Klang als Geschichtsmedium: Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung 9783839444986

Which part do sounds play in the culture of remembering? How do we perceive them? And what forms of historical knowledge

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German Pages 282 Year 2018

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Klang als Geschichtsmedium: Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung
 9783839444986

Table of contents :
Inhalt
Klang als Geschichtsmedium
Klang und Geschichtstheorie
Geschichte – erzeugt, nicht gegeben
Klang und Wandel: Ein philosophischer Exkurs
Wenn Geschichte klingt
Geschichten des Hörens
Klang und Ton als Thema und Gegenstand einer Erfahrungsgeschichte
»Das Ohr vertieft sich«
Klangliche Repräsentationen von Geschichte
Mythos Pergolesi
Klangliche Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ in ausgewählten Hörfunkreportagen, Fernsehdokumentationen und fiktionalen Filmen
Auditive Wissensformen und Geschichte
Virtuelle historische Klangumgebungen als Werkzeug der Musikwissenschaft
Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie
Autorinnen und Autoren

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Anna Langenbruch (Hg.) Klang als Geschichtsmedium

Musikgeschichte auf der Bühne  | Band 1

Editorial Die Reihe Musikgeschichte auf der Bühne fragt nach der öffentlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte, insbesondere mit Musikgeschichte. Ausgangspunkt dafür ist das Musiktheater: Historische Musiker*innen, Musikpraktiken oder Artefakte sind seit Jahrhunderten Thema musikalischer Bühnenereignisse. Entsprechend verknüpfen Opern, Operetten oder Musicals über W.A. Mozart, Edith Piaf, Stradivaris Geige oder Riemanns Musiklexikon Musik, Theater und Geschichtserzählung. Ausgehend von den Arbeiten der gleichnamigen Emmy Noether-Nachwuchsgruppe untersucht die Reihe Musikgeschichte auf der Bühne, wie (Musik-)Geschichte gestaltet und erlebt wird. Wie kann Klang zum Geschichtsmedium werden? Auf welche Weise interagieren wissenschaftliche und populäre Musikgeschichtsschreibung? Wie funktioniert musikgeschichtliche Wissensproduktion im Theater? Die Beiträge der Reihe versammeln Forschungsansätze der Musikwissenschaften, der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, der Public History, der Theaterwissenschaften und der Sound Studies. Sie untersuchen Musikgeschichte als soziokulturellen Aushandlungsprozess, in dem Klang und Wahrnehmung, Spiel und Sprache, Theorie und Praxis interagieren. Musikgeschichte auf der Bühne wird damit zum Ausgangspunkt für Forschungen zu Musik und Wissensgeschichte. Die Reihe wird herausgegeben von Anna Langenbruch.

Anna Langenbruch (Hg.)

Klang als Geschichtsmedium Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung

Publiziert mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Emmy Noether-Programm).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: eyelab / photocase.de Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4498-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4498-6 https://doi.org/10.14361/9783839444986 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Klang als Geschichtsmedium Einleitung Anna Langenbruch | 7

K l ang und G eschichtstheorie Geschichte – erzeugt, nicht gegeben Wie viel Historisierung können Klänge leisten? Daniel Fulda | 21

Klang und Wandel: Ein philosophischer Exkurs Erste Schritte zu einer Historiographie des Klangs Angela Grünberg | 41

Wenn Geschichte klingt Musikgeschichte auf der Bühne als geschichtstheoretischer Impuls Anna Langenbruch | 73

G eschichten des H örens Klang und Ton als Thema und Gegenstand einer Erfahrungsgeschichte Eine Problemskizze Michael Werner | 101

»Das Ohr vertieft sich« Veränderungen, Verstörungen und Erweiterungen des Hörens im Krieg Martin Kaltenecker  | 121

K l angliche R epräsentationen von  G eschichte Mythos Pergolesi Der Komponist als Opernheld Arnold Jacobshagen | 159

Klangliche Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ in ausgewählten Hörfunkreportagen, Fernsehdokumentationen und fiktionalen Filmen Susanne Binas-Preisendörfer  | 183

A uditive W issensformen und  G eschichte Virtuelle historische Klangumgebungen als Werkzeug der Musikwissenschaft Methodologische Überlegungen Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi | 221

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie Alexander Rehding | 245

Autorinnen und Autoren  | 275

Klang als Geschichtsmedium Einleitung Anna Langenbruch

Geschichte, meint man, wird geschrieben und gelesen. Aber ist Ge­ schichtsschreibung, ein »Gattungsbegriff für schriftliche Texte, die Ver­ gangenes mit Tatsächlichkeitsanspruch dar­stellen«,1 für die Darstellung und Vermittlung von Geschichte nach gut hundert Jahren Präsenz audio­ visueller Medien, nach Etablierung der vielfältigen intermedia­len Mög­ lichkeiten des Internets noch der einzig angemessene Begriff? Und war er, verstanden als Reduktion der Auseinandersetzung mit Geschichte al­ lein auf die Sprache, jemals wirklich zutreffend? Anknüpfend an Überlegungen der Geschichtstheorie und Historio­ graphiegeschichte, der Musikwissenschaften und der Sound Studies denken die Beiträge des vorliegenden Bandes über Möglichkeiten und Grenzen von Klang als Geschichtsmedium nach, fragen also nach einem Bestandteil von Historiographie jenseits der Sprache: Welche Rolle spie­ len Klänge in Darstellungen der Vergangenheit? Wie nehmen wir sie wahr? Und was für eine Art historisches Wissen generieren sie? Der Band zielt demnach weniger auf eine Neubewertung des auditiven Ausschnitts vergangener Wirklichkeiten, als auf einen Perspektivwechsel in der Geschichtsschreibung und der Wissens­geschichte: Im Zentrum steht die Frage danach, wie Klänge geschichtskonstruie­rend wirken, wie Menschen sie wahrnehmen, benutzen, inszenieren, deuten, erinnern und zu historischen Wissenskonzepten verknüpfen. Musikgeschichts­ schreibung als Geschichte einer Klangkunst dient als ein möglicher Kris­ 1 | So die Definition in: Daniel Fulda: Art. »Historiographie«, in: Lexikon der Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 152-155, hier S. 152.

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tallisationspunkt, der die interdisziplinäre Diskussion in einem beson­ ders prägnanten Beispiel bündelt. Überlegungen zu den narratologischen und sprachphilosophischen Dimensionen von Geschichtsschreibung sind seit den 1970er Jahren in­ tegraler Bestandteil von Geschichtstheorie und Historiographiegeschich­ te,2 vielfach infolge der und in Auseinandersetzung mit den Schriften Hayden Whites.3 Whites These, dass »unser Verständnis von der Vergan­ genheit nicht nur dadurch bestimmt wird, wie die Vergangenheit war, sondern auch durch die vom Historiker verwendete Sprache, mit der er darüber spricht«,4 löste eine wahre Flut von Debatten über das Wechsel­ verhältnis von (meist Schrift‑)Sprache und Geschichte aus. »Solche Aufmerksamkeit für die Textualität der Geschichte problematisiert nicht allein den Gegenstand der Geistes- und Kulturwissenschaften, sondern darüber hinaus deren eigene Verfahren. Wenn eine eindeutige Unterscheidung zwischen einerseits Texten und andererseits der Geschichte nicht mehr möglich ist, da beide aus dem jeweils anderen hervorgehen, wird die herkömmliche ›historische‹ Interpretation von Texten, d.h. das Interpretieren aus dem geschichtlichen ›Kontext‹, in dem die jeweiligen Texte entstanden sind, unterkomplex. Sie bedarf der Ergänzung durch eine Analyse jener Textverfahren, vermöge welcher ein Kontext als ›Geschichte‹ erkennbar wird.« 5

Dass Geschichte – im Unterschied zu Vergangenheit – erzeugt wird, und es daher unabdingbar ist, sich mit den Verfahren zu beschäftigen, die Ge­ schichte als solche erkennbar machen, ist eine Grundannahme des vor­ 2 | Vgl. überblicksartig: The Sage Handbook of Historical Theory, hg. von Nancy F. Partner und Sarah Foot, Los Angeles 2013; zu den Interferenzen zwischen Literatur und Geschichte vgl. Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin 2002. 3 | Insbesondere Hayden White: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973. 4 | Frank Ankersmit: »Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie«, in: Fulda und Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 13-37, hier S. 14. 5 | Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp: »Einleitung«, in: Fulda und Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 1­-10, hier S. 2.

Klang als Geschichtsmedium

liegenden Bandes. Darauf auf bauend sucht der Band im Sinne Frank An­ kersmits nach geschichtstheoretischen Möglichkeiten des »going beyond rather than against the linguistic turn«.6 Denn wie jeder wissenschaft­ lichen Perspektive wohnt auch der narratologisch-sprachphilosophischen Geschichtstheorie ein reduktionistisches Moment inne: Geschichte wird seit Jahrhunderten nicht nur in Form von Texten, sondern in diversen me­ dialen Formen ›geschrieben‹, in Musik und Bild, in Theater, Rundfunk, Film oder Internet. Handelt es sich bei den entsprechenden geschichtser­ zeugenden also ausschließlich um textuelle Verfahren? Wären bildliche, klangliche oder performative Verfahren, mit denen Geschichte hergestellt wird, nicht ebenso zu berücksichtigen?7 Insbesondere aus musikhistorischer Perspektive liegen diese Fragen nahe, haben wir es hier doch mit historischen Gegenständen zu tun, die zum einen nicht primär sprachlich verfasst sind und auch nicht nur im Medium Sprache überliefert werden, zum anderen permanent durch Auf­ führungen re-aktualisiert werden müssen und so in vielfältiger Form in die Gegenwart hineinwirken. Die Musikhistorik kann daher möglicher­ weise einen eigenen Beitrag zur Geschichtstheorie leisten. Mit diesem Denkansatz fügt sich dieser Band in eine Reihe neuerer Arbeiten zur Mu­ sikgeschichtsschreibung, die versuchen, allgemeine Geschichtstheorie und Musikhistorik enger zu verknüpfen8 und dabei auch unterschiedliche Medien der Musikgeschichtsschreibung berücksichtigen.9 Ein zuneh­ 6 | Frank Ankersmit: »Historical Experience Beyond the Linguistic Turn«, in: Partner und Foot (Hg.), The Sage Handbook, S. 424-438, hier S. 425. 7 | So untersucht beispielsweise der von Karin Bijsterveld herausgegebene Band Soundscapes of the Urban Past explizit medienübergreifend klangliche Narrative in historischen Texten, Hörspielen und Filmen, vgl. Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, hg. von Karin Bijsterveld, Bielefeld 2013. 8 | Vgl. z.B. Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a.M. und New York 2006 sowie die Beiträge in Carl Dahlhaus’ Grundlagen der Musikgeschichte. Eine Re-Lektüre, hg. von Friedrich Geiger und Tobias Janz, Paderborn 2016. 9 | Vgl. Melanie Unseld: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a. 2014; Anna Langenbruch: »Wie ich Welt wurde? Wahre Fantasien und andere Musikgeschichten auf der Bühne«, in: Wagner – Gender – Mythen, hg. von Christine Fornoff und

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mendes Interesse an den »Medien der Geschichte«10 ist auch innerhalb der Geschichtswissenschaften zu beobachten, nicht zuletzt im Zusam­ menhang mit Forschungen zu populären Geschichtskulturen.11 Dabei hat zunächst vor allem die Auseinandersetzung mit Bildmedien (unter dem Stichwort visual history),12 seit einigen Jahren auch mit Klängen13 dazu geführt, die Quellenbasis und das analytische Instrumentarium der his­ torischen Kulturwissenschaften erheblich zu erweitern. Das Forschungsinteresse an Klang und Hören als zentralen Aspekten der menschli­chen Welterfahrung hat in den letzten Jahrzehnten diszi­ plinenübergreifend stetig zugenommen.14 Die für den vorliegenden Band zentralen Begriffe Klang, Geschichte und Medium werden dabei unter­ schiedlich zusammengedacht und gegeneinander gewichtet. Das Um­ schlagbild unseres Bandes scheint zunächst auf eine klassische Verknüp­ fung von Klang, Geschichte und Medium innerhalb der Sound Studies zu deuten: Es zeigt einen Phonographen, ein historisches Medium der Klangaufzeichnung und ‑wiedergabe, verweist also auf die Geschichte der Tonreproduktion als möglichen Zugang zu einer »audible past«.15 Doch Melanie Unseld, Würzburg 2015, S. 261-273 sowie Geschichte – Musik – Film, hg. von Christoph Henzel, Würzburg 2010. 10 | Vgl. z.B. Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, hg. von Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl und Rudolf Schlögl, Konstanz 2004. 11 | Vgl. History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, hg. von Barbara Korte und Sylvia Paletschek, Bielefeld 2009. 12 | Vgl. für einen aktuellen Überblick etwa Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, hg. von Jürgen Danyel, Gerhard Paul und Annette Vowinckel, Göttingen 2017. 13 | Vgl. die Sondernummer des Public Historian zum Thema »Auditory History«, in: The Public Historian 37 (2015), H. 4. 14 | Exemplarisch sei hier auf The Oxford Handbook of Sound Studies, hg. von Karin Bijsterveld und Trevor J. Pinch, New York und Oxford 2012 sowie das jüngst erschienene Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, hg. von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer, Stuttgart 2018 verwiesen. Vgl. überblicksartig aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive auch: Jan-Friedrich Missfelder: »Der Klang der Geschichte. Begriffe, Traditionen und Methoden der Sound history«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 633-649. 15 | Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003.

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statt eines historischen Klangmediums steht im Mittelpunkt dieses Ban­ des Klang als Geschichtsmedium, also nicht die historische Phonographie, sondern etwas, das man sprachspielerisch »phonische« oder (etwas ge­ bräuchlicher) sonische Historiographie nennen könnte.16 Die Vorstellung von Klang als Medium, das Geschichte aufzeichnet und/oder wiedergibt, scheint zunächst kontraintuitiv, ist doch Klang selbst ohne medialen ›Träger‹ nicht überlieferbar.17 Wenn man ein Me­ dium in ganz allgemeiner Weise als »Mittel zur Übertragung von Infor­ mationen«18 versteht, kann dann Klang überhaupt sinnvoll als Medium von Geschichte beschrieben werden? Und wie wäre dies auszubuchstabie­ ren? Über diese Fragen herrscht, soviel sei vorweggenommen, unter den Autorinnen und Autoren dieses Bandes keine Einigkeit. Wenn innerhalb der sound history von Klang als »Medium der Ge­ schichte«19 die Rede ist, bezieht sich das oft auf Tondokumente als histo­ rische Quellen.20 Dies wäre also eine mögliche Auffassung von Klang als Geschichtsmedium. Versteht man Geschichte mit Daniel Fulda und Sil­ via Serena Tschopp »als Integrationsbegriff für vergangenes Geschehen ebenso wie als dessen Darstellung«,21 so wird deutlich, dass die Auffas­ sung von Tondokumenten als Vermittlern vergangenen Geschehens vor­ 16 | So entwickelt etwa Jochen Bonz Ansätze einer »sonischen Ethnografie«, in: Jochen Bonz: Alltagsklänge – Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens, Wiesbaden 2015, insb. S. 101-178. 17 | Ähnliches gilt für Musik, vgl. Melanie Unseld: »Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung. Einige Vorüberlegungen«, in: Musik als Medium der Erinnerung. Gedächtnis – Geschichte – Gegenwart, hg. von Lena Nieper und Julian Schmitz, Bielefeld 2016, S. 29-38, hier S. 32ff. 18 | Stefan Münker: »Was ist ein Medium? Ein philosophischer Beitrag zu einer medientheoretischen Debatte«, in: Was ist ein Medium?, hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt a.M. 2008, S. 322-337, hier S. 322. 19 | Jan-Friedrich Missfelder etwa führt beide Begriffe unmittelbar zusammen, wenn er konstatiert, dass »die akustische Dimension auch als Medium der Geschichte, als Quelle« zentral für die sound history sei. Missfelder, »Der Klang der Geschichte«, S. 634. 20 | Vgl. dazu auch Daniel Morat und Thomas Blanck: »Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 703-726. 21 | Fulda und Tschopp, »Einleitung«, S. 1.

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wiegend den ersten Teil dieser Definition von Geschichte betrifft. Die in diesem Band vertretene Idee von Klängen als Vermittlern von Geschichte geht hingegen über die quellenkritische Auseinandersetzung mit histo­ rischen Tondokumenten hinaus. Sie betrifft auch die Art und Weise, wie Klänge – historische und zeitgenössische, musikalische wie nicht-musi­ kalische – eingesetzt werden, um vergangenes Geschehen darzustellen, und die Frage, wie sich mithilfe auditiver Wissensformen historisches Wissen generieren lässt. Untrennbar verknüpft ist dieser Fragenkomplex mit einer Analyse der entsprechenden Wahrnehmungsformen. Überträgt man Jan Fried­ rich Missfelders Befund, Klanggeschichte könne »überhaupt nur als Geschichte der Klangwahrnehmung, ‑verarbeitung und ‑speicherung, letztlich also als Hörgeschichte geschrieben werden«,22 auf die Idee der Geschichtsschreibung durch Klang, lenkt dies die Aufmerksamkeit letzt­ endlich auf Wahrnehmungsformen von Geschichte. Wie erleben, insbe­ sondere: wie hören Menschen Geschichte? Diese Frage versucht keines­ wegs den nicht überbrückbaren Abstand zwischen gegenwärtigem Hören und vergangenem Geschehen einzuebnen,23 sondern bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit Geschichtsdarstellungen und auf die entspre­ chenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, zu denen zum Beispiel der gedachte »Präsenzeffekt«24 beim Hören historischer Tondokumen­ te, die von Annegret Fauser beschriebene »sonic immediacy of modern media experiences«,25 die klanglich-emotionale Immersion im Theater­

22 | Jan-Friedrich Missfelder: »Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 21-47, hier S. 34. 23 | Annegret Fauser spricht in diesem Zusammenhang von der »sonic distance« des historischen Gegenstandes. Annegret Fauser: »Cultural Musicology: New Perspectives on World War II«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 8 (2011), H. 2, Online-Ausgabe: www.zeithistorische-forschungen. de/2-2011/id=4472, Druckausgabe: S. 262-268, hier S. 263. 24 | Morat und Blanck, »Geschichte hören«, S. 704. 25 | »Because of the sonic immediacy of modern media experiences, the chasm between the imaginary soundscape of postwar movies and the lived sonic experience of that global war often remains unrecognized.« Fauser, »Cultural Musicology«, S. 263.

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raum26 oder die multisensorielle Erfahrung von »Ears-on Exhibitions«27 in historischen Museen zählen. Ziel des vorliegenden Bandes ist also, historische Wissensproduktion als klangliche Praxis zu untersuchen und gleichzeitig Klang als Kategorie der Geschichtsschreibung – auch der Musikgeschichtsschreibung – wei­ ter zu reflektieren und zu etablieren. Die versammelten Disziplinen   – Audiokommunikation, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, historische Musikwissenschaft, Musiktheorie, Philosophie und Popular Music Studies – sind so heterogen wie die Gegenstände und Methoden. Sie treffen sich im gemeinsamen Interesse an den Möglichkeiten, Gren­ zen und methodisch-theoretischen Implikationen von Klang als Ge­ schichtsmedium. In einem ersten Abschnitt zu »Klang und Geschichtstheorie« stellt zunächst Daniel Fulda aus literaturwissenschaftlicher Perspektive grund­ sätzliche Überlegungen zum Geschichtsbegriff und zu der Frage, in wel­ chem Verhältnis Klang dazu stehen könne, an. Er arbeitet heraus, inwie­ fern Geschichte sowohl textuell als auch kognitiv durch Erzählstrukturen erzeugt wird und kommt zu dem Ergebnis, dass Klänge allein – im Unter­ schied zu Texten – keine Geschichtsdarstellung tragen, aber Geschichts­ vorstellungen auslösen könnten. Angela Grünberg schließt daran mit der grundlegenden philosophischen Frage an, ob Klang Nicht-Klangliches beinhalten könne (die sie mit ja beantwortet). Sie untersucht also vom Standpunkt der analytischen Philosophie aus eine mögliche Vorausset­ zung der Frage nach Klang als Geschichtsmedium. Damit zielt sie da­ rauf, Grundzüge einer Historiographie des Klangs zu entwickeln, also einer Geschichtsschreibung, in deren Zentrum Sound-Daten stünden, die etwas über die Vergangenheit verrieten, das ohne eine Darstellung im Klang nicht zugänglich wäre. Ausgehend von einem konkreten mu­ sikhistorischen Gegenstand – dem Musikgeschichtstheater – fragt Anna Langenbruch nach Impulsen, die Musikgeschichte auf der Bühne (und 26 | Vgl. Anna Langenbruch: »Wissenschaftsopern: Gegenwartsdiagnosen zwischen Kunst, Wissenschaft, Ethik und Gender«, in: Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne, hg. von Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Thomas Etzemüller, Bielefeld, im Druck (erscheint 2019). 27 | Karin Bijsterveld: »Ears-on Exhibitions: Sound in the History Museum«, in: The Public Historian 37 (2015), H. 4 (Special Issue: Auditory History), S. 73-90.

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damit Geschichte, die klingt) für die nicht nur musikwissenschaftliche Geschichtstheorie bieten könne. Am Beispiel von Giacomo Orefices 1901 uraufgeführter Oper über Frédéric Chopin konzentriert sie sich dabei vor allem auf Verflechtungen historiographischer und künstlerischer Prakti­ ken im Musikgeschichtstheater und auf Medialitäten von Musikhistorio­ graphie. Der zweite Teil des Bandes stellt mit »Geschichten des Hörens« die historische Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Michael Werner denkt aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive über die grundsätzlichen methodisch-theoretischen Probleme nach, die die Integration von Tönen und Klängen in eine allgemeinere Erfahrungsgeschichte aufwerfe: Von der Quellenproblematik (also den Formen und Auswirkungen der Media­ lisierung des überlieferten Materials) über die Frage, wie die Aneignungsund Verarbeitungsprozesse des Hörens in eine historische Analyse ein­ gebracht und zu den anderen Erfahrungen der historischen Akteure in Beziehung gesetzt werden könnten, bis hin zu epistemologischen Über­ legungen dazu, wie sich das Verhältnis zwischen den Vorannahmen des Forschers oder der Forscherin über das Gehörte und dem tatsächlich Ge­ hörten analysieren ließe. Ein Fallbeispiel ist dabei Musikgeschichte als Klanggeschichte. Der Musikwissenschaftler Martin Kaltenecker schließt daran mit einer konkreten Hörgeschichte an: Er beschäftigt sich anknüp­ fend an das Konzept der aural history mit dem Hören im Krieg. Auf bau­ end auf einem breiten Fundus v.a. französischer Quellen zur Belagerung von Paris 1870-71 sowie zum Ersten und Zweiten Weltkrieg untersucht er, wie sich das Hören in Kriegszeiten verändere, wie eine kriegerische soundscape nicht nur verzerre und verstöre, sondern allmählich auch die Hörfähigkeiten erweitere. Der dritte Teil des Bandes fokussiert »Klangliche Repräsentationen von Geschichte«. Arnold Jacobshagen untersucht die Rolle des Komponis­ ten Giovanni Battista Pergolesi als Bühnenfigur in Dramentexten und Opern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Eingebettet in eine kurze Geschichte der Komponistenoper in Frankreich, Italien und Deutschland analysiert er Konventionen der Handlungsführung, die Verwendung ›his­ torischer Klänge‹ (d.h. von Originalmusik in intradiegetischer Funktion) sowie die Interaktion akustischer und visueller Zeichensysteme in die­ sem Genre. Vom Standpunkt der Popular Music Studies aus widmet sich Susanne Binas-Preisendörfer Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ in audio­ visuellen Medien. Sie fragt, welche Rolle Klang (z.B. in Form von O-Tö­

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nen, diegetischer oder nicht-diegetischer Musik, Sprechstimmen etc.) in diesen Repräsentationen heutigen Erinnerns spiele und wie sich Erinne­ rungspolitiken und die betrachteten populärkulturellen Geschichtsdar­ stellungen gegenseitig bedingten. Welchen Regeln folgen mediale Ver­ gegenwärtigungen von Geschichte und in welche Hörpraktiken sind sie eingebunden? Der vierte Teil – »Auditive Wissensformen und Geschichte« – schließt dort direkt an und schlägt zugleich in gewisser Weise den Bogen zurück zu den geschichtstheoretischen Überlegungen am Anfang des Bandes. Als Vertreter des Fachgebiets Audiokommunikation fragen Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi danach, wie sich immersive Medien­ technologien zur Generierung musikhistorischen Wissens einsetzen lassen. Sie betrachten dabei virtuelle historische Umgebungen als be­ sondere Form medial inszenierter Geschichte: Am Beispiel der histori­ schen Aufführungsräume der Orchesterwerke Ludwig van Beethovens in Wien erläutern sie die Rekonstruktion von Räumen, Ereignissen oder Medieninstallationen der Vergangenheit in einem digitalen Modell, das heutigen Betrachtern und Hörern einen sensorischen Zugang zu diesen Räumen, Ereignissen oder Installationen ermöglicht. Zugleich machen sie Vorschläge, wie methodologisch mit diesen Rekonstruktionen umzu­ gehen sei. Abschließend geht Alexander Rehding der Rolle des Klangs in der Geschichte der Musiktheorie nach. Er fragt, wie sich die Elemente, die musiktheoretische Praktiken ausmachen, technologisch und medien­ wissenschaftlich fassen lassen, um sich mit der oft unterschätzten Klang­ lichkeit der Musiktheorie auseinanderzusetzen. Dafür setzt er bei drei für verschiedene Epochen der Geschichte der Musiktheorie stehenden Instrumenten (Klavier, Monochord und Sirene) an, die er anknüpfend an Hans-Jörg Rheinberger als »epistemische Dinge« beschreibt und inner­ halb entsprechender musiktheoretischer »Aufschreibesysteme« (Fried­ rich Kittler) verortet. Hervorgegangen ist der vorliegende Band aus der Tagung Klang als Geschichtsmedium. Hören, Erzählen, Wissen, die vom 14. bis 16. Januar 2016 am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst stattfand. Dem Han­ se-Wissenschaftskolleg sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich für die Finanzierung und die organisatorische Unterstützung gedankt. Ein herzlicher Dank geht ebenso an sämtliche Teilnehmerinnen und Teilneh­ mer dieser Tagung. Aus verschiedenen Gründen haben nicht alle dama­ ligen Beiträge Eingang in den vorliegenden Band gefunden, die inspirie­

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renden Vorträge und lebhaften Diskussionen der Delmenhorster Tagung sind jedoch eine wichtige Grundlage, auf der die zum Teil thematisch und methodisch stark überarbeiteten Aufsätze dieses Bandes auf bauen. Besonders danke ich den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für die aufwendige, konzentrierte und kooperative Arbeit an der Schriftfassung. Dass das Buch in dieser Form erscheinen kann, verdankt sich zudem der Mitarbeit einer ganzen Reihe weiterer Personen und Institutionen: Dem Team meiner Emmy Noether-Nachwuchsgruppe »Musikgeschichte auf der Bühne«, insbesondere Lina Blum, Jannek Boomgaarden, Naemi Flemming, Nora Hilsberg, Daniel Samaga, Clémence Schupp-Maurer sowie Raphael Siems, danke ich sehr herzlich für ihre redaktionelle Mit­ arbeit. Dem transcript Verlag danke ich für das Interesse an der Reihe Musikgeschichte auf der Bühne, als deren erster Band Klang als Geschichtsmedium nun erscheint, sowie für die unkomplizierte und kompetente Unterstützung bei der Reihengründung und bei der Drucklegung des Bandes. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sei herzlich gedankt dafür, dass sie durch meine Aufnahme in ihr Emmy Noether-Programm letztlich auch die Drucklegung dieses Bandes finanziert. Anna Langenbruch Oldenburg, im Sommer 2018

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Frank Ankersmit: »Vom Nutzen und Nachteil der Literaturtheorie für die Geschichtstheorie«, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Auf klärung bis zur Gegenwart, hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin 2002, S. 13-37. Frank Ankersmit: »Historical Experience Beyond the Linguistic Turn«, in: The Sage Handbook of Historical Theory, hg. von Nancy F. Partner und Sarah Foot, Los Angeles 2013, S. 424-438. Karin Bijsterveld (Hg.): Soundscapes of the Urban Past. Staged Sound as Mediated Cultural Heritage, Bielefeld 2013. Karin Bijsterveld: »Ears-on Exhibitions: Sound in the History Museum«, in: The Public Historian 37 (2015), H. 4 (Special Issue: Auditory History), S. 73-90.

Klang als Geschichtsmedium

Karin Bijsterveld und Trevor J. Pinch (Hg.): The Oxford Handbook of Sound Studies, New York und Oxford 2012. Jochen Bonz: Alltagsklänge – Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens, Wiesbaden 2015. James F. Brooks (Hg.): The Public Historian 37 (2015), H. 4 (Special Issue: Auditory History). Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl und Rudolf Schlögl (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004. Jürgen Danyel, Gerhard Paul und Annette Vowinckel (Hg.): Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017. Annegret Fauser: »Cultural Musicology: New Perspectives on World War II«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 8 (2011), H. 2, Online-Ausgabe: www.zeithistorische-forschungen.de/​2-​ 2011/id=4472, Druckausgabe: S. 262-268. Daniel Fulda: Art. »Historiographie«, in: Lexikon der Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 152-155. Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp (Hg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Auf klärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002. Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp: »Einleitung«, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Auf klärung bis zur Gegenwart, hg. von dens., Berlin 2002, S. 1­-10. Friedrich Geiger und Tobias Janz (Hg.): Carl Dahlhaus’ Grundlagen der Musikgeschichte. Eine Re-Lektüre, Paderborn 2016. Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a.M. und New York 2006. Christoph Henzel (Hg.): Geschichte – Musik – Film, Würzburg 2010. Barbara Korte und Sylvia Paletschek (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009. Anna Langenbruch: »Wie ich Welt wurde? Wahre Fantasien und andere Musikgeschichten auf der Bühne«, in: Wagner – Gender – Mythen, hg. von Christine Fornoff und Melanie Unseld, Würzburg 2015, S.  261273. Anna Langenbruch: »Wissenschaftsopern: Gegenwartsdiagnosen zwi­ schen Kunst, Wissenschaft, Ethik und Gender«, in: Gegenwartsdiag-

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nosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne, hg. von Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Tho­ mas Etzemüller, Bielefeld, im Druck (erscheint 2019). Jan-Friedrich Missfelder: »Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschich­ te der Neuzeit«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 21-47. Jan-Friedrich Missfelder: »Der Klang der Geschichte. Begriffe, Traditio­ nen und Methoden der Sound history«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 633-649. Daniel Morat und Thomas Blanck: »Geschichte hören. Zum quellenkri­ tischen Umgang mit historischen Tondokumenten«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 703-726. Daniel Morat und Hansjakob Ziemer (Hg.): Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart 2018. Stefan Münker: »Was ist ein Medium? Ein philosophischer Beitrag zu einer medientheoretischen Debatte«, in: Was ist ein Medium?, hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt a.M. 2008, S. 322337. Nancy F. Partner und Sarah Foot (Hg.): The Sage Handbook of Historical Theory, Los Angeles 2013. Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003. Melanie Unseld: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a. 2014. Melanie Unseld: »Musikwissenschaft und Erinnerungsforschung. Einige Vorüberlegungen«, in: Musik als Medium der Erinnerung. Gedächtnis – Geschichte – Gegenwart, hg. von Lena Nieper und Julian Schmitz, Bielefeld 2016, S. 29-38. Hayden White: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973.

Klang und Geschichtstheorie

Geschichte – erzeugt, nicht gegeben Wie viel Historisierung können Klänge leisten? Daniel Fulda

Was hat hier jemand beizutragen, der kein Musikwissenschaftler oder Akustiker ist? Ich möchte vor allem jene ›Geschichte‹ als ein gehaltvol­ les Konzept explizieren, deren Möglichkeit und Formen des klanglichen Vermitteltseins das Thema der Tagung bilden. Für die Diskussion, ob, in welcher Hinsicht und in welcher Weise Klänge ein Geschichtsmedium sein können, soll damit die Grundlage eines reflektierten Geschichtsbe­ griffs zur Verfügung gestellt werden. Mein Ergebnis lautet – das sei vor­ weggenommen –, dass Klänge keine Geschichtsdarstellung tragen, aber Geschichtsvorstellungen auslösen können. Denn Geschichte wird durch narrative Textstrukturen bzw. durch Narrativierung erzeugt. Diese Prä­ misse mag Alltagsintuitionen von der Tatsächlichkeit, also Gegebenheit des Historischen widersprechen; sie ergibt sich indes zwingend aus dem Diskussionsstand der Geschichtstheorie (Abschnitte I. und II.). Klänge wiederum können das Objekt von Narrativierungen, nicht aber der Träger von Narrativen sein (III.). Welche Rolle Klänge üblicherweise in den Ge­ schichten spielen, die Historiker erzählen, kommt abschließend in zwei kurzen Beispielen zur Sprache (IV. und V.).

I. G eschichte muss erzeugt werden Der erste wichtige Punkt ist: Entgegen einem umgangssprachlich un­ präzisen Wortgebrauch ist Geschichte nicht identisch mit der Vergangen­ heit (weder mit der Zeitdimension noch mit dem, ›was war‹), auch nicht mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, noch weniger mit einem unspezifischen ›Geschehen‹. Vielmehr ist Geschichte eine spezifische

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Kohärenzstruktur dessen, was in der Welt geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Als ›Geschichte‹ wird all jenes Geschehen als Prozess begriffen, der die Zeiten miteinander verbindet: Aus dem Früheren ent­ stehe das Spätere, und dadurch hängen – so das Konzept Geschichte – alle Zeiten bzw. die drei Zeitdimensionen zusammen. Geschichte braucht ein Zeitgerüst, geht aber nicht in zeitlichen Differenzen auf, sondern besteht aus dem, was die Zustände späterer Zeitpunkte qualitativ von früheren unterscheidet, und aus den Veränderungen, die von diesen zu jenen füh­ ren.1 Ein idealistischer Geschichtsphilosoph wie Johann Gustav Droysen sah im historischen Prozess eine objektive Struktur der vom Menschen geprägten Welt, wenngleich er einräumte, dass jede Erkenntnis und Darstellung der Geschichte eine bestimmte Perspektive darauf einneh­ men müsse, die bloß relative Gültigkeit beanspruchen könne, weil sie an ihren Standpunkt gebunden sei.2 Die neuere Geschichtstheorie positio­ niert sich konsequenter konstruktivistisch, gleich ob sie textualistisch, begriffsgeschichtlich oder kognitivistisch argumentiert: Danach stellt Geschichte nichts objektiv Gegebenes, sondern ein möglicherweise an­ gewandtes Konzept, ein bestimmtes Auffassungsschema, eine ihrerseits historische, keineswegs aber notwendige Denkform dar. Geschichte er­ eignet sich oder geschieht nicht eigentlich, sondern bildet eine spezifische Kohärenzstruktur, in der Geschehen (meist vergangenes) rekon­struktiv wahrgenommen und beschrieben wird und die ihm Sinn verleiht.3 Als umfassender, sich selbst bestimmender und in der eigenen Prozessualität sinnvoller Geschehenszusammenhang wird ›die Geschichte‹ erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts begriffen.4 1 | Vgl. Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln u.a. 2013, S. 36-41. 2 | Vgl. Johann Gustav Droysen: Historik, Bd. 1: Rekonstruktion der ersten voll­ ständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. 3 | Vgl. Emil Angehrn: »Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruktion und historischer Sinn«, in: Selbstorganisation 10 (1999), S. 217-236. 4 | Vgl. Reinhart Koselleck: »Geschichte, Historie«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und dems., Stuttgart 1972-1997, Bd. 2, S. 593-

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Wenn wir nach dem ›Klang als Geschichtsmedium‹ fragen, folgt aus der skizzierten Konstrukthaftigkeit der Geschichte, dass die zu ›vermit­ telnde‹ bzw. zu repräsentierende Geschichte immer erst als solche er­ zeugt werden muss. Das geht entscheidend hinaus über die Konditionie­ rung, die zu jeder Medialität gehört, weil Medien keine strukturell und semantisch neutralen ›Vermittler‹ sind.5 Zugespitzt: auf Geschichte kann nicht einfach medial verwiesen werden, sondern sie muss vom jeweiligen Medium oder zumindest unter dessen Beteiligung produziert werden, wenn die Rede von einem ›Geschichtsmedium‹ gehaltvoll sein soll. Sind Klänge dazu in der Lage? Wenn ja: unter welchen Umständen sind sie das und was befähigt sie dazu?

II. G eschichte basiert auf E rz ählstruk turen Um dazu etwas sagen zu können, brauchen wir einen Begriff davon, wie Geschichte erzeugt wird. Seit einem halben Jahrhundert wird diese Frage vor allem so beantwortet: ›durch Erzählstrukturen‹.6 Ich teile diese An­ sicht, doch halte ich es für einseitig, allein auf Erzählstrukturen zu schau­ en, die in Texten oder anderen Medien manifest vorliegen. Seit etwa der Jahrtausendwende ist die allgemeine Narratologie durch die Blickwen­ dung auf die mentalen Prozesse und Bedingungen, die uns Erzählungen als Geschichten verstehen lassen, in enorme Bewegung gekommen. Neh­ men wir uns beides kurz vor.

718 (die Seiten 595-647 wurden von Christian Meier, Odilo Engels und Horst Günther verfasst), hier S. 647-653. 5 | Vgl. Sybille Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen«, in: Performativität und Medialität, hg. von ders., München 2004, S. 13-32, hier S. 23. 6 | Als rezenten Überblick über die Diskussion vgl. Achim Saupe und Felix Wiedemann: »Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft«, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, hg. von Jörg Baberowski u.a., http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.580.v1 (28.01.2015, abgerufen am 07.06.2017).

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II.1 Textfundierter Narrativismus Um ›Geschichte‹ im prägnanten Begriffsverständnis zu schreiben, also um Vergangenheitsgeschehen in jener Kohärenz, Folgerichtigkeit und Sinnfülle darzustellen, die der Begriff der Geschichte seit dem 18. Jahr­ hundert behauptet, bedient sich jede Geschichtsrepräsentation unweiger­ lich der Verfahren narrativer Verknüpfung. »[W]here there is no narrati­ ve, there is no distinctively historical discourse«, schreibt Hayden White in einem seiner jüngeren Aufsätze.7 Diese narrative Struktur ist vor allem für die Historiographie umfassend nachgewiesen worden, wo sie lange umstritten war, weil sie die prominentesten Texte einer Wissenschaft in den Bereich des Literarischen zu ziehen schien.8 Letzteres war ein Missverständnis, denn die Erzählung ist nichts spezifisch Literarisches, sondern eine schon lebensweltlich ubiquitäre Form der Verarbeitung von Erfahrungen und Formulierung von Absichten.9 Dementsprechend bedient sich jede gelingende Repräsentation von Geschichte narrativer Strukturen, handle es sich um einen literarischen Text, ein Bild oder eine Bilderfolge, ein Musikstück, eine Klangwahrnehmung oder -erinnerung oder was auch immer. Die Erzählform leistet allererst die nötige ›Konfi­ guration‹ von Geschichte. Der Erzähler entscheidet, was er erzählt und wie er die Elemente seiner Geschichte verknüpft, d.h. er konfiguriert eine ›Geschichte‹ (einen zusammenhängenden Geschehensverlauf) aus ver­ schiedenen Ereignissen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Mit ›narrativen Strukturen‹ ist nicht das ›typisch Erzählerische‹ wie plastische Charaktere, Absichten und Interaktionen als zentraler Erzähl­ inhalt, Anschaulichkeit des Settings usw. gemeint, ebenso wenig die Mit­ telbarkeit der erzählerischen Darbietung einer Geschichte (also das mehr 7 | Hayden White: »Literary Theory and Historical Writing«, in: ders.: Figural Realism. Studies in the Mimesis Effect, Baltimore 1999, S. 1-26, 176-182, hier S. 3. 8 | Zur narrativen Struktur sogar solcher Historiographie, die sich als post-narrativ versteht, vgl. Axel Rüth: Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung (= Narratologia 5), Berlin und New York 2005. 9 | Vgl. Daniel Fulda: »Sinn und Erzählung. Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen«, in: Handbuch der Kulturwissen­s chaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, hg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch, Stuttgart und Weimar 2004, S. 251-265.

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oder weniger deutliche Auftreten eines Erzählers) im Unterschied zur verkörpernden Darbietung auf dem Theater oder zur vermittlungslosen des reinen Dialogs. Vielmehr geht es um die narrative Tiefenstruktur des Erzählgegenstands, die aus drei Phasen besteht: Ein Ausgangs­zustand wird durch ein Ereignis verändert, das die nicht nur temporale, sondern auch qualitative Differenz zum Endzustand ausmacht. Die Erzählung plausibilisiert solche Zustands­änderungen, indem sie auf eine im Erfah­ rungshorizont oder zumindest dem Vorstellungsver­mögen von Erzähler und Rezipient einleuchtende Weise aus Phase 1 in Phase 3 überleitet. Arthur C. Danto hat die Erzählung damit als eine für historische Pro­ zesse besonders geeignete Form der Erklärung ausgewie­sen.10 Während die Erklärung durch Gesetze bei historischen Prozessen nicht greift, weil diese extrem multifaktoriell bzw. ›kontingent‹ sind, ist der typischen DreiPhasen-Struktur erzählter Geschichten eine immanente Erklärungsleis­ tung eingeschrieben. Tran­szendental­philosophisch wurde die Erzählung dann als apriorisches Schema ausgewiesen, das allen Rekonstruktio­nen, ja Wahrnehmungen von Geschichte zugrunde liegt.11 Danach fungiert das Kohärenzschema der Erzählung im historischen Denken als An­ schauungsform, die ›bloßes‹, amorphes Geschehen in strukturierte, durch Kontinuität und sinn­volle Entwicklung ausgezeichnete Geschichte transformiert. Schon historisches Denken (mit einem Konzept von Ge­ schichte als wesentlicher Veränderung in der Zeit) ist genuin und gene­ rell narrativ verfasst. Dass Geschichte narrativ verfasst ist, bezeichnet ihr allgemeines Strukturprinzip. In den einzelnen Geschichtswerken wird es je beson­ ders ausgestaltet. Wie Hayden White gezeigt hat, sind besonders die Klas­ siker der Historiographie nach den typischen Plots literarischer Gattun­ gen erzählt.12 White nennt Komödie, Tragödie, Romanze und Satire; dem Selbstverständnis der modernen, forschenden Historiographie steht die

10 | Vgl. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, aus dem Engl. von Jürgen Behrens, Frankfurt a.M. 1974 [engl. Orig. 1965]. 11 | Vgl. Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1972. 12 | Vgl. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun­d ert in Europa, aus dem Ame­r ik. von Peter Kohl­h aas, Frankfurt a.M. 1991 [amerik. Orig. 1973].

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Detektivgeschichte näher.13 Im Erzählen entsteht nicht nur Geschichte als solche, sondern erhält die jeweils erzählte Geschichte einen sinnhaf­ ten Verlauf, der strukturell an die Geschichten-Typen literarischer Gat­ tungen angelehnt ist (oder sein kann, wie man vorsichtiger als White formulieren könnte). Aus den in einer bestimmten Kultur akzeptierten Geschichten-Typen ist dieser Plot prinzipiell frei wählbar; seine Wahl ist daher signifikant für die Deutung der jeweils dargestellten Geschichte wie der Geschichte allgemein (eben als Komödie usw.). Über den geschichts­ konstitutiven Sinn der Folgerichtigkeit hinaus schafft die Erzählung also einen Sinn, der sehr unterschiedlich ausfallen kann und daher auch ei­ niges über die ideologischen Absichten des Historiographen – oder wer auch immer von Geschichte erzählt – besagt. Und nicht nur durch den Plot stellt die Erzählung Verknüpfungen zwischen den einzelnen Begebenheiten her. Weitere mögliche Mittel sind die Parallelisierung von Begebenheiten unterschiedlicher Zeiten oder Handlungsstränge, durch Leitmotive und andere Rekurrenzen, oder di­ rekte Kommentare des Erzählers. Zur Deutung der erzählten Geschichte trägt all das mehr oder weniger explizit bei. Für den Leser wiederum wird die Erzählung nicht zuletzt durch die Leerstellen bedeutsam, die sie lässt, zu weiteren Deutungen herausfordernd.

II.2 Kognitivistischer Narrativismus Der klassische geschichtstheoretische Narrativismus geht von Texten mit Plot aus, meist von den ›großen‹. Außerhalb seiner Reichweite liegt, ob bzw. wie ein Bild Geschichte zeigen kann, ob sich Geschichte ausstellen lässt, ohne dass man auf übergreifende Begleittexte zu den ausgestellten Bildern, Fotos oder anderen Artefakten rekurriert, ob man Geschichte hö­ ren kann usw. Um hier weiterzukommen, scheint mir der Einbezug der kognitivistischen Narratologie sinnvoll, die nach den mentalen oder eben kognitiven Voraussetzungen fragt, die uns Erzähltexte – oder womöglich

13 | Vgl. Achim Saupe: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009.

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auch anderes – als Repräsentationen von Geschichten verstehen lassen.14 Die Prämisse der kognitivistischen Narratologie lautet, dass unser Wissen (in einem umfassenden Sinne, der Wahrnehmungen und Äußerungen einschließt) durch schemata, scripts und frames strukturiert wird: Bereits das, was wir wahrnehmen, nehmen wir deshalb wahr, weil unser kogni­ tiver Apparat es mit ›eingespeicherten‹ Schemata abgleicht. Narrativität prozessieren diese Schemata, wenn gelesene oder anders wahrgenomme­ ne Signifikate sich mit einem vorgängigen Wissen des Rezipienten von typischen Geschichtenelementen und ‑mustern verknüpfen lassen. Der Kognitivismus verortet solche Schemata in einem Wechselspiel zwischen Erfahrung und Erwartung: »Stored in the memory, previous experiences form structured repertoires of expectations about current and emergent experiences.«15 Epistemologiehistorisch kann diese Rekursivi­ tät erklären, wie sich das von Erzählungen getragene Denkmuster ›Ge­ schichte‹ um 1800 als Grundstruktur der westlichen Moderne etablierte: Aufgrund ›historischer Erfahrungen‹ – auch, ja meist in medial vermit­ telter Form u.a. lektüreweise – nehmen wir Geschehen als geschichtlich wahr – und machen mit diesem Wissen wieder ›historische Erfahrungen‹. Gegenstand und Modus der Wahrnehmung stützen sich hier gegensei­ tig, so dass sie nur bei ausdrücklicher theoretischer Anstrengung unter­ schieden werden. Der kognitivistisch-narratologische Ansatz ermöglicht es, Geschichte als Wahrnehmungsschema zu begreifen, das seinerseits durch Wahrnehmungen aus- und umgebildet wird. Narrativität hängt demnach nicht allein von der Beschaffenheit des Mediums ab, das (womöglich) Geschichte repräsentiert, sondern ebenso von dem, was ein Rezipient mitbringt an mentalen Einstellungen, was wiederum mit den ›shared mental models‹ einer Zeit und Kultur zusam­ menhängt. All dies spielt zusammen: Wer ›auf Geschichte eingestellt ist‹, wird aus bloßen Andeutungen von Geschichtenverläufen und unvollstän­ dig repräsentierten narrativen Strukturen mehr herauslesen (oder -hören bzw. ‑sehen). Ein bloß als Modell zu verstehendes Beispiel: Die berühmte

14 | Als neuesten Überblick dazu vgl. Ralf Schneider: »Kognitivistische Narratologie«, in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen, hg. von Martin Huber und Wolf Schmid, Berlin und Boston 2018, S. 580-596. 15 | Vgl. David Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln 2002, S. 89.

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Miniaturerzählung Cäsars »veni, vidi, vici«16 wird ein auf den relativen Abschluss von Handlungssequenzen durch Situationsveränderung ein­ gestellter Rezipient ergänzen, auch wenn er das Zitat nicht kennt und ein Heerführer nur ›veni, vidi‹ sagt. Die Ergänzung mit ›vici‹ ist dabei nicht zwingend; ebenfalls ein sinnvoller Abschluss wäre ›fugi‹. ›Vici‹ wie­ derum wird jemand womöglich deshalb ergänzen, weil er den Ausgang der Schlacht bei Zela kennt oder weil er eine allgemeine Vorstellung von militärischer Ruhmredigkeit hat. Wie das script ›vollendeter Plot‹ konkret angewandt wird, hängt nicht zuletzt also von dem Wissen ab, das der Re­ zipient mitbringt, wobei nicht allein Sachkenntnisse unter Wissen fallen, sondern auch allgemeine Erfahrungen oder Assoziationen. Geschichte können wir als kognitives (Makro-)Schema begreifen, das verschiedene Elemente als Subschemata enthält, die ich teilweise bereits erwähnt habe: Kohärenz, genetisch-kausaler Zusammenhang, Emplot­ ment, Referenzialität u.a. Das (Makro-)Schema Geschichte scheint nicht angeboren zu sein, sondern muss erlernt werden bzw. etabliert sich in bestimmten Kulturen und Epochen. Die enthaltenen Subschemata hin­ gegen können anthropologisch mitgegeben und ubiquitär sein oder aber in anderen Diskursformationen bereits erprobt, entwickelt und eingeübt sein, etwa in der Literatur. Auf dieser schematheoretischen Grundlage lässt sich Geschichte als ihrerseits historisches Denkmuster konzipieren und vom Alltagsverständnis der Geschichte als einfach geschehend und gegeben abgrenzen. Der kognitivistische Ansatz verspricht auch solchen Geschichtsdar­ stellungen gerecht zu werden, die sich – wie heute häufig – misstrauisch gegenüber narrativer Kohärenz zeigen. Solche Darstellungen erfordern beträchtliche Narrativierungsanstrengungen auf Rezipientenseite; als Geschichtsdarstellungen sind diese Texte oder anderen Artefakte gewis­ sermaßen unvollständig, z.B. weil sie keinen (gut erkennbaren) Plot auf­ weisen. Häufig sind die Rezipienten aber trotzdem in der Lage, sie zu ›lesen‹. Denn Narrativierung ist ein konstruktiver Prozess, »which ena­ bles readers to re-cognize as narrative those kinds of texts that appear to be non-narrative«.17 Nicht zuletzt Erzählungen außerhalb des traditionel­ len gedruckten Buches lassen sich auf kognitivistischer Grundlage bes­ ser analysieren: Stellt Narrativität eine Zuschreibung des Rezipienten an 16 | Plutarch: Caesar, 50, 3. 17 | Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology, London 1996, S. 46.

Geschichte – erzeugt, nicht gegeben

ein ihm vorliegendes Material dar, so ist dieses Objekt von nachrangiger Bedeutung, seien es ein Film, eine Fernsehsendung oder andere Bilder­ folgen, eine Ausstellung, Theater, Hör- oder Computerspiele. Ob, wie und unter welchen Bedingungen sich Klänge narrativieren lassen, scheint mir eine entscheidende Frage dieser Tagung zu sein. Denn ohne Narrativie­ rung gibt es keine Geschichte.

III. K l änge : P otentielle I nzentive der N arr ativierung , aber kein G eschichtsmedium Noch eine Schwierigkeit: Wie distinkt sollte der Begriff des Klangs sein, mit dem wir hier arbeiten? Die Harmonielehre bezeichnet damit den Zu­ sammenklang mehrerer Töne wie etwa den Dreiklang (mit Terzenschich­ tung). So spezifisch ist der Klangbegriff im Tagungstitel gewiss nicht ge­ meint. Vielmehr scheint (fast) alles Hörbare darunter fallen zu können, also auch Geräusche, mit Ausnahme der negativen und positiven Extre­ me, was Codierung und Signifikanz angeht: des indifferenten Rauschens einerseits und der Sprache andererseits. Genau genommen hat selbst die Sprache Klangdimensionen, wenn sie gesprochen wird: durch Intonation, Melodie, Rhythmus, Heiserkeit, Verzerrung durch Aufzeichnungs- und Wiedergabemedien usw. Wichtig scheint derweil, die Klangdimensionen der Sprache von Semantik und Grammatik abzusetzen, wenngleich auch diese Unterscheidung nicht streng durchführbar ist, da eine bestimmte Klanggebung durchaus se­ mantische Tragweite haben kann, etwa wenn durch ›flötendes‹ Sprechen eine Aussage ironisiert und sogar in ihr Gegenteil verkehrt wird. Sofern Klänge auf etwas verweisen, also konkrete Vorstellungen abrufen, tun sie das in der Regel aber indexikalisch (jeder Klang verweist auf eine be­ stimmte Klangerzeugung, mehr oder weniger deutlich), im Fall der Mu­ sik auch ikonisch (durch Ähnlichkeit),18 nur in Ausnahmefällen wie etwa dem Martinshorn mit seinem Quartintervall aber symbolisch (durch kon­ ventionalisierte Bedeutungserzeugung), wie die Sprache es tut. Eine mit 18 | Vgl. Beate Kutschke: »Semiotische Grundlegung musikalischer Narration«, in: Musik und Narration. Philosophische und musikästhetische Perspektiven, hg. von Frédéric Döhl und Daniel Martin Feige, Bielefeld 2015, S. 193-225, hier S. 205.

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der Sprache nur annähernd vergleichbare, komplexe Semantik und Gram­ matik, die auch weit Entferntes oder lange Zurückliegendes darzustellen, Zeitdimensionen aufzufalten oder kausale und andere Dependenzbezie­ hungen zu markieren vermöchte, steht Klängen nicht zu Verfügung. Klänge können daher nicht angeben, was da klingt, sondern besten­ falls den Hörer darauf schließen lassen. Der geschulte Hörer mag wohl erkennen, welcher Gegenstand, welches Material oder welche Stimme er­ klingt (eben weil Klänge indexikalische Zeichen sind). Außer wenn es sich um Klangerzeugung im Hier und Jetzt handelt, bleibt dagegen offen, wann, wo und (wenn es nicht eine wiedererkannte Stimme ist) von wem ein (hier und jetzt reproduzierter) Klang erzeugt wurde. Sehr schwierig sind daher genaue raum-zeitliche Verortungen sowie die Markierung zeitlicher oder räumlicher Distanzen. Eine bestimmte historische Be­ gebenheit mit Datum und spezifischer Örtlichkeit vermögen sprachlose Klänge schon deshalb nicht zu repräsentieren, jedenfalls nicht als Klänge; die historische Zuordnung bleibt vielmehr die Aufgabe von Begleittexten. Übrigens haben Klänge dies mit der Photographie gemeinsam. Sollen Musik oder andere Klänge etwas darstellen, so müssen sie zuvor seman­ tisch bestimmt worden sein oder muss dies begleitend geschehen, sei es durch sprachliche Erläuterungen, sei es durch eine konventionelle Bin­ dung an bestimmte Verwendungssituationen, die dem Hörer bekannt ist. In diesem Sinne verweist beispielsweise die Melodie der Marseillaise auf die Französische Revolution oder Armee, falls der Hörer die Entstehungs­ geschichte des Liedes kennt oder im Programmheft zu einer Aufführung von Tschaikowskis Ouverture solennelle »1812« davon gelesen hat. Aber ist es für den geschulten Hörer nicht recht leicht, Barockmusik zu erkennen und dem späten 17. und 18. Jahrhundert zuzuordnen oder das Stampfen einer Dampfmaschine dem 19. Jahrhundert oder bestimm­ te Knistergeräusche einem Schallplattenspieler des frühen 20. Jahrhun­ derts? Dass für solche historischen Zuordnungen Vorwissen eingesetzt werden muss, würde zum vorhin skizzierten kognitivistischen Ansatz passen. Auch in einem solchen allgemeineren, von bestimmter RaumZeitlichkeit abgelösten Sinne, also in paradigmatischer Weise, vermögen Klänge, auf sich gestellt, jedoch keine Geschichte zu produzieren oder auch nur zu evozieren. Als indexikalische oder ikonische Zeichen – und weil es keine Klanggrammatiken gibt – sind sie nicht in der Lage, einiger­ maßen komplexe und zugleich klare Bedeutungen zu erzeugen. Narrative Strukturen vermögen sie daher nicht zu tragen.

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In der musikwissenschaftlichen Diskussion über die Narrativität, die sich Musikstücken zuschreiben lässt, ist das die Mehrheitsposition. Wer für die Möglichkeit von Narrativität in der Musik, und zwar auch in der ohne Textelemente aufgeführten Musik, argumentiert, hebt darauf ab, dass Rezipienten gerne narrative Deutungsschemata an Musik heran­ tragen, angestoßen entweder durch Titel und Abschnittsüberschriften (wie in Smetanas Moldau19 oder Strauss’ Alpensinfonie) oder, allgemeiner, durch kulturell eingeübte Rezeptionsgewohnheiten beim aufmerksamen Verfolgen eines Kunstwerkes, das sich auf der Zeitachse entfaltet.20 Sogar eine völlig programmlose Sinfonie oder Sonate kann man in diesem Sin­ ne wie eine Dramenaufführung rezipieren, mit Akteuren (unterschiedli­ chen musikalischen Themen und Tonarten etwa), Konflikten (deren kom­ positorischer Verarbeitung), Akten (den Sätzen der Sinfonie oder Sonate), Exposition und Finale, einem Auf und Ab der Handlung mit Stimmungs­ wechsel (z.B. vom Allegro con brio zum Adagio molto cantabile), erzeug­ ten Erwartungen und deren Enttäuschung oder Erfüllung usw. Zunächst irritierend ist vielleicht, dass es das mental eingespeicherte Modell des Dramas ist, das in solchen Fällen als Aufforderung zur Nar­ rativierung wirkt, doch handelt es sich um jene Strukturen des Dramas, die ebenso typisch sind für die narrative Handlungsstrukturierung.21 Ent­ 19 | Vgl. ebd., S. 198. Letztlich argumentiert Kutschke allerdings gegen die Narrativität der Musik, weil ihr die vermittelnde Erzählerinstanz fehle (vgl. S. 194). Diesen Punkt halte ich nicht für entscheidend. 20 | Vgl. Vincent Meelberg: New Sounds, New Stories. Narrativity in Contemporary Music, Leiden 2006, https://openaccess.leidenuniv.nl/handle/1887/27372 (abgerufen am 10.01.16) sowie Asmus Trautsch: »Orpheus, Till Eulenspiegel, Major Tom. Über die Möglichkeit musikalischer Narrative«, in: Döhl und Feige (Hg.), Musik und Narration, S. 85-110. Trautsch arbeitet, wie Meelberg, mit einem niedrigschwelligen Begriff von Narrativität und findet diese daher auch in der Musik, vgl. S. 94: »Die Eigenschaft, die sprachliche Narrative und Musik gemeinsam haben (können), ist der über die Zeit erschließbare, mehr oder weniger kohärente Zusammenhang von Ereignissen, bei dem die Anschlüsse musikalischer Ereignisse als gleichsam erzählend verstanden werden.« Trautsch übergeht, dass die Erzählung immer von etwas berichtet, etwas darstellt. 21 | Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1, aus dem Franz. von Rainer Rochlitz, München 1988, konnte daher seine Theorie der Geschichtserzählung im Ausgang von Aristoteles’ Poetik der Tragödie entwickeln.

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scheidend für unsere Fragestellung ist, dass man die musikalischen For­ men, die potentiell narrativ verarbeitet werden, schwerlich als Träger von Narrativität einstufen kann. Dafür ist ihre Fähigkeit, etwas darzustellen, zu schwach: »die fehlende Präzision der Referenz verhindert die Entfal­ tung einer für das Erzählen […] notwendigen, auf Spezifisches abzielenden Darstellungsqualität.«22 Geschichtenähnliche musikalische Formen stel­ len lediglich potentielle Inzentive der rezipientenseitig zu leistenden Narra­ tivierung dar.23 Hinsichtlich der uns interessierenden Frage nach Klängen als Geschichtsmedium – man beachte die Differenz zwischen ›Geschich­ ten‹ und ›der Geschichte‹ – kommt hinzu, dass selbst eine derart ange­ stoßene Narrativierung noch keine Historisierung ist, weil der konkrete Raum-Zeit-Bezug fehlt bzw. durch ein Symbolsystem (Schrift, evtl. Kar­ ten) ergänzt werden muss. Beethovens op. 91 z.B. (Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria) vermag ein Hörer, der die verarbeiteten Liedmelodien kennt, als einen britischen Sieg über die Franzosen zu verstehen, weil am Ende die britische Hymne erklingt. Für die ursprünglichen Hörer (Urauf­ führung am 13. Dezember 1813) war sie darüber hinaus als Darstellung der am 21. Juni desselben Jahres geschlagenen Schlacht bei Vitoria assoziierbar. Eine Geschichtsdarstellung wird das Musikstück gleichwohl erst durch seinen Titel und das Wissen, was in jener Schlacht geschah. Musik kann ein Gegenstand von Narrativierung und Historisierung sein, nicht aber deren Träger. Werden musikalische Klänge vom Rezipien­ ten narrativiert, so ist für einen darstellerischen Bezug auf Geschichte zusätzlich eine sprachliche, erzählförmige Erläuterung erforderlich. Eine Ausnahme bildet lediglich Musik, mit der bekanntermaßen bereits eine Geschichtserzählung verbunden ist (Stichwort Marseillaise); diese Er­ zählung wird beim Erklingen solcher Musik gewissermaßen zitiert, d.h. aus dem Wissen des Rezipienten abgerufen. Aber auch dieser Sonderfall ändert nichts an der semiotisch bedingten Unmöglichkeit klanglicher Geschichtsdarstellung, denn niemand, der die Herkunft der Marseillaise22 | Werner Wolf: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hg. von Vera Nünning und Ansgar Nünning, Trier 2002, S. 23-104, hier S. 93. 23 | Vgl. ebd., S. 83 im Gefolge von Jean-Jacques Nattiez: »Can One Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association 115 (1990), H. 2, S. 240-257.

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Musik nicht kennt, vermag sie der Französischen Revolution zuordnen (was aufgrund des Textes schon eher möglich wäre). Da Musik eine Weise der Klangerzeugung ist, die man als struktu­ rierter als alle anderen einstufen darf, gilt der musikwissenschaftliche Befund einer lediglich herangetragenen, nicht aber immanenten Nar­ rativität für andere Klänge vom Verkehrslärm bis zur Stimmmodula­ tion erst recht. Eine Geschichte oder von der Geschichte können Klänge nicht erzählen. Sie können sie lediglich – oder immerhin – aus einem Vorwissen abrufen, illustrieren und sinnlich eindrücklicher machen; sie können dieses oder jenes Detail hervorheben, mehr oder weniger deut­ liche Bewertungen vornehmen und Korrespondenzen, die nicht direkt benannt werden, herstellen, etwa durch die Wiederholung oder Variation bestimmter Klänge. All dies vermögen sie insbesondere in komplexen Arrangements, die sich auch der Sprache bedienen, die vergleichsweise problemlos sowohl auf Geschichte referieren als auch Geschichte narrativ erzeugen kann. Sprachlich-narrativ gerahmt, können Klänge sehr wohl Geschichtsmedien sein. Aber das ist nicht das hier zu diskutierende Pro­ blem. Der Träger der Geschichte bleibt notwendig ein Text.24

IV. E in akustisches G eschichtserlebnis ? Diese Feststellung ist keinesfalls als Einwand gegen die ›Klanggeschichte‹ zu verstehen, wie sie seit etwa der Jahrtausendwende von einigen Histo­ rikern betrieben wird.25 Dort werden Tondokumente als Quellen genutzt, 24 | Zum narrativen Potential unterschiedlicher Medien vom epischen Erzählen über Bilder(folgen) bis zur Musik vgl. das Schema bei Wolf: »Das Problem der Narrativität«, S. 96. In seinem grundlegenden Aufsatz taxiert Wolf überzeugend das unterschiedliche Narrativitätspotential der genannten Medien. Ihr Historizitätspotential korreliert damit, stellt jedoch einen eigens zu diskutierenden Punkt dar. Entscheidend dafür scheint – wie hier mit Bezug auf die Klänge und Musik argumentiert wurde – die Fähigkeit des jeweiligen Mediums zur raum-zeitlichen Verortung des Dargestellten. Über diese Fähigkeit verfügen auch Bilder nicht im selben Maße wie die Sprache. 25 | Als einführenden Überblick vgl. Jan-Friedrich Missfelder: »Der Klang der Geschichte. Begriffe, Traditionen und Methoden der Sound History«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 633-649.

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historische Klangsituationen rekonstruiert und Klänge als Faktor des his­ torischen Geschehens analysiert. Der Zugriff der Geschichtsforschung und ‑schreibung auf Klänge ist dabei aber stets ein textueller und tiefen­ strukturell narrativer. Der Sound History geht es um die Erforschung von historischen Klangverhältnissen, nicht um Klänge als Medium der Geschichtsdarstellung. Problematisch ist das nur, wenn die Leistungsfä­ higkeit des neuen Ansatzes überschätzt wird. Eine beliebte Formulierung lautet, er mache es möglich, »Geschichte zu hören«.26 Geschichtstheo­ retisch gesehen ist das eine nicht erfüllbare Verheißung, denn aus der Vergangenheit überlieferte Klangdokumente oder Tonaufnahmen histo­ rischer Persönlichkeiten konstituieren noch keine Geschichte. Dass das tragende Medium der Geschichte ein Erzähltext ist, sei an einem Beispiel vorgeführt, in dem akustische Phänomene sogar als Sinn­ träger angesprochen werden. Es handelt sich um einen kurzen Absatz aus der 1928 vollendeten Auto­bio­graphie des großen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931), die eine Episode aus der Vorge­ schichte des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71 zum Gegenstand hat. Kurz zuvor war die Emser Depesche mit dem Bericht über die Zu­ rückweisung des französischen Gesandten durch den preußischen König veröffentlicht worden, die Frankreich zur Kriegserklärung provozierte. Diesen Kontext erläutert Wilamowitz allerdings nicht, er setzt die Kennt­ nis davon vielmehr voraus und spielt mit der Angabe »14. Juli 1870: der Krieg in Sicht« im vorangehenden Absatz bloß darauf an. »Als eine meiner heiligsten Erinnerungen betrachte ich den Tag der Heimkehr König Wilhelms aus Ems. Ich blieb auf der Straße, stand am späten Abend mit der Menge vor dem Palais, die sich mit Hochrufen und Gesang nicht genugtun konnte, bis ein Adjutant auf den Balkon trat und um Ruhe bat, der König hielte Kriegsrat. Schweigend verlief sich die Menge. Der alte Preußenkönig, das alte Preußenvolk.« 27

26 | Peter Burschel: »Editorial«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 632; Daniel Morat und Thomas Blanck: »Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 703-726, hier S. 726. 27 | Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Erinnerungen. 1848-1914, Leipzig [1928], S. 99.

Geschichte – erzeugt, nicht gegeben

Es ist eine kleine, aber vollständige Geschichte, die Wilamowitz hier er­ zählt, mit einer jubelnden Menge vor dem Schloss zu Beginn und ihrem schweigenden Nachhausegehen am Schluss. Ein klares – und gerade auch akustisch klares – Vorher-Nachher mit in der Zeitfolge angegebener Ursache für den Umschwung von Laut zu Leise ergibt eine mustergülti­ ge narrative Struktur. Den Umschwung bewirkt ein Adjutant – und der »alte« Gehorsam des »Preußenvolks«, der so groß ist, dass eben nur ein Adjutant zu kommen braucht. Auf den Patriotismus und Gehorsam, den die Berliner hier zeigen, kommt es Wilamowitz offensichtlich an; deshalb nennt er diese Erinnerung, die ja kein folgenreiches Ereignis betrifft, eine seiner »heiligsten«. Da der preußische Gehorsam und Patriotismus nach Wilamowitz’ Ansicht und nachfolgender Erzählung wesentlich war für den Sieg im Krieg gegen Frankreich ebenso wie für die gute Ordnung des preußischen Staates im Allgemeinen, reicht die Bedeutsamkeit der kurzen Episode bis in die große Geschichte hinein. Ohne sprachlich-erzählerische Rahmung wären die mitgeteilten akustischen Eindrücke allerdings insignifikant. »Hochrufe«, »Gesang«, »Schweigen«, das ist eine Abfolge bzw. ein Schwinden von Klängen zwar nicht ganz ohne Bedeutung (›Verstummen‹ kann man assoziieren oder, unbestimmter noch, ›Ende‹), jedoch ohne verstehbare Folgerichtigkeit. Die mitgeteilten akustischen Eindrücke deuten eine Geschichte nicht ein­ mal an – und dasselbe würde gelten, wenn nicht nur von Eindrücken die Rede wäre, sondern wenn es tatsächlich etwas zu hören gäbe. Man kann sich wohl eine Geschichte dazu ausdenken, aber es liegt kein Geschich­ tenmuster (Plot) in unseren mentalen scripts dafür bereit, so dass die akustischen Phänomene auch keine bloß rudimentär explizierte und auf Ergänzung durch den Rezipienten angelegte Rumpfgeschichte bilden. Hochrufe, Gesang und Schweigen haben dem gerade promovierten und dann in den Krieg ziehenden Wilamowitz den patriotischen Gehorsam seiner Landsleute sinnlich eindrücklich gemacht. Von diesem Gehorsam und seiner Rolle als Geschichtsfaktor aber muss erzählt werden; er lässt sich nicht hören.

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V. K l änge als M edium persönlicher ›G eschichts ‹-E rinnerung Eine nicht bloß illustrative, sondern tragende Rolle spielen Klänge in Historiker-Texten typischerweise dann, wenn Situationen beschrieben werden, über die dem Autor nicht genug bekannt ist, um narrative Ver­ laufsstrukturen einziehen zu können. Ich zitiere die (nach dem Vorwort) ersten Sätze aus einem Buch des Mediävisten Friedrich Prinz (19282003): »Sehen, Hören und Riechen: Auge, Ohr und Nase hat die Natur zur Orientierung in der Welt mitgegeben, auch zu Schutz oder Angriff im Daseinskampf. Aber unsere Sinne schlagen auch Brücken in die Vergangenheit, öffnen deren Schatzkammern oder Verliese. Als Erinnerungen können sie Kräfte unserer Lebensgeschichte werden, ganz gleich, ob wir sie willentlich abrufen oder ob sie sich ohne unser Zutun wieder aufdrängen oder uns gar überwältigen.« 28

Derartig anthropologisch heben Historiker normalerweise nicht an. Es handelt sich denn auch – wieder, wie bei Wilamowitz – um eine Auto­ biographie. Das ist für Historiker die Gattung, in der sie aufs Elementa­ re, Einfache, Anfängliche zurückgehen (das Komplizierte der Welt und des Lebens kommt natürlich schnell dazu). Zum Elementaren rechnen sie die menschlichen Sinne und die Eindrücke, die diese vermitteln, und zwar besonders dann, wenn das sinnlich Wahrgenommene nicht Teil einer Geschichte oder gar der Geschichte ist, weil es sich um frühe, vage, punktuelle und zudem ganz persönliche Erinnerungen handelt, um viel sinnlichen Eindruck, aber wenig ordnende Beobachtung und Verstehen. Prinz fährt wie folgt fort: »In meinem Fall ist es etwas Schnee, früh gefallen, gleißend, fast schmerzend für das Auge. Ich sehe die vom Rauhreif gebeugten, grellweiß schimmernden Fichten und Tannen bei den endlosen Wanderungen mit Vater und Bruder im echolosen Tiefschnee auf der Hochebene von Hochdobern und Parlosa. Nur das Klappern der Skistöcke begleitete uns. Eine Sonne aus Weißgold; sie zauberte aus den Kristallen die Farben des Regenbogens. Ab und zu blaffte die Hündin Susi […]. Dann: Die 28 | Friedrich Prinz: Szenenwechsel. Eine Jugend in Böhmen und Bayern, München 1995, S. 10.

Geschichte – erzeugt, nicht gegeben

warme Gastwirtschaft, in der es nach Bier und Gulasch roch und auch Susi nahrhafte Knochen bekam, die sie am Flur knackte.« 29

Die dominanten Sinnesreminiszenzen sind optische, unterstrichen durch die Explikation »Ich sehe«. An der zitierten Stelle am schwächsten sind die olfaktorischen Erinnerungen mit dem Geruch von Bier und Gulasch. Geruchs- oder Geschmackserinnerungen funktionieren ›andersherum‹, wie wir von Marcels Madeleine-Erlebnis bei Proust30 her ›wissen‹ und wie es auch bei Prinz später deutlich wird: Sie drängen sich nicht aus der Ver­ gangenheit auf und lassen sich nicht willentlich abrufen, sondern führen unvermutet aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück, wenn sich ein Geruchs- oder Geschmackserlebnis (unvermutet) wiederholt.31 Da­ zwischen stehen die Klangphänomene, an die Prinz sich erinnert: das Klappern von Skistöcken, Hundeblaffen, das Knacken aufgebissener Kno­ chen, auch das Verschlucken des Schalls im »echolosen Tiefschnee«. Zu einer Narration fügen sich diese Klänge noch weniger zusammen als der Umschlag von Jubel in Schweigen, an den sich Wilamowitz erinnert. An Klangphänomene erinnern sich Prinz wie Wilamowitz als His­ toriker ihrer selbst. Ihr ›Geschichtsmedium‹ ist die Erzählung, genauer: die schriftsprachliche. In der mündlich vorgetragenen Erzählung wäre es nicht anders, ebenso wenig wenn O-Töne eingespielt würden oder in einer filmischen Darstellung. Die Benennung (oder Reproduktion) von Klängen hat in der Erzählung lediglich eine punktuell illustrative bzw. evokative Funktion. Meine These ist: Viel mehr ist aus semiotischen Gründen gar nicht möglich; die darzustellende Geschichtlichkeit von 29 | Ebd. 30 | Vgl. Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1: In Swanns Welt, aus dem Franz. von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 1979, S. 63-67. 31 | Die »Erinnerungskraft von Düften« bezeichnet Prinz als sein »eigentliches Erzählziel« (Prinz, Szenenwechsel, S. 12), gemeint ist die von aktuell wahrgenommenen Düften ausgelöste Erinnerung an dieselbe Wahrnehmung in der Vergangenheit und an die damalige Situation: »Jedesmal, wenn mir der warme Duft reifen Getreides in die Nase steigt, muß ich die Augen schließen: Dann bin ich wieder ein zehnjähriger Bub und in Rosendorf, im Elbsandsteingebirge.« (Ebd.) Die von Prinz beschriebenen Situationen sind offenkundige Kontrafakturen zu Marcel Prousts Madeleine-Erlebnis. Der Geruch hängt mit dem bei Proust so erinnerungsförderlichen Geschmack schon rein physiologisch zusammen.

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qualitativen und verstehbaren Veränderungen eines bestimmten Gegen­ standes in der Zeit können Klänge nicht tragen.

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Geschichte – erzeugt, nicht gegeben

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Klang und Wandel: Ein philosophischer Exkurs Erste Schritte zu einer Historiographie des Klangs Angela Grünberg »Die ganze Welt singt, aber wir hören nicht mehr zu.«1

In diesem Aufsatz frage ich, ob Klang jemals Nicht-Klangliches zum In­ halt haben kann beziehungsweise darstellen kann. Denn diese philoso­ phisch bearbeitbare Frage liegt der Frage, die die Konferenz stellt – wie Klang Träger und Ausdruck von Historischem sein kann – zu Grunde. Ich unterscheide zwischen der Bedeutung und dem Inhalt eines Klangs oder eines Sound-Datums.2 Ebenso unterscheide ich zwischen einem Klanginhalt, der beabsichtigt ist, und einem Klanginhalt, der sich ab­ sichtslos darstellt. Ich frage, welche Art von Sound-Datum für die Ge­ schichtsschreibung, deren Hauptquelle klangliche Materialien sind, be­ sonders wertvoll ist.

1 | Diese Worte wählte der Dokumentarfilmer Louie Psihoyos für seine Projektion am Abend des 20.09.2016 an der Wand des UN-Gebäudes in New York, um während eines UN-Klimagipfels auf das weltweite Massensterben aufmerksam zu machen. Vgl. Andreas von Bubnoff: »Die Symphonien der Natur«, in: FAZ.NET, http:// dynamic.faz.net/red/2015/klang/ (08.12.2015, abgerufen am 05.06.2018). 2 | Für unsere Zwecke verwende ich die Begriffe Sound-Datum und Klang-Datum in diesem Aufsatz synonym.

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I. E inleitung Klang stellt sich bekanntermaßen nicht nur musikalisch ein. Die Welt, die uns umgibt, ist voller Klänge: Man denke an das viele Ursachen ha­ bende Rauschen, Brummen oder Scheppern, das Klingen der Natur, das Singen der Vögel und das Schreien der Tiere. Doch auch wir – die Men­ schen – produzieren ständig Klänge. Wenn wir uns räuspern oder wenn wir husten, wenn wir stöhnen, wenn wir jauchzen oder einen Kiesweg he­ runter- oder herauflaufen; und wir manifestieren uns auch dann ›klang­ lich‹, wenn uns unsere Organe durch Geräusche verraten. Aber in erster Linie klingen wir (in nicht-muskalischer Form) durch unser Sprechen. Dass mit Sprache inhaltlich historische Materie und auch Historiogra­ phie – die Reflexion über die Geschichtsschreibung – dargestellt werden kann, steht außer Frage. Ob sich diese Zusammenhänge aber auch klang­ lich veranschaulichen lassen, ist Thema dieser Konferenz. Im Folgenden möchte ich dieser Frage mit philosophischen Mitteln nachgehen. Stel­ len wir uns also die Frage erneut: Können historische Zusammenhänge klanglich dargestellt werden? Oder, wie die Konferenz nachfragt: Können solche Inhalte durch Klang ausgedrückt oder transportiert werden? Wie wir im Folgenden sehen werden, betrifft diese Frage – wenn wir sie auseinandernehmen – sowohl den Klang oder Sound, der im musika­ lischen Kontext entsteht, als auch den Klang der Sprache selbst, das heißt den Klang, der durch das Sprechen von Sprache entsteht; und möglicher­ weise betrifft die Frage auch Klänge, denen wir im Alltag begegnen, und Klänge, die wir dort produzieren. Wieso behaupte ich das? Weil die Frage, der hier auf nützliche Weise mit philosophischen Mitteln nachgegangen werden soll, nicht die sein kann, ob Musik – damit meine ich sowohl so­ genannte ›Programmmusik‹ als auch das Musiktheater (Oper, Operette, Musical) – historisches Geschehen oder geschichtliche Narration auf ir­ gendeine Weise darstellen oder zum Thema haben kann. Unzählige Bei­ spiele aus der Musikgeschichte zeigen, dass dies fraglos möglich ist. Ich erwähne hier nur einige Beispiele – Verdis Oper Nabucco, deren Thema der Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten ist, Wagners Die Meistersinger oder Mieczysław Weinbergs Die Passagierin. Ob es sich bei diesen Beispielen um Legenden oder um künstlerisch verarbeitete geschichtli­ che Ereignisse handelt, ändert an unserer Frage oder an unserer darauf bezogenen Aussage nichts; denn diese Beispiele zeigen, dass historische

Klang und Wandel: Ein philosophischer Exkurs

Geschehnisse oder Narrative (seien sie tatsächlicher oder fiktionaler Na­ tur) Thema – und Inhalt – musikalischer Verarbeitung sein können. Wie sehr die Musik alleine (das heißt ohne Hilfe von Sprache und Regie) außermusikalische Zusammenhänge darstellen kann, also wie sehr außermusikalische Zusammenhänge (z.B. historische Geschehnis­ se oder Prozesse) Inhalt im Sinne von inhaltlichem Bezug von Musik sein können, ist keine neue Frage, sondern eine mit einer langen Geschichte. Die Philosophie der Musik hat darauf in ihrer Geschichte verschiedene Antworten gegeben – der gegenwärtige Konsens der (analytischen) Mu­ sikphilosophie ist, dass die Sprache der Musik (sofern wir hier von Spra­ che sprechen können) sich nicht im Sinne eindeutiger Bedeutungszuwei­ sung auf Außermusikalisches bezieht.3 Das soll unter anderem heißen, dass sich die symbolischen Bedeu­ tungsträger oder Zeichen der Musik (also die Notation von Musik) un­ gleich den Bedeutungsträgern der natürlichen Sprache4  – den Wor­ ten – nicht (direkt) auf Dinge in der Welt beziehen, das heißt, sie nicht bedeuten.5 Der Bezugscharakter der natürlichen Sprache auf eine Welt außerhalb seiner Zeichen ist das zentrale Merkmal von Sprache. Die Be­ deutung der Musik ist Musik. Ob und wenn ja, was Musik (im oben dar­ gelegten Sinn von außernotativem oder außersprachlichem Bezug) be­ 3 | Für eine relativ umfassende Behandlung dieser Fragen und ihrer Geschichte siehe z.B. Roger Scruton: The Aesthetics of Music, New York 1997, insbesondere Kapitel 5, 6 und 7. Darin unterscheidet Scruton richtigerweise zwischen ›Darstellung‹ (representation), ›Ausdruck‹ (expression) und ›Bedeutung‹ (meaning) Vgl. Kapitel 5 »Representation«, S. 118-139; Kapitel 6 »Expression«, S. 140-170; Kapitel 7 »Language«, S. 171-210. 4 | Der Begriff der ›natürlichen Sprache‹ oder der ›natural language‹ ist ein technischer Begriff in der Sprachphilosophie und der Semantik; der Begriff bezieht sich auf die verschiedenen ›natürlichen‹ Sprachen, die sich im Laufe der menschlichen Geschichte durch Gebrauch entwickelt haben – also Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und so weiter. 5 | Für eine meisterhafte Analyse des Symbolcharakters der natürlichen Sprache und des damit zusammenhängenden Darstellungs- und Kommunikationspotentials von Sprache siehe Gottlob Frege: »Der Gedanke. Eine logische Untersuchung«, in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus, Erfurt 1918, S. 58-77; oder ders.: »The Thought: A logical inquiry«, in: Mind 65 (Juli 1956), H. 259, S. 289-311.

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deutet, ist bereits eingehend philosophisch diskutiert worden und soll uns hier nicht weiter beschäftigen.6 Ob andere Bestandteile der Musik – z.B. die Dynamik, die Pausen und nicht zuletzt die Interpretationsfreiheit der Darbietenden – einen Bezug zu nicht-musikalischen Geschehnissen oder Tatsachen herstellen können, ist – unter der fortgesetzten Annahme, dass es der Sprache der Musik nicht selbst gelingt – sowohl eine andere Frage als auch eine mit einer weniger klaren Antwort.7 Bezüglich der Frage, inwieweit eine Verbindung zwischen Musik und Geschichtsdarstellung aufgebaut werden kann oder mit außerklanglichen Mitteln herzustellen ist, ist aber auch zu beachten, dass Musik nicht gleich Klang ist. Die Welt der Klänge ist viel weiter. Und somit würde eine bloße Antwort bezüg­ lich der außermusikalischen Darstellungsmöglichkeiten der Musik das gesamte Spektrum des nicht-musikalischen Klangs außer Acht lassen. Auch deshalb müssen wir uns die hier zu untersuchende Frage er­ neut stellen: Kann Klang – ein metaphysischer Gegenstand, der über die Musik hinausgeht und der uns in unserem Alltagsleben ständig begeg­ net – Außerklangliches, das heißt Nicht-Klangliches darstellen? Das ist die interessante und wichtige Frage, die diese Konferenz stellt. In diesem Aufsatz werde ich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten; schauen wir uns also an, wie wir zu dieser Antwort gelangen.

6 | Vgl. auch Fußnote 3. Es gibt eine Reihe von Philosophen, die – im Grunde zurückzuführen auf Saussure – die Ansicht vertreten, dass das zentralste Charakteristikum der Sprache ist, ein System von Zeichen zu sein, und dass Bedeutung (der Bezug auf etwas außerhalb des Zeichensystems) von der Struktur der Zeichen abzuleiten sei. Bedeutung wohne in der Struktur eines Systems. Diese Argumentationslinie trifft bezogen auf Sprache auf viele Probleme, und wie Scruton zeigt, funktioniert diese Argumentationslinie auch nicht wirklich, um der Musik eine außermusikalische Bedeutung abzugewinnen. Vgl. Scruton, The Aesthetics of Music, S. 173-199. 7 | Es ist auch eine Frage, auf die eher Theaterwissenschaftler, Musikwissenschaftler und Musikhistoriker eine Antwort geben können; es ist eine Frage, die eher nach einer empirischen Antwort verlangt als nach einer konzeptuellen.

Klang und Wandel: Ein philosophischer Exkurs

II. W as also k ann unsere F r agestellung sein ? Wie bereits erwähnt, ist die indirekte Darstellung außermusikalischer Bezüge (wie geschichtliche Ereignisse und möglicherweise sogar his­ torische Prozesse) in der Musik mithilfe der Repräsentationskraft von Sprache und Regie sowie mithilfe der emotionalen Assoziationskraft von Musik 8 und anderen Mitteln in einer assoziativen, aber nicht in einer de­ signierenden oder direkt verweisenden Weise möglich. Wie wir auch ge­ sehen haben, beziehen sich die Sprache der Musik und ihre Bestandteile nicht selbst auf Gegenstände, Eigenschaften oder Prozesse in der außer­ musikalischen Welt.9 Wie also ist ein Weltbezug von außermusikalischem Klang zu ver­ stehen? Um die Frage nach der Möglichkeit, dass Geschichte, also außer­ musikalische Zusammenhänge, durch Klang ausgedrückt werden kann, zu beantworten, müssen wir, wenn auch nur ansatzweise, die Frage nach einer möglichen Bedeutung oder einem möglichen Bezug von außer­ 8 | Es ist mir bekannt, dass die These, Musik drücke Emotionen aus oder verweise auf sie, umstritten ist. Dennoch: Musik löst sicherlich viele Emotionen aus, es ist also in diesem Sinne nicht umstritten, von einer Assoziationskraft zu sprechen. Unsere Argumentationslinie in diesem Beitrag basiert aber ohnehin weder auf der These, Musik drücke Emotionen aus, noch auf der These, Musik hätte eine Assoziationskraft. Für den bekanntesten Einwand gegen die These, dass Musik Emotionen darstelle, siehe Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854. 9 | Es gibt viele Arbeiten und zahlreiche Positionen zur Frage, ob Musik eine Bedeutung im Sinne von außermusikalischer Referenz hat. Ich habe in Fußnote 6 bereits auf die Ansätze verwiesen, die von Saussures Vorschlag ausgehen, dass jedes Zeichensystem eine Bedeutung hat. Die zentrale Behauptung dieses Ansatzes ist, dass das Vorhandensein von Struktur eine Zuschreibung von Bedeutung ermöglicht. Hier sollte aber zwischen dem Sinn von Bedeutung als ›aufzeigen‹ unterschieden werden (wie in dem Satz: »Dass er jetzt wieder Fieber hat, bedeutet (d.h. zeigt auf), dass die Medikamente nicht wirken«) und dem Sinn von Bedeutung, der der natürlichen Sprache innewohnt – nämlich, dass Worte und Sätze auf Gegenstände, Tatsachen oder Sachverhalte verweisen; also, dass ihre Bedeutung das ist, worauf sie sich außerhalb eines Systems von Zeichen beziehen. Id est, die Bedeutung des Wortes ›Hund‹ ist das, worauf sich das Wort bezieht, nämlich diese Art von vierbeinigem Säugetier, das wir als Hund bezeichnen.

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musikalischem Klang verstehen. Denn das, was etwas darstellt, ist ge­ wöhnlicherweise sein Inhalt oder seine Bedeutung. Wie also können wir zu einer affirmativen Antwort – nämlich zur Position, dass Klang NichtKlangliches darstellen kann – gelangen? Das, was Klang ist – möglicherweise das, was Klang ontologisch ist –,10 wird uns erlauben, die hier gestellte Frage – nämlich die Frage, ob Klang Außermusikalisches ›aus sich heraus‹ ausdrücken kann – positiv zu be­ antworten. Ein Medium (z.B. Schrift, Bild, Musik, Sound, die Welt der Natur) ist etwas, das einen Inhalt darstellen kann. Die Vorstellung, dass ein Medium nur eine kommunikative Absicht (oder eine Darstellungs­ absicht) repräsentieren kann, ist meines Erachtens falsch. Jedes Medium stellt in erster Linie auch seine eigenen Eigenschaften oder Charakteris­ tika dar – eben das, was es ist. Außerdem ist, wie wir noch sehen werden, Darstellung nicht gleich Bedeutung, und Bedeutung nicht gleichzuset­ zen mit kommunikativer Absicht.

III. E ine H istoriogr aphie des K l angs – was ist das ? Ich möchte mich in dieser Arbeit also der Frage widmen, wie wir uns eine Historiographie des Klangs vorzustellen haben. Ich nehme an, dass das Medium Klang im Zentrum einer solchen Historiographie stehen wür­ de. Und zwar in dem Sinne, dass eine derartige Historiographie solche Sound-Daten privilegieren würde, die etwas zu Tage führen, was sonst im Verborgenen geblieben wäre. Das heißt, dass uns solche Klang- oder Sound-Daten etwas über die Vergangenheit beziehungsweise über einen bestimmten historischen Gegenstand zeigen könnten, das ohne sie – ohne eine Darstellung im Klang – nicht zugänglich wäre. Wir können also weiterhin sagen, dass eine Historiographie des Klangs – eine Geschichtsschreibung, die entweder ausschließlich oder in erster Linie mit Klang-Daten vorgeht – darauf abzielt, Wissen zu gene­ rieren über:

10 | Aber nicht notwendigerweise. Unser Argument ist nicht davon abhängig, ob die Merkmale des Klangs, auf die ich mich hier stütze, den ontologischen Charakter von Klang ausweisen. Ob sie das tun, müsste in einer weiteren Arbeit untersucht werden.

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a. eine bestimmte Zeitperiode/einen historischen Gegenstand; und/ oder b. das Medium Klang als bevorzugtes oder gar primäres Transport- oder Darstellungsmedium für historisch Relevantes. Zu diesem Zweck unterscheide ich zwischen Sound-Daten, deren Inhalt – das heißt das, was sie darstellen – absichtslos ist; und Sound-Daten, deren Inhalt zu einem großen Teil durch die bewusste Absicht des Klangprodu­ zenten11 (Sprecher, Musiker oder Komponist) bestimmt ist. Ich frage, wel­ che Art von Sound-Datum uns besonders viel über das Medium Klang als Träger von historischem Material verraten kann, auch in dem Sinne, dass das Medium Klang als bevorzugtes oder primäres Darstellungsmedium für Historisches (oder Nicht-Klangliches) in Erscheinung tritt. Unser Ansatz – der danach fragt, wie das Medium Klang etwas NichtKlangliches zum Inhalt haben oder ausdrücken kann – hat den weite­ ren Vorteil, die Verbindung oder Beziehung zwischen Klanglichem und Nicht-Klanglichem von Grund auf zu betrachten und zu erhellen. Die­ ser Blickwinkel ermöglicht uns, die Verbindung zwischen historischem Material oder historischen Prozessen (Nicht-Klangliches), einerseits, und Klang, andererseits, in ihrer grundlegendsten und engsten Weise zu ver­ stehen. Denn, wie wir gesehen haben, ist die Frage nach der Möglichkeit und Art, wie Klang Historisches darstellen kann, eine Frage danach, wie das Medium Klang Nicht-Klangliches darstellen oder zum Inhalt haben kann. Die Vorteile dieses Ansatzes gelten auch, wenn man die Möglich­ keit anerkennt (was ich in diesem Aufsatz nicht tue), dass musikalische Klänge (möglicherweise) einen außermusikalischen Bezug oder Verweis haben könnten.12

11 | Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich auf die weibliche Form. Das impliziert keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral verstanden werden. 12 | Vgl. Abschnitt I. Einleitung. Wenn man diese Möglichkeit anerkennt, was ich nicht tue, könnte man versuchen, auch den nicht-klanglichen Inhalt von nicht-musikalischen Klängen auch auf diesem Weg zu erklären.

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IV. A rten von S ound -D aten Ein Ziel dieses Aufsatzes ist, danach zu fragen, welche Art von SoundDaten uns die innigste oder grundlegendste Verbindung zwischen Klang und außerklanglichen Entwicklungen (oder Gegenständen oder Tatsa­ chen) aufzeigen kann. Zu diesem Zweck unterscheide ich zwischen einem Sound-Datum, das die Vergangenheit absichtslos darstellt, und SoundDaten, deren ›Inhalt‹ – das, was sie darstellen – zu einem großen Teil durch die bewusste Absicht des Klangproduzenten (Sprecher, Musiker oder Komponist) bestimmt ist. Wie sollen wir uns Sound-Daten vorstel­ len, deren Inhalt – das heißt das, was sie darstellen – absichtslos ist? Ein Fossil stellt das, was es darstellt, absichtslos dar. Bei einem Fossil ergibt sich der (dargestellte) Inhalt nur durch ein Zwischenspiel von Medium (geologische Formation) und Gegenstand oder Sachverhalt (z.B. etwas Vergangenes), das es darstellt. Wie ich im Folgenden zeigen werde, gibt es Sound-Daten, die in dieser Hinsicht einem Fossil gleichen; das heißt, ihr Inhalt ergibt sich ausschließlich durch ein bloßes Zwischenspiel von ›Medium‹ (Klang oder Hörbarem) und dargestelltem Gegenstand. Weshalb sind solche Arten von Sound-Daten für eine Historiographie des Klangs besonders interessant? Weil in dieser Art von Fall ›das Vergan­ gene‹ direkt dargestellt wird, das heißt der Inhalt des Sound-Datums – das, was es darstellt – ist in solchen Fällen etwas direkt an das Ufer unserer Gegenwart Angeschwemmtes: Wir hören das ›Vergangene‹ in Form sei­ ner Umstände oder Gegenstände selbst. In dieser Art von Sound-Datum präsentiert sich das ›Vergangene‹ in Form seiner Gegenstände oder Um­ stände direkt im Medium Klang. Diese Art von Sound-Datum ist zu unterscheiden von einem SoundDatum, in dem eine bestimmte Position zu einer Vergangenheit darge­ stellt wird. In den folgenden Abschnitten dieses Aufsatzes versuche ich diese Unterscheidung weiter auszuarbeiten und zu illustrieren. Die Se­ mantik unterscheidet die grammatische Form eines Satzes von seinem Inhalt. Normalerweise ist die Bedeutung eines Satzes dessen Inhalt. Die Metapher des Fossils zeigt uns die Möglichkeit eines Inhalts auf, der von niemandem intendiert ist: ein Inhalt, der sich ausschließlich aus dem Zusammenspiel von Medium (Klang) und Prozess ergibt. Die Metapher und das Beispiel des Fossils verdeutlichen, wie sich eine vergangene Le­ bensform (z.B. ein Gegenstand aus der Vergangenheit) in den Klang ›ein­ geschrieben‹ haben kann. Wie also transportiert oder stellt das Medium

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Klang ›Vergangenes‹ dar? Oder anders formuliert: Wie ist das Medium Klang dazu in der Lage, Nicht-Klangliches darzustellen? Wir haben be­ reits festgehalten, dass die Darstellung außermusikalischer Bezüge so­ wie geschichtlicher Geschehnisse oder Prozesse durch Klang mithilfe der Repräsentationskraft von Sprache oder der emotionalen Assoziationskraft von Musik in einer bestimmten Art und Weise möglich ist. Wir wissen auch, dass Musik ebenso dazu in der Lage ist, außermusikalische Ge­ schehnisse und Geräusche nachzuahmen. Wieder ist es uns möglich, dafür viele Beispiele aus der Musikgeschichte anzuführen: denken wir nur an das rhythmische Schlagen des Ambosses durch Mime oder den auskomponierten Vogelgesang im Siegfried oder an die musikalische Charakterisierung verschiedener Tierarten in Sergei Prokofjews musika­ lischem Märchen Peter und der Wolf.13 Ist die Imitation außermusikalischer Geräusche oder Klänge ein Weg, auf dessen Grundlage die Darstellung von historischer Materie im Klang (auf allgemeinerer Ebene) konzipiert werden kann? Leider nein. Denn erstens würden solche ›außermusikalischen‹ Klänge, wenn sie Teil einer 13 | In der modernen Musik finden sich oftmals Aufnahmen – oder kompositorische Repräsentationen – von außermusikalischen Geräuschen. Dies könnte als Möglichkeit gelten, wie Musik außermusikalische Geschehnisse, einschließlich solcher historischer Natur, direkt darzustellen vermag. Dagegen könnte man argumentieren, dass solche Aufnahmen, wenn sie Teil der Musik sind, tatsächlich Musik würden, und somit keinen außermusikalischen Bezug im Sinne von Bedeutung oder Designation mehr darstellten. Dazu kommt die bereits erwähnte grundlegende Problematik, dass musikalischer Klang keinen außermusikalischen Bezug im Sinne von Bedeutung hat. Der Philosoph Peter Kivy argumentiert für das Gegenteil. Für ihn ist sowohl die Imitation von ›nicht-musikalischen‹ Geräuschen in der Musik (z.B. Vogelgesang oder das Rattern eines Zuges) als auch eine scheinbare Ähnlichkeit (resemblance), wenn sie in der Musik vorkommt, zwischen musikalischem Klang und außermusikalischem Geräusch Begründung seiner These, dass Musik Außermusikalisches darstellen kann. Peter Kivy: Sound and Semblance: Reflections on Musical Representation, Ithaca, NY 1991. Für eine kritische Auseinandersetzung mit Kivy siehe Scruton, The Aesthetics of Music, S. 122127, 129, 131, 153f. und Stephen Davies: Musical Meaning and Expression, Ithaca, NY 1994, S. 79-122. Auch wenn wir Kivys Argument annehmen sollten, bleibt die zentrale Frage nach dem Bezug oder dem dargestellten Inhalt von nicht-musikalischen Klängen wie Alltagsgeräuschen bestehen.

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Komposition sind, auch zu Musik werden, also zu künstlerischem Aus­ druck, und gälten somit nicht mehr als direktes Ausdrucksmedium in dem oben dargelegten Sinne für Nicht-Klangliches, wie geschichtlichen Wandel oder geschichtliche Prozesse. Zweitens, und viel schwerwiegen­ der, betrifft eine Imitation außermusikalischer Klänge in der Musik nicht die Frage, die ich hier stelle, nämlich die nach dem Verhältnis von his­ torischen oder, allgemeiner formuliert, von in erster Linie nicht-klang­ lichen Geschehnissen zum Medium Klang als außermusikalischem, also allgemeinem Phänomen. Wie also ist oder wird das Medium Klang zum Träger, zum Ausdrucksträger für Nicht-Klangliches, sei es gegenwärtiges oder vergangenes?

IV.1 Alltagsgeräusche Ein aufmerksamer Leser könnte auf die von uns gestellte Frage einwenden, dass die meisten nicht-klanglichen Geschehnisse unentwegt Sound-Spu­ ren hinterlassen, die Verbindung zwischen Klanglichem und Nicht-Klang­ lichem folglich aus diesem Grund in keiner Weise mysteriös ist! Und dass dies also der Weg ist, um eine Verbindung zwischen Nicht-Klanglichem und Klanglichem aufzubauen. Ist das möglich? Die Ursache oder den kausalen Auslöser einer Sound-Spur als argumentativen Weg und als Ver­ bindung zu seinem Inhalt zu sehen, also zu dem, was der Klang darstellt, scheint tatsächlich eine Möglichkeit zu sein; und dieser Weg hat in der Sprachphilosophie (die die Bedeutung und den semantischen Inhalt von Sprache und Gesagtem theoretisch zu verstehen versucht) möglicherweise eine Grundlage in Gareth Evans’ Theorie der kausalen Bedeutung.14 Aber können solche Sound-Daten als aufschlussreiche Träger oder Quellen für ein mögliches historisch relevantes Wissen gelten? Die Ant­ wort ist: möglicherweise; es hängt davon ab, ob das, was diese KlangDaten ausdrücken – ihr Inhalt – über einen Verweis auf ihre Ursache hinausgeht, wenn sie von einem geschulten Hörer analysiert werden. Was meine ich damit? Wenn wir danach fragen, worauf sich die Klang-Spu­ ren aller möglichen Geschehnisse – also die vielen Alltagsgeräusche, die uns umgeben – beziehen, was sie also bedeuten, ergibt sich die Antwort, dass sie (zumeist) nur auf ihre Ursache verweisen. Welche Bedeutung (also 14 | Vgl. Truth and Meaning: Essays in Semantics, hg. von Gareth Evans und John McDowell, Oxford 1976.

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welchen semantischen Inhalt) hat z.B. das Rattern eines Zuges oder das Zuschlagen einer Tür, wenn diese Sound-Sequenzen nicht Teil einer mu­ sikalischen Komposition sind? Außer dem Verweis auf ihre Ursache – das Zuknallen dieser Tür und das Vorbeirattern dieses Zuges – enthalten sie kei­ nen weiteren semantischen Inhalt und stellen somit nichts Weiteres dar. Unter welchen Umständen aber können solche Sound-Daten von All­ tagsgeräuschen mehr als einen bloßen Verweis auf ihre Ursache darstel­ len und uns ein Mehr an Wissen bieten? Dann, wenn sie sich sinnvoll mit anderem Wissen kontextualisieren oder in Verbindung bringen lassen. Z.B. wäre die Aufnahme des Sounds eines Kanonenschusses aus der Zeit der französischen Revolution streng genommen nur das: ein Sound, der auf seine Ursache hinweist. Vergleichen wir aber diesen Sound mit ande­ ren Sounds von Kanonen – z.B. dem Sound heutiger Kanonen – könnte man möglicherweise eine Menge über die Beschaffenheit einer Kanone aus dem Jahr 1789 und unter Umständen sogar über ihren Standort zum Zeitpunkt des aufgenommenen Kanonenschusses sagen. Andere Beispie­ le wären das einer remodellierten Kanone aus alten Zeiten, die ihren al­ ten Klang nicht abstreifen kann; oder das einer Sprechstimme, die ihren alten Klang – Spur der Verortung in einer anderen Zeit – nicht abstreifen kann. All dies wären klangliche Spuren, denen ein geschulter Hörer oder Praktiker der Historiographie des Klangs nachgehen könnte. Folgen wir an diesem Punkt der Ausführung lose der Metapher des Fossils bezüglich der Frage, was uns jene Klangspur über den Ort oder den Prozess seiner Entstehung verraten kann, sehen wir, dass viele Alltagsgeräusche, die uns umgeben, möglicherweise eine Quelle historischen Wissens sein können. Wir halten also weiterhin fest, dass auch Klänge, die beim ersten Hö­ ren scheinbar nur auf ihre Ursache hinweisen, ein Mehr an Inhalt und Bedeutung bergen können, wenn: a. sie von einem geschulten Hörer entziffert und mit anderem relevan­ ten Wissen kontextualisiert werden; und/oder b. sich möglicherweise eine ›vergangene Lebensform‹ in solche Klänge eingeschrieben hat, die sich im Klang ›absichtslos‹ darstellt, wie das bei einem Fossil der Fall ist. In dieser Art von Fällen ergibt sich der Klanginhalt ausschließlich aus einem Zwischenspiel von Medium (Klang) und dargestelltem Gegenstand (z.B. vergangener Lebensform), also eben ohne Absicht eines Klanghan­

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delnden. Ein solcher Ansatz (und Fokus) legt den Blick auf die Beschaf­ fenheit des Mediums Klang frei und zeigt uns, wie dieses Medium ›die Vergangenheit‹ aus sich alleine heraus darzustellen vermag. Auf diese Art von Fällen werde ich im zweiten Teil dieses Aufsatzes noch detaillierter eingehen.

IV.2 Fälle mit intendiertem Klanginhalt Wenden wir uns nun den Fällen zu, in denen der Inhalt eines KlangDatums beabsichtigt ist. Mit welcher Art von Fall haben wir es hier zu tun? Wie also steht es mit einem Klanginhalt, der sich weder absichts­ los darstellt, noch auf die Ursache des Klangs verweist? Es sind solche Fälle, in denen ein Sprecher oder Musizierender, ein Komponist oder ein Dirigent den Klang, der seine Klanghandlung ausmacht, bewusst intendiert. Zu einem bestimmten Teil kann auch der Klang von Alltags­ geräuschen dazugehören, aber nur dort, wo der Klanghandelnde durch seine Handlung bewusst den Klang erzeugen will, der durch ihn entsteht (z.B. jemand, der bewusst das Geräusch des Knallens eines Balles gegen eine Wand erzeugen möchte und dazu einen Ball gegen die Wand kickt). Können solche Fälle ›Vergangenes‹ oder Geschehnisse nicht-klanglicher Natur ausdrücken? Um diese Frage philosophisch brauchbar zu machen, müssen wir fragen, ob ein Klanghandelnder Nicht-Klangliches mit Absicht in einem Klang ausdrücken kann. Bezüglich des Komponisten lautet die Antwort auf diese Frage ein­ deutig ja. Denn in den Prozess der Komposition fließen alle möglichen Erfahrungen nicht-klanglicher Natur, die der Komponist im Laufe seines Lebens gemacht hat, ein. Ob und wie genau jene dann als Absicht klang­ licher Natur in den Klanginhalt einfließen oder sich darstellen, muss hier nicht geklärt werden und ist vielleicht, aus verschiedenen Gründen, im Einzelnen nicht zu klären. Was den Status der Komposition als Musik angeht, ist dies sicherlich eine uninteressante, wenn nicht sogar irrele­ vante Frage. Die Frage, die wir uns im Zusammenhang mit der Frage der Verwertung von Sound-Daten mit intendiertem Klanginhalt stellen müssen, ist, wie sehr sich im Fall von musikalischen Kompositionen der nicht-klangliche Bezug aus dem Klang-Datum ablesen lässt, um für eine Historiographie verwendbar zu sein. Wenden wir uns dem Fall des Sprechenden zu – also Fällen, in denen ein Sprecher den Klang der Sprache nutzt, um mit Absicht etwas Nicht-

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Klangliches darzustellen. Welche Arten von Sound-Daten sind das? Eine Vielzahl an Beispielen fällt uns hier ein, denn wir nutzen Sprachklang dauernd, um damit Nicht-Klangliches auszudrücken: z.B. Ärger, Freude, Wut, Vorsicht und vielerlei Einstellungen (attitudes) mehr. Dass Intona­ tion einen Teil der Bedeutung des Gesagten ausmacht, ist bereits in der Theorie der Sprechakte thematisiert worden15 und hat kürzlich auch Ein­ gang in die Bedeutungstheorie im engeren Sinne gefunden.16 Wir können also festhalten, dass der bewusst intendierte Klang, in dem semantischer Inhalt vorgetragen wird, zusammen mit dem inhärent verweisenden Cha­ rakter der Sprache Bestandteil der Bedeutung des Gesagten ist und in diesem Sinne Nicht-Klangliches darstellen kann. Aber wie sehr kann dieser bewusst intendierte Sprachklang Vergangenes beziehungsweise historisch Relevantes zu Tage führen? Die gängige Verwendung von Klang zum Ausdruck von Gemütszuständen scheint da­ für z.B. nicht geeignet zu sein, außer: a. der (Sprach-)Klang deutet selbst auf einen ästhetischen oder kulturel­ len Wandel hin; oder (und das ist meines Erachtens die interessantere Kategorie) b. der Klang transportiert selbst eine ›vergangene Lebensweise‹, die er so an die Ufer unseres Bewusstseins schwemmt. In diesem Fall ist der (Sprach-)Klang tatsächlich eine Grube möglicher historischer Fund­ schätze, wenn wir richtig hinhören und das Gehörte einordnen kön­ nen. In diesem Fall stellt sich ›die vergangene Lebensweise‹ im Klang absichtslos dar. Sie wurde sozusagen vom Sprachklang konserviert. Ähnlich dem Fall des Fossils, dessen Medium ebenso ›eine vergange­ ne Lebensweise‹ (oder Daseinsform) ›konserviert‹. Wenden wir uns jedoch zunächst der ersten Kategorie der Fälle zu.

15 | John Langshaw Austin: How to Do Things with Words, Oxford 1955; Angela Grünberg: »Saying and Doing. Speech Actions, Speech Acts and Related Events«, in: European Journal for Philosophy 22 (2014), H. 2, S. 173-199. 16 | Vgl. Daniel Büring: »Focus and Intonation«, in: The Routledge Companion to the Philosophy of Language, hg. von Gillian Russell and Delia Graff Fara, New York 2015, S. 103-115.

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IV.3 Wertewandel Klanglicher Wandel, sowohl im musikalischen als auch im sprachlichen Bereich, erfolgt oftmals aufgrund eines sich auch unabhängig (vom Klang) darstellenden Wertewandels. Sich wandelnde Werte sind sowohl Teil als auch Konsequenz gesellschaftlichen oder politischen Wandels. Ein Beispiel aus dem Bereich der Sprache ist die sich ändernde klangliche Artikulation der Nachrichtensprecher der BBC. In den 1940er Jahren war eine sehr gestutzte (clipped) Artikulation die Norm. Diese lockerte sich zunehmend, in Erwiderung auf sich verändernde soziale Werte. Beispiele aus dem Bereich der Musik, in denen ein Wertewandel zu einem anderen Klangverständnis führte, lassen sich zahlreich anführen. Die Musik- und Sozialgeschichte zeigt auch, dass ein sich wandelndes Klangverständnis außermusikalische gesellschaftliche Veränderungen sowohl auslösen als auch unterstützen kann; also, dass die Kette der Kausalität auch in die an­ dere Richtung geht (von Musik oder Klang zu gesellschaftlichem Wandel). Wie verhält es sich mit solcher Art von Fällen? Wie wertvoll sind sie für die Geschichtswissenschaft? Bringen sie ›Vergangenes‹ oder Geschichte (beziehungsweise nicht-klangliche Prozesse, Tatsachen oder Umstän­ de) direkt zum Ausdruck? Oder drückt diese Art von Klang jemandes Position zu Nicht-Klanglichem aus? Das heißt, jemandes Benutzung von Klang, um etwas Nicht-Klangliches auszudrücken? Die Fälle, in denen ein Klanginhalt intendiert ist, sind Fälle, in denen jemand Klang nutzt, um etwas Nicht-Klangliches auszudrücken. Die Fälle, in denen der Klang­ inhalt nicht intendiert ist, sind Fälle, in denen sich das Vergangene direkt im Klang darstellt – ohne Intervention einer spezifischen Subjektivität.17 Wie wertvoll also sind die Fälle, die einen Wertewandel ausdrücken oder 17 | Ich möchte betonen, dass die Geschichtsschreibung – also das Produkt der wissenschaftlichen Disziplin des Darstellens und Verstehens von Vergangenem – meines Erachtens in keiner Weise den Status des ›Subjektiven‹ hat, obwohl sie zu den ihr vorliegenden primären und sekundären Quellen natürlich die gelehrte Einnahme ›einer Position‹ (des Erklärens und Verstehens) darstellt. Überspitzt formuliert: Der epistemologische Status der Geschichtsschreibung ist nicht ›subjektiv‹, obwohl der Inhalt der Geschichtsschreibung sich nicht ›absichtslos‹ darstellt. Für eine exzellente Analyse und Erläuterung der Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen ›objektiv‹ und ›subjektiv‹ siehe Gideon Rosen: »Objectivity and Modern Idealism: What is the Question«, in: Philosophy in Mind, hg. von John O’Leary-

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anzeigen, für die Geschichtswissenschaft? Z.B. hat die Lockerung sozia­ ler Konventionen in den 1960er  Jahren bei den Nachrichtensprechern der BBC, aber auch allgemeiner, zu einer weniger steifen Intonation im Sprachklang geführt. Aber was kann der Historiograph des Klangs aus solchen Sound-Daten Zusätzliches (entweder über das Medium Klang als Träger von Historischem oder über den jeweiligen Forschungsgegen­ stand) herauslesen? Was sich ablesen lässt, ist das Niederschlagen eines sich auch bereits anderswo manifestierten Wertewandels im Klang. Ich möchte an dieser Stelle auf jene Art Fälle hinweisen, in denen die Wahrnehmung geschichtlichen Wandels (oder der damit verbunde­ nen sozialen Prozesse) bereits Ausdruck in einem Wertewandel gefunden hat, der erst dann – durch entsprechendes Annehmen und Befolgen der veränderten Werte – im Klang (sozusagen derivativ oder in zweiter Hand) ausgedrückt wird. In solchen Fällen könnten wir zwar von einem Aus­ druck sozialer Veränderung (also einem historischen Prozess) im Klang sprechen, aber wir könnten nicht von einem (in unserem Sinne) bevor­ zugten oder direkten Ausdruck historischer Prozesse oder außerklang­ licher Entwicklungen im Klang sprechen. Solche Fälle würden uns also nichts Spezifisches oder Kennzeichnendes über Klang und seine Verbin­ dung beziehungsweise sein – wenn vorhanden – inhärentes Verhältnis zu historischen Entwicklungen außerklanglicher Natur sagen. Und es ist ja diese Kategorie von Fällen, die, so meine ich, für eine Historiographie des Klangs von besonderem Interesse ist. Wie steht es mit den Fällen, in denen ein neues Klangverständnis (da­ mit meine ich ein verändertes Bewusstsein oder Verständnis, wie etwas  – sowohl etwas Musikalisches als auch etwas Sprachliches – zu klingen hat) einen weitergehenden sozialen (oder politischen oder ästhetischen) Wandel anstößt? Das eben Gesagte trifft auch auf diese Fälle zu, denn da, wo ein verändertes Klangverständnis nicht direkt – das heißt ohne Ver­ mittlung durch das (subjektive) Bewusstsein eines Einzelnen (oder einer Gruppe von Handelnden) – Nicht-Klangliches darstellt, müssen wir auch hier von einer Darstellung zweiter Hand von solchem Nicht-Klanglichen im Klang sprechen. In diesem Fall derivativ und in zweiter Hand, da die Absicht, etwas Nicht-Klangliches im Klang ausdrücken zu wollen, selbst die Einnahme einer Position oder einer Stellungnahme zu dem ›Vergan­ Hawthorne und Michaelis Michael, Dordrecht 1994, S. 277-319. Vgl. auch Thomas Nagel: The View From Nowhere, Oxford 1986 und Fußnote 29.

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genen‹ (oder Nicht-Klanglichen) darstellt. Die wichtige Unterscheidung, auf die ich hier hinweise, ist die zwischen, einerseits, der unbeabsich­ tigten Gegenwart und direkten Darstellung von Nicht-Klanglichem im Klang (wie es uns das Beispiel des Fossils vormacht), und, andererseits, einer beabsichtigten Gegenwart eines Bezugs auf Nicht-Klangliches im Klang. Im letzteren Fall bestimmt der Sprecher oder Musiker oder Kom­ ponist, was an Vergangenem, vor allem aber wie es darzustellen ist. Auch diese Kategorie von Fällen der Darstellung von Nicht-Klangli­ chem im Klang kann für den Historiker von Wert sein. Denn natürlich finden gesellschaftliche Entwicklungen auch im Klang ihren Ausdruck. Die Frage, die sich jedoch für den Historiographen des Klangs stellt, ist, was sich aus den Klang-Daten ablesen lässt, im Sinne von: einen sonst ver­ borgenen historischen Umstand freilegend. Oder eben Fälle, in denen wir durch Analyse des Sound-Datums ein Mehr über die Möglichkeiten des Mediums Klang als Träger für ›Vergangenes‹ oder Nicht-Klangliches er­ fahren. Und ich meine, dass dies besonders bei den Fällen anzutreffen ist, bei denen die Gegenwart von Nicht-Klanglichem im Klang absichtslos ist. Im nächsten Teil dieses Aufsatzes wenden wir uns auf direkterem Weg als bisher der Art von Fällen zu, in denen Nicht-Klangliches im Klang absichtslos dargestellt ist – das heißt der Art von Fällen, in denen eine ›vergangene Lebensform‹ im Klang wie ein Strandgut aus vergan­ gener Zeit direkt dargestellt ist. Ein Beispiel eines solchen ›Strandguts‹ soll die Gegenwart der Kriegserfahrung von vor über 70  Jahren in der Sprechstimme eines Sprechers sein – eine Gegenwart, die dem Sprecher weder bewusst noch von ihm intendiert ist. Diese ›Gegenwart‹ ist etwas, das durch Hören und durch Analyse des Hördatums uns ein Mehr über den historischen Gegenstand (z.B. die Erfahrungen bestimmter Bevölke­ rungsgruppen im Krieg) sagen könnte. Ein anderes Beispiel könnte die Präsenz von etwas Nicht-Beabsich­ tigtem im Spiel eines Musikers sein, das nichtsdestotrotz bei genauem Hinhören sein Spiel auszeichnet. Etwas, das nach kundiger Analyse des Sound-Datums uns möglicherweise einiges über die ganz spezifische Art wie dieser Musiker ›in der Welt steht‹, verrät. Ein weiteres Beispiel für eine unbeabsichtigte Gegenwart, oder eine sehr schwer zu erfassende Gegenwart, bestimmter Eigenschaften im Klang könnten Spezifika im Klang eines besonderen Instruments sein (einer Stradivarius z.B.). Und so weiter.

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Meine Überlegungen bieten einen theoretischen Rahmen zur Einord­ nung und zum besseren Verständnis all solcher unbeabsichtigter ›Eigen­ schaften‹, ›Gegenstände‹, oder ›Umstände‹, z.B. aus einer vergangenen Lebensform, deren Gegenwart einen Klang auszeichnen kann. Wie be­ reits erwähnt, eröffnet uns die Gegenwart solcher unbeabsichtigter Eigen­ schaften im Klang im besten Fall den Zugang zu mehr historischem Wissen über einen historischen Gegenstand, der uns ansonsten nicht zugänglich gewesen wäre. In jedem Fall jedoch eröffnet uns eine Hör­ analyse solcher Sound-Daten, die über einen unbeabsichtigten Inhalt von nicht-klanglichen Gegenständen oder Umständen verfügen, ein Mehr an Wissen über die Person oder den Gegenstand oder den Raum, aus dem das Sound-Datum stammt. Schauen wir uns nun näher den Mechanismus an, wie ein solcher nicht-klanglicher Inhalt absichtslos seinen Niederschlag, und seine Dar­ stellung, im Klang finden kann. Dazu ist es notwendig, die Beschaffen­ heit des Mediums von einem großen Abstand her zu betrachten. Im Fol­ genden wende ich mich der Frage zu, ob das Medium Klang so beschaffen ist, dass es nicht-klangliche Entwicklungen von selbst transportieren kann und uns somit einen besonderen Zugang zu etwas Nicht-Klangli­ chem geben kann, das so nur im Klang dargestellt ist.

V. »V ie w from N owhere « – »V ie w from S ome where «:18 K l ang im R aum – H andlung im K l ang In seinem wegweisenden Buch The View From Nowhere entwickelt Tho­ mas Nagel zwei epistemologische Kategorien, deren wechselseitigen Ge­ brauch er vorschlägt. Die eine ›Kategorie‹ oder Vorgehensmethode ist The 18 | Vgl. Nagel, The View From Nowhere. Der »Blick von Nirgendwo« kann als Versuch gelten, sich einem ›objektiven‹ Standpunkt anzunähern. Der »Blick von Irgendwo« kann als Annäherung an einen ›subjektiven‹ Standpunkt verstanden werden. Nagel unterstreicht, dass diese ›Sichtweisen‹ oder ›Ansätze‹ als komplementär zu sehen sind. Er führt diese beiden komplementären Verstehensstile auch ein, um dem Bedürfnis und der Fähigkeit des Menschen gerecht zu werden, die Wirklichkeit – deren Teil er ist – als größeres Ganzes, als ›objektive Wirklichkeit‹ zu verstehen. Nagel sagt, das Problem für den Wissenschaftler sei, »how to

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View from Nowhere, die unsere Versuche und unser Bedürfnis wiedergibt, unseren eigenen Standpunkt in der Welt zu überwinden, um die »objek­ tive Wirklichkeit« der Welt zu erfassen. Nagels Ziel ist, diese Sichtweise mit der Sichtweise »of a particular person in the world« – also einem View from Somewhere – zu verbinden. Im Folgenden bediene ich mich dieser zwei Kategorien, da der View from Nowhere uns eine Sicht auf die Eigen­ schaften des Klangs freigibt, mittels derer eine Darstellung von NichtKlanglichem im Klang möglich ist. Im darauffolgenden Teil, den wir mit View from Somewhere überschrieben haben, stellen wir uns die schwieri­ ge Frage, wie die Klanghandlung einer mit Absicht handelnden Person einen absichtslosen Inhalt haben kann.

V.1 »The View from Nowhere«: Klang im Raum Busoni sagte einmal, dass Musik nur tönende Luft sei.19 Musikalischer Klang ist sicherlich weitaus mehr als in Schwingung gebrachte Luft, aber physikalisch gesehen ist die Gegenwart von Gasen (einschließlich des Sauerstoffs) in einer bestimmten Dichte eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung dafür, dass die Schwingungen der combine the perspective of a particular person inside the world with an objective view of that same world, the person and his viewpoint included. It is a problem that faces every creature with the impulse and the capacity to transcend its particular point of view and to conceive of the world as a whole« (Nagel, The View From Nowhere, zitiert in: Bernard Williams: »A Passion for the Beyond«, in: London Review of Books 8 (1986), H. 14, S. 4-5). Die ›objektive‹ Sicht enthält laut Nagel nicht die gesamte Wirklichkeit der Welt. Für Nagel ist »reality […] not just objective reality« (ebd). ›Objective reality‹ könne immer nur ein Teilausschnitt der Natur der Wirklichkeit sein: »[Für Nagel] [o]bjectivity does not apply, at least in any direct way, to things: it is not a way in which some (but not all) things exist. It is, rather, a style of understanding, one that tries to describe any kind of experience or thought from the outside, to include it in a wider account of things in which that experience or thought occupies no privileged position. The experience or thought is had from a certain point of view: the objective account is an account of that point of view which is not itself given from that point of view« (Williams, »A Passion for the Beyond«, S. 4-5). 19 | Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest 1907, S. 5.

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Gase derart sind, dass sie vom menschlichen Ohr gehört werden können. Der Grund, warum die vorhandenen Gase im Weltraum keine ausrei­ chende Dichte erreichen, ist das Fehlen von Schwerkraft. Ohne genügend Schwerkraft verflüchtigen sich die Gase derart, dass weder Bündelung noch Dichte entsteht und somit auch keine ›Schwingung‹ der Gase (be­ ziehungsweise des Sauerstoffs) und auch kein ›Klang‹. Im Weltraum gibt es also Zeit und Raum, aber keinen Klang in dem Sinn, in dem wir den Begriff des Klangs verstehen. Daraus folgt, dass wir eine notwendige Ver­ bindung zwischen Raum, Zeit und Klang nicht festhalten können: In der uns bekannten Welt, die den Weltraum umschließt, gibt es eine Art von Raum (und Zeitlichkeit), in der Klang nicht vorhanden ist. Die Beschaffenheit des Raums, in dem Klang entsteht, bestimmt nicht nur, ob Klang in ihm entstehen kann, sondern auch die Art des Klangs, der in ihm entsteht. Wie jeder weiß, der sich mit Klang beschäf­ tigt, ist die Frage nach der Beschaffenheit der Materie des Raums, in dem Klang erklingt, von direkter Bedeutung für die Art des Klangs, der entste­ hen kann. Die Geschichte des Instrumentenbaus weiß darum und auch Musiker kennen die enge Verbindung zwischen der ›Stimmung‹ ihres Instruments und dem Klang, der entstehen kann. Holz klingt auf eine be­ stimmte Art, Blech auf eine andere. Aber die Frage des Klangs erschöpft sich nicht darin, aus welchem Material der Raum ist, in dem Klang er­ klingen soll. Die ganz genaue Beschaffenheit und Zusammensetzung des Materials ist von großer Bedeutung – bei Holz spielt z.B. die Herkunft des Materials und sein Alter eine große Rolle. Genauso wichtig sind natür­ lich die Technik und die Fähigkeiten des Instrumentenbauers und nicht zuletzt die Frage, um welches Instrument es sich handelt – das heißt, wie ausgedehnt die Resonanzräume und das innere Volumen des Instru­ ments sind und welche Form es hat.20 All diese Elemente zusammen ma­ chen den Resonanzraum aus, in dem die Luft beziehungsweise die Gase 20 | Auch Glockenbauer wissen um die Wichtigkeit der genauen Zusammensetzung des Materials, aus dem eine Glocke ist, wie auch um die beträchtliche Auswirkung des Prozesses, bei dem die Masse, aus der die Glocke entsteht, zusammengeführt oder vermengt wird. Ein Beispiel für diesen Prozess zeigt eine Dokumentation über die Praxis des Glockenbaus der seit 1599 bestehenden österreichischen Glockenbau-Firma Grassmayr, vgl. Frank Grevsmühl: »Eine Glocke für die Ewigkeit«, 3sat, 07.05.2017, in: 3sat Mediathek, www.3sat.de/mediathek/ ?mode=play&obj=65960 (abgerufen am 04.08.2017).

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schwingen können, und in dem Klang erklingt. Und auch die kleinsten Einzelheiten im Entstehungsprozess des Resonanzraums machen einen Unterschied für das entstehende Klangbild. Da Klang überall um uns herum entsteht – üblicherweise ausgelöst durch Wind, der nicht nur durch Bäume und Wiesen rauscht, sondern auch durch Stadtschluchten, und der alles, was bewegbar ist, zum Rat­ tern, Knallen und Blubbern bringen kann –, gibt es prinzipiell keinen Grund, nicht auch bei Städten oder ganzen Landschaften von Resonanz­ räumen zu sprechen.21 Klang drückt also Veränderungen in seinem Re­ sonanzraum unmittelbar aus. Das bedeutet in einem nächsten gedank­ lichen Schritt auch, dass sich zeitlicher Wandel und all die Dinge, die in der Zeit und im Raum stattfinden, sich im Klang ausdrücken können, vorausgesetzt, jene Entwicklungen hinterlassen Spuren in der Materie des Resonanzraums. Dass politische und soziale Entwicklungen Spuren in unseren Resonanzräumen hinterlassen können, steht außer Frage.

V.2 Geschichtsschreibung eines Klangraums – Das Beispiel der Klangökologie Die Klangökologie ist ein relativ junges wissenschaftliches Feld, dessen Sujet das Erfassen ganzer ökologischer Klangräume, das Erforschen be­ stimmter speziesspezifischer Klangnischen sowie das Festhalten von ortsspezifischen oder terrainspezifischen Klangteppichen ist.22 Die ers­ 21 | In diesem Sinne ließe sich durchaus von einem ›Münchner‹, ›Berliner‹, ›Schwarzwälder‹ oder ›Downtown New Yorker‹ Klang sprechen. Wie jeder Klang kann sich auch dieser durch Veränderungen des Resonanzraums ändern. Weder die Beschaffenheit solcher Resonanzräume ist statisch noch die Art des Klangs, der in ihm entstehen kann. Ich habe die Verbindung zwischen kulturellem Raum und Resonanzraum anderswo entwickelt. Siehe Angela Grünberg: »Der deutsche Klang. Wie ein kultureller Raum in der Musik mitschwingt«, in: Kulturaustausch. Das Deutsche in der Welt (2010), H. 4, S. 24-25, www.kulturaustausch.de/index. php?id=5&t x_amkulturaustausch_pi1%5Bview%5D=ARTICLE&t x_amkulturaus​ tausch_pi1%5Bauid%5D=1215&cHash=27e06aa927294fafe2ff036e893ee9a2 (abgerufen am 03.06.2018). 22 | Die Gründungskonferenz der International Society of Ecoacoustics (ISE), die vom 16.06.2014 bis 18.06.2014 in Paris, Muséum national d’Histoire naturelle, abgehalten wurde, stand unter dem Titel: »Ecology and Acoustics: Emergent Pro-

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te internationale Konferenz zur Klangökologie fand im Sommer 2014 in Paris statt. Maßgeblich für unser Interesse an diesem Forschungsfeld für die hier betrachtete Fragestellung ist, dass die Klangökologie Verän­ derungen im Klang bestimmter Spezies oder Regionen aufzeichnet und damit auf grundlegendere Veränderungen ökologischer Relevanz hinwei­ sen kann. Das heißt, dass die aufgezeichneten Veränderungen im Klang auf wichtige historische Prozesse ökologischer Natur hinweisen, die ohne eine spezifische Konzentration auf den Klang nicht sichtbar (beziehungs­ weise hörbar) und somit nicht erforscht würden.23 »Wie eine Symphonie hört sich die Nacht im Regenwald von Borneo an«,24 schreibt Andreas von Bubnoff in seiner umfangreichen Bericht­ erstattung über Forschungsstand und Entwicklungen im jungen Feld der Klangökologie. Die Aufnahmen des italienischen Klangkünstlers und Klangforschers David Monacchi geben eine besonders reichhaltige Klanglandschaft wieder, da Monacchi kein normales, sondern ein ›omni­ direktionales‹ Mikrophon, das Klänge aus allen Richtungen aufnimmt, benutzt. So bleiben auch räumliche Informationen erhalten, die für das Gesamtbild – und die weitere Forschung – von unerlässlicher Bedeutung perties from Community to Landscape«. Statt eines Tagungsbandes liegt von der Konferenz ein online veröffentlichtes Abstract Book vor: Ecoacoustics. Ecology and Acoustics: Emergent Properties from Community to Landscape, hg. von Jérôme Sueur u.a., Paris 2014, https://ecoacoustics.sciencesconf.org/conference/ ecoacoustics/pages/EcoacousticsBook_v4.pdf (abgerufen am 03.06.2018). Das nächste Treffen fand im Sommer 2015 in Portland, Oregon, statt; die jüngste Konferenz 2018 wird in Jena ausgerichtet; vgl. die ISE-Seite mit den aufgelisteten Konferenzen nebst weiterführenden Links: https://sites.google.com/site/ecoa​ cousticssociety/conferences (abgerufen am 03.06.2018). Vgl. auch von Bubnoff, »Die Symphonien der Natur«; auf der Seite finden sich zahlreiche Klangbeispiele zum Nachhören. 23 | Dies macht Sinn, denn Klang ist metaphysisch gesehen ein ›sekundäres Objekt‹, das heißt, Klang ist ein Gegenstand, der nur in der Gegenwart anderer, sogenannter primärer metaphysischer Gegenstände oder Eigenschaften entstehen kann. Primäre metaphysische Gegenstände sind solche, die für ihre Existenz nicht von anderen Gegenständen abhängen. Für eine weitere Diskussion solcher Fragen in Bezug auf Sound und Hörbares vgl. Sounds and Perception. New Philosophical Essays, hg. von Matthew Nudds und Casey O’Callaghan, Oxford 2009. 24 | Von Bubnoff, »Die Symphonien der Natur«.

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sind.25 Monacchi nimmt bereits seit 1998 Klänge von den äquatornahen Regenwäldern in Borneo, dem Amazonas und Zentralafrika auf – alle­ samt Orte, an denen sich die größten noch erhaltenen Überbleibsel eines unberührten tropischen Regenwaldes befinden. Bestmögliche Quali­ tät sei wichtig, so Monacchi, denn die Zeit dränge: »Wir nehmen diese Klangteppiche in der bestmöglichen Qualität auf, bevor es zu spät ist«, sagt Monacchi, denn wir befinden uns mitten im sechsten Massensterben der Arten. »Dies alles wird sehr schnell zerstört sein […]. Es sind mögli­ cherweise 30.000 Arten, die pro Jahr aussterben.« Auch Bernie Krause, einer der Pioniere auf dem Gebiet der Naturklangaufnahmen, vermutet, dass nahezu die Hälfte der Naturklänge, die er seit 1968 in aller Welt aufgenommen habe, aufgrund nicht mehr existierender Lebensräume in­ zwischen wohl schon verschwunden seien.26 »Aber kaum jemand nimmt diesen Klangverlust überhaupt wahr. ›Die ganze Welt singt, aber wir hören nicht mehr zu,‹ war am Abend des 20. September letzten Jahres auf einer Projektion an der Wand des UN Gebäudes in New York zu lesen; Worte, mit denen Oscarpreisträger und Dokumentarfilmer Louie Psihoyos am Vorabend des UN-Klimagipfels auf das weltweite Massensterben aufmerksam machen wollte. Auch Monacchi will die Öffentlichkeit auf den Ernst der Lage aufmerksam machen: Er hat eine Museumsaustellung, genannt ›Fragments of Extinction‹ entwickelt, in der er seine Regenwaldaufnahmen in einem abgedunkelten Raum mithilfe zahlreicher Lautsprecher von allen Seiten wiedergibt. ›Wir können das gesamte Ökosystem mit einer nie zuvor versuchten räumlichen Genauigkeit rekonstruieren,‹ sagt er. ›Es ist, als wäre man dort.‹ Mit dem Projekt will er Druck auf Regierungen ausüben, um mehr gegen das illegale Abholzen der tropischen Regenwälder zu tun. Landläufig sind solche Aufnahmen als ›Soundscapes‹ oder ›Klanglandschaften‹ bekannt, denn sie versuchen, die Gesamtheit eines Klanges einzufangen. Der Begriff wurde bereits in den sechziger Jahren vom kanadischen Komponisten Raymond Murray Schafer eingeführt, einem der Begründer der ›akustischen Ökologie‹, deren Vertreter schon seit Jahrzehnten meist menschliche und manchmal auch natürliche Soundscapes aufnehmen.« 27 25 | Vgl. ebd. 26 | Vgl. ebd. 27 | Ebd. Zu Schafer siehe insbes. dessen wegweisende Veröffentlichungen aus den 1960er und 1970er Jahren, darunter R. Murray Schafer: The New Soundscape Toronto u.a. 1969; ders.: The Tuning of the World, New York 1977; The Vancou-

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Von Bubnoffs Multimedia-Reportage enthält viele weitere Beispiele, die belegen, wie Veränderungen in einem ökologischen Habitat sich im Klang, der in diesem Lebensraum entsteht und auch von den dort leben­ den Tieren produziert wird, niederschlagen. Natürlich kann jedes Me­ dium nur so klingen, wie es klingt. Und wie in jeder anderen Disziplin wird nur der geschulte Hörer die relevanten Klangveränderungen, und das, was sie anzeigen, heraushören. Nichtsdestotrotz können wir fest­ halten, dass es durchaus möglich ist, die Geschichte eines ökologischen Raums durch Klang zu schreiben, und dass es dies ist, was die Klangöko­ logie tut. Um es noch deutlicher zu machen: Die Klangökologie schreibt die Geschichte eines ökologischen Raums anhand von Sound-Daten. Die­ se Sound-Daten decken Entwicklungen und Umstände auf, die sonst  – ohne Nutzbarmachung der Klang-Daten – verborgen geblieben wären. Darüber hinaus zeigt die Klangökologie, dass die Eigenschaften, die das Wesen des Klangs auszeichnen28 – eben das, was der Klang ist –, die Dar­ stellung im Klang von Nicht-Klanglichem möglich machen. Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist es auch möglich, in dem von Menschen produzierten Klang – sowohl dem sprachlichen als auch dem musikalischen – ein direktes und unmittelbares Anzeigen von nichtklanglichen Entwicklungen, sei es von sozialem Wandel (ob ästhetischer oder politischer Natur) oder von ›Vergangenem‹ festzuhalten. Wie sich das darstellt, erläutere ich in den folgenden Abschnitten.

V.3 »The View from Somewhere«: Sound und Agency Bisher haben wir uns in diesem Teil des Aufsatzes darauf konzentriert, was wir über das Medium Klang als Transport- beziehungsweise Aus­ drucksmedium von Wandel oder außerklanglichen Entwicklungen in seinem Resonanzmedium, dem Raum, sagen können. Dies bezog sich auf solchen Klang, der seinem Medium ›natürlich‹ entsteigt, das heißt, ohne direktes menschliches Zutun in Bezug auf die kausalen Auslöser von Klang. ver Soundscape, hg. von dems., Vancouver 1978. Zur Schafer-›Schule‹ und zum Begriff ›Soundscape‹ vgl. zuletzt Sabine Breitsameter: »Soundscape«, in: Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, hg. von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer, Stuttgart und Weimar 2018, S. 89-95. 28 | Vgl. Abschnitt V.1 und V.2.

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Nun steht uns die weitaus schwierigere Aufgabe bevor, nämlich unse­ re Fragestellung, ob und wie das Medium Klang beschaffen ist, so dass es ›Vergangenes‹ transportieren oder ausdrücken kann, auf das Gebiet der menschlichen Handlung anzuwenden.29 Und obwohl wir nun menschli­ che Handlung in unsere Überlegungen miteinbeziehen, gelten unser An­ satz und unsere Zielsetzung weiterhin: Wie wir bereits dargelegt haben, ist es unser Ziel, die engstmögliche Verbindung zwischen dem Medium Klang und außerklanglichen Entwicklungen (einschließlich solchen his­ torischer Natur) zu etablieren. Das bedeutet, dass wir in erster Linie wei­ terhin von Klangphänomenen absehen wollen, in denen der Ausdruck von Außerklanglichem entweder einem anderswo manifestierten Werte­ wandel geschuldet ist oder bei denen der Klangproduzent (Komponist, Musiker, Sprecher) seine Absicht bezüglich der Art, wie außerklangliche Ereignisse im Klang zu klingen haben (beziehungsweise sich darzustel­ len haben), dominierend in den Klang hineinträgt.

29 | Ich möchte betonen, dass ich den Verlauf der Geschichte nicht ausschließlich als Resultat menschlicher Handlung ansehe, und dass die Position, die ich hier entwickele, dies auch nicht impliziert. Meine Erörterungen in diesem Aufsatz bezüglich des Wesens der menschlichen Handlung betreffen nicht die historiographische Frage nach der Rolle von menschlicher Handlung im Verlauf von Geschichte, sondern beziehen sich auf die philosophische oder metaphysische Kategorie von Handlung, die sicher nicht mit einem Eingreifen in historische Prozesse gleichzusetzen ist. Diese philosophische Konzeption von Handlung fragt, was ein menschliches Tun auszeichnen muss, um es von anderen verwandten metaphysischen Kategorien des Geschehnisses und des Prozesses zu unterscheiden, kurzum: Was ein solches Tun (z.B. das Heben eines Arms) auszeichnen muss, damit es als ein Handeln gelten kann. Diese Kategorie der Handlung ist für uns interessant, weil wir wissen wollen, wie ein Sound-Datum, das im Zuge einer solchen Handlung entsteht, Nicht-Klangliches zum Inhalt haben kann. Solche Klang-Daten wiederum mögen für eine Historiographie des Klangs von Wert sein. Um es nochmals klarzustellen: Die Historiographie fragt, ob ein Einzelner (überhaupt) in die Geschichte eingreifen kann und ob er möglicherweise sogar Geschichte machen kann. Dazu äußere ich mich nicht. Ich stelle die metaphysische Konzeption von menschlicher Handlung vor, um dann zu fragen, welchen Wert und welchen Status Klang-Daten haben, die im Zuge menschlicher Handlung – inklusive Sprechhandlungen – entstehen.

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Nur, wie ist das mit der Domäne der menschlichen Handlung zu ver­ einbaren? Das heißt, wie ist der Abzug von Absicht, solche Entwicklungen oder Geschehnisse im Klang auszudrücken, mit der Domäne der mensch­ lichen Handlung zu vereinbaren, deren Kennzeichen ein Vorhandensein von Absicht ist? Die Philosophie der Handlung zeigt uns einen Weg auf. Sie fragt danach, was Handlung im Sinne einer Tat oder eines aktiven Tuns ausmacht und was diese metaphysische Kategorie von einem durch Naturgesetze bestimmten, also kausal determinierten Geschehen unter­ scheidet. Da so viele Unterscheidungen und Urteile, die wir in unseren alltäglichen Diskursen vollziehen, auf der Existenz einer Kategorie von aktivem Tun oder Handlung basieren (z.B. bei moralischer und auch ju­ ristischer Schuldzuweisung), scheint es offensichtlich, weshalb ein klares Verständnis dieser Kategorie von Nutzen ist. Die Philosophie unterschei­ det in diesem Zusammenhang die Kategorie der menschlichen Handlung von zwei weiteren Kategorien oder Begriffen, die auch Vorkommnisse in unserer Welt betreffen: nämlich die Kategorie eines Geschehnisses und die Kategorie eines Vorgangs oder Ablaufs. Der Frage, was menschliche Handlung ausmacht, begegnen wir schon in der antiken Philosophie; für die gegenwärtige Philosophie der Hand­ lung ist das 1957 erschienene Buch Intention von Elizabeth Anscombe grundlegend.30 Anscombe unterscheidet eine Handlung von einer bloßen körperlichen Bewegung. Der Begriff der Absicht stellt für sie den Schlüs­ sel zu einem Verstehen dessen dar, was Handlung im oben dargelegten Sinn ausmacht. Die Absicht ist für Anscombe ein integraler Bestandteil von Handlung und keine zusätzliche Eigenschaft, die etwa eine bloße körperliche Bewegung (z.B. das Heben eines Arms) von einer Handlung (das Heben des Arms zur Meldung) unterscheidet. Anscombe zufolge bringt uns eine Antwort auf die Frage, warum jemand etwas tut, seiner gedank­ lichen Absicht näher. Donald Davidson dagegen versucht, den Begriff der Handlung mit einem Weltverständnis in Einklang zu bringen, das davon ausgeht, dass alles in unserem Universum Geschehende – einschließlich der menschlichen Handlung – kausalen Naturgesetzen unterliegt. Sein Vorschlag ist, dass mentale Zustände und Handlungsgründe indirekt in einem kausalen Zusammenhang zu den Handlungen stehen. Davidsons Darstellung unterscheidet sich in ihren Grundsätzen von jener Anscom­

30 | Elizabeth Anscombe: Intention, Oxford 1957.

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bes.31 Trotz seiner grundsätzlichen Anpassung an das Bild eines Univer­ sums, in dem alles, was geschieht, grundlegenden kausalen Naturgeset­ zen unterliegt, versteht er jedoch das menschliche Tun als eine eigene und selbständige metaphysische Kategorie.32 Neben dem Begriff der Handlung stehen die Begriffe ›Geschehnis‹ (event) und ›Prozess‹ (process). Diese drei Begriffe setzen sich gegenseitig erhellend voneinander ab. Der Begriff des Geschehnisses (event) erfasst eine Abfolge von Ereignissen, in denen der Eingriff einer Handlung in dem oben dargelegten Sinn nicht zu verzeichnen ist. Z.B. würde das Rau­ schen, das in einem Baum entsteht, wenn der Wind durch die Baumwipfel streicht, als Geschehnis gelten.33 Ein Stolpern (keine absichtsvolle Hand­ lung), durch das wiederum eine Blumenvase zu Fall gebracht wird, würde ebenso als Geschehnis gelten. Der Begriff des Prozesses oder der Abfolge hingegen erfasst solche Vorkommnisse, deren Verlauf ›systemisch‹ (oder organisch) festgelegt ist. Als Beispiele hierfür könnten der Prozess des 31 | Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980. 32 | Für eine gute Einführung in diese Debatte siehe Frederick Stoutland: »Introduction«, in: Essays on Anscombe’s ›Intention‹, hg. von Anton Ford, Jennifer Hornsby und Frederick Stoutland, Cambridge MA 2014, S. 1-22. Vgl. auch Jennifer Hornsby und Naomi Goulder: Art. »Action«, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Online, https://www.rep.routledge.com/articles/thematic/action/v-2 (2011 [Version 2], abgerufen am 03.06.2018). 33 | Mit Beispielen dieser Art wird Philosophiestudenten die Unterscheidung der Begriffe der Triade ›Handlung‹ (action), ›Geschehnis‹ (event) und ›Prozess‹ (process) erläutert. Eine Handlung ist ein absichtsvolles Tun, also etwas, das mittels Präsenz von Absicht geschieht. Ein Geschehnis hingegen ist etwas, das ohne eine solche Absicht geschieht. Hornsby gibt folgendes Beispiel: »Not all bodily movements are actions (consider Paul’s arm moving in a spasm, or its being moved by someone else), and so the question naturally arises what differentiates a bodily movement that is an action, from one that is not« (Hornsby und Goulder, Art. »Action«). Der Begriff eines Prozesses umfasst jene Art von Geschehnissen, deren Mechanismus zwar kausaler Natur ist, deren Verlauf jedoch ›systemisch‹ ist. Für eine umfassende philosophische Erläuterung des Begriffs ›Geschehnis‹ vgl. Roberto Casati und Achille Varzi: Art. »Events«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy Archive, hg. von Edward N. Zalta, https://plato.stanford.edu/ archives/win2015/entries/events/(Winter 2015 Edition, 27.08.2014, abgerufen am 03.06.2018).

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Wachsens eines Baumes oder der immer wiederkehrende Herzschlag in einem lebenden Organismus gelten. Erinnern wir uns an unsere Prämisse, uns auf solche Klangereignis­ se zu konzentrieren, die einen historischen Wandel (beziehungsweise außerklangliche Ereignisse) direkt verzeichnen. Wie ist dies mit der Do­ mäne menschlichen Handelns zu vereinbaren? Wie wir bereits gesehen haben, sind Klangveränderungen aufgrund von Werteveränderungen (einschließlich neuer Konventionen für Sprachklang oder musikalischen Klang) abzugrenzen von Entwicklungen, die sich von selbst und unbeab­ sichtigt im Klang zeigen. Wie also ist Handlung, deren Haupteigenschaft die Gegenwart einer Absicht ist,34 mit einem absichtslosen Ausdruck von ›Vergangenem‹ im Klang zu vereinbaren? Das, wonach wir suchen, ist eine Situation, in der sich eine Bewusst­ seinsverschiebung oder ein Wertewandel vorzugsweise im Klang bezie­ hungsweise in Klanghandlungen ausdrückt – und das zudem in einer Weise, in der der Ausdruck von dem Klanghandelnden nicht als solcher beabsichtigt ist. Eine Situation also, in der der Handelnde, um es über­ spitzt zu sagen, durch den Klang, den er manifestiert, einen Wandel oder Vergangenes klanglich zur Geltung bringt, die sonst noch nicht sicht­ bar geworden ist, und die historisch von Interesse sein kann. In einem solchen Fall hätten wir die direkteste Verbindung zwischen Klang und außerklanglicher Entwicklung, einschließlich historischer Geschehnisse. Aristoteles zeigt uns eine Version von Handlung, in der dem Han­ delnden aufgrund seines Soseins die Handlung regelrecht ›auferzwun­ gen‹ ist, er also nicht wirklich eine Wahl hat bezüglich der Art, wie er handeln muss. Bei Aristoteles erscheint dieses Handlungsmodell als Teil seiner Tugendlehre: Anders als ein Nicht-Tugendhafter ist der Tugend­ hafte so beschaffen, dass er ohne kognitives Kalkül in einer bestimmten Art und Weise auf die Sachverhalte, die er vorfindet, reagieren muss. Der Nicht-Tugendhafte mag die gleiche Handlung vollziehen (im Vorfinden des gleichen Sachverhalts), aber seine Gründe werden niemals denen des Tugendhaften gleichen. Dieses Modell der Handlung möchte ich auf unsere Problematik anwenden – auf die Situation eines im Klang Han­ delnden, der sich seiner Handlungsgründe nicht vollständig bewusst ist. 34 | Ob als konstitutiver Bestandteil der Handlung (wie Anscombe behauptet) oder als ›zusätzliche‹ Eigenschaft der Handlung (wie Davidson behauptet), sei hier dahingestellt.

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Aristoteles zeigt uns also einen Typus von Handlung auf, der sich durch eine ganz spezifische Verbindung zwischen dem Handelnden und den Umständen, die er bei seiner Handlung vorfindet, auszeichnet. Nach Aristoteles kann der Handelnde in seiner Handlung Umstände oder Tat­ sachen artikulieren, derer er sich nicht bewusst sein muss und auf die er sich als solche nicht mit Absicht bezieht. Mit diesem Handlungsbegriff ist es also möglich, klangliche Handlung mit einem vorher nicht reflek­ tierten und nicht unbedingt bewusst beabsichtigtem Ausdruck von histo­ rischem Wandel zusammenzubringen. Die jeweiligen außerklanglichen Entwicklungen oder Sachverhalte drücken sich entsprechend direkt und nicht derivativ im Klang aus. Um welche Art von Handlungen, die Wandel oder Vergangenes direkt im Klang transportieren oder ausdrücken, könnte es sich hier handeln? Ein mögliches Beispiel ist der Ausdruck oder Ton einer Stimme, mit der ein semantischer Inhalt vorgetragen wird. Betrachten wir z.B. die folgen­ den Sprechaktsituationen: (A1) [In Überraschung gesagt]: ›You are here!‹ (A2) [In panischem Erschrecken gesagt]: ›You are here!‹ (A3) [Im Unglauben gesagt]: ›You are here!‹ Die Tonlage oder der emotionale Ausdruck, den eine Stimme beim Vor­ tragen semantischen Inhalts hat, kann Transportmittel oder Ausdruck für die Wahrnehmung der Situation sein, in der sich der Sprecher gerade befindet. Das heißt, der Sprecher bezieht sich hörbar (womöglich nicht nur durch das, was seine Worte sagen) auf Umstände in seinem Sprech­ aktkontext. Der Klang des Gesagten kann diese Wahrnehmung direkt ausdrücken, muss es aber nicht. (Ein emotionaler Ausdruck kann auch vorgetäuscht sein, also intendiert, und fiele somit aus der Kategorie, die uns interessiert, heraus.) Diese Sprechakte sind Beispiele dafür, dass der Klang des Gesagten die epistemische oder – Aristoteles’ Modell folgend – die normative Position eines Sprechers auf seiner Oberfläche ›sichtbar‹ beziehungsweise ›hörbar‹ machen kann. Der Gedanke ist weiterhin, dass das Gesagte und, wie es gesagt ist, Ausdruck für mehr sein kann als das, worauf sich der Sprecher bewusst bezieht. In dieser Art und Weise – nämlich nicht intendiert – kann auch his­ torischer Wandel Ausdruck im Klang finden. Der Wandel oder das his­ torische Geschehnis kann Sprecher oder Musiker so berühren, dass er

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in ihren Handlungen Ausdruck findet, auch wenn ihnen ihre besondere Wahrnehmung jener Entwicklungen und ihre Handlungsgründe nicht völlig bewusst sind. In solchen Fällen findet historischer Wandel seinen Ausdruck direkt im Klang, ohne durch weitere Reflexion und daraus ent­ springende Absichten gefiltert oder verzerrt zu sein. So können z.B. im Sprachklang bestimmte Umstände (die auch geschichtliche Geschehnis­ se oder Prozesse sein können) zu Tage treten, das heißt artikuliert und hörbar werden, die dem Sprecher auf eine bestimmte Weise ›anhaften‹. Jemand, der im Jahr 1937 von Deutschland ins spätere Israel flieht, spricht im Jahr 1970 möglicherweise noch immer das Deutsch der Vorkriegs­ zeit – nicht nur bezüglich der Wortwahl, sondern auch bezüglich des Aus­ drucks und des Klangs. Und jener Klang vermag womöglich ›Gegenstän­ de‹ und ›Umstände‹ aus der Vergangenheit direkt und ungefiltert zu Tage führen, die der Sprachklang konserviert hat. Ein geschulter Hörer kann sie möglicherweise identifizieren und so ›freilegen‹. So dass der Sprach­ klang nicht nur Gegenstände aus der Vergangenheit zu Tage führt, son­ dern – wie jede Historiographie – auch ein Licht auf den Teil der Gegen­ wart wirft, um den es in dieser Geschichtsschreibung geht. Weiter ist mein Gedanke, dass der Sprachklang (eine Kombination aus Klang und Ausdrucksweise) dabei auch eine Dimension des Bewusst­ seins des Sprechenden freilegen und hörbar machen kann, die andere Handlungen oder Gegenstände möglicherweise nicht darstellen können – denn Klang kann aus einer tiefen Bewusstseinsschicht stammen, einer intimen Quelle des Seins. Als tiefe Quelle des Seins kann der Klang, den eine Person produziert, viel Unbeabsichtigtes über die Person zeigen. Nicht nur solches, was wir möglicherweise als ›privat‹ bezeichnen wür­ den, sondern auch den Umstand, wie der Klanghandelnde (Aristoteles lose folgend) ›den Tatsachen der Welt‹, einschließlich ›Vergangenem‹, gegenübersteht.

VI. S chlussfolgerungen In diesem Aufsatz habe ich versucht, einen theoretischen Raum freizu­ machen für solche Fälle, in denen das Medium Klang ein direkter Träger für Außerklangliches wird. Ich habe zur Überlegung eingeladen, unser Augenmerk insbesondere auf solche Umstände oder Zusammenhänge zu werfen, die eine sehr enge Verbindung zwischen außerklanglichen Ent­

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wicklungen und dem Medium Klang aufweisen. Mir scheint, dass es genau solche Fälle sind, die im Kern eine Historiographie des Klangs betreffen. Zudem bin ich der Frage nachgegangen, wie ein Klang- oder SoundDatum beschaffen sein muss, um für eine Geschichtsschreibung durch Klänge besonders wertvoll zu sein. Ich habe gezeigt, dass eine Historio­ graphie des Klangs oder eine Geschichtsschreibung durch Klänge ihr Augenmerk insbesondere auf Klang-Daten richten sollte, die uns etwas ansonsten verborgen Gebliebenes über den (jeweiligen) historischen Gegenstand der Untersuchung zeigen oder gar offenbaren. Ich habe auch gefragt, welches Klang-Datum uns besonders viel über das Medium Klang als Ausdrucksträger von historischem Material (also von nichtklanglichen Zusammenhängen) verraten kann. Ich komme zu dem Schluss, dass dies in erster Linie (aber nicht aus­ schließlich) solche Klang-Daten sind, die etwas Nicht-Klangliches im Klang absichtslos darstellen. Ich zeige weiter, dass sogar Klänge, die im Zuge von menschlicher Handlung entstehen – deren philosophisches Kennzeichen das Vorhandensein von Absicht ist –, einen absichtslosen Inhalt haben können; und dass dieser für eine Historiographie des Klangs von besonderem Interesse sein kann. Ich weise darauf hin, dass manche Klänge ›ein Vergangenes‹, wie ein Fossil, absichtslos darstellen können. Um für diese Fragen einen theoretischen Raum zu etablieren, stelle ich die grundlegende Frage, ob und wie es sein kann, dass das Medium Klang einen nicht-klanglichen Inhalt haben kann: Denn es ist ja diese Annah­ me, die der Frage nach dem Wesen und den Möglichkeiten von Klang als Ausdrucksträger für Geschichte zu Grunde liegt.35

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Elizabeth Anscombe: Intention, Oxford 1957. John Langshaw Austin: How to Do Things with Words, Oxford 1955. Sabine Breitsameter: »Soundscape«, in: Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, hg. von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer, Stutt­ gart und Weimar 2018, S. 89-95. 35 | Ich widme diesen Aufsatz der Erinnerung an Anna Maymon, Jetta Maymon und Nathan Maymon, die von historischen Geschehnissen absichtsvoll, aber gegen ihren Willen aus dem Leben gespült worden sind.

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Andreas von Bubnoff: »Die Symphonien der Natur«, in: FAZ.NET, http://dy​ namic.faz.net/red/2015/klang/ (08.12.2015, abgerufen am 05.06.2018). Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, Triest 1907. Daniel Büring: »Focus and Intonation«, in: The Routledge Companion to the Philosophy of Language, hg. von Gillian Russell and Delia Graff Fara, New York 2015, S. 103-115. Roberto Casati und Achille Varzi: Art. »Events«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy Archive, hg. von Edward N.  Zalta, https://plato. stanford.edu/archives/win2015/entries/events/ (Winter 2015 Edition, 27.08.2014, abgerufen am 03.06.2018). Alberto Coffa: The Semantic Tradition from Kant to Carnap, New York 1991. Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980. Stephen Davies: Musical Meaning and Expression, Ithaca, NY 1994. Gareth Evans und John McDowell (Hg.): Truth and Meaning: Essays in Semantics, Oxford 1976. Gottlob Frege: »Der Gedanke. Eine logische Untersuchung«, in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus, Erfurt 1918, S. 58-77. Gottlob Frege: »The Thought: A logical inquiry«, in: Mind 65 (Juli 1956), H. 259, S. 289-311. Frank Grevsmühl: »Eine Glocke für die Ewigkeit«, 3sat, 07.05.2017, in: 3sat Mediathek, www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=65960 (ab­ gerufen am 04.08.2017). Angela Grünberg: »Der deutsche Klang. Wie ein kultureller Raum in der Musik mitschwingt«, in: Kulturaustausch. Das Deutsche in der Welt (2010) H. 4, S. 24-25, www.kulturaustausch.de/index.php?id=5&tx_a​ mk ​ u lturaustausch_pi1%5Bview%5D=ARTICLE&tx_amkulturau​ stausch_pi1%5Bauid%5D =1215&cHash=27e06aa927294fafe2ff​ 036e893ee9a2 (abgerufen am 03.06.2018). Angela Grünberg: »Saying and Doing. Speech Actions, Speech Acts and Related Events«, in: European Journal for Philosophy 22 (2014) H.  2, S. 173-199. Angela Grünberg: »Philosophie«, in: Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, hg. von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer, Stutt­ gart und Weimar 2018, S. 145-150. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1854.

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Jennifer Hornsby und Naomi Goulder: Art. »Action«, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy Online, https://www.rep.routledge.com/articles/ thematic/action/v-2 (2011 [Version 2], abgerufen am 03.06.2018). Peter Kivy: Sound and Semblance: Reflections on Musical Representation, Ithaca, NY 1991. John McDowell: »Virtue and Reason«, in: Virtue Ethics, hg. von Roger Chrisp und Michael Slote, Oxford 1997, S. 141-162. Thomas Nagel: The View From Nowhere, Oxford 1986. Matthew Nudds und Casey O’Callaghan (Hg.): Sounds and Perception. New Philosophical Essays, Oxford 2009. Gideon Rosen: »Objectivity and Modern Idealism: What is the Question«, in: Philosophy in Mind, hg. von John O’Leary-Hawthorne und Michae­ lis Michael, Dordrecht 1994, S. 277-319. R. Murray Schafer: The New Soundscape, Toronto u.a. 1969. R. Murray Schafer: The Tuning of the World, New York 1977. R. Murray Schafer (Hg.): The Vancouver Soundscape, Vancouver 1978. Roger Scruton: The Aesthetics of Music, New York 1997. Frederick Stoutland: »Introduction«, in: Essays on Anscombe’s ›Intention‹, hg. von Anton Jennifer Hornsby Ford und Frederick Stoutland, Cam­ bridge MA 2014, S. 1-22. Jérôme Sueur u.a. (Hg.): Ecoacoustics. Ecology and Acoustics: Emergent Properties from Community to Landscape, Paris 2014, https://ecoacoustics. sciencesconf.org/conference/ecoacoustics/pages/EcoacousticsBook_ v4.pdf (abgerufen am 03.06.2018). Bernard Williams: »A Passion for the Beyond«, in: London Review of Books 8 (1986), H. 14, S. 4-5.

Wenn Geschichte klingt Musikgeschichte auf der Bühne als geschichtstheoretischer Impuls Anna Langenbruch »Alle Werke von Chopin innerhalb eines Abends hören und Chopin selbst als italienischen Tenor sehen«, das könne er nicht, schreibt der Kompo­ nist Paul Dukas im Juni 1905 an den Kritiker Robert Brussel.1 Auf der Bühne des Pariser Théâtre Sarah Bernard wurde im Rahmen der soge­ nannten ›Saison italienne‹ – einer italienischen Operngastspielsaison  – auch Giacomo Orefices 1901 uraufgeführte Oper Chopin gegeben. Das Stück synthetisiert nicht nur große Teile von Chopins Kompositionen,2 wie Dukas schreibt, es transformiert diese auch: Klaviermusik wird zur Oper, Chopin selbst zur Opernfigur. Der historische Komponist Frédéric Chopin tritt den Pariser Hörerinnen und Hörern im Sommer 1905 also als italienischer Tenor entgegen, eingebettet in die Klangkulisse seines musikalisch verarbeiteten Werkes. Wenn, wie hier, Musikgeschichte auf der Bühne verhandelt wird, dann haben wir es mit Geschichte zu tun, die nicht nur geschrieben und ge­ lesen, sondern auch komponiert, gespielt, gesehen und gehört wird.3 Ins­ 1 | »Entendre toutes les œuvres de Chopin en une soirée et voir Chopin lui-même en ténor italien«, Brief von Paul Dukas an Robert Brussel, Paris [Juni 1905], Bibliothèque nationale de France, NLA-26 (032). 2 | Vgl. dazu auch Thomas Betzwieser: »Komponisten als Opernfiguren. Musikalische Werkgenese auf der Bühne«, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal, Kassel 1995, S. 511522. 3 | Vgl. einführend zu diesem Thema: Anna Langenbruch: »Wie ich Welt wurde? Wahre Fantasien und andere Musikgeschichten auf der Bühne«, in: Wagner –

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besondere haben wir es mit Geschichte zu tun, die klingt, und auf die­ sen Aspekt will ich mich im Folgenden konzentrieren. Ausgehend von Giacomo Orefices Oper Chopin werde ich nach Impulsen fragen, die das Musikgeschichtstheater für die (nicht nur musikwissenschaftliche) Ge­ schichtstheorie bieten könnte.4 Dazu ist es zunächst nötig, das Genre Mu­ sikgeschichtstheater kurz zu umreißen und entsprechende geschichts­ theoretische Bezüge herzustellen. Dem Thema des vorliegenden Bandes entsprechend werde ich mich dann auf zwei Felder konzentrieren, die sich für Fragen nach Klang als Geschichtsmedium besonders eignen: Ich wer­ de (musik‑)historiographische Praktiken im Musikgeschichtstheater her­ ausarbeiten und über Medialitäten von Musikhistoriographie nachdenken.

I. M usikgeschichtsthe ater , geschichtstheore tisch gedacht Musikgeschichte auf der Bühne ist ein altes und zugleich höchst aktuelles Phänomen, das nach wie vor seiner historisch-systematischen Aufarbei­ tung harrt.5 Als Begriff für das entsprechende Repertoire – also für Mu­ siktheater, das Musikgeschichte thematisiert – schlage ich die Bezeich­ nung ›Musikgeschichtstheater‹ vor. Dieser Neologismus verschmilzt das aus der Public History entlehnte Konzept des ›Geschichtstheaters‹, hier verstanden als jede Form von Theater, die sich mit historischen Themen auseinandersetzt,6 mit dem spezifischen Gegenstand der Auseinander­ Gender – Mythen, hg. von Christine Fornoff und Melanie Unseld, Würzburg 2015, S. 261-273. 4 | Dies ist (über das hier betrachtete Beispiel hinaus) auch Gegenstand meiner entstehenden Habilitationsschrift zum Thema Stimmen, Wissen und Spiel: Musikgeschichtstheater als Kunst und Wissenspraxis. 5 | Vgl. dazu die Arbeiten der von mir geleiteten Emmy Noether-Nachwuchsgruppe zu »Musikgeschichte auf der Bühne«, www.uni-oldenburg.de/musikgeschich​ te-auf-der-buehne/ (abgerufen am 10.07.2018). U.a. entsteht in diesem Projekt eine Repertoiredatenbank zum Musikgeschichtstheater, die derzeit gut 800 Einträge enthält (Stand: 10.07.2018). 6 | Demgegenüber bezieht Wolfgang Hochbruck den Begriff speziell auf eher außerhalb des institutionalisierten Theaters angesiedelte Formen der sogenannten living history oder des reenactments, vgl. Wolfgang Hochbruck: Geschichts-

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setzung, nämlich Musikgeschichte. Den Rahmen dieser partiellen Über­ blendung der historiographischen Kategorien Musikgeschichte und Ge­ schichtstheater bildet das musikalische Genre Musiktheater. Denn ich gehe davon aus, dass sich Musikgeschichtstheater sinnvoller Weise als historiographisches und zugleich musikalisches Genre untersuchen lässt, als eine Form von Geschichtsschreibung im Medium der Musik also. Mu­ sikgeschichtstheater verknüpft somit Geschichtserzählung, Musik und Theater. Oft (aber nicht immer) geschieht dies durch den Auftritt historischer Figuren: Im 18. Jahrhundert sind dies z.B. Troubadoure und Sänger wie Blondel oder Farinelli und Komponisten wie Lulli oder Rameau, ab dem 19. Jahrhundert entstehen regelrechte Opernkonjunkturen um Kompo­ nisten wie Stradella, Pergolesi7 und insbesondere Wolfgang Amadeus Mo­ zart.8 Opernsängerinnen oder Instrumentalisten treten als Figuren auf (Faustina Bordoni, Jenny Lind, Niccolo Paganini u.a.), zu denen sich im 20./21. Jahrhundert eine Vielzahl von Chanson- und Jazzsängerinnen9 so­ wie Pop‑ und Rockbands als Protagonisten gesellen. Der Wirklichkeitsbezug der Stücke ist dabei sehr unterschiedlich, er reicht von betont quellenkonformen über eher anekdotische bis zu expli­ zit kontrafaktischen Stücken. Versteht man mit Daniel Fulda Geschichts­ schreibung als »Gattungsbegriff für schriftliche Texte, die Vergangenes mit Tatsächlichkeitsanspruch dar­stellen«,10 stellt sich für dieses Reper­ toire also gleich zweifach die Frage, ob es sich denn, wie oben behaup­ tet, beim Musikgeschichtstheater überhaupt um ein historiographisches theater. Formen der »Living History«. Eine Typologie (= Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen/History in Popular Cultures 10), Bielefeld 2013. 7 | Vgl. dazu den Beitrag von Arnold Jacobshagen in diesem Band. 8 | Vgl. die entstehende Dissertation von Daniel Samaga: Mozart-Darstellungen auf der Bühne. Authentisierungsstrategien in historiographischen Musiktheaterwerken zum Leben W. A. Mozarts (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). 9 | Vgl. die entstehende Dissertation von Clémence Schupp-Maurer: Die Repräsentation von Chanson- und Jazzsängerinnen im populären Musiktheater seit 1970: (Re-)Produktion von Musikgeschichten und Genderkonzepten (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). 10 | So die Definition in: Daniel Fulda: Art. »Historiographie«, in: Lexikon der Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2002, S. 152-155, hier S. 152.

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Genre handelt. Erstens haben wir es hier nicht nur mit schriftlichen Texten zu tun, sondern mit einem Konglomerat aus Musik, Geschichts­ erzählung und Theater, das dem Publikum in Aufführungen zu Gehör gebracht wird (auf diesen Punkt werde ich später noch zurückkommen). Zweitens begegnen wir im Musikgeschichtstheater, wie für populäre Ge­ schichtsschreibung üblich,11 in der Regel einem Mischverhältnis faktua­ ler und fiktionaler Elemente und einem entsprechend variablen »Tatsäch­ lichkeitsanspruch«. Die Idee eines »Tatsächlichkeitsanspruchs der Texte« lässt sich zudem am Beispiel dieses Gegenstandes weiter ausdifferenzie­ ren, denn Tatsächlichkeitsansprüche werden im Musikgeschichtstheater nicht nur im engeren Sinne textuell erzeugt, sondern auch musikalisch (etwa durch Zitate, Stimm- und Inszenierungspraktiken), sie werden den Stücken nicht nur durch unterschiedlichste Autorinnen und Autoren ein­ geschrieben, sondern auch in hohem Maße vom Publikum an das Genre herangetragen. Tritt im Musikgeschichtstheater eine historische Figur auf, werden historische Ereignisse oder Praktiken verhandelt, erwarten die Hörerinnen und Hörer eine Aussage über vergangene Wirklichkeit. Selbst wenn diese ausbleibt oder der historischen Überlieferung offen­ bar zuwiderläuft, spielen die Stücke mit dem musikhistorischen Wissen ihres Publikums. Der Aufführungscharakter des Genres bedingt, dass Geschichtsschreibung sich hier nicht auf den Ausgangstext im weiteren Sinne (also das jeweilige Stück) beschränkt, sondern über die gedachten Ränder des Aufführungsereignisses hinausfließt und sich in Rezensio­ nen, in Ego-Dokumenten, in wissenschaftlichen Schriften, Blogs oder Nutzerkommentaren fortsetzt. Entsprechend betrachte ich Musikge­ schichtsschreibung als Prozess, in den das Musikgeschichtstheater, im Sinne einer Aufführung/Ausführung von Musikgeschichte,12 als historio­ graphisches Genre eingebunden ist. 11 | Vgl. Barbara Korte und Sylvia Paletschek: »Geschichte in populären Medien und Genres: Vom Historischen Roman zum Computerspiel«, in: History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, hg. von dens., Bielefeld 2009, S. 9-60, hier S. 15. 12 | Erika Fischer-Lichte verweist im Vorwort zu Freddie Rokems Buch Geschichte aufführen auf die Doppeldeutigkeit des englischen Originaltitels Performing History, die in der deutschen Übersetzung nur teilweise abgebildet werde. Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Vorwort«, in: Freddie Rokem: Geschichte aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater, Berlin 2012, S. 9-14, hier S. 10. Vgl.

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In dieser besonderen Aufmerksamkeit für das Prozesshafte und die damit verbundenen Praktiken treffen sich, so unterschiedlich ihre Gegen­ stände ansonsten auch sein mögen, performancetheoretische Ansätze in Geschichtstheorie und Musikwissenschaft. Von besonderem Interesse ist dabei für beide Disziplinen die Spannung zwischen (historiographischem oder musikalischem) Produkt und Prozess. Nicholas Cook etwa verortet Musik in seinem programmatischen Artikel »between process and pro­ duct«13 und versteht musikalische Notation als »script« der Aufführung.14 In ganz ähnlicher Terminologie lenkt Herman Paul den geschichtstheo­ retischen Blick auf den Prozess der Wissensproduktion: »[…] whereas philosophy of history from Hempel to White has focused on the materia­lization of the historian’s performances (be it explanations offered in historical accounts or narratives produced in discursive fields), I would invite philosophers of history, and historians of historiography, to pay attention to the performances themselves. In order not to privilege the scripts over the acts of performance, or the ›things done‹ over the ›doings,‹ it is time that philosophers of history also begin exploring ›doings‹ in archival reading rooms, ›doings‹ among library stacks, and ›doings‹ in studies cluttered with notes.«15

Man beachte, dass die jeweiligen »Skripte« bei Cook und Paul relativ zum Aufführen/Ausführen von Musik bzw. (Geschichts-)Wissenschaft unter­ schiedlich angeordnet sind: Handelt es sich bei Cook eher um der musi­ kalischen Aufführung vorausgehende »Vor-Schriften«, sind Pauls Skripte vielmehr als »Nieder-Schriften« des Forschungsprozesses zu denken. Für das Musikgeschichtstheater sind beide Blickrichtungen gleichermaßen interessant: Eingebunden in Prozesse der Geschichtsschreibung ragt die musikalische Aufführung von Geschichte als Ereignis daraus hervor, sie ist zugleich Folge, Ort und Auslöser von Musikgeschichtspraktiken. auch Freddie Rokem: Performing History: Theatrical Representations of the Past in Contemporary Theatre, Iowa City 2000. 13 | Nicholas Cook: »Between Process and Product. Music and/as Performance«, in: Music Theory Online 7 (2001), H. 2, www.mtosmt.org/issues/mto.01.7.2/mt​ o.01.7.2.cook.html (abgerufen am 08.08.2018). 14 | Ebd., § 15. 15 | Herman Paul: »Performing History: How Historical Scholarship Is Shaped by Epistemic Virtues«, in: History and Theory 50 (2011), H. 1, S. 1-19, hier S. 4.

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Diese Praktiken sind gewissermaßen innerhalb eines doppelten nor­ mativen Systems verortet: Sie müssen sich zum oben beschriebenen »Tatsächlichkeitsanspruch« von Geschichtsschreibung verhalten und zu­ gleich zu den ästhetischen Normen ihrer jeweiligen Aufführungskontex­ te.16 Die Interferenzen zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Verfahren und Ansprüchen teilt das Musikgeschichtstheater grundsätz­ lich mit anderen Formen der Geschichtsschreibung, wie die narratolo­ gisch ausgerichtete Geschichtstheorie der letzten Jahrzehnte vielfach ge­ zeigt hat.17 Während dort jedoch vornehmlich das Verhältnis von Literatur und Geschichte, also im engeren Sinne textuelle Verfahren, im Mittel­ punkt standen,18 lassen sich am Gegenstand Musikgeschichtstheater wei­ tere geschichtstheoretische Fragen aufwerfen, die Musik als Klang- und Aufführungskunst zum Ausgangspunkt nehmen.19 »Precisely because music presents special problems, not least of which is live aural presence, it remains philosophically engrossing«,20 schreibt

16 | Prinzipiell gilt diese Verquickung von historiographischen und ästhetischen Normen nicht nur für das Musikgeschichtstheater, sondern, wie Frank Hentschel ausführt, z.B. auch für musikhistorische Schriften. Vgl. Frank Hentschel: Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland 1776-1871, Frankfurt a.M. 2006, insb. 1. Kapitel: Die Grenzen der Vernunft, S. 23-83. 17 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Daniel Fulda in diesem Band. Vgl. zudem grundlegend: Hayden White: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973; Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin und New York 1996. Vgl. überblicksartig auch: Franziska Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, Bern u.a. 2011, S. 60-70. 18 | Vgl. z.B. Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp, Berlin 2002. 19 | Vgl. dazu auch Anna Langenbruch: »Zwischen Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte: Musikalische Annäherungen an Auschwitz«, in: artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst, hg. von Esther Kilchmann, Köln u.a. 2016, S. 87-105. 20 | Carolyn Abbate: »Music – Drastic or Gnostic?«, in: Critical Inquiry 30 (2004), H. 3, S. 505-536, hier S. 515.

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Carolyn Abbate. Anknüpfend an Überlegungen Vladimir Jankélévitchs21 führt sie diese lebendige Hörgegenwart musikalischer Aufführungen zur Frage nach den »drastischen« und/oder »gnostischen« Qualitäten von Musik, einer Unterscheidung, die über den gedachten Gegensatz von Mu­ sikpraxis und Musiktheorie hinausgehe, »because drastic connotes phy­ sicality, but also desperation and peril, involving a category of knowledge that flows from drastic actions or experiences and not from verbally me­ diated reasoning. Gnostic as its antithesis implies not just knowledge per se but making the opaque transparent, knowledge based on semiosis and disclosed secrets, reserved for the elite and hidden from others.«22 Betrachtet man beide Konzepte – das »Drastische« und das »Gnosti­ sche« – weniger als Gegensätze, denn als Wahrnehmungsprinzipien, die Musik, abhängig von den jeweiligen Hörerinnen und Hörern, mehr oder weniger simultan eingeschrieben sind, lenkt dies den Blick erstens auf unterschiedliche musikalische Wissensformen und Erfahrungsebenen, die nicht nur für Musik allgemein, sondern auch für die Auseinanderset­ zung mit Musikgeschichtstheater zentral sind: Als musikalisches Ereignis vereint das Musikgeschichtstheater Körperlichkeit und emotionale Kraft mit einem Handlungs- und Erfahrungswissen jenseits der Sprache, mit einer musiktheatralen Sprachebene sowie mit einem potentiell aufkläre­ rischen Deutungs- oder gar Entschlüsselungsimpuls (bei gleichzeitiger relativer Deutungsoffenheit, die diesen Impuls erst mit auslöst). Dies hat Konsequenzen für das historiographische Ereignis Musikgeschichts­ theater: Zunächst einmal rückt diese Perspektive die Wahrnehmung von Geschichte ins Zentrum, also die Frage, wie Menschen (und zwar auch jenseits der Autorinnen und Autoren der jeweiligen Stücke und erst recht jenseits von professionellen Historikerinnen und Historikern) Geschichte erleben, wie sie sich mit ihr auseinandersetzen und ihr Sinn verleihen. Musikspezifisch schließt sich daran zudem die Frage an, wie sich die Wahrnehmung von Geschichte zur Wahrnehmung von Musik verhält, wie also z.B. Geschichtsvorstellungen und musikästhetische Konzepte der jeweiligen Akteurinnen und Akteure interagieren. Allge­ meiner gewendet lässt sich in diesem Zusammenhang auch die für die Musikhistorik zentrale Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte/

21 | Vladimir Jankélévitch: La Musique et l’Ineffable, Paris 1983 [Orig. 1961]. 22 | Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«, S. 509-510.

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Geschichtsschreibung und Musik als Klangkunst, die stets in Aufführun­ gen re-aktualisiert werden muss, neu stellen. Zweitens lenkt diese Perspektive den Blick auf die Medialität und Ma­ terialität von Geschichte und stellt die Sprache als exklusives Medium von Geschichte zur Disposition. Geschichte ist eben nicht nur »Gegenstand des Schreibens und Lesens«,23 sondern auch Gegenstand klanglicher, bild­ licher, theatraler oder filmischer Auseinandersetzung. Den Kon­struk­tions­ charak­ter von Geschichte, also die grundsätzliche Unverfügbarkeit vergan­ gener Wirklichkeit, stellt das in keiner Weise in Frage. Auch die von der narratologisch ausgerichteten Geschichtstheorie herausgearbeitete wich­ tige Rolle, die sprachliche Darstellungsmodi in diesem Zusammenhang spielen, bleibt unbenommen. Allerdings ist die Frage nach der »Textuali­ tät von Geschichte«24 weiterzudenken: Klangliche oder im engeren Sinne musikalische, bildliche, theatrale und filmische Verfahren der Geschichts­ schreibung sind geschichtstheoretisch zu reflektieren, und zwar als Ver­ fahren eigenen Rechts, deren Regeln, Funktion und Wirkung möglicher­ weise von denen textueller Verfahren abweichen. Für eine solche Reflexion kann Musikgeschichte auf der Bühne meines Erachtens wichtige Impulse geben.

II. M usikgeschichte komponieren , spielen , hören , (be) schreiben Wie klingt es, wenn, wie in Giacomo Orefices Chopin-Oper, ein Klavier­ komponist zur Opernfigur wird? Steht ein historischer Musiker als Büh­ nenfigur im Mittelpunkt eines Stücks, müssen die Komponistinnen und Komponisten sich entscheiden, ob und wie sie die Musik ihres Protago­ nisten in ihre eigene Musiksprache integrieren. Giacomo Orefices ein­ gangs erwähnte Oper ist in kompositorischer Hinsicht ein Extremfall: Der Komponist hat die Musik seiner Oper über Chopin aus über 140 Zi­

23 | Emil Angehrn: »Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruktion und historischer Sinn«, in: Selbstorganisation 10 (1999), S. 217-236, hier S. 218, zit.n.: Daniel Fulda und Silvia Serena Tschopp: »Einleitung«, in: Fulda und Tschopp (Hg.), Literatur und Geschichte, S. 1­-10, hier S. 1. 24 | Fulda und Tschopp, »Einleitung«, S. 2.

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taten aus dessen Klavierwerken zusammengeschnitten,25 ein Verfahren, das im Italien der Uraufführungszeit auch urheberrechtliche Fragen auf­ warf.26 In der französischen Musikzeitschrift Le Ménestrel war daraufhin 1901 folgende Persiflage zu lesen: »Tritt ein in die Küche des großen Pianisten und Komponisten Frédéric Chopin, […] nimm die Nocturne op. 15, Nr. 1, und forme daraus eine Arie, die Mazurka op. 56, Nr. 2, und mach daraus einen Chor, die Barcarolle op. 60 und ziehe daraus ein Vorspiel zu einer Sopranarie, die auf der Fantasie über polnische Weisen op. 13 aufbaut, danach die Berceuse op. 57, die du zu einem Duett arrangierst, dann den Krakowiak der Nocturne op. 9, Nr. 2, den du in einen Chor verwandelst, dann gründlich umrühren und den ersten Akt der Oper sofort servieren. Wiederhole diese Prozedur dreimal mit anderen Zutaten und du hast die vier Akte der Chopin betitelten Oper gekocht.« 27

Was hier so nett im Modus des Kochrezepts beschrieben wird, lässt sich, musiktheoretisch gewendet, auch als intertextuelles Komponieren be­ zeichnen, als ein Komponieren also, das durch Zitate, Paraphrasen und Bearbeitungen Bezüge herstellt zum kompositorischen Werk des Prota­ gonisten. Dadurch entsteht innerhalb der Oper ein Netzwerk aus Kom­ positionen Frédéric Chopins – ein Werk-Netz, könnte man auch sagen –, das sowohl die Handlung emotional koloriert und kommentiert, als auch eigene Sinn- und Deutungsebenen schafft.

25 | Betzwieser, »Komponisten als Opernfiguren«, S. 513. 26 | Vgl. (brrr…): »A proposito di un opera… nuova! (Tema con variazioni legali)«, in: Gazetta musicale di Milano 56 (1901), H. 46, S. 640-641. 27 | »›Entre dans la cuisine du grand pianiste-compositeur Frédéric Chopin, […] prends le Nocturne op. 15, n° 1, et forme-s-en un air, la Mazurka op. 56, n° 2, et fais-en un chœur, la Barcarolle op. 60 et tire-s-en un prélude à un air de soprano construit avec la Grande Fantaisie op. 13, ensuite la Berceuse op. 57 que tu arrangeras de façon à en faire un duo, puis le Cracoviak du Nocturne op. 9, n° 2, que tu transformeras en chœur, puis tripote bien le tout et sers chaud le premier acte de l’opéra, renouvelle trois fois l’opération avec d’autres ingrédients, et tu auras cuisiné les quatre actes de l’opéra intitulé Chopin.« Anon.: [Au Théâtre-Lyrique de Milan a eu lieu, le 25 novembre, la première représentation de Chopin, opéra en quatre actes […]], in: Le Ménestrel 67, H. 49, 08.12.1901, S. 389-390.

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Bei dieser Opernmusik handelt es sich zudem um ein klangliches Hybrid: Chopins Klavierkompositionen fügen sich, durch Orefice ge­ filtert, zumindest für meine heutigen Ohren relativ bruchlos in die ita­ lienische Opernästhetik um 1900 ein.28 Das liegt an der Auswahl und Zusammenstellung der Chopinschen Kompositionen durch Orefice, die sich an bestimmten Arien- und Figurentypen zu orientieren scheint, an der Instrumentation und auch an Orefices Bearbeitung, die bei näherer Betrachtung eben doch keine bloße Collage ist. Als Beispiel mag hier das Duett »Verso la luce« von Chopin und dessen (fiktivem) Freund Elio die­ nen (vgl. Abb. 1). Abb. 1: »Verso la luce«, aus: Giacomo Orefice: Chopin.29

Grundlage für dieses Duett ist Chopins Polonaise fis-moll op. 44, die es dem Protagonisten an dieser Stelle der Oper erlaubt, im Modus des Heldentenors aufzutreten.30 Im Klavierauszug der Oper entspricht die 28 | Vgl. für einen Klangeindruck die Einspielung der Oper Wrocław in der Bearbeitung von Ewa Michnik: Giacomo Orefice. Chopin. Opera in 4 Acts, Chorus & Orchestra of the Wrocław Opera, Ewa Michnik, Dux 2010. 29 | Gesetzt nach dem Klavierauszug der Oper: Chopin. Opera in 4 atti composta da Giacomo Orefice sulle melodie di F. Chopin. Versi di Angiolo Orvieto, Mailand 1904, S. 57-58. 30 | Gabriel Fauré deutet entsprechend den gesamten zweiten Akt der Oper als »lebendige Erklärung bestimmter Kompositionen Chopins, deren besonderes Kennzeichen der heroische Ton ist« (»l’explication vivante de certaines composi-

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Begleitung notengenau dem Chopinschen Original, es handelt sich also um eine Bearbeitung für Orchester, die sehr dicht am Notentext bleibt. Die Singstimme hingegen komponiert Orefice dazu. Und zwar so, dass sie zentrale Töne und rhythmische Bewegungen der Polonaise aufnimmt oder fortsetzt, sich dazwischen aber unabhängig davon bewegt. Markiert man die bis auf Oktavlagen identischen Töne in Singstimme und (Kla­ vier‑)Begleitung, sieht man, dass das Tonmaterial der Singstimme zu wesentlichen Teilen aus Chopins Polonaise abgeleitet ist. Dennoch wäre die Melodie isoliert nicht unmittelbar als Referenz an die Polonaise fismoll erkennbar, da Orefice sehr viel melodisch-rhythmisches Material der Polonaise weglässt, neue Übergänge komponiert, z.T. gegenläufige Melo­ diebögen schafft, die sich einmal voneinander entfernen, ein anderes Mal wieder aneinander anschmiegen. Dadurch entsteht eine eigene melodi­ sche Logik der Singstimme. Diese Art des intertextuellen Komponierens fordert bestimmte Hör­ weisen heraus. Eine davon wird in dem oben zitierten ›kompositorischen Kochrezept‹ sehr schön deutlich. Der Kritiker persifliert hier ja nicht nur Orefices Kompositionstechnik, er spielt auch mit dem Wahrnehmungs­ modus von Rätsel und Lösung, also mit einem bestimmten Hörwissen über die Musik Frédéric Chopins. In gewisser Weise hört der Rezensent Orefices Oper als musikalisches Rätsel, das es durch die richtige Zuord­ nung und Benennung von Zitaten zu entschlüsseln gilt.31 Nicht zuletzt tions de Chopin que caractérise spécialement l’accent héroïque«). Gabriel Fauré: »Théâtre italien (Sarah-Bernhardt), Chopin, drame lyrique en quatre actes, composé sur des mélodies de Frédéric Chopin, par Giacomo Orefice, poème d’Angiolo Orvieto«, in: Le Figaro, 14.06.1905, S. 4. 31 | Der italienische Klavierauszug der Oper löst das Rätsel interessanterweise durch einen vorangestellten thematischen Index und minutiöse Zitatnachweise im weiteren Verlauf auf, vgl. »Indice tematico«, in: Orefice, Chopin. Opera in 4 atti, 2 S., n. pag. Das ›kompositorische Kochrezept‹ der zitierten Rezension entpuppt sich dabei erwartungsgemäß als Vereinfachung: Statt der sechs dort genannten Zitate erfasst der Index für den ersten Akt allein 44 Zitate aus Kompositionen Frédéric Chopins (von insgesamt 142), vgl. ebd. Der deutsch-französische Klavierauszug der Oper enthält demgegenüber keinerlei Angaben zu den zitierten Kompositionen, vgl. Chopin. Opéra en 4 actes composé par Giacomo Orefice sur des mélodies de F. Chopin. Poème de Angiolo Orvieto. Adaptation française de Paul Milliet, Mailand 1904.

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bestätigt dieses decodierende Hören, das sich mit Carolyn Abbate auch als typisch »gnostische«32 Hörhaltung bezeichnen ließe, die eigene Kenner­ schaft. Es ist also eine Hörhaltung, die wir im Zusammenhang mit Musik­ geschichtstheater bei Musikkritikern, Musikern, Musikwissenschaftlern oder auch anderen Gruppen von ›Eingeweihten‹ (z.B. Fans) häufig antref­ fen. Neben der Freude am Rätsellösen wird dabei ein musikhistorisches Hörwissen hergestellt und weitergetragen, und zwar sowohl öffentlich als auch privat (in Musikzeitschriften und in der Tagespresse, in Briefwech­ seln, Diskussionen, heutzutage auch vielfach in YouTube-Kommentaren). Gleichzeitig lässt sich für Orefices Chopin-Oper auch ein dezidiert emotionales Hören nachweisen, das sich an etablierten Wahrnehmungs­ modi des Operngenres orientiert. So heißt es etwa über eine Aufführung des Chopin im italienischen Brescia: »Wie man sehen kann, hatte hier in dieser kleinen italienischen Stadt der größte Teil des Publikums – die kleinen Näherinnen – Gelegenheit, genauso viele Tränen zu vergießen, wie im letzten Akt der Bohème. Das könnte über das Schicksal der neuen Oper entscheiden. Warum auch sollte man sich auf dieser Seite der Alpen weniger für Chopin interessieren, als für das Schicksal der guten Mimi?« 33

Hier wird zunächst einmal deutlich, dass Musikkritik auch ein Mittel zur sozialen Distinktion ist, ähnlich, wie Frank Hentschel es für die Musik­ geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beschrieben hat.34 Denn im Bild der tränenreichen »kleinen Näherinnen«, von denen sich der Kriti­ ker ironisch zu distanzieren scheint, spiegeln sich, um mit Bourdieu zu

32 | Vgl. Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«. 33 | »Comme on peut le voir, dans cette petite ville italienne, la plus grande partie du public, les petites couturières, ont eu là l’occasion de verser des larmes tout autant qu’au dernier acte de la Bohème. Cela pourrait décider du sort du nouvel opéra. Pourquoi d’ailleurs de ce côté-ci des Alpes s’intéresser moins à Chopin qu’au sort de la bonne Mimi?« Ascanio: »Milan. – Chopin, opéra de Giacomo Orefice, livret de Angiolo Orvieto, vient d’être applaudi au ›Teatro Grande‹ de Brescia«, in: Le Monde artiste: théâtre, musique, beaux-arts, littérature, 26.03.1905, S. 202-203, hier S. 203. 34 | Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik, insb. das 2. Kapitel »Bildungsbürgerliche Autorisierung des Urteils«, S. 84-157.

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sprechen, die »feinen Unterschiede«35 innerhalb eines Opernpublikums: Zwischen französischer Metropole und italienischer Kleinstadt, zwischen Bildungsbürgertum und Arbeiterklasse, zwischen Männern und Frauen. Und dies am Beispiel eines Wahrnehmungsmodus, der das Musikge­ schichtstheater emotional in der Oper verortet, also auf die »drastischen« Qualitäten von Musikgeschichte auf der Bühne verweist: Ob es um die historische Figur Chopin gehe oder um die fiktive Mimi, das Publikum reagiere mit gleicher emotionaler Faszination. Diese emotionale Wirkung kann, egal ob sie sich nun in Tränen oder in Vergnügen ausdrückt, insbesondere in Fachkreisen außerordentlich umstritten sein. Und damit komme ich auf eine dritte Hörhaltung zu sprechen: Diejenige der ästhetischen Kritik, wie sie beispielsweise diver­ se Komponistenkollegen gegenüber Orefices Chopin einnehmen. Der ein­ gangs zitierte Paul Dukas etwa begibt sich in gewisser Weise ins Extrem der ästhetischen Kritik, nämlich in die Hörverweigerung: »Alle Werke von Chopin innerhalb eines Abends hören und Chopin selbst als italienischen Tenor sehen – das kann ich nicht – kann ich nicht, kann ich nicht!«36 Vie­ le französische Rezensenten um 1900 sehen Orefices kompositorisches Verfahren außerordentlich kritisch, so auch der soeben zum neuen Di­ rektor des Pariser Conservatoire ernannte Gabriel Fauré, der betont, dass »Musik, die speziell für das Klavier geschrieben wurde, die ausschließlich für dieses Instrument bestimmt ist, Musik, die eine individuelle Inter­ pretation verlangt, keinesfalls ins Orchester übertragen werden« dürfe.37 Am Beispiel von Orefices Chopin verhandeln französische Komponisten 35 | Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987 [Orig. 1979]. 36 | »Entendre toutes les œuvres de Chopin en une soirée et voir Chopin lui-même en ténor italien – peux pas – peux pas moi, peux pas!« Paul Dukas in einem Brief an Robert Brussel, Paris [Juni 1905], Bibliothèque nationale de France, NLA26 (032). 37 | »[…] de la musique spécialement écrite pour le piano, uniquement destinée à cet instrument, de la musique qui réclame une interprétation individuelle, ne devait en aucun cas être transportée à l’orchestre«. Fauré, »Théâtre italien (SarahBernhardt), Chopin«, S. 4. Fauré spricht hier auch programmatisch, als jemand, der künftig in hohem Maße die französische Musikerziehung mitbestimmen wird (seine Ernennung zum Direktor des Conservatoire ist im Figaro auf derselben Seite angekündigt).

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und Kritiker also allgemeinere musikästhetische Fragen, wie z.B. das Ver­ hältnis von kompositorischer Originalität und Bearbeitung, Klavierkam­ mermusik und Oper, französischer und italienischer Ästhetik. In diesem Zusammenhang versucht der einflussreiche Musikkritiker Pierre Lalo, das eigene Vergnügen an Orefices Oper zu rechtfertigen: »Sie werden mir sagen«, schreibt er, »dass das Vergnügen, das man empfindet, wenn man Chopins Musik so entstellt und von ihrem wahren Ziel abgelenkt hört, ein zweischneidiges, illegitimes, minderwertiges Vergnügen ist, dessen man sich schämen sollte. Einverstanden. Sie werden mir sagen, dass es mir eine noch größere, und sicherlich reinere, Freude bereiten würde, dieselben Stücke Chopins an ihrem wahren Ort und in ihrer wahren Form zu hören, am Klavier und in einem Konzert. Einverstanden. Aber einstweilen bin ich im Theater und nehme, was man mir anbietet: Der Abend des Chopin ist der beste der italienischen Gastspielsaison.« 38

Lalo entwirft hier also eine Art ›illegitimes Hören‹, ein Vergnügen wider Willen, und verweist gleichzeitig darauf, dass Musikhören – und damit auch das Hören von Musikgeschichte auf der Bühne – eine in hohem Maße situierte Praxis ist, also abhängig vom Ort und Rahmen der Auf­ führung, von ästhetischen Präferenzen oder politischen Vorstellungen.39 Orefices Chopin zeigt uns musikhistoriographische Praktiken also in vielerlei Hinsicht als musikalische Praktiken. Inwiefern handelt es sich dann hier überhaupt um Geschichtspraktiken? 38 | »Vous me direz que le plaisir qu’on goûte à entendre la musique de Chopin ainsi dénaturée et détournée de son objet véritable est un plaisir équivoque, illégitime, inférieur, et dont on devrait avoir honte. D’accord. Vous me direz que j’aurais une joie encore bien plus grande, et assurément plus pure, à entendre les mêmes pièces de Chopin à leur vraie place et sous leur vraie forme, au piano et dans un concert. D’accord. Mais en attendant, je suis au théâtre et prends ce qu’on m’offre: la soirée de Chopin est la meilleure de la saison italienne.« Pierre Lalo: »A l’Opéra-Italien: première représentation de Chopin, opéra en quatre actes; paroles de M. Angiolo Orvieto; musique de M. Giacomo Orefice, composée sur les mélodies de Frédéric Chopin«, in: Le Temps, 20.06.1905, S. 3. 39 | Wie z.B. von nationalistischen Stereotypen. Lalo spielt in seinem Artikel letztlich Chopins Musik gegen die der Komponisten des sogenannten ›Jung-Italiens‹ aus, vgl. ebd.

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III. M edialität : M usikgeschichte in /durch /als M usik Der Blick auf historiographische Praktiken wie das Komponieren, Spie­ len, Hören oder (Be)Schreiben von Musikgeschichtstheater rückt Musik­ geschichte als Aushandlungs- und Wahrnehmungsprozess in den wis­ senschaftlichen Fokus. Im Mittelpunkt stehen, wie hier am Beispiel des Chopin beschrieben, das Handeln, Fühlen und Denken der Akteurinnen und Akteure, die Musikgeschichte gestalten und erleben. Ein Interesse an der Medialität von Geschichte verschiebt demgegenüber die Perspektive hin zum Prozess der Übertragung40 und damit auch zur Frage nach mög­ lichen ›Trägern‹ von (Musik‑)Geschichte. Kurz gefragt: Wenn die beschriebenen Praktiken in so hohem Maße musikalisch geprägt sind, was macht den Chopin dann überhaupt zu Musikgeschichte? Die landläufige und partiell auch zutreffende Antwort ist: vor allem der Text. Im Falle des Chopin lässt sich diese Antwort aber wiederum partiell infrage stellen. Denn dieser Text, das Libretto von An­ giolo Orvieto, erscheint vielen französischen Kritikern um 1905 vor allem eines: »absolut unverständlich«:41 »Nicht dass die Handlung des Chopin sehr kompliziert wäre, alles andere als das; sie ist vielmehr elementar ein­ fach, aber zugleich so undurchsichtig, dass selbst Röntgenstrahlen sie nicht zu durchdringen vermöchten. Was man noch am klarsten sieht, ist, dass der Autor sich bemüht hat, die Hauptphasen der Existenz von Cho­ pin auf die Bühne zu bringen.«42 Dennoch stellt keine der mir bekannten Kritiken den Anspruch des Stücks, »vier Episoden, vier Ausschnitte aus

40 | Vgl. grundlegend Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. 41 | »tout à fait inintelligible«, Fauré, »Théâtre italien (Sarah-Bernhardt), Chopin«, S. 4. 42 | »Ce n’est pas que l’action de Chopin soit très compliquée, loin de là; elle est, au contraire, d’une simplicité élémentaire, mais en même temps d’une obscurité que les rayons X eux-mêmes ne parviendraient pas à percer. Ce qu’on y voit de plus clair, c’est que l’auteur s’est efforcé de transporter à la scène les phases principales de l’existence de Chopin.« Arthur Pougin: »Chopin, drame lyrique en quatre actes, livret de M. Angelo Orvieto, musique arrangée sur les mélodies de Chopin par M. Giacomo Orefice (13 juin)«, in: Le Ménestrel 71, H. 25, 18.06.1905, S. 195-196, hier S. 195.

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dem Lebens Chopins«43 darzustellen, grundsätzlich infrage. Und dies, obwohl das Libretto mit seinen größtenteils abstrakten Figuren (ledig­ lich Chopin selbst ist als historische Person unmittelbar benannt) dazu durchaus Anlass geboten hätte. Im Gegenteil wird in vielen Rezensionen zumindest die verschlüsselte Figur der Flora ganz selbstverständlich de­ codiert als Chopins zeitweilige Lebensgefährtin George Sand, und zwar unter anderem aufgrund des Spiels und der Kostümierung: So habe der Darsteller des Chopin »von Akt zu Akt immer mehr gehustet, um [dessen] fortschreitende Krankheit zu unterstreichen« und die Sängerin der Flora sei »sorgfältig à la Sand frisiert« gewesen.44 Anders als im Falle von Um­ berto Giordanos Revolutionsoper Andrea Chenier, die ebenfalls Teil der italienischen Gastspielsaison war, und über die es heißt, der Autor sei »so kühn, sie als historisches Drama zu bezeichnen«, dabei seien »das einzig Historische darin die Personennamen und die Ereignisse hinter den Kulissen«,45 wird der Status von Chopin als historische Figur nicht grundsätzlich angezweifelt. Mir scheint, dass dies vor allem an der be­ glaubigenden Kraft der Musik liegt. Denn durch Orefices intertextuelles Komponieren ist Chopin als historischer Komponist klanglich permanent präsent. Die Oper erhebt musikalische »Tatsächlichkeitsansprüche«, die von vielen Kritikern zwar auf ästhetischer Ebene infrage gestellt werden, auf historiographischer Ebene ihre wirklichkeitserzeugende Funktion jedoch durchaus erfüllen. Musikgeschichte wird der Chopin also auch durch Text und Spiel, vor allem aber durch Musik. Musikalische Zitate, Paraphrasen und Adaptionen sind dabei mei­ nem Eindruck nach weniger als »klingende ›Realitätsfragmente‹« 46 zu 43 | »quatre épisodes, quatre tranches de la vie de Chopin«. Adolphe Jullien: »Opéra Italien: Andrea Chenier, drame historique en quatre actes, de M. Luigi Illica; musique de M. Umberto Giordano. Chopin, drame lyrique en quatre actes, de M. Angiolo Orvieto; musique de M. Giacomo Orefice, d’après des mélodies de Chopin. […]«, in: Le Journal des Débats, 18.06.1905, S. 1-2, hier S. 1. 44 | »toussant un peu plus d’acte en acte, afin de souligner les progrès de la maladie«; »soigneusement coiffée à la Sand«. Ebd. 45 | »Dans le livret d’André Chenier, que l’auteur qualifie audacieusement de drame historique, il n’y a d’historique que les noms des personnages et les événements qui se passent à la cantonade […].« Ebd. 46 | Arnold Jacobshagen: »Les trois âges de l’opéra: Repertoirestruktur und ›Alte Musik‹ an der Pariser Oper zwischen Ancien Régime und Restauration«, in: The

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betrachten, denn als ›Bausteine‹ von Geschichte. Denn musikalische Bruchstücke erlauben genauso wenig einen direkten Zugriff auf vergan­ gene Wirklichkeit, wie textliche oder visuelle. Wie die Diskussionen um Orefices Bearbeitungstechnik sehr deutlich zeigen, handelt es sich im Musikgeschichtstheater um verarbeitete und neu kontextualisierte Mu­ sik, um eine Musik, die noch dazu ganz anders klingt als ihre Chopin­ schen »Skripte«. Als Klang- und Aufführungskunst ist Musik ohnehin immer interpretierte musikalische Vergangenheit.

IV. S chrif t, S piel , B ild und K l ang : I ntermediale M usikhistoriogr aphie Musik lässt sich im Musikgeschichtstheater also als ein ›Träger‹ von Ge­ schichte verstehen, aber nicht als der einzige. Wir haben es hier vielmehr mit Verflechtungen von Sprache, Spiel, Bild und Klang zu tun, die sich zudem über die Ränder des Aufführungsereignisses hinaus in andere Formen von Musikgeschichtsschreibung weiterverfolgen lassen. So stört sich etwa der Kritiker Arthur Pougin an der Sterbeszene in Orefices Chopin und greift als Korrektiv auf eine Biographie des Komponisten zurück: »Chopin leidet, Chopin stöhnt, Chopin jammert und stirbt dann mitten in seinem isolierten Zimmer in ihren Armen. Mit dem rührenden Be­ richt, den Maurice Karassowski [sic!] uns von den letzten Augenblicken des großen Künstlers in dem Buch gibt, das er ihm gewidmet hat, stimmt das kaum überein.«47 Daran anschließend zitiert bzw. übersetzt Pougin einen langen Abschnitt aus Maurycy Karasowskis Chopin-Biographie, und zwar wahrscheinlich aus der polnischen Ausgabe von 1882,48 und urteilt abschließend: »Sie sehen, man muss doch sagen, dass dies auf Past in the Present. Papers Read at the IMS Intercongressional Symposium and the 10th Meeting of the Cantus Planus, Bd. 1, hg. von László Dobszay, Budapest 2003, S. 227-243, hier S. 235. 47 | »Chopin souffre, Chopin gémit, se lamente, puis expire dans leurs bras, au milieu de sa chambre isolée, ce qui ne s’accorde guère avec le récit touchant que M. Maurice Karassowski a fait des derniers moments du grand artiste dans le livre qu’il lui a consacré, récit dont voici la traduction: […].« Pougin, »Chopin, drame lyrique en quatre actes«, S. 195. 48 | Maurycy Karasowski: Fryderyk Chopin: życie, listy, dzieła, Warschau 1882.

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ganz andere Art und Weise bewegend und dramatisch ist, als das düste­ re und trockene Tableau, das uns Angelo Orvieto im letzten Akt seines Dramas bot.«49 Pougin greift also auf Geschichtsschreibung in Buchform zurück, um Geschichtstheater zu kritisieren. Dabei geht es ihm nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, um die jeweiligen »Tatsächlichkeits­ ansprüche«, sondern um die Dramatik der jeweiligen Sterbeszenen, also um eine theatrale Kategorie, die er aber in der Buchform eher verwirklicht sieht als in Orefices/Orvietos Bühnenversion.50 Gleichzeitig weist seine ›Übersetzung‹ subtile Unterschiede zu Karasowskis Biographie auf. So spricht etwa sein Chopin konsequent mit den anderen Figuren und nicht über sie, und Pougin fügt dem Biographieextrakt einen bezeichnenden Satz hinzu, um Chopins Sterbeszene noch genauer zu charakterisieren: »Diese herzerweichende Szene ist es, die sich Barrias bemüht hat, male­ risch wiederzugeben.«51 Pougin dramatisiert die im Buch beschriebene Szene also noch zusätzlich und stellt sie seinen Leserinnen und Lesern durch den Verweis auf Félix-Joseph Barrias’ Gemälde La mort de Chopin (1885) als Szenenbild vor Augen. Seine Erzählung erhält damit nicht nur ein implizites Bühnenbild, sondern auch eine Idee der Figurenaufstel­

49 | »Voilà, il faut le dire, ce qui est autrement émouvant et dramatique que le tableau tout à la fois lugubre et sec que M. Angelo Orvieto nous a offert au dernier acte de son drame.« Pougin, »Chopin, drame lyrique en quatre actes«, S. 195. 50 | Andere Rezensenten, wie z.B. Pierre Lalo, setzen die Dramatik von Chopins Lebenswirklichkeit gegen die mangelnde Dramatik der Oper: »Es wäre nicht schwierig gewesen, in der bewegten Existenz Chopins Episoden und Personen zu finden, die als Stoff einer Opernhandlung hätten dienen können. Stattdessen hat der Librettist vier Bilder ohne Handlung, ohne Verbindung geschaffen, in denen abstrakte, idealisierte und leblose Figuren so tun, als ob sie die lebendigen Menschen, die in Chopins wirkliche Geschichte verwickelt waren, zusammenfassen und ersetzen könnten.« (»Il n’était pas malaisé de trouver dans l’existence agitée de Chopin des épisodes et des personnages capables de fournir la matière d’une action lyrique. Au lieu de cela, le librettiste a composé quatre tableaux sans action, sans lien, où quelques figures abstraites, idéales et sans vie, prétendent synthétiser et remplacer les êtres vivants qui ont été mêlés à l’histoire réelle de Chopin.«), Lalo, »A l’Opéra-Italien: première représentation de Chopin«, S. 3. 51 | »C’est cette scène navrante que s’est efforcé de rendre le pinceau de Barrias.« Pougin, »Chopin, drame lyrique en quatre actes«, S. 195.

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lung, Blickrichtungen und Gestik der Protagonistinnen und Protagonis­ ten der beschriebenen Szene. Interessant für die Frage nach Klang als Geschichtsmedium ist auch, wie Pougin/Karasowski Chopins Sterbeszene musikalisieren: Die Sänge­ rin und Pianistin Delfina Potocka, eine Schülerin und Freundin Chopins, singt am Sterbebett eine nicht näher spezifizierte Arie aus Vincenzo Bel­ linis Beatrice di Tenda.52 Für die Auseinandersetzung mit intermedialer Musikgeschichtsschreibung ist das in mehrfacher Hinsicht bemerkens­ wert: Erstens zeigt es, dass Musikgeschichte auch in Buchform einen ›Soundtrack‹ erhalten kann, Klang also auch in schriftlichen Texten dazu beiträgt, Geschichte zu vermitteln. Zweitens war Delfina Potocka bekannt dafür, dass sie als Sängerin etwas ganz Ähnliches tat wie das, was fran­ zösische Kritiker Giacomo Orefice vorwarfen: Sie bearbeitete und sang Chopins Klaviermusik. So berichtet etwa Eugène Delacroix in seinen Tagebüchern, er habe »bei Chopin Madame Potocka wiedergesehen. Der gleiche wunderbare Effekt der Stimme. Sie hat Stücke, Nocturnes und Klaviermusik von Chopin gesungen, unter anderem das von der Mühle von Nohant, das sie zu einem O salutaris arrangiert hat.«53 Potocka steht also als Figur (indirekt und von Pougin in diesem Zusammenhang sicher nicht intendiert) durchaus für eine ähnliche Bearbeitungspraxis im Um­ feld Frédéric Chopins wie die, die Orefice für das Musikgeschichtstheater nutzt. Drittens ist bemerkenswert, wie sich die Musikalisierung von Cho­ pins Sterbeszene in verschiedenen Versionen der Karasowski-Biographie selbst ändert. Während sich die bei Pougin zitierte Bellini-Arie in der Tat in der polnischen Version der Biographie von 1882 findet, singt Delfina Potocka in den älteren deutschen Versionen von 1877 und 1878 »mit glo­ ckenreiner, vibrirender Stimme die Hymne an die Heilige Jungfrau von Stradella«.54 Bei dem Stück, das Karasowski in seiner ursprünglich für 52 | Vgl. ebd. und Maurycy Karasowski: Fryderyk Chopin: życie, listy, dzieła, Bd. 2, Warschau 1882, S. 197. 53 | »[…] j’ai revu Mme Potocka chez Chopin. Même effet admirable de la voix. Elle a chanté des morceaux, des nocturnes et de la musique de piano de Chopin, entre autres celui du Moulin de Nohant, qu’elle arrangeait pour un O salutaris.« Eugène Delacroix: Journal de Eugène Delacroix, Bd. 1 (1823-1850), Paris 1893, S. 366 (Eintrag vom 11.04.1849). 54 | Moritz Karasowski: Friedrich Chopin. Sein Leben, seine Werke und Briefe, Bd. 2, Dresden 1877, S. 127. In ähnlichen Worten auch in der überarbeiteten Neu-

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ein deutschsprachiges Publikum verfassten Chopin-Biographie zitiert, handelt es sich allerdings vermutlich gar nicht um eine Komposition von Stradella selbst, sondern um die Hymne an die Jungfrau Maria aus Fried­ rich von Flotows 1844 in Hamburg uraufgeführter, sehr populärer Oper Alessandro Stradella.55 Karasowski hätte dann also in seiner Chopin-Bio­ graphie einer historischen Figur nicht, wie er schreibt, eine Komposition von Stradella, sondern ein Stück Musikgeschichtstheater in den Mund gelegt, augenscheinlich ohne dass ihm dies bewusst ist. Auf einer über­ geordneten Ebene verweist das wiederum auf intermediale Verflech­ tungen von Musikgeschichtsschreibung und Musikgeschichtstheater, Verflechtungen, die sich bis in aktuelle wissenschaftliche Publikationen fortschreiben.56

ausgabe von 1878, vgl. Moritz Karasowski: Friedrich Chopin. Sein Leben und seine Briefe, Dresden 1878, S. 333. 55 | Dafür spricht etwa die Formulierung in Franz Liszts Chopin-Biographie von 1852: »[…] sie sang den berühmten Lobgesang auf die heilige Jungfrau, der Stradella das Leben gerettet haben soll, wie man sagt« (»[…] elle chanta le fameux cantique à la Vierge qui avait sauvé la vie, dit-on, à Stradella«), vgl. Franz Liszt: F. Chopin, Leipzig u.a. 1852, S. 196. Liszt rekurriert hier implizit auf die Stradella-Legende, die der entsprechenden Szene aus Flotows Oper zugrunde liegt, vgl. Friedrich von Flotow: Alessandro Stradella. Romantische Oper in 3 Akten. Klavierauszug, Hamburg [o.J.], S. 160ff. Flotows Alessandro Stradella wurde nicht nur im deutschsprachigen Raum im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfach aufgeführt und erschien in zahlreichen Neuauflagen. Vgl. zu Flotows Oper auch den Text von Arnold Jacobshagen im vorliegenden Band. 56 | So heißt es etwa in William Smialek und Maja Trochimczyks Research and Information Guide zu Chopin über Potockas Konzert: »About 15 October – Potocka sings for Chopin; the music (according to Viardot) includes a hymn by Alessandro Stradella, a psalm by Benedetto Marcello, arias by Pergolesi and Bellini, a fragment of Haendels Te deum, and a nocturne with words O salutaris (Nocturne op. 15/3, arranged as a hymn by Franchômme, with Chopin’s approval.« William Smialek und Maja Trochimczyk: Frédéric Chopin. A Research and Information Guide, New York und London 2015, S. xlix.

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V. F a zit : W enn G eschichte klingt Sich geschichtstheoretisch mit Geschichte zu beschäftigen, die klingt, setzt ein nicht-normatives Verständnis von Geschichtstheorie voraus, das deren Aufgabe im Nachdenken darüber sieht, »what is actually defined as historical knowledge by historians, university administrators, funding agencies, or the general public«.57 Im Fokus stehen dann auch Geschichts­ praktiken und (musik‑)historisches Wissen jenseits akademischer Kon­ texte, z.B. im Zusammenhang mit Musikgeschichte auf der Bühne. Da­ bei geht es einerseits darum, einer verbreiteten gesellschaftlichen Praxis theoretisch reflektiert begegnen zu können, ähnlich wie Melanie Unseld dies für die Musikerbiographik fordert.58 Andererseits lassen sich aus­ gehend von Musikgeschichte auf der Bühne auch Fragen an die wissen­ schaftliche Geschichtsschreibung aufwerfen. Ähnlich wie eine musikalische Performance, »that demands effort and expense and recruits human participants, takes up time, and leaves peo­ ple drained or tired or elated or relieved«,59 ist auch eine Aufführung von Musikgeschichte das Resultat menschlichen Handelns, Fühlens und Den­ kens, das sie gleichzeitig wiederum auslöst. Inwieweit gilt dies auch für musikwissenschaftliches Arbeiten? Und zwar nicht nur hinsichtlich der Bedeutung von Performanz in der Wissenschaft,60 sondern auch z.B. hin­ sichtlich der Rolle von Emotionen im Forschungsprozess61 oder bezogen auf die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Texten? Was wissen wir überhaupt darüber, wie Menschen mit Musikgeschichte umgehen? Zudem rücken, dadurch dass im Musikgeschichtstheater Sprache als exklusives Medium historischen Wissens zur Disposition steht, die 57 | Paul, »Performing History«, S. 3. 58 | Vgl. Melanie Unseld: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a. 2014, S. 9ff. 59 | Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«, S. 533. 60 | Vgl. hierzu z.B. die von Thomas Etzemüller organisierte Tagung Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Köln, Mai 2018 (Tagungsband in Vorbereitung). 61 | Vgl. z.B. Gerald Lind: »›Vernunft ist nur selten vernünftig‹. Vom Umgang mit Gefühl und/oder/als Vernunft im Wissenschaftssystem«, in: Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen, Netzwerke, Denkstrukturen, hg. von Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth und Anna Langenbruch, Bielefeld 2016, S. 159-173.

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(Inter‑)Medialität und die Materialität von Geschichtsschreibung insge­ samt in den Blick. Wie steht es beispielsweise mit der argumentativen Funktion von Musik im Rahmen musikwissenschaftlicher Texte? Dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Musik nutzen, um ihre Erkenntnisse zu belegen oder auch – im Sinne eines virtuellen Sound­ tracks – zu unterlegen, beschreibt schon Carolyn Abbate.62 Lassen sich diese Überlegungen für die Musikgeschichtsschreibung – und bezogen auf die Rolle von Klang in der Geschichtsschreibung auch für die Histo­ riographiegeschichte insgesamt – systematisieren? Wenn sich, wie z.B. Friedrich Geiger und Tobias Janz darlegen, die Wissensorganisation und gegebenenfalls auch das wissenschaftliche Schreiben im Zuge der Digi­ talisierung verändern,63 werden wir dann auf in Theater oder Film etab­ lierte Techniken zurückgreifen? Und wie würden sich dadurch unsere Vorstellungen von musikhistorischem Wissen verändern? Schließlich wirft Musikgeschichte im Medium der Musik ein inter­ essantes Licht auf das Verhältnis von Musik und Geschichte. Denn als Geschichte einer Klangkunst, die stets in Aufführungen re-aktualisiert werden muss, zeichnet sich Musikhistoriographie durch eine besondere Beziehung zur Medialität und Materialität ihres Gegenstandes aus. Para­ doxerweise tat sich die Musikgeschichtsschreibung dennoch lange Zeit schwer, Musik als Aufführungsereignis, Klangphänomen oder Handlung und nicht vorwiegend als aus Notentexten herauszukristallisierende Werk­ idee zu beschreiben.64 Carl Dahlhaus etwa führte diese Prämisse  – Musik­ geschichte als Geschichte musikalischer Werke – zu der Frage, ob und wie »Geschichtlichkeit und Kunstcharakter« musikhistoriographisch über­ haupt vereinbar seien.65 Musikgeschichte auf der Bühne legt es nahe, diese 62 | Abbate, »Music – Drastic or Gnostic?«, S. 517-518. 63 | Friedrich Geiger und Tobias Janz: »›Verlust der Geschichte?‹. Zur Aktualität von Dahlhaus’ Musikhistorik«, in: Carl Dahlhaus’ Grundlagen der Musikgeschichte. Eine Re-Lektüre, hg. von dens., Paderborn 2016, S. 11-39, hier S. 23ff. 64 | Vgl. z.B. Carl Dahlhaus’ Auseinandersetzung mit musikhistorischer Rezeptionsgeschichte in: Carl Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, S. 66-68. Vgl. dazu auch Melanie Unseld: »›Was ist eine musikgeschichtliche Tatsache?‹ oder die Frage, ›was das Netz des Historikers einfängt‹«, in: Geiger und Janz (Hg.), Carl Dahlhaus’ Grundlagen der Musikgeschichte, S. 61-77. 65 | Vgl. das gleichnamige Kapitel in: Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, S. 35-55. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Simon Obert: »›Geschichtlich-

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Konzepte anders zu verknüpfen: Am Gegenstand Musikgeschichtstheater lässt sich zeigen, dass sich die Aufführung von Musik unter bestimmten Umständen als historiographische Tätigkeit verstehen lässt. Das heißt auch: Am Beispiel von Giacomo Orefices Chopin-Oper wird deutlich, was prinzipiell für jede Art von Musik gilt: Als Klang- und Aufführungskunst begegnet uns Musik stets als bearbeitete, neu kontextualisierte, interpre­ tierte Form musikalischer Vergangenheit. Musik steht damit der Denkfi­ gur der Geschichte viel näher als der Idee vergangenen Geschehens.

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Carolyn Abbate: »Music – Drastic or Gnostic?«, in: Critical Inquiry 30 (2004), H. 3, S. 505-536. Emil Angehrn: »Vom Lesen und Schreiben der Geschichte. Dekonstruk­ tion und historischer Sinn«, in: Selbstorganisation 10 (1999), S. 217-236. Anon.: [Au Théâtre-Lyrique de Milan a eu lieu, le 25 novembre, la premiè­ re représentation de Chopin, opéra en quatre actes […]], in: Le Ménestrel 67, H. 49, 8. Dezember 1901, S. 389-390. Ascanio: »Milan. – Chopin, opéra de Giacomo Orefice, livret de Angiolo Orvieto, vient d’être applaudi au ›Teatro Grande‹ de Brescia«, in: Le Monde artiste: théâtre, musique, beaux-arts, littérature, 26. März 1905, S. 202-203. Thomas Betzwieser: »Komponisten als Opernfiguren. Musikalische Werkgenese auf der Bühne«, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal, Kassel 1995, S. 511-522. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987 [Orig. 1979]. (brrr…): »A proposito di un opera… nuova! (Tema con variazioni legali)«, in: Gazetta musicale di Milano 56 (1901), H. 46, S. 640-641. Nicholas Cook: »Between Process and Product. Music and/as Perfor­ mance«, in: Music Theory Online 7 (2001), H. 2, www.mtosmt.org/ issues/mto.01.7.2/mto.01.7.2.cook.html (abgerufen am 08.08.2018). Carl Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977. keit und Kunstcharakter‹. Die Aporien ästhetischer Historik«, in: Geiger und Janz (Hg.), Carl Dahlhaus’ Grundlagen der Musikgeschichte, S. 41-60.

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Vladimir Jankélévitch: La Musique et l’Ineffable, Paris 1983 [Orig. 1961]. Adolphe Jullien: »Opéra Italien: Andrea Chenier, drame historique en qua­ tre actes, de M. Luigi Illica; musique de M. Umberto Giordano. Chopin, drame lyrique en quatre actes, de M. Angiolo Orvieto; musique de M. Giacomo Orefice, d’après des mélodies de Chopin. […]«, in: Le Journal des Débats, 18. Juni 1905, S. 1-2. Moritz Karasowski: Friedrich Chopin. Sein Leben, seine Werke und Briefe, Bd. 2, Dresden 1877. Moritz Karasowski: Friedrich Chopin. Sein Leben und seine Briefe, Dresden 1878. Maurycy Karasowski: Fryderyk Chopin: życie, listy, dzieła, Warschau 1882. Barbara Korte und Sylvia Paletschek: »Geschichte in populären Medien und Genres: Vom Historischen Roman zum Computerspiel«, in: History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, hg. von dens., Bielefeld 2009, S. 9-60. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. Pierre Lalo: »A l’Opéra-Italien: première représentation de Chopin, opéra en quatreactes; paroles de M. Angiolo Orvieto; musique de M. Giaco­ mo Orefice, composée sur les mélodies de Frédéric Chopin«, in: Le Temps, 20. Juni 1905, S. 3. Anna Langenbruch: »Wie ich Welt wurde? Wahre Fantasien und andere Musikgeschichten auf der Bühne«, in: Wagner – Gender – Mythen, hg. von Christine Fornoff und Melanie Unseld, Würzburg 2015, S. 261-273. Anna Langenbruch: »Zwischen Experiment und Erzählung, Klang und Geschichte: Musikalische Annäherungen an Auschwitz«, in: artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst, hg. von Esther Kilchmann, Köln u.a. 2016, S. 87-105. Anna Langenbruch: Stimmen, Wissen und Spiel: Musikgeschichtstheater als Kunst und Wissenspraxis, Bielefeld, in Vorb. Gerald Lind: »›Vernunft ist nur selten vernünftig‹. Vom Umgang mit Ge­ fühl und/oder/als Vernunft im Wissenschaftssystem«, in: Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen, Netzwerke, Denkstrukturen, hg. von Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth und Anna Langen­ bruch, Bielefeld 2016, S. 159-173. Franz Liszt: F. Chopin, Leipzig u.a. 1852.

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Geschichten des Hörens

Klang und Ton als Thema und Gegenstand einer Erfahrungsgeschichte Eine Problemskizze Michael Werner Zu Beginn meiner Überlegungen möchte ich kurz an die bekannten Schwierigkeiten erinnern, mit denen sich die Spezialisten einer Ge­ schichte des Hörens auseinanderzusetzen haben. Auf der einen Seite wis­ sen wir, dass Töne und Klänge grundlegende Bestandteile menschlicher Wirklichkeitserfahrung sind, auf der anderen Seite wissen wir ebenso, dass Töne und Klänge schwierig in eine Erfahrungsgeschichte zu inte­ grieren sind, und zwar vor allem aus drei Gründen, die auf drei spezi­ fische Problemlagen verweisen: Erstens stellen Töne ein grundlegendes Quellenproblem dar, da sie im Prinzip ephemer sind und erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mittels verschiedener technischer Verfahren festgehalten werden können. Doch selbst wenn Tonaufnahmen vorliegen, erlauben sie nur begrenzt eine visuellen und schriftlichen Dokumenten vergleichbare Auswertung. Zweitens werfen akustische Quellen, und da­ rüber hinaus auch alle schriftlichen Dokumente über Hörerfahrungen, ein spezifisches Restitutionsproblem auf. Wie können die entsprechen­ den Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse des Hörens in eine histo­ rische Analyse eingebracht werden? In welchem Verhältnis stehen sie zu den anderen Erfahrungen der historischen Akteure? Kann man sie sepa­ rat bearbeiten, ohne sie mit anderen Bereichen der Erfahrungsgeschich­ te in Verbindung zu bringen? Und drittens ein epistemologisches und erkenntnistheoretisches Problem: Mit welchem analytischen Dispositiv lassen sich die Beziehungen zwischen Vorannahmen des Forschers über das Gehörte und dem tatsächlich Gehörten näher bestimmen? Wie hän­ gen vergangene Hörerfahrungen mit denen der Gegenwart zusammen? Diese drei Schwierigkeiten bilden den Hintergrund der folgenden Über­

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legungen. Dazu gesellen sich für unser Thema noch drei weitere Punkte, die ich im ersten Teil meiner Ausführungen, gewissermaßen als Vorklä­ rungen einer Annäherung, kurz umreißen möchte.

I. A llgemeine V orgaben Der erste Punkt betrifft die Wörter und Begriffe. Im Deutschen unter­ scheidet man zwischen »Klang« und »Ton«, ebenso wie im Niederländi­ schen zwischen »Klank« und »Toon«. Im Französischen ist man dagegen auf »son« beschränkt, für »Klang« im allgemeinen Sinn gibt es keine Ent­ sprechung. Der »ton« bezeichnet französisch im akustischen Sinn eher die Tonhöhe. Daneben spricht man von »timbre«, was im Deutschen mit »Klangfarbe« oder auch, vor allem, wenn es um die menschliche Stimme geht, mit »Timbre« wiedergegeben werden kann. Im Englischen verfügt man über »sound« und »tone«, wobei das letztere, ähnlich wie im Fran­ zösischen, eher auf die physikalischen Eigenschaften des Tons zielt. Man könnte das Spektrum der Sprachen beliebig erweitern. Im Französischen gibt es keine eigentliche Entsprechung zu »Klang« und dem zugrundelie­ genden Verb »klingen«. Auch »läuten«, »schellen«, »klappern«, »klirren« und viele andere Geräuschverben haben kein präzises Äquivalent. Was unterscheidet im Deutschen »Klang« und »Ton«? Man spricht vom Klang einer Stimme, eines Instruments, und vom Ton. Die Differenz scheint auf einer analytischen Stufenleiter zwischen Spezifizierung von Einzel­ eigenschaften und Synthese anzusiedeln zu sein, zwischen besonderen Merkmalen und dem Zusammenspiel verschiedener, nicht weiter spezi­ fizierter Merkmale. »Ton« und alles, was damit zusammenhängt, ist de­ skriptiv präziser und zugleich emotional neutraler als »Klang«. Das sieht man auch an Komposita wie »Tonhöhe«, »Tonschwankungen«, »Tonbre­ chung«, »Tonband«, »Tonkabine«, »Tonspur« usw. Zugleich kann »Ton« nahezu alle Formen von strukturierten akustischen Signalen bezeich­ nen. »Klang« dagegen ist eher eine Kombination von Tönen, auch wenn sie nur von einem einzigen Instrument, einer Stimme usw. erzeugt wer­ den. Rein akustisch werden Klang(-farbe) und Ton durch die spezifische Mischung von Obertönen erzeugt. Weil Klang selbst schon etwas irgend­ wie Zusammengesetztes ist, eine Synthese, sind Komposita seltener, etwa »Klangfarbe«, »Klangfülle«, »Klangteppich«. Wie auch immer: »Klang« verweist mehr als der französische »son« und der englische »sound« auf

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eine Strukturierung des akustischen Materials, an der die Emotionen und die Wahrnehmungsästhetik, und damit auch oft eine Form von Wertung beteiligt sind. Ausdrücke wie der ›deutsche Oboenton‹, der ›französische Klarinettenton‹, der ›Geigenton der Wiener Philharmoniker‹ spezifizie­ ren und differenzieren im Verhältnis zu anderen Oboen-, Klarinettenoder sonstigen Instrumententönen, wohingegen der »Klang« des Or­ chesters im Bayreuther Festspielhaus eine Gesamtproduktion von Tönen unter bestimmten akustischen Bedingungen synthetisiert. Immerhin ergibt dieser kleine semantische Exkurs, dass die Begriffe zur Erfassung der verschiedenen Dimensionen von »Klang« und »Ton« in den Sprachen variieren und bis zu einem gewissen Grad schwimmen. Möglicherwei­ se verweist dies auch darauf, dass das deskriptive Instrumentarium für akustische Wahrnehmungen nur relativ schwach standardisiert ist. Der zweite Punkt betrifft das Problem einer Erfahrungsgeschichte. Aufbauend auf den theoretischen Vorgaben von Reinhart Koselleck, der den Wandel des Verhältnisses von »Erfahrungsraum« und »Erwartungs­ horizont« als den entscheidenden Prüfstein für die Konstruktion von Ge­ schichte nach der Französischen Revolution markierte,1 hat es die neuere Kulturgeschichte unternommen, die Erfahrungen der Menschen in ihrer Vermittlungsrolle zwischen erfahrener Vergangenheit, gegenwärtiger Handlungssituation und Annahme über zukünftige Entwicklungen nä­ her zu untersuchen. Ute Daniel, eine der Protagonistinnen der neuen Er­ fahrungsgeschichte, unterscheidet, ganz im Sinne Kosellecks, zwischen direkten biographischen Erfahrungen und solchen, die medial vermittelt werden.2 Dabei ist schon der Erfahrungsbegriff selbst doppelsinnig, zielt er doch zugleich auf eine konkrete Erfahrung (vgl. »eine Erfahrung ma­ chen«), also auf ein Erlebnis, das im etymologischen Sinn erfahren, »aus­ gefahren« wird (vgl. lateinisch »experiri« von »perire«), und, im Sinne 1 | Reinhart Koselleck: »Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch anthropologische Skizze«, in: Historische Methode, hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 5), München 1988, S. 13-61. Siehe auch Reinhart Koselleck und Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013. 2 | Ute Daniel: »Erfahrene Geschichte. Inventionen über ein Thema Reinhart Kosellecks«, in: Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Carsten Dutt und Reinhard Laube (= Marbacher Schriften, neue Folge 9), Göttingen 2013, S. 14-28.

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von Erfahrung haben oder besitzen, auf die Akkumulation von Einzel­ erfahrungen, auf eine Syntheseleistung, die eine spezifische Form von Wissen darstellt. Geschichte der Erfahrungen ist darum sowohl eine Geschichte der verschiedenen Wahrnehmungen der Menschen, als auch eine Geschichte der aus den Wahrnehmungen hervorgegangenen Einstel­ lungen und Interpretationsmuster, die das Handeln bestimmen. Besser als vergleichbare Begriffe wie Mentalität oder gar Kultur vermag derjeni­ ge der Erfahrung die verschiedenen Optionen des jeweiligen historischen Handlungszusammenhangs zu fassen, die – freilich immer nur relative – Autonomie des handelnden Subjekts. Und genau deshalb ist er für die Kulturgeschichte von Bedeutung. Die Verbindungen zur oral history und zur Alltagsgeschichte sind offensichtlich und erschließen neues empiri­ sches Terrain. Einer der springenden Punkte für unser Thema hier ist, dass beide der genannten Erfahrungsformen, das konkrete Erfahren von Vorgängen und die Akkumulation von Erfahrenem, die zur übergreifenden Erfah­ rung als praktischem Wissen wird, permanent miteinander interagieren. Die übergreifende Erfahrung als Syntheseleistung wird immer wieder von neuen Einzelerfahrungen genährt, und umgekehrt geht die akkumu­ lierte Erfahrung ihrerseits jeweils in neue Erfahrungen ein und bestimmt die Handlungen der Akteure. Damit lenkt sich der Blick – und das wäre der dritte Punkt – auf das Gedächtnis bzw. die Erinnerung und auf die Frage, wie die beiden Formen von Erfahrung, die konkrete und die kumulative, miteinander vermittelt werden. Diese Verbindung von Erfahrung und Gedächtnis gilt allgemein, aber dann auch speziell für die Hörerfahrungen. Wie wird Erfahrung als Ton-/Klangerfahrung ins Gedächtnis eingeschrieben? Wie wird sie akku­ muliert, wieder abgerufen und in bestimmten Entscheidungssituationen mobilisiert? Auch hier gilt es, die zwei Ebenen der Erfahrung zu beachten: die direkte Erfahrung beim Hören oder Produzieren von Musik und die gespeicherte Erfahrung des Hörers. Wir alle wissen um den Unterschied, der zwischen dem Moment besteht, in dem man eine Musik zum ersten Mal hört, und den folgenden Momenten, in denen man dasselbe Musik­ stück wieder hört. Offenbar spielt sich beim Wiederhören ein komplexes Wechselspiel zwischen der neuen Wahrnehmung und der Erinnerung an vorige Hörerfahrungen ab, die in gewisser Weise jedes Mal mitgehört werden. Das geschieht zum einen, auf der analytischen Ebene, als Bezie­ hung zu einem Referenzsystem, mit dessen Hilfe die Besonderheiten der

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neuen Hörerfahrung, der jeweiligen Interpretation oder Aufführung des Musikstücks ermittelt werden. Das entsprechende Methodenregister ist das des Vergleichs: Was macht, um ein Beispiel zu nennen, das Besondere der Interpretation von Brahms’ zweiter Symphonie im Musikvereinssaal durch die Wiener Philharmoniker unter Carlos Kleiber im Jahre 1991 aus? Die Antworten beziehen notwendigerweise den Vergleich mit anderen Interpretationen und Aufführungsorten mit ein. Und zugleich geht es, zum anderen, um die spezifische Erfahrung an einem Ort, bei der die Sinneswahrnehmungen, das Erfahrungswissen, die analytischen Regis­ ter und die emotional aufgeladene Erinnerung mobilisiert werden und in­ einander spielen. Die im Gedächtnis gespeicherte Hörerfahrung besitzt eine unmittelbare emotionale Dimension, die sowohl beim Hören als auch beim Musizieren und Singen wieder abgerufen werden kann. Töne und Klänge spielen eine besondere Rolle beim ›Heben‹ der im Gedächt­ nis gespeicherten Erfahrung und den damit verbundenen Gefühlen. Das sieht man etwa bei Kinderliedern oder in der oral history. In Swetlana Ale­ xijewitschs Secondhandzeit beginnen interviewte Personen wie Margarita Pogrebizkaja oder Anna M. spontan zu singen, wenn sie ihre Erinnerung evozieren.3 Musikalische Aktivitäten affizieren in besonderem Maße die Gefühlswelt. Das leitet über zu einigen Spezifika des Hörens und des Hörsinns, die für unser Thema von Bedeutung sind.

II. Z ur H ör - bz w. K l angerfahrung Im Verhältnis zu anderen Sinneswahrnehmungen besitzt der Hörsinn, wie soeben angedeutet, eine Art direkten Draht zu den Emotionen, die ›Leitungen‹ zu den entsprechenden Hirnregionen sind kurz. Das hat evo­ lutionsbiologisch möglicherweise damit zu tun, dass das Hören primär eine Alarmfunktion besaß.4 Plötzliche laute Geräusche, Explosionen, Donnerwellen, Sirenen usw. lösen Erschrecken aus, bevor sie rational zu­ geordnet werden können. Sie bewegen unmittelbar den Gefühlshaushalt. 3 | Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Frankfurt a.M. 2015 [russisches Original Moskau 2013], S. 117 und 296. 4 | Vgl. Roland Barthes: »Écoute«, in: ders.: L’Obvie et l’Obtus. Essais critiques III, Paris 1982, S. 217-230, dort S. 217-219.

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Das zweite für uns wichtige Merkmal des Hörsinns ist die Räum­ lichkeit von Hörwahrnehmungen. Durch das systematische Abtasten der Differenz zwischen den Wahrnehmungen der beiden Ohren kons­ truiert Hören einen dynamischen Bewegungsraum. In diesem Raum, der in sich wiederum sehr komplex strukturiert sein kann, werden zum einen Schallquellen verortet und in einem Koordinatensystem fixiert, das nicht nur über den Ort der Quelle, sondern auch über die Distanz zur Quelle sowie über die Qualität der Quelle informiert. Zum anderen weist dieser Raum Variationen auf, etwa wenn sich die Schallquelle oder auch der Hörer selbst bewegen. Hören verarbeitet somit primäre Schallwellen sowie die durch Bewegung hervorgerufenen Veränderungen von Schall­ wellenwahrnehmung, die es in Informationen und Raumprojektionen übersetzt. Einige Komponisten haben diesen dynamischen Charakter der akustischen Raumwahrnehmung zu nutzen und die frontale Kon­ frontation von Musiker und Hörerpublikum aufzubrechen versucht, etwa Karlheinz Stockhausen mit seinem Konzert für drei Orchester, Salvatore Sciarrino mit seinem Stück La bocca, i piedi, il suono für musiciens dé­ ambulants, das 2003 im Musée d’Orsay in Paris aufgeführt wurde, oder Pierre Schaeffer und François Bayle mit ihren akusmatischen Toninstal­ lationen im Groupe de recherches musicales (GRM). Aber auch viele Diri­ genten fügen derzeit kleinere tonchoreographische Arrangements in ihre Aufführungspraxis ein, mit deren Hilfe die Tonlandschaft plastischer ge­ staltet werden soll. Das dritte entscheidende Moment des Hörens ist sein Verhältnis zur Zeitlichkeit. Im Gegensatz zu primären Sehreizen haben Töne immer einen zeitlichen Verlauf. Das hängt mit ihrer physikalischen Natur zu­ sammen. Sie setzen ein und verklingen, können während dieses Ver­ laufs anschwellen oder abschwellen, aber sie können nicht stillstehen wie Bilder. Das hat mehrere wichtige Konsequenzen. Erst ihre Existenz in der Zeit, im Nacheinander der Abfolge, erlaubt ihre Entschlüsselung. Das Hören erzwingt somit eine doppelte Selektivität: auf der Ebene der Interpretation der Töne in ihrer zeitlichen Abfolge und auf der Ebene der Konzentration auf einen bestimmten Tonfluss unter möglichen anderen, die das Ohr wegfiltern kann. Das kann man etwa in der akustischen Laut­ welt eines Restaurants oder einer Versammlung beobachten. Das Gehirn kann das Ohr so steuern, dass die für den Hörzusammenhang störenden Elemente weggefiltert und dementsprechend gar nicht mehr aktiv wahr­ genommen werden. Hier zeigt sich, dass Hören als Rezeptionsvorgang

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nicht nur in einer engen Verbindung zu den Gefühlen steht, sondern auch in seiner sinnbildenden Funktion auf besondere Weise durch die eigene zerebrale Aktivität gesteuert wird. Hören und Verstehen, Aufnah­ me von neuen Reizen und Aktivierung gespeicherter Informationen, von akkumulierter Erfahrung, Gefühlsbewegung und Sinnkonstruktion sind viel stärker als beim Sehen miteinander verlinkt. Diese Vorgänge sind jüngst anlässlich der Konzeption und ersten Bespielung des neuen, von Frank Gehry und Daniel Barenboim konzipierten Pierre Boulez Saals in Berlin mit seinem ovalen Grundriss unter der Devise des »denkenden Ohrs« thematisiert worden. In der Internet-Selbstvorstellung des Saals ist das so formuliert: »Der Pierre Boulez Saal ist der Ort schlechthin für das ›Denkende Ohr‹: hier werden die Hörer eingeladen, unter die Oberfläche des Klangs einzutauchen. Das ›Denkende Ohr‹ hört aktiv zu: es verbindet Emotionen, Gedanken und Sinneseindrücke, es begegnet Klängen mit ungeteilter Aufmerksamkeit, um aus ihnen Erkenntnisse zu ziehen. Statt nur zuzuhören, ist es einer komplexen Wechselwirkung aus Sinneserfahrungen und intellektueller Reflexion ausgesetzt. Dieser einzigartige Konzertsaal fungiert als Resonanzraum für Dialoge und ermöglicht es dem Publikum, Musik auf all ihren Ebenen zu verstehen. Er ist ein Ort, an dem viele Einflüsse zusammenkommen – kulturelle, künstlerische, humanistische, architektonische und historische – wo sich Menschen treffen, um eine Atmosphäre der Kommunikation, des Zuhörens und Verstehens zu schaffen.« 5

Der Leitgedanke eines aktiven und zugleich reflexiven, mitdenkenden, die Musiker und das anwesende Publikum einschließenden Hörens lenkt die Aufmerksamkeit auf die beim Hören ablaufenden kognitiven und emotionalen Prozesse, auf die weiter unten noch kurz eingegangen wird. Sie sind erfahrungsgemäß empirisch nur schwer zu fassen. Die Musik­ soziologin Maÿlis Dupont hat sich eine Versuchsanordnung ausgedacht, die sie »écoute parlée« nennt und die darin besteht, Hörer direkt beim 5 | Barenboim-Said Akademie: Vision. Musik für das Denkende Ohr, in: https:// boulezsaal.de/de/der-saal/vision (abgerufen am 01.08.2017). Der Ausdruck »das denkende Ohr« hat eine breitere Vorgeschichte, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Für Gehry und Barenboim besonders wichtig war zweifellos Raymond Murray Schafer: The Thinking Ear. Complete Writing of Musical Education, Ontario 1986.

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Hören sprechen und das Hören kommentieren zu lassen. Dabei erhält sie eine Verbalisierung eines Teils der im »denkenden Ohr« ablaufenden Vor­ gänge und geht somit erheblich weiter als die von Theodor W. Adorno in seiner Einleitung in die Musiksoziologie erstellte Hörertypologie.6 Doch die Inhalte variieren stark je nach der musikalischen Vorbildung der Hörer und betreffen eher die musikanalytischen als die emotionalen Anteile des Hörens.7 Auch Dupont stößt an die Grenze der empirischen Erfassung des Hörvorgangs, was in ihrem Fall indessen vor allem an den Vorgaben der Versuchsanordnung liegt. Denn die Aufgabenstellung des Kommen­ tierens gibt dem Hören eine eigene analytische Richtung, die nicht mehr mit der primären Hörerfahrung deckungsgleich ist.

III. D ie Q uellenfr age Das dritte Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, wenn wir uns einer Klanggeschichte als Erfahrungsgeschichte nähern wol­ len, ist natürlich das der Quellen, das schon zu Beginn genannt wurde und das ich hier nur kurz streifen kann. Direkte Tonquellen gibt es be­ kanntlich erst seit Ende des 19. Jahrhunderts. Dies bedeutet gewiss einen grundlegenden Einschnitt für die sound history, ändert aber grundsätz­ lich nichts an der Tatsache, dass historische Klänge, wenn sie einmal ver­ stummt sind, auch der direkten Wahrnehmung entzogen bleiben. Alle Tondokumente, über die wir seit 1889 8 verfügen, sind Aufzeichnungen, die, zumindest für die erste Zeit, mindestens genauso viel über die Tech­ nik und die Umstände der Aufnahme wie über die Töne selbst aussagen. Tonaufzeichnungen können als juristische oder historische Beweismittel verwendet werden, als Einblicke in die akustische Erfahrungswelt vor­ 6 | Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1962, dort S. 14-34. 7 | Maÿlis Dupont: Penser la valeur d’une œuvre. Propositions pour une sociologie de la musique responsable, 2 Bde., Dissertation Université de Lille-3, 2005. Der erste Band der Doktorarbeit wurde unter dem Titel Le Bel Aujourd’hui. Bach ou Boulez, des œuvres à faire, Paris 2011 veröffentlicht. 8 | Vgl. für den deutschen Bereich die verdienstvolle Anthologie Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, hg. von Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn 2013.

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angegangener Generationen, als Indikatoren für die Bedeutsamkeit der durch den Hörsinn aufgerufenen und vermittelten Emotionen. In den letzteren beiden Fällen helfen sie, die Handlungssituationen der Akteure näher zu bringen und verständlicher zu machen. Aber sie sind jeweils selbst, wie Jan-Friedrich Missfelder überzeugend dargelegt hat, immer medial überliefert und deshalb in ihrer Medialität und auf ihre Media­ lisierungsfunktion hin zu befragen. Durch die »Einsicht in die mediale Verfasstheit alles Verklungenen« werde deutlich, so Missfelder, »dass die­ ses nur im Kontext einer kulturellen Einordnung und Deutung greif bar ist, was wiederum nur möglich ist durch den Rekurs auf nichtklangliches Quellenmaterial, das über die Sinnhorizonte und Zuschreibungsformen akustischer Wahrnehmung informiert«.9 Daraus ergeben sich für Miss­ felder zwei Konsequenzen: »Erstens: Klanggeschichte konstituiert ihren Gegenstand über Umwege, über Quellen also, die nicht den Klang selbst überliefern, sondern allenfalls Aufschluss über seine spezifische historische Wahrnehmung bieten. Klanggeschichte ist daher immer auch Mediengeschichte seiner Repräsentationen. Zweitens: Geht man von der fundamentalen Historizität akustischer Wahrnehmungsformen aus, die sich über wandelbare Deutungen von Klängen äußert, dann treten vor allem die kulturellen, sozialen und politischen Kontexte der Klangproduktion wie ‑rezeption in den Mittelpunkt des Interesses.«10

Von daher schließt er zu Recht, dass Klanggeschichte einen gemäßigt (oder radikal) konstruktivistischen Ansatz zu verfolgen habe: »Klänge sind eben erst durch die sich historisch wandelnden Wahrnehmungsund Deutungsmuster sowie ihre medialen Repräsentationsformen als historische Phänomene und Gegenstände historischer Forschung kons­ tituierbar.«11 Daraus ist zu folgern, dass Klanggeschichte, trotz des ihr inhärenten besonderen Quellenproblems, in einer Erfahrungsgeschichte eine doppelte Rolle spielen kann. Zum einen öffnet sie der Sozial- und Kulturgeschichte neue Räume, in denen sie ihre Hypothesen testen und gegebenenfalls revidieren kann. Zum anderen aber, wenn sie sich in Ver­ 9 | Jan-Friedrich Missfelder: »Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschichte der Neuzeit«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 21-47, hier S. 34. 10 | Ebd. 11 | Ebd.

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bindung mit den sound studies12 und den von Raymond Murray Schafer lancierten Forschungen zu soundscapes13 als eigenes Forschungsfeld kon­ stituiert, initiiert sie auch neue Fragestellungen, neue Periodisierungen bis hin zu neuen Formen des Wissens. Dies gilt sowohl für die Anthropo­ logie – man denke an die bahnbrechenden Arbeiten von Steven Feld zu dem, was er »Akustemologie« nennt14 – als auch natürlich für die Ge­ schichtswissenschaften, welche z.B. die Rolle der Klangphänomene bei der historischen Ausgestaltung sozialer und politischer Ordnung unter­ suchen.15

12 | Vgl. die grundlegende Arbeit von Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003. Einen Überblick in deutscher Sprache zur Genese dieses stark expandierenden Bereichs geben Axel Volmar und Jens Schröter in ihrer Einleitung zu Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, hg. von Axel Volmar und Jens Schröter, Bielefeld 2013. 13 | Raymond Murray Schafer: The Tuning of the World, New York 1977, neue Ausgabe unter dem Titel The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester, VT 1993. Ein neueres Beispiel stellt vor Alexander Kraus: »Der Klang des Nordpolarmeers«, in: Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, hg. von Alexander Kraus und Martina Winkler, Göttingen 2014, S. 127-148. 14 | Steven Feld: »Sound Structure as Social Structure«, in: Ethnomusicology 28 (1984), S. 383-409 und Steven Feld und Donald Brenneis: »Doing Anthropology in Sound«, in: American Ethnologist 31 (2004), H. 4, S. 461-474. 15 | So etwa das derzeit laufende Habilitationsprojekt Jan-Friedrich Missfelders an der Universität Zürich »Die verklungene Stadt. Eine Klanggeschichte Zürichs in der Sattelzeit (1750-1850)«, wo eine neue Form von Stadtgeschichte konzeptualisiert werden soll, indem die »epistemologische und mediale Signatur akustischer Produktions- und Rezeptionsprozesse […] der Sattelzeit exemplarisch« herausgearbeitet werden. Vgl. das Abstract in: https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz. de/4519.html (abgerufen am 08.01.2018).

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IV. M usikgeschichte als K l anggeschichte Versuchen wir nun, die soeben angesprochenen, alle Tonregister betref­ fenden Probleme konkreter auf die Musikgeschichte herunterzubrechen. Welches wären die Spezifika einer Erfahrungsgeschichte als Klangge­ schichte der Musik im Verhältnis zu einer allgemeinen Klanggeschichte der Töne und Geräusche? Auch hierzu schlage ich nur einige abtastende Annäherungen vor, im Vorfeld einer genaueren Vermessung des For­ schungsbereichs. Zunächst ist festzuhalten, dass die genaue Trennung von Geräusch und Musik schwierig ist. Im Vergleich etwa zur Trennung von Geräusch und Sprache, die aufgrund des spezifischen Organisationsmusters von Sprache relativ einfach vorzunehmen ist, ist Musik als sozial existieren­ de Praxis ontologisch unscharf. Von welchem Organisationsgrad an wird Geräusch oder »sound« zur Musik? Und wie verhält sich Lärm oder »noi­ se« zu Musik? Schon an diesen Fragen und den möglichen Antworten wird klar, dass Musik als »Musik« sozial und kulturell konstruiert ist. Was als sozial existierende Musik und musikalische Praxis definiert wird, hängt von den kulturellen Einstellungen, den sozialen Traditionen und den Entwicklungen ab, denen diese Einstellungen und Traditionen unter­ worfen sind. Die Grenzen etwa von Geräusch und Musik, von saturation (maximale Tonsättigung etwa im Rock) und Musik haben sich während der letzten Jahrzehnte in unseren Kulturen verschoben. Eine zweite Beobachtung gilt der Komplementarität von Klang Er­ zeugen und Klang Hören, von Produktion und Rezeption der Töne beim Musizieren. Und zwar auf beiden Ebenen, derjenigen der Musiker und derjenigen der nicht musizierenden Hörer. Denn Musizieren ist immer auch Hören, ganz besonders, wenn Musik zu mehreren geschieht, in Kol­ lektiven von der Zweizahl bis zu großen Orchestern oder Bands. Und auf der anderen Seite: Hören im Konzertsaal, im Opernhaus, im Jazzkeller oder im Freien, d.h. in Präsenz der Musiker, ist auch Mitproduzieren von Musik, zwar nicht direkt des Klangs, aber der Performance. Das hat eine längere Geschichte. So kam es etwa bei den ersten privaten, von Musikern selbst veranstalteten Konzerten ja öfter dazu, dass Amateure aus dem Pu­ blikum im Verlaufe des Konzerts auch selbst mitspielten.16 Das Verhält­ 16 | Simon McVeigh: »The Musician as a Concert-Promoter in London, 17801850«, in: Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de

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nis von Hören und Mitmusizieren wandelt sich im Laufe der Zeit und ist immer situationsbezogen. Auch heute ist, wie das oben zitierte Statement zum »Denkenden Ohr« aus der Selbstvorstellung des Pierre-Boulez-Saals zeigt, das hörende Publikum in die Konzertproduktion miteinbezogen, ein Umstand, dem die modernen Konzertsaalarchitekten immer mehr Rechnung tragen. Der dritte Punkt betrifft präziser den Aufmerksamkeitsgrad beim Hö­ ren von Musik. Auch hier gilt, dass sich das Verhalten historisch stark gewandelt hat. Im 19. Jahrhundert ist der Aufmerksamkeitsgrad des Kon­ zertpublikums beachtlich gewachsen. Zugleich erhöhte sich die Konzen­ trationsfähigkeit des Hörers. Musikhören (und -sehen) im Konzertsaal wurde zu einem neuen gesellschaftlichen Ritual. Physiologisch handelt es sich um eine besondere Art des ›gerichteten Hörens‹. Die gesellschaft­ liche Voraussetzung dafür war die immer größere und weiter verbreitete musikalische Bildung. Hinsichtlich des Hörens selbst ist eine wachsende Spannung zwischen gefühlsästhetischer und analytischer, expertisege­ stützter Rezeption festzustellen.17 Parallel dazu – und das wäre der vierte Punkt – wuchs freilich auch der Massenkonsum von Musik, später multipliziert durch die neuen tech­ nischen Medien der Schallplatte und des Radios, des Tonbands und der digitalen Tonträger. Damit wurde eine neue Ebene der Hörerfahrung und auch des Hörverhaltens eingezogen. Neben das pointierte Hören, das natürlich auch in den neuen Medien möglich war, traten andere Hör­ verhalten, etwa ein unaufmerksames Mithören, bei dem die Musik nur noch den Hintergrund für andere Aktivitäten bildete, oder ein Hören mit abwechselnder Aufmerksamkeit, Wiederhören durch Rückspulaktionen, ritualisierte Formen des Hörens in politischen Veranstaltungen, die dann wiederum zum Mitsingen animierten und dergleichen mehr. In man­ 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), hg. von Hans-Erich Bödeker, Patrice Veit und Michael Werner, Paris 2002, S. 71-92. 17 | Vgl. James H. Johnson: Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995; Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, hg. von Volker Bernius, Peter Kemper, Regina Oehler und Karl-Heinz Wellmann, Göttingen 2006; Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, sowie ders.: »Die Politik des Schweigens. Veränderungen im Publikumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 48-85.

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chen Bereichen wie dem Kino und der Werbung wurde die Musik und damit das Hörverhalten des Publikums für außermusikalische Effekte eingesetzt und gewissermaßen funktionalisiert. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass Hörerfahrungen, nach der Periode der rein akustischen Medien, heute wieder verstärkt mit visuellen Wahrnehmungen verknüpft werden. Die Kombination von Hören und Se­ hen hat an sich eine lange Tradition, vor allem im Theater. Aber auch im eher auf den Hörsinn zielenden Instrumentalkonzert bildeten sich schon früh visuelle Komponenten aus, etwa anlässlich der Virtuosenkonzerte Niccolò Paganinis und Franz Liszts, der Streichquartettaufführungen unter Joseph Joachim in der Berliner Singakademie oder der Choreogra­ phie der großen Symphonieorchester Ende des 19.  Jahrhunderts. Heute ist die visuelle Dimension nicht nur der klassischen, sondern vor allem auch der Pop- und Rockmusik omnipräsent und wird durch die audiovi­ suellen Medien, durch Video-Clips und DVD-Aufnahmen erheblich ver­ stärkt. Hören und Sehen wirken zusammen und gehen vielfältige Misch­ formen ein. Das bedeutet indessen nicht, dass die oben aufgeführten Spezifika der Wahrnehmung von Tönen und Klängen verwischt werden. Sie schreiben sich lediglich in einen weiteren Zusammenhang ein, mit dem sie interagieren.18 Aufgrund dieser Beobachtungen nun stellt sich die Frage nach der historischen Veränderung der Musik-Erfahrung im doppelten Sinn: zum einen als unmittelbare synästhetische Sinneserfahrung in ihrem dia­ chronen Verlauf, und zum anderen als Akkumulation der im Gedächtnis gespeicherten konkreten emotionalen und analytischen, aufeinander be­ zogenen und wieder abgerufenen Einzelerlebnisse, als Aneignung und Verarbeitung, als Aktualisierung und Stabilisierung einer ganzen Reihe von Erfahrungen beim Hören von Musik. Beide Formen der Erfahrung, die unmittelbar singuläre und die akku­ mulierte, die wohlgemerkt in sich interdependent sind, aufeinander bezo­ gen, wenn man so will überkreuzt, dabei aber nicht symmetrisch gelagert, werden in Beschreibungen, Berichte, Analysen übersetzt und somit inter­ pretierbar. Aber es handelt sich nicht mehr um die eigentlichen Erfah­ rungen, sondern um medialisierte Versionen, eben um Übertragungen, im Wesentlichen Versprachlichungen. Nun ist ja, wie Missfelder betont 18 | Vgl. allgemein hierzu Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000, insbesondere S. 304 ff.

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hat, auch der aufgenommene (und reproduzierbare) Sound medialisiert.19 Auch wenn es sich nicht um die gleiche Form der Medialisierung handelt wie bei der diskursiven Beschreibung von Erfahrungen,20 ist deshalb, um noch einmal auf die Quellenfrage zurückzukommen, das entscheidende Problem nicht so sehr der Mangel an direkten Tonquellen (selbst wenn solche natürlich immer sehr aufschlussreich sind), sondern die Analyse der durch die medialisierten Konstruktionen eintretenden Filter und Ver­ schiebungen beim Hören von Musik. Auf diesem Gebiet besteht aller­ dings noch ein erheblicher Nachholbedarf, und zwar sowohl hinsichtlich der kognitiven als auch der sozialen Dimension des Hörens.21 Eine beson­ dere methodische Herausforderung besteht hier darin, die meist mit Ein­ zelpersonen vorgenommenen empirischen Experimente mit sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragerastern zu interpretieren und die kollek­ tiven, interpersonellen Vorgänge genauer zu fassen, die dem neurowis­ senschaftlichen und kognitivistischen Zugang weitgehend verschlossen bleiben. Erste Versuche in dieser Richtung wurden von der Anthropologie unternommen,22 doch auch hier ist der Schritt von der Analyse des Hör­ vorgangs zu einer genaueren Bestimmung der kulturellen und sozialen 19 | Missfelder, »Period Ear«, S. 33. 20 | Vgl. Martin Kaltenecker: L’oreille divisée. Le discours sur l’écoute musicale aux XVIIIe et XIXe siècles, Paris 2011. 21 | Die neueren Arbeiten von Neurowissenschaftlern zum Hören von Musik öffnen hier vielversprechende Wege. Vgl. etwa Walter Jay Dowling: »Music Perception«, in: Oxford Handbook of Auditory Science, Bd. 3: Hearing, hg. von Christopher Plack, Oxford 2010, S. 231-248; Barbara Tillmann, Walter Jay Dowling u.a.: »Influence of Expressive versus Mechanical Musical Performance on Short-term Memory for Musical Excerpts«, in: Music Perception 30 (2013), S. 419-425; Barbara Tillmann u.a.: »From the Audio Signal to Sensory and Cognitive Representations in the Perception of Tonal Music: Modeling Sensory and Cognitive Influences on Tonal Expectations«, in: Psychological Review 121 (2014), S. 33-65; Walter Jay Dowling, Barbara Tillmann: »Memory Improvement While Hearing Music: Effects of Structural Continuity on Feature Binding«, in: Music Perception 32 (2014), S. 1-32. 22 | Etwa Stefan Helmreich und Michèle Friedner: »Sound Studies Meets Deaf Studies«, in: The Senses & Society 7 (2012), S. 72-86, sowie Stefan Helmreich: Sounding the Limits of Life. Essays in the Anthropology of Biology and Beyond, Princeton 2016.

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Vorgaben, die in die Hörerfahrung eingehen und gewisse Elemente des Hörens von Musik gewissermaßen antizipieren, andere verstärken und wieder andere in den Hintergrund drängen oder ganz wegfiltern, äußerst schwierig, und der entsprechende Weg mit zahlreichen Fallstricken über­ sät. So wird deutlich, dass die Hörerfahrung von Musik zwar ein besonders spannendes Feld für eine Erfahrungsgeschichte bildet, dass sie aber gleichwohl keine epistemologische Sonderstellung einnimmt. Auch visu­ elle und olfaktorische Erfahrungen sind wie die Hör- und Musikerfah­ rungen einem direkten empirischen Zugriff entzogen. Die Tatsache, dass wir heute noch die Bilder und allgemein die Gegenstände visueller Er­ fahrungen anschauen können, schafft keinen grundlegenden erkenntnis­ theoretischen Unterschied zum Umgang mit vergangenen Klangerfah­ rungen. Nicht nur haben sich die entsprechenden Gegenstände mit der Zeit öfter verändert, was etwa ganz besonders für Landschaften, Stadtbil­ der und Ähnliches gilt. Auch die Bilder und Gebäude wurden möglicher­ weise restauriert, wodurch immer der Blick der jeweiligen, sich ebenfalls historisch verändernden Gegenwart auf Vergangenes einfließt. Die Er­ fahrungen, die in der Vergangenheit beim visuellen Umgang mit diesen Gegenständen gemacht wurden, lassen sich nur indirekt, eben durch his­ torische Methoden erfassen. Natürlich besteht ein wichtiger Unterschied zwischen materiellen Gegenständen, die man heute noch ansehen und anfassen kann (auch wenn sie sich mit der Zeit verändert haben), und immateriellen Objekten wie Klängen. Die materiellen Objekte haben ihre eigene physische Ontologie. Sie existieren in unserer Lebenswelt, sie sind da, und sie lassen, im Gegensatz zu verklungener Musik, sich mit physika­ lisch-chemischen Methoden und gegebenenfalls mit archäologisch-philo­ logischer Autopsie untersuchen. Und allein schon durch ihr Vorhanden­ sein erzwingen sie eine spezifische Logik der gedanklichen Bearbeitung. Aber ihre Wahrnehmung verändert sich, und damit ihr Platz und ihre Beurteilung im Bewertungsgefüge der Zeit. Auch die Versuche, in das Musikleben musikhistorische Aufführungen einzuführen, alte Instru­ mente nachzubauen und alte Konzertsäle ›originalgetreu‹ zu renovieren, bringen die Vergangenheit und die vergangenen Musikerfahrungen nicht zurück. Vielmehr lenken sie den Blick auf die Spannungen, denen wir bei unseren Bemühungen, uns historischen Klangerfahrungen anzunähern, ausgesetzt sind. Wir schaffen zusätzliche neue Daten und Dispositive, die

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aber im Wesentlichen auf den in der Gegenwart verfügbaren technischen Mitteln und Erkenntnissen auf bauen und unseren gegenwärtigen Er­ kenntnisstand im Umgang mit Vergangenem widerspiegeln. So sind etwa auch die akustischen Simulationen von Klängen in be­ stimmten historischen Aufführungsräumen, die Stefan Weinzierl in den letzten Jahren mit seinen Mitarbeitern an der TU Berlin erarbeitet hat,23 ein ungemein aufschlussreiches Material für die Annäherung an vergan­ gene Klangerfahrungen. Sie trainieren unser Ohr für die akustischen Be­ sonderheiten, mit denen sich die Musiker und die Komponisten an diesen Orten auseinanderzusetzen und die sie sich anzueignen hatten. Damit können wir neue musikhistorische Hypothesen generieren, welche die auf schriftliche Überlieferung zentrierte Musikwissenschaft bislang nicht erarbeitet hat. Zugleich eröffnen diese Simulationen ein weites Feld für die Differenzierung des Hörens in der Gegenwart und für eine Struk­ turierung der entsprechenden Lernprozesse. Aber die entsprechenden Entwicklungen stehen erst am Anfang. Die Spannung von Vergangenheitskonstitution und Gegenwartsprä­ gung ist indessen jeder historiographischen Bemühung inhärent, wenn­ gleich sie in einer Erfahrungsgeschichte der musikalischen Praktiken besonders zugespitzt erscheint. Der epistemologische springende Punkt bleibt immer derjenige der direkten empirischen Beobachtung, die dem Historiker vergangener Erfahrungen nicht möglich ist. Aufgrund dieses Umstands hat er sich intensiv mit den Formen und Auswirkungen der Medialisierung auseinanderzusetzen, in denen ihm sein Material überlie­ fert ist. Wenn man so will, handelt es sich dabei um eine spezifische Art von Quellenkritik, die jedoch, im Unterschied zu den klassischen Vorga­ ben der Quellenkritik, die eigene Position des Historikers miteinschließt. Sie fragt nicht nur nach den Bedingungen des Zustandekommens und der Überlieferung des Quellenmaterials, sondern auch nach den Voraus­ setzungen und Mitteln der historischen Rekonstruktion in der Gegen­ wart. Musikhistorische Aufführungen – um nur noch einmal kurz auf dieses Beispiel zurückzukommen – sind immer Interpretationen unter 23 | Vgl. TU Berlin, Fachgebiet Audiokommunikation: Die Akustik historischer Aufführungsräume für Musik und Theater, www.ak.tu‑berlin.de/menue/research/ die_akustik_historischer_auffuehrungsraeume_fuer_musik_und_theater/ mit den ent­s prechenden neueren Publikationen (abgerufen am 01.08.2017). Vgl. auch den Beitrag von Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi in diesem Band.

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den Bedingungen und Erkenntnisinteressen der Gegenwart. Und das gilt nicht nur für die beteiligten Akteure, Musiker, Dirigenten, Programm­ leiter und Akustikspezialisten, sondern auch für die in vielen Fällen als ›Experten‹ fungierenden Musikhistoriker. Aus diesen Interpretationen können nun bestimmte neue gegenwärtige Hörerfahrungen abgeleitet werden, die wiederum mit dem historischen Material in Beziehung zu setzen sind. Was sich dabei ergibt, ist eine breitere Palette von Daten und somit auch ein präziseres Spektrum von Fragen, die der Historiker stellen kann und für die er nach Antworten sucht. Selbst wenn die Musik damit natürlich nicht aus der Vergangenheit zurückgebracht wird, entsteht ein spannungsreiches, mit empirischen Erfahrungen angereichertes reflexi­ ves Verhältnis zur Musikgeschichte, in der das Medium des Hörens die Vielfalt seiner Facetten zur Entfaltung zu bringen vermag.

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1962. Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, aus dem Russischen, Frankfurt a.M. 2015. Barenboim-Said Akademie: Vision. Musik für das Denkende Ohr, in: https:// boulezsaal.de/de/der-saal/vision (abgerufen am 01.08.2017). Roland Barthes: »Écoute«, in: ders.: L’Obvie et l’Obtus. Essais critiques III, Paris 1982, S. 217-230. Volker Bernius, Peter Kemper, Regina Oehler und Karl-Heinz Wellmann (Hg.): Der Aufstand des Ohrs – die neue Lust am Hören, Göttingen 2006 (= Reader Neues Funkkolleg). Ute Daniel: »Erfahrene Geschichte. Inventionen über ein Thema Rein­ hart Kosellecks«, in: Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. von Carsten Dutt und Reinhard Laube (= Marba­ cher Schriften, neue Folge 9), Göttingen 2013, S. 14-28. Walter Jay Dowling: »Music Perception«, in: Oxford Handbook of Auditory Science, Bd. 3: Hearing, hg. von Christopher Plack, Oxford 2010, S. 231248. Walter Jay Dowling, Barbara Tillmann: »Memory Improvement While Hearing Music: Effects of Structural Continuity on Feature Bind­ ing«, in: Music Perception 32 (2014), S. 1-32.

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Maÿlis Dupont: Penser la valeur d’une œuvre. Propositions pour une sociologie de la musique responsable, 2 Bde., Dissertation Université de Lille-3, 2005. Maÿlis Dupont: Le Bel Aujourd’hui. Bach ou Boulez, des œuvres à faire, Paris 2011. Steven Feld: »Sound Structure as Social Structure«, in: Ethnomusicology 28 (1984), S. 383-409. Steven Feld und Donald Brenneis: »Doing Anthropology in Sound«, in: American Ethnologist 31 (2004), H. 4, S. 461-474. Stefan Helmreich und Michèle Friedner: »Sound Studies Meets Deaf Studies«, in: The Senses & Society 7 (2012), S. 72-86. Stefan Helmreich: Sounding the Limits of Life. Essays in the Anthropology of Biology and Beyond, Princeton 2016. James H. Johnson: Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995. Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, Mün­ chen 2000. Martin Kaltenecker: L’oreille divisée. Le discours sur l’écoute musicale aux XVIIIe et XIXe siècles, Paris 2011. Reinhart Koselleck: »Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch anthropologische Skizze«, in: Historische Methode, hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 5), München 1988, S. 13-61. Reinhart Koselleck und Carsten Dutt: Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013. Alexander Kraus: »Der Klang des Nordpolarmeers«, in: Weltmeere. Wissen und Wahrnehmung im langen 19. Jahrhundert, hg. von Alexander Kraus und Martina Winkler, Göttingen 2014, S. 127-148. Simon McVeigh: »The Musician as a Concert-Promoter in London, 17801850«, in: Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), hg. von Hans-Erich Bö­ deker, Patrice Veit und Michael Werner, Paris 2002, S. 71-92. Jan-Friedrich Missfelder: »Period Ear. Perspektiven einer Klanggeschich­ te der Neuzeit«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 21-47. Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. Sven Oliver Müller: »Die Politik des Schweigens. Veränderungen im Pub­ likumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), H. 1, S. 48-85.

Klang und Ton als Thema und Gegenstand einer Er fahrungsgeschichte

Raymond Murray Schafer: The Tuning of the World, New York 1977. Raymond Murray Schafer: The Thinking Ear. Complete Writing of Musical Education, Ontario 1986. Raymond Murray Schafer: The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester, VT 1993. Gerhard Paul und Ralph Schock (Hg.): Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013. Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, NC 2003. Barbara Tillmann, Walter Jay Dowling u.a.: »Influence of Expressive ver­ sus Mechanical Musical Performance on Short-term Memory for Mu­ sical Excerpts«, in: Music Perception 30 (2013), S. 419-425. Barbara Tillmann u.a.: »From the Audio Signal to Sensory and Cognitive Representations in the Perception of Tonal Music: Modeling Sensory and Cognitive Influences on Tonal Expectations«, in: Psychological Review 121 (2014), S. 33-65. TU Berlin, Fachgebiet Audiokommunikation: Die Akustik historischer Aufführungsräume für Musik und Theater, www.ak.tu‑berlin.de/menue/ research/die_akustik_historischer_auffuehrungsraeume_fuer_mu​ sik_und_theater/ (abgerufen am 01.08.2017). Axel Volmar und Jens Schröter (Hg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013.

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»Das Ohr vertieft sich« Veränderungen, Verstörungen und Erweiterungen des Hörens im Krieg Martin Kaltenecker Die Beschäftigung mit der Thematik des Klanges zu Kriegszeiten zeugt von der zunehmenden Bedeutung einer aural history seit den 1990er Jah­ ren. Mark M. Smith beschrieb diese Wende 2004 wie folgt: »Rather than positing aural history as qualitatively new, it is perhaps more accurate and helpful to see the recent flurry of interest in the topic as extending a deep genealogy, one now flourishing partly as a result of changes in the nature of historical research and partly as a consequence of the growing importance of auditory technologies – television, radio, recorded sound, telephones – in modern life. […] Once focused on just the history of music, and musicology, historians of aurality now consider sound in all its variety. This intensification holds out the prospect of helping to redirect in some profoundly important ways […] the visually oriented discipline of history […], indebted to the visualism of ›Enlightenment‹ thinking and ways of understanding the world.«1

Smith bezog sich auf Historiker wie Jacques Attali, Alain Corbin und seine histoire des sensibilités,2 Emily Thompson, Charles D. Ross, Bruce Smith und andere mehr. Zugleich zeigt die aural history die wachsende Bedeutung der sound studies, die Karin Bijsterveld und Trevor Pinch als ein »interdisciplinary area that studies the material production and con­ sumption of music, sound, noise, and silence, and how these have chan­ 1 | Mark M. Smith: »Introduction: Onward to Audible Pasts«, in: Hearing History. A Reader, hg. von dems., Athens und London 2004, S. IX-XXII, hier S. IX. 2 | Vgl. Alain Corbin: Les Cloches de la terre, Paris 1994.

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ged throughout history and within different societies« definieren.3 Smith zitiert Arbeiten von R. Murray Schafer, Penelope Gouk, James H. Johnson und Jonathan Sterne, und analysiert seinerseits die Rolle des Klangs im amerikanischen Bürgerkrieg, die eine Konstruktion des ›Anderen‹ mit­ tels seiner Geräusche umfasste.4 Die aural history verbindet also zwei Anliegen. Sie stellt für sich selbst eine Geschichte des Hörens dar, wie sie bereits Marx 1844 skizzierte,5 und sie leistet einen Beitrag zur Darstellung historischer Vorgänge. So hat Charles D. Ross etwa die Rolle der »acoustic shadows«, der Schall­ schatten, im amerikanischen Bürgerkrieg studiert. Solche toten Winkel, in die kein Geräusch eindrang, verhinderten eine genaue Verortung des Feindes, was im Falle des Angriffs auf Fort Donelson im Februar 1862 gewisse militärische Entscheidungen des Generals Grant erklärt, die an­ sonsten unverständlich bleiben.6 Die Beschäftigung mit den akustischen Räumen des Krieges ist ein Beitrag zu einer solchen aural history. Quellen, die die Wirkung von Kriegsgeräuschen beschreiben, sind im 19. Jahrhundert zahlreich. Na­ than Sheppard, der während der Belagerung von Paris 1870-71 durch die

3 | Trevor Pinch und Karin Bijsterveld: »New Keys to the World of Sound«, in: The Oxford Handbook of Sound Studies, hg. von dens., Oxford 2012, S. 3-38, hier S. 6-7. 4 | »Southerners heard most northerners to be noisy, and northerners heard most southerners – slave and free – to be disturbingly silent or cacophonous. […] Aural constructions of ›the North‹ and ›the South‹ gained wide currency […]. The heard world, imagined and distorted though it was in part, was real to those who did the selective listening; real enough, in fact, to prompt men to palpable, destructive action«, Mark M. Smith, Mitchell Snay und Bruce R. Smith: »Coda: Talking Sound History«, in: Smith, Hearing History, S. 365-404, hier S. 379-380. Vgl. auch: »Sound operates as reality and as construction, sometimes simultaneously, and because historical soundscapes may be both actual environments and abstract constructions, we must treat them as both«, ebd., S. 366. 5 | »Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte«, Karl Marx: »Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 40, Berlin 1967, S. 542. 6 | Charles D. Ross: »Sight, Sound, and Tactics in the American Civil War«, in: Smith, Hearing History, S. 267-278.

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deutschen Armeen in der Stadt eingeschlossen war, beschreibt z.B. die Geräusche eines Gefechts in der unmittelbaren Nähe der Stadtmauern: »There are few groans heard on the field of battle. The wounded seldom groan. […] In truth there is little noise on the battlefield besides that of the battle itself. Now and then a shout from commander or men, but mostly all goes on silently. The marching and countermarching, the advance and retreat, the picking-up of the wounded, even the rout, has a muffled sound. […] Awful stillness and awful storms of sound and fury go together in a time of battle.« 7

Einige Wochen später findet man in seinem Tagebuch eine Beschreibung des Sturms auf den Palast der Tuilerien: »The crash of the windows, the whiz of the cartridges, the maniacal shrieks of the women, the shouts of the men, the shrill terror in the voices of the children, the stampede of the terrified, the chiming of the clock over the palace-door, mingling with the rapid clap of the closing of the shop window-shutters; above all, the rattle of the musketry, and the boom from the cannon at the forts can be heard. What scenes! – what sounds!« 8

Die Zahl solcher Bemerkungen scheint in der Menge von Zeugnissen zum Ersten Weltkrieg quasi zu explodieren, zumal dem Abhören des Feindes im Stellungskrieg nun eine wichtige strategische Funktion zu­ kommt. Spezielle Apparate, wie etwa der »Auditor«,9 werden zu diesem Zweck konstruiert. Unter Tage werden Einheiten von Bergleuten einge­ setzt, die Tunnel in Richtung der feindlichen Linien graben und z.B. ein sogenanntes géophone benutzen (nach dem Modell eines Stethoskops),10 um die Bewegungen auf der anderen Seite abzuhören. Die akustischen Wirkungen des Ersten Weltkriegs – so die bekannten shell shocks – haben seit den 1920er Jahren eine große Anzahl von medizinischen, psycholo­

7 | Nathan Sheppard: Shut up in Paris, London 1871, S. 183. 8 | Ebd., S. 238. 9 | Ernst Jünger: Carnets de guerre 1914-1918, Paris 2014, S. 298. 10 | Vgl. Julia Encke: Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne, München 2006, S. 142.

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gischen und phänomenologischen Studien hervorgerufen.11 Französische Historiker sprechen seit den 1990er Jahren von einer »Anthropologie« oder einer »Kulturgeschichte« des Krieges,12 zu der man auch Julia En­ ckes brillante Arbeit zum ›Krieg der Sinne‹ hinzuzählen kann,13 sowie Arbeiten zur ›Phonosphäre‹ des Kriegs allgemein.14 Ich möchte im Folgenden zwei typische Hörsituationen im Krieg be­ schreiben, ausgehend von meist französischen Texten, die sich vorwie­ gend auf die bereits erwähnte Belagerung von Paris 1870-71 sowie auf den Ersten Weltkrieg beziehen.15 Ich gehe dafür zuerst auf Verzerrungen der soundscape ein (I), die das ›Gesicht‹ des Krieges wie eine Karikatur, wie eine erschreckende Grimasse erscheinen lassen. Ich komme sodann auf Verstörungen des Ohrs zu sprechen (II), die zunächst Reaktionen von Angst und Abwehr hervorrufen. Neuen und erschreckenden Geräuschen 11 | Vgl. etwa Georg Friedrich Nicolai: Die Biologie des Krieges, Darmstadt 1983 [Orig. 1917], § 21; die Bibliographie in Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 263281; Entendre la guerre. Sons, musique et silence en 14-18, hg. von Florence Gétreau, Paris und Péronne 2014; David Hendy: Noise. A Human History of Sound and Listening, New York 2013, S. 275-280. 12 | Vgl. etwa Annette Becker und Stéphane Audoin-Rouzeau: »Violence et consentement: la ›culture de guerre‹ du premier conflit mondial«, in: Pour une histoire culturelle, hg. von Jean-Paul Rioux und Jean-François Sirinelli, Paris 1997, S. 251271, sowie Revue d’histoire du xix e siècle 30 (2005). 13 | Encke, Augenblicke der Gefahr. 14 | Vgl. z.B. Philip Caput: Le Bruit de la guerre, Paris 1975; Encke, Augenblicke der Gefahr; Suzanne G. Cusick: »Music and Torture/Music as Weapon«, in: Transcultural Music Review 10 (2006), S. 1-13; Carine Trévisan: »Le bruit de la guerre«, in: La Grande Guerre des musiciens, hg. von Stéphane Audoin-Rouzeau u.a., Lyon 2009, S. 5-15; Juliette Volcler: Le Son comme arme, Paris 2011; Mathilde Valespir: Lire, écouter, exorciser la guerre, Paris 2012; Hilel Schwartz: »Inner and Outer Sancta. Earplugs and Hospitals«, in: The Oxford Handbook of Sound Studies, hg. von Trevor Pinch und Karin Bijsterveld, Oxford 2012, S. 285-291; Gétreau (Hg.), Entendre la guerre. – Für eine erweiterte Fassung des vorliegenden Beitrags vgl. Martin Kaltenecker: »›What Scenes! What sounds!‹. Some Remarks on Soundscapes in War Times«, in: Music and War from Napoleon to WWI, hg. von Étienne Jardin, Turnhout 2016, S. 3-27. 15 | Zur Unterscheidung von vier Hörsituationen im Krieg vgl. Kaltenecker, »What scenes!«.

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in Permanenz ausgesetzt zu sein, kann jedoch auch eine Erweiterung der Hörfähigkeiten nach sich ziehen, wie sie von den Quellen vielfach be­ zeugt wird (III).

I. S oundscapes des K rieges Guillaume Apollinaire beschreibt 1914 die Landschaften im Norden Frankreichs als fragil, »mit einem feinen Schleier bedeckt«, voller Horch­ posten, die sie »vor den Angriffen schrecklicher Insekten bewahren«, und zahlreicher Dörfer, aus denen »Phantome« geworden sind.16 Der Krieg zieht mehr oder weniger spürbare visuelle, akustische und materiel­ le Transformationen der Umwelt nach sich, die vom Verschwinden von Klängen (Glocken werden eingeschmolzen) oder der ungewohnten Stille nach der Sperrstunde bis zu drastischen Umwälzungen der akustischen warscapes reichen können. Räume verändern sich, Gegenstände werden deplatziert. Edmond de Goncourt beschreibt, wie während der Belage­ rung 1870 eine Kirche in einen Versammlungssaal umgewandelt wird, er bemerkt, dass in den Vitrinen der Juweliere nun auch Eier angeboten wer­ den, und dass die Salle Musard, in der Konzerte und Bälle stattfanden, in ein Spital umgewandelt wurde.17 Bauern, die in die Hauptstadt geflüchtet sind, haben einen Ochsen mitgebracht, der nun im Salon einer Wohnung in der Rue de Rivoli, auf dessen Parkett Heu ausgestreut wurde, in aller Ruhe weidet.18 Der Buchhalter Jacques-Henry Paradis schreibt in seinem Tagebuch: »Ganze Viertel sind in große Farmen verwandelt worden: Man sieht viele Hühner und Tauben in den Straßen, die Nahrung suchen. Vie­ le Läden dienen auch als Kuhställe, deren Geruch, der im Übrigen nicht unangenehm ist, sich in den Straßen verbreitet und uns an die glückli­ chen Zeiten auf dem Lande erinnert, die nun leider weit zurückliegen!«19 16 | Guillaume Apollinaire: Brief an Madeleine Pagès vom 30.06.1915, zit.n. Annette Becker: La Grande Guerre d’Apollinaire, Paris 2014, S. 87. 17 | Vgl. Edmond und Jules de Goncourt: Journal, Bd. 2, Paris 2004, S. 360. 18 | Vgl. Edmond Deschaumes: La France moderne: Journal d’un lycéen de 14 ans pendant le siège de Paris, Paris 1890, S. 229; Francisque Sarcey: Le Siège de Paris, Paris [o.D.], S. 196. 19 | »Il y a des quartiers entiers transformés en vastes fermes: on voit beaucoup de poules et de pigeons dans les rues, y cherchant leur nourriture. En outre, beau­

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An der Front sind solche Verwandlungen dramatischer. Bekannt sind die Berichte aus dem Ersten Weltkrieg, die eine öde Landschaft beschrei­ ben, in der man einen Feind, dessen man nur ausnahmsweise körperlich habhaft wird, belauscht, in die man sich eingräbt, in der man Geschütze nicht aufstellt, sondern versteckt.20 »Ist es nicht ein Paradox«, schreibt Apollinaire im Juni 1915, »dass ich noch keines dieser Wesen gesehen habe, deren sämtliche Geschosse ich kenne, große wie kleine. Ich stelle mir die Boches also nur mittels der Geräusche angezündeter Streichhöl­ zer, von Gewehrschüssen und explodierenden Granaten vor […]. Wahr­ scheinlich existieren sie nicht. Die Boches, das sind Dinger wie 105er, 305er, österreichische 80er, 77er.«21 Der Maler Fernand Léger beschreibt den Krieg als ein »Leben von Blinden, wo alles, was das Auge aufnehmen und wahrnehmen kann, sich verstecken und verschwinden musste. Keiner hat den Krieg gesehen. […] Jeder hat den Krieg ›gehört‹. Es war eine enorme Symphonie, an die noch kein Musiker oder Komponist herangekommen ist: ›Vier Jahre ohne Far­ ben‹.«22

coup de vastes boutiques ont été transformées en vacheries dont l’odeur, agré­ able du reste, se répand dans les rues et nous remet en mémoire les jours heureux de la campagne qui sont, hélas!, bien loin de nous«, Jacques-Henri Paradis: Journal du siège de Paris, Paris 2008, S. 170. Übersetzungen, soweit nicht anders angegeben: Martin Kaltenecker. 20 | Vgl. Paul Virilio: Guerre et cinéma I, Logistique de la perception, Paris 1984, S. 123. 21 | »Et n’est-ce pas un paradoxe que je n’aie jamais vu encore un de ces êtres dont je connais tous les projectiles, les gros et les petits. Je ne me figure donc plus les Boches que sous les espèces des craquements d’allumettes, des coups de fusils, des éclatements d’obus […]. Sans doute qu’ils n’existent pas. Les Boches c’est des trucs de 105, de 305, de 80 autrichiens, de 77.« Guillaume Apollinare: Brief an Mireille Havet vom 20.06.1915, zit.n. Becker, Apollinaire, S. 118. 22 | »Une vie d’aveugles où tout ce que l’œil pouvait enregistrer et percevoir devait se cacher et disparaître. Personne n’a vu la guerre […]. Tout le monde a ›entendu‹ la guerre. Ce fut une énorme symphonie qu’aucun musicien ou compositeur n’a encore égalée: ›Quatre années sans couleur‹.« Fernand Léger, Brief an Louis Poughon vom 25.10.1916, zit.n. Becker, Apollinaire, S. 130.

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Diese für den Regisseur Griffith ›unfilmbare‹ Landschaft,23 die der Reporter Albert Londres mit einer Wüste vergleicht,24 wird 1917 von dem Gestaltpsychologen Kurt Lewin folgendermaßen kommentiert: »Denn für gewöhnlich erlebt man die Landschaft auf diese Weise: sie erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus, den nach optischen Gesetzen die Netzhaut, selbst sukzessiv, wiederspiegeln kann; und diese Ausdehnung – das ist wesentlich für die Friedenslandschaft – geht nach allen Richtungen gleichermaßen ins Unendliche […]. Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten. Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt.« 25

Eine weitere Diffenzierung der Veränderungen akustischer Landschaften im Krieg wird durch den Rückgriff auf den klassischen Begriff der soundscape ermöglicht, den Raymond Murray Schafer eingeführt hat. Er unter­ scheidet dabei eine keynote, einen Grundton, der von der Geographie und dem Klima herrührt und den er mit dem ›Grund‹ der Gestaltpsychologen vergleicht, vor dem sich Gestalten abheben. Weiterhin gibt es Signale, die im Vordergrund auftauchen, Geräusche von Fabriken, Zügen und Ver­ kehrsmitteln, Sirenen oder Glockenklänge. Hinzu kommen schließlich soundmarks, soziale Klangzeichen, die sich spezifisch auf eine Gemein­ schaft oder Gesellschaft beziehen.26 Wenn Schafer diese Unterscheidun­ gen auch nicht vollkommen stringent anwendet, so eröffnen sie doch wichtige Perspektiven, wenn man sie ein wenig anders anordnet. Man kann einerseits zwischen permanenten, bzw. regelmäßig auftauchenden, und okkasionellen Klängen unterscheiden, und andererseits zwischen natürlichen und kulturell bedingten. Letztere können zu »Klangikonen« werden, wie sie Gerhard Paul nennt (Slogans und Parolen im Fußball, 23 | Virilio, Guerre et cinéma, S. 19-21. 24 | Albert Londres, zitiert von Stéphane Audoin-Rouzeau im Vorwort zu Gétreau (Hg.), Entendre la guerre, S. 9. 25 | Kurt Lewin: »Kriegslandschaft«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie XII (1917), zit.n. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 35-36 (Hervorhebung im Original). 26 | R. Murray Schafer: The Soundscape of the World, Rochester 1994, S. 9-10.

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Werbemelodien im Rundfunk oder Fernsehen, die jedermann kennt und wiedererkennt).27 Solche soundmarks sind gewissermaßen die »Bau­ steine« eines »Ritornells«,28 um zwei Begriffe von Félix Guattari aufzu­ greifen, die ein akustisches Territorium bestimmen. Wir sind uns einer solchen Struktur nicht durchgehend bewusst; wir bemerken sie, wenn wir an einen Ort nach längerer Abwesenheit zurückkehren oder wenn sie – wie im Fall eines Krieges – verändert wird, wenn Elemente heraus­ gefiltert oder verstärkt werden. So fällt 1870 einer Klosterschwester in der Pariser Vorstadt Saint-De­ nis die Abwesenheit der Glockenklänge auf: »Schon wieder die Stille! […] Nur die Uhren sprechen. Man kann sich keine Vorstellung von der Trau­ rigkeit machen, die diese Stille vermittelt.«29 Théophile Gautier besucht den Bahnhof Gare du Nord, der nun als Fabrik für Transportballons dient. »Was für eine Stille! Was für eine Ödnis in diesen prächtigen Hallen, die noch vor kurzem von der Unruhe des Ankommens und Abfahrens erfüllt waren, von dem Tumult der Koffer und des Gepäcks.«30 Gautier beschreibt auch die unheimliche Ruhe der Stadt in der Abenddämmerung: »Sobald die Sperrstunde kommt, könnte man meinen, in einer mittelalterlichen Stadt zu weilen. Kaum sind in der Ferne noch das Geräusch eines rollen­ den Wagens oder die Schritte eines Bürgers zu vernehmen, der nach Hau­ se kommt.«31 Paris, bemerkt das Journal d’une Parisienne, das einst eine Art Babylon war, erinnert nun eher an das Provinzstädtchen Quimper.32 Ein Gymnasiast beschreibt in seinem Tagebuch, wie Räumlichkeiten der Pariser Oper in eine riesige Bäckerei umgewandelt wurden, und zitiert ein Wortspiel des Komponisten Daniel François Esprit Auber: »Dans le palais du son, on fait de la farine.« 33 Ein Bataillon von Wachen exerziert 27 | Vgl. Christoph Hilgert: »Bericht zur Sektion ›Sound History‹ beim 49. Deutschen Historikertag in Mainz«, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencere​p ort/​ id/tagungsberichte-4457 (26.10.2012, abgerufen am 28.06.2017). 28 | Vgl. Félix Guattari: L’inconscient machinique, Paris 1979, Kap. 5, S. 117-165. 29 | Marie-Vincent Rousset (sœur): Journal des événements les plus remarquables qui se sont passés à St-Denis, pendant le siège de Paris, par une Fille de la Charité, Privas 1871, S. 8. 30 | Théophile Gautier: Tableaux de siège: Paris 1870-1871, Paris 1871, S. 46. 31 | Ebd., S. 120. 32 | Anon.: Journal d’une Parisienne pendant le siège, Paris 1870, S. 6. 33 | Deschaumes, Journal, S. 83. »Son« bedeutet zugleich »Klang« und »Kleie«.

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in dem Garten von Musard, so dass »wir eine Konservatoriumsklasse für Signalhörner und Trommeln an derselben Stelle haben, wo einst fröhli­ che Liedchen gesungen wurden.«34 Solche Deplatzierungen von Klängen sind charakteristisch für eine warscape – die gewohnten Klänge und Ge­ räusche verschwinden oder tauchen in Kontexten auf, in denen man sie zu Friedenszeiten nicht findet oder nicht wahrnimmt. Während der Ver­ sammlungen in Saint-Eustache, die Goncourt erwähnt, werden die Glöck­ chen, die während der Verwandlung in der Messe erklingen, nun dazu verwendet, allzu geschwätzige Redner zum Schweigen zu bringen.35 Im November 1870, während der Pause eines Benefizkonzerts in der Oper, ist Victor Hugo überrascht von dem Klang der Münzen, die in preußische Helme fallen, in denen das Geld für Verwundete eingesammelt wird.36 Musik wird dabei zu einem Klangelement unter vielen anderen und zeugt von der Umstrukturierung der Klanglandschaft. Die Grenzen zwischen populärer Musik und Kunstmusik verschwimmen; eine Sym­ phonie von Beethoven wird wie eine Hymne gehört, die Hoffnung und patriotische Gefühle zum Ausdruck bringt, sodass die enthusiastischen Hörer im Anschluss an die Aufführung in den Gesang der Marseillaise ausbrechen.37 Fragmente von Militärmusik sind omnipräsent – »man wird andauernd von dem Rhythmus der Trommel und den strahlenden Fanfaren der Trompete begleitet […]«, notiert Gautier38 – und populäre Konzerte werden in den Gärten der Tuilerien organisiert, während »die Detonationen von Vanves und Montrouge an unser Ohr dringen.«39 Die gleichen Verzerrungen und Verlagerungen von Klängen sind für den Ersten Weltkrieg bezeugt. Der Soldat Emile Tanty schreibt: »Es ist nicht meine Schuld, wenn ich den Katzenjammer habe und mir jede Energie fehlt. Hier gibt es nichts, was uns trösten könnte; ab und zu er­ innert uns das Geräusch ferner Glocken oder der entfernte Pfeifton eines

34 | Ebd., S. 56. 35 | Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 432. 36 | Vgl. Victor Hugo: Actes et paroles, Bd. 3, Paris 1985, S. 742. 37 | Vgl. den Bericht über ein Konzert bei Pasdeloup 1871, in: Jules de Marthold: Mémorandum du siège de Paris 1870-71, Paris 1884, S. 125. 38 | Gautier, Tableaux de siège, S. 26. 39 | Catulle Mendès: Les 73 journées de la Commune, Paris 1871, S. 286.

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Zuges daran, dass die Welt existiert.« 40 Dieses typische Beispiel für eine soundmark als ein Klangzeichen, das die Mitglieder einer Gemeinschaft anspricht, zeigt hier zugleich, dass es die Verbindung zur Heimat ver­ körpern kann. Solche soundmarks können auch mutwillig zerstört oder persifliert werden: »In Frise haben uns die Fridoline [die Deutschen, MK] die Uhrzeit angegeben. Da es methodische Leute sind, hatten sie von irgendwoher in ihren Linien ein Gewehr auf die Uhr der Kirche gerichtet, die selbst eine Ruine war, und eine Wache läutete jede Stunde, halbe Stunde und Viertelstunde, indem sie auf die Glocke schoss, so dass die entsprechende Anzahl von bronzenen Vibrationen zu hören war!« 41

Die Musik, die an der Front erklingt,42 erinnert an die Zeit vor dem Krieg und wird dadurch intensiver gehört, wie zwei Verse des Dichters Ivor Gur­ ney nahelegen: »Beautiful tune to which roguish words by Welsh pit boys/ Are sung – but never more beautiful than here under the guns’ noise.« 43 Sie kann jedoch auch befremdlich wirken und die Klanglandschaft des Krieges in eine Art akustische Collage verwandeln. Im Oktober 1914 no­ tiert sich etwa der Gefreite Jakob Krebs: »Während ich im Turnsaal mein Tagebuch führe, spielen ein bis zwei Grammophone, fast möchte man die draußen explodierenden Granaten vergessen.«44 Die psychologischen Wirkungen solcher ›ortsversetzten‹ Klangeffekte sind vielfach bezeugt. 40 | »Ce n’est pas ma faute si j’ai le cafard et si je manque d’entrain. Il n’y a rien pour réconforter; parfois le bruit d’une cloche, dans le lointain, ou le lointain sifflet d’un train vient vous rappeler que le monde existe«, Emile Tanty, zit.n. JeanClaude Guillebaud: Le Tourment de la guerre, Paris 2016, S. 303. 41 | »À Frise, ce sont les Fridolins qui nous donnaient l’heure. En gens méthodiques qu’ils sont, ils avaient braqué quelque part dans leur ligne un fusil sur la cloche de l’église en ruine et une sentinelle de service sonnait les heures, les quarts, les demies en tirant sur la cloche, dont le bronze vibrait, ému, un nombre correspondant de coups!« Blaise Cendrars: La main coupée, Œuvres autobiographiques complètes I, Paris 2013, S. 631. 42 | Vgl. z.B. Claude Ribouillault: La musique au fusil, Paris 2014. 43 | Ivor Gurney, Isaac Rosenberg und Wilfred Owen: Three Poets of the First World War, hg. von Jon Stallworthy und Jane Potter, London 2011, S. 26. 44 | Verborgene Chronik 1914, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv, zusammengestellt von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, Berlin 2014, S. 217. Zur Verwen-

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Edouard Cœurdevey schreibt in einem Brief: »Ich wäre gern unendlich traurig, aber wie soll ich das anstellen? Rübelein will jetzt unbedingt Tan­ go tanzen zum Klang seines Grammophons […].«45 Wenn ein Chanson, das auf dem Apparat abgespielt wird, manchmal so stimulierend wie ein »guter Grog«46 wirkt, mag es ein andermal unerträglich sein: Ernst Jün­ ger zerstört eines Nachts in einem verlassenen Unterstand ein noch lau­ fendes Grammophon: »Die lustige Melodie, die von der Walze schnurrte, machte einen geisterhaften Eindruck auf uns.«47 Seltsam unzeitgemäße Idyllen entstehen ab und zu, etwa während der oft beschriebenen Szenen, in denen mithilfe von Musik mit dem Feind kommuniziert wird – vier Hörner blasen Stille Nacht am Weihnachtsabend für die Franzosen auf der anderen Seite48 – oder wenn die Regimentsmusik in einem Wald ein »idyllisches« Konzert gibt, wie Jünger schreibt.49 Die erwähnten Elemente der akustischen Kriegslandschaft können schließlich auch diachron betrachtet werden, also hinsichtlich quanti­ tativer oder qualitativer Transformationen in der Zeit. Man kann etwa die Masse von Menschen, die Materialien, die Präsenz oder Absenz von Pferden50 oder auch von technischen Apparaten betrachten, die weitere Klänge in die soundscape eintragen. So mag ein Radioapparat ähnlich ›ge­ mischte Gefühle‹ hervorrufen wie eine Geige oder Grammophonmusik in den Schützengräben. Ein deutscher Soldat schreibt z.B. aus Galizien im Juni 1941: »Nachmittag. Ich sitze auf einem Baumstumpf in einer etwas verwässerten Schlucht. […] Hinter uns, irgendwo, wo der Funkwagen vom Nachr.Zug steht, erdung von Grammophonen vgl. Alessandro Macchia: Tombeaux. Epicedi per le grandi guerre, Milano 2005, S. 15-26. 45 | »Je serais infiniment triste mais comment l’être? Rübelein imagine de danser le tango au son d’un porte-plat à musique… […]«, Edouard Cœurdevey: Carnets de guerre 1914-1918, Paris 2008, S. 73. 46 | Cendrars, La main coupée, S. 641. 47 | Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Stuttgart 2014, S. 249. 48 | Deutsches Tagebucharchiv (Hg.), Verborgene Chronik, S. 347. 49 | Jünger, Carnets de guerre, S. 412. 50 | Vgl. etwa Becker, Apollinaire, S. 21 und 35; H. G. Wells: War and Future. Italy, France and Britain at War, London 1917, insb. Kap. 4; Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde, München 2016.

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klingt Musik aus dem T-Empfänger (Radiogerät). Ich kann Dir nur sagen: es war furchtbar! – Sofort kamen mir Erinnerungen an OTS. Stelle Dir vor: jetzt bei Tanzmusik von Adalbert Lutter vor der Strandhalle mit einem riesigen Becher Eis oder Eisschokolade. Dunkelblau leuchtet die Ostsee. […]« 51

II. G renzen der K l änge Hörer, die in eine warscape hineinversetzt werden, machen ungewöhn­ liche Hörerfahrungen, die, wenn sie auch furchterregend sind, zugleich das Ohr erweitern, bereichern, sich anpassen und entwickeln lassen. Der Lärm, mit dem sie konfrontiert sind, ist meistens kontinuierlich und ent­ spricht der Kategorie des flat sound, der für Murray Schafer ein Signum der Zeit seit der industriellen Revolution ist.52 Diese Klangsituation hat sich allmählich konstituiert. Wenn man den Angaben des Generals de La­ riboisière Glauben schenkt, erreichte während der Schlacht von Borodino (1812) das Artilleriefeuer einen »mittleren Wert von drei Kanonenschüs­ sen und sieben Gewehrschüssen pro Sekunde.«53 Die Materialschlach­ ten des Ersten Weltkriegs verstärkten diese Tendenz. Bei Albert Londres heißt es: »In diesen Gegenden, die vom Krieg heimgesucht sind, ist die Atmosphäre nicht mehr die, die wir seit der Erschaffung der Welt kennen. Der Mensch im Kriege fügt ihr den ununterbrochenen Lärm seiner Maschinen hinzu. Der Kanonendonner ist so dicht, verschmilzt so eng mit der Luft, dass, wenn plötzlich ein isolierter Schuss erklingt, der nicht zu diesem lärmenden Gewebe gehört, er den Eindruck erweckt, eine Stille zu zerreißen.« 54 51 | Ernst-Günter Merten, Brief vom 25.06.1941, in: Walter Kempowski: Das Echolot. Barbarossa ’41, München 2004, S. 99. 52 | Schafer, The Soundscape, S. 78. 53 | Guillebaud, Le Tourment de la guerre, S. 152. 54 | »Dans ces pays où l’on se bat, l’atmosphère n’est plus celle qui nous vient de la création. L’homme en guerre y ajoute le bruit continu de ses engins. Le roulement des canons est tellement serré, se marie si étroitement à l’air, que lorsqu’un coup détaché, ne faisant pas partie du tissu bruyant, éclate, on a la conviction qu’il vient de rompre un silence«, Albert Londres: La Grande Guerre, Paris 2010, S. 62.

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Der Lärm, bemerkt ein englischer Offizier, war »like a gigantic force that never stopped, day or night«,55 und Erich Maria Remarque schreibt seiner­ seits: »An der Front gibt es keine Stille, und der Bann der Front reicht so weit, daß wir nie außerhalb von ihr sind. Auch in den zurückgelegenen Depots und Ruhequartieren bleibt das Summen und das gedämpfte Pol­ tern des Feuers stets in unseren Ohren.«56 In der unmittelbaren Nähe der Front ist es unmöglich, sich vor ihm zu schützen. »Wir halten die Augen geschlossen«, schreibt Maurice Genevoix, »wir wollen nicht mehr zuhö­ ren. Wozu überlegen, wo die Schüsse herkommen, da sie jede Parzelle des Dunkels auspeitschen, vor uns, neben uns, hinter uns, überall? Wir sitzen dicht gedrängt nebeneinander, stumm zwischen unseren geduckten Män­ nern, und wir warten, wie sie selbst […].«57 An einer anderen Stelle heißt es: »Es gibt Momente, in denen man die kontinuierliche Realität, diese un­ geheure Beharrlichkeit des Lärms, dieses andauernde Beben des Bodens unter den unzähligen Schüssen kaum mehr verstehen kann […].«58 Für Genevoix stellt diese Hörsituation eine eigene Phonosphäre dar: »Urplötzlich fällt ein Klanggewölbe vom Himmel herunter, erfüllt die Luft über uns mit zischenden Riemen, die sich kreuzen, sich berühren und vermengen, während hinter uns, neben uns und vor uns die Schüsse und Explosionen auf die Erde hämmern, sich wie Pflöcke einpflanzen und so das Gefängnis des Lärms, der uns umgibt, fest verschließen und uns nun – für wie lange? – von der Welt der Lebenden abtrennen.« 59 55 | Hendy, Noise, S. 273. 56 | Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 124. 57 | »Nous tenons nos yeux fermés; nous ne voulons plus écouter. À quoi bon chercher d’où ils partent, puisqu’ils flagellent chaque parcelle de l’ombre, devant nous, sur nos flancs, derrière nous, partout? Assis l’un contre l’autre, silencieux parmi nos hommes prostrés, nous attendons, comme eux […].« Maurice Genevoix: Ceux de 14, Paris 2013, S. 321. 58 | »Il y a des instants où l’on a peine à concevoir cette réalité continue, cette persistance prodigieuse du vacarme, ce tremblement perpétuel du sol sous de tels coups démultipliés […]«, ebd., S. 746. 59 | »Brusquement, une voûte sonore tombe du ciel, jette par-dessus nous des liens sifflants et rapides, qui se croisent, se joignent et se mêlent, tandis que derrière nous, sur nos flancs, devant nous, les coups de départ et les éclatements martèlent la terre, s’y plantent comme des pieux, achèvent de fermer durement le

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Zu der unendlichen Dauer kommt eine nie gehörte Lautstärke hinzu. Léon Jouhaud erinnert sich an das »wütende Gebell« der Artillerie und fügt hinzu: »Ich hätte vor jenem Tag nie vermutet, was eine Artillerie­ vorbereitung sein kann; diese hier erschien mir von einer unglaublichen Dichte! Aber leider hatten wir erst 1915! Das hier war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was ich später hören sollte, wenn auch zugegebener­ maßen nicht aus derselben Nähe.«60 Blaise Cendrars hält einen ähnlichen Eindruck fest: Die Kanonade nahm »in manchen, vor allem in frostigen Nächten, ein solches Ausmaß an, sie hatte einen solchen Widerhall und erreichte einen solchen Gipfel sich überschlagender Gewalt, dass man ihr nicht mehr zuhörte und sich sagte, dass nun der Klangfluss sich unge­ hemmt ausgebreitet hätte, so sehr wurde geschossen, und dass der Krieg sich seinem Ende näherte […].«61  Dass der Lärm sich in Kriegszeiten den Grenzen des für das Ohr Tolerierbaren annähert, wird oft formuliert. Der Maler Fernand Léger schreibt in einem Brief: »Die Ohren tun mir noch weh, ich habe Kopfschmerzen, überall Schmerzen. Es ist unmöglich, Dir dieses Fest des Lärms zu beschreiben, aber alles, was ich im Moment erlebe, ist dieser Rausch des Lärms. […] Es ist etwas wie der Rausch der Schnelligkeit, das packt dich vollkommen. […] Es ist unglaublich, welche Anzahl von Kanonen dieser Angriff in Anspruch nahm. Das Orchester ist hier sehr stark besetzt.« 62 vacarme qui nous emprisonne, et désormais – pour quel temps? – nous sépare du monde des vivants.« Ebd., S. 605. 60 | »Je ne soupçonnais pas avant ce jour-là ce que pouvait être une préparation d’artillerie; celle-ci me paraissait d’une densité invraisembable. Hélas, nous n’étions encore qu’en 1915! C’était un jeu d’enfant à côté de ce que j’entendis plus tard, mais jamais d’aussi près, je l’avoue«, Léon Jouhaud: Souvenirs de la Grande Guerre, Limoges 2005, S. 181. 61 | »[...] certaines nuits, surtout les nuits de gel, avait une telle amplitude, une telle résonance et atteignait un tel paroxysme de violence, d’exaspération qu’on ne l’écoutait plus et que l’on se disait que maintenant le flot était étalé, tellement ça cognait, et que la guerre allait finir […].« Cendrars, La main coupée, S. 658659. 62 | »J’ai encore mal aux oreilles, mal à la tête. Mal partout. Te décrire cette fête du Bruit c’est impossible, mais tout ce que je connais maintenant c’est cette gri-

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Jünger gebraucht 1918 für den Lärm der Artillerie den frappierenden Aus­ druck »absolut«: Der Lärm ist dermaßen stark, dass er gewisserweise wie­ der überhört wird und in den Hintergrund gerät: »Endlich stand [der Zeiger] auf 5.05 Uhr. Der Orkan brach los. Ein flammender Vorhang fuhr hoch, von jähem, nie gehörtem Aufbrüllen gefolgt. Ein rasender Donner, der auch die schwersten Abschüsse in seinem Rollen verschlang, ließ die Erde erzittern. Das riesenhafte Vernichtungsgebrüll der unzähligen Geschütze hinter uns war so furchtbar, daß auch die größten der überstandenen Schlachten dagegen erschienen wie ein Kinderspiel. […] Das Getöse war absolut geworden, man hörte es nicht mehr. Nur unklar merkte man, daß Tausende rückwärtiger Maschinengewehre ihre bleiernen Schwärme ins Blaue fegten.« 63

Auch hier ermöglichen Quellen zur Intensität des Lärms einen Vergleich der warscapes verschiedener Epochen. So beschreibt Hans-Erich Nossack 1948 den letzten Bombenangriff auf Hamburg, den er aus der Ferne be­ obachtet hatte, und der über Jüngers »absoluten« Lärm 30 Jahre früher noch hinausgeht: »Ich sprang auf und rannte barfuß ins Freie, in dieses Geräusch hinein, das wie eine drückende Last zwischen den klaren Sternbildern und der dunklen Erde schwebte, nicht da und nicht dort, sondern überall im Raume; es gab keine Flucht davor. Im Nordwesten zeichneten sich die Hügel diesseits und jenseits der Elbe vor der schmalen Dämmerung des vergangenen Tages ab. Lautlos duckte sich die Landschaft an den Boden, um nicht gefunden zu werden. Nicht weit entfernt stand ein Scheinwerfer; man hörte Kommandorufe, die sofort jeden Zusammenhang mit der Erde verloren und im Nichts zerflatterten. […] Man wagte nicht, Luft zu holen, um es nicht einzuatmen. Es war das Geräusch von achtzehnhundert Flugzeugen, die in unvorstellbaren Höhen von Süden her Hamburg anflogen. Wir hatten schon zweihundert oder auch mehr Angriffe erlebt, drunter sehr schwere, aber dies war etwas völlig Neues. […] Dies Geräusch sollte anderthalb Stunden andauern, und dann in drei Nächten der kommenden Woche noch einmal. Gleichmäßig hielt es serie du bruit. […] C’est quelque chose comme la griserie de la vitesse, cela t’em­ poigne complètement. […] C’est formidable le nombre de canons que cette attaque a déclenché. L’orchestre est très complet ici.« Fernand Leger, Brief an Louis Poughon vom 25.10.1916, zit.n. Becker, Apollinaire, S. 129. 63 | Jünger, In Stahlgewittern, S. 235.

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sich in der Luft. Gleichmäßig hörte man es auch dann, wenn sich das viel lautere Getöse der Abwehr zu Trommelfeuer steigerte. Nur manchmal, wenn einzelne Staffeln zum Tiefangriff ansetzten, schwoll es an und streifte mit seinen Flügeln den Boden. Und doch war dieses furchtbare Geräusch wieder so durchlässig, daß auch jeder andere Laut zu hören war: nicht nur die Abschüsse der Flak, das Krepieren der Granaten, das heulende Rauschen der abgeworfenen Bomben, das Singen der Flaksplitter, nein, sogar ein ganz leises Rascheln, nicht lauter als ein dürres Blatt, das von Ast zu Ast fällte, und wofür es im Dunklen keine Erklärung gab.« 64

Im Gegensatz zu Jüngers »absolutem« Lärm ermöglicht das Geräusch dem Hörer hier einerseits leisere Geräusche wahrzunehmen, während es andererseits eine quasi körperliche Präsenz hat, die den Eindruck ent­ stehen lässt, man könne es aufnehmen, sich durch Atmen einverleiben. Die Stille ist hingegen nie »absolut« und gleicht eher einem subtilen Ge­ webe angsterregender Klänge. »Ruhige Nacht«, notiert sich etwa Jules Marthold bei der Belagerung von Paris im September 1870. »Das Pul­ ver bleibt stumm. Der Vogel baut sein Nest, der Raubvogel, der Feind.«65 Ebenso Francisque Sarcey: »Niemand schläft richtig. Das Ohr ist davon überzeugt, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht.«66 Als Paris dann in der Tat bombardiert wird, schreibt Nathan Sheppard: »Long before the break of the day, we arose in our beds, and leaned upon our hands in the biting atmosphere, listening to the unusually lively cannonade. […] Everybody was talking about the big racket to the eastward. People stood in groups. Rumour rose and spread.«67 Der Hörer ist deshalb beständig auf der Hut. »Wir müssen leise sprechen«, schreibt Genevoix,68 und fragt sich an einer anderen Stelle: »Die Maschinengewehre sind schläfrig. […] Unsere Eparges sind heute Abend friedlich wie ein Dorf an den Ufern

64 | Hans Erich Nossack: »Der Untergang« [November 1943], in: ders.: Interview mit dem Tode, Frankfurt a.M. 1975 [Orig. 1948], S. 205-207. 65 | Marthold, Mémorandum, S. 75. 66 | Sarcey, Le Siège de Paris, S. 91. 67 | Sheppard, Shut up in Paris, S. 205. 68 | Genevoix, Ceux de 14, S. 229. Les Éparges waren eine von den Deutschen gehaltene Stellung bei Verdun, die die Franzosen im Februar 1915 wieder zurückgewannen.

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der Loire… Ist das der Krieg?«69 Sein bereits geschärftes Ohr vernimmt nachts »ein trockenes Blatt, das sanft am Ende eines Asts vibriert«,70 oder das Geräusch eines Ausspuckens.71 Henri Barbusse erzählt seiner Frau, dass man nachts die Deutschen husten und sogar sprechen höre.72 Jünger erinnert sich an »zahlreiche Gehörtäuschungen, die mir das Rollen jedes vorrüberfahrenden Wagens in das fatale Flattern der Unglücksgranate verwandelten.« 73 Und Remarque schreibt: »Oft ist es mir, als wäre es die erschütterte, vibrierende Luft, die mit lautlosem Schweigen auf uns über­ springt; oder als wäre es die Front selbst, von der eine Elektrizität aus­ strahlt, die unbekannte Nervenspitzen mobilisiert.« 74 Julien Gracq sollte 1940 die gleiche Spannung beschreiben: »In der bereits dichten Dunkel­ heit werden in einem Wäldchen zu unsrer Linken lange, gestaltete und in­ sistierende Pfeiftöne abgeben. Man denkt unwillkürlich an Spione, an Si­ gnale. Der vage Eindruck, dass man in diesem fremden Land auf uns Jagd macht. […] Stummer Halt, schwaches Gewimmel von Gespenstern unter den Pinien, gedämpfte Stimmen.« 75 Oder auch: »Vereinzelte Detonatio­ nen, entfernt – zweideutig, und jeder versucht, sie zu interpretieren.« 76 Die leisen oder entfernten Geräusche müssen also andauernd ausgelegt werden. »Die Ambulanzwagen lassen das Pflaster in der stillen Nacht erzittern… Was geht hier vor?«,77 schreibt Hermione Quinet im Dezember 1870 und Paradis konstatiert ein paar Monate später: »Eine Kanone in 69 | »Les mitrailleuses somnolent […]. Nos Éparges, ce soir, sont paisibles comme un village des bords de Loire… Est-ce la guerre?« Ebd., S. 478. 70 | Ebd., S. 435. 71 | Ebd., S. 443. 72 | Henri Barbusse, Brief an seine Frau vom 23.02.1915, in: ders.: Lettres à sa femme 1914-1917, Paris 2006, S. 104. 73 | Jünger, In Stahlgewittern, S. 10. 74 | Remarque, Im Westen, S. 58. 75 | »Dans l’obscurité déjà épaisse, de longs coups de sifflet, moulés, partent avec insistance d’un bois sur notre gauche. On pense malgré soi à des espions, des signaux. Vague impression, dans ce pays inconnu, d’être traqués. […] Haltes muettes, faible agitation de fantômes sous les pins, voix couvertes.« Julien Gracq: Manuscrits de guerre, Paris 2011, S. 46-47. 76 | Ebd. S. 71. 77 | »Les voitures d’ambulance ébranlent le pavé dans le silence de la nuit… Que se passe-t-il?«, Hermione Quinet: Paris, Journal du Siège, Paris 1873, S. 213.

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der Nacht, das ist kein gutes Zeichen.« 78 Oft beklagen sich die Belagerten auch über die Verzögerung einer Bestätigung solcher Eindrücke und Ver­ mutungen. Emile Zola schreibt z.B. in einem Brief: »Man konnte sich vor allem nicht erklären, was diese doppelte Wut vom Mont-Valérien bedeute­ te, der doch gestern still geblieben war, um die Armee durchzulassen.« 79

III. H örfähigkeiten Im Krieg erscheint das Ohr wieder als das »Organ der Furcht«, so wie es Nietzsche definiert.80 Aber man muss auch die Erweiterung jener sonic skills hervorheben, die Trevor Pinch und Karin Bijsterveld als »sonic ca­ pacities« beschreiben: »These are not only skills for understanding what exactly one is listening to but also technical skills linked to the listening devices used […].«81 Angst und Perplexität erlauben es, die warscape all­ mählich zu meistern, da die Geräusche genauer ausgehorcht und vonei­ nander abgehoben werden. Sarcey erwähnt 1871 »diesen eigentümlichen Pfeifton, mit dem die Pariser vertraut geworden sind.« 82 Der Belagerte, sagt Mendès, »vergleicht die Geräusche der heutigen Schlacht mit dem Geräusch der gestrigen.«83 Und Genevoix schreibt 1914: »Man versteht allmählich dieses unaufhörliche Fallen der Granaten. […] Unsere Einbil­ dungskraft, unsere Sinne waren ihm noch nicht gewachsen, noch nicht perfektioniert. Aber das kommt.« 84

78 | »Le canon de la nuit, cependant, n’est pas bon signe«, Paradis, Journal du siège de Paris, S. 215. 79 | »On ne s’expliquait pas ce redoublement de rage du Mont-Valérien qui, hier, avait cessé son feu pour laisser passer l’armée«, Emile Zola: »Lettres de Bordeaux«, in: Œuvres complètes, Bd. 4, Paris 2003, S. 561. 80 | Friedrich Nietzsche: Morgenröte, München 1999, § 250, S. 205. 81 | Pinch und Bijsterveld, »New Keys to the World of Sound«, S. 14. 82 | »Ce sifflement particulier que les Parisiens ont appris à connaître«, Sarcey, Le Siège de Paris, S. 302. 83 | Mendès, Les 73 journées, S. 144. 84 | »On finit par concevoir cette chute perpétuelle des obus […]. Notre imagination, nos sens n’étaient pas faits encore à sa mesure, pas au point. Cela vient.« Genevoix, Ceux de 14, S. 747.

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Wer auf solche Geräusche genau hört (oder wieder von neuem hin­ hört), erfasst zunächst den Raum. So notiert Goncourt 1871: »In den Cafés sind die Gecken zurückgeblieben, die abends den Loretten beibringen, wie man mithilfe der Anzahl von Sekunden zwischen dem Aufblitzen und der Detonation die Entfernung errechnet.«85 Es kann lebenswichtig sein, die Distanz kalkulieren zu können, die ein Geschoss zurücklegt. Sheppard schreibt: »The moment the peculiar whiz and whir of the coming shell is heard, everybody fell face-foremost upon the pavement. Sometimes the Boulevard St. Germain resembles the thoroughfare of a Mohamedan town when some high ecclesiastic passes that way.«86 Der Ausgangspunkt wird abgeschätzt: »In der Nacht eine starke Detonation auf dem Mont-Valérien, die vermuten lässt, dass die Preußen die Eisenbahnbrücke der Strecke nach Rouen gesprengt haben.«87 Und ein junger Soldat kommt zu dem Schluss: »Am Ende weiß man, selbst in der Entfernung, wo ungefähr die Geschosse aufschlagen werden und auf welchem Terrain.«88 In der Frontlandschaft werden ähnliche Raum-Erfahrungen artiku­ liert wie im belagerten Paris. In einem Gedicht von Apollinaire heißt es: »Weint doch nicht über die Schrecken des Krieges Vor ihm hatten wir nur die Oberfläche Der Länder und der Meere Nach ihm haben wir die Abgründe Das Untergeschoss und den Raum der Luftfahrt.« 89 85 | »Dans les cafés, les gandins qui sont restés enseignent, le soir, aux lorettes à calculer la distance qui tirent, d’après le nombre de secondes qui s’écoulent entre l’éclair et la détonation.« Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 424. Lorettes waren mondäne Prostituierte, die in dem Viertel um Notre Dame de Lorette in Paris lebten. 86 | Sheppard, Shut up in Paris, S. 221. 87 | »Dans la nuit une forte détonation entendue au Mont-Valérien donne à penser que les Prussiens ont fait sauter le pont du chemin de fer de Rouen.« Marthold, Mémorandum, S. 238; vgl. auch Quinet, Paris, Journal du Siège, S. 95, und Sarcey, Le Siège de Paris, S. 253. 88 | »L’oreille finit de savoir, de très loin, où à peu près tombent les projectiles et sur quel terrain«, Léon de Villiers und Georges de Targes: Tablettes d’un mobile. Journal historique et anecdotique du siège de Paris, Paris 1871, S. 316. 89 | »Ne pleurez donc pas sur les horreurs de la guerre/Avant elle nous n’avions que la surface/De la terre et des mers/Après elle nous avons les abîmes/Le sous-

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Auch Genevoix lotet den ihn umgebenden Raum in der Nähe der Anhöhe Les Eparges durch die Geräusche aus. »Die Schlucht füllt sich mit dem Getöse eines Sturms, Schüsse knallen in der Ebene, auf dem Abhang, unter den Bäumen des Waldes; sie klingen manchmal so nah, dass ich mich wundere, im Dunkel nicht den Lichtschein des Feuers zu erblicken, das von den Gewehren ausgespuckt wird.«90 An anderer Stelle wird ein ähnliches Abtasten des Raums durch wandernde Geräusche beschrieben: »Um uns herum keuchte die Finsternis, geschüttelt von lang anhaltendem Gebrüll. Wir hörten es von Weitem herankommen, sich ausbreiten, den Himmel ausfüllen, mit aufgescheuchten Schreien über uns fahren, gegen den Abhang der Hures schlagen, wo die Tannen ächzten, und sich dann in Richtung der Ebene entfernen und verlieren […] wir hörten nur noch das enorme Murmeln des Raumes und das Herabtropfen aus den Regenrinnen auf das Zeltdach über uns.« 91

Die gesammelten Erfahrungen müssen im Fall eines Angriffs rasch parat sein. Einmal wird Genevoix aus seinem Schlaf gerissen und beschreibt eine Art rasches Versammeln seiner Kenntnisse: »Ein rauer Ruf, der mich aufspringen lässt. ›Was ist los?‹ – ›Hören Sie die Schießerei, dort links?‹ Schießerei? … Ach richtig, der Wald, die Nacht, die Vorposten, der Angriff, von dem die Rede war… Empfindungen durchströmen mich, wild, unaufhaltsam: Ein paar Sterne blinken durch das Laub hindurch, es ist kalt, ein Ast knackt; und irgendwo zu unserer Linken lässt ein andauerndes Rollen ein Echo

sol et l’espace aviatique«, Guillaume Apollinaire: »Guerre«, in: ders.: Calligrammes, Œuvres poétiques, Paris 1965, S. 228. 90 | »Le ravin s’emplit d’un fracas de tempête, les coups de feu claquent dans la plaine, sur le versant, sous les arbres du bois; ils résonnent si près, par instants, que je m’étonne de ne pas voir, dans l’ombre, les lueurs que crachent les fusils.« Genevoix, Ceux de 14, S. 319. 91 | »Autour de nous les ténèbres pantelaient, soulevées de longs hurlements. Nous les écoutions venir de loin, s’enfler, emplir le ciel, passer sur nous en stridences affolées, battre le flanc des Hures dont les sapins gémissaient, puis s’éloi­ gner vers la plaine et s’y perdre […] nous n’entendions plus que la rumeur énorme de l’espace, et le clapotis des gouttières heurtant les toiles au-dessus de nous.« Ebd., S. 522.

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entstehen, das von einem Ende der Schlucht zum anderen widerhallt. Wird dort gekämpft, neben uns? Ist das der Angriff?« 92

Nach und nach mag sich sogar ein quasi instinktives Hören der Abschüs­ se entwickeln, dessen man sich selbst nicht bewusst ist: »One day«, erinnert sich der Dichter Robert Graves, »walking along the trench at Cambrin, I suddenly dropped flat on my face; two seconds later, a whizz-bang struck the back of the trench exactly where my head had been… The shell was fired from a battery near Les Brigues farm, only a thousand yards away, so that I must have reacted simultaneously with the explosion of the gun. How did I know that the shell would be coming my way?« 93

Die Fähigkeit, eine neue Klanglandschaft zu erfassen, muss durch die Erfahrung einer Entkoppelung von Sehen und Hören hindurch. Eventuell sieht man nichts – »Das ist der Krieg heutzutage: Es plästert, die Granaten pfeifen, man lebt in einem Loch, ohne sich zu rühren. Schlimmer noch: Ohne irgendetwas zu sehen«94 – und auch das Hören kann hilflos sein: »Die Schießerei hat denselben Klang. Durch sie werden wir wohl nicht erfahren, was sich anbahnt.«95 Die Dissoziation von optischer und akusti­ scher Wahrnehmung erlernt Guy de Pourtalès, der als Übersetzer bei der englischen Armee arbeitet, im Januar 1915. Sein Bericht ist zugleich ein Beispiel für das Erlangen einer neuen sonic skill.

92 | »C’est un appel rauque, à quoi je sursaute./›Qu‘est-ce qu’il y a ?‹/–›Vous entendez, sur la gauche, cette fusillade ?‹/Fusillade ?… C’est vrai, le bois, la nuit, les avant-postes, l’attaque dont on nous avait parlé… des sensations m’envahissent, impétueuses: quelques étoiles brillent à travers les feuilles, il fait froid, une branche craque; et, quelque part à notre gauche, un roulement continu soulève et prolonge un écho d’un bout à l’autre du ravin. Est-ce qu’on se bat, à côté de nous? Est-ce l’attaque?« Ebd., S. 189. 93 | Hendy, Noise, S. 273. 94 | »Aujourd’hui, la guerre, c’est ça: d’la flotte qui tombe, des obus qui sifflent, et la vie au fond d’un trou, sans bouger. Pis que ça: sans rien voir«, Genevoix, Ceux de 14, S. 237. 95 | »La fusillade a le même son. Ce n’est pas par elle qu’on apprendra ce qui se dessine«, Londres, La Grande Guerre, S. 126.

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»In früheren Zeiten, wenn ich mir eine Kanonade vorstellte, hatte ich zehn Geschütze vor Augen, die fein aufgereiht auf einem Hügel standen, in der Mitte einen Offizier zu Pferde, der Befehle gab usw. Du kannst Dir denken, dass das Träumereien eines Landsers aus der Zeit des Empire sind. Unsere schwere Batterie befindet sich heute fünf Kilometer hinter unserem Beobachtungsposten und ist selbst dort noch unter Tabakpflanzen versteckt und mit Stroh und Laubwerk bedeckt. Das Telefon auf dem Posten verbindet uns mit dem Offizier, der die Batterie kommandiert. […] Wir sehen die besagte Landschaft durch zwei Breschen hindurch. […] Neben uns ein Telefonist. Ein Anruf vom Oberst: ›Zielt auf das Karree 63, c, 17‹, Nummern, die einem präzisen Punkt auf der Karte entsprechen, die der kommandierende Offizier vor sich liegen hat. […] ›Ready‹ signalisiert der Offizier der Batterie. Jeder von uns nimmt sein Fernglas. – ›Fire‹ sagt der Oberst, ohne die Stimme zu erheben, wie in einem normalen Gespräch. – ›Fire‹ wiederholt der Telefonist; nach einigen Sekunden, die Hörmuschel noch immer am Ohr, sagt er ›Fired, Sir‹. Das Geschoss ist ›auf der Reise‹. Man hört noch immer nichts, man guckt. Dann kommt ein ›Bumm‹, gedämpft, dumpf, das mit 330 Metern pro Sekunde gereist ist; fast im selben Moment hört man das Pfeifen der Granate im Raum, und dann die Explosion: Ein extrem kurzes Aufblitzen, eine graue und gelbe Rauchwolke, in deren Mitte man einige feste Gegenstände erkennt, die von dem Schock weggerissen wurden, Ziegel, Stücke des Gebälks, Steine, Erde usw.… Und dann das zweite ›Bumm‹, das hingegen furchtbar laut ist, da es in der Nähe ertönt: die explodierende Granate.« 96 96 | »Autrefois, quand je me représentais une cannonade, je voyais dix pièces bien alignées en haut d’une colline, un officier à cheval au beau milieu donnant des ordres etc. Tu penses bien que ce sont là rêveries de troupiers de l’Empire. Notre batterie lourde se trouve aujourd’hui à 5 kilomètres derrière notre observatoire et, même là-bas, dissimulée sous de plants de tabac et recouverte de paille et de branchages. Le téléphone de l’observatoire nous relie directement avec l’officier qui commande la batterie. […] Nous regardons ce dit paysage par deux brèches. […] À côté de nous un téléphoniste. Un coup de téléphone du Colonel: ›pointez carré 63, c, 17‹, numéros qui correspondent à un point précis sur la carte qu’a sous les yeux l’officier commandant la batterie […] ›Ready‹ signale l’officier de la batterie. Chacun de nous empoigne sa lorgnette. – ›Fire‹ dit le Colonel sans élever la voix, comme pour une simple conversation. – ›Fire‹ répète le téléphoniste; au bout de quelques secondes, son récepteur toujours à l’oreille, il ajoute ›Fired, Sir‹. Le projectile est ›en route‹. On entend toujours rien, on regarde. Puis arrive, étouffé, sourd, le ›boum‹ qui a voyagé à raison de 330 m. à la seconde; presque

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Pourtalès erlernt hier also, entsprechend der oben angeführten Definition von Pinch und Bijsterveld, sowohl ein Verstehen akustischer Ereignisse als auch die Handhabung eines Apparats. Die Ausführlichkeit seiner Beschreibung ist bereits an sich ein Indiz für die Bedeutung, die dieser Lernprozess für ihn hat. Zugleich muss er sich von einer falschen, hier ›romantischen‹ Vorstellung der Vorgänge befreien, ähnlich wie Jünger im Mai 1940 schreiben wird, dass er von Vergleichen mit dem Ersten Welt­ krieg ablassen muss: »Während des Marsches erfuhren wir […] durch Lautsprecher von den gewaltigen Erfolgen des Angriffs, von denen ich, dem die ungmeine Zähigkeit der Fronten duch hundertfache Erfahrung zu einer Art Dogma geworden war, besonders überrascht wurde. Dieser Krieg weicht eben in allen Einzelheiten vom Schema des verflossenen ab, an das ich meine Gedanken daher nicht länger heften will.« 97

Der Soldat lernt, genau hinzuhören, also auch zu verstehen, dass er man­ ches nicht hört. »Von Zeit zu Zeit«, schreibt der Arzt Alfred Flamarion 1870, »pfiffen uns die Kugeln um die Ohren ohne dass wir die Detonation hörten.«98 In einem Brief von 1915 heißt es: »Der Aufschlag der Granaten ging in den Knall des Schusses über, so dass wir keine Zeit hatten, uns in Sicherheit zu bringen«,99 und bei Jouhaud: »Ganz anders, wohl raketen­ artig, war ein Typ von Granaten, die ganz plötzlich auf uns zukamen und au même instant le sifflement de l’obus à travers l’espace, puis l’éclatement: un éclair infinitésimal dans sa durée, un nuage de fumée grise et jaune au milieu duquel on distingue des objets solides emportés par le choc: tuiles, morceaux de charpente, pierres, terre etc.… Enfin le second ›boum‹, formidable celui-là, parce qu’à proximité: la détonation de l’obus qui éclate«, Guy de Pourtalès: Correspondances I, 1914-1918, Genève 2006, S. 273-274. 97 | Ernst Jünger: »Gärten und Straßen«, in: Strahlungen I, Stuttgart 1980, S. 138. 98 | »De temps à autre, quelques balles sifflent autour de nos têtes, sans que nous entendions la détonation.« Alfred Flamarion: Le Livret du docteur. Souvenirs de la campagne contre l’Allemagne et contre la Commune de Paris 1870-1871, Paris 1872, S. 104. 99 | »L’éclatement des obus se confondait avec le bruit du départ et ne donnait pas le temps de se garer«, Maurice Retour, Brief an seine Frau vom 27.01.1915, in: Correspondances conjugales, 1914-1918. Dans l’intimité de la Grande Guerre,

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deren Abschuss man überhaupt nicht hören konnte.«100 Und Jünger macht folgende Bemerkung, wobei der visuelle Vergleich mit einem »Bild« hier die traditionelle Verbindung von Sehen und Verstehen bezeugt, obwohl oder gerade weil sich Jünger auf die Geräusche des Krieges bezieht: »Mit den Geräuschen des Krieges noch unvertraut, war ich nicht imstande, das Pfeifen und Zischen, das Knallen der eigenen Geschütze und das reißen­ de Krachen der in immer kürzeren Pausen einschlagenden feindlichen Granaten zu entwirren und mir aus all dem ein Bild zu machen.«101 Der Soldat hört nach und nach perspektivisch, er kann Vorder- und Hintergrund genauer unterscheiden, die Klänge entwirren, ein Relief erfassen. »Die Gewehrschüsse sprenkelten den Donner der Detonatio­ nen«,102 schreibt Genevoix, oder auch: »Die Schüsse gehen diesmal in­ einander über: Das trockene Geräusch der Detonation wird von einem enormen, kontinuierlichen Nachhall verdoppelt, der das Unterholz mit einem ohrenbetäubenden Lärm erfüllt.«103 Claude Simon beschreibt in einem Roman, der einen Feldzug von 1940 thematisiert, einen ähnlichen Eindruck bei der Explosion von mehreren Bomben: »[…] immer dieser Eindruck von etwas Vielfachem, wegen des Knatterns, der sekundären Explosionen, die innerhalb der ersten zustande zu kommen scheinen.«104 Die Präzision des Hörens führt allmählich zu einer genaueren Beschreibung der Geräusche. Diese geht zuerst meist mimetisch vor, mithilfe von Lautmalereien, um dann auf Vergleiche und Metaphern zurückzu­

hg. von Clémentine Vidal-Naquet, Paris 2014, S. 659. Vgl. auch Genevoix, Ceux de 14, S. 249. 100 | »Tout autre était le type d’obus, fusant probablement, qui nous arrivait quelquefois à l’improviste et dont on n’entendait nullement le départ.« Jouhaud, Souvenirs, S. 194. 101 | Jünger, In Stahlgewittern, S. 28. 102 | »Les coups de fusil piquetaient le tonnerre des éclatements«, Genevoix, Ceux de 14, S. 803. 103 | »Les coups de feu, cette fois-ci, se confondent: le bruit sec des détonations se double d’une résonance énorme, continue, qui emplit le sous-bois d’un vacarme assourdissant.« Ebd. S. 252. 104 | »Toujours cette impression de multiple à cause du crépitement, des explosions secondaires qui semblent se produire à l’intérieur de la première.« Claude Simon: Les Géorgiques, Paris 1981, S. 176.

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greifen, die ihrerseits präziser werden, je länger ein Konflikt dauert.105 Marie-Vincent Rousset wählt zunächst das weit verbreitete Bild des Ka­ nonendonners106 und findet dann einige Wochen später einen neuen Ver­ gleich: »Von Saint-Denis aus hatten wir den ganzen Tag über die Kanone gehört und ab und zu das Geräusch der Maschinengewehre, das ziemlich genau dem von neuem Kaliko entspricht, das man zerreißt.«107 Ein ähnli­ ches Bild findet sich bei Goncourt: »Die Kugeln zerkratzen die Hauswand und an den Fenstern vernimmt man nur ein Zischen, das an das Ge­ räusch von zerrissener Seide erinnert«,108 ein Vergleich, der bei Genevoix mit dem »seidigen Streifen«109 der Kugeln wiederauftaucht. Flamarion bemerkt während eines Gefechts bei dem Örtchen Boves 1870, dass die Kugeln, »die im Staub aufschlagen, genau denselben Effekt hatten wie die ersten dicken Regentropfen eines Gewitters.«110 Henry de Montherlant schreibt 1940 in ähnlich präziser Naturmetaphorik: »GRA­ NATEN. – Granaten aus der Ferne: Das Geräusch ist das von Schnee, der, zu schwer geworden, plötzlich von einem Baum herabfällt; und dann zittert der Baum. […] Getöse von gewelltem Zinkblech, oder auch eines Kippwagens, der entladen wird.«111 Oft werden auch Vergleiche mit er­ schreckenden Mechanismen oder Maschinen gezogen. Jules Clarétie 105 | Zu solchen Lautmalereien und Metaphorisierungen vgl. Martin Kaltenecker: »Entrer dans le bruit«, in: Entrer en guerre (= Cahiers Textuel), hg. von Carine Trevisan und Hélène Baty-Delalande, Paris 2016, S. 114-130. 106 | Rousset, Journal, S. 12. 107 | »De Saint-Denis nous avions entendu le canon toute la journée et même par moment le bruit des mitrailleuses qui ressemble assez à la déchirure du calicot neuf.« Ebd., S. 40. 108 | »Les balles éraflent la maison et ce ne sont, aux fenêtres, que sifflements ressemblant au bruit que fait la soie qu’on déchire«, Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 444. 109 | »Frôlement soyeux«, Genevoix, Ceux de 14, S. 720. 110 | »[…] produisaient dans la poussière exactement le même effet que les premières grosses gouttes de pluie d’un orage«, Flamarion, Le Livret du docteur, S. 53. 111 | »OBUS. – Obus lointain: son bruit est celui de la neige qui soudain, trop lourde, tombe d’un arbre; et ensuite l’arbre frémit. […] Fracas de feuille de zinc gondolée, ou bien bruit d’un tombereau qu’on décharge«, Henry de Montherlant: »Le Rêve des guerriers«, in: ders.: Essais, Paris 1963, S. 1378-1412, hier S. 1402.

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hört »in der zerrissenen Luft etwas wie das Geräusch eines Wagens, der im Galopp auf einem steinigen Weg daher rollt« und vergleicht den un­ aufhörlichen Lärm der Maschinengewehre mit einer »Mühle, die Steine zermalmt.«112 Hermione Quinet hört in ihrer Wohnung eines Nachts die Granaten, die auf das VI. Arrondissement fallen: »Ich hörte diesen Detonationen zu, denen ein Rascheln entlang der Mauern folgte. Ich sagte mir, dass die Ausdrücke, über die die menschliche Sprache verfügt, sehr armselig sind, da wir Bilder aus der Natur entleihen oder Vergleiche ähnlicher Phänomene verwenden. Um Kanonaden zu beschreiben, sagen wir: Schrecklich wie Donnerschläge, und im Sommer, wenn ein Gewitter heraufzieht: Das ist, wie wenn der Himmel uns bombardierte… Im gleichen Augenblick, in dem ich diesen schönen Gedanken fasste, ließ eine fürchterliche Explosion das Haus von Boden auf erzittern, und wir hörten dicht an unseren Fenstern etwas wie eine fliegende Lokomotive vorbeiziehen.«113

Auf Dauer »vertiefen sich die Ohren«, wie Genevoix es ausdrückt. »Mit voller Aufmerksamkeit verfolgen wir nunmehr den Schusswechsel, seine Dichte, seine Löcher.«114 Die Kenntnis der Morphologie der Klänge lei­ tet über zu einem Erkennen der Waffentypen. Maxime Du Camp bemerkt 1861 während einer Kampagne in Sizilien: »Das Geräusch dieser Kugeln [»zylindrisch-konisch« genannt, MK] ist seltsam, melancholisch wie die Klage eines Sterbenden, und zugleich von einer ironischen Schärfe, die 112 | »[…] dans l’air déchiré, comme un bruit de voiture roulant au galop sur un sol caillouteux« und »moulin broyant des cailloux«, Jules Clarétie: Paris assiégé, Journal 1870-71, Paris 1992, S. 101. 113 | »J’écoutais ces détonations suivies d’un frôlement le long des murs. Je me disais que les expressions de la langue humaine sont bien pauvres, puisqu’on emprunte des images de la nature, des comparaisons entre les mêmes phénomènes. Pour désigner ces canonnades, on dit: terribles comme des coups de tonnerre; et l’été, quand l’orage gronde: voilà un bombardement céleste… Au moment où je faisais cette belle réflexion, une formidable explosion fit trembler la maison sur sa base et nous entendîmes comme une locomotive aérienne passer près de nos fenêtres«, Quinet, Paris, Journal du Siège, S. 257. Vgl. auch Barbusse, Lettres, S. 73-74. 114 | »[L]es oreilles se creusent. Maintenant, d’une attention lucide, nous écoutons la fusillade, son épaisseur, ses trous.« Genevoix, Ceux de 14, S. 373.

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durch diesen düsteren Gesang hindurch wie das Lachen des Teufels klingt. Unsere Soldaten nannten sie ›Granaten‹ und mehr als einer hat unwillkürlich den Kopf gesenkt, wenn er ihre finstere Stimme vorbeizie­ hen hörte.«115 Im April 1871, im vierten Monat der Belagerung von Paris, ist Rousset dazu fähig, drei Typen von Projektilen zu unterscheiden.116 Goncourt kann die jeweilige Klangfarbe der Kanonen auf jedem der vier Forts der Befestigungsanlagen von Paris wiedererkennen,117 und er ver­ sucht, die Geschosse zu identifizieren: »Der gestrige Tag hat mich zu sehr ernsthaften akustischen Studien verleitet. Ich wusste nie, woher diese Art zerrissene Klage kam, die ich einmal für das Aufstöhnen eines Mannes gehalten hatte. Ich hatte in einer Zeitung gelesen, dass das der spezielle Klang von vollen Kugeln sei. Andere meinten, dass es sich um das Pfeifen an den Rillen eines bleiernen Schornsteins handelte. Nun weiß ich, dass diese Klage daraus resultiert, dass ein konkaves Stück einer Granate von sehr weit her geworfen wird. Ich habe auch bemerkt, dass man in einem Kanonenschuss eine Art Federn eines Sprungbretts hört, wodurch er sich von der Explosion einer Granate unterscheidet, selbst wenn diese gedämpft ist.«118

1914 lernen die Soldaten allmählich den Typus und das Kaliber der Geschütze kennen und notieren sie sich manchmal in ihren Tagebüchern. 115 | »Le bruit de ces boulets est étrange, mélancolique comme une plainte de mourant, et cependant d’une acuité ironique qui, à travers ce chant lugubre, sonne ainsi que le rire du diable. Nos soldats les appelaient des grenades, et plus d’un a baissé involontairement la tête en entendant passer leur voix sinistre.« Maxi­m e Du Camp: Expédition des Deux-Siciles, Paris 1861, S. 303. 116 | Vgl. Rousset, Journal, S. 76. 117 | Vgl. Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 341. Vgl. auch ebd., S. 299. 118 | »La journée d’hier m’a fait faire des études très sérieuses d’acoustique. Je ne savais pas par quoi était produite l’espèce de plainte déchirée qu’il m’était arrivé de prendre, une fois, pour le cri gémissant d’un homme. J’avais lu dans un journal que c’était le bruit particulier des boulets pleins. On m’avait dit que c’était le sifflement autour des rainures de la cheminée de plomb. Maintenant, je sais que cette plainte est le résultat de la projection d’un fragment d’obus concave, projeté très loin. J’ai remarqué aussi que dans le coup de canon, il y a comme un rebondissement de tremplin, qui le fait distinguer de l’explosion de l’obus, même quand cette explosion est obtuse.« Ebd., S. 414.

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Barbusse, der im Dezember 1914 nur vage von »dumpfen und trockenen« Klängen spricht, unterscheidet sechs Monate später den »Aufschlag des 105er«, oder die »einzigartige und unglaubliche Trockenheit des 75er.«119 Desgleichen Genevoix: »Es ist immer dasselbe; man errät die sehr schwe­ ren Granaten, die zur Bergspitze hin aufschlagen, den kreischenden Flug der 155er, das tumbe Kreisen der minen [sic!]; doch das zählt nicht, das geht in den schnellen Abschüssen der 75er unter und verschwindet hinter dieser harten und schneidenden Kuppel […].«120 An einer anderen Stelle heißt es: »Unser Ohr unterscheidet zwischen den Aufschlägen 77er, der 150er und der 210er, selbst aus der Ferne.«121 Remarque bemerkt seiner­ seits: »Der Stellungskampf von heute erfordert Kenntnisse und Erfah­ rungen, man muß Verständnis für das Gelände haben, man muß die Geschosse, ihre Geräusche und Wirkungen im Ohr haben, man muß vorausbestimmen können, wo sie einhauen, wie sie streuen und wie man sich schützt.«122 Jünger gelingt es im Januar 1916, also eineinhalb Jahre nach seiner Ankunft an der Front, eine Art Handbuch zu erstellen, ein akustisches vade mecum, das auf vier Seiten (bereichert um zwei Skiz­ zen und ein paar Lautmalereien) sämtliche Geschosse auflistet und ihren Klang beschreibt.123 Man kann dazu bemerken, dass eine solche ›aurale‹ Ausbildung jene komplettiert, die in den offiziellen Handbüchern oder den schnellen Ausbildungsgängen zu Beginn des Krieges zu finden war. So bietet etwa L’Infanterie en un volume. Manuel d’instruction militaire 124 Informationen zu den Waffentypen, die die Deutschen benutzten, illust­ riert mit Bildern und Schemata. Aber diese visuelle – im ursprünglichen 119 | Henri Barbusse, Briefe an seine Frau vom 03. und 18.06.1915, in: Barbusse, Lettres, S. 4, S. 179 und S. 184. 120 | »C’est toujours pareil; on devine des obus très lourds qui s’écrasent vers le piton, des vols chuintants de 155, des tournoiements patauds de minen; mais cela ne compte pas; cela se perd dans les jets rapides des 75, disparaît derrière cette voûte tranchante et dure […].« Genevoix, Ceux de 14, S. 713. 121 | »Entre les 77, les 150 et les 210, notre ouïe distingue au plus loin des éclatements.« Ebd., S. 757. 122 | Remarque, Im Westen, S. 132. Vgl. auch Cœurdevey, Carnets, S. 81. 123 | Vgl. Jünger, Carnets de guerre, S. 115. 124 | Anon.: L’Infanterie en un volume à l’usage des élèves-caporaux, sous­ officiers, élèves-officiers de réserve candidats aux écoles de Saint-Maixent ou de Saint-Cyr, nouvelle édition, Paris 1916, S. 1068-1071.

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Sinne ›theoretische‹ – Ausbildung muss von einer akustischen Kenntnis der Geschütze ergänzt werden, von einem praktischen Wissen, das nur an der Front selbst zu erwerben ist und ein gutes Beispiel für das ist, was Michel de Certeau eine Taktik nennt (die jedermann im Alltagsleben ent­ wickeln kann), im Gegensatz zu einer Strategie (wie sie eine Elite kenn­ zeichnet).125 Die akustischen warscapes zu meistern, kann schließlich sogar ein Gefühl von Sicherheit hervorrufen, als Resultat jener »sonderbare[n] Ge­ schmeidigkeit der Sinne«, wie es bei Remarque heißt.126 Eine Gewöh­ nung an die Situation findet statt – Accoutumance ist der Titel des letzten Kapitels von Sous Verdun von Genevoix – und es wird möglich, von dem Lärm zu abstrahieren: »Es gelingt mir nach einigen Minuten, mich so zu konzentrieren, dass das kreischende Zischen und die Explosionen der Granaten mir nicht die Ruhe nehmen und ich fast gleichgültig bleibe.«127 Es kommen paradoxe Wirkungen vor – »Wir ziehen ihren Lärm ihrem Schweigen vor«128  – und manch einer hört aus dem Getöse der Grana­ ten gar eine »Ermutigung« heraus.129 Für diese paradoxe Bewertung des Lärms bietet Montherlant folgende Erklärung an: »Von dem Moment an, wo die Bombardierung aufhört, nimmt die Angst wieder überhand. Die­ se Stille! Eine monströse Stille, widernatürlich, etwas, auf das man sich stützte, wird uns plötzlich entzogen, ein klaffendes und schreckliches Nichts entsteht. Ganz wie die Weite, wenn man an die Brüstung tritt; der Lärm bot denselben Schutz wie der Schützengraben.«130 125 | Michel de Certeau: L’invention du quotidien, Paris 1990, S. XLVI und S. 5763. 126 | Remarque, Im Westen, S. 57. 127 | »Et j’arrive, au bout de quelques minutes, à m’absorber si complètement que les souffles stridents et les éclatements des obus me laissent calme, presque détaché.« Genevoix, Ceux de 14, S. 249. 128 | Rousset, Journal, S. 17. Vgl. auch Quinet, Paris, Journal du Siège, S. 87; Deschaumes, Journal, S. 213 und S. 374; Sarcey, Le Siège de Paris, S. 237; de Villiers und de Targes, Tablettes d’un mobile, S. 214. 129 | Cœurdevey, Carnets, S. 864. 130 | »Seulement, à l’instant où le bombardement enfin cesse, alors l’angoisse vous reprend. Ce silence! Silence monstrueux, hors nature, quelque chose sur quoi on s’appuyait, qui tout à coup vous est dérobé, quelque chose de béant et d’affreux. Comme l’étendue quand on monte sur le parapet: le bruit vous proté­

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Edmond de Goncourt hatte 1871 den Geräuschen sogar mit Bewunde­ rung zugehört: »Über unseren Köpfen jederzeit das schöne Geräusch der Maschinengewehre, sowohl voll als auch matt, zugleich mit dem Auf blü­ hen, der Entstehung, dem langsamen Wachsen der Wolken im strahlen­ den Blau des Himmels […].«131 So mag sich auch eine öfter anzutreffende ästhetische Faszination erklären, das Gefühl des Erhabenen, jenes delightful horror, den Edmund Burke im 18. Jahrhundert definiert hatte und der sich zugleich auf visuelle und auf akustische Phänomene beziehen kann. Sheppard schreibt: »Mus­ ketry – cannon – what a din there was, and yet it was terribly facinating! The soul rises with the awful majesty oft the strife.«132 Mendès spricht von der »splendide hideur«, der »prachtvollen Hässlichkeit« des Krieges133 und Hermione Quinet zitiert eine Bemerkung ihres Mannes, des Politi­ kers Edgar Quinet: »Ich bin trotzdem froh, die Detonationen der Grana­ ten aus solcher Nähe gehört zu haben; das ist etwas Schönes, etwas Herr­ liches und Schreckenerregendes. Bevor Aischylos einen Gott erscheinen lässt, lässt er uns diesen kolossalen, majestätischen Lärm hören.«134 Im Ersten Weltkrieg taucht das Motiv des delightful horror z.B. bei Barbusse auf: »Es war ein berückendes Getöse, die wahrhaftige, schreckliche Apo­ theose einer Zauberoper. Man kann sich den tragischen Aspekt, den das Ganze hatte, nicht vorstellen.«135 geait à la façon dont vous protégeait la tranchée.« Montherlant: »Mors et Vita«, in: ders.: Essais, S. 541. 131 | »Au-dessus de nos têtes, à tout moment, le beau bruit, à la fois sonore et mat, des boîtes à mitraille, en même temps que sur le bleu du ciel tout ensoleillé, l’éclosion, la formation, le grossissement lent de nuages […].« Goncourt, Journal, Bd. 2, S. 434. 132 | Sheppard, Shut up in Paris, S. 182. 133 | Mendès, Les 73 journées, S. 288. 134 | »Je suis très content néanmoins d’avoir entendu de si près ces détonations de l’obus; c’est très beau, quelque chose de superbe et de formidable. Eschyle, avant l’apparition du dieu, vous fait assister à ce bruit colossal, majestueux.« Quinet, Paris, Journal du Siège, S. 260. 135 | »C’était un fracas éblouissant, une vraie apothéose terrible de féerie. On n’imagine pas l’aspect tragique que cela avait.« Henri Barbusse, Brief an seine Frau vom 14. Mai 1915, in: Barbusse, Lettres, S. 155. Für weitere Beispiele bei Cendrars und Elie Faure, vgl. Kaltenecker, »Entrer dans le bruit«.

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Diese Einträge, die man zuerst mit Erstaunen liest, finden sich nicht nur bei Intellektuellen. Ein einfacher Soldat schreibt in einem Brief nach Hause: »Das Schauspiel ist einzigartig, tragisch, herrlich, die Nacht, die Welt steht in Brand, der Lärm ist fantastisch und erschreckend.«136 Abel Ferry berichtet seiner Frau: »Die Schrapnelle explodierten über uns und die Zünder putzten unsere Stiefel. Ich sagte zu einem braven Bergmann aus dem Norden: ›Schön nicht?‹, und der Mann, der daran nie gedacht hatte, antwortete: ›Ja, es ist schön‹.«137 Die Quellen scheinen demnach einen Gedanken von Paul Virilio zu bestätigen: »Waffen sind nicht nur Werkzeuge der Zerstörung, sondern auch der Wahrnehmung, d.h. Stimulationen, die sich durch chemische, neurobiologische Phänomene in den Sinnesorganen und dem zentra­ len Nervensystem bemerkbar machen, die Reaktionen modifizieren, die Identifikation der Objekte, ihre Differenzierung von anderen Objekten usw.«138 Am Ende eines solchen Prozesses kann der Hörer sich besser zu­ rechtfinden, er kennt den Grundton, die Klangzeichen und Signale einer Kriegslandschaft, er kann Verzerrungen abschätzen, ein Territorium ab­ stecken, er eignet sich Klänge an und wertet sie um. Abschließend sei bemerkt, dass die drei hier kommentierten Moti­ ve – die Veränderung der Klanglandschaft, die Verstörung des Hörens und das »Vertiefen« des Ohrs – durchaus keinen kontinuierlichen oder gar allgemeinen Prozess darstellen: Manche Hörer gewöhnen sich nie an die akustischen Umwälzungen, oder aber sie bemeistern relativ schnell die neue warscape. Allgemein gilt jedoch, was der Psychologe Paul Plaut 136 | »Le spectacle est unique, tragique, magnifique, la nuit, l’univers est embrasé, le bruit fantastique et terrifiant.« Pelou, genannt »le cousin Pelou«, Brief an seine Frau vom 19.07.1915, in: Paroles de Poilus. Lettres et carnets du front 1914-1918, hg. von Jean-Pierre Guéno und Yves Laplume, Paris 1998, S. 33. 137 | »Les shrapnells éclataient bas au-dessus de nous et les percutants ciraient nos bottes. Je dis à un brave mineur du Nord ›Hein c’est beau‹ et l’homme qui n’y avait jamais pensé, répondit ›C’est beau‹«, Vidal-Naquet (Hg.), Correspondances conjugales, S. 83. 138 | »[…] les armes ne sont pas seulement des outils de destruction mais des outils de perception, c’est-à-dire des stimulateurs qui se manifestent par des phénomènes chimiques, neurologiques au niveau des sens et du système nerveux central, affectant les réactions, l’identification même des objets perçus, leur différentiation par rapport aux autres objets etc.«, Virilio, Guerre et cinéma, S. 8.

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1920 schrieb, dass also »das Kriegsleben neu geartete Funktionen des Sinnesapparates hervorgerufen hat, die früher im normalen Leben und unter anderen vitalen und psychischen Bedingungen nicht so zur Gel­ tung gekommen waren.«139 Dieser Aspekt bleibt wichtig für die Einbe­ ziehung des Klangs sowohl in eine Geschichte des Hörens, als auch in die Geschichtsschreibung selbst, dem Beispiel John Keegans folgend, der die Komplexität und Unübersichtlichkeit der Erfahrung einer Schlacht gegenüber ordnenden Erzählungen aus der Sicht der Befehlshaber oder Sieger hervorgehoben hat.140

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139 | Paul Plaut: »Psychographie des Krieges«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie 21 (1920), zit.n. Encke, Augenblicke der Gefahr, S. 123. 140 | John Keegan: The Face of the Battle, London 1976.

»Das Ohr ver tief t sich«

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Klangliche Repräsentationen von Geschichte

Mythos Pergolesi Der Komponist als Opernheld Arnold Jacobshagen

Ähnlich wie einige Jahrzehnte später Wolfgang Amadeus Mozart ist auch Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736) schon im 18. Jahrhundert zum Mythos eines musikalischen Genies verklärt worden, mit einer breiten Rezeptionsgeschichte in zahlreichen unterschiedlichen künstlerischen Medien.1 Der historische Kern dieses Mythos besteht neben den Legen­ den um den frühen Tod Pergolesis im Alter von nur 26 Jahren aus der Wirkungsmächtigkeit zweier Kompositionen: der Oper La serva padrona (1733), die im Zentrum der Querelle des Bouffons und damit einer der wich­ tigsten musikästhetischen Kontroversen des 18. Jahrhunderts stand, und dem unmittelbar vor Pergolesis Tod vollendeten Stabat mater (1736), das paradigmatisch für die Frage nach der ›wahren‹ Kirchenmusik immer wieder als Referenzwerk herangezogen wurde. Die Prominenz des Na­ mens Pergolesi, dessen sich die Musikverleger in ganz Europa als eines Markenzeichens bedienten, lässt sich daran ermessen, dass es im 18. Jahr­ hundert keinen zweiten Komponisten gab, dem verglichen mit dem Um­ fang des authentischen Gesamtwerks eine ähnlich hohe Anzahl nicht-au­ thentischer Werke zugeschrieben wurde.2

1 | Der vorliegende Beitrag geht zu wesentlichen Teilen auf meinen italienischsprachigen Text zu diesem Thema zurück: Arnold Jacobshagen: »Il compositore cantante. La figura di Pergolesi sulla scena del melodramma dell’Ottocento«, in: Studi Pergolesiani/Pergolesi Studies 6, hg. von Claudio Toscani, Mailand 2011, S. 207-222. 2 | Francesco Degrada zufolge beträgt das »Verhältnis von authentischen zu unechten Werken 1 zu 10, einer der höchsten Werte in der gesamten Musikgeschich-

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Tatsächlich weist der Pergolesi-Mythos weit über den Bereich der Musik hinaus. Bezeichnend für seine europäische Ausstrahlung ist etwa die Tatsache, dass Pergolesi zumindest in einzelnen Aspekten als Mo­ dell für einen Schlüsselroman der fiktionalen Musikerbiographie in der deutschen Literatur diente, Wilhelm Heinrich Wackenroders Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger (1797).3 Nicht minder aufschlussreich ist auch die außerordentlich starke Präsenz Per­ golesis als Bühnenfigur in Dramentexten und Opern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, um die es im folgenden Beitrag gehen soll.4 Bei der Untersuchung dieser Bühnenwerke lässt sich nicht nur beobachten, in welchem Maße Musik und Klang als Geschichtsmedien zum Einsatz ge­ langen, sondern auch mithilfe der Theatersemiotik ermitteln, in welchem Zusammenhang sie mit den anderen im Theater wirksamen akustischen und visuellen Zeichensystemen stehen. Insgesamt lassen sich bislang mehr als ein Dutzend Theaterstücke und Opernlibretti nachweisen, in denen Pergolesi als Protagonist in Er­ scheinung tritt.5 Sie sollen den Ausgangspunkt bilden für eine verglei­ te.« Vgl. Francesco Degrada: Art. »Pergolesi«, in: MGG2, Personenteil 13, Kassel u.a. 2005, Sp. 309-319, hier Sp. 318. 3 | Vgl. Claudia Albert: »Zwischen Enthusiasmus und Kunstgrammatik: Pergolesi als Modell für Wackenroders Berglinger-Erzählung«, in: Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur, hg. von Gabriele Brandstetter, Bern u.a. 1995, S. 5-27. 4 | Vgl. Lucio Tufano: »›Mostruoso a vedere un Pergolesi coi baffi‹. Il mito in scena nel 1857 tra Milano (Solera – Ronchetti Monteviti) e Napoli (Quercia – Serrao)«, in: Studi Pergolesiani/Pergolesi Studies 9, hg. von Francesco Cotticelli und Paologiovanni Maione, Bern u.a. 2015, S. 625-658. 5 | Temistocle Solera: G. Battista Pergolesi. Melodramma (Musik: Stefano Ronchetti-Montevisi), Mailand 1857; Federico Quercia: G. Battista Pergolesi. Melodramma (Musik: Paolo Serrao), Neapel 1857; Gennaro Bolognese: Pergolese. Dramma storico, Neapel 1873; Michele Cucinello: G. Battista Pergolesi. Dramma storico, Neapel 1873; P. L. Grazioli: G. Battista Pergolesi. Dramma, Jesi 1878; Giulio Pisa: G. Battista Pergolesi. Dramma, Mailand 1884; Eugenio Checchi: Pergolesi. Dramma lirico (Musik: Pierantonio Tasca), Berlin 1898; M. Veneziani: Pergolese. Melodramma, Bologna 1909; Emma Cocconari-Marconi: G. Battista Pergolesi. Melodramma (Musik: Filippo Guglielmi), o.O., o.J.; Clelia Bertini-Attili: Pergolesi. Melodramma (Musik: Vincenzo Borzi), o.O., o.J.; Luigi Zoppis, Una

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chende Analyse im Genre der ›Komponistenoper‹, einem Genre, in dem sich bestimmte Konventionen der Handlungsführung wie auch der Ver­ wendung ›historischer Klänge‹ – d.h. in diesem Zusammenhang von Ori­ ginalmusik in intradiegetischer Funktion – ausgebildet haben.6 Die dra­ maturgische Behandlung von Komponistenbiographien im Medium der Oper ist in der musikwissenschaftlichen Literatur u.a. von Thomas Bet­ zwieser und Johannes Streicher in größerem Zusammenhang dargestellt worden.7 Tatsächlich finden sich, wie vor allem Streicher dokumentiert hat, im 19. und 20. Jahrhundert Opern über zahlreiche Komponisten, von Monteverdi über Lully, Händel und Haydn bis zu Rossini, Chopin und Paganini.8 Als eine besonders bemerkenswerte Station in dieser Entwick­ lung ist im frühen 20. Jahrhundert etwa der 1917 uraufgeführte Palestrina von Hans Pfitzner zu nennen. Als Bühnenfiguren bzw. Typen begegnen Komponisten oder Kapell­ meister in zahlreichen »Metamelodrammi«9 des 18. Jahrhunderts, so bei­ spielsweise in Prima la musica, poi le parole (1786) von Giambattista Cas­ ti und Antonio Salieri. Hier, wie in zahlreichen anderen Fällen, bleiben die als Bühnenfiguren repräsentierten Komponisten, Kapellmeister und Poeten anonym, mitunter tragen sie auch buffoneske Fantasienamen, wie etwa »Sospiro« (in der Opera seria von Florian Leopold Gassmann aus pagina d’Amore di G. B. Pergolesi. Melodramma (Musik: Domenico Loderò), o.O., o.J.; Nicola Buonapane: G. B. Pergolesi. Melodramma, o.O., o.J.; Ugo Giuseppe Gigante: L’ultimo giorno di Pergolesi. Melodramma, Brindisi 1912; Carlo Marsili: Il Pergolese. Opera (Musik: Lamberto Landi), Mailand 1919. 6 | Vgl. hierzu auch den Beitrag von Anna Langenbruch im vorliegenden Band. 7 | Vgl. Thomas Betzwieser: »Komponisten als Opernfiguren. Musikalische Werkgenese auf der Bühne«, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal, Kassel u.a. 1995, S. 511-522; Johannes Streicher: »Komponistenopern und Primadonnentheater – Topoi der deutschen Sicht auf Italien um 1900«, in: Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, hg. von Daniel Brandenburg und Sebastian Werr (= Forum Musiktheater 1), Münster 2004, S. 225-240. 8 | Vgl. ebd., S. 237-240. 9 | Vgl. u.a. Miriam Pilters: Italienische Opernparodien im achtzehnten Jahrhundert: Metamelodrammi als humoristische Selbstreflexion im Musiktheater, Saarbrücken 2009; Il teatro allo specchio. Il metateatro tra melodramma e prosa, hg. von Francesco Cotticelli und Paologiovanni Maione, Neapel 2013.

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dem Jahre 1769) oder »Vincenzo Biscroma« (in Le convenienze ed inconvenienze teatrali von Gaetano Donizetti aus dem Jahre 1831). Während sich derartige Rollen in der Tradition der italienischen Ope­ ra buffa gewöhnlich nicht auf konkrete Komponisten der jeweiligen Epo­ che beziehen lassen, finden sich in der französischen Oper dieser Zeit sol­ che individuellen Referenzen durchaus. Grundlegend hierfür war nicht nur das zunehmende Interesse an biographischer Darstellung,10 sondern vor allem die starke Präsenz historischer, d.h. ›alter‹ Musik im damali­ gen Konzertleben. Und nur in Paris gab es die Situation, dass schon im 18. Jahrhundert sehr alte und ganz aktuelle Opern gleichzeitig im Re­ pertoire waren.11 Dieses unmittelbare Aufeinandertreffen musikalischer Klangwelten unterschiedlicher Epochen reflektiert eine der frühesten Komponistenopern auf anschauliche Weise: Les trois âges de l’opéra von André Ernest Modeste Grétry (1741-1813), uraufgeführt im Jahre 1778 an der Pariser Académie Royale de Musique.12 In diesem Einakter verwen­ det Grétry originale Musik von Jean-Baptiste Lully, Jean-Philippe Rameau und Christoph Willibald Gluck, den drei Komponisten also, welche die

10 | Das literarische Genre der Künstlerbiographie entfaltete sich im Zuge der Ausprägung des neuzeitlichen Konzepts von Individualität vor allem seit dem 18. Jahrhundert in Europa, und seit etwa 1750 wurden auch Biographien von Komponisten zunehmend in Form selbständiger Publikationen veröffentlicht. Als frühe Beispiele können die anonym erschienenen Memoirs of the Life of Sig. Agostino Steffani von John Hawkins (London 1750), die Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel von John Mainwaring (London 1760) oder die Eloge de M. Rameau von Michel de Chabanon (Paris 1764) angeführt werden. Zur historischen Entwicklung von Komponistenbiographien vgl. auch Melanie Unseld: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a. 2014. 11 | Vgl. Arnold Jacobshagen: »Les trois âges de l’opéra. Repertoirestruktur und ›alte Musik‹ zwischen Ancien Régime und Restauration«, in: The Past in the Present. Papers Read at the IMS Intercongressional Symposium and the 10th Meeting of the Cantus Planus, Bd. 1, Budapest 2003, S. 227-243. 12 | Vgl. M. Elizabeth C. Bartlet: »A Musician’s View of the French Baroque after the Advent of Gluck: Grétry’s ›Les trois âges de l’opéra‹ and its Context«, in: JeanBaptiste Lully and the Music of the French Baroque. Essays in Honor of James R. Anthony, hg. von John Hajdu Heyer, Cambridge 1989, S. 291-318.

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im Titel des Werkes genannten Epochen der französischen Oper reprä­ sentieren sollen: »Drei Hauptepochen scheinen die Geschichte der Oper zu gliedern, was die unterschiedlichen Formen der musikalischen Komposition betrifft. 1. LULLY war bei uns der Begründer dieser Bühnenkunst und hat gemeinsam mit dem unnachahmlichen QUINAULT deren Struktur und Aufteilung in Szenen und Divertissements geprägt. 2. RAMEAU hat ihr durch die Tiefe seiner Wissenschaft, die Schönheit seiner Chöre und die Perfektion seiner Tanzsätze einen größeren Aufschwung verliehen. 3. Der Ritter GLUCK hat zuletzt eine noch glänzendere und markantere Revolution bewirkt, indem er seinen Opern einen bis dahin unbekannten tragischen Charakter verliehen hat.«13

Lully wird in diesem Prolog durch seine Tragédie en musique Thésée (1675) repräsentiert, die sich mehr als hundert Jahre lang im Repertoire der Pariser Oper hielt, d.h. auch im Jahr der Uraufführung von Grétrys Oper noch gegenwärtig war. Erst recht war das Pariser Opernpublikum mit der Musik von Rameau vertraut: Castor et Pollux, Les Indes galantes und Les Fêtes d’Hébé standen bis in die 1770er Jahre auf dem Spielplan der Académie Royale de Musique. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Epoche Napoleons, erschei­ nen Musiktheaterwerke über Komponistenbiographien in Paris erstmals auch an der Opéra-Comique, so etwa in Cimarosa (1808) oder Lully et Quinault ou le déjeuner impossible (1812), beide komponiert von Nicolas Isouard (1775-1818). Im Hinblick auf Pergolesi ist das Beispiel Cimarosas von be­ 13 | »Trois époques principales paroissent devoir diviser l’Histoire de l’Opéra, quant aux différentes formes de la composition musicale. 1° LULLY a été parmi nous le Fondateur de ce Spectacle, & de concert avec l’inimitable Quinault, en a réglé l’ensemble & la division en Scènes & en Divertissements. 2° RAMEAU lui a donné un plus grand essor, par la profondeur de sa science, la beauté de ses Chœurs, & la perfection de ses airs de danse. 3° M. le Chevalier GLUCK vient d’y produire une révolution plus éclatante encore & plus marquée, en donnant à la composition de ses Opéras, un mouvement tragique qui n’avait pas encore été employé.« André Ernest Modeste Grétry: Les trois âges de l’opéra, Prologue, représenté pour la première fois, par l’Académie Royale de Musique, le lundi 27 avril 1778, suivie de l’acte de Flore, Paris 1778, S. 3 (Übersetzungen von Arnold Jacobshagen, soweit nicht anders angegeben).

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sonderem Interesse, denn auch hier handelt es sich bekanntlich um einen Komponisten der sogenannten ›Neapolitanischen Schule‹, die damals in Paris überaus populär war. Der bekannte Librettist Jean-Nicolas Bouilly hat diese überwiegend komische Dramenhandlung vollkommen fiktiv bzw. kontrafaktisch exponiert: »Cimarosa wohnt in Neapel, im Haus des Herrn Fiorelli, eines reichen Grundbesitzers und Kunstliebhabers, der sich darin gefällt, bei sich zu Hause einen so berühmten Komponisten aufgenommen zu haben. Ein außergewöhnliches Talent ist nicht immer auch ein Garant für ein regelkonformes Verhalten, und Cimarosa häuft Schulden an, während er zu gleicher Zeit immer mehr vom Charme der jungen Florina hingerissen wird, der einzigen Tochter des Herrn Fiorelli. Einer der Gläubiger seiner Gläubiger hat einen Strafbefehl gegen ihn erwirkt, und gerade als er dabei ist, eine seiner Opern einzustudieren und die Darsteller Änderungen verlangen, kommt man hinzu, um ihn zu verhaften. Ambrogio, sein schlauer alter Diener, hilft ihm aus der Patsche, indem er dem mit der Verhaftung beauftragten Offizier anbietet, ihm die Möbel zu überlassen, die das Apartment zieren, unter der Voraussetzung, dass er diese in der Nacht mitnehme. Das Angebot wird angenommen und die Möbel abgeholt. Ambrogio sammelt nun alle alten musikalischen Aufzeichnungen seines Meisters in dessen Abwesenheit ein, setzt sie in Flammen, wirft sie aus dem Fenster und schreit um Hilfe. Man versammelt sich vor dem Haus; die Alarmglocke wird geschlagen, und sogleich verbreitet sich die Nachricht dass Cimarosa alles verloren habe. Cimarosa eilt selbst herbei, von Entsetzen gepackt. Er empfängt die Besuche von Leuten, die ihm entweder Trost oder Hilfe und großzügige Entschädigungen anbieten wollen. Doch nachdem er über die List seines alten Dieners herzlich gelacht hat, schickt er alle ihm dargebrachten Geschenke wieder zurück, beschränkt sich darauf, das Angebot seiner Darsteller einer Aufführung seiner Oper anzunehmen, ohne wegen der gewünschten Änderungen zu insistieren, und erklärt seinem Freund Fiorelli, dass er nur durch die Früchte seines Talents von seinen Schulden befreit werden möchte, und nicht durch Betrügerei. Dieser letzte Zug vergrößerte nur noch die Hochachtung und Wertschätzung, die ihm Fiorelli entgegenbrachte, der sich nun dazu entschloss, ihm seine Tochter zu geben.«14 14 | »Cimarosa est logé à Naples, dans la maison du signor Fiorelli, riche propriétaire, grand amateur des arts, qui s’est plu à recueillir chez lui un compositeur aussi distingué. Un talent éminent n’est pas toujours le garant d’une conduite régulière, et Cimarosa contracte des dettes, en même temps qu’il devient de plus en plus épris des charmes de la jeune Florina, fille unique du signor Fiorelli. Un de

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Bilden solche Komponistenopern im Theaterleben der napoleonischen Zeit noch seltene Ausnahmen, so lässt sich ab den 1830er Jahren unter dem Eindruck der Genieästhetik das Aufkommen eines entsprechenden biographischen Operngenres nachzeichnen. Neben Pergolesi sind vor allem zwei weitere Komponisten einschlägig für das Genre der Kompo­ nistenoper in ihrer Anfangsphase: Alessandro Stradella (1639-1682) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791).15 Die Stradella-Legende geht auf die Histoire de la musique et de ses effets von Pierre Bourdelot (1715) zurück. Bourdelot schildert darin die Ge­ schichte eines noblen Venezianers, der seine Geliebte zum Gesangsunter­ richt bei Stradella schickt:

ses créanciers a obtenu une sentence contre lui, et on vient pour l’arrêter dans le moment où l’on répète un de ses opéras, où les acteurs lui demandent des changements. Ambrogio, son vieux domestique, homme fertile en expédients, le tire d’embarras, en offrant à l’officier chargé d’exécuter la sentence, de lui livrer les meubles qui garnissent l’appartement, à condition qu’il les enlevera pendant la nuit. L’offre est acceptée, et les meubles sont enlevés. Ambrogio, alors, ré­u nit de vieux croquis de musique de son maître, qui s’est absenté pour n’être pas témoin de l’exécution arrangée par son domestique, y met le feu, les jette par la fenêtre, et crie à l’incendie. On s’attroupe devant la maison; le tocsin est sonné, et bientôt le bruit se répand que Cimarosa a tout perdu. Cimarosa accourt lui-même, saisi d’effroi. Il reçoit des visites de gens qui viennent, les uns pour le consoler, les autres pour lui offrir des secours et d’amples dédommagements. Mais, après avoir ri du stratagême de son vieux domestique, il renvoie les présents qu’on lui apporte, se borne à accepter la proposition que lui ont faite les acteurs de jouer son opéra, sans insister sur les changements qui lui ont été demandés, et déclare à son ami Fiorelli qu’il ne veut être libéré de ses dettes que par le produit de son talent, et non par une supercherie. Ce dernier trait augmente encore l’estime et l’attachement que lui portait Fiorelli, qui se décide à lui donner sa fille.« Almanach des muses pour MDCCCIX, Paris 1809, S. 313-314. 15 | Vgl. Streicher, »Komponistenopern«, S. 237-240. An der Universität Oldenburg entsteht derzeit eine Dissertation von Daniel Samaga zum Thema MozartDarstellungen auf der Bühne. Authentisierungsstrategien in historio­g raphischen Musiktheaterwerken zum Leben W. A. Mozarts. Vgl.: www.uni-oldenburg.de/ musikgeschichte-auf-der-buehne/teilprojekte/teilprojekt-2-mozar t-auf-der-bu​ ehne/ (abgerufen 12.01.2018).

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»Nach einigen Monaten des Unterrichts empfanden der Lehrer und seine Schülerin so starke Sympathien füreinander, dass sie beschlossen, bei erster Gelegenheit gemeinsam nach Rom zu fliehen. […]. Diese Flucht warf den venezianischen Adligen in die dunkelste Verzweiflung. […]. Er beauftragte zwei der berüchtigtsten Mörder, um sie verfolgen und umbringen zu lassen. In Rom eingetroffen, wo Stradella ein geistliches Werk in der Kirche von San Giovanni in Laterano aufzuführen hatte, begaben sie sich dorthin, in der festen Absicht, die Geflohenen nicht entkommen zu lassen. Doch die Ovationen, die das ganze Volk dem Musiker zuteilwerden ließ, verbunden mit dem starken Eindruck, den die Schönheit der Musik im Herzen der Mörder hervorbrachte, verwandelte wie durch ein Wunder ihren Zorn in Frömmigkeit, und beide überzeugten sich davon, wie schlecht es war, einen Menschen nach dem Leben zu trachten, dessen musikalisches Genie die Bewunderung ganz Italiens geweckt hatte, und so beschlossen sie, ihn zu retten, anstatt ihn zu töten.«16

Im frühen 19. Jahrhundert zirkulierte diese Legende in den verschiede­ nen europäischen Literaturen. In Deutschland war sie durch eine Novelle sowie das hierauf basierende gleichnamige Schauspiel von Johann Lud­ wig Deinhardstein mit dem Titel Stradella aus dem Jahre 1828 bekannt.17 In Paris waren in den 1830er Jahren verschiedene Bühnenadaptionen der Legende in Umlauf.18 Basierend auf einer Novelle von Jules Janin, Stradella ou le poète et le musicien, erschien 1837 eine Comédie en vaudeville von Paul Duport und Philippe Pittaud de Forges am Théatre du Palais-Royal sowie einige Wochen später eine Oper von Louis Niedermeyer an der Aca­ démie Royale de Musique. Die französische Stradella-Mode fand schnell auch in Italien ihren Wi­ derhall. Kurioserweise erschien das für Neapel geschriebene Libretto von Federico Quercia, das Vincenzo Moscuzza 1850 vertont hat, unter dem Ti­ 16 | Pierre Bourdelot: Histoire de la musique depuis son origine, les progrès successifs de cet art jusqu’à présent, et la comparaison de la musique italienne et de la musique françoise, Paris 1715, S. 41. 17 | Die jüngste literarische Bearbeitung des Stoffes findet sich in einem Roman, den der Musikwissenschaftler und ehemalige Leiter des Centre de la musique baroque de Versailles, Philippe Beaussant, 1999 veröffentlicht hat. Vgl. Philippe Beaussant: Stradella, Paris 1999. 18 | Vgl. Sarah Hibberd: »Murder in the Cathedral? Stradella, Musical Power, and Performing the Past in 1830s Paris«, in: Music & Letters 87 (2006), H. 4, S. 551579.

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tel Stradella trovatore del 1300, vermutlich infolge eines Zensurproblems.19 Fünf Jahre später wurde für eine Aufführung in Palermo das mittelalter­ liche Ambiente durch korrekte historische Zuschreibung ersetzt. Die ein­ zige Stradella-Bühnenversion, die einen internationalen Erfolg erzielte, ist jene 1844 für das Stadttheater Hamburg komponierte ›romantische Oper‹ von Friedrich von Flotow, die bald darauf ins Französische, Englische, Italienische und andere Sprachen übersetzt wurde. Das Libretto stammt von Friedrich Wilhelm Riese und erschien unter dessen Pseudonym »Wilhelm Friedrich«. Im Finale des dritten Aktes dieses Stücks findet sich die bereits bei Bourdelot beschriebene Szene: Die beiden Mörder, die von Stradellas Gesang vollkommen fasziniert und überwältigt sind, kapitulieren vor ihrer Aufgabe und stimmen in den Gesang mit ein (vgl. Abbildung 1).

19 | Federico Quercia: Stradella Trovatore del 1300, Tragedia lirica di Federico Quercia, musica di Vincenzo Moscuzza, Neapel 1850.

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Abb. 1: Friedrich von Flotow: Alessandro Stradella, Finale 3. Aufzug.20

20 | Friedrich von Flotow: Stradella. Klavierauszug mit Text von Josef V. von Wöss, Wien und Leipzig [ca. 1910], S. 172.

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In Alessandro Stradella von Flotow finden sich zumindest vier Elemen­ te einer dramaturgischen Grundstruktur, die sich auch in allen hier be­ trachteten Pergolesi-Opern wiederfinden: 1. Der Komponist wird als junger Liebhaber gezeigt und von einem Te­ nor verkörpert. 2. Das Protagonistendreieck besteht neben dem jungen Musiker (Tenor) aus seiner Geliebten (Sopran) und einem Rivalen (Bariton), entspre­ chend der bekannten Operndefinition von George Bernhard Shaw: »A tenor and soprano want to make love, but are pre­vented from doing so by a baritone.«21 3. Es werden Situationen gestaltet, in denen der Komponist/Sänger sei­ ne Musik in diegetischer Funktion präsentiert. 4. Das Drama endet mit einer Apotheose der Musik. Wenn wir nun das Untersuchungsspektrum um die der Biographie Mo­ zarts gewidmeten Bühnenwerken erweitern, lässt sich dieser Merkmals­ katalog um drei zusätzliche Elemente ergänzen, die sich auch in den Per­ golesi-Opern wiederfinden: 1. Der Tod des jungen Komponisten. 2. Die Wirkung und der Symbolgehalt der mit dem Tod in Verbindung stehenden Musik (Mozarts Requiem bzw. Pergolesis Stabat mater) 3. Eine musikalische Rivalität, welche die erotische Rivalität ersetzt bzw. begleitet. Diese Funktion wird im Falle Mozarts bekanntlich auf die Person Antonio Salieris projiziert, bei Pergolesi zumindest in einem Werk auf den Komponisten Egidio Romualdo Duni.22 Die älteste Oper über das Leben Mozarts stammt von Albert Lortzing. Diese Partitur besteht aus neun musikalischen Nummern, welche sämt­ lich auf berühmten Stücken Mozarts basieren, darunter allein drei aus 21 | Zit. nach Martha Feldman: Opera and Sovereignty. Transforming Myths in Eighteenth-Century Italy, Chicago 2007, S. 386. 22 | Pergolesi (1898) von Eugenio Checchi und Pierantonio Tasca (vgl. unten). Die dahinterstehende Geschichtskonstruktion konfrontiert also gewissermaßen den aus Italien ausgewanderten Begründer der französischen Opéra-comique mit dem Repräsentanten ihres italienischen Modells.

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dem Requiem.23 So ist beispielsweise der Chor Nummer 2 eine Parodie des Dies irae, wobei die Freunde Salieris die Überlegenheit der italieni­ schen Musik gegenüber der durch Mozart repräsentierten deutschen Musik proklamieren (»Lasst der welschen Kunst zu Ehren,/Deutschen Übermut zu wehren,/Einigkeit uns alle schwören!«). Es folgt eine wei­ tere Parodie auf das Requiem, hier das Rex tremendae, in einer von Sa­ lieri selbst angestimmten Zornesarie (»Trotzend allen Ungewittern,/Die verderbend sich erheben,/Will ich kämpfen, ringen, streben,/Nicht vor Feindes Macht erzittern«). Eine vergleichbare ironische Verwendung der Musik aus Mozarts Requiem ist selbstverständlich in Nikolaj RimskijKorsakovs heroisch-tragischer Behandlung des Stoffes nicht zu finden, dessen Duodrama Mozart e Salieri auf der Novelle von Puschkin basiert. Verglichen mit Stradella und Mozart kam der Pergolesi-Mythos erst mit einer Verspätung von etwa zwanzig Jahren auf die Bühne. Doch eben­ falls bereits in den 1830er Jahren ist er in einer comédie en vaudeville von Eugène Scribe präsent, Il Soprano, deren fiktiver Protagonist Guimbardini sich schon zu Beginn des Einakters (Szene 2) rühmt, ein Schüler von Pergolesi zu sein (obwohl er bei dessen Tod erst vier Jahre alt war) und sich – in Anspielung auf La serva padrona ­– als Sohn von dessen Dienst­ magd vorstellt: »GUIMBARDINI. Guimbardini. Künstler, Organist und berühmter Komponist, Schüler Pergolesis. GERTRUD. Wirklich! GUIMBARDINI. Ich wurde in seinem Haus großgezogen und ernährt, als Sohn seiner Köchin, der Dienerin als Herrin, serva padrona. Ich war vier Jahre alt, als er starb, dieser große Mann, und bei ihm drehte ich schon die Spindel im 4/4-Takt. Alle in seinem Haus besaßen das Gespür für die Musik. Machtvolles Genie, der du mein Meister warst! Möglich, dass andere mehr über dich zu sagen haben, nie war

23 | Albert Lortzing: Szenen aus Mozarts Leben (1832), Klavierauszug, hg. von Arthur Bankwitz, Berlin 1933. Nr. 1: KV 588 Così fan tutte. – Nr. 2: KV 626 Requiem, Dies irae. – Nr. 3: KV 626 Requiem, Rex tremendae. – Nr. 4: KV 350 Wiegenlied. – Nr. 5: KV 330 Sonate C-Dur. – Nr. 6: KV 437 Notturno. – Nr. 7: KV 311 Sonate D-Dur. – Nr. 8: KV 588 Così fan tutte. – Nr. 9: KV 626 Requiem, Sanctus.

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ich stolzer, auch meine Mutter nicht! Dies erklärt das musikalische Blut, das in meinen Adern fließt, und dieses Fieber, das mich nicht verlässt, sehen Sie nur…« 24

Die beiden ersten Opernlibretti, die Pergolesis Biographie in Szene setz­ ten, erschienen kurz hintereinander, jedoch offenbar unabhängig vonei­ nander in Mailand und Neapel im Jahre 1857. Lucio Tufano hat unlängst eine Untersuchung zu diesen beiden Stücken vorgelegt, deren Titelfor­ mulierung »Mostruoso a vedere un Pergolesi coi baffi« sich darauf be­ zieht, dass der Tenor Francesco Prudenza seinen markanten Schnurrbart sehr zum Ärger der neapolitanischen Presse nicht der glaubhaften Dar­ stellung dieser Rolle opferte.25 Auch an diesem Beispiel mag man sich im Lichte der Theatersemiotik vergegenwärtigen, dass nicht nur Klang als Geschichtsmedium in den performativen Künsten nachhaltige Wirkun­ gen zu entfalten vermag, sondern dass auch andere theatralische und hier insbesondere visuelle Zeichensysteme, die wesentlich leichter historisch konnotiert werden, wie beispielsweise Maske, Frisur oder Kostüm, eine entscheidende Rolle spielen.

24 | »GUIMBARDINI : Guimbardini; artiste, organiste, et célèbre compositeur, élève de Pergolèse./GERTRUDE : Vraiment!/GUIMBARDINI : J’ai été élevé, nourri dans sa maison, fils de sa cuisinière, la servante maîtresse, serva padrona; j’avais quatre ans quand il est mort, ce grand homme, et chez lui, je tournais déjà la broche en mesure, la mesure à quatre temps. Le sentiment de la musique, tout le monde l’avait dans la maison. Puissant génie! toi qui fus mon maître, d’autres disent davantage, c’est possible! je n’en ai jamais été plus fier, ni ma mère non plus; mais cela expliquerait ce sang musical qui coule dans mes veines; et cette fièvre qui ne me quitte pas, voyez plutôt…«, Eugène Scribe: »Le Soprano«, in: Théâtre complet de M. Eugène Scribe, Bd. 11, Paris 21835, S. 445-511, hier S. 447. 25 | Vgl. Tufano, »›Mostruoso a vedere un Pergolesi coi baffi«. Das vollständige Zitat findet sich dort auf S. 626, Anm. 8.

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Abb. 2: Das System der Theaterzeichen nach Erika Fischer-Lichte.26 Geräusche Musik

Akustisch

Linguistische Zeichen

Transito­ risch

Paralinguistische Zeichen

Schauspielerund Raumbe­ zogen

Schauspielerbezogen

Mimische Zeichen Gestische Zeichen Proxemische Zeichen Maske Frisur Kostüm Raumkonzeption Dekoration

Visuell Länger andau­ ernd Raumbezogen

Requisiten Requisiten

Für die Einschätzung der Relevanz unterschiedlicher Zeichensysteme als Geschichtsmedien im Theater bietet Erika Fischer-Lichtes Semiotik des Theaters einen guten Ausgangspunkt (vgl. Abbildung 2). Die relativ größere Relevanz der visuellen gegenüber den akustischen Zeichen als Medien historischer Information dürfte vor allem daher rühren, dass ers­ tere in der Regel über einen längeren Zeitraum präsent bleiben, während letztere transitorischen Charakter haben. In der an der Mailänder Scala 1857 uraufgeführten Pergolesi-Oper von Temistocle Solera (1815-1878) und Stefano Ronchetti-Montevisi (1814-1882) wird das obligatorische Rollendreieck – hier bestehend aus Pergolesi, sei­ ner Geliebten Matilde und dem Rivalen Duca di Montalto – durch zwei weitere Persönlichkeiten ergänzt, den Dichter Pietro Metastasio sowie 26 | Erika Fischer-Lichte: »Das System der theatralischen Zeichen«, in: dies.: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen 41998, S. 28 [Orig. 1983].

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einen anonymen deutschen Botschafter im Kirchenstaat. Metastasios Ruf an den Wiener Kaiserhof geht in dieser Dramenfassung mit der Rück­ kehr des Botschafters und seiner Tochter Matilde einher, die in Wien mit einem Adligen verheiratet werden soll. Kurios ist die chronologische und geographische Unordnung der Handlung, deren erste beiden Akte in Neapel und Umgebung im Jahre 1729 angesiedelt sind, während der dritte in Wien im Jahre 1737 spielt, wobei nur noch der Geist Pergolesis in Erscheinung tritt. Zu Beginn der Oper befinden wir uns, so heißt es in den Regieanweisungen, »bei einer kürzlich angelegten Grabstätte, in welcher der große Geiger und Kompo­ nist Corelli ärmlich bestattet wurde. Eine Schar erlesener Künstler hat sich in tiefer Trauer hier versammelt, unter welchen der alte Scarlatti so­ wie Leo, Durante, Porpora, Vinci und Pergolesi zu erkennen sind, jeweils gefolgt von ihren Schülern.«27 In Wirklichkeit starb Corelli bekanntlich bereits 1713 (als Pergolesi gerade erst drei Jahre alt war), und das Begräbnis fand auch nicht in Neapel, sondern in Rom statt. Der »alte«, d.h. Alessan­ dro Scarlatti (1660-1725), war zum Zeitpunkt der fiktiven Opernhandlung ebenfalls bereits seit vier Jahren tot. In der vierten Szene des ersten Aktes identifiziert sich Pergolesi künstlerisch mit Corelli, während er zugleich wegen der bevorstehenden Trennung von Matilde verzweifelt. Ein wichtiger Szenentypus, der in praktisch allen Komponistenopern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts begegnet, ist die öffentliche Bewun­ derung und Akklamation des Titelhelden. In dieser Oper gilt sie jedoch nicht primär Pergolesi, sondern Metastasio, »l’illustre autore della Dido­ ne«.28 Ein besonderes Augenmerk verdienen in sämtlichen Komponisten­ opern jene Momente, in welchen die Musik in diegetischer Funktion in Erscheinung tritt. Eine solche Situation begegnet am Ende des ersten Aktes, als Pergolesi zur Harfe greift und zu präludieren beginnt, um so­ 27 | »Intorno ad una recente fossa, in cui fu poveramente sepolto il grande violinista e compositore Corelli, sta in atto di profondo dolore una schiera di eletti Artisti, fra i quali distinguonsi il vecchio Scarlatti, Leo, Durante, Porpora, Vinci, Pergolese, seguiti dagli allievi delle Scuole di Musica.« Temistocle Solera: Pergolese. Opera in tre atti di Temistocle Solera, musicata da Stefano Ronchetti-Montevisi da rappresentarsi nell’I. R. Teatro alla Scala nella quaresima 1857, Mailand 1857, S. 5. 28 | Ebd., S. 9.

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dann eine Arie anzustimmen, die den Grafen zutiefst beleidigt. Dieser stürzt sich mit gezücktem Schwert auf den Komponisten, der nur durch das beherzte Eingreifen Metastasios gerettet werden kann. Doch der Graf schwört Rache und sinnt fortan auf Pergolesis Tod. Tatsächlich treten am Ende des zweiten Aktes die vom Grafen bezahlten Mörder in Aktion, in einer Szene, die ganz offensichtlich von der Stradella-Legende inspiriert ist. Doch die Verbrecher müssen sich zurückziehen, als Matilde und Me­ tastasio auf einer Barke eintreffen. Im Finale des zweiten Aktes sehen wir Pergolesi in seinem Arbeits­ zimmer, den Blick auf den geöffneten Balkon gerichtet. In den Regiean­ weisungen heißt es, er beginne plötzlich in einem Akt der Inspiration seine Finger über die Tasten des Cembalos gleiten zu lassen: »Nach und nach lichten sich die Wolken, und der Mond erscheint in seinem ganzen Glanz zwischen den Bergen. Am Ende von Pergolesis Gesang ist die ge­ samte Szenerie hell erleuchtet.«29 Analog zu Flotows Stradella lassen auch hier die Auftragsmörder ihre Vorsätze fallen, und in dem Moment, als Pergolesi den Schluss des Stabat Mater zu singen beginnt, das »Quando corpus morietur«, rufen sie in Verzückung aus: »Chi resiste a tale incan­ to?«30 Paolo Serrao (1830-1907), der Komponist des ebenfalls 1857 uraufge­ führten neapolitanischen Melodramma semiserio Pergolesi nach einem Libretto von Federico Quercia, wählte hingegen im ersten Akt seiner Oper eine andere musikalische Vorlage zur Schaffung eines ›authentischen‹ historischen Klangkolorits: die Arie Tre giorni son che Nina, die wie so 29 | »A poco a poco, le nuvole si andranno diradando, e la luna apparirà in tutto il suo splendore fuori del monte, sì che alla fine del canto di Pergolesi avrà illuminato già tuta la scena.« Ebd., S. 25. 30 | »Wer widersteht einer solchen Verzauberung?« Ebd. Die Regieanweisungen führen weiterhin aus: »Matilde è caduto in ginocchio ai piedi della cappelletta. Metastasio è assorto in profondo contemplazione. Gli sgherri, alcuni dei quali hanno lasciato cadere il pugnale, prestano con tutta commozione orecchio alle sacre note del Pergolese, le quali seguitano a diffondersi per l’aria.« – »Matilde ist am Fuß der Kapelle auf die Knie gefallen. Metastasio ist in tiefe Kontemplation vertieft. Die Handlanger, von denen einige den Dolch fallen gelassen haben, verleihen den heiligen Noten Pergolesis, die sich weiterhin ausbreiten, große Emotionen.« Ebd. Vgl. hierzu auch die Notenbeispiele 2-4 bei Tufano, »Mostruoso a vedere un Pergolesi coi baffi«, S. 636 und 638.

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viele andere anonyme Kompositionen aus dem 18. Jahrhundert damals noch fälschlicherweise Pergolesi zugeschrieben wurde. Vermutlich war Pergolesis jüngerer Zeitgenosse Vincenzo Legrenzio Ciampi (1719-1762) der Komponist dieses Stückes. Der Gesangstext schildert die Angst eines jungen Mannes um seine schwerkranke Geliebte Nina. Wie sehr gerade diese Pergolesi-Oper an die Stradella-Mode anknüpft, zeigt sich übrigens auch darin, dass der Autor des Textbuches, Federico Quercia, wenige Jah­ re zuvor das bereits erwähnte kuriose Libretto Stradella trovatore del 1300 (1850) verfasst hatte. Die Legende des unsterblich verliebten und zugleich göttlich inspi­ rierten Pergolesi erhielt wenig später neue Nahrung dank der Veröffent­ lichung der gefälschten »Spinelli-Chronik« durch den Musikschriftsteller und Archivar Francesco Florimo im Jahre 1869. Florimo behauptet, in einer alten Chronik den Bericht der Maria Spinelli und ihrer drei Brüder entdeckt zu haben, die mit Blut getränkten Schwertern vor sie hintraten und drohten, falls sie nicht innerhalb von drei Tagen einen standesge­ mäßen Ehemann wählen würde, mit ihren drei Schwertern den Tod des berühmten Komponisten herbeizuführen: »In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts traten eines Tages die drei Brüder der Maria Spinelli ihrer Schwester gegenüber und drohten ihr mit gezückten Schwertern, ihren Liebhaber und von ihr geliebten Komponisten Giovanni Battista Pergolesi zu töten, wenn sie nicht binnen dreier Tage einen ihr ebenbürtigen Gemahl erwählen würde. Mit diesen Worten verließen sie sie. Nach drei Tagen kehrten sie zu ihrer Schwester zurück. Diese erklärte ihnen, Gott als Gemahl erwählt zu haben, und bat darum, in das Kloster von Santa Chiara eintreten zu dürfen, wenn wirklich nur das Klosterleben sie von jenem Komponisten fernhalten können, den sie so sehr geliebt habe, und den sie nun vergessen müsse, indem sie ihre ganze Seele allein in göttliche Dienste stelle. Und so geschah es. Am 11. März 1735 läuteten in Santa Chiara die Totenglocken. Zu dieser Zeit wurde unter der Leitung von Giovanni Battista Pergolesi die Totenmesse der Maria Spinelli gesungen.« 31 31 | »Nella prima metà del decorso secolo si presentarono un giorno in questa città a Maria Spinelli i tre fratelli di lei, e colle spade sguainate le dissero: come fra tre giorni ella non scegliesse a sposo un uomo pari a lei per l’altezza di nascimento, con quelle tre spade avrebbero trafitto e morto il maestro di musica Giovan Battista Pergolesi di lei amante e riamato; e si dicendo partirono. Fra i tre giorni ritornarono alla sirocchia: costei loro disse aver prescelto a sposo un Essere su-

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Vier Jahre nach der Veröffentlichung dieser Geschichtsfälschung kam in Neapel das erste Theaterstück auf die Bühne, das auf dieser Quelle basiert. Im Vorwort dieses Dramma storico in vier Akten von Michele Cuciniello (1825-1889) heißt es, dass alle Elemente des Dramas historisch verbürgt seien (vgl. Abbildung 3). Abb. 3: Michele Cucinello: Pergolesi. Dramma Storico, Mailand 1875, Titelseite und Vorwort der Erstveröffentlichung.

Das Vorwort verweist dabei unmittelbar auf die von Florimo veröffent­ lichte Chronik:

blime, poichè il suo sposo era Iddio, domandando andare monaca in S. Chiara, si veramente che la messa di monacazione si avesse a dirigere da quel maestro di musica che ella avea cotanto amato, e che ora mandava in obblio rivolgendo tutta l’anima sua solo ai celesti affetti. E cosi fu fatto. L’anno appresso il dì 11 marzo 1735 funebri rintocchi della campana di S. Chiara annunziavano mestamente funerali. In quel tempio celebravasi la messa di requie di Maria Spinelli, e dirigevala Giovanni Battista Pergolesi.« Francesco Florimo: Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, Bd. 1, Neapel 1869, S. 248.

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»Eine handschriftliche Chronik, die in der Familienbibliothek des Fürsten von Colobrano gefunden und vom verehrten Ritter Florimo, Archivar des Konservatoriums von Neapel, zur Verfügung gestellt wurde, liefert uns die besagten Angaben. – Nur in einem Punkt entfernt sich das Drama von dieser Chronik, indem es Pergolesi unmittelbar nach der Aufführung der Totenmesse sterben lässt, während in Wirklichkeit Pergolesi erst ein Jahr nach der Spinelli, und zwar an ihrem Todestag, in Pozzuoli gestorben ist.« 32

Für dieses Prosadrama schreibt der Verfasser selbst die Verwendung von Bühnenmusik vor, und zwar wiederum das »Quando corpus mo­ rietur« aus dem Stabat Mater sowie Stücke aus La serva padrona. 1898 kam eine Pergolesi-Oper auf die Bühne, die ebenfalls die Spinelli-Affäre ins Zentrum rückt. Das lyrische Drama Pergolesi von Pierantonio Tasca (1858-1934) wurde in deutscher Sprache in Berlin uraufgeführt. Tasca war seinerzeit ein Repräsentant des Verismo und hatte einige Jahre zuvor mit seiner Oper A Santa Lucia (1892) einen großen internationalen Er­ folg erzielt. Den Experten geläufig ist auch seine Oper La lupa nach dem gleichnamigen veristischen Drama von Giovanni Verga, ein Libretto, das ursprünglich für Giacomo Puccini bestimmt war, der diesen Plan jedoch verwarf. Für seine Pergolesi-Oper ergänzte der Librettist Eugenio Chec­ chi das Personenverzeichnis um einen zweiten Komponisten, den bereits erwähnten Egidio Romualdo Duni (1708-1775), wohl im Hinblick auf das deutsche Publikum, dem selbstverständlich die Legenden um Mozart und Salieri und somit der Topos des künstlerisch unterlegenen und ne­ gativ gezeichneten Komponistenkollegen vertraut waren. Duni wird nicht nur als Rivale Pergolesis, sondern auch als überaus unsympathischer In­ trigant porträtiert. So überbringt er in der vierten Szene des ersten Aktes Pergolesi seine Gratulation »mit kriechender Ehrerbietung«, wie es in der Regieanweisung heißt: 32 | »Una Cronaca manoscritta, ritrovata nella Biblioteca della sua famiglia dall’illustre Principe di Colobrano, e messa a disposizione dell’egregio cav. Florimo, archivista del Conservatorio di Napoli, ci fornì i suddetti particolari. – In una sol cosa il dramma si allontana dalla cronaca ed è nell’aver fatto morire il Pergolesi immediatamente dopo l’esecuzione della messa funebre, mentre il Pergolesi morì un anno dopo morta la Spinelli, proprio nell’anniversario della morte di costei, ed in Pozzuoli.« Michele Cucinello: Pergolesi. Dramma storico, Mailand 1875, S. 3f.

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»DUNI (mit kriechender Ehrerbietung): Darf auch ich den Glückwunsch bringen. PERGOLESI: Dank euch, Dank mein Meister. DUNI (übertrieben begeistert): Wie hat mit heiligem Feuer Mit edler Phantasie – solch niedern Stoff gestaltet Dein hehres, groß Genie.« 33

Sodann offenbart Duni in der zweiten Szene des zweiten Aktes die gehei­ me Liebe zwischen Pergolesi und Maria Spinelli gegenüber deren Bruder: »SPINELLI: Bravo, Bravissimo, und wer ist der freche Der es wagt, so kühn einzudringen? DUNI: Ein großer Künstler, der jetzt viel gepriesen und der sich dünkt, besser zu sein als wir. SPINELLI: Ich glaube ihn zu kennen, es ist Pergolesi Der Liebling der alten und hässlichen Frauen. DUNI: Der Alten? Ei nicht doch! Man schwatzet und flüstert Dass köstliche Hoffnung im Herzen er nährt.« 34

Und schließlich fällt ihm die Aufgabe zu, im vierten Akt die Nachricht vom Fiasko der römischen Premiere von Pergolesis Olimpiade zu über­ bringen. Tascas Oper endet mit der Szene am Sterbebett des Komponis­ ten, der in einer Vision das hinter der Bühne erklingende, von einem Chor gesungene Stabat Mater dirigiert und unmittelbar nach den Versen des »Quando corpus morietur« selbst das Zeitliche segnet. Die letzte Pergolesi-Oper, die hier betrachtet werden soll, ist Il Pergolese von Carlo Marsili mit der Musik von Lamberto Landi, uraufgeführt am Mailänder Teatro Carcano im Jahre 1919. Der wenig bekannte Komponist Landi (1882-1950) aus Puccinis Geburtsort Lucca schrieb sechs Opern, die auch auf der Gedenktafel seines Wohnhauses verzeichnet sind: Bianca, Il Pergolese, Nelly, Lauretta, La Gorgona und Nausica.35 Das Personenver­ 33 | Eugenio Checchi: Pergolesi. Lyrisches Drama in vier Akten, Deutsch von Carl Ribbern, Musik von Pierantonio Tasca, Berlin 1898, o. S. 34 | Ebd. 35 | Vgl. die Abbildung »Lapide alla memoria del maestro Lamberto Landi proprio sotto la finestra xella sua casa natale«, Fotografie von Frang2328, in: https:// it.wikipedia.org/wiki/Lamber to_Landi#/media/File:Lapide_mem_m_as_lan​ di_lamberto.JPG (abgerufen am 10.03.2017).

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zeichnis umfasst lediglich fünf Rollen: den Komponisten, seine Dienerin Arella und die Geschwister Spinelli mit Namen Enzo, Maria und Magda. Auch die Handlungsstruktur ist äußerst einfach gestrickt, wie schon aus den Überschriften der drei Akte hervorgeht: »Atto Primo: L’amore – Atto Secondo: Il dolore – Atto Terzo: La morte«. Es mögen wenige Schlaglichter auf die musikalische Dramaturgie genügen, und zwar auf jene Momente, in denen tatsächlich oder vermeintlich Musik Pergolesis in diegetischer Funktion erklingt. Zu Beginn der Oper befinden wir uns im Privattheater der Familie Spinelli, wo soeben die letzten Takte der Oper La serva padrona verklingen, woraufhin der Komponist stürmisch gefeiert wird. Per­ golesi bedankt sich für die Ehrerweisungen, während er sich gleichzeitig unwillkürlich der ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Maria Spinelli annähert (»si volge involontariamente verso Maria Spinelli«36). Als musikalisches Leitmotiv der gesamten Oper dient wie schon in der Vertonung von Paolo Serrao (1857) die nicht authentische »Siciliana von Pergolesi«, die hier aber von Maria im ersten Akt in diegetischer Funktion exponiert wird. Die Wahl dieses melancholischen Stückes ist dramatur­ gisch in ihrem Kontext durchaus bemerkenswert, denn die durch Marias Gesangsvortrag ausgelöste »tristezza che invaderà tutti«37 nimmt musika­ lisch Pergolesis Tod am Ende der Oper vorweg. Am Ende des dritten Ak­ tes sehen wir den bereits moribunden Pergolesi in der Partitur des Stabat Mater blättern. Nachdem er das »Quanto corpus morietur« rezitiert und mit letzter Kraft die Partitur geschlossen hat, erklingt aus der Ferne die inzwischen populäre Siciliana, angestimmt von einem Fischer auf dem Meer – ein Schluss, dessen musikalische Dramaturgie diejenige aus Ver­ dis Rigoletto zu zitieren scheint: Erst jetzt kann Pergolesi sterben – denn der Gesang des Fischers beweist, dass seine Musik weiterlebt (so wie die Canzone des Duca di Mantova dessen Überleben am Ende von Rigoletto bezeugt). Auch der Pergolesi-Mythos sollte weiterleben, nicht nur in der wäh­ rend des italienischen Faschismus realisierten dreißigbändigen Gesamt­ ausgabe (1939-1942),38 die weit über hundert fälschlich zugeschriebene Werke als Denkmäler monumentalisiert und so zu einem der größten De­ 36 | Carlo Marsili: Il Pergolese. Opera, Mailand 1919, o. S. 37 | Ebd. 38 | Giovanni Battista Pergolesi: Opera omnia, hg. von F. Caffarelli, Rom 19391942, 30 Bde.

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saster der musikwissenschaftlichen Editionsgeschichte wurde, sondern auch im seinerzeit neuartigen Geschichtsmedium des biographischen Musikfilms, ein Genre, das erst in jüngster Zeit das Interesse der Mu­ sikwissenschaft geweckt hat.39 Die beiden ersten Pergolesi-Biopics in der Regie von Guido Brignone erschienen in Frankreich und Italien in den frühen 1930er Jahren und schrieben die in den Bühnenadaptionen aus­ geprägten dramaturgischen Konventionen konsequent im zeitgemäßeren Medium fort.40

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Claudia Albert: »Zwischen Enthusiasmus und Kunstgrammatik: Pergole­ si als Modell für Wackenroders Berglinger-Erzählung«, in: Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur, hg. von Gabriele Brandstet­ ter, Bern u.a. 1995, S. 5-27. Almanach des muses pour MDCCCIX, Paris 1808. M. Elizabeth C. Bartlet: »A Musician’s View of the French Baroque after the Advent of Gluck: Grétry’s ›Les trois âges de l’opéra‹ and its Con­ text«, in: Jean-Baptiste Lully and the Music of the French Baroque. Essays in Honor of James R. Anthony, hg. von John Hajdu Heyer, Cambridge 1989, S. 291-318. Philippe Beaussant: Stradella, Paris 1999. Thomas Betzwieser: »Komponisten als Opernfiguren. Musikalische Werkgenese auf der Bühne«, in: Studien zur Musikgeschichte. Eine Festschrift für Ludwig Finscher, hg. von Annegrit Laubenthal Kassel u.a. 1995, S. 511-522. Pierre Bourdelot: Histoire de la musique depuis son origine, les progrès successifs de cet art jusqu’à présent, et la comparaison de la musique italienne et de la musique françoise, Paris 1715. 39 | Vgl. u.a. John C. Tibbetts: Composers in the Movies. Studies in Musical Biography, New Haven und London 2005; Sabine Sonntag: Richard Wagner im Kino. Studien zur Geschichte, Dramaturgie und Rezeption filmmusikalischer Künstlerbiographien, Köln 2010. 40 | Les amours de Pergolèse von Guido Brignone mit Simone Vaudry und Pierre Richard-Wilm (Frankreich 1931); Pergolesi von Guido Brignone mit Elio Steiner, Dria Paola und Tina Lattanzi (Italien 1932).

Mythos Pergolesi

Eugenio Checchi: Pergolesi. Lyrisches Drama in vier Akten, Deutsch von Carl Ribbern, Musik von Pierantonio Tasca, Berlin 1898. Francesco Cotticelli und Paologiovanni Maione (Hg.): Il teatro allo specchio. Il metateatro tra melodramma e prosa, Neapel 2013. Michele Cucinello: Pergolesi. Dramma storico, Mailand 1875. Francesco Degrada: Art. »Pergolesi«, in: MGG2, Personenteil 13, Kassel u.a. 2005, Sp. 309-319, hier Sp. 318. Martha Feldman: Opera and Sovereignty. Transforming Myths in EighteenthCentury Italy, Chicago 2007. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Bd. 1, Tübingen 4 1998 [Orig. 1983]. Francesco Florimo: Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli, Bd. 1, Nea­ pel 1869. Friedrich von Flotow: Stradella. Klavierauszug mit Text von Josef V. von Wöss, Wien und Leipzig [ca. 1910]. André Ernest Modeste Grétry: Les trois âges de l’opéra, Prologue, représenté pour la première fois, par l’Académie Royale de Musique, le lundi 27 avril 1778, suivie de l’acte de Flore, Paris 1778. Sarah Hibberd: »Murder in the Cathedral? Stradella, Musical Power, and Performing the Past in 1830s Paris«, in: Music & Letters 87 (2006), H. 4, S. 551-579. Arnold Jacobshagen: »Les trois âges de l’opéra. Repertoirestruktur und ›alte Musik‹ zwischen Ancien Régime und Restauration«, in: The Past in the Present. Papers Read at the IMS Intercongressional Symposium and the 10th Meeting of the Cantus Planus, Bd. 1, Budapest 2003, S. 227-243. Arnold Jacobshagen: »Il compositore cantante. La figura di Pergolesi sulla scena del melodramma dell’Ottocento«, in: Studi Pergolesiani/Pergolesi Studies 6, hg. von Claudio Toscani, Mailand 2011, S. 207-222. »Lapide alla memoria del maestro Lamberto Landi proprio sotto la fines­ tra xella sua casa natale«, Fotografie von Frang2328, in: https://it.wi​ kipedia.org/wiki/Lamberto_Landi#/media/File:Lapide_mem_m_as_ landi_lamberto.JPG (abgerufen am 10.03.2017). Albert Lortzing: Szenen aus Mozarts Leben (1832), Klavierauszug, hg. von Arthur Bankwitz, Berlin 1933. Carlo Marsili: Il Pergolese. Opera, Mailand 1919. Giovanni Battista Pergolesi: Opera omnia, hg. von F. Caffarelli, Rom 19391942, 30 Bde.

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Miriam Pilters: Italienische Opernparodien im achtzehnten Jahrhundert: Metamelodrammi als humoristische Selbstreflexion im Musiktheater, Saar­ brücken 2009. Federico Quercia: Stradella Trovatore del 1300, Tragedia lirica di Federico Quercia, musica di Vincenzo Moscuzza, Neapel 1850. Eugène Scribe: »Le Soprano«, in: Théâtre complet de M. Eugène Scribe, Bd. 11, Paris 21835, S. 445-511. Temistocle Solera: Pergolese. Opera in tre atti di Temistocle Solera, musicata da Stefano Ronchetti-Montevisi da rappresentarsi nell‘I. R. Teatro alla Scala nella quaresima 1857, Mailand 1857. Sabine Sonntag: Richard Wagner im Kino. Studien zur Geschichte, Dramaturgie und Rezeption filmmusikalischer Künstlerbiographien, Köln 2010. Johannes Streicher: »Komponistenopern und Primadonnentheater – To­ poi der deutschen Sicht auf Italien um 1900«, in: Das Bild der italienischen Oper in Deutschland, hg. von Daniel Brandenburg und Sebastian Werr (= Forum Musiktheater 1), Münster 2004, S. 225-240. John C. Tibbetts: Composers in the Movies. Studies in Musical Biography, New Haven und London 2005. Lucio Tufano: »,Mostruoso a vedere un Pergolesi coi baffi‹. Il mito in scena nel 1857 tra Milano (Solera – Ronchetti Monteviti) e Napoli (Quercia – Serrao)«, in: Studi Pergolesiani/Pergolesi Studies 9, hg. von Francesco Cotticelli und Paologiovanni Maione, Bern u.a. 2015, S. 625-658. Melanie Unseld: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u.a. 2014.

Klangliche Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ in ausgewählten Hörfunkreportagen, Fernsehdokumentationen und fiktionalen Filmen Susanne Binas-Preisendörfer Gewidmet meinem akademischen Lehrer Gerd Rienäcker (1939‑2018)

I. I ntro Vorbemerkung I »Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktritt, darf auf Demonstrationen getanzt werden.«1 Mit diesem O-Ton des Dramatikers Heiner Müller (1929-1995) beginnt die A‑Seite des im Februar 1990 in den Tonstudios von VEB-Deutsche Schallplatte2 produzierten Albums 1 | Heiner Müller: Werke Bd. 8, Schriften, hg. von Frank Hörnigk, Frankfurt a.M. 2005, S. 360. 2 | VEB Deutsche Schallplatte war der einzige Betrieb, der in der DDR Tonträger produzierte. Auf dessen Label AMIGA, zuständig für ›Tanz- und Unterhaltungsmusik‹ wurden bis Ende 1989 ca. 2.200 Langspielplatten veröffentlicht, eine im internationalen Vergleich geringe Anzahl, die der ökonomischen Schwäche und den kulturpolitischen Prozeduren in der DDR geschuldet war. Nach dem Ende der DDR wurde der Betrieb in das Unternehmen Deutsche Schallplatten GmbH Berlin überführt. Veröffentlicht unter dem Label ZONG, kam die Langspielplatte ad acta im Herbst 1990 auf den gesamtdeutschen Markt.

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ad acta der Ostberliner Band Der Expander des Fortschritts. Die Passage dieses Tondokuments stammt aus einem Fernsehmitschnitt einer ins Ge­ dächtnis vieler in der DDR Geborener fest eingeschriebenen Demonstra­ tion auf dem Ostberliner Alexanderplatz am 4. November 1989, auf der Müller den Gründungsaufruf einer Initiative für unabhängige Gewerk­ schaften verlas (und dafür ausgebuht wurde). Der Rücktritt Erich Hone­ ckers war bereits am 18. Oktober 1989 aus dem Politbüro des Zentralko­ mitees der SED heraus erzwungen worden. Am 7. November erklärte der Ministerrat der DDR den Rücktritt, am 9. November öffnete sich, nach­ dem Günter Schabowski die Sperrfrist einer Pressemitteilung übersehen hatte, die Mauer. Dass ›die Mauer gefallen sei‹ und im allgemeinen und medialen Sprachgebrauch nicht ›geöffnet wurde‹, benennt – so der 1966 in Jena geborene und seit 2012 die Berliner Festspiele leitende Intendant Thomas Oberender – »eine Wahrnehmung aus westdeutscher Sicht, die zur Floskel und bis heute zur Normalperspektive«3 auf die Ereignisse von 1989/1990 wurde. Diese Beobachtung möchte ich den nun folgenden Ausführungen ebenso wie die eigene Positionierung gegenüber dem hier diskutierten Thema voranstellen. Sie scheint mir wichtig, auch in Bezug auf die klanglichen Spuren, die die Erzählungen von und über diese Er­ eignisse repräsentieren (sollen). Die Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alex­ anderplatz habe ich selbst miterlebt. Als aktives Mitglied der Band Der Expander des Fortschritts war ich an der Produktion des oben genannten Albums beteiligt. Die nun folgende Auseinandersetzung mit Geschichts­ darstellungen des ›Mauerfalls‹ in audiovisuellen Medien und mit der Frage nach der Bedeutung von Klängen als Geschichtsmedium hat also auch eine persönliche Note. Zur Zeit des ›Mauerfalls‹ war ich 25 Jahre alt, Nachwuchswissenschaftlerin an der Sektion Kunst und Ästhetik der Humboldt-Universität am Forschungszentrum Populäre Musik und von 1987 bis 1990 aktive Musikerin im Ostberliner Offground.4 Es gab kaum 3 | Thomas Oberender: »Die Mauer ist nicht gefallen«, in: Die Zeit, 28.09.2017, S. 47. 4 | Im Gegensatz zum heute geläufigen und oft gebrauchten Begriff des Undergrounds verwendete man in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in der betreffenden Musikszene der DDR oft den des Offgrounds, ein Amalgam aus den Begriffen Offkultur und Underground. In anderen Ländern des sogenannten Ostblocks, z.B. in Ungarn, wurde zur Beschreibung von widersprüchlichen Variablen der Begriff

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einen Song oder eine Produktion des Expanders, der bzw. die nicht be­ arbeitete O-Töne, Field Recordings, Referenzen auf bereits existierende Kompositionen oder Tonaufnahmen enthielt. Wir plünderten munter Schallplattenarchive, schnitten Nachrichtensendungen mit, montierten Versatzstücke aus Filmmusiken, ließen eine Passage aus Anton Bruck­ ners 8. Sinfonie im Loop laufen, vertonten Heiner Müllers Drama Herzstück etc. Auf den Konzertbühnen stand stets ein Kassettendeck, über das wir den Zugriff auf bereits fixiertes Medienmaterial regelten. Meine Erinnerungen an diese klanglich-ästhetische Praxis, die zu­ gleich eine medien-kulturelle und eine politische Praxis war, wurden in der jüngeren Vergangenheit wiederholt herausgefordert, als befragte Zeitzeugin im Rahmen musikhistorischer Forschungsarbeiten,5 ange­

der Zweiten Öffentlichkeit verwendet, ein Hinweis darauf, dass es erstens strukturelle Verbindungen zum staatlich organisierten Kulturbetrieb gab und es zweitens den Akteuren der sogenannten Zweiten Öffentlichkeit oder der Offgrounds durchaus darauf ankam, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, sich zugleich aber auch den staatlichen Institutionen zu entziehen (vgl. Angelika Richter: Perspektiven künstlerischer Genderkritik. Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, 2017 vorgelegte und an der Universität Oldenburg verteidigte Dissertationsschrift). Auf struktureller Ebene stellte eine Spielerlaubnis eine unabdingbare Voraussetzung für einen öffentlichen Auftritt z.B. in einem Jugendklub oder einer öffentlichen Galerie dar. Verbunden damit war eine Einstufung vor einer staatlichen Einstufungskommission, die darüber verfügte, welche Band oder welches Ensemble eine Spielerlaubnis erhielt. Sie regelte zugleich die Höhe/Stufe des einzuhaltenden Honorarbetrages für jede/n einzelne/n Musiker/in und das Ensemble. Die Band Der Expander des Fortschritts verfügte über die höchste Einstufung im Amateurbereich: »Sonderstufe mit Konzertberechtigung«. 5 | Der Musikwissenschaftler Florian Lipp arbeitet derzeit an einer Dissertation zum Thema Punk, New Wave und die Folgen im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis und hat mich als Zeitzeugin für seine Forschung befragt. Vgl. auch Florian Lipp: »Punk- und New-Wave-Bands im letzten Jahrzehnt der DDR im kultur- und sicherheitspolitischen Kontext«, in: Totalitarismus und Demokratie. Zeitschrift für Internationale Diktatur- und Freiheitsforschung 13 (2015), H. 2, S. 225-248.

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sichts der Nachfragen von Kuratoren6 und einschlägigen Museen7 sowie der unausweichlichen Jubiläen der Zeitgeschichte. O-Töne hinterließen dabei einen unüberhörbaren Nachhall in den damaligen und in einigen aktuellen audiovisuellen Medienproduktionen. Um Letztere soll es in die­ sem Beitrag gehen.

Vorbemerkung II Fragen nach der Klanglichkeit von Musik und der Bedeutung auditiver Umgebungen und Artefakte erleben gegenwärtig akademische Hochkon­ junktur. »Die Forschungsrichtung der Sound Studies ist in den Geistesund Kulturwissenschaften angekommen«, beginnen Axel Volmar und Jens Schröter ihre Einleitung zum Band Auditive Medienkulturen. Kon­ statiert wird ein »Bedeutungszuwachs der Tongestaltung in den Medien und Künsten über akustisches Produktdesign und Corporate-SoundStrategien bis hin zur verstärkten Nutzung des audiovisuellen Wahrneh­ mungskanals für die Produktion neuen Wissens, wie etwa im Bereich der Sonifikation«.8 Von Sound Studies wird in der Musikforschung vor allem dann gesprochen, wenn sie kultur- und medienwissenschaftlich orien­ tiert ist und sie sich Fragen der Bedeutung auditiver Wahrnehmungen und historischen als auch gegenwärtigen medialen und kulturellen Prak­ tiken widmet. Bei der Auseinandersetzung mit auditiven Medienkultu­ ren geht es im Kern um Klang als erkenntnisleitende und Wissen generie­ 6 | Im Rahmen der im Berliner Martin-Gropius-Bau 2016 gezeigten Ausstellung Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976-1989 wurde eine Hörstation mit Songs von Punk-, New Wave- und stilistisch ähnlichen Bands eingerichtet, deren Inhalte zugleich auf dem Sampler Ende vom Lied – East German Underground Sound 19791990 veröffentlicht wurden, darunter von Der Expander des Fortschritts: »Fremdgehn durchs Land« aus dem Jahr 1990 (play loud! Productions und Künstlerhaus BETHANIEN 2016, LC 15308). 7 | Dem rock’n’pop Museum Gronau stellte ich für die aktualisierte Dauerausstellung zur Geschichte der populären Musik auf Anfrage mein altes Sopransaxophon als Leihgabe zur Verfügung. 8 | Axel Volmar und Jens Schröter: »Sonic Turn? Sound Studies in den Geistesund Kulturwissenschaften«, in: Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, hg. von Axel Volmar und Jens Schröter, Bielefeld 2013, S. 9-21, hier S. 10.

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rende Ressource. Sebastian Klotz spricht 2013 sogar von »epistemischer Energie«,9 die die Thematik des Klangs für verschiedenste akademische Zugänge, nicht zuletzt die musikwissenschaftlichen birgt. Die Beschäf­ tigung mit dem Soundbegriff aus musikwissenschaftlicher Perspektive beginnt in den späten 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum zu­ nächst vor allem in Bezug auf das Verständnis populärer Musikpraktiken und populärer Musik.10 Diese Auseinandersetzung ist von der Überzeu­ gung geleitet, dass, will man an den ästhetischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Praktiken populärer Musik nicht vorbei analysieren bzw. argumentieren, diese ohne eine Fokussierung auf die Kategorie des Sounds ins Leere geht. Peter Wicke spricht bereits 1989 von Populärer Musik als ›Medium in Klang‹ bzw. davon, »daß Musik hier keine textu­ elle, sondern vielmehr eine mediale Qualität aufweist«.11 Ihm kam es da­ mals auch auf die Materialität des Klanges, wie sie heute diskutiert wird, an, v.a. aber auf eine akademische Konzeptionalisierung von populärer Musik, die die klanglichen Komponenten eines Songs nicht abgetrennt von den gestischen, visuellen, technologischen oder ökonomischen As­ pekten analysiert. »[…] ihre je besondere Gestalt [fungiert] dabei eben nicht als Resultat und Gegenstand der Aneignung von Welt und Wirk­

9 | Sebastian Klotz: »Klang als epistemische Ressource und als operativer Prozess«, in: Volmar und Schröter (Hg.), Auditive Medienkulturen, S. 189-206, hier S. 189. 10 | Vgl. v.a. Helmut Rösing: »Klangfarbe III.2: Sound in der Populären Musik«, in: MGG 2, Sachteil 5, Kassel 1996, Sp. 158-159; Peter Wicke: »Klang-Konfigurationen und Soundtechnologien«, in: Rock- und Popmusik. Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Bd. 8, hg. von dems., Laaber 2001, S. 23-41; Martin Pfleiderer: »Sound. Anmerkungen zu einem populären Begriff«, in: Pop Sounds. Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik, hg. von Thomas Phleps und Ralf von Appen, Bielefeld 2003, S. 19-23; Susanne Binas-Preisendörfer: »Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. Annäherungen an einen populären Begriff«, in: Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, hg. von Kaspar Maase, Frankfurt a.M. und New York 2004, S. 192-209. 11 | Vgl. Peter Wicke: »Rockmusik – Dimensionen eines Massenmediums. Weltanschauliche Sinnproduktion durch populäre Musik«, in: Weimarer Beiträge 35 (1989), H. 6, S. 885-906, hier S. 898.

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lichkeit, sondern als ein Agens, das diesen Aneignungsprozeß in einer spezifischen kulturellen Form vermittelt.«12 Seit den frühen Tagen der Tonaufzeichnung und -wiedergabe, die kor­ rekter eigentlich als Klangaufnahme bzw. Klangwiedergabe bezeichnet werden müsste (Phonographie = Lautschrift), sind es die durch Medien­ dispositive (v.a. Mikrophone und Lautsprecher) gestalteten Stimmen und Instrumentalklänge, die die populären Musikpraktiken seit den 1930er Jahren maßgeblich mitgestalteten und entlang derer sich Popmusikge­ schichte auf plausible Art rekonstruieren lässt.13 HörerInnen erkennen viele der ihnen bekannten Songs oder Stars über sehr konkrete Sounds, die in bestimmten Szenen zirkulieren, von ProduzentInnen kreiert oder MusikerInnen ausgetüftelt und aufgegriffen werden, das Markenzeichen eines bestimmten Studios oder eines verwendeten Instruments sind, das unverwechselbare Timbre einer Stimme, die Sampleraten oder das Rau­ schen und Knistern eines analog abgemischten Tonträgers. Sounds fun­ gieren im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie eines angebotsorientier­ ten Popmusikmarktes heute immer auch als Referenz und ›Earcatcher‹. Klänge und Sounds werden in populärer Musik so zu Erkennungszeichen und Medien sprachlicher wie auch körperlicher Kommunikation.14 Auf musikalischer Ebene, aber auch darüber hinaus, adressiert Sound die Gesamtheit aller die sinnliche Qualität von Musik bestimmenden Fakto­ ren15 und gilt zugleich als kommunikativer Bezugspunkt zwischen den verschiedenen an den Praktiken populärer Musik beteiligten AkteurIn­ nen, ob aus ästhetischer, kultureller, sozialer, technologischer oder öko­

12 | Ebd., S. 898. 13 | Vgl. dazu v.a. Peter Wicke, »Klang-Konfigurationen und Soundtechnologien«; Jens-Gerrit Papenburg: Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rockund Popmusik, Dissertationsschrift, Berlin 2011, https://edoc.hu-berlin.de/ handle/18452/17137 (abgerufen am 21.02.2018). 14 | Susanne Binas-Preisendörfer: »Sound und Gender, Überlegungen zu einem Desiderat«, in: Rohe Beats, harte Sounds – Konstruktion von Aggressivität und Gender in populärer Musik, hg. von Florian Heesch und Barbara Hornberger (= Jahrbuch Musik und Gender 7), Hildesheim u.a. 2016, S. 67-84. 15 | Peter Wicke: Art. »Sound«, in: Handbuch der populären Musik. Geschichte, Stile, Praxis, Industrie, hg. von Peter Wicke, Wieland Ziegenrücker und Kai-Erik Ziegenrücker, Mainz 2007, S. 684f.

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nomischer Perspektive.16 In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die akademische Auseinandersetzung zum Zusammenhang von Sound und populärer Musik immens gewachsen. Einen vorläufigen Höhepunkt bil­ det dabei eine Publikation, die das metonymische Moment in der Verwen­ dung des Soundbegriffes zuspitzt: Sound as Popular Music17 und damit eine ›Zuständigkeit‹ der Sound Studies für die Erforschung populärer Musik reklamiert. Dieser Perspektive mag ich mich nur bedingt anschlie­ ßen, insbesondere vor dem Hintergrund einer Tendenz, die die sozialen und kulturellen Aspekte populärer Musikpraktiken zugunsten eines me­ dientechnologischen Aprioris in den Hintergrund drängt. Eine Geschichte populärer Musik mit Fokus auf ihre Klanglichkeit zu schreiben, die vor jener Zeit liegt, in der ihre technische Klangaufzeich­ nung möglich wurde, stellt eine große Herausforderung dar. Populäre Kulturen kennen v.a. Memorierungspraktiken, die an orale Überliefe­ rung, Spiel-, Tanz- und Körperpraktiken gebunden sind. Diese Praktiken des Wissens galten lange Zeit als ahistorisch und archivarischer sowie akademischer Aufmerksamkeit unwürdig. Schriftliche Texte – als Garan­ ten für historische Tatsächlichkeitsansprüche – liegen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für populäre Musikpraktiken eher in Form von Polizei­ berichten, Kleiderordnungen oder Tanzverboten vor. Freilich kann man auch aus ihnen eine Kultur- und Sozialgeschichte populärer Musik re­ konstruieren. Mit der Phonographie – so Rolf Großmann – veränderten sich dann im 20. Jahrhundert das »Begreifen« und das Verstehen jeg­ licher Formen von Musik. »Mit einem neuen Aufschreibesystem, einer technischen Notation bzw. Fixierung der hörbaren akustischen Signale, die unsere Hörpraxis, unser kulturelles Gedächtnis und nicht zuletzt die Strategien jeder auditiven Gestaltung grundlegend verändert, treten die Begrifflichkeiten der Tonkunst in den Hintergrund – und die des Sounds bzw. Klanges in den Vordergrund.«18 16 | Vgl. dazu auch Pop Sounds. Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik, hg. von Thomas Phleps und Ralf von Appen, Bielefeld 2003. 17 | Sound as Popular Culture. A Research Companion, hg. von Jens Gerrit Papenburg und Holger Schulze, Cambridge, MA 2016. 18 | Rolf Großmann: »›Sonic Fiction‹ – Zum Begreifen musikalisch-medialer Gestaltung«, in: Die Metapher als ›Medium‹ des Musikverstehens, hg. von Bernd Enders u.a. (= Osnabrücker Beiträge zur systematischen Musikwissenschaft 24), Osnabrück 2013, S. 161-172, hier S. 163.

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Klang und Klanglichkeit bzw. Sound dürfen für sich in Anspruch nehmen, als zentrale ästhetische Kategorien, ohne die die aufeinander bezogenen Praktiken populärer Musik nicht erklärbar sind, zu gelten. In­ wiefern Klang auch im Kontext populärer Musikpraktiken als Geschichts­ medium zu begreifen ist – ohne jede klangliche Hervorbringung von vornherein als geschichtsvermittelnd zu bewerten, obwohl sie selbstver­ ständlich immer von Menschen in bestimmten Situationen wahrgenom­ men, benutzt, inszeniert, gedeutet und erinnert wird – diese Frage kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Hingewiesen sei darauf, dass in den Geschichtswissenschaften selbst Popgeschichte19 und Klanglich­ keit 20 mittlerweile als relevante Bestandteile von Gesellschaft entlang der Fragen von historischer Forschung und Quellendarstellungen untersucht werden. Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf ausgewählte Ge­ schichtsdarstellungen in audiovisuellen Medien, denen also immer auch von vornherein eine klangliche Komponente eigen ist, in Form von (populären) Soundtracks in Film und Fernsehen oder Hörfunk. In Radio­ features oder Hörspielen, aber auch in fiktionalen Filmen treffen dabei verschiedene Ebenen der Klanglichkeit aufeinander: O-Töne, nicht-die­ getische Klänge, atmosphärische Klänge (Atmo), SprecherInnenstimmen und Musik. Den Fokus bilden in dieser Abhandlung nicht in erster Li­ nie Geschichten populärer Musik bzw. deren Widerhall in audiovisuel­ len Medien,21 sondern klangliche Repräsentationen des Erinnerns heute. Konkret geht es um klangliche Vergegenwärtigungen des ›Mauerfalls‹ in populärkulturellen Darstellungsformen von Hörfunk, Film und Fernse­ hen. Populäre Musik und konkrete als historisch bedeutungsvoll erachte­ te Sounds bilden dabei insofern einen Bezugspunkt, weil die Öffnung der Berliner Mauer auch als eine wichtige Voraussetzung der Entwicklung 19 | Vgl. Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, hg. von Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek, Bielefeld 2014. 20 | Vgl. z.B. Daniel Morat: »Zwischen Lärmpest und Lustbarkeit. Die Klanglandschaft der Großstadt in umwelt- und kulturhistorischer Perspektive«, in: Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2009-2010, hg. von Bernd Hermann, Göttingen 2010, S. 171-190. 21 | Vgl. dazu Susanne Binas-Preisendörfer: »Popmusikgeschichte(n) als Gegenstand filmischer Repräsentation«, in: Geschichte – Musik – Film, hg. von Christoph Henzel, Würzburg 2010, S. 209-221.

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und Durchsetzung bestimmter jugendkultureller Szenen und ihrer Mu­ sik im Deutschland der 1990er Jahre zu bewerten ist.

II. E rinnerungspolitiken Gesellschaftliche oder persönliche Jubiläen setzen Selbstvergewisse­ rungsprozesse in Gang. Ob ihrer Aktualität sind ihnen Aufmerksam­ keit und im Falle historischer Ereignisse von Rang Sendeplätze in den Medien sicher. V.a. in den Redaktionen der öffentlich-rechtlichen An­ stalten werden lange vor den konkreten Daten Dokumentationen und Sendungen in Auftrag gegeben. In ihnen werden historische Ereignisse von gesellschaftlicher Bedeutung aufgearbeitet, um sie tagesaktuell ins Gedächtnis zu rufen. Anlässlich des 25. Jahrestages des ›Mauerfalls‹ und der Wiedervereinigung wurde eine unüberseh- und unüberhörbare Fülle von kurzen und längeren Beiträgen im Rundfunk und Fernsehen pro­ duziert, die, und dies sei hier vorweggenommen, bestimmten Mustern von Erinnerungspolitiken22 folgen. Seit 1989 lassen sich, so Aleida Ass­ mann,23 auffällige politische Instrumentalisierungen von Erinnerung und Identität in den europäischen Gesellschaften beobachten. Mittels sprachlicher Kommunikation, bildhafter Darstellungen und deren rituel­ ler Verfestigung verändere sich das kulturelle Gedächtnis, das zwischen Individuen, ihrem familiären Umfeld, dem offiziellen Gedenken durch Staat und Politik sowie der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (z.B. Medien) ausgehandelt wird. Inwiefern die Muster von Erinnerungspolitik nicht allein gesellschaftspolitischen Erwartungen (v.a. dem »Gedächtnis des

22 | Aleida Assmann verwendet den Begriff der Erinnerungspolitik für die Beschreibung der verschiedenen und durchaus miteinander konkurrierenden Funktionen des kulturellen Gedächtnisses, vgl. Brigitte Meier in ihrer Rezension zu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio​ nen/235.pdf (abgerufen am 22.02.2018). Ich greife ihn hier insbesondere in seiner Funktion auf, eine gesellschaftlich erwünschte Struktur des kulturellen Gedächtnisses z.B. in audiovisuellen Medien-Produktionen zu prägen. 23 | Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

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politischen Kollektivs der Nation« und dem »kulturellen Gedächtnis«24), sondern in nicht unwesentlichem Maße auch dem Medium bzw. der Text­ sorte ihrer Re-Präsentation folgen, dem will der folgende Beitrag in erster Linie nachgehen. Dabei sollen neben Radioreportagen und TV-Dokumen­ tationen auch sogenannte Wendefilme daraufhin befragt werden, welche Rolle die klanglichen Ebenen, diegetische oder nichtdiegetische Klänge, spielen und inwiefern auch sie eine geschichtskonstruierende Qualität aufweisen bzw. als Moment der Verstärkung von Mustern gesellschaft­ lich erwünschter Erinnerungspolitiken wirksam werden. Ich interessiere mich also zunächst für die Frage, welche klangli­ chen Materialien verwendet werden und ob sich ihre Auswahl entlang der verschiedenen Medienformate (Radioreportagen, TV-Dokumentatio­ nen, Fiktionaler Film) unterscheidet und wenn ja, wie? In einem zweiten Schritt soll diskutiert werden, ob und inwiefern sich diese klanglichen Repräsentationen als Dokumente historischer Forschung eignen, so­ wohl allgemeiner zeithistorischer Begebenheiten als auch der Geschichte populärer Musik. Ich gehe davon aus, dass diese Repräsentationen eine erinnerungspolitische Perspektive herstellen und in dieser Funktion als Teil von medialen Historiographien reflektiert werden können. Befasst man sich mit klanglichen Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ angesichts seines 25. Jubiläums, macht es den Anschein, als würde diese Geschichte v.a. entlang von vier Männerstimmen erzählt: »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.« – Walter Ulbricht 25 (Berlin 15. ​ Juni 1961) »Mister Gorbatschow, tear down this wall.« – Ronald Reagan 26 (Berlin 12. ​ Juni 1987)

24 | Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 23f. 25 | Walter Ulbricht stand von 1949 bis zu seinem Tod an der Spitze des Zentralkomitees der SED, war 1950-1960 stellvertretender Ministerpräsident und von 1960­-1971 Vorsitzender des Staatsrates der DDR. In seine Regierungszeit fällt der Mauerbau im August 1961. 26 | Ronald Reagan (1911-2004) war von 1981-1989 der 40. Präsident der USA.

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»Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…« – Hans-Dietrich Genscher 27 (Prag 30. September 1989) »…nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich.« 28 – Günter Schabowski (Berlin 09. November 1989)

Selbst wer den ›Mauerfall‹ nicht unmittelbar erlebt oder sich nicht mit ihm bewusst auseinandergesetzt hat, wird diese Stimmen vermutlich kennen. Sie wurden zu sprachlichen Äußerungen im Rang klanglicher Erinnerungszeichen.29

III. K l angliche R epr äsentationen des ›M auerfalls ‹ in  K urzreportagen des H örfunks Im Wintersemester 2014/15 waren Studierende des Master of Arts Musik­ wissenschaften und des Master of Arts Integrated Media der Universität Oldenburg als Vorbereitung auf die Produktion eines eigenen Radiofea­ tures zum Thema 25 Jahre deutsch/deutsche Kulturgeschichten aufgerufen, mediale Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ zu recherchieren. Angemerkt werden muss, dass es den damals um die 25 Jahre alten Studierenden (aus Ost und mehrheitlich West) schwerfiel, jenseits der bekannten medialen Klischees Geschichten aus Ost und West zu erzählen oder zu erinnern. Die medialen Repräsentationen, die sie zu Beginn der Lehrveranstaltung selbst parat und auch rings um den 25. Jahrestag des ›Mauerfalls‹ gefun­ den hatten, bestanden aus einem begrenzten Reservoire altbekannter Ob­ jekte und Klischees: der Banane, dem Sandmännchen, der Stasi und den Puhdys.30 Interessanterweise existierten kaum Pendants dazu aus dem 27 | Hans-Dietrich Genscher (1927-2016) war von 1972-1992 Bundesaußenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. 28 | Günter Schabowski (1929-2015) war von 1981-1989 Mitglied im Zentralkomitee der SED und seit 1985 erster Sekretär der Bezirksleitung der SED und Vorsitzender der Bezirkseinsatzleitung von Berlin/Ost. 29 | Vgl. Hans-Hermann Hertle: »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten, O-Töne zum Mauerbau und Mauerfall«, in: Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, hg. von Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn 2013, S. 423-430. 30 | Bekannte Rockband aus der DDR, gegründet 1969.

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sogenannten ›Westen‹, einmal abgesehen davon, dass die Banane als Zei­ chen des ›reichen‹ Westens galt, deren Früchte man nun auch im Osten ganzjährig konsumieren konnte.31 Ein Student stellte eine Radioreportage von NDR-Info mit dem Titel 25 Jahre Mauerfall vor, die mir hier als Aus­ gangsmaterial der Recherche dient.32 Auf der Internetseite von NDR-Info findet sich folgende Beschreibung zu der Sendung, die in elf Folgen in der Zeit vom 27. Oktober bis 08. November 2014 jeweils 7:20 Uhr morgens ausgestrahlt wurde: »›25 Jahre Mauerfall: Zwei Familien – eine Geschichte‹. Wie haben Menschen in Norddeutschland die deutsche Teilung erlebt? Wie erinnern sie sich an den Mauerbau – und wo waren sie, als die Mauer fiel? 25 Jahre nach der Wende lässt NDR Info in einem Reportage-Projekt zwei Familien aus Ost und West zu Wort kommen: Familie Mayer, die in Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern lebt, und Familie Kruse, die einen landwirtschaftlichen Betrieb in Bleckede in Niedersachsen führt. In der NDR Info Serie ›Zwei Familien – eine Geschichte‹ erinnern sich Mitglieder der beiden Familien in Ost und West an die bewegende Zeit zwischen Mauerbau und Mauerfall.« 33

Für die Analyse habe ich drei Radioreportagen aus dieser Folge ausge­ wählt: die erste Der Bau der Mauer, die dritte Getrennte Familien und die neunte Der Fall der Mauer. Alle Folgen der Serie sind strukturell ähn­ lich aufgebaut: der eigentlichen Reportage ist ein ca. 22 Sekunden langer, leicht wechselnder Trailer vorangestellt, jede Folge endet mit einem ca. 31 | Der für seine politsatirischen Arbeiten bekannte Graphikdesigner und Karikaturist Klaus Staeck (von 2006-2015 Präsident der Akademie der Künste Berlin) nahm sich den oft gebrauchten Satz »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört« und illustrierte ihn mit einer Bockwurst in Bananenschale. Der Ausspruch stammt von Willy Brandt (SPD, Bundeskanzler 1969-1974), der in einem Interview den ›Mauerfall‹ mit dem Satz »Es wächst zusammen, was zusammen gehört« kommentiert hatte. 32 | Vielen Dank an Jean-Oliver Groddeck, Student des MA Musikwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 33 | Bettina Less und Carsten Vick: 25 Jahre Mauerfall: Zwei Familien – eine Geschichte, NDR Info, 09.11.2014, in: ndr.de, www.ndr.de/kultur/geschichte/chro​ nologie/Mauerfall-Zwei-Familien-eine-Geschichte,mauerfall246.html (abgerufen am 20.09.2016).

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zehn Sekunden langen Outro. Eine Folge ist ca. 3:15 Minuten kurz. V. a. in den Trailern der Folgen eins und neun stoßen wir auf die bereits erwähn­ ten häufig zu hörenden Politikerstimmen aus den Medienarchiven, die Stimmen von Walter Ulbricht, Ronald Reagan, Hans-Dietrich Genscher und Günter Schabowski. Die Trailer enthalten fünf akustische Ebenen (Spuren) und sind folgendermaßen aufgebaut: Jeder Trailer beginnt mit einer kurzen Atmo (für Atmosphäre), die in den meisten Fällen aus O-Tönen (Original-Tönen) wie z.B. »Tor auf, Tor auf« gewonnen ist. Dem schließt sich die Sprecherstimme mit der Nennung des Titels der Serie »25 Jahre Mauerfall – zwei Familien, eine Geschichte« an, gefolgt von einem O-Ton einer bekannten Politikerstim­ me, wie der von Ronald Reagan, der in einer berühmt gewordenen Rede vor dem Brandenburger Tor im Jahr 1987 sagte: »Mister Gorbatschow, tear down this wall«. Zum Ende erfolgt der Hinweis auf die interviewten ZeitzeugInnen der Familie Kruse aus Bleckede in Niedersachsen und der Familie Mayer aus Hagenow in Mecklenburg-Vorpommern. Die gesamte Sequenz ist mit einem Streicher-Arpeggio unterlegt. Die O-Töne der Politiker stammen aus Reden und Pressekonferenzen, die im Sinne einer sogenannten Atmo verwendeten Passagen zumeist aus Sprechchören von Demonstrationen. In Folge neun heißt es dann nicht mehr »Tor auf, Tor auf«, sondern »Wir sind das Volk, wir sind das Volk«, das akustische Erkennungszeichen der Leipziger Montagsdemonstratio­ nen. Als Zeugnisse bzw. Klangdokumente im Sinne von Primärquellen, die unmittelbar aus vergangenen Lebensvollzügen hervorgegangen sind, tauchen sie nicht nur in Sekundärquellen unterschiedlichster audiovisu­ eller Textsorten auf, sondern stehen heutzutage, wie auch sämtliche hier verwendeten Politikerreden, zumeist in voller Länge frei im Internet zur Verfügung. In den hier betrachteten audiovisuellen Medienformaten werden sie über ihren dokumentarischen Wert hinaus zum ästhetischen Mittel und zum Mittel der Narration und erlangen so den Status von BeZeugungen, die den Nachlebenden in medialen Inszenierungen bewusst (intentional) Kenntnisse über einen historischen Sachverhalt geben wol­ len. Dies betrifft in besonderem Maße solche Fragmente aus Politikerre­ den, die den Rang klanglicher Erinnerungszeichen erhalten haben. Atmo und O-Töne verlebendigen bzw. authentisieren das Mitzuteilende und feh­ len in nahezu keinem Reportage- oder Featureformat. Dafür sorgt nicht allein ihre historische Aussagekraft, sondern auch ihre ästhetische KlangGestalt (Tonhöhe, Betonung einzelner Worte, Syntax, Agogik, Sprech­

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geschwindigkeit, Rhythmik, Sprachmelodie), die sie aus vollständigen Mitschnitten von Pressekonferenzen oder Reden hervortreten lassen und damit mit dazu beitragen, dass sie ein Eigenleben als klangliche Ikonen einer mit Bedeutung aufgeladenen historischen Situation erhalten. Die betreffenden Politiker haben diese Passagen als Höhepunkte von Reden entweder selbst gestaltet, sprachlich-gestisch inszeniert (vielleicht trai­ niert) und ihnen bereits von sich aus eine besondere Bedeutung verliehen (Reagan). Sie können auch als ungewöhnlich erscheinen und deshalb Auf­ merksamkeit erzeugen, weil der betreffende Politiker Worte verwendet, die einer Politikerrede üblicherweise fremd sind (Ulbricht: »Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je, Je, Je und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.«). Dies passiert aber vor allem auch dann, wenn sie aus dem Muster von Politikerverlautbarungen herausfallen, z.B. Unsicherheit im Umgang mit der Situation in der Stimme erkennbar wird (Günter Schabowski: »Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. [Journalist aus dem Off: »Wann tritt das in Kraft?«] Das tritt nach mei­ ner Kenntnis, [Pause] ist das sofort, unverzüglich.«) oder weil sie Situatio­ nen auslösten, die tatsächlich von weltgeschichtlicher Bedeutung waren (vgl. Schabowski und v.a. auch Hans-Dietrich Genscher: »Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise… [Stimme geht in Beifallsbekundungen und Freudenschreien unter]«). Um zum Erkennungszeichen oder zu einem ›Klassiker der Tongeschichte‹ zu werden, müssen sie in Zeiten ubiquitärer medialer Verfügbarkeit selbst fortwährend reproduziert und damit verstärkt werden. Erinnerungsfor­ mate der historischen Selbstvergewisserung wie auch v.a. diejenigen des Histotainments tragen in besonderem Maße zu dieser Ikonisierung von klanglichen Erkennungszeichen bei.34 Offenkundig begegnen wir im gewählten Wirklichkeitsausschnitt einem begrenzten Repertoire emotional aufgeladener Klangereignisse, die – so die These – maßgeblich zur Konstruktion von Geschichte und der Bewertung bestimmter historischer Ereignisse beitragen. Die verwende­ ten O-Töne der Politiker sind dabei nahezu ausschließlich längeren Rede­ passagen entnommen. »Mister Gorbatschow, tear down this wall«, auch Ulbrichts, »niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen« oder Schabow­ 34 | Für eine historische Einordnung von Politiker-O-Tönen, v.a. auch der von Ulbricht (1961) und Schabowski (1989) vgl. Hertle: »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten«.

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skis »nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich« stellen gewisser­ maßen die im Sprechakt besonders freigestellten Artefakte dar, die sich ähnlich einem Sample oder einer Hookline in der Popmusik – bekannt v.a. aus dem HipHop – als dekontextualisierte Referenz etablieren und sowohl in der Popmusik als auch im Sprechakt eine eigene, aufmerksamkeits­ steigernde klanglich-ästhetische Gestaltqualität aufweisen, die in der per­ manenten Wiederholung gefestigt wird. In den medialen Hörpraktiken wiederum werden sie massenhaft angeeignet und damit zum verbreiteten und verfügbaren Navigationssystem von Referenz und Wiedererkennung. Kaum jemand wird sich an die vollständigen Reden oder Mitschnitte von Pressekonferenzen von Reagan und Schabowski erinnern, aus denen die bekannten Passagen herausgeschnitten wurden. Im Falle der Politikerstimmen sind akustische Erinnerungszeichen oftmals auch deshalb zu historischen Erinnerungszeichen geworden, weil sie mit dem Staub, der ›Patina‹ von Audiotechnologiegeschichte überzo­ gen sind. Diese tritt den HörerInnen der Gegenwart in der Klanggestalt ihrer technisch fixierten Aufnahmequalitäten aus der Vergangenheit ent­ gegen. Ganz so wie man einen Filmplot, der in den 1930er Jahren spielt, entsprechend szenisch visuell inszenieren wird, ist dies selbstverständ­ lich auch auf der auditiven Ebene möglich. Das auditive ›Szenenbild‹ der 1930er Jahre kann nicht allein optisch durch die visuelle Präsenz eines Grammophons oder historischen Kondensatormikrophons erzeugt wer­ den, sondern auch durch ein Klangdesign, das die audiotechnologischen Möglichkeiten der erzählten Zeit imitiert bzw. technisch nachbaut. Dies betrifft dann keineswegs nur die ausgewählte Musik und ihr Klangdesign, sondern auch das Klangdesign der Stimmen. Wir hören den Unterschied zwischen Aufnahmen aus den 1960er und den ausgehenden 1980er Jah­ ren. Diese Differenzerfahrung mittels Aufnahmequalität kann insbeson­ dere auch in audiovisuellen Medien als Möglichkeit zur historischen und emotionalen ›Datierung‹ verwendet werden. Für dieses Phänomen stehen im hier angesprochenen Zusammenhang insbesondere die Klangdoku­ mente aus Pressekonferenzen mit Walter Ulbricht, dessen Äußerungen neben seinen inhaltlichen Aspekten auch als ein mit Vergangenhaftigkeit aufgeladenes Klangobjekt präsentiert werden. Anders als zumeist im Hip­ Hop wird es nicht bearbeitet, sondern kann nur in unveränderter Form als Authentisches wahrgenommen werden und damit Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen. Im HipHop geht es um Cool- und Realness im Verhältnis zur aufgerufenen Vergangenheit, nicht um Wahrhaftigkeit.

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Die Stimme von Ulbricht hatte für sich genommen einen bemerkens­ werten Sound (hochfrequente Fistelstimme mit einem leichten sächsi­ schen Akzent) und war schon zu DDR-Zeiten mehr oder minder offenem Spott und Witzeleien ausgesetzt. Ulbrichts äußeres Erscheinungsbild (ein kleiner Mann mit Spitzbart) und seine Stimme bildeten gewisser­ maßen eine Einheit. Und so verwundert es nicht, dass v.a. eine seiner sprachlichen Äußerungen den Rang eines klanglichen Erinnerungszei­ chens erhalten und auch in der Radioreportage 25 Jahre Mauerfall – zwei Familien, eine Geschichte Eingang gefunden hat. In Folge drei Getrennte Familien wird Ulbricht mit folgendem O-Ton referiert: »ist es denn wirk­ lich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen? [kurze Pause] Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je, Je, Je35 und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen.« In der be­ treffenden Folge geht es um die von vielen westdeutschen Familien in den Osten geschickten Pakete und Päckchen in Reaktion auf die ökono­ misch und politisch motivierte Situation in der DDR, in der bestimmte v.a. bei Jugendlichen beliebte Konsumprodukte, wie Jeans und Kosmetik­ artikel nicht hergestellt oder importiert wurden bzw. aus ökonomischen und auch politischen Gründen werden konnten. Für die Radioreportage werden erstens die von Ulbricht geäußerten Worte bzw. Sätze umgestellt und zweitens ihres Originalkontextes weitestgehend entkleidet. Im Ori­ ginal hieß es »Ich denke Genossen, mit der Monotonie des Je, Je, Je und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen. [kurze Pause] Ist es denn wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, kopieren müssen? [kurze Pause] Mich interessiert die Hauptfrage: Wem nützt was? […].«36 Eigentlich stellen diese Sätze einen insbesondere für die Musik­ politik folgenreichen Kommentar zur Beatmusik der 1960er Jahre dar. Ulbricht hatte sie auf dem XI. Plenum des ZK der SED 1965 formuliert. Dabei bezog er sich auf die damals in Folge des internationalen BeatlesErfolges zahlreich gegründeten Gitarrengruppen, v.a. aber auf beliebte Kleidungsstile, Frisuren und jugendliches Verhalten, die, so sah es die 35 | »Je, Je, Je« spricht Ulbricht den sich auf den Beatles-Song »She loves you, yeah, yeah, yeah …« beziehenden Ausruf aus. Hörbar ist ein leichter sächsicher Akzent bzw. Dialekt. Walter Ulbricht war in Leipzig geboren. 36 | Walter Ulbricht: »Stenographisches Protokoll der Rede des XI. Plenums des ZK der SED«, SAPMO-Barch, DY 30/V2/1/190, nachzuhören unter https://www. youtube.com/watch?v=Q55mQpAGNMc (aufgerufen am 21.02.2018).

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Parteiführung der SED, zersetzende Momente (aus dem Westen) mit sich brachten, weil die Ideale der fortwährend proklamierten sozialistischen Persönlichkeit nicht als die erstrebenswerten artikuliert wurden. Noch 1964 wurde die Beatles-Single She loves you (weiter heißt es in den Lyrics: yeah, yeah, yeah) auch in der DDR als AMIGA Lizenz37 verkauft. In Folge des XI. Plenums des ZK der SED erfolgten Verbote von sogenannten Beat­ gruppen, v.a. aber staatliche Maßnahmen der Regulierung ihres öffent­ lichen Auftretens,38 die bis zum Ende der DDR wirksam waren, wie z.B. eine Tanzmusikverordnung, in der es hieß: »Wer als Laienmusiker oder nebenberuflich tätiger Musiker in öffentlichen Veranstaltungen Tanzmu­ sik ausüben will, bedarf einer staatlichen Spielerlaubnis.«39 In der Serie des Norddeutschen Rundfunks 25 Jahre Mauerfall wird Ulbrichts Rede als O-Ton benutzt, ohne dass in der entsprechenden Passage eine direkte Re­ ferenz zur populären Musik dieser Jahre hergestellt würde. Aus dem Kon­ text gerissen, wird sie als verbale Atmosphäre für die im Osten versagten Konsumfreuden verwendet. Der leichte sächsische Akzent kann zudem als unterbewusste Brücke zu aktuellen Problemen in und mit den neuen Bundesländern wahrgenommen werden. In Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen verzeichnet die AfD (Alternative für Deutschland) seit Mit­ te der 2010er Jahre erhebliche Stimmenzuwächse, zieht 2014 erstmals in den Landtag von Sachsen ein und wird 2017 bei der Bundestagswahl, wenn auch hauchdünn, stärkste Partei in Sachsen.

IV. K l angliche R epr äsentationen des ›M auerfalls ‹ in  F ernsehdokumentationen In den Jahren 2014 und 2015 wurden im Auftrag öffentlich-rechtlicher Sender mehrere Fernsehdokumentationen zum Thema Populäre Musik und Wende produziert. Sie befassen sich mit den Auswirkungen dieser historischen Ereignisse auf Genres, Akteure, Orte und Ereignisse von Popmusikkultur in Deutschland. Als besonders interessiert zeigten sich 37 | Siehe dazu Fußnote 2. 38 | Vgl. Michael Rauhut: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964-1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993. 39 | Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik vom 01.11.1965, Gesetzblatt II, Nr. 112, S. 777, siehe auch Fußnote 4.

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hier die deutsch-französische Rundfunkkooperation Arte und der West­ deutsche Rundfunk WDR mit Sitz in Köln. Im Zentrum dieser hier nur kurz analysierten Dokumentationen stehen Zeitzeugen, die geboren und zunächst aktiv in jeweils einem der bis zum ›Mauerfall‹ getrennten Teile Deutschlands waren und unmittelbar davor und danach zu Protagonisten der Popmusikkultur werden sollten. Die Narration ähnelt der der Radio­ reportage des NDR 25 Jahre Mauerfall – zwei Familien, eine Geschichte: 25 Jahre ›Mauerfall‹ – zwei Systeme, eine Zukunft. In der 2014 von Arte produzierten Dokumentation Party auf dem Todesstreifen – Soundtrack der Wende 40 kommen v.a. Techno-DJs ›der ersten Stunde‹, d.h. diejenigen zu Wort, die in der unmittelbaren Wendezeit als DJs und Partyveranstalter aktiv waren und sich einen Namen machen sollten. Sie bringen den ›Mauerfall‹ in einen unmittelbaren Zusammen­ hang mit der Entwicklung der Berliner Clubkultur und ihrer damals er­ folgreichen Genres Acid House und Big Beat. Insbesondere der Ostteil der Stadt Berlin kann als Mekka der Techno- und Clubkultur der frühen 1990er Jahre in Deutschland bezeichnet werden, neben den Städten Köln und Hamburg, die v.a. angesichts stadtpolitischer Veränderungen (Ab­ wanderung der großen Industrien, Schließung von Fabriken und Hafen­ anlagen) über umfangreichen Leerstand verfügten, in denen sich neue kulturelle Praktiken zwischen Sub-, Jugend- und Eventkultur ihre Räume suchten. Für Berlin stellte sich diese historische Konstellation in einer besonderen Ausprägung dar: der Sonderstatus des alten Westberlin (hier insbesondere die Fülle von vergleichsweise preiswertem Wohnraum, eine subkulturelle Szene mit internationaler Ausstrahlung, teils hochsub­ ventionierte kulturell-künstlerische Aktivitäten, die vielen Rundfunksta­ tionen und v.a. junge Männer, die dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland den Rücken zugewandt hatten, da man in Westberlin keinen Wehrdienst leisten musste) traf auf die ebenso besondere Situation im östlichen Teil der Stadt Berlin. Die beide Stadthälften trennenden und zugleich verbindenden Brachen des Mauerstreifens, auf ihm befanden sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr genutzte Fabri­ ken, Kaufhäuser oder Elektrizitätswerke, wurden, solange die rechtlichen Verhältnisse nicht geklärt waren, von kulturell Aktiven aus beiden Hälf­ ten der Stadt besetzt und nach dem Muster des Chicagoer Warehouse zu 40 | Grundlage für den Film bildet das Interview-Buch von Felix Denk und Sven von Thülen: Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende, Berlin 2012.

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Clubs gemacht, in denen sich an den Wochenenden Hunderte begeister­ te Techno-Tänzer trafen. In dieser Zeit öffneten die bald weit über die Stadt hinaus bekannten Techno-Clubs ihre Türen, wie der Tresor, das EWerk oder das WMF. Diese Namen beziehen sich auf konkrete Orte, ihre ursprüngliche Funktion oder die Namen der ehemaligen Besitzer und Unternehmer. Sie wurden als Räume im unmittelbaren materiellen Sinn, aber auch als soziale und kulturelle Orte zu Aktionsfeldern der Nachwen­ demusikkultur, die eine hohe Anziehungskraft für Berliner Jugendliche, aber auch für Jugendliche aus dem ganzen Bundesgebiet und darüber hinaus entwickeln sollte. Zugleich wurden sie zu Marken der Clubkultur im kommerziellen Sinne, zu Unternehmen, die nicht nur eigene Clubs, sondern auch eigene Tonträger produzierten und vertrieben und nicht zu­ letzt das Interesse von Sponsoren v.a. aus der Getränkeindustrie auf sich zogen, d.h. immer auch auf der Suche nach einem wirtschaftlich erfolg­ reichen Geschäftsmodell waren. Die Dokumentation Party auf dem Todesstreifen – Soundtrack der Wende 41 (das Wort Todesstreifen bezieht sich hier auf die Mauertoten und die Unüberwindbarkeit der Berliner Mauer) ist nach dem Muster eines Groß­ teils gegenwärtiger Fernsehdokumentationen gestaltet.42 Historische Bil­ der (in der hier interessierenden Szene die Nacht des 9. November, Grenz­ übergang Bornholmer Straße, Regenverhangene Nacht, Trabbi-Kolonnen überqueren im Schritttempo die Bornholmer Brücke, Grenzpolizisten) werden mit Interviews von Zeitzeugen aus der Techno-Szene geschnitten. Bevor Dokumentaraufnahmen von der Nacht des 9. November zu sehen sind und ProtagonistInnen mit ihren Erinnerungen an diese Nacht zu Wort kommen, berichten sie von Mitschnitten von einer Radio-Sendung des SFB Jugendsenders Radio for You: »neue elektronische Tanzmusik, Acid House«, so die Sprecherin der Dokumentation, unter ihrer dunklen Stimme ein entsprechender Track. Ein DJ aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt berichtet, dass er sich daran erinnern könne, dass »durch dieses ständige Hören, was da passiert, war bei mir so der Gedanke präsent, die DDR verlassen zu müssen«. Die DJs oder Partyveranstalter werden zu 41 | Party auf dem Todesstreifen – Soundtrack der Wende, Regie: Rolf Lambert, Deutschland, arte 2014. 42 | Vgl. v.a. die TV-Sendung ZDF History, die nach Angaben des Senders Zeitgeschichte hautnah erlebbar macht. Die Produktionen werden seit dem Jahr 2000 wöchentlich ausgestrahlt und in der ZDF-Mediathek online zur Verfügung gestellt.

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Hause oder im Studio vor ihren Lautsprechern oder bunt gepflasterten Plakatwänden gezeigt, diese Sequenzen bleiben ohne Musik. Eine Zeit­ zeugin erzählt vor einer mit Graffiti übersprühten Ruine, »Das ging vie­ len so, dass die Musik eine treibende Kraft war, […] uns war allen klar, dass wir irgendwann weg sind, jeder hat immer gesagt, ich bin hier nicht der Letzte, der das Licht ausmacht, das war so ein Spruch«. Zwischen den Interviews gibt es weite Kameraschwenks über die Stadt Berlin, zunächst ist der Fernsehturm (ein Wahrzeichen des Ostteils der Stadt), später die Siegessäule (ein Wahrzeichen des Westteils der Stadt) zu sehen. Interes­ sant ist eine Einstellung, in der die Fassade des ehemaligen Centrum-Wa­ renhauses am Alexanderplatz (Ostteil) gezeigt wird, die in ihrem Design aus den 1970er Jahren zum Referenzpunkt des Interieurs vieler Clubs der 1990er Jahre wurde, wie auch die Kleidermode aus den 70ern von der neuen Jugendkultur angeeignet werden sollte. Die klangliche Ebene wird von Acid-Tracks und kurzen Einspielern dominiert, die das Klangbild der damaligen Zeit v.a. in seiner Abwendung von der Song- hin zur Track­ struktur als maßgebliches Zeichen elektronischer Tanzmusik aufgreifen. Den dramaturgischen Höhepunkt der Dokumentation bilden, wie weiter oben bereits angedeutet, Bilder der Maueröffnung. Wir sehen das nächt­ liche Berlin, den Grenzübergang Bornholmer Straße, Scheinwerfer von Trabbis, Grenzpolizisten, die teilnahmslos dem Strom der Grenzgänger­ Innen folgen, kurz erscheint im Bild auch die Pressekonferenz mit Gün­ ter Schabowski, der mit den O-Tönen »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Ver­ wandtschaftsverhältnissen beantragt werden, die Genehmigungen wer­ den kurzfristig erteilt […].« zitiert wird. Im Interview erinnert sich einer der Zeitzeugen, »die Mauer ist offen und irgendwie scheint das ja ziemlich chaotisch zu sein, und wenn wir in den Westen wollen, dann heute. […] dann kamen wir da an am Grenzübergang und irgendwo da ganz hinten war der Grenzübergang, und da haben wir es so wie wir es in der Diskothek gelernt haben vorgedrängelt [lacht] und dann waren wir halt noch am 9. November im Westen.«

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In der Dokumentation B-Movie – das wilde Westberlin (arte 2015)43 kom­ mentiert der Mitautor der Sendung, der britische Musiker, Musikprodu­ zent und Labelbetreiber Mark Reeder, der bereits 1978 von London nach Westberlin gezogen war, die Bilder der Berliner Loveparade mit folgenden Worten: »Die Zukunft begann hier und jetzt, am 1. Juli 1989 versammelten sich fast 100 Raver auf dem Kudamm und verwandelten ihn in einen Dancefloor. [Pause] Dr. Motte, der Erfinder der Loveparade ahnte genauso wenig wie wir, dass ein paar Jahre später über eine Million Raver aus aller Welt zu diesem Mega-Event nach Berlin strömen würden. Westbams Karriere nahm hier mächtig Fahrt auf. Er hatte bald seinen eigenen Truck und komponierte jedes Jahr die neue Hymne. [Pause] An diesem regnerischen Samstag ahnte auch ich nicht, was nur vier Monate später geschah. [Pause] Unser Aufruf zu mehr Freiheit blieb nicht unerhört und hatte dramatische politische Konsequenzen, die die Stadt und die Welt total veränderten.«

Die Szene endet mit Bildern vom Auftritt David Hasselhofs zur Silvester­ feier 1989/1990 vor dem Brandenburger Tor. Hasselhof singt den Song Looking for Freedom, von dem sich hartnäckig der Mythos hält, er hätte den Fall der Mauer mit herbeigeführt.44 Tatsächlich verkaufte sich der Tonträger in jenem Sommer 1989 in Deutschland 500.000 Mal und wur­ de für viele damals zum frei- oder unfreiwillig gehörten Soundtrack der Wende. In den Radiostationen wurde er »rauf- und runter« gespielt. Ree­ der unterlegt seine Erklärungen zur Loveparade (Motto der ersten Love­ parade, Nennung wichtiger Akteure wie Dr. Motte und Westbam) und Originalbilder der Loveparade (Raver, Kuhdamm, VW-Busse als Vorläufer der späterhin verwendeten großen Trucks auf den Umzügen) mit zurück­ haltenden elektronischen Sounds in der damaligen Ästhetik elektroni­ scher Dancemusic. Anders als für die Protagonisten der TV-Dokumentation Party auf dem Totesstreifen – Soundtrack der Wende werden in der von arte und Reeder 43 | B-Movie – das wilde Westberlin der 80er Jahre, Regie: Jörg A. Hoppe, Heiko Lange, Klaus Maeck, Mirjam Dehne, 2014/15. 44 | Lea Kosch: »30 Jahre ›Looking for Freedom‹«, in: NEON, 19.02.2018, https://www.stern.de/neon/heimat/david-hasselhoff--warum-mich--lookingfor-freedom--seit-meiner-geburt-begleitet-7867026.html (abgerufen am 27.02.​ 2018).

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produzierten Version die ›wilden‹ Jahre und Verhältnisse im alten West­ berlin – die besetzten Häuser, die Kneipen in Kreuzberg und v.a. die Punkszene in ihrer Mischung aus Bohemiens, Wehrdienstverweigerern und KünstlerInnen – zum Gründungsmythos. Ist es für die Produzenten von Party auf dem Todesstreifen Techno und elektronische Musik, sucht Reeder eine Genealogie von Punk und elektronischer Musik herzustel­ len. Nicht nur einmal ist er selbst im Bild bzw. in der Dokumentation zu sehen. Er referiert und schreibt sich damit als Akteur und Zeuge selbst in die Geschichte ein. Als drittes Beispiel soll eine vom WDR 2015 unter dem Titel Soundtrack Deutschland produzierte Dokumentation nicht unerwähnt bleiben. Präsentiert wird in drei aufwendig gestalteten Folgen (Mix aus dokumen­ tarischem Material, fiktionalen Szenen sowie Moderationen und Kom­ mentaren von Axel Prahl und Jan Joseph Liefers) ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte musikkultureller Szenen in der DDR und der BRD vor und nach der Wende von den beiden aus dem Münsteraner Tatort bekannten Schauspielern. Prahl und Liefers sind selbst Akteure der ak­ tuellen Popmusikkultur, haben eigene Bandprojekte. Im Zentrum der Darstellung der Dokumentation stehen Musiker und Musikerinnen aus Ost und West und ihre jeweiligen erfolgreichen und so ins mediale und kulturelle Gedächtnis eingegangenen Songs. Die ARD labelt die Sendung als Dokutainment-Format, und die Erklärungen zur Sendung spielen mit der bekannten Metapher, »dass nun zusammenwächst, was zusammen­ gehört«:45 »Unter die feiernden Menschen in Ostberlin haben sich zwei Beobachter gemischt: Jan Josef Liefers und Axel Prahl. Das ›Tatort‹-Duo ist nun mit einer neuen Mission betraut: Sie sollen die gemeinsame DNA von Musikfans und Musikern in Ost und West aufspüren«.46 Mit der bio­ logistisch-kriminalistischen Metapher der DNA47 dürfte der, wenn auch ein wenig ironisch gemeinte, Anspruch formuliert sein, dass die Sen­ dung den wirklichen Geschehnissen auf die Spur kommen werde. Das allgemein bekannte Bild der Doppelhelix, einer doppelten miteinander 45 | Vgl. Fußnote 33. 46 | ARD: »Soundtrack Deutschland – Liefers und Prahl ermitteln«, 02.06.2015, www.daserste.de/specials/ueber-uns/soundtrack-deutschland-liefers-undprahl-ermitteln-aktuelle-meldungen-02072015-100.html (abgerufen am 30.09.​ 2016) 47 | Die DNA enthält die Erbinformation lebender Zellen und Organismen.

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verbundenen Windung, naturalisiert das Gemeinsame von Ost und West bzw. ihren Musikkulturen. Hierbei handelt es sich offenkundig um eine mediale Maßnahme, die ›Mauer in den Köpfen einzureißen‹, weil sie gar nicht vorhanden sein könne. Die Szene des ›Mauerfalls‹ – man sieht eine dokumentarische Aufnahme, wie in der Nacht vom 9. zum 10. November Trabbis mit heruntergekurbelten Seitenscheiben im Schritttempo durch ein Spalier klatschender Menschenmassen an der Westberliner Gedächt­ niskirche fahren – ist musikalisch durch das Nina-Hagen-Cover des be­ rühmten Schlagers Ich weiß es wird einmal ein Wunder gescheh’n von Zarah Leander unterlegt.48 Diese Szene wird zugleich auf die Mattscheibe eines Fernsehers in eine fiktive Westberliner Kneipe übertragen, in der zwei Männer, der Barkeeper und ein Besucher das Geschehen eher verhalten verfolgen. Nachdem aus dem Cover-Song die Worte »Wir haben beide denselben Stern und dein Schicksal ist auch meins« kaum hörbar erklin­ gen, wird das Lied langsam ausgeblendet. Der Barmann gießt dem sehr skeptisch dreinblickenden Gast einen letzten Schnaps ein, der murmelt leise: »Jetzt kommt die ganze Scheiße zu uns herüber«. Prahl kommen­ tiert aus dem Off, »ja, so kann man das auch sehen«, Antwort Liefers (beide in glitzernden schwarzen Anzügen und je einem Sektglas in der Hand): »das ist sicherlich ein bedauerlicher Einzelfall, die große Anzahl der DDR-Bürger sah der Wiedervereinigung durchaus optimistisch ent­ gegen.« Prahl: »Das böse Erwachen kam erst hinterher«. Die Szene in der Kneipe referiert eine Szene aus dem Film »Herr Lehmann«, in dem eine skurrile Gemeinschaft von Westberliner KneipengängerInnen ähn­ lich skeptisch der Öffnung der Mauer entgegentrinkt. Der Film geht auf spielerische Weise mit verschiedenen Sichtweisen und ihrer Erinnerung daran um und erzählt eher en passant die Geschichte der west- und ost­ deutschen populären Musik entlang von durch die ZuschauerInnen im Vorfeld per Voting zusammengestellten Hitlisten. Zusammenfassend muss man sagen, dass die klanglichen Repräsen­ tationen des ›Mauerfalls‹ im deutschen Fernsehen einerseits den Grün­ dungsmythen der jeweils repräsentierten Musikszenen folgen (arte) und andererseits ihr Zielpublikum adressieren (arte und WDR). Ist für Mark Reeder in der Dokumentation B-Movie – das wilde Westberlin der 80er Jahre Techno die Fortsetzung von Punk mit elektronischen Mitteln, stellt sich 48 | Bekannter deutscher Schlager, ursprünglich aus dem NS Propagandafilm Die große Liebe (1942), Musik: Michael Jary, Text: Bruno Balz.

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für die späterhin kommerziell sehr erfolgreichen Betreiber der Berliner Wendeclubs (Tresor, WMF oder E-Werk) und der Loveparade der ›Mauer­ fall‹ als entscheidende Voraussetzung für die Explosion einer speziellen Berliner Partykultur dar. Von dort aus entwickelt sich das Narrativ einer wieder auferstehenden Kulturmetropole Berlin. Keine Tourismusbro­ schüre kam in den 1990er Jahren ohne ein Foto von der Loveparade aus. Heute locken Führungen Touristen aus der ganzen Welt zu den Schau­ plätzen der frühen Berliner Clubkultur und abertausende in die neuen Clubs, weil die alten (Tresor, E-Werk, WMF) längst hochpreisigen Büround Wohnhäusern weichen mussten.

V. K l angliche R epr äsentationen des ›M auerfalls ‹ in  K inofilmen Für das Kino sind in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends Spiel­ filme gedreht und produziert worden, die als sogenannte Wendefilme be­ zeichnet werden. Einige besonders erfolgreiche und mit Ehrungen deko­ rierte (Good bye Lenin,49 Herr Lehmann,50 Das Leben der Anderen51) sollen in Bezug auf klangliche Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ abschließend schlaglichtartig vorgestellt werden. Entlang der Stoff- und Figurenge­ schichte wird der ›Mauerfall‹ in den genannten drei Filmen zu einem zentralen Narrativ und er wird stets musikalisch und/oder klanglich be­ gleitet. Am wenigsten auffällig bleibt die Ton- bzw. Klangspur im Film Good bye Lenin aus dem Jahr 2006. Während eines Konzerts mit sinfo­ nischer Musik vor dem Rathaus Berlin-Schöneberg wird der Redner dort von einer Menschenmenge übertönt. Als besonders interessant – für den Zusammenhang dieser Fragestel­ lung – erweist sich der Film Das Leben der Anderen aus dem Jahr 2006. In einer Schlüsselszene des Films sieht man die Hauptfigur Hauptmann Gerd Wiesler, gespielt von Ulrich Mühe, beim Aufdampfen von Briefen, einer Praxis der Staatssicherheit, um den Schriftverkehr von Menschen quasi unentdeckt auszuschnüffeln. Dazu erklingen klagende, im Gestus an eine romantische Sinfonie erinnernde Streicherakkorde, die im Lau­ 49 | Good bye Lenin (2006), Regie: Wolfgang Becker. 50 | Herr Lehmann (2003), Regie: Leander Haußmann. 51 | Das Leben der Anderen (2006), Regie: Florian Henckel von Donnersmarck.

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fe der Szene an tiefen Frequenzen verlieren und flirrend die Spannung steigern. Hauptmann Wiesler ist beim Briefeaufdampfen nicht allein, in einem dunklen Raum, an einem Tisch hinter ihm, geht ein weiterer Mit­ arbeiter der Staatssicherheit der gleichen Tätigkeit nach. Dieser verfolgt über Kopfhörer die Nachrichten und teilt Wiesner mit, dass die Mauer offen sei. Wiesner dreht sich entgeistert und mit steinerner Miene nach hinten. In diegetischer Perspektive, also durch einen Filmklang, der von Objekten oder Akteuren in der erzählten Welt des Films erzeugt wird, werden Akteure und ZuschauerInnen des Films Zeuge einer akustischen Szenerie, die eine Situation an einem der Grenzübergänge auditiv nach­ stellt. Im Bild bleiben die beiden Mitarbeiter der Staatssicherheit. Der hinter Wiesel sitzende Mitarbeiter reicht Wiesel den linken der kleinen Kopfhörer. Aus dem Off zu hören ist eine männliche Stimme, die in Freu­ denbekundungen unterzugehen scheint: »Die Grenzer öffnen tatsächlich die Tore. Die Freude ist unermesslich. Hören sie den Jubel. Die Menschen stürmen zu Tausenden heraus. Es ist unglaublich. Ja, liebe Zuhörer, der 9. November 1989 wird in die Geschichte eingehen. Vor mir steht eine junge Familie [anschwellende Streicher] …).« Die Streicher der Filmmusik schwellen an und finden zu einem Schlussakkord. Wiesel wendet sich erstarrt wieder nach vorn und schweigt. Er steht am Scheideweg seines Lebens. Diese Szene ist mit viel Bedacht in ihren unterschiedlichen akus­ tischen Ebenen gestaltet: sprechender Mitarbeiter, schweigender Prota­ gonist, diegetische Musik aus dem Radio über Kopfhörer, schließlich die rahmenden Streicher. Die doppelte Medialität unterstreicht ihre Bedeu­ tung als Schlüsselszene des Films, v.a. weil sie mit einer Klangspur arbei­ tet, die aus den Medienarchiven bekannt ist und zugleich zur Erfahrungs­ realität einer nicht geringen Zahl des Filmauditoriums gehört. Hier wird eine Klangikone zu hören gegeben, referiert und gerahmt, die sowohl zum individuellen Gedächtnis, v.a. aber zum kulturellen Gedächtnis Deutschlands gehört und darüber hinaus zu einem Zeichen wurde, das in der Verbindung von Erfahrungsrealitäten und Erinnerungsklischees (Stasi) auch in internationalen Zusammenhängen reüssieren konnte. Die akustische Szenerie der Maueröffnung, deren Zeuge Hauptmann Wiesner während des Briefeaufdampfens wird, verwendet keine O-Töne im weiter oben angesprochenen Sinne. Die Ton- bzw. Klangspur ist hier fiktional, bündelt aber einem Brennglas gleich das medial konstruierte Wissen zum ›Mauerfall‹.

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Der Film Das Leben der Anderen gilt als einer der ersten sogenannten Wendefilme, die sich nicht auf komödiantische, sondern auf ernsthafte Weise dem Thema anzunähern suchen. Er erhielt den Deutschen, den Bayrischen und den Europäischen Filmpreis wie auch einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Die Filmkritik fand viel Lob für den Film, unter Filmschaffenden und FilmwissenschaftlerInnen ist er jedoch nicht unumstritten, auf der Berlinale 2006 wurde er nicht gezeigt. Eve­ lyn Finger sieht in dem Film eine »Parabel über die Unmöglichkeit, sich vor den politischen Verhältnissen in einer Nische der Wohlanständigkeit zu verschanzen«,52 wohingegen Claus Löser53 in einer Kritik für die taz trotz der differenzierten Perspektive seine Hoffnung auf eine klischee­ freie Analyse der DDR nicht bestätigt findet, das Thema für ihn »auf das Niveau einer schmierigen Hintertreppen-Intrige« falle und mit der »volkseigene[n] Nutte […] das Ganze endgültig zum politisch verbrämten Herrenwitz«54 verkomme. Drei Jahre zuvor (2003) kam die unter Regie von Leander Haußmann verfilmte Tragikomödie Herr Lehmann des Element of Crime Sängers Sven Regener in die deutschen Kinos, in den Hauptrollen Christian Ulmen als Herr Lehmann und Detlef Buck als Lebenskünstler Karl. Am Ende des schönen schrägen Lebens im Westberlin der 1980er Jahre steht der ›Mau­ erfall‹, der zugleich die letzte Szene des Films bildet (siehe auch die fik­ tionale Szene in der Dokumentation Soundtrack Deutschland, WDR 2015). Nahezu abwesend bewegt sich Herr Lehmann zwischen den wogenden Mengen durch die Nacht vom 9. zum 10. November 1989. Die Musik, I will survive55 der amerikanischen Alternative Rockband Cake wirkt dabei wie eine Hymne der Gleichgültigkeit. Es hätte wohl keinen treffenderen als diesen Soundtrack geben können, die diffusen Emotionen der in den

52 | Evelyn Finger: »Die Bekehrung – ›Das Leben der Anderen‹: Florian Henckel von Donnersmarck setzt mit seinem Film über die DDR Maßstäbe«, in: ZEIT ONLINE, 23.03.2006, www.zeit.de/2006/13/Leben_der_anderen (abgerufen am 30.09.2016). 53 | Claus Löser ist 1962 in Karl Marx Stadt (DDR), heute Chemnitz, geboren und arbeitet heute als Filmhistoriker und Fachjournalist. 54 | Claus Löser: »Wenn Spitzel zu sehr lieben«, in: taz, 22.03.2006, S. 16. 55 | https://www.youtube.com/watch?v=7K JjVMqNIgA (abgerufen am 30.09.​ 2016).

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Romangestalten von Sven Regener verkörperten ›Helden‹ und ihre tra­ gischen und zugleich komischen Charaktere auditiv zu kommentieren. Angesichts der von mir ausgewählten Beispiele und auch in Hinblick auf die eingangs vorgenommene Positionierung (vgl. Vorbemerkung I) will ich versuchen, die im Rahmen dieser Publikation gestellte Frage da­ nach, ob sich Klang als Geschichtsmedium eignet, abschließend schritt­ weise zu beantworten.

VI. F a zit Zunächst kann konstatiert werden, dass sich in allen hier betrachteten audiovisuellen Medienformaten Klang als ein unentbehrliches Medium zur Repräsentation des ›Mauerfalls‹ erwiesen hat. Verwendet werden v.a. bekannte Stimmen aus den Medienarchiven, die wiederholt benutzt und inszeniert werden. Dabei findet tendenziell eine Reduktion auf die im­ mer gleichen Klang-Ikonen statt, die als klangliche Erkennungszeichen wahrgenommen werden (können). So ergibt sich eine eher vereinfachen­ de Darstellung einer komplexen historischen Situation. Als Erinnerungs­ material besteht die Funktion der identifizierten Klang-Ikonen darin, die Konstruktion einer bestimmten kulturellen und gesellschaftlich akzep­ tierten Identität im Sinne von Erinnerungspolitiken zu befördern. Die­ ser Zusammenhang tritt insbesondere in populären medialen Inszenie­ rungen der historischen Rückblicke hervor. In der Einleitung zum Band DDR – erinnern, vergessen, in dem es um das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilmes vor und nach der sogenannten Wende geht, betonen die HerausgeberInnen, dass populäre mediale Konstruktionen, und das Gros der hier analysierten audiovisuellen Produktionen zählt dazu, eine überschaubare Argumentation und starke Begriffe anbieten. »Dies produ­ ziert jedoch auch Konfliktlagen, die nicht allein – wie für die Konstruktio­ nen des kulturellen Gedächtnisses generell üblich – auf dem politischen Standort basieren, von dem aus erinnert wird, […].«56 Gemeint ist eine spezifische Erinnerungsdifferenz, die je nach Erfahrungshintergrund »die gängige[n] Konstruktionen des medialen Gedächtnisses häufig als zu arm, zu wenig komplex oder die eigenen, spezifischen Erfahrungen 56 | DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms, hg. von Tobias Ebbrecht, Hilde Hoffman und Jörg Schweinitz, Marburg 2009, S. 13.

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nicht wirklich treffend […], als Blick von außen [empfinden lässt]«.57 So begegnet man v.a. in der Radioreportage griffigen Schemata, die von einer ritualisierten Selbstgewissheit getragen sind, die vermutlich nicht jeder Hörer und jede Hörerin im Jetzt teilt. Als Gestaltungsprinzipien domi­ nieren Wiederholungen, Dekontextualisierungen und Zuspitzungen. Die Radioreportagen von NDR-Info wurden frühmorgens um 7:20 Uhr gesendet. Als Teil des Frühstücksprogrammes hörte man sie nebenbei, nicht konzentriert. Fragmentarisches Hören kann den einzelnen Details nicht folgen. Wahrgenommen bzw. wiedererkannt werden möglicherwei­ se allein die Trailer und einzelne Passagen der interviewten Zeitzeugen. Das hängt von den Interessen der Hörenden und in sehr entscheidendem Maße von der Hörsituation ab. Im Resultat kann dies zum Überhören von Schemata, aber auch zur Verfestigung derselben führen. Wendet man sich eher den TV-Dokumentationen und den Spielfilmen zu, ist davon auszugehen, dass das Maß an Konzentration auf die Sendung bzw. den Film steigt. Die klangliche Ebene bleibt dabei jedoch eine von mindestens drei weiteren, dem Bild, der Narration und den eigenen Erinnerungen, die im Moment des Sehens und Hörens vergegenwärtigt werden. Inso­ fern können v.a. die diskutierten TV-Dokumentationen auch als mögliche Bestätigung der eigenen musikkulturellen Sozialisation wahrgenommen und rezipiert werden, was in den entsprechenden Online-Kommenta­ ren58 Bestätigung findet. Es wird historisches Wissen aufgerufen, dass nur dann als solches erkannt und eingeordnet werden kann, wenn es mit eigenen Erfahrungen verknüpft wird. Andernfalls werden sie vermutlich eher als Spektakel aus einer längst vergangenen Zeit wahrgenommen. Da jedoch davon auszugehen ist, dass die wenigsten ZuschauerInnen eigene musikkulturelle Erfahrungen zum konkreten Thema (Clubkultur Berlins, Entwicklung von Techno) mitbringen, muss auf medial konstru­ iertes Hörwissen zurückgegriffen werden. In diesem Kontext gedeihen gesellschaftliche und musikkulturelle Gründungsmythen, die zugleich historisches Wissen generieren und reproduzieren. Aussagen zur Bedeu­ tung von Klang als Geschichtsmedium können deshalb weniger durch die Analyse der Klangbeispiele, als durch die Analyse der Narrative, in 57 | Ebd., S. 14. 58 | Fresh Meat: »Arte-Doku. Party auf dem Todesstreifen«, 28.07.2014, https:// www.berlin-mitte-institut.de/arte-doku-party-auf-dem-todesstreifen/(abgerufen am 27.02.2018)

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denen sie inszeniert sind, erlangt werden. Die Beantwortung der Fra­ ge, wie die hier angesprochenen Klänge wahrgenommen und zum Ver­ mittler von Geschichte werden, muss also sowohl entlang der einzelnen medialen Formate bzw. medialen Textsorten erfolgen, als auch in Bezug auf ihre Funktion als Erinnerungsmaterial in einem Rezeptionsfeld, das durch Erinnerungsdifferenzen gekennzeichnet ist. Die Frage danach, wie Klang als Teil einer historischen Erzählung wahrgenommen wird, be­ darf also auch der Klärung der Frage, welche Subjekte eine je historische Erzählung wahrnehmen. Für heute 25-Jährige handelt es sich in Bezug auf klangliche Repräsentationen des ›Mauerfalls‹ um historische Erzäh­ lungen aus einer nicht erlebten Zeit, die sie aus Geschichtsbüchern, aus Erzählungen der älteren Generationen und als auf Klischees reduzierte mediale Narrative und Klang-Ikonen kennen. Für jemanden, der heute doppelt so alt ist, handelt es sich um historische Erzählungen aus der eigenen ›bewegten‹ Jugend. Sozialpsychologen gehen davon aus, dass in modernen Gesellschaften insbesondere Begebenheiten aus der Zeit des frühen Erwachsenseins (Lehre, Studium, frühe Berufstätigkeit) stark er­ innert werden.59 Wenn diese Zeit und ihre historischen Besonderheiten medial erinnert werden, können sie als Vergegenwärtigung erlebt wer­ den. Die Wahrnehmung historischer Erzählungen ist abhängig von eige­ nen Erfahrungen, dem Alter, Beteiligtsein, Herkunft (Ost/West). Klänge und Musik können diese eigenen Erfahrungen emotional aufladen und klangliche Vergegenwärtigungen als historische Datierung nutzen. Dies gelingt ihnen vermutlich nicht zuletzt v.a. deshalb so gut, weil Klänge im Vergleich zu schriftlichen historischen Dokumenten besser geeignet sind, Geschichte zu ›verlebendigen‹ und Glaubwürdigkeit zu verleihen, unabhängig von der ›eigentlichen‹ Bedeutung oder Echtheit. Dieser Prä­ senzeffekt60 entfaltet seine Wirkung besonders effektiv in populären Ge­ schichtsdarstellungen von Radio oder Fernsehen und erzeugt dort eine

59 | Vgl. Martin Sabrow: »Welche Erinnerung, wessen Geschichte? Das neue Interesse an der Vergangenheit«, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 126, III/2009, S. 42-46. 60 | Vgl. Daniel Morat und Thomas Blanck: »Geschichte hören. Zum quellenkritischen Umgang mit historischen Tondokumenten«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015), H. 11/12, S. 703-726, hier S. 703.

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Wirklichkeitsillusion.61 Damit einher geht die Einschätzung, dass klang­ lichen Dokumenten keine klare Bedeutung zugeordnet werden kann, sie also tendenziell, wie andere Medien auch, offen sind für Bedeutungszu­ schreibungen. In den angesprochenen Medienformaten geht es in erster Linie um die Verlebendigung von Geschichte, um die Inszenierung von Wahrhaftigkeit. Also verweisen die hier diskutierten klanglichen Reprä­ sentationen v.a. auf Regeln medialer Vergegenwärtigung in konkreten medialen Textsorten und die Hörpraktiken, in denen sie stehen. Dabei erzählen uns die verwendeten klanglichen Repräsentationen mehr über die Intention der Vergegenwärtiger als ›Agenten‹ der Erinnerungspoli­ tiken (RegisseurInnen, DrehbuchautorInnen, ProduzentInnen, Redak­ tionsteams) als über die historischen Ereignisse selbst. Weil in den ange­ sprochenen Formaten verfügbares Hörwissen angesprochen, inszeniert und perspektiviert62 wird, besteht die Herausforderung darin, Effekte von Medien- und Vermittlungstechniken und also konventionelle Legitima­ tionen von Medien/Kultur-Narrativen je nach medialer Textsorte freizu­ legen, d.h. eine Medienarchäologie in ihrer technologie- v.a. aber kultur­ historischen Dimension anzustrengen und sie als Teil eines medialen Gedächtnisses im Sinne von Erinnerungspolitiken zu lesen. Nur dann eignen sie sich m.E. als Dokumente historischer Forschung.

VII. O utro »[…] 5, 6, 7, 8, […] ich wollte das Ergebnis nicht verfälschen« scherzt Horst Sindermann63 unbeholfen während der Auszählung der Stimmen für die Wahl von Egon Krenz als Nachfolger für Erich Honecker als Staatrats­ vorsitzenden der DDR am 24.  Oktober  1989 in der Volkskammer. Die­ se peinliche Reminiszenz an die umstrittenen DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 findet sich als O-Ton im Mittelteil des Songs Der Stand der 61 | Vgl. Claudia Bullerjahn: »Der Soundtrack des Holocaust. Musik im Dienste einer Erinnerungskultur«, in: Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, hg. von Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn 2013, S. 533-541. 62 | Vgl. ebd., S. 534. 63 | Horst Sindermann (1915-1990) war 1973-1989 Vorsitzender des Ministerrates der DDR und Volkskammerpräsident. Auf ihn geht die Formulierung der Berliner Mauer als antifaschistischem Schutzwall zurück.

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Dinge auf der eingangs erwähnten Schallplatte ad acta der Band Der Expander des Fortschritts. In die letzten Takte des Songs Wasserstände und Tauchtiefen hatten wir ein Fragment der Audiospur aus einem Film ein­ geblendet, eine Auktion: »Zweitausendzweihundertfünfzig zum Ersten, Zweitausenzweihundertfünfzig zum Zweiten, […] letzte Chance«. »Die Stilllegung der Baugrube DDR war gelungen.«64 Mit diesem Satz auf der Rückseite des Covers der Schallplatte, darüber ein TV-Still des ge­ rade hingerichteten Staatspräsidenten Rumäniens Nicolae Ceaușescu, ist in mehrfacher Hinsicht eine Ambivalenz formuliert. Insofern wäre ab­ schließend noch einmal auf meine Erfahrungsdifferenz zu verweisen, die die vorgelegte Analyse und ihre Argumentationen durchaus leitete. Der Expander des Fortschritts bewegte sich in einem gegenkulturellen und künstlerischen Umfeld (Offground) und galt als schwer verdaulicher und intellektueller Ausleger der im Intro beschriebenen Szene der anderen Bands. Heute würden MedienvertreterInnen sagen: ›zu speziell‹!65

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. ARD: »Soundtrack Deutschland – Liefers und Prahl ermitteln«, 02.​ 06.2015, www.daserste.de/specials/ueber-uns/soundtrack-deutschla​ nd-liefers-und-prahl-ermitteln-aktuelle-meldungen-02072015-100. html (abgerufen am 30.09.2016).

64 | Vgl. Text auf der Rückseite des Schallplattencovers von Der Expander des Fortschritts: ad acta, Zong 1990, LC 2770 001. 65 | Gewissermaßen am Rande sei mir der Hinweis gestattet, dass bei der Produktion audiovisueller Inhalte – ob Radioreportagen, TV-Dokumentationen und auch Filme – zukünftig in den Redaktionen der verantwortlichen Sender ein wenig mehr Fingerspitzengefühl im Umgang mit Gefühlen von Verlust und Entwertung von Lebensgeschichten angebracht wäre, um wachsenden Ressentiments nicht dadurch Vorschub zu leisten, dass sich die Betreffenden in den Medien-Geschichten nicht wieder finden. (vgl. Oberender, »Die Mauer ist nicht gefallen«, Fußnote 3).

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Gesetzblatt der DDR: Anordnung Nr. 2 über die Ausübung von Tanz- und Unterhaltungsmusik vom 01.11.1965, Gesetzblatt II, Nr. 112, S. 777. Susanne Binas-Preisendörfer: »Rau, süßlich, transparent oder dumpf – Sound als eine ästhetische Kategorie populärer Musikformen. An­ näherungen an einen populären Begriff«, in: Die Schönheiten des Populären. Ästhetische Erfahrung der Gegenwart, hg. von Kaspar Maase, Frankfurt a.M. und New York 2004, S. 192-209. Susanne Binas-Preisendörfer: »Popmusikgeschichte(n) als Gegenstand filmischer Repräsentation«, in: Geschichte-Musik-Film, hg. von Chris­ toph Henzel, Würzburg 2010, S. 209-221. Susanne Binas-Preisendörfer: »Sound und Gender, Überlegungen zu einem Desiderat«, in: Rohe Beats, harte Sounds – Konstruktion von Aggressivität und Gender in populärer Musik, hg. von Florian Heesch und Barbara Hornberger (= Jahrbuch Musik und Gender 7), Hildesheim u.a. 2016, S. 67-84. Claudia Bullerjahn: »Der Soundtrack des Holocaust. Musik im Diens­ te einer Erinnerungskultur«, in: Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, hg. von Gerhard Paul und Ralph Schock, Bonn 2013, S. 533-541. Felix Denk und Sven von Thülen: Der Klang der Familie – Berlin, Techno und die Wende, Berlin 2012. Tobias Ebbrecht, Hilde Hoffman, Jörg Schweinitz (Hg.): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms, Marburg 2009. Evelyn Finger: »Die Bekehrung – ›Das Leben der Anderen‹: Florian Hen­ ckel von Donnersmarck setzt mit seinem Film über die DDR Maß­ stäbe«, in: ZEIT ONLINE, www.zeit.de/2006/13/Leben_der_anderen (30.09.2016). Fresh Meat: »Arte-Doku. Party auf dem Todesstreifen«, 28.07.2014, https://www.berlin-mitte-institut.de/arte-doku-party-auf-dem-todes​ streifen/ (abgerufen am 27.02.2018). Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014. Rolf Großmann: »›Sonic Fiction‹ – Zum Begreifen musikalisch-medialer Gestaltung«, in: Die Metapher als ›Medium‹ des Musikverstehens, hg. von Bernd Enders u.a. (= Osnabrücker Beiträge zur systematischen Musikwissenschaft 24), Osnabrück 2013, S. 161-172. Hans-Hermann Hertle: »Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errich­ ten, O-Töne zum Mauerbau und Mauerfall«, in: Sound des Jahrhun-

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Klangliche Repräsentationen des ›Mauer falls‹

B-Movie – das wilde Westberlin der 80er Jahre, Regie: Jörg A. Hoppe, Heiko Lange, Klaus Maeck, Mirjam Dehne, Deutschland, arte 2014/15. Party auf dem Todesstreifen – Soundtrack der Wende, Regie: Rolf Lambert, Deutschland, arte 2014. Soundtrack Deutschland, Regie: Sergej Moya, Deutschland, Gemein­ schaftsproduktion der ARD 2015.

Filme Das Leben der Anderen, Regie: Florian Henckel von Donnersmarck, Deutschland 2006. Good bye Lenin, Regie: Wolfgang Becker, Deutschland 2006. Herr Lehmann, Regie: Leander Haußmann, Deutschland 2003.

Platten/CDs/Online Der Expander des Fortschritts: ad acta, Zong 1990, LC 2770 001. East German Underground Sound 1979-1990, zusammengestellt von Hen­ ryk Gericke, play loud! Productions und Künstlerhaus BETHANIEN 2016, LC 15308. Cake: I will survive, 1996, https://www.youtube.com/watch?v=7KJjVMqNI​ gA (abgerufen am 30.09.2016).

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Auditive Wissensformen und Geschichte

Virtuelle historische Klangumgebungen als Werkzeug der Musikwissenschaft Methodologische Überlegungen Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi Immersive Medienumgebungen werden seit längerem für die Vermittlung historischer Wissensbestände eingesetzt. In einer Tradition, die sich bis zu historischen Panorama­gemälden1 oder Diorama-Rekonstruktionen2 des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, sind in den letzten 20 Jah­ ren eine Vielzahl von digitalen Rekonstruktionen kultureller Phänomene für Museen3 oder in Projekten zur Erhaltung des kulturellen Erbes ent­ standen.4 Beispiele reichen von der virtuellen Rekonstruktion von Alltag und urbanem Raum im Bologna des 13. Jahrhunderts über das Theater im Venedig des 18. Jahrhunderts5 bis zum Re-Enactment von Meisterwerken der audiovisuellen Medienkunst wie dem Poème électronique von Le Cor­

1 | Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980. 2 | Helmut Gernsheim und Alison Gernsheim: L. J. M. Daguerre. The History of the Diorama and the Daguerreotype, New York 1968. 3 | Maggie Burnette Stogner: »The Media-Enhanced Museum Experience: Debating the Use of Media Technology in Cultural Exhibitions«, in: Curator: The Museum Journal 52 (2009), H. 4, S. 385-397; David Bearman: »3D Representations in Museums«, in: Curator: The Museum Journal 54 (2011), H. 11, S. 55-61. 4 | Laja Pujol und Erik Champion: »Evaluating Presence in Cultural Heritage Projects«, in: International Journal of Heritage Studies 18 (2012), H. 1, S. 83-102. 5 | Nicola Lercari: »Simulating History in Virtual Worlds«, in: Handbook on 3D3C Platforms. Applications and Tools for Three Dimensional Systems for Community, Creation and Commerce, hg. von Yesha Sivan, Cham u.a. 2016, S. 337-352.

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busier, Edgard Varèse und Iannis Xenakis im Philips-Pavillon der Brüsse­ ler Weltausstellung 1958.6 Weniger etabliert sind Versuche, immersive Medientechnologien auch zur Generierung neuen Wissens einzusetzen. In diesem Sinne be­ trachtet der vorliegende Beitrag eine spezielle Form medial inszenierter Geschichte, die man als virtuelle historische Umgebung bezeichnen könn­ te, und bei der Technologien der virtuellen oder augmentierten Realität eingesetzt werden, um Räume, Ereignisse oder Medieninstallationen der Vergangenheit in einem digitalen Modell zu rekonstruieren und heuti­ gen Betrachtern und Hörern auf dieser Grundlage einen sensorischen Zugang zu diesen Räumen, Ereignissen oder Installationen zu ermög­ lichen. Meist steht hier die visuelle Erfahrung im Vordergrund. In vielen Fällen ist jedoch auch die auditive Erfahrung von primärem Interesse, etwa bei einer Rekonstruktion von Musikaufführungen in historischen Aufführungsräumen. Die Evidenz und der wissenschaftliche Wert solcher Rekonstruktio­ nen sind unter Musikhistorikern durchaus umstritten. Auch wenn die Vorbehalte im Einzelfall unterschiedlich motiviert sein mögen, so bezie­ hen sie sich im Kern meist a) auf die Glaubwürdigkeit virtueller Rekons­ truktionen im Hinblick auf das historische Vorbild; b) auf den Umgang mit der historischen und kulturellen Distanz heutiger Beobachter einer digitalen Rekonstruktion; und c) auf die erkenntnistheoretische Rolle vir­ tueller Realitäten im Kontext historischer Forschung an sich. Der vorliegende Text wird versuchen, Antworten auf diese Fragen zu skizzieren. Die Autoren werden dafür ein Fallbeispiel aus der eigenen musikwissenschaftlichen Forschung heranziehen, nämlich die virtuelle Rekonstruktion der historischen Aufführungsräume der Orchesterwerke von Ludwig van Beethoven in Wien, und die damit untersuchte, musik­ historische Frage, wie sich die Aufführungssituation und damit auch die Rezeption dieser Werke im Vergleich der historischen Bedingungen mit der modernen Aufführungssituation verändert hat.

6 | Vincenzo Lombardo, Andrea Valle, John Fitch, Kees Tazelaar, Stefan Weinzierl, W. Borczyk: »A Virtual-Reality Reconstruction of Poème Électronique Based on Philological Research«, in: Computer Music Journal 33 (2009), H. 2, S. 24-47.

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Abb. 1: Das Theater an der Wien um 1830.7 In diesem Raum haben die öffentlichen Uraufführungen zahlreicher Orchesterwerke L. v. Beethovens stattgefunden, darunter die 5. und 6. Sinfonie sowie das Violinkonzert am 22. Dezember 1808.

I. V irtuelle akustische U mgebungen Die Erzeugung virtueller akustischer Umgebungen basiert auf einem 3D-Modell des (offenen oder geschlossenen) Raums, in dem sich Schall­ quelle und Hörer befinden (vgl. zum Folgenden Abb. 2). Dieses Modell spezifiziert den Ort und die frequenzabhängige Richtwirkung der Schall­ quelle, den Ort und die Orientierung des Hörers, sowie die Geometrie und die akustischen Eigenschaften (Absorption, Streugrad) aller Ober­ flächen, an denen Schallreflexionen möglich sind. Die Schallausbreitung zwischen einer Schallquelle und den Ohren eines Empfängers wird dann als akustisches Übertragungssystem interpretiert. In der Theorie linea­ rer und zeitinvarianter Systeme lassen sich solche Übertragungssysteme vollständig durch eine sogenannte Impulsantwort beschreiben, die in die­ 7 | Theater an der Wien, 1832, Österreichische Nationalbibliothek/Bildarchiv, Wien.

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sem Fall als binaurale Raumimpulsantwort (BRIR) bezeichnet wird. Das Übertragungssystem verändert ein am Ort der Quelle auftretendes Sig­ nal, etwa das von einem Musiker auf der Bühne erzeugte Schallsignal, auf charakteristische Weise, was sich durch eine numerische Operation, die sog. Faltung von Quellsignal und Impulsantwort simulieren lässt. Wird das Ergebnis der Faltung, z.B. über Kopfhörer, in den Ohrkanal des Hö­ rers eingespielt, so enthält es alle Informationen über die räumliche Kon­ stellation der Szene, vom Ort der Schallquelle und des Hörers im Raum bis zu den Eigenschaften des Raums selbst. Das Hörbarmachen (»Aura­ lisation« 8) eines Schallsignals im virtuellen Raum lässt im Idealfall ein Hörereignis entstehen, das selbst im unmittelbaren Vergleich nicht von einem realen Schallereignis unterscheidbar ist.9

8 | Michael Vorländer: Auralization: Fundamentals of Acoustics, Modelling, Simulation, Algorithms and Acoustic Virtual Reality, Berlin 2008. 9 | Dies lässt sich etwa durch einen Vergleich realer und simulierter Lautsprechersignale überprüfen, vgl. Fabian Brinkmann, Alexander Lindau, Stefan Weinzierl: »On the Authenticity of Individual Dynamic Binaural Synthesis«, in: Journal of the Acoustical Society of America 142 (2017), H. 4, S. 1784-1795.

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Abb. 2: Operationen zur Erzeugung virtueller historischer Umgebungen durch dynamische Binauralsynthese.

Die räumliche Präsenz, die ein Hörer in der virtuellen Umgebung emp­ findet, hängt stark davon ab, inwieweit die Szene auf natürliche Weise mit seinen Kopf bewegungen interagiert. Nur wenn Kopf bewegungen durch ein Head Tracking aufgezeichnet und das simulierte Schallsignal in Echt­ zeit jeweils neu berechnet wird, kann sich der Hörer, wie in der Realität,

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in der Szene bewegen anstatt die Szene, wie bei normaler Kopfhörerwie­ dergabe, gewissermaßen ›im Kopf‹ mit sich zu transportieren. Bei der Frage nach dem wissenschaftlichen Wert einer solchen Simu­ lation als Geschichtsmedium ist zunächst festzuhalten, dass nur die Simu­ lation des Raums als Übertragungssystem unmittelbar auf historischen Quellen beruht, nicht aber die simulierte musikalische Aufführung selbst. Letztere ist eine moderne Aufführung, die durch Signalverarbeitung in eine Rekonstruktion des historischen Raums versetzt wird. Zwar kann diese Aufführung mit Musikern eingespielt sein, die ihrerseits eine his­ torisch informierte Aufführungspraxis pflegen und somit mittelbar auch Erkenntnisse über die Spielweise in dieser Zeit, das Instrumentarium, die Besetzungsstärke des Orchesters etc. enthalten.10 Trotzdem bleibt es eine moderne Interpretation dieser aufführungspraktischen Quellen, und die Größe des Interpretationsspielraums, der sich hierbei auftut, wird schon an den ganz unterschiedlichen Interpretationen des gleichen Repertoires deutlich, die von verschiedenen Interpreten einer historisch informierten Aufführungspraxis vorliegen. Bei der Rekonstruktion des Raums ist dieser Interpretationsspielraum erheblich geringer, da hier zum einen häufig noch Überreste vorhanden sind und auch Schrift- und Bildquellen ein unmittelbareres Abbild des Ge­ bäudes bilden als dies etwa bei musikalischen Aufführungen angenom­ men werden kann – und die akustischen Eigenschaften von Holzbänken haben sich in den letzten 200 Jahren nicht verändert, ebensowenig die Gesetze der Schallausbreitung oder die Anatomie des menschlichen Au­ ßenohrs, jedenfalls nicht über die interindividuellen Unterschiede hinaus, die zwischen Menschen zu jeder Zeit bestehen. Die binauralen Raum­ impulsantworten, in denen diese physikalischen bzw. anatomischen Be­ dingungen kodiert sind, und auf deren Grundlage in der Auralisation die Wirkung der akustischen Verhältnisse auf einen Ausgangsreiz modelliert 10 | So wurde für Simulationen der sinfonischen Aufführungsräume L. v. Beethovens mit dem Orchester Wiener Akademie unter Martin Haselböck eine nachhallfreie Einspielung der 8. Sinfonie produziert, die aufgrund der ohne Übersprechen aufgenommenen Einzelspuren eine Auralisation unterschiedlicher Orchesterstärken bis zu einer Besetzungsstärke von zwölf ersten Violinen ermöglicht, vgl. Christoph Böhm, David Ackermann, Stefan Weinzierl: A Multi-channel Anechoic Orchestra Recording of Beethoven’s Symphony No. 8 op. 93, http://dx.doi. org/10.14279/depositonce-6729, Berlin 2018.

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wird, unterliegen also keinem offensichtlichen historischen Wandel. Dies gilt allerdings nicht für die kognitive Verarbeitung dieses Reizes, auf die wir weiter unten eingehen werden. Wenn Beobachtungen innerhalb einer solchen virtuellen akustischen Realität als Ohrenzeugenberichte über die entsprechende historische Sze­ nerie genutzt werden sollen, kann die Glaubwürdigkeit der resultierenden Schlussfolgerungen auf zwei Ebenen in Frage gestellt werden. Die erste betrifft die Beziehung zwischen der digitalen Rekonstruktion und den physischen, historischen Verhältnissen (»Inwieweit stimmt die Akustik des simulierten Theaters mit den tatsächlichen historischen Bedingun­ gen überein?«), die zweite betrifft die Zuverlässigkeit der Beobachtungen, die von menschlichen Beobachtern innerhalb der virtuellen Realität ge­ macht werden (»Inwieweit hören wir in dieser Simulation, selbst wenn sie physikalisch korrekt ist, dasselbe wie ein historischer Hörer?«). Beide Aspekte sollen im Folgenden näher betrachtet werden. Abb. 3: Aufnahme der 8. Sinfonie L. v. Beethovens mit Musikern des Orchesters Wiener Akademie unter Martin Haselböck im reflexionsarmen Raum der TU Berlin (Fotographie: Christoph Böhm). Nur eine solche, nachhallfreie und übersprechfreie Aufnahme mit Einzelspuren für jedes Instrument eignet sich für die Auralisation virtueller akustischer Umgebungen.

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II. F orschungswerk zeug und F unk tion Für die Bewertung virtueller Rekonstruktionen als ein Werkzeug histori­ scher Forschung erscheint es uns zunächst erforderlich, die Forschungs­ frage und die Methodologie der Untersuchung näher zu spezifizieren, da  – wie bei jedem anderen Werkzeug – seine Qualität nur im Hinblick auf seine Funktion bestimmt werden kann. So könnte im Fall einer Rekonstruktion historischer Konzertsäle etwa die Frage im Vordergrund stehen, inwieweit sich die Lautstärke und In­ tensität des Klangerlebnisses im Vergleich zu Aufführungen in moder­ nen Sälen verändert haben, inwieweit durch die Akustik historischer und moderner Säle die Klangbalance innerhalb der Orchestergruppen unterschiedlich beeinflusst wird, inwieweit sich unterschiedliche Emp­ findungen von Nähe und Präsenz gegenüber dem Klanggeschehen ein­ stellen oder auch die eher ›offene‹ Frage nach jeglichen Veränderungen im Klangeindruck von sinfonischen Aufführungen. Für jede dieser Fragen können andere Aspekte der virtuellen Rekon­ struktion von Bedeutung sein: für die Bewertung der Balance von Orches­ tergruppen eine korrekte Rekonstruktion der Abstände jedes einzelnen Instruments zum Hörer, ebenso wie eine historisch korrekte Rekonstruk­ tion der Besetzungsstärken schon auf der Ebene des Quellsignals, wäh­ rend für eine Bewertung von Nähe und Präsenz auch über eine Simula­ tion der visuellen Verhältnisse nachgedacht werden müsste. Die Kritik an digitalen Rekonstruktionen erscheint uns häufig zu sehr auf die Frage fokussiert, ob Simulationen die sensorische Erfahrung einer realen, historischen Umgebung in jeder denkbaren Hinsicht nachbilden können. Eine solche Fundamentalkritik ist jedoch tendenziell unproduk­ tiv, angesichts der Tatsache, dass experimentelle Forschung immer mit einer Reduktion der Umweltbedingungen verbunden ist, und gerade die­ se Reduktion es erst möglich macht, die Wirkung von Teilaspekten der Realität (etwa: die Wirkung der Raumakustik) zuverlässig zu bestimmen. Aus methodischer Sicht erscheint es demnach relevanter, die Aufgabe zu spezifizieren, welche ein Beobachter in der virtuellen Realität erfüllen muss, um daraus Kriterien für die technische Leistungsfähigkeit der Si­ mulation abzuleiten, die für ein unverzerrtes Urteil erforderlich sind. Auf der Grundlage psychoakustischer oder musikpsychologischer Theorien sollten sich solche Kriterien in vielen Fällen gut begründen lassen, und es wird dementsprechend nicht immer erforderlich sein, virtuelle Um­

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gebungen mit einem maximalen Grad an Realismus und Interaktivität zu erzeugen. Gerade im Hinblick auf Effizienz und begrenzte Ressourcen könnte es eher wünschenswert sein, eine virtuelle Umgebung mit nur den Merkmalen bereitzustellen, die notwendig sind, um jene Fragen zu beantworten, für die sie entwickelt wurde.

III. U nschärfen der R ekonstruk tion : D ie virtuelle U mgebung Auf dem Weg von den historischen Quellen zur virtuellen Rekonstruktion (Abb.  2) ist jede einzelne technische Operation mit Unsicherheiten ver­ bunden, welche die Glaubwürdigkeit des Endergebnisses beeinträchtigen können. Dies beginnt bei der Modellierung der räumlichen Umgebung im Hinblick auf die Geometrie und die akustischen Eigenschaften der Oberflächen, deren Unsicherheit sich aus einer unzureichenden Kennt­ nis der historischen Bedingungen selbst ergeben kann oder aus einem unzureichenden Wissen darüber, wie historische Evidenz in die erforder­ lichen Eingabeparameter der Simulation übersetzt werden kann. So müs­ sen etwa die Hinweise auf die Einrichtung, die Bestuhlung, die Verteilung der Zuschauer und die Sitzordnung des Orchesters in der Abbildung des Theaters an der Wien (vgl. Abb. 1) kritisch mit anderen Quellen abgegli­ chen und auf ihre Zuverlässigkeit geprüft werden. Die Unsicherheiten in diesem Stadium könnte man als Modellunschärfe bezeichnen. Sie resultie­ ren aus dem klassischen Problem unvollständiger oder widersprüchlicher historischer Quellen, die quellenkritisch hinterfragt und dokumentiert werden müssen. Die virtuelle Umgebung gibt an dieser Stelle nur die Parameter vor, die für die Rekonstruktion erforderlich sind. Der Unter­ schied zwischen massivem Marmor und Marmorimitat (Stuckmarmor) z.B. mag aus allgemein-historischer Perspektive wenig relevant sein; für die akustische Simulation ist es eine wichtige Information, da sich das Schwingungsverhalten der zugehörigen Wandaufbauten wesentlich unterscheidet. In der folgenden Stufe kann die Zuverlässigkeit der numerischen Simulation selbst in Frage gestellt werden, d.h. die Annahme, dass die Schallausbreitung von der Quelle zum Empfänger durch das gewählte Simulationsverfahren korrekt modelliert wird. Man könnte dies als Simulationsunschärfe bezeichnen. Letztere ist ein ingenieurwissenschaftliches

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Problem, das der numerischen Simulation physikalischer Prozesse stets inhärent ist. Auch für raumakustische Simulationen wird die Validität der numerischen Modelle regelmäßig durch einen Vergleich von Über­ tragungsfunktionen bestimmt, die zum einen in einer realen Umgebung gemessen und zum anderen in einer digitalen Nachbildung dieser realen Umgebung simuliert werden.11 In diesen Untersuchungen hat sich stets gezeigt, dass die Simulation eines akustischen Raums nur eine Annä­ herung an das Verhalten des physikalischen Systems bietet, deren Ge­ nauigkeit davon abhängt, welche Eigenschaften des realen Raums durch die Simulation vorhergesagt werden sollen. So mag eine Simulation der Nachhallzeit im mittleren Frequenzbereich relativ zuverlässig sein, wäh­ rend eine authentische, d.h. vom Original nicht unterscheidbare Rekons­ truktion des Hörerereignisses in vielen Fällen derzeit noch nicht erreich­ bar ist. Im nächsten Schritt müssen die Ergebnisse einer numerischen Simulation in einem bestimmten Datenformat kodiert und für die Re­ produktion dekodiert werden. Wie bei jedem Kommunikationskanal wird die durch das Kodieren und Dekodieren übertragene Information durch ›Rauschen‹ überlagert, das eine Vielzahl von Quellen haben kann. Dazu gehört im Falle der binauralen Synthese beispielsweise, dass das Schallfeld am Empfänger räumlich ›diskretisiert‹, der Klangraum also gewissermaßen in einzelne Punkte aufgelöst wird. Während in einem realen Schallfeld die Hörer bereits durch kleinste Kopf bewegungen spür­ bare Modulationen in das Schallfeld einbringen können, stehen die bi­ nauralen Raumimpulsantworten nur für ein vordefiniertes Raster von Kopforientierungen zur Verfügung und müssen dazwischen interpoliert werden. Andere Ungenauigkeiten können dadurch entstehen, dass nur der Beginn der Impulsantwort dynamisch ausgetauscht wird, weil Kopf­ bewegungen im späten Teil des Ausklangs weniger deutlich hörbar sind 11 | Vgl. z.B. Ingolf Bork: »Report on the 3rd Round Robin on Room Acoustical Computer Simulation – Part I: Measurements«, in: Acta Acustica united with Acustica 91 (2005), H. 4, S. 740-752 sowie ders.: »Report on the 3rd Round Robin on Room Acoustical Computer Simulation – Part II: Calculations«, in: Acta Acustica united with Acustica, 91(2005), H. 4, S. 753-763. Ein aktueller Wettbewerb ist das Round Robin on Room Acoustical Simulation and Auralization, in dem auch die Qualität der Auralisationen mit bewertet wurde, vgl. https://rr.auralisation. net/(abgerufen am 01.07.2018).

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und auf diese Weise die Recheneffizienz erhöht werden kann. Sie können sich auch aus dem verwendeten Audiosignalformat oder einfach aus der numerischen Auflösung des verwendeten Digitalsystems ergeben. Die dadurch eingeführten Fehler können als Kodierungsunschärfe zusammen­ gefasst werden. In einem letzten Schritt kann die Genauigkeit der akustischen Wie­ dergabe in Frage gestellt werden, d.h. das Ausmaß, in dem die Qualität des in den Ohrkanal eingespielten akustischen Signals durch das verwendete Reproduktionssystem beeinträchtigt wird. Im Falle der Binauralsynthese könnte etwa die Übertragungsfunktion des Kopfhörers zu klangfarbli­ chen Veränderungen der auralisierten Schallquelle führen. Verzögerun­ gen bei der Nachführung des Ohrsignals auf die Kopf bewegungen des Hörers können zu einer räumlichen Instabilität der wiedergegebenen Schallquelle führen. Bei 3D-Brillen kann eine Latenz in der Nachführung der Anzeige auf Kopf bewegungen sogar zu einem Schwindelgefühl füh­ ren, weil visuelle und vestibuläre Bewegungsreize nicht mehr konsistent sind (die sogenannte simulator sickness). Verzerrungen dieser Art könnte man als Reproduktionsunschärfe bezeichnen.

IV. S tr ategien im U mgang mit U nschärfen der   virtuellen U mgebung Die Vielzahl der möglichen Fehlerquellen bei einer virtuellen Rekon­ struktion historischer Szenerien erfordert einen reflektierten Umgang mit den daraus resultierenden Unschärfen, um ein transparentes Ge­ samtbild im Hinblick auf die Zuverlässigkeit der Virtualisierung zu ver­ mitteln. In der Modellierungsphase kann unvollständiges Wissen über die ur­ sprüngliche räumliche Umgebung etwa durch mehrere alternative Mo­ delle dokumentiert werden, die für unterschiedliche Hypothesen über die historischen Bedingungen stehen, und von denen jedes einzelne vor dem Hintergrund der verfügbaren Quellen im Hinblick auf seine Plausibili­ tät diskutiert werden kann. Für Modellierungsparameter wie die akus­ tischen Eigenschaften der Oberflächen im Raum kann eine Bandbreite möglicher Werte von Experten geschätzt werden. Die Auswirkungen die­ ser Unsicherheiten auf der Ebene der Eingangsparameter durch die Si­ mulation hindurch auf die Ausgangsgrößen wie etwa die Nachhallzeit im

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Raum kann durch eine Simulation für jede hypothetische Konstellation von Eingangsgrößen dokumentiert werden. Experten können häufig auch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung der Eingangsparameter angeben, auf deren Grundlage man durch Zufallsstichproben (sogenannte ›MonteCarlo-Strategien‹) oder durch ein systematisches Abtasten der Verteilung auf eine entsprechende Wahrscheinlichkeit in den Verteilungen der Aus­ gangsgrößen schließen kann (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Dokumentation der Modellunschärfe für die simulierte Nachhallzeit (T30) in Abhängigkeit von der Frequenz f im Theater an der Wien. Der Absorptionsgrad der für die Simulation relevanten Oberflächen im Theater (Boden, Bestuhlung, Wände und Decke) wird durch eine dreieckförmige Wahrscheinlichkeitsverteilung geschätzt. Diese Verteilungen werden durch jeweils drei Punkte abgetastet, die Intervalle gleicher Wahrscheinlichkeit repräsentieren. Für jede der 3x3x3 möglichen Parameterkombinationen wird eine Simulation errechnet, aus denen eine Verteilung von 27 jeweils gleich wahrscheinlichen Verläufen der Nachhallzeit resultiert.

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Die Zuverlässigkeit der numerischen Simulation kann durch Unsicher­ heitsintervalle dokumentiert werden, die sich aus den oben genannten Vergleichen zwischen der Messung und Simulation identischer physika­ lischer Systeme ergeben. Der Einfluss von Fehlern bei Kodierung, De­ kodierung und Wiedergabe schließlich kann durch einen Systement­ wurf abgefangen werden, der sich an der technischen oder perzeptiven Evaluation einzelner Einflussfaktoren orientiert. So wurde etwa gezeigt, dass die räumliche Diskretisierung der Binauralsynthese unhörbar wird, wenn binaurale Raumimpulsantworten für horizontale, vertikale und laterale Freiheitsgrade der Kopf bewegung in einem Winkelabstand von nicht mehr als 2° vorliegen.12 Für die Systemlatenz des Head-Tracking wurde eine zulässige Grenze in der Größenordnung von 50 ms ermit­ telt, ebenso wurde untersucht, welche Kopfhörertypen sich durch eine digitale Entzerrung so betreiben lassen, dass keine klangfarblichen Be­ einträchtigungen in der Binauralsynthese auftreten.13 Ein sorgfältiger Systementwurf kann für im physischen System gemessene binaurale Raumimpulsantworten bei Verwendung von Musik- und Sprachsignalen eine von der natürlichen Hörsituation selbst im direkten Vergleich nicht unterscheidbare binaurale Synthese erzeugen.14 Für numerisch simulierte binaurale Raumimpulsantworten auf der Grundlage eines 3D-Modells ist dies derzeit noch nicht realisierbar, auch wenn die Verzerrungen im Hin­ blick auf zahlreiche Qualitäten der Auralisierung vernachlässigbar klein sein können.

12 | Alexander Lindau und Stefan Weinzierl: »On the Spatial Resolution of Virtual Acoustic Environments for Head Movements in Horizontal, Vertical and Lateral Direction«, in: Proceedings of the EAA Symposium on Auralization, Helsinki 2009, S. 1-6. 13 | Alexander Lindau: »The Perception of System Latency in Dynamic Binaural Synthesis«, in: Fortschritte der Akustik – DAGA Rotterdam 2009; Zora Schärer und Alexander Lindau: »Evaluation of Equalization Methods for Binaural Signals«, in: Proc. of the 126th AES Convention, München 2009, Paper Nr. 7721; Vera Erbes, Frank Schultz, Alexander Lindau, Stefan Weinzierl: »An Extraaural Headphone System for Optimized Binaural Reproduction«, in: Fortschritte der Akustik – DAGA Darmstadt 2012, S. 313-314. 14 | Brinkmann u.a., »On the Authenticity of Individual Dynamic Binaural Synthesis«.

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V. H istorische E reignisse versus historische M öglichkeitsr äume Die Unschärfen, die bei den verschiedenen Schritten einer virtuellen Re­ konstruktion entstehen, führen, wie in Abb. 4 demonstriert, zu einer ent­ sprechenden Unschärfe der spezifizierten Variable, etwa der Nachhallzeit im Theater an der Wien (vgl. auch Abb. 1). Unabhängig davon stellt sich allerdings die Frage, ob die generierte virtuelle Umgebung und die daraus abgeleiteten Ergebnisse ein bestimmtes historisches Ereignis abbilden sollen oder ob sie einen Möglichkeitsraum im Hinblick auf eine bestimmte historische Situation abstecken sollen. Interessiert uns die Nachhallzeit im Theater an der Wien am 22. De­ zember 1808, bei der Uraufführung der 5. Sinfonie? Oder interessiert uns, in welchem Bereich die Nachhallzeit in einer bestimmten historischen Periode (sagen wir: zwischen 1792 und 1827) lag, wenn bei jedem einzel­ nen Konzert die Anzahl der Zuhörer unterschiedlich, der eiserne Vorhang manchmal geöffnet, manchmal geschlossen, und auch die Orchesterbe­ setzung nicht immer identisch war? Für das erste Problem wird in der Re­ gel ein hohes Maß an Modellierungsunschärfe vorliegen. Da wir nicht ge­ nau wissen, wie viele Zuhörer an diesem Abend im Theater waren, ergibt sich daraus eine entsprechende Unschärfe der simulierten Nachhallzeit, die stark von der Publikumsbesetzung abhängt. Für das zweite Problem wird das historische Szenario durch eine Verteilung von Eingabeparame­ tern anstelle eines einzelnen Modellzustands beschrieben, und die Gren­ zen dieses Bereichs können üblicherweise genauer bestimmt werden als die Werte für ein bestimmtes Ereignis. Wir können etwa aus Anstellungslisten in den Theater-Almanachen oder aus Aufstellungsplänen für das Orchester relativ genau die Band­ breite möglicher Orchesterbesetzungen rekonstruieren. Für das Publi­ kum könnte man auch ohne weitere historische Recherchen annehmen, dass die Besetzung irgendwo zwischen einem vollständig unbesetzten Zustand (das wäre der praktisch durchaus relevante Zustand bei einer Probe im leeren Raum) und einem vollständig besetzten Zustand liegen muss. Um einen solchen historischen Möglichkeitsraum in der Simula­ tion abzubilden, können ähnliche Strategien wie die zur Beschreibung der Modellierungsunschärfe angewandt werden. Durch Berechnung des Modells für die Grenzen des Bereichs oder durch Schätzen einer Wahr­ scheinlichkeitsverteilung für den jeweiligen Modellparameter kann ein

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Bereich bzw. eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die mögliche Nach­ hallzeit geschätzt werden. In der Praxis wird es aufgrund der begrenz­ ten Informationen über einzelne Ereignisse und des empirisch erheblich fundierteren Wissens über die Bandbreite historischer Bedingungen also häufig um einen Kompromiss zwischen Modellierungsunschärfe und historischer Spezifität gehen. Denn die Ergebnisse, die virtuelle Rekons­ truktionen für ein definiertes Spektrum historischer Ereignisse liefern können, sind in der Regel zuverlässiger und damit auch wissenschaftlich wertvoller als solche für spezifische historische Ereignisse.

VI. U nschärfen der R ekonstruk tion : D er H örer Anders als eine rein numerische Simulation akustischer Parameter stellt eine virtuelle historische Umgebung Sinnesreize zur Verfügung, die von menschlichen Akteuren erfahren und interpretiert werden, um Erkenntnisse über die historischen Bedingungen zu gewinnen. Ein sol­ cher Anspruch wird, selbst bei einer technisch perfekten Rekonstruktion der historischen Realität, jedoch nur durch einen methodisch reflektier­ ten Umgang mit diesen Beobachtungen legitimiert. Schließlich sind Menschen tendenziell unzuverlässige, einzigartige und auto-poietische »Messinstrumente«. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf unterschied­ liche Aspekte der äußeren Umwelt, haben unterschiedliche perzeptive und kognitive Fähigkeiten und konstruieren die Identität und die Bedeu­ tung von Objekten und Ereignissen vor dem Hintergrund ihres eigenen kulturellen Kontexts. Darüber hinaus können verschiedene menschliche Akteure in interaktiven Umgebungen per definitionem unterschiedli­ che Aktionen ausführen und dadurch zu idiosynkratischen Eindrücken derselben virtuellen Umgebung gelangen. In Disziplinen wie der Psy­ chologie, der Soziologie und der Ethnographie, die sich mit subjektiven Feldbeobachtungen beschäftigen, wurde ein umfangreiches Methoden­ repertoire entwickelt, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Dort wird auch die sozialwissenschaftliche Erforschung virtueller Realitäten seit fast 20 Jahren diskutiert.15 Anders als cyber-ethnographische Studien in der Soziologie oder Kommunikationswissenschaft ist die Beobachtung 15 | Vgl. Annette N. Markham: Life Online: Researching Real Experience in Virtual Space, Lanham 1998.

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einer virtuellen historischen Umgebung allerdings nicht auf die Analyse von Handlungen oder Eindrücken anderer menschlicher Akteure in vir­ tuellen Welten oder Computerspielen ausgerichtet, sondern zumeist auf die Analyse der eigenen subjektiven Erfahrung, etwa als Besucher einer simulierten Musikaufführung. Man könnte das hier diskutierte Vorgehen daher als eine neue Form der Cyber-Phänomenologie betrachten. Nichts­ destotrotz fußt es auf denselben ethnographischen Methoden, um die Zuverlässigkeit und intersubjektive Validität von Beobachtungen zu do­ kumentieren und zu verbessern.

VII. S truk turierte B eobachtungen Die größte Herausforderung der Reliabilität cyberphänomenologischer Zugänge zu virtuellen geschichtlichen Settings jenseits aller Fragen unterschiedlicher kultureller Hintergründe und Expertise der Beobach­ ter ist zunächst die prinzipielle Selektivität der menschlichen Wahrneh­ mung. Differentielle Aufmerksamkeitsspannen, sowie Bahnungs- und Halo-Effekte,16 aber auch die divergierenden Resultate der interaktiven Handlungen, die von unterschiedlichen Beobachtern in derselben virtu­ ellen Umgebung ausgeführt werden, können zu sehr unterschiedlichen subjektiven Wahrnehmungseindrücken in der virtuellen historischen Klangumgebung führen. Eine simple, in der Kommunikationswissen­ schaft, Psychologie und Soziologie verbreitete Methode, die in der Lage ist, die resultierende Idiosynkrasie der Eindrücke zu ›zähmen‹ ist die Durchführung strukturierter oder halb-strukturierter Beobachtungen.17 Diese erfordern allerdings eine klar explizierte Forschungsfrage und eine a-priori vorgenommene Eingrenzung des Bereichs interessierender Phä­ nomene, die dann zur Erstellung eines Beobachtungsformulars (bzw. Ka­ tegorienschemas) verwendet werden kann. Dieses gibt die unterschiedli­ chen Aktivitäten vor, welche die Beobachter der virtuellen Umgebung zu vollziehen haben (etwa den Besuch bestimmter Plätze) und lässt Leerstel­ 16 | Alexander Kochinka: »Beobachtung«, in: Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, hg. von Günter Mey und Katja Mruck, Wiesbaden 2010, S. 449461, https://doi.org/10.1007/978-3-531-92052-8_32. 17 | Jürgen Bortz und Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation, Berlin und Heidelberg 2006, S. 262-267.

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len in der Tabelle, die während oder unmittelbar nach der Beobachtung ausgefüllt werden müssen. Als Beobachtungsdaten eingetragen werden dann entweder die bloße Existenz oder aber die empfundenen Qualitäten oder Intensitäten bestimmter vorab vermuteter Phänomene. In der kom­ plett strukturierten Variante müssen alle interessierenden Phänomene und ihre Subkategorien bereits vollständig vor Beginn der eigentlichen virtuellen Feldarbeit spezifiziert werden, wodurch die Tabelle zu einer Art multiple-choice Fragebogen wird. Bei der halbstrukturierten Version werden die Phänomenkategorien bewusst breiter formuliert und die Sub­ kategorien teils noch offengelassen und erst im Feld durch die Beobachter sukzessive ergänzt, was die spätere Analyse um einen zusätzlich notwen­ digen, integrativ-interpretativen Schritt erweitert.18 Unabhängig davon welcher der beiden Ansätze verfolgt wird, erlauben beide, bedingt durch den relativen hohen Standardisierungsgrad, die Umwandlung der erho­ benen Beobachtungsdaten in Zahlenwerte und somit auch systematische quantitative Vergleiche zwischen den Eindrücken einer größeren Zahl unterschiedlicher Historiker. Ferner bahnt dies den Weg für mathemati­ sche Reliabilitätsprüfungen, sowie für die Erstellung von standardisierten Skalen und die Durchführung statistischer Hypothesentests. Während die interne Validität und Reliabilität der Beobachtungen deutlich durch solche strukturierten Verfahren verbessert werden, ist ein Nachteil, dass sie nur mit a-priori zumindest grob spezifizierten Phänomenen umgehen können. Dadurch wird erkenntnistheoretisch ein deduktiv schließender Forschungsstil forciert, der nicht für alle Forschungsfragen geeignet ist und auch typischerweise oft zum Nachteil der externen Validität gereicht. Zusammengenommen erscheinen daher strukturierte Beobachtungsver­ fahren vor allem gut geeignet für quasi-experimentelle historische Stu­ dien, die virtuelle Umgebungen einsetzen, um a-priori aufgestellte Hypo­ thesen zu testen.

18 | Volker Gehrau: Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft: Methodische Ansätze und Beispielstudien, Konstanz 2002.

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VIII. O ffene e thnogr aphische V erfahren Die größte Herausforderung hinsichtlich der Validität cyberphänomeno­ logischer Zugänge zu virtuellen geschichtlichen Settings ist die kultu­ relle und historische Situiertheit jeglicher menschlichen Wahrnehmung: Jeder Beobachtungsakt ist grundsätzlich mit zahlreichen impliziten kul­ turspezifischen Annahmen aufgeladen, welche die Art und Menge der ›gesehenen‹ Entitäten, Qualitäten, Akteure, Beziehungen und Ereignisse, die von Menschen beim Wahrnehmen konstruiert werden, vorstrukturie­ ren.19 Dieses Problem verschärft sich sogar noch, wenn die Forschungsfra­ gen eher explorativer Natur sind und die beobachteten Settings sehr weit von der eigenen Herkunftskultur entfernt sind. Daher erscheint es vom Standpunkt der Validität wichtig, in solchen Fällen ein Beobachtungs­ verfahren einzusetzen, welches die intersubjektive Nachvollziehbarkeit subjektiver Interpretationen maximiert, um die Kulturgebundenheit der Wahrnehmung zu ›zähmen‹. Offensichtlich ist dies nur möglich, wenn nicht nur die beobachteten Phänomene allein, sondern auch ihre subjek­ tiven Interpretationen und der Weg, auf dem diese erreicht wurden, ana­ lysiert und das Ergebnis qualitativ zwischen verschiedenen Forschern mit unterschiedlichen Expertisehintergründen verglichen wird. Dies ist aller­ dings auf Basis standardisierter Beobachtungsformulare kaum möglich. Wenn es also um eher offene Forschungsfragen gehen soll, oder wenn eine mögliche Verzerrung der Beobachtungsergebnisse durch die Kul­ turgebundenheit der Forschenden vermutet wird, scheint es vernünftig, Nachteile in Bezug auf die Reliabilität in Kauf zu nehmen und eher zu ver­ suchen, die intersubjektive Validität zu verbessen, indem auf nicht-stan­ dardisierte ›qualitative‹ Beobachtungsverfahren 20 zurückgegriffen wird, die in den Kulturwissenschaften und in der Ethnographie dominieren,21 anstatt strukturierte Beobachtungen durchzuführen. Typische Szenarien hierfür wären etwa historische Forschungsprojekte, die nicht nur an Fra­ gen bloßer Wahrnehmbarkeiten oder Intensitäten von Phänomenen in­ 19 | Jim Bogen: »Theory and Observation in Science«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward Zalta, http://plato.stanford.edu/archives/ sum2014/entries/science-theory-observation/ (abgerufen am 01.07.2018). 20 | Bortz und Döring, Forschungsmethoden und Evaluation, S. 321-325. 21 | Ronald E. Hallett und Kristen Barber: »Ethnographic Research in a Cyber Era«, in: Journal of Contemporary Ethnography 43 (2014), H. 3, S. 306-330.

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teressiert sind, sondern auf ästhetische, emotionale oder soziale Urteile abzielen. Um für solche Interpretationen die Intersubjektivität zu sichern, empfehlen wir, dass die Forscher »dichte Beschreibungen«22 ihrer subjek­ tiven Eindrücke in Form extensiver Feldnotizen anfertigen, oder sich im Feld der Technik des »lauten Denkens« bedienen und davon Audioauf­ zeichnungen und später daraus abgeleitete Transkriptionen anfertigen. Um die Nachvollziehbarkeit dieser subjektiven interpretativen Daten zu erhöhen, würden diese Materialien idealerweise noch um positionsbezo­ gene Daten (Positionen, zurückgelegte Distanzen und Bewegungspfade in der virtuellen Umgebung) und audiovisuelle Aufnahmen der rezipier­ ten simulierten Weltausschnitte (Screenshots, kurze Video- oder Audio­ files) ergänzt werden, was anderen Forschern dann hilft, den persönli­ chen Interpretationen und Schlussfolgerungen der Beobachter zu folgen. Schließlich sollten Forscherinnen und Forscher, die sich in dieser Weise cyberphänomenologisch betätigen, die historischen Wissensbestände möglichst ausführlich explizieren, welche sie aktiv verwendet haben, um sich in die Position eines zeitgenössischen Beobachters zu versetzen. Durch die Triangulation dieser verschiedenen Datenformen im Rahmen einer interpretativen Analyse, welche auch die Feldnotizen, Bewegungen und Beobachtungen einer kleineren Anzahl von Forschern miteinander systematisch vergleichen könnte, ließe sich dann eine Grounded Theo­ ry23 über vormals unvermutete Phänomene und Mechanismen im unter­ suchten historischen Feld entwickeln. Zusammengenommen erscheinen solche qualitativen ethnographischen Verfahren gut zur Untersuchung eher offener, explorativer Forschungsfragen geeignet, denen es um die Entwicklung neuer Hypothesen oder das Aufspüren unvermuteter Phä­ nomene geht.

22 | Clifford Geertz: »Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture«, in: ders.: The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 1973, S. 3-30. 23 | Günter Mey und Katja Mruck: »Grounded-Theory-Methodologie«, in: Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie, hg. von dens., Wiesbaden 2010, S. 614-626.

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IX. D ie K ombination struk turierter B eobachtungen und e thnogr aphischer V erfahren Abschließend lässt sich noch auf die offensichtliche Tatsache hinweisen, dass ethnographische Verfahren und strukturierte Beobachtungen auch in komplementärer Weise miteinander verknüpft werden können, um die jeweiligen Nachteile und Vorzüge zu kompensieren. Am weiter oben dargestellten Forschungsbeispiel erläutert könnte etwa ein Historiker zu­ nächst ethnographisch mehrere historische Konzerträume Beethovens in ihrer virtuellen Rekonstruktion erkundet haben, um schließlich zu der Hypothese zu gelangen, dass die unterschiedliche Beliebtheit verschie­ dener Aufführungsräume dieser Zeit auch akustische Ursachen im Hin­ blick auf die Nachhallzeit hatte. Dies könnte dann den Anlass geben, eine zusätzliche strukturierte Beobachtungsstudie mit mehreren Forschern in denselben virtuellen Umgebungen durchzuführen, um diese Hypo­ these statistisch zu überprüfen und ggf. zu falsifizieren.

X. N eues W issen aus bek annten Q uellen ? Eine abschließende Bemerkung zielt auf die Rolle von virtuellen Umge­ bungen und der damit verbundenen Beobachtungen innerhalb eines er­ kenntnistheoretischen Modells historischer Forschung. Wenn diese als ein Schließen von den materiellen Spuren historischer Ereignisse auf ›ge­ meinsame Ursachen‹ (common causes) solcher Spuren verstanden wird,24 so ist zunächst nicht offensichtlich, welchen zusätzlichen Wert virtuelle historische Umgebungen haben können, die ja letztlich nur eine medien­ technische Manifestation dieser meist bereits bekannten Quellen sind. Jeder Aspekt der Rekonstruktion des Theaters an der Wien, der in diesem Artikel diskutiert wurde, von der Architektur bis zur Größe und räum­ lichen Anordnung von Orchester und Publikum, basiert schließlich auf musik- und baugeschichtlichen Quellen, die an verschiedenen Stellen be­ reits veröffentlicht oder zumindest zugänglich waren. Nichtsdestoweniger sehen wir drei Wege für die Generierung neuen Wissens aus virtuellen historischen Umgebungen: 24 | Aviezer Tucker: Our Knowledge of the Past. A Philosophy of Historiography, Cambridge 2004.

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Erstens: Durch die systematische Zusammenführung verstreuter In­ formationen (über die Architektur und Baugeschichte des Raums, die Größe und Aufstellung des Orchesters, die historische Aufführungspra­ xis) in einem virtuellen akustischen Modell können neue Informationen gewonnen werden, die in den einzelnen Quellen zwar theoretisch bereits enthalten waren, aber zuvor nicht in Verbindung zueinander gesetzt wurden. Diese Verbindung kann etwa durch physikalische Gesetze zur Schallausbreitung hergestellt werden, die in der akustischen Simulation modelliert sind, ähnlich wie naturwissenschaftliche Kenntnisse über chemische Prozesse bei der Alterung von Farben eine Rekonstruktion der ursprünglichen Farbgebung historischer Gemälde erlauben können. Während sich Disziplinen wie die Geologie, die Meteorologie und die Materialwissenschaften intensiv mit der Entwicklung von Computermo­ dellen für das dynamische, zeitabhängige Verhalten von physikalischen Systemen beschäftigen, macht im Bereich der Geschichtswissenschaften bisher nur die Archäologie intensiveren Gebrauch von solchen Methoden zur numerischen Extrapolation historischer Entwicklungen. Zweitens: Virtuelle Umgebungen sind in der Lage, Informationen aus Text- und Bildquellen in sensorische Reize umzuwandeln. Sie bieten so­ mit bei allen Fragen, die mit der sinnlichen Wahrnehmung von histo­ rischen Ereignissen oder Ereignis-Räumen verbunden sind, eine poten­ tiell umfassendere Rekonstruktion der Wirklichkeitserfahrung als dies durch textliche oder graphische Beschreibungen alleine möglich ist. Man kann versuchen, das Klangbild einer historischen Aufführung anhand von Informationen über die Orchesterbesetzung und die Eigenschaften des Raums in Worten zu beschreiben oder anhand von akustischen Para­ metern zu quantifizieren.25 Aber es ist eine Sache zu wissen, dass der raumakustische Parameter ›Stärkemaß‹ im Uraufführungsraum der 3. Sinfonie einen Wert von 18 dB hat und eine andere Sache, die klangliche Intensität zu erleben, die sich im Vergleich zu einem modernen Konzert­ saal mit Werten von typischerweise 3-5 dB ausbildet. Dass dieses Informa­ tionsangebot auch für Personen ohne akustische Fachkenntnisse leichter zugänglich ist als numerische Parameter, ist ein Nebenaspekt, dessen Be­ 25 | Vgl. Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume. Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt a.M. 2002. Eine Auralisierung sinfonischer Aufführungen war Ende der 1990er Jahre noch jenseits der technischen Möglichkeiten.

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deutung für interdisziplinäre Forschungen jedoch nicht zu unterschätzen ist. Drittens: Für die empirisch fundierte Gestaltung virtueller histori­ scher Umgebungen müssen Wissensbestände aus verschiedenen wis­ senschaftlichen Disziplinen integriert werden. Für die Rekonstruktion historischer Konzertsäle gehören dazu mindestens die Musikgeschich­ te (Quellen zu musikalischer Aufführungspraxis, Instrumentarium, Konzertgeschichte), die Architektur- und Baugeschichte (Quellen zum Raum), die Denkmalpflege (Befunde an den baulichen Überresten), die Kunstgeschichte (Bildquellen), die Theaterwissenschaft (Geschichte der Institutionen) und die Akustik. Die virtuelle Rekonstruktion historischer Räume und Ereignisse kann so zu einem interdisziplinären Labor wer­ den, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse ganz unterschiedlicher Fach­ gebiete in Beziehung gesetzt und historisch verhandelt werden. Und die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Beispielen für neues Wissen, das aus einer nicht-konventionellen Zusammenarbeit verschiedener Diszipli­ nen hervorgegangen ist.

L iter atur - und Q uellenverzeichnis David Bearman: »3D Representations in Museums«, in: Curator: The Museum Journal 54 (2011), H. 11, S. 55-61. Jim Bogen: »Theory and Observation in Science«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, hg. von Edward Zalta, http://plato.stanford.edu/ archives/sum2014/entries/science-theory-observation/(abgerufen am 01.07.2018). Christoph Böhm, David Ackermann und Stefan Weinzierl: A Multi-channel Anechoic Orchestra Recording of Beethoven’s Symphony No. 8 op. 93, http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-6729, Berlin 2018. Ingolf Bork: »Report on the 3rd Round Robin on Room Acoustical Compu­ ter Simulation – Part I: Measurements«, in: Acta Acustica united with Acustica 91 (2005), H. 4, S. 740-752. Ingolf Bork: »Report on the 3rd Round Robin on Room Acoustical Com­ puter Simulation – Part II: Calculations«, in: Acta Acustica united with Acustica 91 (2005), H. 4, S. 753-763. Jürgen Bortz und Nicola Döring: Forschungsmethoden und Evaluation, Ber­ lin und Heidelberg 2006.

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Fabian Brinkmann, Alexander Lindau und Stefan Weinzierl: »On the Au­ thenticity of Individual Dynamic Binaural Synthesis«, in: Journal of the Acoustical Society of America 142 (2017), H. 4, S. 1784-1795. Vera Erbes, Frank Schultz, Alexander Lindau und Stefan Weinzierl: »An Extraaural Headphone System for Optimized Binaural Reproduction«, in: Fortschritte der Akustik – DAGA Darmstadt 2012, S. 313-314. Clifford Geertz: »Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture«, in: ders.: The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 1973, S. 3-30. Volker Gehrau: Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft: Methodische Ansätze und Beispielstudien, Konstanz 2002. Helmut Gernsheim und Alison Gernsheim: L. J. M. Daguerre. The History of the Diorama and the Daguerreotype, New York 1968. Ronald E. Hallett und Kristen Barber: »Ethnographic Research in a Cyber Era«, in: Journal of Contemporary Ethnography 43 (2014), H. 3, S. 306330. Alexander Kochinka: »Beobachtung«, in: Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, hg. von Günter Mey und Katja Mruck, Wiesbaden 2010, S. 449-461, https://doi.org/10.1007/978-3-531-92052-8_32. Nicola Lercari: »Simulating History in Virtual Worlds«, in: Handbook on 3D3C Platforms. Applications and Tools for Three Dimensional Systems for Community, Creation and Commerce, hg. von Yesha Sivan, Cham u.a. 2016, S. 337-352. Alexander Lindau und Stefan Weinzierl: »On the Spatial Resolution of Virtual Acoustic Environments for Head Movements in Horizontal, Vertical and Lateral Direction«, in: EAA Symposium on Auralization, Helsinki 2009, S. 1-6. Alexander Lindau: »The Perception of System Latency in Dynamic Binau­ ral Synthesis«, in: Fortschritte der Akustik – DAGA, Rotterdam 2009. Vincenzo Lombardo, Andrea Valle, John Fitch, Kees Tazelaar, Stefan Weinzierl und W. Borczyk: »A Virtual-Reality Reconstruction of Poé­ me Électronique Based on Philological Research«, in: Computer Music Journal 33 (2009), H. 2, S. 24-47. Annette N. Markham: Life Online: Researching Real Experience in Virtual Space, Lanham 1998. Günter Mey und Katja Mruck: »Grounded-Theory-Methodologie«, in: Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie, hg. von dens., Wies­ baden 2010, S. 614-626.

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Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi

Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt a.M. 1980. Laja Pujol und Erik Champion: »Evaluating Presence in Cultural Heritage Projects«, in: International Journal of Heritage Studies 18 (2012), H. 1, S. 83-102. Zora Schärer und Alexander Lindau: »Evaluation of Equalization Methods for Binaural Signals«, in: Proc. of the 126th AES Convention, München 2009, Paper Nr. 7721. Maggie Burnette Stogner: »The Media-Enhanced Museum Experience: Debating the Use of Media Technology in Cultural Exhibitions«, in: Curator: The Museum Journal 52 (2009), H. 4, S. 385-397. Aviezer Tucker: Our Knowledge of the Past. A Philosophy of Historiography, Cambridge 2004. Michael Vorländer: Auralization: Fundamentals of Acoustics, Modelling, Simulation, Algorithms and Acoustic Virtual Reality, Berlin 2008. Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume. Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt a.M. 2002. Stefan Weinzierl: »Round Robin on Room Acoustical Simulation and Auralization«, in: International Round-Robin on Auralisation, https:// rr.auralisation.net/ (abgerufen am 01.07.2018).

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie Alexander Rehding

Stellen wir uns vor, wir betreten einen Seminarraum, in dem Musiktheo­ rie gelehrt wird, dann erwarten wir eine Anzahl von Dingen: eine Tafel, idealerweise schon mit vorgezeichneten Notensystemen, weiterhin ein Klavier und Notenmaterial – vielleicht am besten das essentielle Musik­ theoriefutter, den Riemenschneider-Band der Bachschen Choräle. Stellen wir uns weiterhin vor, dass die in Abb. 1 abgebildete Passage aus dem lutherischen Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern, der die Grund­ lage von Bachs gleichnamiger Kantate BWV 1 bildet, an der Tafel steht. Die Studenten singen die Choralmelodie durch und setzen die fehlenden Stimmen in tonalen Harmonien gemäß den Regeln der Stimmführung im vierstimmigen Satz. Richtige und falsche Antworten werden an der Tafel vorgestellt, verschiedene Alternativen vorgeschlagen, am Klavier vorgeführt, einstimmig oder im vollen Satz durchgesungen und mit der gesamten Studentengruppe durchgearbeitet. Dieses Bild dürfte allen Mu­ sikern und Musikwissenschaftlern in der einen oder anderen Form aus Schul- und Studienzeiten bekannt sein. Abb. 1. Der Bach-Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern, nach BWV 1, im vierstimmigen Satz.

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Alexander Rehding

Die Vorstellung hinter diesen Übungen besteht darin, dass diese kompak­ ten vierstimmigen Stücke die Grundzüge der Satzlehre vermitteln, um Studenten so auf komplexere Aufgaben in der Komposition und Werkana­ lyse vorzubereiten. Die Musiktheorie, speziell die Satzlehre, abstrahiert die Regeln der Harmonik, des Kontrapunkts und musikalischer Formen von einem bestimmten Repertoire, das dann im Gegenzug auf andere Werke angewandt werden kann, um ein besseres Verständnis von deren Struktur  zu bekommen. Regelwerk und musikalisches Repertoire, die normalerweise unter diesem Banner zusammengeführt werden, werden in englischsprachigen Ländern oft unter dem schönen Namen Common Practice, also »geläufige Praxis« geführt, der 1941 von dem amerikani­ schen Komponisten Walter Piston eingeführt wurde.1 Unter diesem Be­ griff verschmelzen beide Seiten zu einem perfekten Kreis. Die Frage nach der Praxis, ob geläufig oder nicht, bringt mich zu meinem Hauptanliegen heute. Was genau tun wir eigentlich, wenn wir Musiktheorie betreiben? Wie können wir über die Praxis der Musiktheo­ rie im größtmöglichen Rahmen nachdenken? Und vor allem: Worin be­ steht die Rolle der Klanglichkeit, die in der Musiktheorie oft stark unter­ schätzt wird? Schauen wir uns noch einmal in unserem Seminarraum um. Selbstverständlich geht es mir nicht um einen bestimmten Raum, sondern vielmehr darum, was uns die materielle Ausstattung über die Musiktheorie mitteilen kann, die dort praktiziert wird. Was ich hier untersuchen möchte, anhand von drei grundverschiedenen Lektionen aus verschiedenen Epochen der Musiktheorie, ist die Frage, wie wir die Elemente, die musiktheoretische Praktiken ausmachen, in einen techno­ logischen und medienwissenschaftlichen Rahmen fassen können, der es uns ermöglicht, die Frage nach Klanglichkeit aus diesem Kontext heraus­ zuschälen und in den Vordergrund zu stellen. Beginnen wir mit der augenfälligen Beobachtung, dass wir einerseits mit drei Bestandteilen im Seminarraum arbeiten, nämlich Instrument, musikalisches Repertoire und Visualisierung im Notentext, andererseits aber in der schematischen Darstellung nur zwei Seiten haben. Wir könn­ ten ohne weiteres argumentieren, dass klangliche und visuelle Darstel­ 1 | Walter Piston: Harmony, New York 1941, S. 1-2. Die Wechselbeziehung zwischen Repertoire und Regelwerk habe ich näher untersucht in Alexander Rehding: »Tonality between Rule and Repertoire; Or, Riemann’s Functions – Beethoven’s Function«, in: Music Theory Spectrum 33 (2011), S. 109-123.

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

lung nur zwei Seiten derselben Medaille seien. Aber was geschieht, wenn wir das Sichtbare, also den Notentext, vom Hörbaren, den Klaviertönen, trennen? Stellen wir uns vor, wie eine systematische Darstellung der Mu­ siktheorie, die diese Elemente verbindet, aussehen müsste. Wie bereits oben erwähnt, besteht letzten Endes der Zweck dieses Systems in einer Propädeutik für Komposition und Werkanalyse. Wir können uns das Ganze etwa so vorstellen, wie in Abb. 2 schematisch abgebildet ist, wobei Komposition und Werkanalyse letzten Endes im Repertoire-Bestandteil aufgehen. Abb. 2. Zeitgenössischer Musiktheorieunterricht. Schematische Darstellung der Elemente in der Common Practice. Drei Instanzen – Klavier, Tafel und Notation – bilden ein geschlossenes System.

Zweifellos korrekt ist, dass visuelle und klangliche Darstellung eng ver­ bunden sind. Obwohl die Musik vor allem mit der Hördimension ver­ knüpft ist, bedarf es keiner umständlichen Erklärung, um zu verstehen, dass die visuelle Komponente einen wesentlichen Beitrag leistet: Noten

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machen Musik lesbar. Sie spielen eine grundlegende Rolle in jeder Lehr­ situation, wo die Beziehungen zwischen Tönen, Intervallen oder Harmo­ nien nachvollzogen werden müssen, da sie in ihrer schriftlichen Existenz nicht an den linearen Ablauf der klingenden Musik gebunden sind. No­ ten überwinden so die zeitlich gebundene Existenz des Tons. Wir tun gut daran, sorgfältig zwischen Tönen und Noten, zwischen klingender und geschriebener Musik zu unterscheiden. Friedrich Kittlers Medienbegriff, der den Vorzug hat, so weiträumig gefasst zu sein, dass sich problemlos so verschiedenartige Dinge wie Schreibmaschinen, Städte und mittelalterliche Universitäten darunter begreifen lassen, kann auch für die Musiktheorie fruchtbar gemacht werden.2 Zur Erinnerung, Kittlers Medienbegriff erfüllt drei Grundfunk­ tionen: Adressierung, Speicherung und Verarbeitung von Datenströmen. Der konzise Begriff, den er dafür benutzt, ist das »Aufschreibesystem«.3 Die Notation ist ganz klar ein solches Aufschreibesystem: Die diastema­ tische Notation erlaubt die ›Speicherung‹ von Musik, so dass sie unabhän­ gig von Zeit und Raum reproduziert werden kann. Plakativ gesagt, wird durch Notation eine Aufführung zu einem wiederholbaren Ereignis. Sie bringt die grundlegende Teilung zwischen Komposition und Aufführung hervor, auf der die europäische Kunstmusik für die letzten Jahrhunderte beruht hat. Was die ›Adressierung‹ angeht, so kann die Musik in notierter Form verteilt werden und wortwörtlich von A nach B getragen werden, was mit klingender Musik nicht möglich ist. Als Notation überwindet die Musik das Hier und Jetzt. Die ›Verarbeitung‹ kann auf verschiedene Arten erfolgen: Dank Notation kann Musik in der Aufführung schnel­ ler oder langsamer gespielt werden, höher oder tiefer, sogar vorwärts und rückwärts. Zwar scheint es, als sei das Klavier in diesem Modell lediglich ein Anhang der Notation, der die Komposition aus ihrer schriftlichen Ge­ stalt wieder klanglich herstellt. Aber wie ich später noch zeigen will, über­ nehmen Instrumente selber eine tragende mediale Funktion innerhalb eines solchen musiktheoretischen Aufschreibesystems.

2 | Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, Friedrich Kittler und Matthew Griffin: »The City is a Medium«, in: New Literary History 27 (1996), S. 717-729, und Friedrich Kittler: »Universities: Wet, Hard, Soft, Harder«, in: Critical Inquiry 31 (2004), S. 244-256. 3 | Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985.

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

Die Anordnung von Notation, Tafel und Klavier ist uns allen vertraut. Vielleicht ist sie uns so sehr vertraut, dass es schwer vorstellbar erscheint, dass das Verhältnis von konkretem Repertoire und abstrakten Regeln nicht schon immer grundlegend war. Sehen wir deshalb über unseren musiktheoretischen Tellerrand hinweg und wenden wir uns der nächsten Lektion zu. Stellen wir uns vor, wir säßen in einer Musiktheoriestunde im 16. Jahr­ hundert. Der Veranstaltungsraum sähe eher aus, wie auf dieser Darstel­ lung aus dem letzten Traktat von Franchinus Gaffurius (1518), abgebildet in Abb. 3, wo wir den italienischen Humanisten bei der Arbeit sehen. Gaf­ furius arbeitet nicht an einer Tafel, sondern benutzt andere Darstellungs­ möglichkeiten.4 Hinter ihm sehen wir Orgelpfeifen in verschiedenen Größen, sowie abstrakte Linien in verschiedenen Längen. An der Wand hängt ein Zirkel. Gaffurius hält seine Vorlesung hinter einem Podest, vor dem zwölf sitzende Schüler an Gaffurius’ Lippen hängen, während der Gelehrte vorzulesen scheint. Um das Buch herum sind einige Details ab­ gebildet – eine kleine Öllampe sowie eine Sanduhr, die vermutlich dazu dient, Gaffurius’ Redezeit zu limitieren. Schließlich flattert ein an Horaz gemahnendes Spruchband aus Gaffurius’ Mund: Harmonia est discordia concors.

4 | Franchinus Gaffurius: De harmonia musicorum instrumentorum opus, Mailand 1518.

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Abb. 3. Musiktheorieunterricht 1518. Gaffurius lehrt pythagoreische Verhältnisse. Frontispiz aus Franchinus Gaffurius: De harmonia musicorum instrumentorum opus (1518).

Natürlich ist diese Musiktheorievorlesung aus der frühen Neuzeit kei­ ne photographisch genaue Repräsentation. Die dargestellten Objekte schwanken zwischen reellen Dingen, wie etwa der Sanduhr, und Abstrak­ tionen, z.B. den abstrakt gehaltenen Linien auf der rechten Seite des Bil­ des. Keineswegs zufällig sind die Längen dieser Linien und Orgelpfeifen, die bei drei, vier und sechs Maßeinheiten liegen. Gaffurius, der auf pytha­ goreischen Pfaden wandelt, ist ganz besonders an numerischen Verhält­ nissen interessiert. Es bedarf keiner höheren Mathematik zu erkennen, dass die Verhältnisse zwischen diesen Maßeinheiten den grundlegenden Intervallen entsprechen – Oktave (1:2), Quinte (2:3) und Quarte (3:4). Dies sind natürlich nicht irgendwelche Intervalle: Gaffurius und sein Rivale Giovanni Spataro hatten einige Jahre zuvor eine Debatte über pythagorei­ sche Prinzipien geführt, die bald in eines der bittersten Gefechte in der

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

Geschichte der Musiktheorie ausartete.5 Die blumenreichen Ausdrücke, mit denen sich die Rivalen gegenseitig beschimpften, lassen sich kaum in gehobener Gesellschaft wiedergeben. Belassen wir es daher dabei, dass Gaffurius hier erneut auf seiner Position beharrt. Proportionen dieser Art waren der Hauptgegenstand der Musiktheo­ rie vom antiken Griechenland bis über das Ende des Mittelalters hinaus. So ist es nur verständlich, dass Gaffurius hier eine Pose einnimmt, die seinen Status in der Tradition der mittelalterlichen Magistri unterstreicht. Ein wesentlicher Aspekt der pythagoreischen Tradition ist, dass es im­ mer um mehr ging als nur Klänge und Intervalle. Zu einer Zeit, als die Musiktheorie fest im Fächerkanon des Quadriviums neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie verankert war, ging es im wahrsten Sinne des Wortes auch um alles andere unter der Sonne. Anders gesagt, war für einen Pythagoreer das Musikhören immer nur ein Gesichtspunkt ihrer musikalischen Forschung, und dabei nicht einmal der wichtigste. Ver­ stärkt wird dieser Eindruck durch den Zirkel an der Wand hinter Gaffu­ rius, der emblematisch die Verbindung zu den mathematischen Wissen­ schaften unterstreicht. Was in diesem Bild fehlt, ist das Gerät, durch das diese Proportionen hörbar werden, dem modernen Klavier entsprechend. Das Instrument, das Gaffurius für diesen Zweck vorsah, war das Monochord.6 Auch wenn es hier nicht in der Abbildung ausdrücklich erscheint, wissen wir aus sei­ nen Texten, dass es eine zentrale Rolle in seiner Lehre einnahm.7 Wir können daher stattdessen, wie in Abb. 4, ein Monochord von einem ande­ ren zeitgenössischen Humanisten einblenden, dem Schweizer Heinrich Glarean (1547). Das Monochord ist ein denkbar einfacher Apparat: Eine einzelne Saite wird über ein Holzbrett gespannt, so dass sie frei schwin­ 5 | Siehe Frieder Rempp: »Bemerkungen zum Selbstverständnis der italienischen Musikwissenschaft im 16. Jahrhundert«, in: Musiktheorie 4 (1989), S. 100-112. 6 | Zur Geschichte des Monochords siehe Cecil Adkins umfassende Arbeit The Theory and Practice of the Monochord, PhD Dissertation, The University of Iowa 1963. 7 | Gaffurius erwähnt das Monochord in seinen drei Hauptschriften, Theorica musicae, Mailand 1492, Practica musicae, Mailand 1496, sowie dem bereits erwähnten De harmonia musicorum instrumentorum opus. Die bekannte Illustration aus Buch 1, Kapitel 8, der Theorica zeigt Pythagoras, der ein mit sechs Saiten bespanntes Monochord spielt.

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gen kann. Indem man einen beweglichen Steg an den korrekten Punkten einsetzt, kann die Saite so geteilt werden, dass sie die entsprechenden Intervalle erklingen lässt. Abb. 4. Gaffurius benutzte ein Monochord im Unterricht, das dem von seinem schweizer Zeitgenossen Glareanus dargestellten ähnlich sah. Heinrich Glareanus: Dodecachordon, Basel 1547, Buch 1, S. 45.

In seiner Vorlesung hätte Gaffurius in jedem Falle die mathematischen Eigenschaften des Klanges anhand seines Monochordes demonstriert. Sein Traktat legt im Detail nahe, wie die verschiedenen Intervalle und Tonleitern auf dem Monochord gebildet werden. Selbstverständlich ist ein Monochord für die Schwerpunkte, die wir in der modernen Musiktheorie setzen, d. i. Komposition oder Werkanalyse, denkbar ungeeignet. Die um­ ständliche Bedienung des Instruments – Steg an der richtigen Stelle ein­ setzen, Saite zupfen, Steg verschieben, Saite wieder zupfen – wäre selbst bei monophoner Musik zu kompliziert. Wie gesagt, ging es für die Pythagoreer bei der Musik immer um mehr. Die musikalischen Proportionen wurden immer in Bezug auf das Zahlenuniversum gehört. Dies eröffnete ein reiches Bezugsfeld, das aus unserer zeitgenössischen Perspektive nur schwer nachzuvollziehen ist, da es sich so grundsätzlich von dieser unterscheidet. Denn einerseits führten pythagoreische Korrespondenzen in das Feld der Astronomie: Denken wir vor allem an Johannes Keplers wichtige astronomische Ab­ handlung Harmonices mundi (1619), in der er anhand der Sphärenklänge das dritte Keplersche Gesetz formuliert.8 Jedes Notenbild zeigt die Klän­ ge der einzelnen Planeten auf ihrer elliptischen Bahn, die wir uns als Glissandi vorzustellen haben. Dieses überaus pythagoreische Beispiel ist ein integraler Bestandteil von Keplers wissenschaftlicher Argumentation. 8 | Johannes Kepler: Harmonices Mundi, Linz 1619, S. 207.

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

Moderne Wissenschaftler ohne den nötigen musikalischen Hintergrund können sich bei diesem wichtigen Kapitel nur verwirrt am Kopf kratzen. Und andererseits führte das pythagoreische Weltbild in der frühen Neuzeit zu hermetischen theologischen Traditionen, wie etwa das Trak­ tat des Rosenkreuzers Robert Fludd Utriusque cosmi historia (1617-1624) mit der berühmten Darstellung des Monochords, das aus dem Himmel reicht und von einer göttlichen Hand gestimmt wird. Die Unterteilungen markieren die Scala naturae, von Gott und Cherubim, über Sterne und Planeten, bis ganz hinunter zur Welt von Mensch und Tier. Hier erläu­ tert das Monochord als Symbol der ewigen himmlischen Harmonie in einem einzigen frappanten Bild, was die Welt zusammenhält. Von unse­ rer heutigen Perspektive aus gesehen führen uns diese beiden musiktheo­ retischen Ansätze in fremde Gegenden, sei es nun auf dem Terrain der Naturwissenschaften oder der Metaphysik. Welche Rolle spielt das Monochord in diesem System? Der Altphilolo­ ge David Creese, ein Spezialist auf dem Gebiet der antiken Musiktheorie, hält das Monochord für nichts weniger als ein »Meta-Metonym der anti­ ken Harmonik«, ein Instrument, das musikalische und mathematische Aspekte in einem Apparat zusammenfasst. Das Monochord, so Creese weiter, ist »ein hörbares Diagramm: der Musiker hört Zahlen, der Mathe­ matiker sieht Klänge.«9 Vor diesem Hintergrund können wir das musiktheoretische Auf­ schreibesystem von Gaffurius’ humanistischem Zeitalter mit Abb. 5 rekonstruieren. Die Elemente, die wir in seiner Lehre festhalten konn­ ten – Monochord, Saitenlängen, und pythagoreische Kosmologie –­  kön­ nen ohne weiteres in Analogie zum System der modernen Musiktheo­ rie verstanden werden, mit dem wir angefangen haben, insofern als sie klangliche und visuelle Darstellungen sowie Motivation umfassen. Diese Elemente bilden einen ähnlich starken Zusammenhalt, obwohl ihre Aus­ richtung natürlich eine ganz andere ist.

9 | David Creese: The Monochord in Ancient Harmonic Science, Cambridge 2010, S. 47.

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Abb. 5. Musiktheorieunterricht 1518 in schematischer Darstellung. Monochord, Saitenlängen und pythagoreisches Weltbild bilden hier die Instanzen, die dem geschlossenen System der Common Practice entsprechen.

Saitenlängen mögen zunächst nicht nach einem klassischen Schrift­ medium aussehen, aber wir sollten uns vor Augen halten, dass dies die pythagoreisch angemessene Darstellungsform von Klängen ist. Zu jener Zeit gab es selbstverständlich auch Notation, aber die war in diesem Zu­ sammenhang schlicht nicht relevant, denn für den Pythagoreer standen nicht Töne im Mittelpunkt, sondern Intervalle. Dies mag von unserem heutigen Standpunkt sehr abstrakt erscheinen. Aber es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass in diesem pythagoreischen Rahmen Komposi­ tion bzw. Analyse praktisch keine Rolle spielten. Der ganze uns bekannte Apparat – mit Repertoire, Werken, Kanons usw. – finden in diesem Sys­ tem keinen Platz. Die Hauptaufgabe des pythagoreischen Weltbildes be­ stand darin zu zeigen, dass die gesamte sinnliche Welt auf numerischen Verhältnissen basierte. Daher ist es kaum zufällig, dass das griechische logos sowie das lateinische ratio mit »Proportion« aber auch mit »Ver­ nunft« übersetzt werden können. Die Musiktheorie mit Schwerpunkt auf präzisen Intervallen stellte die hörbare Domäne dar, in der die Universali­

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

tät der Zahlenverhältnisse dargelegt werden konnte, analog zur Astrono­ mie als visueller Domäne, in der die pythagoreischen Verhältnisse auf allerhöchster Ebene dargelegt werden konnten. Es bedarf wohl kaum der Anmerkung, dass natürlich auch Komposi­ tionsunterricht existierte – denken wir nur an Gaffurius’ großen Zeitge­ nossen Johannes Tinctoris. Auch in seinem eigenen Kontrapunkttraktat benutzte Gaffurius selbstverständlich Notenmaterial in großem Umfang. Aber all das ist für unseren Zusammenhang irrelevant: denn hier sind wir ja an den Aufschreibesystemen der Musiktheorie interessiert, in der eine sehr starke Affinität zwischen den drei Elementen besteht, die die oben abgebildete Konfiguration ausmachen. Wie auch zuvor, liegt der Kernpunkt in dem Zusammenhang zwischen dem materiellen Auf bau des Lektoriums und dem Ausblick auf das, was die Musiktheorie erfassen kann und letzten Endes, wie sie die Musik als ihr Objekt konfiguriert. Der pythagoreische Ansatz mit seinen Monochorden und Saitenlängen, den Gaffurius verfolgte, verknüpft die Musik mit den mathematischen Wissenschaften – in einer Form, die uns heutzutage nur radikal interdis­ ziplinär erscheinen kann. Wir sollten uns noch ein bisschen näher mit dem Instrument beschäfti­ gen. Allzu oft werden Instrumente von der Musiktheorie vernachlässigt, bzw. werden als ›neutral‹ deklariert. Dies trifft besonders auf das Klavier zu. Im Gegensatz dazu möchte ich hier das Instrument in den Mittel­ punkt des Aufschreibesystems stellen, und baue dazu auf der »New Or­ ganology« von Emily Dolan und John Trescher auf, zu der im deutschen Rahmen auch die Arbeiten von Rebecca Wolf und anderen gehören.10 Was ich hier zur Diskussion stellen möchte, ist die These, dass das Instrument eine Schlüsselfunktion einnimmt, die auf theoretische Aussagen über die Musik entscheidenden Einfluss nehmen kann. So erlaubt uns das Mono­ chord, bestimmte Punkte darzulegen, während das moderne Klavier an­ dere Aussagen unterstützt. Wie können wir das Instrument im Rahmen der Musiktheorie am besten fassen? Im Gegensatz zur Musiktheorie hat die Wissenschaftsge­ 10 | John Tresch and Emily Dolan: »Toward a Critical Organology«, in: Osiris 28 (2013), S. 278-298, und Rebecca Wolfs aktuelles Forschungsprojekt »Materialität der Musikinstrumente: Ansätze einer Kulturgeschichte der Organologie« am Deutschen Museum München.

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schichte schon längst erkannt, dass das experimentelle Instrumentarium eine konstitutive Kraft im Prozess des Wissensgewinns darstellt. Bereits 1933 stellte der französische Philosoph Gaston Bachelard fest, dass Inst­ rumente tatsächlich »verdinglichte Theoreme« sind, und argumentierte, dass die beobachteten und wissenschaftlich beschriebenen Phänomene von den Instrumenten im wahrsten Sinne des Wortes hervorgebracht wer­ den.11 Diese Idee wurde in den 1980er Jahren von Forschern wie Bruno Latour, Mark Shapin und Simon Shaffer aufgegriffen, die besonders an der Wissenssoziologie interessiert waren.12 Der in diesem Zusammen­ hang wohl wichtigste Ansatz wurde von Hans-Jörg Rheinberger unter das Stichwort »experimentelles System« gefasst. Rheinbergers Modell verfolgt eine Dialektik zwischen Theorie und Experiment, in dem das Instrument die Rolle dessen annimmt, was Rheinberger als »epistemi­ sches Ding« bezeichnet. Dieses sind materielle Gegenstände, die einen Wissenskern bergen, den der Wissenschaftler aufdeckt. Besonders attrak­ tiv an diesem Konzept ist die essentielle »Verschwommenheit«13 des epis­ temischen Dings: es gibt keine voraus bestimmbare Form des Wissens, das dem Ding innewohnt. Erst im Rahmen des experimentellen Systems, in dem es angewandt wird, wird schärfer fokussiert. Die Aufschreibesys­ teme, die wir hier entwickeln, sind Rheinbergers »experimentellen Syste­ men« sehr verbunden. Es ist mehr als nur ein Wortspiel, dass sowohl Na­ turwissenschaftler als auch Musiker sich »Instrumenten« bedienen. Als epistemisches Ding kann das Musikinstrument zum wissenschaftlichen Instrumentarium werden und musikalische Erkenntnisse hervorbringen, darlegen, exemplifizieren oder beweisen. Die Medientheorie hat natürlich das ihre dazu beizutragen. Wie die Philosophin Sybille Krämer bemerkt, »übertragen Medien Daten nicht nur, sondern bringen diese gleichzeitig auch hervor.«14 Kein Medium scheint hier besser zu passen als Musikinstrumente, die als »epistemi­ 11 | Gaston Bachelard: Les intuitions atomistiques, Paris 1933, S. 140. 12 | Mark Shapin und Simon Shaffer: Leviathan and the Air Pump, Princeton, NJ 1985. 13 | Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, S. 24. 14 | Sybille Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Perfor-

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sche Dinge« Klänge und gleichzeitig Erkenntnisse über die Musik pro­ duzieren. Mit dieser neuen Perspektive gewappnet, können wir zu unserem Semi­ narraum zurückkehren, mit dem wir anfingen. Schauen wir das Reper­ toire etwas genauer an. Wie wir alle wissen, werden die Bachchoräle vor allem wegen ihrer Vielseitigkeit im Unterricht benutzt. Sie erfüllen die Rolle von kurzen Übungen im vierstimmigen Satz, mit dem Kontrapunkt und Harmonik gleichzeitig abgedeckt werden. Es ist leicht zu vergessen, welch weiten Weg diese ursprünglich liturgische Gattung zurücklegen musste, um aus dem evangelischen Kirchengestühl im Musiktheorie­ unterricht zu landen. Der meteoritenhafte Aufstieg der Bachchoräle beginnt im späteren 18. Jahrhundert. Bachs Harmonisierungen wurden zuerst um 1770 ge­ sammelt, um sie bei Breitkopf und Härtel zu veröffentlichen. Führende Musiker in Deutschland waren bei der Edition beteiligt, darunter Johann Philipp Kirnberger, Friedrich Wilhelm Marpurg und Carl Philip Emanuel Bach.15 Die liturgische Funktion dieser Choräle war von Anfang an neben­ sächlich, wie in den Editionsprinzipien deutlich zum Ausdruck kommt: Der vierstimmige Satz wurde auf zwei Systeme reduziert, was dem Spiel auf Tasteninstrumenten entgegenkommt, aber für Sänger eher weniger geeignet ist. Musikkritiker merkten an, dass die Choralsätze des Thomas­ kantors abstrakter und komplexer waren als die seiner Zeitgenossen, und Bachs kunstvolle Harmonisierungen wurde bald – in Kirnbergers Wor­ ten  – zum »größten Werk deutscher Kunst« vom »größten Harmoniker aller Zeiten und Nationen« stilisiert.16 Als 1843 das Leipziger Konservatorium gegründet wurde, konnten die Bachchoräle vollkommen in dieser absoluten Gestalt als ideales Lehrma­ terial integriert werden.17 Als universelle Modelle für Harmonik und Kon­ mativen«, in: Performativität und Medialität, hg. von ders., München 2004, S. 1332, hier S. 23. 15 | Siehe dazu auch Matthew Dirst: Engaging Bach: The Keyboard Legacy from Marpurg to Mendelssohn, Cambridge 2012, S. 34-54. 16 | New Bach Reader, hg. von Hans David, Arthur Mendel und Christoph Wolff, New York 1998, S. 384. 17 | Zur Geschichte des Konservatoriums siehe Johannes Forner: »Leipziger Konservatorium und ›Leipziger Schule‹: Ein Beitrag zur Klassizismus-Diskussion«, in:

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trapunkt legten sie den Grundstein für ein Handwerk, das einerseits in die Komposition und andererseits in die Werkanalyse führte. Es ist eine Sache, die Satzlehre als Hilfswissenschaft für die Kom­ position und Werkanalyse historisch zu bestimmen, die mit konkreten kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren verknüpft war; es ist eine ganz andere Sache zu erklären, wie visuelle und klangliche Repräsenta­ tion mit in dieses Aufschreibesystem gefügt sind. Sehen wir uns daher die Noten einmal genauer an, die diese vierstimmigen Sätze schriftlich festhalten. In der Regel halten wir sie für identisch mit den Tönen, die in der Aufführung klanglich zu Gehör gebracht werden. Oft werden Noten und Töne gar synonym verwendet, und das aus gutem Grund, besteht doch eine enge und notwendige Verbindung zwischen beiden, etwa wie zwischen einem Rezept und einer gekochten Mahlzeit. Es lohnt sich aber beizeiten, etwas feiner zu differenzieren, um nachzuvollziehen, wie sich ein geschriebenes Rezept von einem nahrhaften Mahl substantiell unter­ scheidet. Wir können beide Seiten auseinanderbiegen, wenn wir die in Noten gefassten Klänge mit den in Saitenlängen gefassten Klängen aus dem pythagoreischen Aufschreibesystem vergleichen. Dafür wenden wir uns kurz einer Debatte über die Natur des Klanges zu, die von einem ande­ ren Thomaskantor, nämlich Moritz Hauptmann, angerissen wurde. In seinen Schriften warf Hauptmann bekanntlich einige grundlegende Fra­ gen zum Thema Tonalität auf, insbesondere im Hinblick auf Fragen der Stimmung.18 Was ihn besonders interessierte, war die Frage nach rein gestimmten Akkorden innerhalb der modernen Harmonik. Ein reiner Durdreiklang entspricht dem 4., 5. und 6. Oberton auf der Obertonreihe, während der Molldreiklang, etwas ferner ab, dem 10., 12. und 15. Oberton entspricht (was als mathematisches Äquivalent auch als 1/6, 1/5 und 1/4 gefasst werden kann).

Musikforschung 50 (1997), S. 31-36. Moritz Hauptmann, der erste Theorielehrer am Leipziger Konservatorium, unterstrich wiederholt die zentrale Rolle des vierstimmigen Chorales für alle weiterführenden kompositorischen Aktivitäten, siehe Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hg. von Alfred Schöne, 2 Bde., Leipzig 1871, hier Bd. 1, S. 279-280 sowie Bd. 2, S. 137 und S. 157. 18 | Siehe hier besonders Moritz Hauptmann: »Temperatur«, in: ders.: Opuscula: Vermischte Aufsätze, Leipzig 1874, S. 16-51.

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Das Problem, das Hauptmann erkannte, bestand darin, dass zwei py­ thagoreische Töne, die auf dem Verhältnis 9:8 basierten, wie in Abb. 6 abgebildet, nicht zu einer reinen Terz verbunden werden konnten. Die kleine Differenz zwischen beiden wird als »syntonisches Komma« be­ zeichnet. Im tonalen Rahmen macht uns dieses Komma einen Strich durch die Rechnung, da melodische und harmonische Geschlossenheit nicht gleichzeitig zu erlangen sind. Abb. 6 zeigt auch Hauptmanns be­ kannte »Terzenkette«, mit der er die diatonische Tonleiter als alternieren­ de Dur- und Mollterzen darstellte, mit denen wir die quintverwandten Dreiklänge der Diatonik durchqueren. Um die Reinheit der Akkorde zu bewahren, musste die Terz jedes Dreiklangs um ein syntonisches Kom­ ma verschoben werden. Hauptmann kennzeichnete diese kleinen Stim­ mungsunterschiede mit großen und kleinen Buchstaben. Das Problem? Nicht alle Dreiklänge passen in dieses Schema. Was von der Stimmung her nicht passte, konnte nach Hauptmann schlicht kein Dur- oder Mollklang sein. So etwa der D‑Mollklang im Rahmen von C‑Dur, wie in Abb. 6 dargestellt. Wie die Terzenkette zeigt, war der G‑Durklang in C‑Dur ein normaler Dreiklang, der D‑Mollklang aber musste ein D vom anderen Ende der Terzenkette borgen. Das Intervall war dementsprechend keine reine Quinte, sondern ein syntonisches Komma zu kurz, während die Terz entsprechend zu groß war. Um dies auszugleichen, bedurfte es eines tieferen Ds.

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Abb. 6. Moritz Hauptmanns Kritik der Konfiguration der Common Practice. (a) Die große Terz in der reinen Stimmung (5:4 = 80:64) ist etwas kleiner als zwei Ganztöne ([9:8]2 = 81:64). Die Differenz ist als syntonisches Komma bekannt. (b) Hauptmanns Terzenkette macht Stimmungsunterschiede geltend und notiert die Terz jedes Durdreiklangs mit angepassten syntonischen Kommata als kleine Buchstaben. In C‑Dur stellt der D‑Moll‑Akkord keinen reinen Dreiklang dar, da er ein syntonisch korrigiertes D erfordert. (c) Die reinen Harmonien von Bachs Wie schön leuchtet der Morgenstern bedürfen sowohl D als auch d.

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Für Hauptmann stellte dies ein wirkliches Problem dar. Wie die meis­ ten Musiktheoretiker seiner Zeit glaubte er, dass die Dreiklänge natur­ gegeben waren.19 Um sie angemessen im Dur/Mollsystem zu repräsentie­ ren, hätte er auf zwei Arten von D gleichzeitig zurückgreifen müssen.20 Selbst die einfache Phrase, mit der unser Bachchoral anfängt, ist daher technisch gesehen verstimmt, wie in Abb. 6 dargestellt. Wenn wir reine Dreiklänge bevorzugen, ist das erste D in Takt 4 ein syntonisches Komma zu tief, aber wenn wir es anpassen, dann ist die folgende Note im Sopran auch wieder verstimmt. Dabei wollen wir vermutlich die Choralmelodie vereinheitlichen, ohne Mikrotöne einführen zu müssen. Wie auch im­ mer: In Hauptmanns musiktheoretischer Welt kommen harmonische und melodische Reinheit nicht zusammen. Eine Seite muss nachgeben. Genau hier kommt die starke Affinität zwischen den Noten und dem Klavier ins Spiel. Wie Hauptmann wusste, gab es auf dem Klavier keine zwei Arten von D, sondern eine gleichschwebende Stimmung. Haupt­ mann war davon überhaupt nicht begeistert. Er nannte das Klavier »me­ thodisch verstimmt.«21 Somit ist also das Klavier keineswegs das neutra­ le Instrument, für das es gewöhnlich gehalten wird, sondern ein Gerät, durch das die gleichschwebende Stimmung zur Wirklichkeit wird. Pole­ misch gesagt, ist das Klavier mitschuldig an der Täuschung, die sich über die ganze tonale Musik ausbreitete. Treten wir einen Schritt zurück. Ist Hauptmann nicht ein wenig pedantisch hier? Doch, zweifellos. Ist der Mangel an zwei Arten von D wirklich eine Form der Täuschung? Nein: Es handelt sich um einen Kom­ promiss, der gemacht wurde, um die Dreiklängigkeit innerhalb eines to­ nalen Rahmens zu optimieren. Ist Hauptmanns Kritik daher verfehlt? Nicht unbedingt: Sein Einwand ist hilfreich, insofern als er einen Bereich der Musiktheorie betrifft, der im Rahmen des Aufschreibesystems der 19 | In seinem Hauptwerk Die Natur der Harmonik und Metrik lehnt Hauptmann zwar einen aus der Physik entlehnten Naturbegriff ab, bezieht sich aber dennoch – wie der Titel deutlich macht – auf ein Naturkonzept, das in diesem Falle der Hegelschen Dialektik entlehnt ist (oder sich zumindest ihrer Rhetorik bedient). 20 | Moritz Hauptmann: Die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853, S. 2526. Auf dieses Problem weist Hugo Riemann hin, in »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹«, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters (1914/15), S. 1-26, hier S. 18. 21 | Hauptmann, »Temperatur«, S. 20.

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Common Practice im Allgemeinen übersprungen oder vertuscht wird. Die gleichschwebende Stimmung stellte eine Lösung für ein Problem dar, das die Musiktheorie seit der Entstehung der Dreiklängigkeit beschäftigt hat. Es handelt sich um eine pragmatische und mathematisch elegante Lö­ sung, aber sie vollführt nicht die Quadratur des Kreises: Die Schließung des tonalen Systems, die Verfügbarkeit aller zwölf Tonschritte, eröffnete zwar den vollen harmonischen Rahmen und den vollen Transpositions­ spielraum, aber nur auf Kosten der Reinheit des einzelnen Akkordes und der harmonischen Verwandtschaft zwischen ihnen. Jede Lösung musste ein Kompromiss bleiben. Hauptmanns Kritik erlaubt uns, die systematischen Aspekte der Mu­ siktheorie im Großen zu erfassen, besonders im Vergleich mit den Sai­ tenlängen des pythagoreischen Rahmens, den wir bei Gaffurius antra­ fen. In der modernen Common Practice brauchen wir uns nicht mehr um die quantitativen Aspekte der Musik zu kümmern; wir sind in der Regel nicht mehr daran interessiert, Intervalle auszumessen – und gleichzeitig ist dies auch nicht mehr vorteilhaft. Als Folge unseres Interesses an Har­ monik und Kontrapunkt mussten die Schnittpunkte der Musiktheorie mit den Naturwissenschaften und der Kosmologie ausgeblendet werden. Wie wir sehen, sind die Ambitionen der Musiktheorie in jedweder Form mit den visuellen und klanglichen Darstellungsmöglichkeiten verbunden. Bachs Choräle mit Saitenlängen auf dem Monochord dar­ zustellen, würde nur wenig Sinn ergeben. Das Monochord hätte indes­ sen kein Problem, zwei Arten von D darzustellen. Die Noten, die an der Tafel stehen, und das Klavier, das die gleichschwebenden Dreiklänge hervorbringt, erfüllen zusammen eine Funktion, die bestimmten Ge­ sichtspunkten der tonalen Musik entgegenkommt. Beide ermöglichen angemessene und hilfreiche Darstellungsformen für das entsprechende Repertoire. Das aber bedeutet, dass mitunter bestimmte musikalische Gegebenheiten von beiden vereint vertuscht werden. Anders gesagt, fungiert das Monochord als epistemisches Ding in­ nerhalb eines Aufschreibesystems, das die Musik als Intervalle fasst, wo­ hingegen der Erkenntnishorizont des Klaviers eine Konzeption bestimmt, die Dreiklänge als grundlegende Einheiten fasst. Hauptmann liegt nicht falsch, wenn er dem Instrument eine Mitschuld zuweist, obwohl dem natürlich keine üble Absicht zu Grunde liegt. All dies sind vielmehr Ent­ scheidungen, die die Musiktheorie zu bestimmten Zeiten im Hinblick auf bestimmte Ziele gefällt hat.

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Für unseren dritten musiktheoretischen Ansatz möchte ich ein Auf­ schreibesystem untersuchen, das sich nicht hat durchsetzen können und in Vergessenheit geraten ist. Diese Art von Musiktheorie führt uns ins Jahr 1834, d.h. mehr oder weniger in die Zeit, in der die Common Practice als theoretisches System entstand. Aber ganz im Gegensatz dazu ging die Lektion von 1834 nie über das Entwurfsstadium hinaus; ein entspre­ chender Seminarraum oder Lektorium existiert hier nicht und muss erst hypothetisch rekonstruiert werden. Daher herrscht eine gewisse utopi­ sche Atmosphäre über diesem Unterfangen, das uns vor allem zeigt, was aus den wissenschaftlichen Ansprüchen der Musiktheorie in einer Welt nach dem Untergang des Quadriviums wurde. Der deutsche Zollbeamte, Astronom und Hobbymusiktheoretiker Wilhelm Opelt ist heutzutage besser bekannt für seine überaus exakten Vermessungen von Mondkratern als für seine bahnbrechende Musik­ theorie. Als er seine Veröffentlichung Über die Natur der Musik (1834) an­ kündigte, vermittelte er spürbar, das Ei des Kolumbus gefunden zu ha­ ben, das Instrument nämlich, das es ihm erlaubte, alle Aspekte der Musik zusammenzufassen.22 In diesem Jahr wurde die internationale Presse auf ihn aufmerksam, und seine Arbeiten wurden von verschiedenen europä­ ischen Fachzeitschriften rezipiert. Aber im Rückblick scheinen dies seine 15 Minuten im Rampenlicht gewesen zu sein. Das Herzstück seiner Theorie, das »epistemische Ding«, bestand in einer Sirene, einem Apparat also, der erst einige Jahre zuvor entwickelt worden war, 1819, vom französischen Ingenieur Charles Cagniard de la Tour. Erstaunlich an der Sirene ist, dass sie ursprünglich nicht das Warn­ signal des modernen Lebens war, als das wir sie heutzutage kennen.23 Vielmehr bestand ihre Aufgabe darin, die damals gängigen Theorien der 22 | Friedrich Wilhelm Opelt: Über die Natur der Musik, Plauen und Leipzig 1834. Ausführlicher zu Opelt vgl. Alexander Rehding: »Opelt and the Technologies of Listening«, in: Testing Hearing, hg. von Mara Mills, Viktoria Tkaczyk und Alexandra Hui, Chicago (im Druck). 23 | Charles Cagniard de la Tour: »Sur la sirène nouvelle machine d’acoustique destinée à mesurer les vibrations de l’air qui constituent le son«, in: Annales de chimie et de physique 12 (1819), S. 167-171. Die (lange) Geschichte der Sirenen habe ich untersucht in Alexander Rehding: »Of Sirens Old and New«, in: The Oxford Handbook of Mobile Music Studies, Bd. 2, hg. von Sumanth Gobinath und Jason Stanyek, New York 2014, S. 77-107.

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Klangerzeugung zu testen. Die wissenschaftliche Akustik jener Zeit ver­ stand den Klang als vibrierende Luftmoleküle, d.h. alternierende Verdich­ tung und Verdünnung des Luftdrucks, die weitergeleitetet werden, bis sie das Gehör erreichen.24 Die Mechanisierung der Sirene suchte diese Theo­ rie zu widerlegen. Die Sirene erzeugt einen Klang mittels einer Reihe von Luftimpulsen, d.h. durch getrennte Klangereignisse, nicht einen kontinu­ ierlichen Wechsel vom Luftdruck um einen neutralen Nullpunkt herum. Die Sirene produzierte effektiv eine Reihe von An/Aus-Schaltungen, die man ohne weiteres proto-digital nennen könnte. Abb. 7. Die mechanische Sirene nach Cagniard de la Tour, in der Darstellung von Hermann von Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen (1867).

Der Apparat funktioniert wie in Abb. 7 dargestellt: Luft wird aus einem Blasebalg in das Gerät geleitet. Oben befindet sich eine runde Scheibe aus Metall mit einer regelmäßigen Reihe diagonaler Bohrungen. Wenn die Luftmoleküle auf diese Bohrung treffen, versetzen sie eine darauf liegen­ de Scheibe in Rotation. Jedes Mal, wenn die Luft durch das Loch gepustet 24 | Vgl. Ernst Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leipzig 1787.

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wird, ertönt ein kurzer Impuls. Diese Impulse verdichten sich zu einer rhythmisch pulsierenden Folge. Sobald die Drehgeschwindigkeit 20 Ro­ tationen pro Sekunde, also 20 Hz, überschreitet, verändert sich das, was wir hören: Der pulsierende Rhythmus verwandelt sich in einen ausgehal­ tenen Ton, der mit wachsender Drehgeschwindigkeit in die Höhe steigt. Die Sirene beginnt, mit steigender Intensität und Tonhöhe zu heulen. Die Sirene hatte ihre Polemik effektvoll in Szene gesetzt. Es war mög­ lich, einen diskontinuierlichen Stimulus zu erzeugen, eine einfache Fol­ ge von An/Aus-Impulsen, die bei ausreichender Geschwindigkeit eine kontinuierliche Wahrnehmung hervorriefen. Es war späteren Generatio­ nen von Physikern vorbehalten, die Vorgänge theoretisch zu untermau­ ern. Dies führte letzten Endes zur Fourier-Analyse auf dem Gebiet der Akustik, die durch Georg Simon Ohm eingeführt wurde.25 Der Effekt, der Opelt primär interessierte, lag hingegen auf dem Gebiet der Wahr­ nehmung. Wenn sich nämlich an der Hörschwelle um 20 Hz die rhyth­ mischen Impulse in einen ausgehaltenen Ton verwandeln, dann war das vor allem für Musiker revolutionär, denn es legte sinnfällig dar, dass die Dimensionen der Rhythmik und der Tonhöhe nicht separat zu verstehen sind, sondern als Kontinuum. Opelts Theorien griffen die Idee der Analogie zwischen Rhythmus und Tonhöhe auf. Seine zentrale Vision bestand darin, dass wir uns nicht mit einer Stimme zufriedengeben müssen: Mehrfaches gleichzeitiges Pulsieren in komplexen Rhythmen kann in musikalische Intervalle oder sogar Akkorde verwandelt werden. Dazu entwickelte er eine sehr viel kom­ plexere Sirene, die mehrere Klänge auf einmal hervorringen konnte. Abb. 8 zeigt, wie das funktioniert. Genauso, wie wir komplexere Rhythmen in einzelne Schichten unterteilt oder zusammengefasst notieren können, können wir auch komplexere Sirenenscheiben entwickeln. Nehmen wir die Hemiole 2:3, von der wir wissen, dass sie der Quinte entspricht. Der kritische Punkt ist, dass es keinen Unterschied macht, ob wir die Pul­ se separat auf die Sirene einschreiben oder als komplexeres Lochsystem fassen. Bei ausreichender Geschwindigkeit wird dieses Muster wie ein Zweitonintervall klingen. Dies funktioniert für alle möglichen Rhythmen und Akkorde von größerer Komplexität. 25 | Georg Simon Ohm: »Ueber die Definition des Tones, nebst daran geknüpfter Theorie der Sirene und ähnlicher tonbildender Vorrichtungen«, in: Annalen der Physik und Chemie 59 (1843), S. 497-565.

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Abb. 8. Die mehrstimmige Sirene nach Opelt. (a) Seine Pappscheiben weisen komplexere Lochfolgen auf, die zusammengesetzte Rhythmen als Intervalle und Akkorde klanglich darstellen können. Die technische Zeichnung aus Opelts späterem Traktat (1852) zeigt die Konstruktion einer komplexen Sirene (Anhang, n. pag.). (b) Die populäre amerikanische Zeitschrift Harper’s Magazine (1872), S. 848 zeigt Opelts Sirene in Aktion, von Kurbel und menschlichem Atem angetrieben. (c) Opelts Transkriptionen komplexer Rhythmen, entsprechend der Lochfolgen seiner Sirenenscheibe. Aus Harmonicon (1832), S. 169. (a)

(b)

(c)

Opelts Ideen waren recht radikal. Er hoffte, die Musiktheorie durch seine Idee zu revolutionieren und ein theoretisches Modell vorzustellen, das die Bauelemente der Musik – Rhythmus, Töne und Harmonien – alle aus der Sirene heraus entwickelte. Was kann dieses System über Kompositionen und Musikwerke aussagen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein wenig tiefer graben. Verschiedene Komponisten des frühen zwan­

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zigsten Jahrhunderts, allen voran Paul Hindemith, George Antheil und Edgard Varèse, waren von der Sirene als Instrument angetan und bauten sie in ihre Partituren ein. Aber die interessanteren Fälle sind vielleicht diejenigen, die von der Ton/Rhythmus-Korrelation Gebrauch machen, die Opelt so faszinierte. Das früheste Stück, das ich habe auffinden kön­ nen, ist ein Jugendwerk des amerikanischen Experimentalisten Henry Cowell, Quartet Romantic (1915), das in den pulsierenden Rhythmen der vier Stimmen eine unhörbare Harmonik kodiert. Aber als musikalischer Effekt lässt sich Opelts Prinzip in allen möglichen Gattungen eingefloch­ ten finden, insbesondere in der elektronischen Musik mit Stockhausens Schlüsselwerk Kontakte (1954). Stockhausen erörterte auch die theoreti­ sche Grundlage dieses Manövers in seinem Aufsatz »Wie die Zeit ver­ geht«, ohne jedoch Opelt zu erwähnen.26 Der Spektralismus bediente sich eines ähnlichen Prinzips in den Partiels von Gérard Grisey, wo die Ober­ töne des Klanges mit der rhythmischen Struktur des Stückes korrelieren. Techno hat diesen Effekt mit dem Track Thousand von Moby eingeführt, der es sogar ins Guinness Buch der Weltrekorde brachte. Der Hauptpunkt besteht jedoch darin, dass es zwischen diesen Stücken keinen roten Fa­ den gibt, keine gemeinsamen Beziehungen über diesen Effekt hinaus. Das liegt daran, dass es sich nicht um eine Kompositionstechnik handelt, sondern eher um einen Effekt. Die Komposition als solche ist nicht das Hauptanliegen dieser Theorie, die sich vielmehr um Aspekte der Wahr­ nehmung verdient macht. Wir können dies in unser Aufschreibesystem einarbeiten, das auf Opelts »epistemischem Ding«, der Sirene, beruht. Wie Abb. 9 im Schema darstellt, ist die Klangerzeugung digital, die visuelle Darstellung bedient sich einer Serie von Impulsen, bzw. Löchern in der Metallscheibe der Si­ rene. Der Zweck dieser Musiktheorie besteht in einer Untersuchung der Akustik und der Grenzen unseres Gehörs.

26 | Vgl. Karlheinz Stockhausen: »...wie die Zeit vergeht...«, in: Musikalisches Handwerk (= Die Reihe 3), Wien 1957, S. 13-42. Sein Kollege Herbert Eimert ist dafür umso mehr an Opelt interessiert, und führt diesen wiederholt an im Lexikon der elektronischen Musik, hg. von Herbert Eimert und Hans Ulrich Humpert, Regensburg 1973.

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Abb. 9. Musiktheorieunterricht 1843. Sirenenscheibe, Lochfolgen und Hörwahrnehmung bilden ein geschlossenes, den anderen Musiktheorien entsprechendes System.

Es wäre töricht zu behaupten, dass Opelt nach anderthalb Jahrhunder­ ten Dornröschenschlaf nun im Zentrum der Musiktheorie stehen sollte. Dem ganzen Unterfangen haften zweifellos utopische Züge an. Aber es ist ein sehr hilfreiches Modell, das uns zeigt, wie Instrumente, egal ob musikalisch oder wissenschaftlich, einen integralen Bestandteil musik­ theoretischen Denkens darstellen und wie die Sirene einen neuen Denk­ modus über die Klanglichkeit erschließt. Opelts Musiktheorie eröffnet eine radikale Alternative, ein paralleles Universum, zu der Art Musik­ theorie, die sich in der Realität gleichzeitig etablierte. Abschließend sollten wir fragen: Warum ist es mit Opelts Theorie niemals weitergegangen? Was hat sie uns zu lehren? Opelts Ideen be­ schreiben ein proto-digitales Aufschreibesystem, das anscheinend nicht zeitgemäß war, da es anderen kulturellen Strömungen entgegenstand.

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Schließlich war dies das Zeitalter, in dem die Musik ein Vehikel für phi­ losophische Reflexion wurde. Christian Friedrich Michaelis begann, die Prinzipien der idealistischen Ästhetik für die Musik fruchtbar zu ma­ chen, und E. T. A. Hoffmann schrieb seine berühmte Rezension der fünf­ ten Symphonie Ludwig van Beethovens, die zur Gründungsurkunde der romantischen Musikästhetik deklariert wurde und mit dem der Höhen­ flug des Komponisten als Genie begann. Oder, wie Kittler sagen würde, ist dies die Zeit, in der das Medium der Musik das Medium der philoso­ phischen Sprache durchdrang.27 In Folge dessen riss sich die Musiktheo­ rie von der Akustik los, da Kompositionen nicht mehr primär als akusti­ sches, sondern als geistiges Ereignis galten. In dieser Situation wuchs die Bedeutung der Musik als Text, als Notation. Dies ist auch die Zeit, in der die modernen Institutionen, Musikschulen und Konservatorien, entstan­ den, die nach einer neuen Pädagogik verlangten. Genau um diese Zeit entstand die Common Practice. In diesem Klima um 1834 gab es weder Interesse an Opelts Ansatz noch an dem Klangmedium, dessen er sich bediente. Sein Traktat, das die Musiktheorie auf ein naturwissenschaftliches Fundament zu heben sucht, schien der Musik, die gerade in diesem Moment ihren romanti­ schen Höhenflug anstrebte, Bleigewichte anlegen zu wollen, die diese auf dem Grund der Empirie zurückgehalten hätte. Opelt bleibt eine Fußnote in der Geschichte, die nicht ganz zur Akustik und nicht ganz zur Musik­ theorie zu gehören scheint. Dennoch haben wir von seinem Werk einiges zu lernen. Erstens eröffnet Opelts naturwissenschaftlicher Aspekt der Musiktheorie einen neuen Ansatz, der sich sowohl von dem bloß numeri­ schen Pythagoreismus als auch von der textuellen Common Practice unter­ scheidet. Zweitens unterstreicht er die Rolle des »epistemischen Dings«. Die Sirene eröffnet einen Denkmodus, der weder von Klavier noch von Monochord getragen wird, und der Akustik und Wahrnehmung in der Klanglichkeit zusammenbringt. Der Medienarchäologe Wolfgang Ernst vertritt die provokant anti­ historische These, dass der Klang an sich der Zeitlichkeit enthoben sei: Die akustische Schwingung sei dieselbe, egal ob sie sich dem Monochord

27 | Friedrich Kittler: »Musik als Medium«, in: Wahrnehmung und Geschichte: Markierungen zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard Dotzler und Ernst Martin Müller, Berlin 1995, S. 83-99.

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zu Pythagoras’ Zeiten entwand oder in der Gegenwart erklingt.28 Klang­ medien seien deshalb als »Zeitmaschinen« zu verstehen. Dieser anregen­ den These ist zuzustimmen, solange wir uns auf den molekularen Be­ reich beschränken. Fraglich bleibt jedoch, wie diese Erkenntnis über die rein physikalische Domäne hinaus geführt werden kann. Denn sobald wir versuchen, weitere Kontexte zu erschließen, kann man Faktoren wie Kultur und Geschichte kaum entrinnen. Sobald wir also das klangerzeu­ gende Instrument Monochord – oder auch entsprechend andere musik­ theoretische Instrumente wie Sirene oder Klavier – mit einbeziehen, wird der Klang zu einem geschichtlichen Medium, das schon vom Mechanis­ mus der Erzeugung an durch und durch von seiner Zeit geprägt ist. So signalisierte der Klang des Monochords in der pythagoreischen Ära etwas grundsätzlich anderes als in der Gegenwart, in der er bestenfalls als Ana­ chronismus oder historisches Kuriosum gehört werden kann. Den Er­ kenntniswert, der dem Klang des Monochords zu Zeiten der Pythagoreer zugeschrieben wurde, hat er über die Jahrtausende verloren. Entsprechend umgekehrt verhält es sich mit Opelts Sirene: Um 1834 galt der Klang der Sirene als musiktheoretische Kuriosität, konnte aber seinerzeit kaum weiteres Interesse erregen, da ein weiterer Kontext fehlte, in dem diese Erkenntnis musikalisch oder auch musiktheoretisch zum Tragen kommen konnte. Hingegen scheint es, dass Opelts Klangmedium heute, im digitalen Zeitalter, bessere Aussichten hat. Eine mechanische Sirene mag in unserem High-Tech-Zeitalter furchtbar altmodisch er­ scheinen, aber denken wir einmal an eine frühere Computergeneration, die mit Lochkarte operierte, dann ist Opelts Sirene gar nicht mehr so weit entfernt.29 Das Prinzip ist in jedem Falle ein ähnliches. Zu einer Zeit, wo Klänge nicht mehr bloß als proto-digitale An/Aus-Impulse erzeugt wer­ den, sondern vollkommen digital per MP3 zu hören sind, ist es an der Zeit zu überlegen, wie eine neue Fassung von Opelts Sirene als »episte­ misches Ding« im Zentrum eines neuen Aufschreibesystems zu fassen

28 | Wolfgang Ernst: Im Medium erklingt die Zeit, Berlin 2015, am deutlichsten auf S. 217-218. 29 | Dass Opelts Vater eine Weberei betrieb, mag in dieser Hinsicht aufschlussreich sein. Der mechanische Jacquard-Webstuhl, der mit Lochkarte operierte, wird weitgehend als Prototyp des Computers angesehen. Siehe Birgit Schneider: Textiles Prozessieren, Zürich 2007.

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

sein könnte. Anders gesagt war der Klang von Opelts Sirene seiner Zeit einfach voraus.

L iter atur - und Q uellenverzeichnis Cecil Adkins: The Theory and Practice of the Monochord, PhD Dissertation, The University of Iowa 1963. Gaston Bachelard: Les intuitions atomistiques, Paris 1933. Ernst Friedrich Chladni: Entdeckungen über die Theorie des Klanges, Leip­ zig 1787. David Creese: The Monochord in Ancient Harmonic Science, Cambridge 2010. Charles Cagniard de la Tour: »Sur la sirène nouvelle machine d’acoustique destinée à mesurer les vibrations de l’air qui constituent le son«, in: Annales de chimie et de physique 12 (1819), S. 167-171. Hans David, Arthur Mendel und Christoph Wolff (Hg): New Bach Reader, New York 1998. Matthew Dirst: Engaging Bach: The Keyboard Legacy from Marpurg to Mendelssohn, Cambridge 2012. Herbert Eimert und Hans Ulrich Humpert (Hg.): Lexikon der elektronischen Musik, Regensburg 1973. Wolfgang Ernst: Im Medium erklingt die Zeit, Berlin 2015. Johannes Forner: »Leipziger Konservatorium und ›Leipziger Schule‹: Ein Beitrag zur Klassizismus-Diskussion«, in: Musikforschung 50 (1997), S. 31-36. Franchinus Gaffurius: Theorica musicae, Mailand 1492. Franchinus Gaffurius: Practica musicae, Mailand 1496. Franchinus Gaffurius: De harmonia musicorum instrumentorum opus, Mailand 1518. Heinrich Glareanus: Dodecachordon, Basel 1547. Moritz Hauptmann: Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hg. von Alfred Schöne, 2 Bde., Leipzig 1871. Moritz Hauptmann: Die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853. Moritz Hauptmann: »Temperatur«, in: ders.: Opuscula: Vermischte Aufsätze, Leipzig 1874, S. 16-51. Johannes Kepler: Harmonices Mundi, Linz 1619. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986.

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Friedrich Kittler und Matthew Griffin: »The City is a Medium«, in: New Literary History 27 (1996), S. 717-729. Friedrich Kittler: »Universities: Wet, Hard, Soft, Harder«, in: Critical Inquiry 31 (2004), S. 244-256. Friedrich Kittler: »Musik als Medium«, in: Wahrnehmung und Geschichte: Markierungen zur Aisthesis materialis, hg. von Bernhard Dotzler und Ernst Martin Müller, Berlin 1995, S. 83-99. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. Sybille Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinan­ der zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Kon­ zeption des Performativen«, in: Performativität und Medialität, hg. von ders., München 2004, S. 13-32. Georg Simon Ohm: »Ueber die Definition des Tones, nebst daran ge­ knüpfter Theorie der Sirene und ähnlicher tonbildender Vorrichtun­ gen«, in: Annalen der Physik und Chemie 59 (1843), S. 497-565. Friedrich Wilhelm Opelt: Über die Natur der Musik, Plauen und Leipzig 1834. Walter Piston: Harmony, New York 1941. Alexander Rehding: »Tonality between Rule and Repertoire; Or, Rie­ mann’s Functions – Beethoven’s Function«, in: Music Theory Spectrum 33 (2011), S. 109-123. Alexander Rehding: »Of Sirens Old and New«, in: The Oxford Handbook of Mobile Music Studies, Bd. 2, hg. von Sumanth Gobinath und Jason Stanyek, New York 2014, S. 77-107. Alexander Rehding: »Opelt and the Technologies of Listening«, in: Testing Hearing, hg. von Mara Mills, Viktoria Tkaczyk und Alexandra Hui, Chicago (im Druck). Frieder Rempp: »Bemerkungen zum Selbstverständnis der italienischen Musikwissenschaft im 16.  Jahrhundert«, in: Musiktheorie 4 (1989), S. 100-112. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001. Hugo Riemann: »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen’«, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters (1914/15), S. 1-26. Birgit Schneider: Textiles Prozessieren, Zürich 2007. Mark Shapin und Simon Shaffer: Leviathan and the Air Pump, Princeton, NJ 1985.

Der Klang als historische Dimension der Musiktheorie

Karlheinz Stockhausen: »...wie die Zeit vergeht...«, in: Musikalisches Handwerk (= Die Reihe 3), Wien 1957, S. 13-42. John Tresch and Emily Dolan: »Toward a Critical Organology«, in: Osiris 28 (2013), S. 278-298.

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Autorinnen und Autoren

Susanne Binas-Preisendörfer, geboren in Berlin, studierte 1982 bis 1987 Musik- und Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, verteidigte dort 1991 ihre Dissertation zum Thema »Rockmusik – kultu­ relles Medium Jugendlicher. Eine Untersuchung zur Praxis und Theo­ rie kultureller Formen im Symbolsystem von Rockmusik«, arbeitete anschließend in Berliner Kulturprojekten, als freiberufliche Dozentin, Autorin und Kulturberaterin. 1996 war sie Mitbegründerin der singuhrhoergalerie in parochial. Von 1997 bis 2001 ging sie als Postdoktorandin im Rahmen eines Habilitationsprojektes der VW-Stiftung zurück an die Humboldt-Universität ins Forschungszentrum populäre Musik. Seit 2005 arbeitet sie als Professorin für Musik und Medien an der Universität Oldenburg, stand von 2012-2016 als Präsidentin der IASPM – DA-CH deutschsprachiger Zweig der International Association for the Study of Popular Music vor und beriet als Sachverständige die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages 2003-2007. Buchveröf­ fentlichungen: Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten, Bielefeld 2010; (Hg. mit Melanie Unseld:) Transkulturalität und Musikvermittlung. Herausforderungen und Möglichkeiten in Forschung, Kulturpolitik und musikpädagogischer Praxis, Frankfurt a.M. u.a. 2012; (Hg. mit Jochen Bonz und Martin But­ ler:) Pop/Wissen/Transfers – Zur Kommunikation und Explikation populärkulturellen Wissens, Berlin 2014. Daniel Fulda ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Halle-Wittenberg und Leiter des dortigen Interdiszi­ plinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung. Aktuelle Publikationen: »Historiographic Narration«, in: Handbook of Narratology, hg. von Peter Hühn u.a., 2 Bde., Berlin und Boston 22014,

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Klang als Geschichtsmedium

Bd. 1, S. 227-240. »Die Geschichte trägt der Auf klärung die Fackel vor.« Eine deutsch-französische Bild-Geschichte, Halle 2017; (Hg. mit Elisabeth Décul­ tot und Christian Helmreich): Poetik und Politik des Geschichtsdiskurses. Deutschland und Frankreich im langen 19. Jahrhundert/Poétique et politique du discours historique en Allemagne et en France (1789-1914), Heidelberg 2018. Angela Grünberg, Promotion in Modern History, University of Oxford (1997, St Antony’s); Barrister-at-Law, Mitglied im Inner Temple, London; arbeitet gegenwärtig an der zweiten Promotion in Philosophie, University of Sheffield. Postdoc unter anderem am Max-Planck-Institut für Wissen­ schaftsgeschichte, Berlin (2009). Jüngste Publikation: »Philosophie«, in: Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, hg. von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer, Stuttgart und Weimar 2018, S. 145-150. Arnold Jacobshagen ist Professor für Musikwissenschaft an der Hoch­ schule für Musik und Tanz Köln (seit 2006). Nach dem Studium der Mu­ sikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Berlin (1985-90), Wien (1987/88) und Paris (1990-92) und der Promotion an der Freien Univer­ sität Berlin (1996) war er zunächst Musikdramaturg am Staatstheater Mainz, sodann Wissenschaftlicher Assistent (1997-2003), Oberassistent (2003-2006) und Privatdozent (2003-2006) am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth (dort 2003 Habilitation). Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte, ordentliches Mitglied der Academia Europaea und Vorstandsmitglied des Joseph Haydn-Instituts sowie des Meyerbeer-Instituts. Zahlreiche Pub­ likationen zur Musikgeschichte und Oper des 18. bis 21. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen u.a. Gioachino Rossini und seine Zeit, Laaber 2015, erweiterte 2. Auflage 2018; Verdi und Wagner. Kulturen der Oper, Köln u.a. 2014; Händel im Pantheon. Der Komponist und seine Inszenierung, Sinzig 2009; Opera semiseria. Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater, Stuttgart 2005. Martin Kaltenecker lehrt Musikästhetik und Musik des 20. Jahrhunderts an der Universität Paris-Diderot (Paris-7). Er war Mitherausgeber der Zeit­ schrift für neue Musik Entretemps (1986-1992) und arbeitete als Überset­ zer sowie beim Rundfunk. 2006/07 war er Fellow des Wissenschafts­ kollegs zu Berlin. Er veröffentlichte La Rumeur des Batailles, Paris 2000;

Autorinnen und Autoren

Avec Helmut Lachenmann, Paris 2001 und L’Oreille divisée. Les discours sur l’écoute musicale aux xviiie et xixe siècles, Paris 2011. Er ist Mitherausgeber der Bände Penser l’Œuvre musicale au XXe siècle: avec, contre ou sans l’histoire?, Paris 2006 und Pierre Schaeffer. Les Constructions impatientes, Paris 2012, sowie Herausgeber der Anthologie von Texten zum Hören L’Ecoute, Paris 2018. Omid Kokabi arbeitet seit seinem Abschluss in Audiokommunikation und ‑technologie (M.Sc.) an der TU Berlin im Jahr 2018 als Wissenschaft­ licher Mitarbeiter am Fachgebiet Audiokommunikation der TU Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Raumakustik, der virtuellen Akustik und der Psychoakustik. Anna Langenbruch ist Leiterin der DFG-geförderten Emmy NoetherNachwuchsgruppe »Musikgeschichte auf der Bühne: Konstruktionen der musikalischen Vergangenheit im Musiktheater« an der Carl von Ossietz­ ky Universität Oldenburg. Sie studierte Musik und Mathematik in Köln. 2011 binationale Promotion an der HMTM Hannover und der EHESS Paris mit einer Arbeit zu Handlungsmöglichkeiten exilierter Musike­ rinnen und Musiker im Paris der 1930er Jahre. Forschungen und Veröf­ fentlichungen zur Kulturgeschichte des Exils, zu intermedialer (Musik‑) Historiographie, zu Klang und Geschichte, zum Musiktheater des 18. bis 21. Jahrhunderts sowie zur Wissenschaftsgeschichte. Jüngere Buchpubli­ kationen: Topographien musikalischen Handelns im Pariser Exil 1933-1939, Hildesheim 2014; (Hg. mit Sebastian Bolz, Moritz Kelber und Ina Knoth): Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen, Netzwerke, Denkstrukturen, Bielefeld 2016. Steffen Lepa, geboren 1978, ist Medien- und Kommunikationswissen­ schaftler, seit 2010 Postdoc-Mitarbeiter am Fachgebiet Audiokommuni­ kation der TU Berlin. 2010-2012 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Medium und Emotion« (EXC 302 »Languages of Emotion«), 2012-2015 leitete er das Forschungsprojekt »Survey Musik und Medien« (SPP 1505 »Mediatisierte Welten«). Seit 2016 ist er im durch das EU Horizon 2020 Programm geförderten F&E-Projekt »ABC_DJ – Ar­ tist to Business to Business to Consumer Audio Branding System« tätig. Seine Lehr- und Forschungs­schwerpunkte sind Medien- und Musikre­ zeption, Medienwandel, sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden,

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Klang als Geschichtsmedium

Computational Social Science, Populärkulturforschung, Audio Branding und Medienphilosophie. Alexander Rehding, geboren 1970 in Hamburg, studierte in Hamburg und Cambridge (BA 1994, MPhil 1995, PhD 1999). Nach Forschungsstellen in Cambridge, der University of Pennsylvania und Princeton wurde er an die Harvard University berufen, wo er jetzt Fanny Peabody Professor für Mu­ sik ist. Seine Forschungsarbeiten reichen von antiken Musikkulturen bis zum Grand Prix Eurovision de la Chanson. Jüngere Buchpublikationen umfassen Music and Monumentality, Oxford 2009; Oxford Handbook of Neo-Riemannian Theories, Oxford 2011; Music in Time, Harvard 2016 und Beethoven’s Symphony No. 9, Oxford 2017. Er war Mitherausgeber von Acta musicologica und ist Editor-in-chief der Oxford Handbooks Online Serie im Bereich Musik. 2014 wurde ihm die Dent Medal der Royal Musical Association verliehen. Stefan Weinzierl, geboren 1967 in Bamberg, absolvierte ein Doppelstu­ dium in Physik und als Tonmeister an der Universität Erlangen, der UdK Berlin und der TU Berlin. Nach einer Promotion in Musikwissenschaft bei Helga de la Motte-Haber unterrichtete er zunächst als Dozent für Mu­ sikübertragung an der UdK Berlin. Seit 2004 Professor für Kommunika­ tionswissenschaft an der TU Berlin und Leitung des dortigen Fachgebiets Audiokommunikation sowie des Masterstudiengangs Audiokommunika­ tion und ‑technologie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der musikalischen Akustik, der Raumakustik, der virtuellen Akustik und der Theorie der Musikübertragung. Michael Werner ist Historiker, Germanist und Kulturwissenschaftler, seit 1981 Directeur de Recherche am Centre national de la recherche scien­ tifique in Paris und seit 1991 Professor an der École des hautes études en sciences sociales, wo er von 2000 bis 2012 dem Interdisziplinäre Zentrum für Deutschlandstudien vorstand und bis heute den Promotionsstudien­ gang »Musik, Geschichte, Gesellschaft« leitet. Seine Forschungsschwer­ punkte sind Deutsch-französische Kulturgeschichte, Disziplingeschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften, Geschichte der musikalischen Praktiken (19. und 20. Jahrhundert), Deutsche Emigranten in Paris sowie methodische Probleme des Vergleichs, der Kulturtransferforschung und der Verflechtungsgeschichte (Histoire croisée). Neuere Buchveröffentli­

Autorinnen und Autoren

chungen: (Hg. mit Hans-Erich Bödeker und Patrice Veit): Le concert et son public. Mutations de la vie musicale 1780-1914 (France, Allemagne, Angleterre), Paris 2002; (mit Jan-Christoph Hauschild): »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«: Heinrich Heine. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 2005; Politiques et usages de la langue en Europe, Paris 2008; (Hg. mit Hans-Erich Bödeker und Patrice Veit): Espaces et lieux de concert en Europe 1700-1920. Architecture, musique, société, Berlin 2008; (Hg. mit Gábor Klaniczay und Ottó Gecser): Multiple Antiquities, Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Cultures, Frankfurt a.M. und New York 2011; Verflochtene Nationen. Deutsch-französische Geschichte 1815-1870, Darmstadt 2018.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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