.) Diese persönliche Krise, die sich im Spätsommer desselben Jahres in dem Tagebuch vom siebten August neunzehnhunderteinunddreissig bis zum Todestag (vgl. ebd., 441-446) nochmals zuspitzen wird, indem die Aufzeichnungen direkt auf den (bekanntlich noch nicht vollzogenen) Selbstmord zulaufen sollten, erweitert Benjamin allerdings direkt im Anschluss zu einer desillusionierten Diagnose über die „Lage der Schriftsteller“ (ebd., 422) und kritischen Intellektuellen inmitten der polarisierten politischen Situation der Endphase der Weimarer Republik: „Endlich verbindet sich diese Müdigkeit auf seltsame Weise mit dem, was mir die Unzufriedenheit mit meinem Dasein hervorruft. Es ist eine wachsende Abneigung, auch Mangel an Vertrauen hinsichtlich der Wege, die ich die

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Kapitel 10 Menschen meiner Stellung und meiner Art in Deutschland einschlagen sehe, um der trostlosen geistespolitischen Lage Herr zu werden. Was mich quält ist die Unexaktheit der Parteiungen unter den wenigen mir nahe stehenden Leuten, was meinen inneren Frieden, der auch Friedfertigkeit ist, verletzt ist das Mißverhältnis zwischen der Schärfe, mit welcher solche Meinungsverschiedenheiten vor mir – wenn auch längst nicht immer an sich – ausgefochten werden und den oft sehr geringen sachlichen Differenzen.“ (Ebd.)

Auf die biographischen Hintergründe etwa in der Auseinandersetzung zwischen Gershom Scholem auf der einen Seite und Benjamins „Einverständnis mit der Produktion von Brecht“ (Br IV, 299) auf der anderen Seite, die Benjamin hier als Minimaldifferenzen in den Meinungen zu marginalisieren versucht, ist hier nicht näher einzugehen. Aufschlussreich für die zitierte Passage ist hingegen die Tatsache, dass Benjamins Tagebuch nur wenige Wochen nach Max Rychners Zusendung der kritischen Besprechung von Bernard von Brentanos Buch Kapitalismus und schöne Literatur einsetzt. In Kapitel 1 wurde ausführlich dargelegt, wie Benjamin auf die Frage „Dic, cur hic?“ (Br IV, 21) reagierte, die Rychner seiner Zusendung als eine Aufforderung an Benjamin voranstellte, sich innerhalb der materialistischen Literaturtheorien im Besonderen und zum Verhältnis von Politik und Literatur im Allgemeinen zu verorten. Es scheint so, als hätte Benjamin „[d]ie Bogen, die mir von diesem Papier noch bleiben“ (WB VI, 422), wie es gleich zu Beginn des Tagebuches heißt, für einen nicht-öffentlichen Versuch einer Selbstreflexion über die eigene Lage vor dem Hintergrund der „geistespolitischen Lage“ genutzt, die nochmals auf die ‚Curhic-Frage‘ reagiert. Insbesondere die „etymologische Betrachtung“ über den Begriff der Haltung ließe sich als Reaktion auf diese Frage ebenso wie auf das gescheiterte Zeitschriften-Projekt Krisis und Kritik sowie auf die deutlich schärfer werdenden Debatten mit Scholem lesen. Die Überlegungen zum Verhältnis von „allure“ und „Haltung“ problematisieren so gesehen nochmals Rychners Frage, indem die Forderung der Bezeichnung eines konkreten ‚hic‘ im Spannungsfeld aus Bewegung und Unterbrechung dynamisiert wird. Allerdings kommt Benjamin in den Tagebuchaufzeichnungen nicht unmit­ telbar im Anschluss an den Eintrag über die „geistespolitische[…] Lage“ auf die Reflexion über den Begriff der Haltung zu sprechen. Zunächst betont er, dass die „Annahme, daß das Bevorstehende nicht vielen Aufhebens wert sei“ (ebd.), ihm erlaube, den Blick auf die eigene biographische Vergangenheit zu richten. Der Blick auf dieses Vergangene setzt ein mit den „höchsten Wünsche[n]“ (ebd., 423), die er „jetzt erst“, also angesichts eines nüchtern abgewogenen Selbstmordes, als den „ursprünglichen Text einer späterhin mit den Schriftzügen meines Schicksals bedeckten Seite, erkannt habe.“ (Ebd.) Diese Wünsche seien zwar meist unbewusst, so Benjamin weiter, aber sein

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eigener erster und wichtigster Lebenswunsch sei ihm dennoch früh schon als das Verlangen „nach weiten, vor allem aber langen Reisen“ (ebd.) bewusst geworden. Nach einigen weiteren Erinnerungen über eine lange Reise nach Capri bricht die biographisch motivierte Reflexion über die Lebenswünsche allerdings unvermittelt ab, und der nächste Eintrag beginnt dann mit der oben untersuchten Reflexion über die Unterscheidung zwischen dem ‚guten‘ und dem ‚schlechten‘ Schriftsteller. Diesen unterbrechenden Einschub markiert Benjamin deutlich, indem er betont: „Ehe ich mit den drei Wünschen fortfahre […].“ (Ebd., 424). Besteht in dieser offensichtlichen Unterbrechung möglicherweise aber auch ein Bezug zu dem einzigen Wunsch, den Benjamin in seinem Tagebuch formuliert, also dem Reisewunsch? Denn auf die angekündigte Fortführung der biographischen Reflexion über das Wünschen kommt Benjamin nicht mehr zurück. Die einzige Stelle, an der nochmals explizit auf das Wünschen eingegangen wird, betrifft die bereits weiter oben zitierte Passage über den ‚guten‘ Schreibstil. In Bezug auf die permanenten „Modifikationen“, die sich während eines Schreibprozesses ergeben, der sich ganz auf sich selbst konzentriert, hieß es dort: „Wie aber diese Modifikationen ausfallen, ob sie den Wunsch veredeln, präzisieren oder ihn unscharf und allgemein werden lassen, das hängt vom Training des Schreibenden ab. Je mehr er seinen Körper in Zucht hat, je genauer er seinen Körper aufs Gehen beschränkt, die überflüssigen ausfahrenden und schlenkernden Bewegungen meidet, desto mehr wird sein Gang selber zu einem Kriterium des Wunschziels, wird es veredeln oder es fallen lassen, wenn es der Mühe nicht wert ist.“ (Ebd., 425)

Dieses „Gehen“ als „Wunschziel[…]“ wird dann in der nächtlichen AutobusSzene, wie gesehen, dadurch spezifiziert, dass es in „Gange selbst“ und „Unterbrechung“ unterschieden wird. Ließe sich dann auch die als plötzliches Aperçu inszenierte „etymologische Betrachtung“ im Kontrast zu der pessimistischen Sicht auf die Zukunft als ein Versuch deuten, neue Kräfte für künftige Schreibprojekte zu sammeln? Immerhin scheint die Reflexion über den Begriff der Haltung nicht bloß Vergangenes zu adressieren, sondern das Potential einer aktuellen Schreibhaltung auszuloten. Dass Benjamin nur noch in jenem Eintrag auf das Wünschen zurückkommt, der die Reflexion über das Wünschen eigentlich unterbrechen sollte, erinnert jedenfalls an die Wechselwirkung von „allure“ und „Haltung“ bzw. „Gang selbst“ und „Unterbrechung“ aus der „etymologische[n] Betrachtung“: Der Eintrag unterbricht die Reflexion über das Wünschen und führt sie dennoch fort. Vor diesem Hintergrund wäre dann zunächst zu vermuten, dass das nächtliche Aperçu allererst so etwas wie die Poetologie seriellen, nur lose

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zusammenhängenden diaristischen Aufschreibens darstellt. Das Aperçu hier ausschließlich auf das Genre ‚Tagebuch‘ zu konzentrieren, scheint auf der einen Seite allerdings der Reflexion über das Verhältnis von Schreiben, Haltung und kritischer Autorschaft nicht gerecht zu werden. Andererseits ist es nicht trivial, sondern vielmehr bezeichnend, dass Benjamin diese Reflexion über den von ihm häufig verwendeten Begriff der Haltung gerade in einem Reisetagebuch niederlegt. Vor dem Hintergrund des von Benjamin formulierten elementaren Reisewunsches lässt sich daher auch fragen, ob die „etymologische Betrachtung“ Ausdruck einer Reflexion über die eigenen sozusagen ‚intellektuellen Reisen‘ sein könnte; eine Reflexionsfigur mithin, in der Benjamin seine diskursiven Positionswechsel und die „intermittierende[…] Rhythmik“ (WB I.1, 208) seiner Schreib- und Darstellungsverfahren verhandelt? Eine ‚klare und einfache‘ Antwort bietet weder das nächtliche Aperçu selbst noch die darauffolgenden weiteren Tagebuchaufzeichnungen. Vielmehr wirft die Frage weitere Fragen auf, von denen die grundsätzlichste lauten muss: Gibt es bei Benjamin überhaupt Anhaltspunkte für eine Tendenz, zu versuchen, die vielfältigen und verstreuten biographischen Selbstdeutungen und Selbstreflexionen über die eigenen wechselnden Schreiborte sowie die brieflichen Erklärungsversuche gegenüber Freunden und intellektuellen Gesprächspartnern in einer ‚Theorie‘ kritischer Autorschaft zusammenzufassen? Die aufgeworfenen Fragen weisen einen Impuls zu systematischen Erwägungen auf und deuten damit zugleich auf ein paradoxes Unterfangen. Das Paradoxe dieser Überlegungen wird in der Frage evident: Gibt es bei Benjamin eine ‚systematische Tendenz‘, gewissermaßen ein begriffliches Reflexionszentrum für den unsystematischen Charakter seiner Denk- und Schreibbewegung? Oder konkreter gefragt: Lässt sich „Haltung“ bei Benjamin als ein Begriff ausweisen, in dem er gewissermaßen zum kritischen Beobachter seiner eigenen Perspektivverschiebungen und Arbeitsweisen wird? Es lässt sich zunächst feststellen, dass Benjamin selbst ein ganz ähnliches Problem der Spannung zwischen ‚systematischen‘ und ‚nicht-systematischen‘ Tendenzen in seiner Dissertation zur frühromantischen Kunstkritik umgetrieben hat. Das Problem ergab sich dort aus der Spannung zwischen den nicht-systematischen, fragmentarischen Schreibweisen frühromantischer Theorietexte, besonders derjenigen Schlegels und Novalis’, und dem Erkenntnisinteresse, das Benjamin an diesen Texten hatte. Sein Anspruch lag darin, wenn nicht das einheitliche, ‚systematische‘ Zentrum, so doch die „entschieden systematische Tendenz in Friedrich Schlegels Denken“ (WB I.1, 42) freizulegen. Indem Benjamin im ersten Teil seiner Arbeit die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Theorie der Kunstkritik entfaltet, kann er dann im zweiten Teil diese systematischen Intentionen anzeigen, die er in der

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Idee der Kunst erkennt. Zur Vermittlung zwischen diesen beiden Teilen und damit zwischen der nicht-systematischen Schreibweise und dem Interesse an der systematischen Tendenz wählt Benjamin eine konstruktive Methode: Er legt dem frühromantischen Denken den Begriff des ‚Reflexionsmediums‘ unter, um die „Kunstkritik als die Reflexion im Medium der Kunst“ (ebd., 40) auszuweisen. Diesen konstruktiven Akt des ‚Unterlegens‘ bestimmt er in einer metaphorischen Umschreibung als den „Versuch, im Begriff des Reflexionsmediums dem Denken der Frühromantik ein methodisches Gradnetz unterzulegen, in das sich ihre Problemlösungen wie ihre systematischen Positionen überhaupt einzeichnen ließen […].“ (Ebd.)

So wie ein Gradnetz auf die Erdoberfläche gelegt wird, damit verschiedene Orte bestimmt und in eine übersichtliche Ordnung gebracht werden können, legt Benjamin dem frühromantischen ‚Ideenglobus‘ das Gradnetz ‚Reflexionsmedium‘ unter, um eine Orientierung auf die systematischen Tendenzen hin zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund von Benjamins vielfältigen Einsatzformen polarer Denkfiguren ist es wohl kein Zufall, dass hier auch die Polarität (von Nord- und Südpol) in diesem ‚Methodenbild‘ anklingt. Denn der heuristische Erkenntniswert des Begriffs ‚Reflexionsmedium‘ als Gradnetz liegt für Benjamin nicht darin, aus ihm das System aus einer einzig möglichen Idee zu deduzieren.60 Das Bild des Gradnetzes wird nicht more geometrico verwendet, sondern dient der Arbeit als Schauplatz einer problemgeschichtlichen Konstellation, die zwar auf die generelle Möglichkeit der „systematische[n] Beziehbarkeit“ der einzelnen Theorieelemente zielt, zugleich aber in diesem Bezugsystem eine konstitutive polare Spannung einzieht.61 Als das „richtig gewählte[…] Koordinatensystem“ (ebd., 41) erweist sich das Gradnetz für Benjamin nämlich zum einen dadurch, dass darin die positiven Tendenzen der frühromantischen Kunstphilosophie ausgewiesen werden können, die darin liegen, dass hier mit der Absage sowohl an alle regelpoetischen Dogmatismen als auch an den Geniekult überhaupt erst Kritik entlang von werkimmanenten Kriterien und Tendenzen möglich wird. (vgl. ebd., 71f.) Zum anderen lassen sich in das Gradnetz aber auch die problematischen Züge und damit die erkenntnistheoretischen Grenzen 60

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Benjamin betont ausdrücklich, dass es „in anderen Zusammenhängen […] wohl denkbar wäre, eine der anderen Bestimmungen – also nicht die Kunst, sondern etwa die Geschichte – jenem Absoluten, wofern nur sein Charakter als Reflexionsmedium gewahrt bliebe, einzuzeichnen.“ (WB I.1, 44). Benjamin versteht seine Arbeit als „Beitrag zu einer problemgeschichtlichen Untersuchung“ (ebd., 11).

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dieser Kunstphilosophie eintragen, die sich in ihrem „radikalen mystischen Formalismus“ (ebd., 21) abzeichnen. Der ‚Nullmeridian‘, um im Bildbereich zu bleiben, der polaren Spannungen frühromantischer Theoriebildung ist dann – je nachdem, ob man die systematische Intention von ihrem Beginn oder von ihrem Ende her betrachtet – der absolute „Indifferenzpunkt“ (ebd., 39) als Entspringungsort aller Reflexionsbewegungen oder die reine „Medialität des Absoluten“ (ebd., 37), in der sich die unendliche Potenzierung der Reflexionsakte bewegt, ohne je endgültig beim Absoluten anzukommen. Erlaubt das nächtliche Aperçu, ein ähnliches koordinierendes ‚Gradnetz‘ bei Benjamin im Begriff der Haltung zu vermuten? Das Bild vom ‚Gradnetz‘ nutzt Benjamin jedenfalls auch für seine eigenen Arbeiten.62 Allerdings sind hier zwei Aspekte einschränkend zu betonen: Erstens muss der Begriff der Haltung den Schriften Benjamins nicht erst ‚untergelegt‘ werden, da Benjamin den Begriff selbst in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Zudem variiert der Einsatz des Begriffes bei Benjamin mitunter stark, wodurch nicht immer deutlich wird, ob der Begriff alltagssprachlich verwendet wird bzw. austauschbar durch andere Begriffe ist (Gesinnung, Einstellung, Ausdruck, Gebaren etc.) oder ob ihm ein spezifischer ästhetischer, philosophischer, politischer oder anthropologischer Erkenntniswert zugemessen wird. Als Beispiele für die Spannbreite des Einsatzes seien hier willkürliche Proben aus allen Werkphasen gegeben: „polemische Haltung“ (WB I.1, 30); „echt idealistische Haltung“ (ebd., 226); „sittlich motivierte Haltung“ (ebd., 268); „romantische[…] Haltung“ (ebd., 290); „Haltung des grübelnden Genius“ (ebd., 324); „unbefangene[…], unreflektierte[…] Haltung“ (ebd., 390); J.P. Hebels „Priesterhaltung“ (WB II.1, 339); „apologetische[…] Haltung“ (ebd., 345) des Interpreten; „Haltung der Décadence“ (ebd., 352); „Haltung einer Photographie“ (ebd., 383); „asketische Haltung“ (WB II.3, 1112); „magistrale Haltung“ (WB III, 87); „goethische Haltung“ (ebd., 88), die nicht mit der „Goetheschen Haltung“ (ebd., 150) zu verwechseln ist; „Haltung des Virtuosen“ (ebd., 278); „spröde Haltung“ (ebd., 350); „religiöse Haltung“ (ebd., 382); „Haltung des Biographen (ebd., 526); „voltairianische[…] Haltung von August Wilhelm Schlegel“ (ebd., 541); „untadlige Haltung“ (WB IV.1, 168); „heroische Haltung“ (WB V.1, 424); „Haltung des Unglücklichen“ (WB VI, 319); „rituelle Haltung“ (WB VII.1, 359).

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In Briefen an Gretel Karplus und Gershom Scholem spricht er etwa von „dem Grandnetz der Konstruktion“ (Br  V, 170f.) bzw. vom „Gradnetz“, in das alle neueren kunsttheoretischen Überlegungen „einzutragen sein“ (ebd., 190) werden. Gemeint ist hier der Kunstwerk-Aufsatz, der „einige Fundamentalsätze der materialistischen Kunsttheorie“ (ebd., 193) gefunden habe, die offensichtlich dieses koordinierende ‚Gradnetz‘ darstellen.

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Auffällig ist vor allem Benjamins zunehmender Gebrauch des Begriffs der Haltung in seinen Kritiken und Rezensionen.63 Indem Benjamin dort verschiedene intellektuelle Positionen und Schreibprojekte entlang des Begriffs der Haltung analysiert, erprobt er immer auch seine eigene zeitkritische Perspektive. Diese konkreten Interventionen anhand des Begriffs der Haltung auszumessen, wäre aufschlussreich, weil damit zugleich konkrete intertextuelle Debattenkonstellationen angezeigt werden könnten, die bisher noch nicht ausreichend untersucht wurden. Als Beispiel sei hier nur Benjamins Versuch genannt, die deutschen Debatten um das kritische Engagement des Schriftstellers und Intellektuellen gewissermaßen von außen über französische Intellektuellendebatten zu erweitern. Hier müsste eine Untersuchung etwa von Benjamins kritischer Rezeption der „Haltung“ (WB III, 112) von Julien Bendas La trahison des clercs (1927) ansetzten. (vgl. WB ebd., 107-113; ebd., 436-439; WB II.2, 782-784) Ähnlich wie in der vorliegenden Arbeit am Fall Friedlaender dargelegt, führen diese Konstellationen auf die konkreten, kleinteiligen Diskussions- und Debattenzusammenhänge, in den Benjamin seine eigene ‚Haltung‘ profiliert. Die durch den Einsatz des Begriffs der Haltung angezeigten Wege, Fährten und Spuren auf unterschiedliche Debattenkontexte können hier allerdings nicht umfänglich untersucht werden. Nachfolgend wird sich die Arbeit hier auf einige markante Einsatzpunkte beschränken, die eine offene Reihe mit unterschiedlichen Anschlussmöglichkeiten für weitere Untersuchungen bilden. Entscheidend ist dabei jedoch die These, dass es sich mit dem Begriff der Haltung bei Benjamin meist um eine bewusst eingesetzte Reflexionsfigur handelt. Damit ist Haltung bei Benjamin kein ‚operativer Begriff‘ im Sinne eines „nicht eigens Bedachte[n]“64. Eugen Fink hat das Modell des ‚operativen Begriffs‘ am Beispiel der Philosophie Husserls entwickelt, um zu zeigen, dass es philosophieprägende Begriffe innerhalb eines Werkes gibt, die die Denkenden selbst aber „gar nicht in den Blick zu nehmen vermögen“65; sie lägen damit vielmehr in einer produktiven „Verschattung“66. Bei Benjamin ist ganz im Gegenteil davon auszugehen, dass es sich bei ‚Haltung‘ 63 64 65 66

Zur Bedeutung der Kritiken und Rezensionen für Benjamins Denk- und Arbeitsweise vgl. auch das Kap. 4. Eugen Fink: Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie. In: ders.: Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz. Freiburg. München 1976, S. 180-204, hier: S. 186. Ebd. Fink schreib dazu: „Die klärende Kraft eines Denkens nährt sich aus dem, was im Denk-Schatten verbleibt. In der höchstgesteigerten Reflexivität wirkt immer noch eine Unmittelbarkeit sich aus. Das Denken selbst gründet im Unbedenklichen. Es hat seinen produktiven Schwung im unbedenklichen Gebrauch von verschatteten Begriffen.“ (ebd.).

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um reflektierte, funktionale Begriffseinsätze handelt, mit dem sich kritische Intellektualität, politische Zeitkritik und spezifische ästhetische Darstellungsoperationen miteinander verbinden. Eine zweite einschränkende Anmerkung zur Haltung als „Gradnetz“ ist hier anzuschließen: Es scheint unweit näher zu liegen, Benjamins Reflexion über den eigenen Schreibort zunächst von den unterschiedlichen kulturhistorischen Figuren zu betrachten, denen er sich zuwendet und deren polare aisthetische Kondition er immer auch auf die politische Dimension hin befragt. Genannt seien hier nur beispielhaft der Allegoriker, der Flaneur oder der Sammler, die sich bei Benjamin allesamt dadurch auszeichnen, dass sie unterschiedliche Zeiten miteinander in ein polares Spannungsverhältnis setzen, das ihnen wiederum eine kritische Erkenntnis der Gegenwart erlaubt. So etwa der Allegoriker, der zugleich „zerschlagen“ muss und dabei doch „konserviert“ (WB V.1, 414f.), weil er jenseits einer harmonischen Totalitätsschau einerseits überall „Zeichen der Zerbrochenheit und der Trümmer“ (WB V.1, 416) erkennt, andererseits die Dinge zu retten bestrebt ist. Oder der Flaneur, dem als „Schwellenkundiger“ (WB III, 82) die Stadt als spannungsgeladener Austragungsort historischer, politischer, gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Konflikte „in ihre[n] dialektischen Pole[n]“ (ebd., 195) erscheint. Diese Figuren stehen bei Benjamin mitunter selbst wiederum in einer produktiven Spannung zueinander. So betont Benjamin etwa, dass der „Allegoriker […] zum Sammler den Gegenpol“ (WB V.1, 279) bildet. Vor dem Hintergrund der Bedeutung dieser prominenten Figuren in Benjamins Schriften haben zudem Bezeichnungen wie Benjamin, der Allegoriker, der Sammler, der Flaneur, der Kritiker, der Leser oder auch Charakterisierungen wie Benjamin, der Sprachphilosoph, der Aphoristiker, der Medientheoretiker, der enigmatische Mystiker, der eigenwillige Materialist sehr wichtige und aufschlussreiche Arbeiten hervorgebracht, in denen die Zuschreibungsformeln in unterschiedlichen Intensitätsgraden nicht zuletzt immer auch katalysatorische Wirkung für die mit ihnen forcierten literaturwissenschaftlichen Theoriepolitiken und -turns der letzten Jahrzehnte hatten. Zwei Probleme ergeben sich jedoch unmittelbar aus diesen Zuschreibungen: Erstens bleibt es fraglich, ob sich aus der Art und Weise, wie Benjamin eine der genannten Figuren zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht, direkt methodische und theoretisch Rückschlüsse auf die Arbeitsweise ziehen lassen. Anders gefragt: Ist eine Projektion bzw. eine Applikation der Untersuchungsgegenstände auf den Untersuchenden zulässig?67 Zweitens betrifft es ganz 67

Funktioniert etwa eine bruchlose Übersetzung von der Ebene der thematischen Verhandlung der Allegorie auf die Ebene allegorischer Lektüre durch Benjamin selbst? (vgl.

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grundsätzlich die Frage nach der systematischen Intention, die man möglicherweise oder eben auch nicht aus seinen Schriften herauslesen kann. Die Tatsache, dass es mehrere, teilweise sogar sich widersprechende Kandidaten dieser ‚Gesamtschau‘ gibt, scheint dem entgegenzustehen und deutet offensichtlich auf ein ‚Werk‘, das „auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist“68. Alle von Benjamin besonders intensiv verhandelten kulturhistorischen Figuren entfalten ihr Potential zur Repräsentation einer systematischen Intention gerade dadurch, dass sie – gleichermaßen in Benjamins Schriften selbst als auch in der Forschung – eine ambivalente Struktur besitzen: Auf der einen Seite ließen sie sich als Knotenpunkte in ein intellektuelles Koordinatensystem eintragen und würden dann so in der sich ergebenden netzwerkartigen Struktur ein dezentrales Geflecht aus Verweiszusammenhängen und Gegensätzen bilden, aus dem sich so etwas wie eine interne „Geografie des Denkens“69 ergibt. Auf der anderen Seite berühren sie, wie bereits angedeutet, immer wieder auch die Frage, ob sich an ihnen über ihre punktuellen Erscheinungsformen hinaus eine systematische ‚Gesamtarchitektur‘ des Werkes herausarbeiten ließe, wodurch letztlich auf das Koordinatensystem selbst verwiesen wäre. Diese Ambivalenz, das Changieren zwischen den Positionen ist konstitutiv für Benjamins Texte, Schriften, Aufzeichnungen und experimentelle Schreibversuche. Das ergibt sich daraus, dass Benjamin das Politische in seinen Schreibakten, Denkbewegungen und Selbstpositionierungen aktualistisch versteht und er die Frage nach der „Politisierung der Intelligenz“ (WB III, 225) nur vor dem Hintergrund stetig wandelnder Problemlagen beantworten will. So bleibt auch die Bemühung um eine stringente ‚systematische Lektüre‘ immer an die Wahl eines Eingangs in das Werk gebunden.70 Allen voran an Benjamins Begriffsverwendungen offenbart sich, dass diese „einem philosophischen

68 69 70

hierzu die kritischen Anmerkungen zur ‚allegorischen Lektüre‘ bei Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 12-13). Jürgen Habermas: Bewußtmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins. In: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstages von Walter Benjamin. Frankfurt a. M. 1972, S. 173-223, hier: S. 176. Daniel Bensaїd: Walter Benjamin. Links des Möglichen. Hamburg 2015, S. 26. Das bedeutet nicht, dass ein solcher Versuch der Mühe nicht wert sei; es geht dann vielmehr um den Grad der Plausibilität, der sich an der gewählten systematischen Fokussierung dokumentiert. So hat Eli Friedlander beispielsweise unlängst eine solche sehr plausible Studie vorgelegt, die ihre eigene Entscheidung offen zu erkennen gibt. Friedlander geht vom ‚Passagen-Werk‘ aus und sieht darin ein „Modell für den Versuch, die disparaten Elemente von Benjamins Schriften zusammenzuführen, sodass sie eine Einheit des Denkens zeigen.“ (Eli Friedlander: Walter Benjamin. Ein philosophisches Portrait. München 2013, S. 8).

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Denkgebäude [entstammen], aber […] sich einer strengen philosophischen Kategorisierung [entziehen].“71 Das gilt ebenfalls für den Begriff der Haltung. Das nächtliche Aperçu deutet darauf, dass der Begriff der Haltung Benjamins Schreiben nicht von vornherein koordiniert, sondern eher im Zusammenhang mit dem Versuch steht, die Spannbreite, die Beweglichkeit, das Sich-kurzzeitig-Aufhalten und das immer erneute Aufbrechen, aber auch das Problematische, Prekäre und Poröse von intellektuellen Selbstpositionierungen und einer kritischen Autorschaft inmitten der Extreme gewissermaßen auf den Begriff zu bringen. Als Begriff für die Latenz des eigenen Schreibortes inmitten der Extreme, so die These, verhandelt Benjamin im Begriff der Haltung demnach die Möglichkeiten provisorischer politischer Verhaltensweisen sowie polarer Denk- und Schreibverfahren. Im Begriff der Haltung kreuzen und verdichten sich bei Benjamin mithin das Nachdenken über das spannungsvolle Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik einerseits und die Reflexion auf den eigenen Ort als kritischer Intellektueller andererseits. Das lässt sich in den Tagebuchnotizen vor allem anhand der Gespräche mit Brecht exemplarisch darlegen. Drittens: In einer der letzten Eintragungen des Tagebuches berichtet Benjamin davon, dass er ein Gespräch mit Brecht, der ebenfalls in Juan-le-Pins weilte, auf seinen „Lieblingsgegenstand, das Wohnen“ (WB VI, 435), gelenkt habe, also auf einen Gegenstand der das Gegenteil des von ihm eingangs formulierten Reisewunsches bezeichnet, um offenbar einer Diskussion über „‚Vorstellungen‘“ (ebd.) zu entgehen, die Brecht vorgeschlagen hatte. Mehr noch betont Benjamin, dass er eine „Untersuchung von Verhaltungsweisen“ (ebd.) am Beispiel des Wohnens „verlangte“ (ebd.), weil er eine Auseinandersetzung mit „Vorstellungen“ offenbar für unproduktiv hält. Dabei versuchen Benjamin und Brecht dann dem Phänomen des Wohnens jeweils von zwei Seiten aus beizukommen, wobei Benjamin betont, dass beide die „Verhaltungsweisen“ jeweils „als dialektisch erkannt und in ihrer Polarität dargestellt“ (ebd.) haben. Den Aufschlag zu dieser Diskussion über das Wohnen macht Brecht, indem er von seiner eigenen „Art zu wohnen“ (ebd.) ausgeht, die er als „‚mitahmende[s]‘ Wohnen“ (ebd.) bezeichnet: „Das ist ein Wohnen, das seine Umwelt ‚gestaltet‘, sie passend, gefügig und gefügt anordnet; eine Welt, in der der Wohnende auf seine Weise zu Hause ist. Dem stellt er eine andere Art des Wohnens entgegen, die Haltung, sich überall nur als Gast zu fühlen; dann lehnt er ab, Verantwortung für das zu tragen, was ihm 71

Michael Opitz/Erdmut Wizisla: Vorwort. In: dies. (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 1. Frankfurt a. M. 2000, S. 9-13, hier: S. 10.

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dient; er fühlt sich von dem Sessel, auf dem er Platz nimmt eingeladen und, im gegebenen Augenblick, auch wieder ausgeladen.“ (Ebd.)

Brecht scheint insbesondere auf die Spannung zwischen dem gestaltenden und einem nur provisorischen Wohnen zu insistieren. Benjamin erkennt darin allerdings eine Art inneren Zusammenhang und versucht sich daher an einer anderen Typologisierung: „Ich komme nun dazu, das Wohnen in der Dialektik eines ganz anderen Aspekts zu zeigen. Es gelingt mir auch, Brecht den Eindruck zu nehmen, meine Darstellung sei nur eine Umschreibung seiner eignen Bemerkungen. Ich unterscheide das Wohnen das dem Wohnenden das Maximum und dasjenige, das ihm das Minimum von Gewohnheiten mitgibt. Beide Extreme sind pathologisch. Wahrscheinlich unterscheiden sie von den von Brecht bezeichneten sich schon dadurch, daß sie auseinanderzutreten streben, während die andern eine Neigung haben, zusammenzukommen. Das Wohnen, das dem Wohnenden das Maximum von Gewohnheiten mitgibt, ist das, wie die Vermieterinnen möblierter Zimmer sichs vorstellen. Der Mensch wird eine Funktion der Verrichtungen, die die Requisiten von ihm verlangen. Hier waltet ein ganz anderes Verhältnis des Wohnenden zur Dingwelt als im mitahmenden Wohnen. Hier werden die Dinge (ob sie Eigentum im juristischen Sinne sein mögen oder nicht) ernst genommen, für das mitahmende Wohnen leisten sie ungefähr was eine Bühneneinrichtung leistet. Man könnte auch sagen: das eine findet in einer Einrichtung statt, das andere in einem Interieur. Schwerer ist es, den Faktor der Gewohnheit im mitahmenden Wohnen zu bestimmen, während er für das Gastwohnen vollkommen in einem Wort von Nietzsche definiert ist: „Ich liebe die kurzen Gewohnheiten.“ Die vierte Art des Wohnens endlich, das Wohnen, das dem Wohnenden das Minimum von Gewohnheiten mitgibt, ist das Hausen. Auch diese Vorstellung findet sich im Gemüt der Zimmervermieterin am vollkommensten ausgebildet. In ihrer Mitte steht der schlechte Zimmerherr und die Abnutzung. Denn das Hausen ist das zerstörende Wohnen, ein Wohnen, das gewiß keine Gewohnheiten aufkommen läßt, weil es die Dinge, ihre Stützpunkte, fortschreitend wegräumt.“ (Ebd., 435f.)

Während Brecht explizit von seinem eigenen Wohnverhalten ausgeht, zögert Benjamin, sich auf die „vierte Art des Wohnens“ „gerade privat […] festzulegen“ (ebd., 435). Es geht ihm zunächst um eine „Analyse des Wohnens“ (WB V.2, 1035), wie er sie in den nachfolgenden Jahren etwa in Erfahrung und Armut, Der destruktive Charakter und vor allem in den Passagen-Aufzeichnungen zum Interieur und zur Spur (vgl. WB V.1, 281-300) ausdifferenzieren und weiterentwickeln wird. Auffällig ist an der zitierten Passage, dass Benjamin Brechts Unterscheidung nicht ersetzt, sondern in seine Klassifikation von ‚Wohn-Typen‘ integriert. Ausgangspunkt seiner Unterscheidungsoperation ist dabei das Verhalten, Gewohnheiten anzunehmen, das ihm erlaubt, ein polares Spannungsfeld von einem „Minimum“ bis zu einem „Maximum“ mit unterschiedlichen

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Intensitätsgraden zu zeichnen. Die Extreme sind dabei angezeigt durch einerseits den ‚Gewohnheitsmenschen‘ und andererseits durch das „zerstörende Wohnen“. Ihren Bezug zueinander haben die extremen Pole dieses Spannungsfeldes gerade dadurch, dass sie „auseinanderzutreten streben“. Benjamins Unterscheidung zwischen den ‚Wohn-Typen‘ weist auf das Denkbild Der destruktive Charakter, das im November desselben Jahres in der Frankfurter Zeitung erscheinen wird. Er unterscheidet dort ebenfalls den ‚Gewohnheitsmenschen‘, den er hier „Etui-Mensch“ (WB IV.1, 397) nennt, vom destruktiv-zerstörenden Charakter. Der „Etui-Mensch“ suche, so Benjamin weiter, „seine Bequemlichkeit“ (ebd.) in einem „Gehäuse“, das ihm ermöglicht, allen Dingen sein inneres Wesen aufzuprägen. Diese Verhaltensform wird Benjamin in den Passagen-Aufzeichnungen für das „wohnsüchtig[e]“ (WB V.2, 1035) 19. Jahrhundert spezifizieren: Die „Phantasmagorien des Interieurs“ (WB V.1, 52) entstehen, so führt Benjamin im Passagen-Exposé Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts aus, im Frankreich Louis-Philippes im Zuge der Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte.72 Der Typus des „Privatmanne[s]“ betrete den „geschichtlichen Schauplatz“ (ebd.) und bilde sich eine Wohnstätte, die zum „Ausdruck der Persönlichkeit“ (ebd.) werde. Die Verhaltensform dieses neuen Wohntypus fasst Benjamin in Erfahrung und Armut zusammen: „Betritt einer das bürgerliche Zimmer der 80er Jahre, so ist bei aller ‚Gemütlichkeit‘, die es vielleicht ausstrahlt, der Eindruck ‚hier hast du nichts zu suchen‘ der stärkste. Hier hast du nichts zu suchen – denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hätte: auf den Gesimsen durch Nippessachen, auf dem Polstersessel durch Deckchen, auf den Fenstern durch Transparente, vor dem Kamin durch den Ofenschirm.“ (WB II.1, 217)

Der bevorzugte Stoff dieses Wohnverhaltens sei, so Benjamin, Plüsch, da sich in ihm „besonders leicht Spuren abdrücken.“ (WB V.1, 294) Es ist der Stoff „der Ära Louis-Philippes“ (ebd., 181). Die Bedeutung dieser Reflexionen über 72

In Das Paris des Second Empire bei Baudelaire heißt es dazu auch: „Seit Louis-Philippe findet man im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen. Das versucht es innerhalb seiner vier Wände. Es ist als habe es seine Ehre darein gesetzt, die Spur, wenn schon nicht seiner Erdentage so doch seiner Gebrauchsartikel und Requisiten in Äonen nicht untergehen zu lassen. Unverdrossen nimmt es den Abdruck von einer Fülle von Gegenständen; für Pantoffeln und Taschenuhren, für Thermometer und Eierbecher, für Bestecke und Regenschirme bemüht es sich um Futterale und Etuis. Es bevorzugt Sammet- und Plüschbezüge, die den Abdruck jeder Berührung aufbewahren. Dem Makarstil – dem Stil des ausgehenden Second-Empire – wird die Wohnung zu einer Art Gehäuse. Er begreift sie als Futteral des Menschen und bettet ihn mit all seinem Zubehör in sie ein, seine Spur so betreuend wie im Granit die Natur eine tote Fauna.“ (WB I.2, 548f.).

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das bürgerliche Wohnen und ‚Spuren-Hinterlassen‘ für die geschichtsphilosophischen Methodik des ‚Passagen-Werks‘ wurde bereits ausführlich untersucht und soll hier nicht näher in den Blick genommen werden.73 Aufschlussreich für Benjamins ‚Wohn-Typologie‘ sind hingegen die Überlegungen zum ‚destruktiven Charakter‘, der dem „Etui-Menschen“ ‚feindlich‘ (vgl. WB IV.1, 397) gegenübersteht. Der ‚destruktive Charakter‘ richte sich nirgends häuslich ein und sei auch nicht daran interessiert, überall seine Spuren zu hinterlassen. Im Gegenteil: „Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung.“ (Ebd., 398) „Verwische die Spuren“74, diesen Vers des Auftaktgedichts aus Brechts Aus dem Lesebuch für Städtebewohner erhebt Benjamin zur Losung des ‚destruktiven Charakters‘, der nicht jede Nische mit persönlichen Gegenständen füllt, sondern den „leere[n] Raum“ (ebd., 397) favorisiert: „Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.“ (Ebd., 396) In Erfahrung und Armut betont Benjamin daher auch, dass das ‚Spurenverwischen‘ „weit fort“ (WB II.1, 217) führe vom bürgerlichen ‚Gewohnheitstypen‘. Zur der dort diagnostizierten neuen „Erfahrungsarmut“ (ebd., 218) bildet der ‚destruktive Charakter‘ damit denjenigen Typus, der die Konsequenzen aus dem Bruch mit allen bisherigen Traditionen zieht: Er richtet sich nicht bloß in der neuen ‚Armut‘ ein, sondern treibt sie in seinem Verhalten noch voran. Als exemplarische Figur des „neue[n] Barbarentum[s]“ (ebd., 215) eignet dem ‚destruktiven Charakter‘ damit aber immer auch ein konstruktiver Impuls des ‚Neuanfangens‘: „Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen, mit Wenigem Auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren […].“ (ebd.) Benjamins und Brechts Bemühungen um eine differenzierte Klassifikation unterschiedlicher ‚Wohn-Typen‘ resultiert aus einem vergleichbaren ‚soziologischen‘ Interesse an Verhaltensweisen, deren zeitdiagnostischer Erkenntniswert darin liegt, dass sich an ihnen konkrete lebenspraktische Handlungs- und Denkweisen, gesellschaftliche und ökonomische Zustände sowie politische Organisationsformen ablesen lassen. In diesem Sinne ordnet Benjamin das Gespräch dann auch unter der Anmerkung „Wohnen: sich als Gast fühlen“ (WB II.3, 1372) in ein Konvolut von Texten ein, das den Titel Material zu einem 73 74

Vgl. Isabel Kranz: Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte. München 2011, hier: S. 145-223. Bertolt Brecht: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11: Gedichte I (Sammlungen 1918-1938), hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a. M./Weimar 1988, S. 157.

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Diskurs über Brecht (vgl. ebd.) trägt und auf eine möglicherweise größere Arbeit deutet. Der Zusammenhang mit Benjamins anderen zahlreichen Texten zu Brecht ergibt sich daraus, dass er die dem ‚destruktiven Charakter‘ attestierten Eigenschaften des ‚Wegräumens‘ und ‚Platzschaffens‘ auch für Brecht als Schriftsteller und Theatermacher geltend zu machen versucht. Denn Brecht sei, so Benjamin, „ein Spezialist des Von-vorn-Anfangens“ (WB II.2, 515). Dieses Motiv zieht sich durch die meisten Texte über Brecht und bildet einen roten Faden, der Benjamin dazu dient, die „schwierige Erscheinung“ (ebd., 506) Brecht zu deuten. Dabei betrifft das ‚Von-vorn-Beginnen‘ allen voran Brechts Umgang mit der überlieferten ‚Guckkastenbühne‘, den daran anhängigen Inszenierungspraktiken, Schauspielformen und Rezeptionshaltungen des Publikums. Gleich zu Beginn einer seiner ersten Texte über Brecht (Was ist das epische Theater? ) macht Benjamin sofort deutlich, dass Brechts Bedeutung weniger vom klassischen (Lese-)Drama als vielmehr von seinem funktionalen Umgang mit dem „altbewährten Bühnenapparat“ (ebd., 519) zu erkennen ist. In einer präzisen Aufzählung nennt er diejenigen Elemente von Brechts Theatertheorie und -praxis, die der sukzessiven Aufhebung der Trennung von Bühne und Publikum („Es geht um die Verschüttung der Orchestra.“, ebd.) dienen und das ‚Einfühlungs- und Illusionstheater‘ letztlich „liquidier[en]“ (ebd.): „Seinem Publikum stellt diese Bühne nicht mehr ‚die Bretter, die die Welt bedeuten‘ (also einen Bannraum), sondern einen günstig gelegenen Ausstellungsraum dar. Seiner Bühne bedeutet ihr Publikum nicht mehr eine Masse hypnotisierter Versuchspersonen sondern eine Versammlung von Interessenten, deren Anforderungen sie zu genügen hat. Seinem Text bedeutet die Aufführung nicht mehr virtuose Interpretierung sondern strenge Kontrolle. Seiner Aufführung ist der Text nicht mehr Grundlage sondern Gradnetz, in das, als Neuformulierungen, ihr Ertrag sich einzeichnet. Seinem Schauspieler gibt der Regisseur nicht mehr Anweisung auf Effekte sondern Thesen zur Stellungnahme. Seinem Regisseur ist der Schauspieler nicht mehr Mime, der eine Rolle sich einzuverleiben, sondern Funktionär, der sie zu inventarisieren hat.“ (Ebd., 520)

Auf die Theorie des ‚epischen Theaters‘ ist hier genauso wenig nochmals einzugehen wie auf einen Vergleich zwischen Benjamins Analyse und Brechts Texten, da in den letzten Jahren mehrere Forschungsarbeiten bereits ein differenziertes Bild einer intellektuellen Beziehung mit gegenseitiger Beeinflussung gezeichnet haben.75 Vor dem Hintergrund der weiter oben aus75

Die Konstellation zwischen Benjamin und Brecht war über einen langen Zeitraum Gegenstand kontroverser Debatten: Zwischen radikaler Ablehnung und emphatischer Aufwertung changierte hier die Rezeption und das Forschungsfeld; nicht zuletzt auch, um

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geführten Überlegungen zum möglichen ‚systematischen‘ Stellenwert des Begriffs der Haltung ist hier vor allem auffällig, dass Benjamin von Brechts Texten als einem „Gradnetz“ spricht, das der Aufführung nicht vorgelagert ist, sondern weiter eher nachgeordnet scheint, indem sich darin der „Ertrag“ der „Aufführungen“ „einzeichnet“. Worin besteht dieser „Ertrag“, der „Neuformulierungen“ im Text erlaubt? Dieser Ertrag ergibt sich nach Benjamin aus den konkreten „Versuchs­ anordnung[en]“ (ebd., 522), die Brecht auf der Bühne inszeniere und deren „Material“ (ebd., 521) Gesten sind. „Vorgefunden werden diese Gesten“, so notiert Benjamin in einer anderen Aufzeichnung, „in der Wirklichkeit. Und zwar – das ist eine wichtige Feststellung, die mit der Natur des Theaters ganz eng zusammenhängt – nur in der heutigen Wirklichkeit.“ (WB II.3, 1381) Gerade in diesem strikten Gegenwartsbezug, der Gesten ‚ausstellt‘ und diskutierbar werden lässt, mache Brechts Theater die „Probe auf die Zustände am Menschen“ (WB II.2, 530), die „Probe auf das Exempel der Zeitgeschichte“ (ebd., 515) bzw. insgesamt „die Probe auf die heutige Gesellschaft“ (WB VII.2, 655). Anders aber als das „‚Zeittheater‘ in Gestalt politischer Thesenstücke“ (WB II.2, 519) vermittle das ‚gestische Theater‘ keine politischen Parolen, Programme oder Ideologien, sondern zeige in kleinen Ausschnitten körperliche Verhaltensweisen, deren Ausstellung es erlaubt, ihre jeweilige Fähigkeit zu beurteilen, den gesellschaftlichen Verhältnissen beizukommen oder ihre sich innerhalb der lange Zeit vorherrschenden, meist polemisch geführten Debatten um Benjamins Verhältnis zum Marxismus zu positionieren. Die frühere Annahme einer bloß einseitigen (und fatalen) Beeinflussung Benjamins durch Brecht, die häufig gekoppelt war an die schiere Ignoranz der im Umfeld der Brecht-Essays angesiedelten Arbeiten, ist in den letzten Jahren durch eine Reihe von Studien zugunsten einer differenzierteren Perspektive aufgebrochen worden. Vgl. etwa: Inez Müller: Walter Benjamin und Bertolt Brecht. Ansätze zu einer dialektischen Ästhetik in den dreißiger Jahren. St. Ingbert 1993; Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000; Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.  M.2004; Abdullah Sinirlioglu: Benjamin und Brecht. Eine politische Begegnung. Würzburg 2016. Dabei wurde u.a. deutlich, das von einer wechselseitigen Beeinflussung auszugehen ist. Wenn die vorliegende Arbeit vor dem Hintergrund der heutigen Forschungslage wiederum nicht den Fokus auf die Interaktionen zwischen beiden legt, sondern einseitig nach dem systematischen Stellenwert des u.a. in den BrechtEssays zentralen Begriffs der Haltung fokussiert, dann wird die Annahme produktiver gegenseitiger Beeinflussung bereits vorausgesetzt, ohne jedoch in einer philologischen Detailanalyse nochmals zum Gegenstand zu werden. Vielmehr scheint es nun vor dem Hintergrund der neuen, differenzierten Forschungslage der letzten Jahre möglich, nochmals unter anderen Vorzeichen den Fokus ganz auf Benjamin zu legen, indem danach gefragt wird, welche Rolle der Begriff der Haltung bei Benjamin spielt und wie er in verschiedenen Kontexten eingesetzt und transformiert wird.

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Unzulänglichkeit zu erkennen. Damit werden zugleich auch die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst erkennbar und kritisierbar.76 Diese Gesten werden, so führt Benjamin weiter aus, im ‚epischen Theater‘ dadurch sichtbar, dass das Kontinuum der dramatischen Handlung unterbrochen und die Geste als solche herausgehoben wird: „Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem Fluß sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste. Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schluß: Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde.“ (Ebd., 521)

Neben der „Geschlossenheit“ durch einen „fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende“ (ebd.) bindet sich an dieser unterbrechenden Beobachtung einzelner körperlicher Gesten bei Benjamin (und Brecht) das problematische Versprechen einer ‚authentischen‘ Reaktion („nur in gewissem Grade verfälschbar“, ebd.), das möglicherweise einen Einfluss behavioristischer Verhaltensforschung verrät.77 Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit 76 77

In einer Notiz zu den Brecht-Kommentaren spricht Benjamin hier auch von einer dialektisch-wechselseitigen Aufklärung der einzelnen Gesten und der gesellschaftlichen Verhältnisse. (vgl. WB II.3, 1382). Eine diskursgeschichtliche Einordung der Begriffsverwendung der ‚Haltung‘, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten ist, hätte (nicht nur) bei Benjamin und Brecht zum einen nach Anleihen in behavioristischen Theorien zu fragen. (vgl. hier Hansjürgen Rosenbauer: Brecht und der Behaviorismus. Bad Homburg u.a. 1970) Für Benjamin wäre neben seiner Beschäftigung mit Brecht in diesem Zusammenhang u.a. auf den Text Karussell der Berufe zu verweisen. (vgl. WB II.2, 667-676). Zudem betont Benjamin bereits für das ‚epische Theater‘ die Einbeziehung neuer technischer Medien. Auf dieser Grundlage wird der Begriff der Haltung dann auch im Kunstwerk-Aufsatz eine Rolle spielen, wenn es um das durch das Film sichtbar werdende „Opitsch-Unbewußte[…]“ (WB I.2, 461) geht. Die Kamera könne hier durch die Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums „Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens“ (ebd.) erkennbar machen. Dadurch ermögliche der Film zugleich, die Masse passiver Konsumenten in die „Haltung des fachmännischen Beurteilers“ (ebd., 459) zu versetzen. Vor dem Hintergrund des 1936 uraufgeführten Films Modern Times hebt Benjamin hier Charlie Chaplins besondere Bedeutung heraus: „Seine einzigartige Bedeutung besteht darin, daß er den Menschen seinem Gestus – also seiner leiblichen wie geistigen Haltung – nach in den Film einmontiert. Das ist das Neue an Chaplins Gestus: er zerfällt die menschliche Ausdrucksbewegung in eine Folge kleinster Innervationen. Jede einzelne seiner Bewegungen setzt sich aus einer Folge abgehackter Bewegungsteilchen zusammen.“ (WB I.3, 1040). Es scheint vor allem die „massenweise[…] Reproduktion von menschlichen Haltungen und Verrichtungen“ (ebd., 1042) zu sein, von der Benjamins, den Kunstwerk-Aufsatz abschließende, Forderung nach der „Politisierung der Kunst“ (WB I.2, 469) ausgeht. Wo im Schreiben unterschiedliche

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ist allerdings entscheidender, dass die Dialektik aus „lebendigem Fluß“ und „Unterbrechung“ deutlich an Benjamins nächtliches Autobus-Aperçu erinnert. Die Unterbrechung, die Benjamin auch als „Stauung im realen Lebensfluß“ (ebd., 531) bezeichnet, wird hier zum Erkenntniskriterium einzelner Verhaltensweisen, weil darin – anders als in einzelnen Aussagen und im Selbstbild eines Menschen – direkt zu erkennen sei, wie jemand nicht nur zu, sondern in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen steht.78 Das betrifft zuallererst den Vorgang auf der Bühne selbst, erhält doch das Zeigen von einzelnen Gesten ihre Bedeutung hier vor allem durch eine indexikalische Wirkung des Zeigevorgangs. So besteht bei Brecht die Idee, auf der Bühne Verhalten zu zeigen, nicht darin, konventionelle Verhaltensmuster zu repräsentieren, sondern die Aufmerksamkeit auf den Akt des Zeigens selbst zu legen: Gezeigt wird vor allem das Zeigen selbst. Dadurch rücken die „‚Ästhetik des Theaters‘“ (WB II.2, 527), der Akt des Schauspielens genauso wie die gesamte Bühnensituation als solche in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Denn damit in diesem Zusammenhang der prekäre Status konventionalisierter Symbolisierungen deutlich werden kann, muss der semiotische Prozess in seiner Entstehung selbst vorgeführt werden. Nicht der Inhalt des Gezeigten, sondern die Art und Weise und damit die reine Körperlichkeit des Zeigens steht dabei im Mittelpunkt. Konventionalisierte Zuschreibungen werden so auf ihr gesellschaftliches und historisches Gewordensein zurückgekoppelt und als Gegenstand der Kritik erkennbar. Damit diese rein indexikalische Spur sichtbar wird, muss narrative Kohärenz zugunsten von Montage, Zitat und Wiederholung

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Haltungen politischen Engagements erprobt werden, vermag der Film verschiedene Haltungen zu ‚testen‘ (vgl. ebd., 488f. und WB I.3, 1048) und einer kritischen Beurteilung zuzuführen. Den „erkenntnisträchtigen Charakter“ der „Stauung“ und die Bedeutung für Benjamins eigene Schreibweise hat bereits Martin Jörg Schäfer betont. (Martin Jörg Schäfer, Die Gewalt der Muße, S.  251). Auch Alexander Honold hat auf den Erkenntniswert der „Stauung“ hingewiesen und insbesondere den politischen Gehalt der Diskussion um den Begriff der ‚Haltung‘ herausgearbeitet. Honold bezieht sich dabei auf ein anderes Gespräch aus dem Tagebuch zwischen Benjamin und Brecht über Kafka, der, so notiert Benjamin, von Brecht als „prophetische[r] Schriftsteller“ (WB VI, 432) bezeichnet wird, weil er der ‚staunende‘ Schriftsteller gewesen sei: „Das Staunen von einem Menschen, der ungeheure Verschiebungen in allen Verhältnissen sich anbahnen fühlt ohne den neuen Ordnungen sich selber einfügen zu können.“ (Ebd., 433). Diese „neuen Ordnungen“ seien, so Honold, Gegenstand der Reflexionen über „Fluß“, „Stauung“, „Haltung“, wobei Honold zeigt, wie sich etwa in einem Gedicht Brechts über ein sowjetisches Staudammprojekt, in Kafkas Erzählung Beim Bau der chinesischen Mauer sowie in Benjamins Autobus-Aperçu Fragen der „Hydro- und Sozialtechnologie[n]“ mit Reflexionen über konkrete Verhaltensweisen und soziale Organisationsformen verschränken. (vgl. Alexander Honold, Der Leser Walter Benjamin, S. 347-374, hier: S.348).

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aufgegeben werden. Die Unterbrechung des Spielflusses ist damit für den Vorgang des Zeigens konstitutiv. Die Texte als „Gradnetz“ der Aufführungen scheinen dann wiederum vor allem die Funktion von Sammlungen, besser: Protokollen von Haltungen zugewiesen zu bekommen, die den „Ertrag“ der jeweiligen „Versuchsanordnung“ ergeben. In einer handschriftlichen Notiz, die zu einem Konvolut von Aufzeichnungen für einen Radiovortrag zu Brecht gehören, betont Benjamin gleich dreimal im Zusammenhang seiner Deutung der „theoretischen Fundamente“ (WB VII.2, 809), dass dieser Begriff der Haltung bei Brecht keinesfalls zu verwechseln sei mit demjenigen eines „private[n] Standpunkte[s]“ (ebd.), da „Haltung“ nicht bloß die Entscheidung bzw. die „Überzeugung[…]“ (ebd.) der einzelnen Person meint, sondern von der Überprüfbarkeit ihrer gesellschaftlichen Relevanz abhängt. Zudem gehe es nicht um einen individuell-unveräußerlichen Selbstbezug der einzelnen Person, sondern um nachahmbare, trainierbare Haltung; um Haltungen also, deren Übernahme oder Verwerfung dem Publikum gerade dadurch zur kritischen Diskussion und Beurteilung überantwortet werden können, dass sie aus dem Fluss der Handlung herausgehoben werden. In der damit zusammenhängenden Dialektik aus Bewegung und Unterbrechung, die die Möglichkeit einer sequentiellen Ausstellung körperlicher Gesten ermöglicht, ist ‚Haltung‘ deutlich von ‚Habitus‘ als stabiles Verhaltens- und Handlungsrepertoire zu unterscheiden und von den lebensphilosophischen und existentialistischen Haltungskonzepten abzugrenzen, in denen Haltung den „Fehl- und Sehnsuchtsort“79 eines intransitiven, souveränen Selbstverhältnisses markiert. Diese Differenz hat auch eine historische Tiefendimension. Phillip Wüschner hat genealogisch herausgearbeitet, wie diese Assoziation der Haltung mit einem tendenziell ‚auf Dauer gestellten‘80 Lebensführungskonzept und Subjektivierungsmodell vor allem mit der Latinisierung der bei Aristoteles noch dynamisch gedachten hexis in den Begriff habitus zusammenhängt. Hexis sei in der aristotelischen Ethik jedoch, so zeigt Wüschner, „gegen die Ontologisierung von Charakter als Habitus“81 und damit gegen die Starrheit eines einmalig gewählten Standpunktes gerichtet. Vielmehr sei damit ein Lebensführungskonzept bezeichnet, das Denken und Handeln von ihrem Werden aus in den Blick nimmt. Haltung changiere damit dann als „Übergangsmoment in einer diskontinuierlichen Dynamik von Potenzialität und

79 80 81

Phillip Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, S. 41. Vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 148. Phillip Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung, S. 61.

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Aktualität, von der Fähigkeit, eine Handlung auszuüben, zur Ausübung selbst“82 permanent zwischen Wandlung und „koordinierende[r] Positionierung“83. Indem Benjamin und Brecht ‚Haltung‘ erstens von ihrer Ausstellbarkeit (der Zeigevorgang) in den Blick nehmen; zweitens von ihrer Kontrollierbarkeit bzw. kritischen Überprüfbarkeit auf Angemessenheit im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse befragen; und drittens ihre potentielle Nachahmbarkeit („‚Gesten zitierbar zu machen‘ ist die wichtigste Leistung des Schauspielers“, WB II.2, 529) ins Zentrum rücken, scheinen sie eher in der Tradition der dynamisch gedachten hexis zu stehen, als auf später formulierte soziologische Habitustheorien etwa bei Pierre Bordieu vorauszuweisen.84 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Benjamins Auseinandersetzung mit Brechts ‚epischem Theater‘ zweifelsohne einen entscheidenden Knotenpunkt in seinem Begriffseinsatz der ‚Haltung‘ bildet. Für Benjamins kritische Reflexion über den eigenen Ort des Schreibens, der hier im Mittelpunkt des Interesses steht, gilt es allerdings auch zu berücksichtigen, dass Benjamins Interesse am Begriff der Haltung nicht nur abseits der Beschäftigung mit Brecht zu beobachten ist, sondern auch zeitlich weit hinter die Begegnung mit Brecht zurückreicht.85 So veranstaltete beispielsweise der studentisch organisierte Berliner Sprechsaal, dem Benjamin als damaliger Präsident der Freien Studentenschaft in Berlin angehörte, bereits im Mai 1914 eine Veranstaltung „Über Haltung“ (Br  I, 218). Auch wenn Benjamin dieser Sitzung nicht beiwohnte und der Begriff häufig noch ohne eine explizite Theoretisierung verwendet wird, lässt sich hier erkennen, dass er nicht nur bereits in Benjamins frühen Schriften, sondern auch in seinem intellektuellen Diskussionsumfeld höchst virulent war. In der Berliner Chronik schreibt Benjamin zu diesem politischen Engagement rückblickend: „Es war ein äußerster, heroischer Versuch, die Haltung der Menschen zu verändern ohne ihre Verhältnisse anzugreifen.“ (WB VI, 478) Da die Auseinandersetzung mit Brecht durchaus als Versuch angesehen werden kann, diese Trennung 82 83 84

85

Ebd., S. 22f. Ebd., S. 69. Eine Untersuchung, inwiefern hier auch eine Einordung in eine kritisch nachzuzeichnende Genealogie von Geselligkeits- und Zivilisationstheorien denkbar wäre, die etwa Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799), Simmels Soziologie der Geselligkeit (1910), aber auch Norbert Elias’ Über den Prozeß der Zivilisation (1939/1969) sowie Foucaults Studien zur Subjektdisziplinierung umfassen könnte, bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten. Das gilt, wie die Arbeit anhand der Konstellation mit Friedlaender ausführlich dargelegt hat, ebenfalls für häufig insbesondere mit Brecht assoziierte „Denken in Extremen“ (vgl. Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamin und Brecht. Denken in Extremen. Berlin 2017).

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von Haltung und gesellschaftlichem Kontext einzuholen, reihen sich die Bemühungen um den Begriff der Haltung in den Texten über Brecht hier in einen größeren Zusammenhang ein und werden so als spezifische Ausprägung eines viel länger bestehenden Interesses lesbar. Dass Benjamin mit Brecht Haltung und gesellschaftlichen Kontext zusam­ menzudenken versucht, wird beispielhaft in einem Brief an Scholem deutlich, in dem Benjamin betont, dass Brechts Texte „schärfer als alle anderen Einblicke in die geistigen Verhältnisse geben, unter denen die Arbeit von Leuten wie mir sich hierzulande vollzieht.“ (Br IV, 45) Der entsprechende Brief ist auf den 20.7.1931 datiert und fällt somit unmittelbar in die Zeit nach den Tagebuchaufzeichnungen. In ähnlicher Weise wie zu Beginn des Tagebuches aus Juan-les-Pins bezieht Benjamin auch in diesem Brief die Aussage über die „geistigen Verhältnisse“ zugleich auf die allgemeine ‚geistespolitische Lage‘ und auf die persönlichen ökonomischen Verhältnisse („ohne irgendein Vermögen, ohne irgendein festes Einkommen“, ebd.). Die bereits weiter oben angestellte Vermutung, das Autobus-Aperçu bilde ein Gegengewicht zu den trost- und hoffnungslosen Überlegungen über die ‚geistespolitische Lage‘, weil es den Versuch darstellt, neue Schreibenergien durch ein kritisches Autorschaftsmodell zu gewinnen, das – jenseits der polarisierten politischen Verhältnisse – durch einen kalkulierten Einsatz des Schreibens charakterisiert wird, scheint direkt mit der Arbeit an den Brecht-Kommentaren zusammenzuhängen. In einem späteren Text schreibt Benjamin in diesem Sinne, dass Brecht ein Autor sei, „der sich fragt, wo er seine Begabung ansetzen muß, sie nur da ansetzt, wo er von der Notwendigkeit es zu tun überzeugt ist, und bei jeder Gelegenheit, die diesem Prüfstein nicht entspricht, schlappmacht.“ (WB II.2, 506) Das sei die „neue Haltung“ (ebd.), die Brecht vormacht. Diese Haltung sei zudem „erlernbar“ (ebd., 507). Auf dieses ‚Erlernbar-Sein‘ der Haltung scheint auch Benjamins Anmerkung zum „Training des Schreibenden“ (WB VI, 425) aus seinen Überlegungen zum ‚guten‘ Schreibstil beziehbar zu sein. Erst von diesem Training aus könne eine Schreibhaltung entwickelt werden, die „in der Wüste der Gegenwart an genau berechneten Punkten seine Tätigkeit aufnimmt.“ (WB II.2, 506) Das erinnert deutlich an das Bild von den „Nieten und Fugen“ (WB IV.1, 85) aus der Einbahnstraße, an denen ein Schreiben einzusetzen habe, so Benjamin, das die eigene „literarische Wirksamkeit“ nüchternkalkuliert vor dem Hintergrund der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse abschätzt. Es ist jedoch zugleich zu betonen, dass die Verwendungsweisen des Begriffs der Haltung bei beiden genauso wenig deckungsgleich sind wie ihre theoretischen Arbeitsprogramme. Es ist daher auch kein Zufall, wenn Brecht in

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seinem Gedicht Verlustliste Benjamin als seinen „Widersprecher“86 bezeichnet, dessen Verlust er in mehreren Gedichten beklagt. Während „Widersprecher“ hier als Ehrentitel gemeint ist, hat Brecht an anderer Stelle auch scharf Kritik an Benjamin formuliert: „alles mystik, bei einer haltung gegen mystik. in solcher form wird die materialistische geschichtsauffassung adaptiert! es ist ziemlich grauenhaft.“87 Auch Benjamins Stellung zu Brecht weist Ambivalenzen auf. Auf der einen Seite schreibt er etwa brieflich gegenüber Scholem in Bezug auf das Stück Happy End: „Mit dem neuen Stück von Brecht ist auch nicht viel Ehre einzulegen“ (Br III, 486). Auf der anderen Seite betont er, dass Brechts Schriften „die ersten“ seien, „für die ich als Kritiker ohne (öffentlichen) Vorbehalt eintrete.“ (Br IV, 45) Zudem ist zu berücksichtigen, dass Benjamin Brecht nicht von dessen Aufführungspraxis oder früheren Arbeiten her rezipiert, die er kaum kannte (vgl. Br III, 469), sondern von den Texten, die ab 1929 entstehen und für Benjamin eine Art Versprechen darstellen, betont er doch vor allem das „begründete[…] Interesse, das man für seine gegenwärtigen Pläne haben muß.“ (Ebd.) Nicht einzelne Werke, sondern vor allem theoretisch ausgemessene Möglichkeitsräume scheinen hier die Grundlage für Benjamins ‚vorbehaltsloses‘ Bekenntnis zu sein. Wichtiger noch als diese Äußerungen ist aber die Tatsache, dass auch Benjamins Texte zu Brecht nicht einfach Versuche einer neutralen Beschreibung sind, sondern Kommentare, die ihr Erkenntnisinteresse nicht verbergen. So wäre zu vermuten, dass Brecht die Übertragungen der theatralen Techniken des Unterbrechens, Zitierens und Montierens auf die „Dialektik im Stillstand“ (WB II.2, 530), die Benjamin am Ende seines Textes Was ist das epische Theater? erprobt, eher ein Rätsel gewesen sein dürfte. Für die vorliegende Arbeit ist es aber noch interessanter, wie Benjamin den Versuch unternimmt, die Elemente des ‚epischen Theaters‘, vor allem aber die an Brechts Theatertheorie und -praxis profilierte Reflexion auf die Haltung sowohl zur Analyse unterschiedlicher Schreibweisen im Spannungsfeld aus Politik und Literatur nutzt als auch auf ein Modell zeitgemäßer kritischer Autorschaft umzulegen versucht. Diese ‚Übersetzung‘ auf die Frage kritischer Autorschaft kündigt sich bereits in Benjamins Brecht-Kommentar an, wenn es dort heißt: „[W]as an ihnen [den Brecht’schen Figuren, K.D.] zitierbar ist, das ist nicht nur die Haltung, genauso 86 87

Bertolt Brecht: Die Verlustliste. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 15: Gedichte 5 (Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956), hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a. M./Weimar 1993, S. 43. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal (25. Juli 1938). In ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd.  26: Journale  I, hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a. M./Weimar 1993, S. 315.

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sind es die Worte, die sie begleiten.“ (Ebd., 662) Damit verlegt Benjamin bereits in den Arbeiten über Brecht selbst deutlich den Schwerpunkt von der körperlichen Geste auf die Sprache, die, wie bereits dargelegt wurde, für Benjamin letztlich auch der eigentliche kritische „Prüfstein“ (WB  III, 244f.) jeder „Haltung“ (ebd., 245) ist. Insbesondere in seinem Vortrag Der Autor als Produzent versucht Benjamin politische Konsequenzen aus seinen Überle­ gungen zur Haltung für einen zeitgemäßen Schreibstil zu entwickeln. Den Vortrag versteht er selbst als „Gegenstück zu der Analyse […], welche ich für die Bühne in der Arbeit ‚Das epische Theater‘ unternommen habe.“ (Br IV, 404) In der dort entwickelten Idee von der ausstellbaren, überprüfbaren und nachahmbaren ‚schreibenden Haltung‘ (vgl. WB II.2, 696) übersetzt Benjamin das „Modell“ (ebd.) des ‚epischen Theaters‘ auf die Funktion des Autors in der Gesellschaft und macht damit aus der ‚Haltung‘ als Schauplatz theatral auszustellender Gesten eine literaturkritische Analysekategorie, die bei Brecht so nicht angelegt ist, Benjamin aber dazu dienen soll, unterschiedliche ‚Schreibhaltungen‘ und Wechselverhältnisse zwischen Politik und Literatur zu beobachten und zu analysieren. Dabei versucht er unter mehreren, teilweise disparaten Gesichtspunkten den „Ort des Intellektuellen im Klassenkampf“ (WB II.2, 691) und die „Stellung“ des Schriftstellers „im Produktionsprozeß“ (ebd.) vor dem Hintergrund sowohl der allgemeinen medientechnischen Veränderungen als auch der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der beginnenden Exilzeit in den Blick zu nehmen. Benjamin betont vor allem, dass es notwendig sei, von der „unfruchtbar[en]“ „Debatte“ (ebd., 684) zwischen Autonomie und Heteronomie, die er auch als „das langweilige[…] Einerseits-Andererseits“ bezeichnet, loszukommen. Die Frage des politischen Gehalts, der politischen „Tendenz“ (ebd.) müsse vielmehr konsequent von der „literarische[n] Tendenz“ (ebd.) in den Blick genommen werden. Hier haben, so führt Benjamin dann aus, Brechts Arbeiten „Modellcharakter“ (ebd., 696), weil sie nicht bloß politische Lippenbekenntnisse formulieren, sondern die eigene Stellung vor dem Hintergrund sowohl der neuen Medien (Film, Radio) als auch der ökonomischen Voraussetzung von Literaturproduktion reflektieren. An die Reflexion über die eigene Haltung, die „schriftstellerische Position“ (ebd., 689), die „die Einsicht des Schriftstellers in seine gesellschaftliche Bedingtheit, in seine technischen Mittel und in seine politische Aufgabe“ (ebd.) zusammenschließt, bindet sich bei Benjamin dann das Versprechen, den „Produktionsapparat[…]“ (ebd., 692) nicht mehr nur durch neue literarische Erzeugnisse zu ‚beliefern‘, sondern auch zu ‚verändern‘ (vgl. ebd.; vgl. hierzu auch die Analyse im Kap 1.2). Für Benjamins Reflexion über die eigene Schreibposition, die hier im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht, ist der Vortrag Der Autor als Produzent

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aber weniger ertragreich. Der Vortrag hatte vor allem strategische Funktion als „Versuch“, sich in der beginnenden Exilzeit „eine Existenzgrundlage zu schaffen“ (Br IV, 410). Darüber hinaus scheint dem Vortrag gerade dadurch, dass er explizit beabsichtigt, „zu aktuellen Fragen der Literaturpolitik Stellung“ (Br IV, 410) zu nehmen, weniger der Versuch zu eignen, eine latenten Positionsbestimmung zu entwickeln, wie Benjamin sie im Autobus-Aperçu vorführt. Ebenso wie er in der Diskussion mit Brecht über verschiedene ‚Wohn-Typen‘ betont, dass er sich nicht auf einen festlegen möchte, scheinen die im Vortrag angestellten Überlegungen beispielsweise zu Sergej Tretjakow, aber auch zu Brecht kaum mit Benjamins eigener Schreibposition identifizierbar. Viertens: Um Benjamins Reflexion auf die eigene Schreibposition noch etwas genauer zu bestimmen, sei hier noch auf einen weiteren Unterschied, oder besser: auf eine Spezifizierung des Einsatzes des Begriffs der Haltung bei Benjamin hingewiesen. Stärker als es bei Brecht zu beobachten ist, insistiert Benjamin mit dem Begriff der Haltung, wie bereits an mehreren Stellen angedeutet, auf die latente Mitte zwischen den extremen Polen. Das zeigt sich auch an der Analyse der Haltung des ‚destruktiven Charakters‘. Der berühmte abschließende Satz von Der destruktive Charakter lautet bekanntlich: „Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.“ (WB IV.1, 398) Dass die Frage des Selbstmordes eine zentrale Rolle auch in dem Tagebuch von 1931 hat, wurde bereits dargelegt. Es wurde zudem diskutiert, inwiefern die „etymologische Betrachtung“ zum Begriff der Haltung einen Versuch darstellt, nicht nur einen Ausweg aus der biographischen Misere, sondern vor allem aus der Krise des kritischen Intellektuellen am Ende der Weimarer Republik zu bahnen. Für den damit in Zusammenhang stehenden ‚destruktiven Charakter‘, der die Fähigkeit des ‚Von-vorne-Beginnens‘ besitzt, findet sich in Benjamins Notizen eine aufschlussreiche Variante zu dem zitierten abschließenden Satz des Denkbildes: „Der destruktive Charakter bringt sich nicht um. Warum? Da ist nichts aus dem Weg zu räumen. Er ist im Indifferenzpunkt: sein Dasein ist Schöpfung und sein Tun Zerstörung.“ (WB IV.2, 1000) Anders als der frühromantische ‚Indifferenzpunkt‘, den Benjamin in seiner Dissertation als absoluten Entspringungsort der Reflexion bzw. als das Absolute untersucht hat (vgl. WB I.1, 38), ist der ‚Indifferenzpunkt‘, auf dem der ‚destruktive Charakter‘ steht, ein ‚Nullpunkt‘, der in der Schwebe bleibt, eingespannt zwischen Schöpfung und Zerstörung, Konstruktion und Destruktion. Das erinnert vor allem an den bereits mehrfach dargestellten Schwebezustand der ‚schöpferischen Indifferenz‘ Friedlaenders. Zwar scheint Benjamin auch zu versuchen, vor allem Brechts Figur des Herrn Keuner als

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Protagonisten einer solchen Indifferenz zu lesen, indem er die Herkunft seines Namens von „‚Keiner‘“ (WB VII.2, 655) betont, ein vergleichbares Interesse an einem latenten Schwebepunkt inmitten der Extreme ist bei Brecht allerdings schwerlich zu ermitteln. Anders auch als in Brechts Unterscheidung eines schöpferischen und eines funktionalen Wohnens, die, so hatte Benjamin vermutet, sich anzugleichen streben, geht es Benjamin mit dem ‚destruktiven Charakter‘ um die Suche einer Haltung als dem latenten Punkt inmitten auseinanderstrebender Wege. Dadurch stehe der ‚destruktive Charakter‘, so schlussfolgert Benjamin, auch permanent am „Kreuzweg“ (WB IV.2, 1001 und WB IV.1, 398), alarmiert und eingespannt zwischen verschiedenen Richtungen und Wegen, die ihn „von einem Extrem ins andere“ (WB IV.2, 1001) führen. Dieses ‚Von-einem-Extrem-ins-Andere‘ ist zentral für Benjamins dynamischen Begriff der Haltung, was sich exemplarisch an der Beschäftigung mit André Gide zeigen lässt. Analog zu dem Versuch, die Bedeutung des Begriffs der Haltung durch die Konfrontation mit dem französischen Wort „allure“ zu erweitern, scheint Benjamin Anhaltspunkte für seine eigene Reflexion über die schriftstellerische Haltung nicht in deutschen Intellektuellendebatten zu finden, sondern bei dem französischen Schriftsteller André Gide. Im Frühjahr 1928 hatte Benjamin die Gelegenheit, Gide in einer „zweistündige[n] Unterhaltung“ (Br III, 325) zu ‚interviewen‘ (vgl. WB VI.1, 502). Unter den Titeln André Gide und Deutschland. Gespräch mit dem Dichter und Gespräch mit André Gide veröffentlicht Benjamin dann zwei Texte über dieses Gespräch in der Zeitschrift Die literarische Welt. Mehrmals hebt Benjamin dabei die „dialektische […] Zweckmäßigkeit“ des „Gidesche[n] Denken[s]“ (ebd.) hervor. Das bezieht sich auf mehrere Aspekte: Auf Gides eigenwillige Position auf dem literarischen Markt, auf die Bedeutung des Übersetzens für sein Schreiben und vor allem auf den Einfluss anderer Denker und Schreiber (Nietzsche, Goethe) auf sein Denken. Entscheidend scheint Benjamin dabei eine bestimmte Strategie des ‚Zögerns‘ zu sein, die Gides Stellung als Schriftsteller und Intellektueller eignet. (Vgl. ebd., 499 und 500). Auch in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal betont Benjamin: „Gide ist eine durch und durch dialektische Natur mit einem fast beirrenden Reichtum von Vorbehalten und Verschanzungen.“ (Br III, 332) Diese Strategie des ‚Zögerns‘, der ‚Vorbehalte‘ und ‚Verschanzungen‘ seien allerdings, so betont Benjamin nachdrücklich, nicht mit einer Position der „moralischen Indifferenz“ (WB IV.1, 509) im Sinne von ‚Gleichgültigkeit‘ zu verwechseln. Vielmehr scheint Benjamin damit einen Erfahrungsbegriff in Verbindung zu bringen, der die Extreme abschreitet. Hier zitiert er Gide direkt: „‚Ich ging in jeder Richtung, die ich einmal einschlug, bis zum äußersten, um

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sodann mit derselben Entschiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden zu können.‘“ (Ebd., 507). Da Gide sich durch das ‚Zögern‘ der Entscheidung für eine einzige feste Position verwehrt, so hebt Benjamin hervor, könne erst das Abschreiten der Extreme umso entschiedener forciert werden. In der Auseinandersetzung mit den Spannungen und Extremen der Zeit eigne sowohl dem Werk als auch der Person eine Flexibilität und Beweglichkeit, die die Festlegung auf einen einzigen Standpunkt unterlaufe. In ähnlicher Weise hat auch Benjamin eine solche von den Spannungen der Zeit ausgehende Dynamik der eigenen Positionsbestimmung hervorgehoben. In Absetzung von einem starren Standpunktdenken schärft Benjamin kontrastiv den Begriff der Haltung, schließlich gehe es in seiner politischen Selbstverständigung, so formuliert er einmal gegenüber Scholem, nicht um „blanke Standpunkte, sondern um eine Entwicklung […], welche sich unter den schwersten Spannungen vollzieht.“ (Br IV, 44) Zu diesen Spannungen führt Benjamin im Brief weiter aus: „Dabei meine [ich] jetzt viel weniger innerliche Spannungen privater Natur […] ich meine die Spannungen des politischen, gesellschaftlichen Lebensraumes, von denen kein Mensch und am wenigsten ein Schriftsteller bei seinen Arbeiten absehen […] kann.“ (Br IV, 44f.) Bei Gide wiederum erkennt Benjamin in dem ‚Abschreiten der Extreme‘ eine Haltung, die ihn zum „Dichter der Ausnahmefälle“ (ebd., 508) macht. In diesem Sinne schlussfolgert Benjamin: „Die Welt ist auch in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugier oder apologetischer Eifer sondern höchste dialektische Einsicht.“ (ebd.) Auch Friedlaender hat in ähnlicher Weise immer wieder betont, dass Indifferenz nicht mit Gleichgültigkeit gleichzusetzen sei: „Wie viele sind dieser sehr flachen Ansicht, Indifferenz habe nichts zu tun, sei leblos.“ (F/M 10, 131) Vielmehr ziele die Indifferenz auf eine unentwegte Praxis des Ausgleichens der Extreme, wodurch der Punkt der Mitte, der eigenen Position nur durch die Extreme hindurch in seiner Latenz erkennbar wird. Diese Latenz der Mitte will Friedlaender dabei in deutlicher Abgrenzung zur aristotelischen „aurea mediocritas“ (ebd., 198) verstanden wissen, weil sie, so Friedlaender, nicht den Kompromiss, die „Diplomatie der Extreme“ (ebd., 521) betrifft, sondern ganz im Gegenteil die Herstellung immer neuer polarer Spannungsbeziehungen, die in ihren Extremen überhaupt erst den Punkt des ‚Dazwischen‘ zu erkennen geben. Auch Benjamin hatte, wie bereits gesehen, zu dieser ‚schöpferischen Indifferenz‘ betont, dass sie „niemals auf der goldenen Mittelstraße zu suchen“ (WB III, 138) sei, sondern immer nur als prekärer Punkt inmitten von „extrême milieu[s]“ (ebd.) verortbar ist. In diesem Sinne schreibt Benjamin auch über Gide:

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Kapitel 10 „Dies grundsätzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dieses Bekenntnis zu den Extremen, was ist es anders als die Dialektik, nicht als Methode eines Intellekts, sondern als Lebensatem und Passion dieses Mannes.“ (WB IV.1, 507f.)

Nicht als „Methode“, sondern als „Lebensatem“ wird das Bekenntnis zu den Extremen hier vorgestellt und betrifft damit nicht nur die Werke, sondern den Schreibenden selbst. Das „Bekenntnis zu den Extremen“, das Benjamin hier für Gide in Anschlag bringt, weist in seiner Dynamik deutliche Korrespondenzen zur weiter oben dargestellten Pendelbewegung zwischen „allure“ und „Haltung“ aus der „etymologischen Betrachtung“ auf. Auffällig ist dabei, dass mit der Rede vom „Lebensatem“ Goethes polare Formel von der „ewige[n] Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind“88, anklingt. Am Beispiel Gides, um dessen Versuche einer Übersetzung Goethes es auch in den Interviews ging (vgl. WB IV.1, 499), scheint Benjamin Goethes polare Wahrnehmungs- und Anschauungsweise auf eine Haltung inmitten der Extreme umzulegen, die durchaus mit seinen eigenen Versuchen der Vermessung einer politischen Schreibhaltung in ihrer Dynamik, Serialität, ihrem ‚Abschreiten der Extreme‘, aber auch in ihrem prekären Zustand und ihrer Brüchigkeit vor dem Hintergrund der Extreme der Zeit korrespondiert. Fünftens und abschließend ist hier noch kurz auf eine der letzten Reflexionen Benjamins über das Prekäre der eigenen Position einzugehen, die sich in einem der letzten Briefe Benjamins findet, den er 1940 an Adorno schreibt. Am 15.7.1939 berichtet Adorno in einem Brief an Benjamin, dass er „den Briefwechsel George-Hofmannsthal mit größtem Anteil“ gelesen habe und sich daher „eine größere Anzeige zu schreiben“89 vorgenommen habe. Daraus entsteht ein größerer Aufsatz, den Adorno Benjamin einige Monate später zukommen lässt. Dass Benjamin an dieser Arbeit in besonderer Weise interessiert ist, gibt er dann auch in seinem Antwortbrief zu erkennen, wenn er betont, dass der Aufsatz ein Gebiet betrifft, „in dem ich mich ganz zu Hause fühle“ (Br VI, 447). Und auch die Reaktion auf den Aufsatz ist deutlich: „[…] soweit mein Einblick reicht, ist es das Beste, was Sie jemals geschrieben haben.“ (Ebd.) Benjamin hebt insbesondere den „ungemein sicheren, schlagenden und überraschenden Aufriß der historischen Perspektive“ (ebd.) hervor und geht anschließend auf einige Details ein. Für die Frage nach Benjamins Reflexionen 88 89

Johann Wolfgang v. Goethe, Zur Farbenlehre, S. 239. Brief von Theodor W. Adorno an Walter Benjamin vom 15.7.39. In: Theodor W. Adorno/ Walter Benjamin. Briefwechsel 1928-1949, hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a. M. 1994, 408-11, hier: S. 409.

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über den Begriff der Haltung ist hier abschließend allerdings weder die Bedeutung Hofmannsthals bzw. Georges entscheidend noch Benjamins detaillierte Analyse von Adornos Text. Bemerkenswert ist an dieser Stelle hingegen, dass Benjamin nur einen Einwand etwas ausführlicher darlegt, auf den er als „einen wichtigen Punkt“ (ebd., 450) aufmerksam macht: „Es betrifft das, was Sie unter dem Stichwort ‚Haltung‘ abhandeln.“ (ebd.) Benjamin rekurriert hier auf eine Stelle, die sich gleich am Beginn von Adornos Aufsatz befindet. Adorno betont in dem Aufsatz zunächst die Sprödigkeit bzw. „Starre“90 des Briefwechsels zwischen George und Hofmannsthal, die sich aus unzähligen „[p]publikationsstrategische[n] und verlagspolitische[n] Details“91 einerseits und der „Armut an theoretischem Gehalt“92 andererseits ergebe. Das führt Adorno zu seinem ersten Kritikpunkt, dem „schweigsame[n] Verfahren“93 bei beiden Dichtern. Die Poesie, so Adorno, werde hier zwar als „Kontrast“ zur „technische[n] Entstellung“94 des Lebens proklamiert, basiere tatsächlich aber selbst auf einem technischen Verfahren. Das „Geheimnis“95 bzw. das esoterische Schweigen, das die Dichtungen Georges und Hofmannsthals ins Zentrum stellen, diene nicht der Bewahrung einer höheren Wahrheit, sondern allein einer strategischen Verblendung, um die kalkulierten technischen Verfahren zu verbergen: „Wenn aber die nackte Empfindung der Deutung durch den Dichter sich verweigert, unterjocht er sie, indem er die unberechenbare in den Dienst berechneter Wirkung stellt.“96 Das inszenierte sakrale Geheimnis der esoterischen Dichtung vor allem bei George existiere nicht, so schlussfolgert Adorno. Um aber dennoch, so Adorno weiter, den Anschein des Besitzes einer höheren Wahrheit des Lebens als solchem zu wahren, komme es in diesen Dichtungen einzig auf die offen zu Schau getragene Haltung an. Diese Kritik der Inszenierung eines ‚mystischen‘ Dichterbildes erweitert Adorno dann zu einer grundlegenden Kritik an den Redeweisen über Haltung in den 1920er und 1930er Jahren: „Ja, dem Begriff der Haltung selber ist nicht zu trauen. In der intelligiblen Welt spielt er eine ähnliche Rolle, wie in der profanen das Rauchen. Wer Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück: die Kälte, die sein Ausdruck vorstellt, macht einen guten Eindruck. Monaden, die durch ihr Interesse 90 91 92 93 94 95 96

Theodor  W.  Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel (1891-1906). In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10/1, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, S. 195-237, hier: S. 195. Ebd. Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Ebd. Ebd., S. 199. Ebd., S. 198.

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Kapitel 10 voneinander abgestoßen werden, ziehen durch die Geste des Uninteressierten noch am ehesten sich an. Die Not der Entfremdung wird in die Tugend der Selbstsetzung umgebogen. Darum sind im Lob der Haltung alle einig. Sie wird an einem Revolutionär so gern gerühmt wie an Max Weber, und in den ‚Nationalsozialistischen Monatsheften‘ präsentierten bereits die Jagdhunde sich knapp, gefaßt und entschlossen. Das Unrecht, das der überlegene Einzelne in der Konkurrenzgesellschaft allen anderen notwendig antut, schreibt er sich durch die Haltung als moralischen Profit gut. Nicht bloß die stramme, noch die edle Haltung ist stigmatisiert, und selbst jene Anmut, die nach Georges Ideenhierarchie als Schönheit des einfach gestalthaften Seins die oberste Stelle einnimmt. War Anmut einmal Ausdruck des Dankes am Menschen – des Dankes, den diesem die Götter abstatten, wenn er ohne Angst und ohne Hochmut in der Schöpfung sich zu bewegen vermag, als wäre sie es noch –, dann ist Anmut heute, entstellt, Ausdruck jenes Dankes am Menschen, den ihm die Gesellschaft abstattet, weil er als einstimmend Zugehöriger sicher zugleich und widerstandslos in ihr sich bewegt.“97

Benjamin betont, dass er Adornos „Vorbehalt“ gegenüber „Haltung die zur Schau getragene der Fülle ist (so wurde sie von George in der Tat verstanden)“ (Br VI, 451), nicht nur verstehe, sondern bedingungslos teile. Zugleich betont er aber auch „Vorbehalte“ gegenüber demjenigen, was Adorno „über die Haltung im engeren Sinn“ (ebd.) sage. Denn die Passage suggeriere, so Benjamin, dass Haltung immer „und in allen Fällen ‚zur Schau getragen‘ oder ‚eingenommen‘“ (ebd., 450f.) sei. Benjamin versucht gegenüber Adorno den Einsatz des Begriffs der Haltung zu retten, indem er ihm einen anderen Bedeutungshorizont ausfaltet. Das erinnert an den Versuch, den Begriffsumfang von Haltung durch das französische Wort „allure“ zu erweitern. Im Brief an Adorno führt Benjamin dafür zwei Argumente an, die offensichtlich anzeigen sollen, dass eine Verwendung des Begriffs der Haltung jenseits der von Adorno kritisierten verblendenden Inszenierung möglich sei. Zum einen rekurriert Benjamin dafür auf Adornos Anmerkungen zur Anmut und führt aus: „Ich will, was die Anmut betrifft, nur von den Kindern sprechen und tue es ohne darum ein Naturphänomen von der Gesellschaft, in der es auftritt emanzipieren, das heißt schlecht abstrakt behandeln zu wollen. Die Anmut der Kinder besteht und sie besteht vor allem als ein Korrektiv der Gesellschaft; sie ist eine der Anweisungen, die uns auf das ‚nicht disziplinierte Glück‘ gegeben sind.“ (Ebd., 451)

Wie genau die kindliche Anmut mit einem Begriff von Haltung korrespondiert, der nicht unter Adornos Kritik fallen soll, führt Benjamin nicht weiter aus. Denkbar wäre hier, dass Benjamin sich auf seine frühen Aufzeichnungen 97

Ebd., S. 200f.

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zur kindlichen Phantasie bezieht, die er auch für künstlerische Produktionsweisen diskutiert hat. (vgl. hierzu Kap.  8.2) Benjamin hatte dort gegen die klassifikatorische, objektivierende und vergegenständlichende bzw. ‚verdinglichende‘ Wahrnehmungsweise der Erwachsenen das kindliche Farbschauen als Freude an der „Veränderung der Farbe im beweglichen Übergang von Nüancen“ (WB VI, 110) beschrieben. Während der Erwachsene eine starre Ordnung der Dinge durch eine klare Trennung unterschiedlicher Gegenstandsformen zu installieren versuche, so Benjamin, erfreue sich das Kind anhand der Farben an einer unendlichen Dynamik von Formveränderungen in Raum und Zeit. Analog hierzu wäre zu vermuten, dass Benjamin hier ‚Haltung‘ als eine bewegliche Wahrnehmungs-, Denk- und Schreibweise anzudeuten versucht, die einer ähnlichen Dynamik folgt wie der kindlichen Anschauungsweise. Dabei deutet der Hinweis auf die ‚nicht-disziplinierte Anmut‘ darauf, dass es nicht um einen harmonischen Ausgleich geht, sondern um eine konstitutive Beweglichkeit der Haltung, die sich den starren Körperdisziplinierungen, die die diskursiven Redeweisen über Haltung bestimmen, immer wieder zu entziehen versucht. Deutlicher wird Benjamin dann in seinem zweiten Einwand gegen Adornos Identifizierung jeder möglichen Haltung mit der ‚zur Schau gestellten‘, denn Benjamin schreibt weiter: „Ich glaube nicht, daß es zu kühn ist, zu sagen, daß wir da auf Haltung stoßen, wo die essentielle Einsamkeit eines Menschen in unser Blickfeld rückt. Die Einsamkeit, die sehr wohl, weit entfernt der Ort seiner individuellen Fülle zu sein, der Ort seiner geschichtlich bedingten Leere, der persona als seines Mißgeschicks sein könnte […] Kurz: Haltung, wie ich sie verstehe, unterscheidet sich von der, die Sie denunzieren, so wie das Brandmal von der Tätowierung.“ (Br VI, 451)

Benjamins Rede vom „Mißgeschick[…]“ scheint hier auf Das bucklichte Männlein zu deuten, das überall, wo es auftaucht, Scherbenhaufen hinterlässt, wie Benjamin im abschließenden Stück der Einbahnstraße schreibt: „‚Ungeschickt läßt grüßen‘, sagte sie [die Mutter, K.D.] mir immer, wenn ich etwas zerbrochen hatte oder hingefallen war. Und nun verstehe ich, wovon sie sprach. Sie sprach vom bucklichten Männlein, welches mich angesehen hatte.“ (WB IV.1, 303) Dass dieses ‚bucklichte Männlein‘ Benjamin zeitlebens nicht aus dem Auge ließ, ihn vielmehr „ein Leben lang bis in den Tod begleiten sollte“98, hat Hannah Arendt in ihrem Benjamin-Porträt unter dem Titel Der Buckelige betont: „Benjamins Leben […] könnte man ohne Schwierigkeiten als eine Folge von solchen Scherbenhaufen erzählen, und es ist kaum eine Frage, daß 98

Hannah Arendt: Walter Benjamin, Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971, S. 7.

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Kapitel 10

er selbst es so gesehen hat.“99 Das „Brandmal“ scheint diese Deutung nochmals aufzugreifen und auf die existentiellen Bedrohungen des kritischen, unangepassten, nicht-zugehörigen Intellektuellen zu beziehen. Dass Benjamin zwei Wochen nach seinem Brief an Adorno auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dann in Portbou an die letzte „unüberschreitbare Grenze getrieben“100 worden ist, wie Brecht in seinem Gedicht Zum Freitod des Flüchtlings  W.B. schreibt, macht das „Brandmal“ zugleich zu einem immer aktuellen Mahnmal.

99 Ebd., S. 8. 100 Bertolt Brecht: Zum Freitod des Flüchtlings  W.B.  In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 15: Gedichte 5 (Gedichte und Gedichtfragmente 19401956), hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin/Frankfurt a. M./Weimar 1993, S. 48.

Schluss In einem Brief von Anfang Juni 1934 schreibt Benjamin an Gretel Karplus: „In der Ökonomie meines Daseins spielen in der Tat einige wenige gezählte Beziehungen eine Rolle, die es mir ermöglichen, einen, dem Pol meines ursprünglichen Seins entgegengesetzten zu behaupten. Diese Beziehungen haben immer den mehr oder weniger heftigen Protest der mir nächststehenden herausgefordert, so die zu B. [Brecht, K.D.] augenblicklich – und ungleich weniger vorsichtig gefaßt – den Gerhard Scholems. In solchem Falle kann ich wenig mehr tun, als das Vertrauen meiner Freunde dafür erbitten, daß diese Bindungen, deren Gefahren auf der Hand liegen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr, die im allgemeinen auch meinen Freunden nur in Gestalt jener ‚gefährlichen‘ Beziehungen augenfällig erscheint.“ (Br IV, 440f.)

In diesem Erklärungsversuch über die „Rolle“ der wenigen bedeutenden intel­ lek­tuellen Beziehungen kommen beide Denkfiguren zum Tragen, die in der vorliegenden Arbeit in unterschiedlichen Debattenkontexten für Benjamins Schreibverfahren und kritische Positionsbestimmung untersucht wurden: der Einsatz polarer Denkfiguren sowie die Reflexion der eigenen Position inmitten der Extreme. Dass polare Denkfiguren dabei auch bis in die Deutung des eigenen Lebensweges hineinragen können, mag vor dem Hintergrund sowohl der gesellschaftlichen Krisenerfahrungen als auch der diskursiven Konjunktur der Polarität in den 1920er und 1930er Jahren kaum verwundern. Benjamins ambivalente Anmerkung zu der „Gefahr“ des dynamischen ‚Nebeneinanders‘ der extremen „Pol[e]“ seines eigenen intellektuellen Koordinatensystems deutet jedoch zugleich auch auf das Problematische des Einsatzes polarer Denkfiguren. Die „Fruchtbarkeit“ solcher polaren Beschreibungen scheint keineswegs selbstevident. Das gilt gleichermaßen auch für die Untersuchung der diskursiven Redeweisen über Polarität und Polarisierung in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Im Kapitel  2.3 wurde daher betont, dass eine umstandslose methodische Übertragung dieser Redeweisen auf eine historische Untersuchung der Komplexität der intellektuellen Debatten der Zeit nicht gerecht wird. Aber auch als Deutungsinstrument für Benjamins Biographie ist die zitierte Briefstelle kaum „fruchtbar“ gewesen, schließlich dienten solche Selbstauslegungen in der frühen Rezeption häufig dazu, Dichotomien etwa zwischen Politik und Theologie aufzubauen und problematische

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Schluss

Werkeinteilungen vorzunehmen, die Benjamin in seinen eigenen Schreibprojekten permanent unterläuft. Die vorliegende Arbeit hat hier einen anderen Weg gewählt. Anhand von Benjamins intensiver Rezeption von Salomo Friedlaenders Hauptwerk Schöpferische Indifferenz wurde insbesondere für Benjamins Schreibprojekte im Spannungsfeld aus Ästhetik und Politik versucht, die konkreten darstellungsästhetischen Einsatzpunkte polarer Denkfiguren differenzierter in den Blick zu nehmen. Entlang der untersuchten intertextuellen Beziehungen konnten dabei in Benjamins Einsatz polarer Denkfiguren drei Aspekte unterschieden werden, die Benjamins ‚Denken und Schreiben in Extremen‘ zugrunde liegen: Erstens dienen diese polaren Denkfiguren bei ihm dazu, verschiedene Phänomene in ihrer Spannung zueinander in den Blick zu nehmen. Das gilt für die Gegenwart als Schauplatz konfliktgeladener Auseinandersetzungen, für das Verhältnis von Politik und Literatur sowie für das Verhältnis von Politik und Theologie. Diese polare Perspektive geht bei Benjamin und Friedlaender einher mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf die Grenze zwischen den Polen, mit der weder für ein beziehungsloses Nebeneinander noch eine Vermischung argumentiert wird, sondern für einen polardifferenziellen Bezug der beiden Seiten einer Unterscheidung. Zweitens versuchen Benjamin und Friedlaender gerade über die Herstellung solcher Spannungen ein Denken gradueller Intensitätsbeziehungen qua Gegenstrebigkeit zu entwickeln. Bei Benjamin resultiert diese Denkform aus seinen frühen sprachphilosophischen Überlegungen zum Verhältnis von ‚geistigem‘ und ‚sprachlichem‘ Wesen und aus den Überlegungen zur Übersetzung. In der Passage II sowie dem Hauptteil B konnte gezeigt werden, wie Benjamin dieses polare Intensitätsdenken auch für das Spannungsverhältnis einerseits von Politik und Schreiben und andererseits für das Verhältnis von profaner Ordnung und messianischer Hoffnung einsetzt. Anders als eine Dialektik, der es erstens um die Negation als Motor dialektischer Bewegungen und zweitens um das Moment synthetischer Aufhebung in einem Dritten geht, steht damit im Zentrum von Benjamins dialektischem Denk- und Schreibverfahren die Intensivierung gegenstrebiger Spannungsbeziehungen. Das auf den ersten Blick enigmatische Bild von den gegenläufigen Pfeilrichtungen, das im Zentrum von Benjamins frühem sogenannten Theologisch-politischen Fragment steht, wurde so als spezifische Aktualisierung historischer Ausformungen polarer Denkfiguren lesbar. Drittens resultiert aus diesem Denken in polaren Spannungsbeziehungen immer wieder eine besondere Aufmerksamkeit auf die latente Mitte zwischen den Polen, die das messianische ‚Unverfügbare‘, den politischen ‚Gehalt‘ des Schreibens, aber auch die eigenen Schreibpositionen inmitten der Extreme betrifft. Diese Mitte changiert permanent zwischen den Polen, bleibt schwebend und wird

Schluss

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bei Benjamin durch prekäre Vorgänge wie das ‚Zeugen‘, ‚Anzeigen‘ oder ‚Hindeuten‘ markiert. Dass Benjamin diesen Grenzbereich zwischen den Polen immer wieder in das Zentrum seiner Schreibversuche stellt, konnte zum einen an den in der Benjamin-Forschung bereits intensiv untersuchten Begriffen des „Gedichtete[n]“ (WB II.1, 105) aus dem frühen Hölderlin-Aufsatz und an dem „Ausdruckslose[n]“ (WB I.1, 181) aus Goethes Wahlverwandtschaften beschrieben werden. Im Fokus standen aber vor allem drei ‚Figuren der latenten Mitte‘, die in der Benjamin-Forschung bisher kaum untersucht wurden und insbesondere mit Benjamins Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Literatur zusammenhängen: Die im frühen programmatischen Brief an Martin Buber beschriebene „Sphäre des Wortlosen“ (Br I, 326), die medial konzipierte „Methode Nihilismus“ (WB II.1, 204) im Theologisch-politischen Fragment und der ebenfalls medial angelegte ‚Humor‘ in seinen Texten zu Paul Scheerbarts Asteroiden-Roman Lesabéndio. Diese drei Elemente (Grenze – Intensität – latente Mitte), so hat die Arbeit gezeigt, bestimmen Benjamins Rezeption von Salomo Friedlaenders Schöpferische Indifferenz. Hier ließen sich zukünftige Forschungsarbeiten anschließen, indem die methodischen Konsequenzen der drei Elemente etwa für das nach wie vor kontrovers diskutierte, hier aber nur am Rande verhandelte dialektische Bild bzw. die „Dialektik im Stillstand“ untersucht werden. In der vorliegenden Arbeit wurden hierzu zunächst die nicht allein werkintern zu fassenden Entwicklungen und historischen Traditionen dieser auch für Benjamins spätes dialektisches Denken und Schreiben zentralen Elemente bis in die frühen Arbeiten hinein verfolgt. Entgegen der bisherigen Stellung Friedlaenders in der Benjamins-Forschung, die sich auf den Status eines ‚Stichwortgebers‘ reduzierte, wurden dafür anhand der Darstellung der konkreten intellektuellen Kommunikationsräume und politischen sowie ästhetischen Debatten sowohl manifeste ‚Einflüsse‘ als auch auffällige methodische, argumentative und darstellungspraktische Verwandtschaftsbeziehungen dargestellt. Eine besonders intensive Rezeption konnte dabei anhand von Benjamins frühen politischen Überlegungen zu Beginn der 1920er Jahre dargelegt werden (vgl. Hauptteil B). Aber auch später kommt Benjamin, etwa in seinen Versuchen einer kritischen Bestimmung der Rolle des Intellektuellen in der Weimarer Republik, auf die Schöpferische Indifferenz zurück. Außerdem konnte gezeigt werden, wie Benjamin noch in den späten geschichtsphilosophischen und politischen Aufzeichnungen zum ‚PassagenWerk‘ Überlegungen aus seinen frühen Arbeiten zum Politischen aktualisiert. Ein erkenntniskritisches Interesse, das Benjamin und Friedlaender zudem miteinander teilen, liegt in dem Versuch, verschiedene Denktraditionen des Polaren auf ihren kritisch auszumessenden Aktualitätswert zu befragen (vgl.

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Schluss

Kap.  3 und 4). Beide nutzen für dieses Verhältnis selbst wiederum polare Denkfiguren und sind damit, so hat der Hauptteil A gezeigt, im Rahmen einer problemgeschichtlich zu perspektivierenden Geschichte polarer Denkfiguren einzuordnen. Anhand von Benjamins Rezension einer Neuausgabe von Goethes Farbenlehre konnte gezeigt werden, wie die Aktualisierung polarer Denkfiguren bei Benjamin und Friedlaender mit einem zeitdiagnostischen und -kritischen Erkenntnisinteresse einhergeht. Insgesamt ist die Rezeption Friedlaenders damit auch ein Beispiel für Benjamins intertextuell angelegten Denk- und Schreibverfahren, die sich selbst immer wieder in ihren kleinteiligen Debatten- und Diskussionszusammenhängen verorten. In diesem Sinne scheint Benjamins intellektuelles Koordinatensystem sowie die verschiedenen Fäden intellektueller Beziehungen dann auch kleinteiliger und unübersichtlicher, als die Rede von den Polaritäten suggeriert, mit der Benjamin selbst seinen Lebensweg im oben zitierten Brief an Gretel Karplus deutet. ‚Fruchtbarer‘ als die Deutung der intellektuellen Beziehungen mit Hilfe der Polarität scheint der Versuch einer biographischen Selbstauslegung, den Benjamin in der Berliner Chronik erprobt. Dort berichtet Benjamin von einer plötzlichen „Erleuchtung“ (WB VI, 490), die er in Paris erfahren habe, und zwar hinsichtlich seiner „biographischen Beziehungen zu Menschen“ (ebd.). Benjamin analogisiert dort diese Beziehungen mit den „Schauplätze[n]“ (ebd., 491) der Stadt. Dieser topographischen Lesart korrespondiert dann die zwingende Einsicht in die Art der Darstellung dieser Beziehungen: „Da kam mit einem Male und mit zwingender Gewalt der Gedanke über mich, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen und ich wußte im gleichen Augenblick auch schon genau wie das zu tun sei. Es war eine ganz einfache Frage, mit der ich meine Vergangenheit durchforschte und die Antworten zeichneten sich wie von selber auf ein Blatt, das ich hervorzog. Ein oder zwei Jahre später als ich dieses Blatt verlor, war ich untröstlich. Nie wieder habe ich es so herstellen können, wie es damals vor mir entstand einer Reihe von Stammbäumen ähnlich.“ (ebd.)

Auch wenn das erste Schema, das sich offensichtlich in einem einmaligen, epiphanen Augenblick eingestellt hatte, von Benjamin nicht rekonstruiert werden konnte, gibt es in seinem Nachlass immerhin eine andere Version dieser „Reihe von Stammbäumen“ (vgl. ebd., 804). Kleinteilig zeichnet Benjamin dort in Anlehnung an genealogische Stammbäume Wege und Pfade. Inwiefern diese genealogische Skizze zugleich auch einen Teil des intellektuellen Koordinatensystems darstellt, bleibt auf der Grundlage der überlieferten Skizze fraglich. Benjamin relativiert diese Zeichnung ohnehin im weiteren Verlauf des Textes und ersetzt die Reihe nochmals durch ein komplizierteres Darstellungsmodell:

Schluss

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„Jetzt aber, da ich in Gedanken seinen Aufriß wiederherstellen möchte ohne ihn geradezu wiederzugeben, möchte ich lieber von einem Labyrinth sprechen. Was in der Kammer seiner rätselhaften Mitte haust, Ich oder Schicksal, soll mich hier nicht kümmern, umso mehr aber die vielen Eingänge, die ins Innere führen. Diese Eingänge nenne ich Urbekanntschaften; ihrer jeder ist graphisches Symbol meiner Bekanntschaft mit einem Menschen, den ich nicht durch andere Menschen sondern sei es durch Nachbarschaftsverhältnisse, Verwandtschaft, Schulkameradschaft, Verwechslung, Reisegenossenschaft – es gibt nicht allzu viele solcher Situationen – begegnet war. Soviel Urbekanntschaften, soviele verschiedene Eingänge ins Labyrinth.“ (ebd)

Ob Friedlaender zu jenen „Urbekanntschaften“ gehört, ist sicherlich fraglich. Betrachtet man jedoch nochmals das erste Schema, lassen sich bereits dort mehrere Eingänge ausmachen, die eine Beziehung zu Friedlaender in Benjamins Denkgeografie zulassen. Dort sind beispielsweise Gershom Scholem, Erich Unger und Ernst Bloch an verschiedenen Stellen mit jeweils eigenen Abzweigungen und Querverweisen verzeichnet. An allen drei Stellen besteht die Möglichkeit, einen Pfad zu Friedlaender zu ziehen. Oder wie es bei Benjamin selbst heißt: „Da nun aber die meisten jener Urbekanntschaften – zumindest die, welche uns im Gedächtnis bleiben, ihrerseits neue Bekanntschaften erschließen, Beziehungen zu neuen Menschen eröffnen, so zweigen von diesen Gängen nach geraumer Zeit seitliche ab (rechts mag man die männlichen einzeichnen, links die weiblichen).“ (ebd.)

Abgesehen von der rätselhaften, problematischen geschlechtsspezifischen Unterscheidung, sind diese Aufzeichnungen aus methodischer Perspektive bemerkenswert, weil darin immer auch die Möglichkeit einer topographischen Erforschung von Benjamins intellektuellen Beziehungen gegeben ist. Die Arbeit hat an mehreren Stellen etwa in Bezug auf Erich Unger, André Gide oder Julien Benda angedeutet, dass hier, neben der Rezeption Friedlaenders, noch weitere konkrete Debattenkonstellationen und damit „Eingänge“ in Benjamins disparates Werk zu untersuchen sind. Insbesondere anhand der Kritiken und Rezensionen, der kleinteiligen Diskussionszusammenhänge und Debattenkonstellationen sowie der intellektuellen Beziehungen, die von den Gängen abgehen, die Benjamin hier zeichnet, gibt es demnach noch mannigfaltige intertextuelle Untersuchungsfelder. Hier ergeben sich zahlreiche weitere Anknüpfungspunkte, bei denen es sich auch zukünftig lohnt, einzuhalten und weiterzugehen.

Danksagung Ganz am Anfang meiner Arbeit an der vorliegenden Dissertationsschrift stand die Frage, was es mit Walter Benjamins an abgelegener Stelle notierten Überlegungen über den Begriff der ‚Haltung‘ auf sich hat, den er im Spannungsfeld aus Bewegung und Unterbrechung ansiedelt. Während ich auf die Zeit der allmählichen Verfertigung der Arbeit zurückblicke, scheint es mir beinahe konsequent, dass der Ausgangspunkt bei einem Text lag, der ausgerechnet in einem Reisetagebuch zu finden ist. Denn eine Reise war die Fertigstellung dieser Arbeit allemal, mit intellektuellen Abenteuern, unvermuteten Spuren und Pfaden, notwendigen Umwegen, aber auch Einbahnstraßen und Sackgassen, die es abzuschreiten galt. Auf diesem Weg haben mich einige Menschen begleitet, denen ich hier meinen herzlichen Dank aussprechen möchte: Zunächst danke ich Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer und Prof. Dr. Cornelia Zumbusch (Universität Hamburg), die mich nicht nur großzügig und in allen Belangen unterstützt und den notwendigen Freiraum für die Suche des eignen Weges gegeben haben, sondern auch in entscheidenden Momenten zur Fertigstellung gemahnt haben. Dass ich beiden vor allem in wissenschaftlicher Hinsicht viel zu verdanken habe, geht hoffentlich aus der Arbeit selbst hervor. Weiterhin möchte ich den Mitgliedern des Forschungskolloquiums ‚Ästhetik und Poetik‘ an der Universität Hamburg (Schäfer/Zumbusch) für die produktiven Diskussionen und die konstruktiven Vorschläge zur Konzeption meiner Arbeit danken. Sophie König danke ich für die immer spannenden Gespräche sowie die wichtigen Ratschläge. Hiltrud und Wolfgang Buhr danke ich für die vielfältige Unterstützung, die erheblich zur Fertigstellung dieser Arbeit beigetragen hat. Meinen Eltern Jürgen und Beate Drews danke ich für den finanziellen Zuschuss zur Publikation sowie für das stets bedingungslose Vertrauen und die Zuversicht in meinen Weg, der schon mit dem Gang an die Universität keineswegs selbstverständlich war. Noch immer promoviert von 100 Nichtakademikerkindern nur eins.1 Das ist kein Grund, sich selbst privilegiert zu fühlen, sondern gemahnt, strukturelle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im deutschen Bildungssystem vor allem in den frühen Bildungsjahren anzuklagen. Daniel Lucas danke ich dafür, dass er in letzter Minute einen Teil des Korrektorats übernommen hat. Besonders danke ich meinen besten Freunden David Chtioui,

1 https://www.sueddeutsche.de/kolumne/studium-promotion-doktorarbeit-beratung1.5282844 (zuletzt abgerufen am 25.07.2022)

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Danksagung

Pierre Cournoyer, Beatus Ille und Julian Schulz, ohne die alles nur halb so viel Spaß gemacht hätte. Allen voran möchte ich meiner Frau Lorina Buhr von Herzen danken, ohne die angemessenen Worte dafür zu finden, was ich ihr alles verdanke. Ihr ist das Buch gewidmet, das ohne sie nie entstanden wäre.

Siglenverzeichnis Nachfolgend werden die Titel aufgelistet, die im Fließtext in Klammern zitiert werden. Da die Schriften Walter Benjamins und Salomo Friedlaenders größtenteils nach Ausgaben zitiert werden, die beide den Titel ‚Gesammelte Schriften‘ tragen, wird statt der in der Benjamin-Forschung üblichen Sigle GS die Sigle WB für Benjamins Texte genutzt. Für Friedlaenders Texte wird analog die Sigle F/M genutzt. Br Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. I-VI, hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz. Frankfurt a. M. 1995-2000. F/M Salomo Friedlaender/Mynona: Gesammelte Schriften, hg. v. Hartmut Geerken/ Detlef Thiel. In Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier. Herrsching 2005ff. [Books on Demand]. In der vorliegenden Arbeit wurden folgende Bände zitiert: - F/M 2 = Philosophische Abhandlungen und Kritiken I (2006) - F/M 3 = Philosophische Abhandlungen und Kritiken II (2006) - F/M 5 = Logik. Die Lehre vom Denken / Psychologie. Die Lehre von der Seele (2007) - F/M 6 = Kant und die sieben Narren. Ein Philosophiegeschichtchen u.a. (2007) - F/M 7 = Grotesken I (2008) - F/M 9 = Friedrich Nietzsche. Eine intellektuale Biographie (2009) - F/M 10 = Schöpferische Indifferenz (2009) - F/M 11 = Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? / Der Holzweg zurück (2010) - F/M 12 = Julius Robert Mayer (2010) - F/M 18 = Autobiographische Schriften/Anekdoten (2017) - F/M 22 = Ich-Heliozentrum. Philosophischen Abhandlungen 1940-45 (2017) - F/M 24 = Briefwechsel I. 1878 – April 1919 (2018) - F/M 26 = Briefwechsel III. Mail 1931 – Dezember 1934 (2019) - F/M 27 = Briefwechsel IV. Dezember 1934 – Oktober 1935 (2019) - F/M 28 = Briefwechsel V. Oktober 1935 – Juli 1936 (2019) - F/M 29 = Briefwechsel VI. Juli 1936 – November 1937 (2019) - F/M 30 = Briefwechsel VII. Dezember 1937 – Oktober 1938 (2020) WB Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. 7 Bände, hg. v. Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972-1999.

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Siglenverzeichnis

WuN Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz. Frankfurt a.M/Berlin 2008ff. In der vorliegenden Arbeit wurden folgende Bände zitiert: - WuN 3 = Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (hg. v. Uwe Steiner 2008) - WuN 8 = Einbahnstraße (hg. v. Detlev Schöttler, u. M. v. Steffen Haug 2009) - WuN 13 (2 Bd.) = Kritiken und Rezensionen (hg. v. Heinrich Kaulen 2011) - WuN 16 = Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (hg. v. Burkhardt Lindner, u. M. v. Simon Broll/Jessica Nitsche 2012

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Register Adorno, Theodor W. XV, XVIII, XXIII, XXVI, XXXIV, 20, 22, 60, 219, 249, 262, 299, 302, 314f., 317, 357, 361, 396f., 406, 449, 508, 519, 526f., 562-566 Agamben, Giorgio XXXV, 48, 301f., 335, 375 Anaximander 138 Aragon, Louis 519 Archimedes 120 Arendt, Hannah 565 Aristoteles 23, 331, 335, 349, 554 Ball, Hugo 271, 299, 313, 518 Balzac, Honoré de 27 Barthes, Roland 521, 525 Baudelaire, Charles XII, 14, 18, 34, 183f., 192f., 303, 496, 548 Benda, Julien 483, 543, 571 Bense, Max 205 Bergmann, Hugo 274 Bertram, Ernst 19 Bloch, Ernst XVIII, XXIII, XLVIII, 20, 240, 271, 273, 287, 299-509 (passim), 515, 518, 571 Blumenthal, Herbert 235 Böhme, Jacob 341 Boltzmann, Ludwig 113 Boucke, Ewald A. 200-204, 220 Brecht, Bertolt XII, XV, XVIII, XLVI, 5, 7-9, 11, 14, 33, 165, 229f., 251, 271, 308, 314, 317, 411, 431, 500, 502, 518, 521f., 526, 529, 535, 538, 546-560, 565, 566 Brentano, Bernard von 3-8, 10, 18-20, 27, 523, 538 Breton, André 379f. Brieger-Wasservogel, Lothar 110 Broch, Hermann 53 Brod, Max 148, 535 Buber, Martin XXXI, XLVII, 235f., 239-248, 265, 268, 273-296, 311, 340, 358, 475f., 531, 569 Büchner, Ludwig 123 Campenella, Tommaso 124-126, 134 Carnot, Nicolas Léonard Sadi 115 Carus, Carl Gustav 88

Cassirer, Ernst XLV, 61, 205 Cervantes, Miguel de 436f. Clausius, Rudolf 112, 115 Cohen, Hermann 100f., 155 Creuzer, Friedrich 293 Deleuze, Gilles 531 Derrida, Jacques 48, 301f. Descartes, René 87 Diederich, Eugen XLVI, 157, 186 Dietzgen, Josef 394f., 517 Dilthey, Wilhelm 86, 177, 182, 184, 241, 442 Döblin, Alfred 518 Dühring, Eugen 118 Elias, Norbert 555 Ermatinger, Emil 30 Ernst, Paul 441-443 Fichte, Johann Gottlieb XXXVII, 495 Flaubert, Gustave 27 Fleck, Ludwik 47, 92 Fontane, Theodor 13, 27, 35 Foucault, Michel XIII, 63, 65, 79, 113, 115, 555 Fourier, Charles 310, 369, 373, 389, 390-395, 398, 403, 410-414, 417, 419-423, 477f., 517 Fränkel, Jonas 30 Freud, Sigmund 90, 183f., 412-414, 502 Fuchs, Eduard 20, 394f., 405, 520 Gehlen, Arnold 526 George, Stefan XII, XLI, 163, 238, 500, 515, 562-564 Gide, André 4f., 300, 560-562, 571 Glück, Gustav 414 Gmelin, Otto 527 Goethe, Johann Wolfgang XX, XXVII, XXVIII, XXIX, XLI, XLV, XLVI, XLIX, 5, 49, 58f., 78, 81, 93, 100, 102, 108f., 116f., 119-123, 127f., 133, 135, 153, 155-231 (passim), 271f., 334, 371, 378, 390, 401, 451, 460, 465-470, 487, 489f., 498, 504f., 514, 537, 542, 560, 562, 569f. Goldberg, Oskar 322 Goldstein, Moritz 235

606 Gotthelf, Jeremias 31-33 Green, Julien 3 Grün, Karl 419-421 Guattari, Félix 531 Gundolf, Friedrich 19, 163, 212, 230, 272 Gutzkow, Karl 163 Habermas, Jürgen 228, 518, 545 Hamann, Johann Georg 277 Hauptmann, Gerhart 27, 257 Hebel, Johann Peter XII, 33, 542 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XXVII, XXXI, 20, 23f., 75, 260, 269, 316, 349, 397f., 401, 406, 419-421, 448, 503, 509 Heidegger, Martin XVIII, 26, 36, 99, 142, 397, 526f. Heinle, Fritz 238, 273, 364, 470, 472, 498, 500 Heisenberg, Werner 137 Helmholtz, Hermann von 113 Hemingway, Ernest 523, 525 Heraklit XXXIV, XXXV, XLV, 22-24, 51, 59, 62, 84, 106, 135, 137-147, 152, 199, 203, 338f., 342f. Hiller, Kurt XIII, XX, XLVII, 236f., 247, 248-273 (passim), 274, 288, 306, 319, 323f., 476, 518 Hirsch, Julian 16 Hobsbawm, Eric XI, 82 Hofmannsthal, Hugo von 18, 53, 293f., 560, 562f. Hölderlin, Friedrich XII, XLI, 24-26, 349, 371, 390, 432, 467f., 471, 484, 493-505, 513, 537, 569 Holz, Arno 27 Holz, Hans Heinz 23, 486 Horkheimer, Max 399 Huch, Ricarda XLVI, 81, 86-93, 103 Humboldt, Alexander von 277 Husserl, Edmund 155, 543 Iser, Wolfgang 439 Jacobi, Friedrich Heinrich 149 Jaspers, Karl 98f., 526 Jünger, Ernst 528f. Kafka, Franz XII, 531, 553 Kandinsky, Wassily 162, 165

Register Kant, Immanuel XX, XXIII, XXVII, XXVIII, XXXVII, XL, XLV, 34, 49, 57-59, 62, 68-72, 100-102, 120, 123, 129-133, 135, 147, 149-152, 155f., 168f., 199, 205, 218, 225, 264, 279, 313, 318, 328, 330, 336, 343, 349-357, 461-464, 488, 500, 506 Karplus, Gretel 542, 568, 570 Kästner, Erich 15 Keller, Gottfried XII, 7, 27-36, 38 Kerr, Alfred 268 Kierkegaard, Søren 328 Kittler, Friedrich XX Klages, Ludwig 184, 468 Klee, Paul 229, 308, 411, 415f., 431 Kleist, Heinrich von 524 Kommerell, Max 163, 459f. Koselleck, Reinhart 64, 227f. Kracauer, Siegfried 10-13, 249, 450, 514-517, 519 Kraus, Karl XII, 268, 415f., 422, 431, 460 Kubin, Alfred XXVII, 148, 308 Kuhn, Thomas S. 119 Kurella, Alfred 8, 10 Lacis, Asja 40, 371 Lambert, Johann Heinrich 339 Landauer, Gustav 319 Leibniz, Gottfried Wilhelm 23, 57 Lejeune, Philippe 223 Lewy, Ernst 201 Lichtenberg, Georg Christoph 67, 377, 478, 494 Liebmann, Otto 100 Linné, Carl von 65 Lloyd, G.E.R. 63, 141 Loos, Adolf 229, 308, 411, 415f., 431 Lovejoy, Arthur O. 66 Lublinski, Samuel 103-107, 111, 125 Lukács, Georg XXXI, XLI, 86, 393, 404-408, 410, 419, 421-423, 437f., 441-445, 453, 514, 523 Mann, Heinrich 236, 265, 268, 270-272, 518 Mannheim, Karl XXXIV, 86f., 92, 450, 504, 518 Marcus, Ernst 100f., 133 Marx, Karl XVIII, XXXI, 20, 23, 34, 260f., 319, 404-406, 412, 419-421, 423, 502 Maupassant, Guy de 27

607

Register Mayer, Julius Robert XXIII, 25, 62, 102, 107, 108-136 (passim), 148f., 176, 193, 200, 204, 430 Mehring, Franz 34-36 Mendelssohn, Anja XLII, 468 Mendelssohn, Georg XLII, 468 Mendelssohn, Moses 149 Mesmer, Franz Anton 81, 87-89, 92, 108 Musil, Robert 307 Newton, Isaac 57f., 62, 68, 109, 117, 121-123, 129, 131, 167, 174-178, 191, 193f., 197f., 200f., 220, 226, 392 Nietzsche, Friedrich XIX, XXII, XXXV, XXXIX, XLV, 25, 49, 56, 59, 84, 90f., 100, 102, 104, 107f., 133, 135f., 137-153, 155, 180, 195-197, 199, 208, 220, 243f., 252-257, 269, 319, 322-324, 329, 335, 372, 428, 432, 458, 463, 468, 514, 547, 560 Noeggerath, Felix 500 Novalis (Friedrich von Hardenberg) XLVI, 51f., 61, 76-80, 540 Oken, Lorenz 88, 173 Pannwitz, Rudolf 110 Parmenides 23 Paul, Jean 26, 107, 208, 377, 459f., 478 Pfemfert, Franz XIII, 246f., 251 Pinthus, Kurt 251f. Platon 23, 139, 142, 196f., 263, 349, 362 Plechanow, Georgi Walentinowitsch 8, 10, 420 Plessner, Helmuth 526 Poe, Edgar Allan 133 Polgar, Alfred 483-485 Preisendanz, Wolfgang 439, 503 Proust, Marcel XII, 183, 192, 231, 325, 418 Rancière, Jacques XV Rang, Florens Christian 29, 334 Reich, Bernhard 278, 371, 530 Remarque, Erich Maria 16 Rheiner, Walter XL, XLI Rickert, Heinrich 101, 155 Ringelnatz, Joachim 431 Ritter, Johann Wilhelm 88

Rothacker, Erich 526 Rubiner, Ludwig 270 Rychner, Max XLIV, 3-44 (passim), 538 Salomon, Ernst von 528 Salomon, Samuel XXVI, 59, 128 Scheerbart, Paul XII, XIX, XLVIII, 29, 229f., 300f., 303, 306-311, 324f., 365, 367-509 (passim), 569 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 51, 57f., 65, 67, 71-74, 88, 126, 132f. Schiller, Friedrich XXVII, XXVIII, 213 Schklowski, Viktor 483 Schlaf, Johannes 27, 107 Schlegel, August Wilhelm 542 Schlegel, Friedrich XXXVIII, 304, 460, 496f., 540 Schleiermacher, Friedrich 555 Schmitt, Carl XVIII, 99f., 526 Schoen, Ernst 300, 318, 320, 490, 504f. Scholem, Gershom passim Schopenhauer, Arthur XL, 59, 100, 107, 123, 128-134, 149, 152, 199f., 222 Schweigger, Johann Salomo Christoph 168 Seligson, Carla 238, 280, 470 Serres, Michel 115 Simmel, Georg XI, XIII, 155f., 188, 200, 207-220, 442, 514, 535, 555 Simmel, Gertrud 208 Sorel, Georges XVIII Spengler, Oswald 84, 114 Spinoza, Baruch de 58 Steiner, Rudolf 93, 167, 169, 178f., 181f., 185, 187f., 515 Stifter, Adalbert XII, 26 Strauss, Ludwig 235f., 239f., 242f., 246, 264, 285, 288 Thales von Milet 138 Thukydides 196f., 220 Tönnies, Ferdinand 83, 515 Tretjakow, Sergej 559 Tuchler, Kurt 235f. Unger, Erich XIX, XXXIII, 249, 325f., 571 Verne, Jules 418

608 Vorwerk, Herbert 359 Wagner, Richard 149 Warburg, Aby XXXIX, 58f., 91, 210 Weber, Alfred 518 Weber, Max 97, 120, 515, 518, 564 Wedekind, Frank 270

Register Werfel, Franz 263f. Winckelmann, Johann Joachim 213 Wohlbold, Hans XLVI, 157-231 (passim), 505 Worringer, Wilhelm 84 Wyneken, Gustav XLVII, 237, 241, 274 Zola, Émile 27, 271