Geschichte denken: Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute 9783666300684, 9783525300688, 9783647300689

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Geschichte denken: Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute
 9783666300684, 9783525300688, 9783647300689

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Geschichte denken Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute

Herausgegeben von Michael Wildt

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30068-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos des Theodor-Mommsen-Denkmals vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin: Adolf Brütt: Theodor Mommsen, 1909, Foto: HU/Kustodie-P. Petersen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Aloys Winterling Wie modern war die Antike? Was soll die Frage? . . . . . . . . . . . . . 12 Claudia Tiersch Zwischen Segregation und Akkulturation. Paradoxien christlicher Stadtsemantiken im Römischen Reich . . . . . 34 Michael Borgolte Mittelalter in der größeren Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Peter Burschel Yuhanna al-Asad oder die Sprache des Exils. Kulturelle Übersetzung zu Beginn der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . 69 Birgit Aschmann Jenseits der Norm?. Die spanische Monarchie im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 81 Hannes Grandits Wettstreit der Tugenden: urbane Lebensentwürfe im habsburgischen Fin-de-siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Alexander Nützenadel Politische Ökonomie der Korruption. Bestechung, Klientelismus und Institutionenwandel um 1900 . . . . . . 120 Andreas Eckert Afrika in der Welt. Afrikanische Geschichte im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

Michael Wildt Alle Gewalt geht vom Volke aus. Zur Abgründigkeit eines politischen Grundsatzes in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . 149 Jörg Baberowski Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung 1953–1964 . Stalins Erben und die Entstalinisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Martin Sabrow Memoiren der Macht. Gedachte Geschichte in der Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Gabriele Metzler Liberale Demokratie und politische Gewalt in den siebziger Jahren . . 208 Thomas Mergel Zeit des Streits. Die siebziger Jahre in der Bundesrepublik als eine Periode des Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Anke te Heesen Spurensicherung und das Jahr 1979. Über Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Thomas Sandkühler Die Geschichtsdidaktik der Väter. Zur Kulturgeschichte der siebziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

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Einleitung

»Die Vergangenheit ist absolut vergangen, unwiderruflich  – und zugleich wieder nicht: die Vergangenheit ist gegenwärtig und enthält Zukunft. Sie beschränkt kommende Möglichkeiten und gibt andere frei, sie ist in unserer Sprache vorgegeben, sie prägt unser Bewusstsein wie das Unbewusste, unsere Institutionen und deren Kritik. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, wird mit sich selbst konfrontiert.«1

Als Reinhart Koselleck auf dem Historikertag 1970 in Köln über die Geschichte sprach, musste er noch die Existenz der Geschichtswissenschaft rechtfertigen. »Wozu noch Historie?« lautete der Titel und war der Versuch, den versammelten Historikerinnen und Historikern nicht nur Aufmunterung zukommen zu lassen, sondern auch dringende Perspektivwechsel anzumahnen. Die Geschichtswissenschaft bedürfe der Theorie ebenso, wie sie die moderne Linguistik ernst nehmen solle. Etliche Jahre, bevor vom linguistic turn in den Geisteswissenschaften die Rede war, hatte ihn Reinhart Ko­ selleck schon auf die Tagesordnung gesetzt. Schon wenig später brachten die Debatte über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die zunehmende Verbreitung von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen in den Geisteswissenschaften die Frage, wozu noch Geschichte, rasch zum Verschwinden. Im Gegenteil, man konnte einen Geschichtsboom in Deutschland beobachten. Vor allem hat die zeithistorische Wende 1989/90 geschichtlich handelnde Menschen zum Vorschein gebracht, die entgegen den Annahmen von den geschichtslosen Strukturen und unerschütterlichen Herrschaftsverhältnissen, in den Worten Walter Benjamins, das Kontinuum der Geschichte aufsprengten. Geschichte bildet seither ein unverzichtbares Reservoir für gesellschaftliche Selbstbestimmung. Innenstädte werden nicht neu für eine utopische Zukunft entworfen, sondern nach historischem Vorbild möglichst detailgenau rekonstruiert. Bewahrung der Erinnerung ist zu einem festen Bestandteil staatlicher Kulturpolitik geworden, als sei das Vergessen verwerflich und illegitim. Professionelle Historikerinnen und Historiker wissen demgegenüber um die bloß fragmentarische Überlieferung der Vergangenheit, die unser Wis1 Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 347–365, S. 361. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Einleitung

sen über die Geschichte notwendigerweise beschränkt. Von den zahllosen Ereignissen, Handlungen, Sprechakten, die in jedem Moment auf der Welt geschehen, wird nur ein winziger Bruchteil tradiert, und es wäre angesichts dieser immensen Diskrepanz vermessen zu glauben, es ließe sich ein vollständiges Bild allein dieses Momentes, geschweige denn einer Epoche rekonstruieren. Weit wichtiger sind die Fragen, die wir an die Geschichte stellen, um aus der Praxis der Analyse selbst wie den möglichen Antworten Erkenntnisse zu gewinnen, die unser Verständnis von sozialen, politischen, kulturellen Transformationen erweitern. Im Umgang mit der Geschichte stehen der Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung eine Vielzahl von Perspektiven, Fragestellungen gegenüber, die sich auf die Vergangenheit richten. Wenn es eine Erfahrung für die Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, dann die der Pluralisierung von Forschungsansätzen und Blickwinkeln. Die Selbstgewissheit des Historismus des 19. Jahrhunderts ist längst einer Vielfalt gewichen, die die Geschichtsschreibung heute bestimmt. Womöglich ist selbst die Epoche der Neuzeit, in der die Geschichte(n) sich zu einem Kollektivsingular verdichteten, inzwischen einer historischen Phase gewichen, in der »Geschichte denken« wieder als »Geschichten denken« begriffen wird. Und doch zeigen die Beiträge dieses Bandes, die aus einer Ringvorlesung des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemester 2011/2012 entstanden sind, dass heute über Geschichte nachzudenken, bedeutet, über die verschiedenen Epochen, unterschiedlichen Perspektiven und methodischen Zugängen hinweg den gemeinsamen Bezug auf Geschichte auszuloten und neu zu bestimmen, an jenem Zusammenhang zu arbeiten, der die Vielzahl von Geschichten miteinander in Beziehung setzt. So unternimmt Aloys Winterling den spannenden Versuch, die Systemtheorie für die Geschichte der antiken Welt zu nutzen. Claudia Tiersch untersucht im Lichte moderner Urbanitätsforschung die Paradoxien christlicher Stadtsemantiken im Römischen Reich ebenso, wie Hannes Grandits differente urbane Lebensentwürfe im habsburgischen Fin-de-siècle als Wettstreit von Tugenden begreift. Beide Beiträge gründen auf einer kulturgeschichtlichen Erweiterung der Geschichtswissenschaften, in der die Bedeutung der Sprache und Kommunikation in den Blick genommen wird. Dass eine Geschichte Europas nicht mehr eurozentrisch oder gar als Geschichte des christlichen Abendlandes geschrieben werden kann, legt Michael Borgolte in seinem Beitrag über die Mediävistik als globale Geschichte dar. Ähnlich zeigt Andreas Eckert, dass die Geschichte Afrikas nicht die eines territorial abgeschlossenen Kontinents ist, sondern in vielfacher Hinsicht in eine Globalgeschichte eingebettet ist und nur in einer solchen Perspektive er© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Einleitung

schlossen werden kann, will man nicht erneut einem europazentrier­ten Blick auf den »schwarzen Kontinent« anheim fallen. Wie sehr eine moderne Geschichtsschreibung sich als »histoire crosée« (Bénédicte Zimmermann/Michael Werner) versteht und die Verflechtungen und den Transfer in den Fokus der Untersuchung rückt, macht Peter Burschel deutlich, der der transkulturellen Biografie eines Gelehrten des 16.  Jahrhunderts nachgeht, der im christlichen Italien wie im islamisch-­ arabischen Nordafrika ganz unterschiedliche Spuren hinterlassen hat. Aber auch die politische Geschichte erschöpft sich längst nicht mehr darin, staatliches Handeln, Strukturzwänge von Bürokratien oder die Entscheidungen von Regierungen zu erforschen. So verknüpft Birgit Aschmann die Geschichte der Sexualität im 19. Jahrhundert mit dem Aufstieg und Fall der spanischen Königin Isabella II. in der öffentlichen Wahrnehmung, die schließlich zu ihrer Entthronung führte. Vorstellungen von einem angemessenen Verhalten einer Königin, sexuelle Imaginationen und Grenzen öffentlicher Sagbarkeit verschränkten sich in signifikanter Weise miteinander. Bilder der Macht waren ebenso für die Repräsentation der kommunistischen Nomenklatura im 20.  Jahrhundert notwendig. Neben der Visualisierung, die mit der rasanten Verbreitung der Fotografie und des Films zu einem entscheidenden Medium von Herrschaftsdurchsetzung wurde – erinnert sei nur an die Relevanz, die sämtliche Diktaturen der Propaganda beimaßen –, bildete aber auch die Autobiographik ein Textgenre, in dem sich die »Notwendigkeit« der Geschichte schreiben ließ. Martin Sabrow zeigt am Beispiel kommunistischer Autobiographien ehemaliger DDR-Politiker, insbesondere an Erich Honecker, die rhetorischen Figuren einer planbaren Geschichte. Diese Berührung von Literatur und Geschichte in der Herstellung eines historischen Narrativs, dessen Fiktionalität durch die prononcierte Faktizität nicht verborgen werden kann, stellt sicher eine besondere Herausforderung an eine Geschichtsschreibung dar, die selbst das Erzählen wieder­ entdeckt hat. Das gilt auch für die Entstalinisierung in der Sowjetunion, deren zentralen Akteur Nikita Chruschtschow Jörg Baberowski untersucht. Entgegen gängigen Annahmen schildert Baberowski, wie wichtig die Rolle Chruschtschows war und wie prekär stets die Entscheidungsmomente waren, in denen es darauf ankam, das langjährige, verheerende stalinistische Gewaltregime in eine politische Ordnung von Berechenbarkeit und Sicherheit zu überführen. Die Bezugsgröße ist dabei immer das Volk. Der Satz, der in jeder demokratischen Verfassung obenan steht, dass nämlich alle Gewalt vom Volke ausgehe, bleibt dennoch in bestimmter Weise Fiktion, denn das Volk ist unsichtbar. Und dennoch tritt es immer wieder auf die Bühne der Geschichte, ob in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Einleitung

Frankreich 1789, in Russland 1917, in Deutschland 1918 und 1933, in Polen 1980 oder dann in ganz Osteuropa 1989/90. Diese Ambivalenz einer Volkssouveränität, deren Subjekt demos oder ethnos sein kann, widmet sich Michael Wildt in seinem Beitrag, mit dem erneut deutlich wird, wie sehr politische Geschichte heute als Kulturgeschichte des Politischen begriffen wird. In Hegels klassischer Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft waren Politik und Wirtschaft zwei voneinander getrennte Bereiche. Dass demgegenüber Korruption Teil  der politischen Ökonomie sein kann und trotz aller öffentlichen Kritik offenkundig ein unauslöschlicher Ausdruck der Verbindung von staatlichem Handeln und ökonomischer Rationalität ist, erhellt der Beitrag von Alexander Nützenadel und macht damit wiederum die Horizontöffnungen erkennbar, die sowohl die politische Geschichte wie die Wirtschaftsgeschichte in den vergangenen Jahren erfahren haben. Eine der spannendsten Diskussionen in der Geschichtswissenschaft der jüngsten Zeit haben Anselm Döring-Manteuffel und Lutz Raphael ausgelöst, indem sie den siebziger Jahren den Charakter eines Strukturbruchs in der Industriemoderne zugewiesen haben. Und so ist es kein Zufall, dass sich vier Beiträge aus ganz unterschiedlichen Perspektiven diesem Jahrzehnt nähern. Thomas Mergel untersucht die Veränderungen der politischen Kultur, die Auflösung des Links/Rechts-Schemas und das Aufkommen neuer Konfliktfelder wie neuer Konfliktcodes. Gabriele Metzler widmet sich der politischen Gewalt in den siebziger Jahren, die das staatliche Gewaltmonopol heraus­ forderte und den deutschen wie auch andere europäische Staaten in zum Teil heftige Krisen stürzte, wie der terroristischen Gefahr mit rechtsstaatlichen Mitteln begegnet werden könnte. Anke te Heesen wiederum untersucht in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Beitrag den epistemologischen Wechsel in den siebziger Jahren zur »Spurensicherung«, zur Aufwertung der Dinge, die, wie sie exemplarisch an mehreren Ausstellungen zeigt, Kunst und Geschichte zusammenführt, weil die Objekte stets zu einer Geschichte führen. Und Thomas Sandkühler schließlich weist auf den Generationenwechsel in der Geschichtsdidaktik in den siebziger Jahren hin, verbunden mit dem Vorschlag, die Geschichte der Geschichtsdidaktik nicht länger im Rahmen der Historischen Bildungsforschung zu schreiben als vielmehr als Kulturgeschichte. Weitere Kolleginnen und Kollegen des Instituts wie der Althistoriker Wolfgang Nippel, die Mediävisten Johannes Helmrath und Michael Menzel, der Preußenhistoriker Wolfgang Neugebauer oder die Kaukasusexpertin Eva-Maria Auch hätten diese Liste mit eigenen Beiträgen zur Pluralität und Reflexivität fortsetzen können, wenn nicht der zeitliche Rahmen der Ringvorlesung auch eine Begrenzung der Vorträge gesetzt hätte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Einleitung

Sicher stellen die Beiträge dieses Bandes nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Bestandsaufnahme dar, wie heute in der Geschichtswissenschaft über Geschichte nachgedacht wird, welche Fragen gestellt, welche Forschungsansätze angelegt werden. Die Arbeit an der Geschichte, wie sie dieser Band dokumentiert, kann daher nicht abgeschlossen sein. Vielmehr sollen die Beiträge ermuntern und anregen, Geschichte als ein überaus spannendes und produktives Feld der Wissenschaft zu entdecken und stets neu zu vermessen. »Wir können nicht arbeiten«, so Max Weber, »ohne zu hoffen, dass andere weiter kommen werden als wir.«2

2 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin 1992, S. 16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Aloys Winterling

Wie modern war die Antike? Was soll die Frage?

Einleitung Die Frage nach der Modernität der Antike ist selbst alles andere als modern: Schon seit mehreren Jahrhunderten hat man in Europa die Antike mit der eigenen Gegenwart verglichen. Berühmt ist die durch eine Sitzung der Académie Française 1687 eingeleitete »Querelle des Anciens et des Modernes«, in der es um die Frage der Ebenbürtigkeit der Moderne mit der Antike ging.1 Die Frage »Was soll die Frage?« nimmt dagegen eine relativ neue Beobachterposition ein, die über keine so lange Tradition verfügt. Indem sie nach dem Zweck der Frage fragt, beobachtet sie nicht die Antike selbst, sondern sie beobachtet die Beobachter der Antike. Es handelt sich also um eine Beobachtung zweiter Ordnung. Da ich nicht nur die zweite, sondern auch die erste Frage stelle, bin ich in der Situation, dass ich die Antike hinsichtlich ihrer Modernität zu beobachten habe  – und dass ich nicht nur andere Beobachter der Antike, sondern gleichzeitig auch mich selbst bei der Beobachtung der Antike zu beobachten habe. Ich möchte dies in folgenden Schritten versuchen: Im ersten Schritt (»Die Antike als Identifikationsobjekt«) geht es um lange gültige Konstruktionen der griechisch-römischen Antike. Im zweiten Schritt sollen diese Konstruktionen dekonstruiert werden (»Selbsttäuschung und produktive Missverständnisse«). Drittens sollen alternative Rekonstruktionen versucht werden (»Die Antike, die Moderne und die Modernität der Antike«). Während der erste und der zweite Teil knappe Skizzen sind, geht es im dritten einerseits (a)  um eine ausführlichere strukturgeschichtliche Beschreibung der Gesellschaften der griechisch-römischen Antike aus gegenwärtiger Sicht, andererseits (b) um eine gegenwärtige Theorie, die die moderne Gesellschaft als nach Funktionsbereichen differenzierte Gesellschaft beschreibt. 1 Siehe Peter K. Kapitza, Bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der­ Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981; Arbogast Schmitt, Querelle des Anciens et des Modernes, in: Der Neue Pauly 15, 2 (2002), S. 507–622. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Wie modern war die Antike?

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Drittens (c) soll versucht werden, beide in einem Strukturvergleich einander gegenüberzustellen, um auf diese Weise in methodisch kontrollierter Weise Aussagen über die Modernität der Antike zu ermitteln. Abschließend werde ich unter der Überschrift »Aristoteles und die Gier der Banker« einige Überlegungen zur »Antiquität der Moderne« anstellen und eine Antwort auf die Frage »Was soll die Frage?« versuchen. Vorweg hat noch eine kurze Begriffsklärung zu erfolgen: Die Begriffe »modern« und »Moderne« werden im Folgenden in drei unterschiedlichen Bedeutungen verwandt:2 1. als Selbstbezeichnungen der nachantiken Gesellschaften seit dem Mittelalter: Als moderni beschrieben sich die gegenwärtig Lebenden im Gegensatz zu den »Alten«, den antiqui, so z. B. in der genannten »Querelle des Anciens et des Modernes« vom Ende des 17. Jahrhunderts. 2. als konventionelle Periodisierungsbegriffe der europäischen Geschichte: Demnach ist unter der »modernen Gesellschaft« die europäische Gesellschaft ungefähr seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu verstehen; die etwa drei Jahrhunderte vorher werden entsprechend als Frühmoderne bezeichnet. »Moderne« und »Frühmoderne« entsprechen damit den Begriffen »Neuzeit« und »Frühe Neuzeit«, ohne dass damit schon etwas über den qualitativen Charakter der Gesellschaft dieser Zeit ausgesagt wäre. 3. Genau auf diesen qualitativen Charakter zielt die dritte Bedeutung von »modern« und »Moderne«: Sie bezieht sich auf die »Modernität« der »Moderne«, d. h. auf das, was die europäische Gesellschaft etwa seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts von den europäischen Gesellschaften der Zeit davor und von den vorherigen und gleichzeitigen Gesellschaften außerhalb Europas, d. h. von »vormodernen Gesellschaften« im allgemeinen, strukturell unterschied. Dabei erscheint der seit dem 19.  Jahrhundert deutlich werdende Prozess der Globalisierung als die Ausbreitung des Typs der modernen Gesellschaft von Europa auf die Welt. Nur in dieser Hinsicht kann man nun die Frage nach der »Modernität« der Antike stellen, denn dass die Antike nicht die Neuzeit war (im Sinne der zweiten Bedeutung von »modern«), ist ja unumstritten. Keineswegs unumstritten ist allerdings derzeit die Modernität (im dritten Sinne) der Moderne (im zweiten Sinne).3 Das dürfte zusammenhängen mit zwei gescheiterten Theorieentwürfen: dem Evolutionismus des späten 2 Vgl. Hans U. Gumbrecht, Modern. Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 93–131. 3 Siehe zum Folgenden: Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975; Thomas Mergel, Modernisierung, in: Europäische Geschichte Online, hg. vom Leibniz Institut für Europäische Geschichte, Mainz [27.4.2011]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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19. Jahrhunderts und der Modernisierungstheorie der Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide gingen davon aus, dass die Entwicklung, die zur europäischen Gesellschaft der Neuzeit geführt hatte, sich als ein zielgerichteter Prozess beschreiben lasse; dass dieser Prozess positiv zu werten sei, als »Fortschritt« zu immer besseren Verhältnissen; dass alle Gesellschaften, d. h. v. a. auch die Gesellschaften außerhalb Europas, diesen und keinen anderen Prozess ebenfalls zu durchlaufen hätten, wenn sie sich denn zum Positiven entwickeln wollten, dass dieser Prozess also ein universaler und notwendiger Prozess sei; schließlich – so in der Nachkriegszeit und v. a. aus der Sicht der westlichen Welt –, dass den Gesellschaften, die noch nicht den Status der Modernität erreicht hätten, durch Entwicklungshilfe dazu zu verhelfen sei. Zielgerichtet, fortschrittlich, notwendig, auf alle Gesellschaften übertragbar – durch diese Implikationen wurde der Begriff der Moderne eurozentrisch, normativ aufgeladen, also unwissenschaftlich, und mit einer empirisch nicht haltbaren Entwicklungstheorie assoziiert. Es ist gut verständlich, dass sich weite Teile der jüngeren sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung von ihm ferngehalten haben. Die Frage ist allerdings, ob man auf ihn  – gereinigt von evolutionistischen und modernisierungstheoretischen Vorstellungen – verzichten kann. Aus der Sicht von Historikern der vorneuzeitlichen Epochen Europas, und ebenso der von Erforschern außereuropäischer vorneuzeitlicher Gesellschaften und Kulturen z. B. in China, Indien, Mittelamerika oder Afrika, kann nun aber meines Erachtens überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei dieser europäischen Moderne um ein einmaliges, historisch aus dem Rahmen fallendes und für alle andern Gesellschaften in der Welt ganz außerordentlich folgenreiches Phänomen handelt. Deshalb scheint es mir notwendig, in diesem Sinne an dem Begriff der Moderne festzuhalten.

Die Antike als Identifikationsobjekt Die »Querelle« am Ende des 17. Jahrhunderts war eine Zäsur in der Bezugnahme auf die Antike. Seit dem 14.  Jahrhundert hatte die verstärkte Beschäftigung mit der schriftlichen Überlieferung der Griechen und Römer, seit dem 15. Jahrhundert ein neu erwachtes Interesse an der antiken Kunst und ­Architektur in Italien zu einer Art Wiederentdeckung der Antike geführt. Die eigene unmittelbare Vorgeschichte, die dann später als »Mittel­ alter« bezeichnet wurde, galt als dunkle Zeit der Barbarei, in der die Wissenschaft sich in metaphysische Spekulationen verstiegen hatte, in der Autorität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Wie modern war die Antike?

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und dumpfer Gehorsam dominiert hatten. Die Antike wurde demgegenüber als ein vergangenes Zeitalter der Vernunft, der Freiheit, der Wissenschaften und der Künste angesehen, das wiederbelebt werden sollte. Die Renaissance (»Wiedergeburt«) der Antike galt als Aufgabe und zugleich als Selbstbeschreibung der Zeit, die sich dann seit dem 17. Jahrhundert auch »neue Zeit« oder »Neuzeit« nannte. Man glaubte, durch die Beschäftigung mit der vorbildlichen Kultur und Sprache der antiqui, der »Alten«, die humanitas zu fördern, die Bildung zur vollkommenen Menschlichkeit.4 Auch als in der »Querelle« die These aufgestellt wurde, die Neuzeit sei (mittlerweile) der Antike in vielen Hinsichten – zumal was den Bereich der Naturwissenschaften und die Selbstreflexivität der Vernunft anging – gleichwertig oder überlegen, änderte das nichts an der Annahme einer Vorbildlichkeit der Antike, ja steigerte eher noch deren Idealisierung im Bereich von Kultur und Bildung. In Neuhumanismen, etwa dem deutschen des frühen 19. Jahrhunderts, wurden immer wieder Rückgriffe auf die Antike versucht. Sie galt als klassische Zeit, auf die man sich auch noch bezog, als die Modernität der Moderne und ihre Differenz zur Antike sich in immer klareren Formen abzeichneten: Das humanistische Gymnasium, das Studium der klassischen Sprachen, wurde als Vorbereitung für ein Leben in der modernen Industriegesellschaft empfohlen. Die vielfältigen Bezugnahmen und Rückgriffe auf die Antike seit dem Spätmittelalter haben nun deutliche Spuren im kulturellen Haushalt der Moderne hinterlassen. Ich möchte dies kurz am Beispiel der europäischen Sprachen dokumentieren: Fast die komplette Terminologie, mit der die moderne Gesellschaft ihre Besonderheiten beschreibt, basiert auf ursprünglich griechischen oder lateinischen Wortkörpern (oder aus Kombinationen beider wie das Wort »Terminologie« selbst, das aus dem lateinischen Wort terminus und dem griechischen Wort logos gebildet ist). So ist nach dem lateinischen societas engl. society, franz. société, ital. società, im Deutschen das Soziale gebildet; auf lat. cultus basiert engl. culture, franz. culture, ital. cultura, dt. Kultur. Der gleiche Befund ist in vielen anderen Bereichen feststellbar: Politik kommt von griech. polis, politika (Stadt, bürgerliche Angelegen­heiten), Ökonomie von oikos, oikonomia (Haus, Haushaltungskunst), viele Bereiche der Wissenschaft (engl. science, franz. science, ital. scienza, alles von lat. ­scientia) 4 Für die heutige Wissenschaft von der griechisch-römischen Antike hat diese Zeit vor allem die Sicherung der schriftlichen Überlieferung geleistet, nach der systematisch in den alten Klosterbibliotheken gesucht wurde und die mit der neuen Technik des Buchdrucks verbreitet wurde. Auch dem römischen Recht galten neues Interesse und edito­rische Bemühungen, und ebenso wurden materielle Quellenbestände, Inschriften, Münzen, antike Plastik und antike Bauwerke in neuer Weise behandelt und dokumentiert. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Aloys Winterling

haben antike Namen, so die Soziologie oder auch die Germanistik. Familie kommt von lat. familia, Pädagogik von griech. paidagogos, Religion von lat. religio. Nicht nur Begriffe des Ganzen (Gesellschaft, Kultur), auch die Beschreibung der zentralen gesellschaftlichen Kommunikationsbereiche der modernen Gesellschaft (Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Familie, Pädagogik, Religion) sind also fast vollständig durch griechisch-lateinische Fremdworte dominiert. Es scheinen solche Befunde zu sein, die bis in die Gegenwart die Annahme plausibel gemacht haben, die griechisch-römische Antike sei die Basis der modernen europäischen, und das bedeutet heute eben zunehmend auch: der Weltkultur. In einem solchen Sinne schreibt z. B. Jacob Burckhardt in der Einleitung seiner berühmten Griechischen Kulturgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts: »Wir sehen mit den Augen der Griechen und sprechen mit ihren Ausdrücken.«5 Bei dem Altphilologen Manfred Fuhrmann heißt es am Ende des 20. Jahrhunderts: Die Griechen »waren nun einmal der Anfang unserer Kultur, und dieser Anfang hat die Neuzeit tief geprägt und prägt mit kaum verminderter Kraft die Gegenwart.«6

Selbsttäuschung und produktive Missverständnisse Es ist nicht nur Mediävisten bekannt, dass die Vorstellungen, die sich die frühe Neuzeit vom dunklen Mittelalter machte, tendenziös und weitgehend falsch waren. Hinsichtlich der wichtigen Frage der Selbstreflexivität des Denkens z. B. kann das Mittelalter mit der Antike (Aristoteles) und der Neuzeit (Descartes) durchaus mithalten: Man denke nur an John Duns Scotus. Andererseits sind viele aus heutiger Sicht wichtige Elemente des Neuen seit der Zeit des Humanismus und der Renaissance gar nicht auf antike Vorbilder zurückführbar (z. B. die Zentralperspektive der Malerei oder die Erfindung der Doppelten Buchführung am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien; dasselbe gilt für den Buchdruck, der sich etwa zur gleichen Zeit als entscheidendes Verbreitungsmedium gesellschaftlicher Kommunikation durchsetzte). Was aber sollte dann die Annahme einer Vorbildlichkeit der Antike? Welche Funktion hatte der Rückbezug auf die Antike in der sich seit dem Spätmittelalter langsam verändernden Gesellschaft Europas? 5 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 1 (Kritische Gesamtausgabe Bd. 19), München, Basel 2002, S. 371. 6 Manfred Fuhrmann, Europas fremd gewordene Fundamente. Aktuelles zu Themen aus der Antike, Zürich 1995, S. 36. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Wie modern war die Antike?

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Mir scheint die Erklärung im Bereich der Temporalstrukturen der Gesellschaft jener Zeit zu liegen.7 Die Vergangenheit war die zentrale Zeitdimension für die Orientierung in der Gegenwart. Das Streben nach Veränderung und Neuheit galt als unschicklich und außerdem als gefährlich. Die Vergangenheit limitierte daher zugleich das, was an Veränderung in der Gegenwart möglich war. Die Konstruktion einer Antike als eigener Vorvergangenheit im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance ermöglichte demgegenüber zweierlei: die Abkoppelung der eigenen Gegenwart von ihrer unmittelbaren, »mittelalterlichen« Vergangenheit und die Orientierung an einer tatsächlich neuen Zukunft, die aber als die eigentlich verbindliche (Vor-)Vergangenheit dargestellt werden konnte. Demnach handelt es sich bei dem Glauben der entstehenden Frühmoderne an ein Wiederaufleben der Antike um eine Selbsttäuschung der Gesellschaft über die in ihrer Gegenwart stattfindenden Veränderungen. Die Antike wurde keineswegs wiedergeboren (wie sollte man sich das auch vorstellen?), sondern lediglich – wenn man in der Metapher bleiben will – als Geburtshelferin einer neuen Zeit benutzt. Die Konstruktivität der Sicht auf die griechisch-römische Antike seit ihrer Wiederentdeckung im Spätmittelalter möchte ich anhand eines Beispiels kurz vorführen, anhand des Begriffs ›Polizei‹.8 Er ist abgeleitet von dem griechischen Begriff πολιτεία (politeia), der in seiner klassischen antiken Formulierung, bei Aristoteles im 4.  Jahrhundert v. Chr., eine doppelte Bedeutung hat: Er bezieht sich auf die städtische Bürgerschaft der griechischen Polis und meint einerseits diese Bürgerschaft im sozialen Sinne, d. h. die Gesamtheit der Bürger, die die Polis bilden, andererseits zugleich die politische Ordnung, in der diese Bürger sich befinden, d. h. »Verfassungen« wie Demokratie, Oligarchie etc. (Schließlich bezeichnet der Begriff dann auch das mit beidem zusammenhängende Bürgerrecht).9 Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts gelangte das Wort über die Latinisierung politia in den deutschen Sprach­bereich  – nicht zur Bezeichnung der Bürgerschaften städtischer Gemeinwesen, sondern zur Bezeichnung der nach Ständen gegliederten Ordnung der Gesellschaft sowie zur Beschreibung der inneren Ordnung des frühmodernen Fürstenstaates. »Policey« meinte jetzt: »Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens« 7 Siehe hierzu allgemein Reinhart Koselleck, Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte [1967], in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 38–66. 8 Vgl. dazu Franz Ludwig Knemeyer, Polizei, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 875–897. 9 Siehe bes. Aristoteles, politica 1274 b 37 f.; 1278 b 8 f. Dazu Aloys Winterling, Aristoteles’ Theorie der politischen Gesellschaft, in: Karen Piepenbrink (Hg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike, Darmstadt 2003, S. 67–82, 72 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und »Rechtssatz, gerichtet auf die Herstellung und Erhaltung guter Ordnung«, sowie die »innere Verwaltung« zu diesem Zweck. Im 18. Jahrhundert verengte sich dann die Bedeutung auf den heutigen Sinn: ein mit Zwangs­ gewalt ausgestatteter besonderer Teil der staatlichen Verwaltung.10 Mit einer ständisch gegliederten Gesellschaft und einer fürstlichen Territorialherrschaft hat nun die griechische Bürgerpolis nur noch sehr wenig zu tun, mit der heutigen Polizei gar nichts mehr: Etwas Vergleichbares gab es in griechischen Städten nicht. D. h. der Begriff wurde aus seinem ursprünglichen antiken Kontext gelöst und für ganz andere, neue Sachverhalte verwandt, für die noch keine Begriffe zur Verfügung standen. Der Rezep­ tionsvorgang lässt sich somit beschreiben als Verwendung antiken Gedankengutes für moderne Phänomene, für die es nicht gedacht war, für die es gleichwohl sinnvoll adaptiert werden konnte – als produktives Missverständnis also. Die Antike erscheint nun angesichts solcher Befunde – und viele andere ließen sich an ihre Seite stellen – keineswegs als der Ursprung und das Fundament der Moderne. Vielmehr scheint sie späteren Zeiten als eine Art Projektionsfläche ihrer jeweils eigenen, gegenwärtigen Probleme gedient zu haben: als Mittel, um sich durch eine idealisierte Vergangenheit eine neue Zukunft zu ermöglichen (Renaissance, Humanismus), oder als Begriffs-Reservoir für Neues, das es in der Antike gar nicht gegeben hatte (›Polizei‹). Dieses Ergebnis ist nun zweifellos aufschlussreich für die Frage nach der Frage nach der Antike, d. h. für die Beobachtung zweiter Ordnung. Über die Antike selbst, die Frage nach ihrer Modernität, die Beobachtung erster Ordnung also, ist damit jedoch noch nichts ausgesagt.

Die Antike, die Moderne und die Modernität der Antike a) Die Antike

Als erstes habe ich nun etwas genauer auf den Gegenstand »Antike« einzugehen. Ich möchte dies in Form einer strukturgeschichtlichen Skizze tun.11 Die dabei leitende Frage ist die nach den strukturellen Besonderheiten, die 10 Knemeyer, Polizei, S. 886, 984. 11 Der folgende Abschnitt zitiert in leicht überarbeiteter Form: Aloys Winterling, Die politische Zivilisation der griechisch-römischen Antike [in russ. Sprache], in: Journal of the Yaroslavl State Pedagogical University 26 (2001), S. 108–115; sowie: Ders., Über den Sinn der Beschäftigung mit der antiken Geschichte, in: Jörn Rüsen u. a. (Hg.), Sinn (in) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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die Antike von anderen vormodernen, sog. hochkulturellen, d. h. v. a. über eine vornehme Oberschicht und Schriftlichkeit verfügenden, Gesellschaften im Vorderen Orient, in Ägypten, Indien, China, Japan und Mittelamerika unterschieden. Solche Besonderheiten sind ab etwa 1000 v. Chr. greifbar, als sich im östlichen Mittelmeerraum städtische Siedlungsformen durchsetzten. Einzelne Anführer oder Clanchefs begründeten mit ihren gentilizischen Verbänden und abhängigen Gefolgschaften gemeinsam autonome städtische Gemeinwesen, die häufig in Küstennähe gelegen waren und die sich – obwohl Mitglieder einer Kultur- und Sprachgemeinschaft  – gegenseitig als politische Umwelt behandelten. Die antike Kultur war, wie es Max Weber klassisch ausgedrückt hat, »ihrem Wesen nach zunächst: städtische Kultur«.12 Die Gründe mögen naturräumlicher Art gewesen sein (Nutzung der überseeischen Handelsmöglichkeiten mit dem Orient), eine wichtige Folge war, dass die üblichen, aus anderen vormodernen »Hochkulturen« bekannten Herrschaftsformen – überregionale Monarchien auf der Basis patrimonialer oder feudaler Strukturen – hier ausblieben. Die politische Struktur dieser Städte war dadurch gekennzeichnet, dass sich auch in ihrem Inneren keine dauerhaften monarchischen, d. h. über Geburt und Familie perpetuierten Herrschaftsformen durchhielten, dass sich statt dessen eine Art Rotationsprinzip bei der Ausübung der Herrschafts­ rollen etablierte: Die Clanchefs, die stadtsässige Adlige geworden waren, kämpften nicht permanent gegeneinander um die Vorherrschaft, sondern arrangierten sich und herrschten abwechselnd. Ein Grund dafür dürften die durch die städtische Interaktionssituation gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten gewesen sein, die es einzelnen schwer machte, sich auf Dauer gegen alle anderen zu behaupten. Die Folge war die Ausbildung von politischen

der Antike. Orientierungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, S. 403–419, 410–414. – Grundannahmen der sehr abstrakten, und selbstverständlich ihrerseits dekonstruierbaren, Rekonstruktion gehen zurück auf Max Weber und Alfred Heuß (siehe vor allem Max Weber, Agrarverhältnisse im Altertum [1908], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 21988, S. 1–288 [Max Weber Gesamtausgabe Bd.  1/6, S.  320–747]; sowie Webers postum erschienener Aufsatz »Die Stadt«, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 51972, S. 727–814 [Max Weber Gesamtausgabe Bd. 1/22–5, S. 59–299]; Alfred Heuß, Herrschaft und Freiheit im griechisch-römischen Altertum [1965], in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1995, S. 438–499). 12 Max Weber, Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur [1896], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 21988, S. ­289–311, Zitat S. 291 (Max Weber Gesamtausgabe Bd. 1/6, S. 99–127, Zitat S. 102). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Organisationsstrukturen auf der Basis von wechselnd bekleideten, über den Zeitmechanismus (Jährlichkeit) institutionalisierten Rollen. Damit war zugleich eine Trennung der Herrschaftsrollen von den sie bekleidenden Personen etabliert, und dieses Prinzip scheint schnell irreversibel geworden zu sein. Die politischen Ordnungen waren keine »Verfassungen« im heutigen Sinne, vielmehr handelte es sich um eine Art politischer Integration der­ lokalen Adelsgesellschaften: Zugehörigkeit zum Adel war Voraussetzung für die Ausübung zeitlich begrenzter politischer Ämter, und die Ausübung politischer Ämter sowie führende Tätigkeiten für die Stadt generell manifestierten Adlig­keit und regelten die Stellung des ehemaligen Amtsträgers in der­ inneren Hierarchie der Adelsgesellschaften. Die weitere Entwicklung im Inneren der Städte war gekennzeichnet durch eine Verbreiterung der an der politischen Funktionsausübung beteiligten Personenkreise, die in einigen Städten im Laufe des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. zu »Demokratien« führte, kunstvoll differenzierten Systemen mit politischen Institutionen sowie kleinen und kleinsten Ämtern, an denen das gesamte Volk, d. h. die erwachsenen männlichen Vollbürger, beteiligt war. Militärtechnische Veränderungen und Adelsrivalitäten scheinen ein Hintergrund für diesen Prozess gewesen zu sein, in dessen Verlauf die politische Ordnung selbst zum Gegenstand von Politik gemacht wurde. Auch unter den Bedingungen von Demokratien blieb jedoch ein Charakteristikum dieser Politik, dass sie sich ausschließlich auf die versammelten männlichen Bürger in der Stadt bezog (die vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten). Im Bereich des oikos, des Hauses, übte der einzelne Bürger als despotes Herrschaft über seine Familie und über seine Sklaven aus, rechtlose Personen, die sein Eigentum waren. Die Leistungsfähigkeit dieser griechischen »Stadtkultur«, bzw. der griechischen Gesellschaft, die in eine Vielzahl von Städten differenziert war, zeigte sich in militärischer Hinsicht, als zu Beginn des fünften Jahrhunderts Siege über die Invasionstruppen des persischen Großreiches errungen wurden, sie zeigte sich aber vor allem in kultureller Hinsicht: Neue Formen der Dichtung, der bildenden Kunst und der Architektur entstanden, das ­Theater – Komödie und Tragödie – wurde erfunden, seit dem späteren fünften Jahrhundert entstand erstmals eine Reflexion über die Vergangenheit in der Form der Historiographie. Schließlich bildeten sich mit der griechischen Philosophie seit dem sechsten Jahrhundert Wissenssysteme, die Mathematik, Natur, Medizin, Sprache und Grundbedingungen des Seins zum Gegenstand machten und auf Regelhaftigkeit untersuchten. Sie mündeten im vierten Jahrhundert v. Chr., bei Platon und Aristoteles, in universale wissen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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schaftliche Entwürfe, die sämtliche der menschlichen Erfahrung zugängliche Bereiche (Natur, Politik, Gesellschaft, Ethik, Rhetorik) zum Gegenstand rationaler Erforschung machten und die erstmals auch Wissenschaft auf Wissenschaft anwandten, indem sie die Bedingungen der Möglichkeit wahrer Erkenntnis untersuchten. Die Entwicklung in Mittelitalien verlief in etwa parallel mit ca. 150 Jahren Verspätung. Auch hier, an der Peripherie der griechischen Städte Süditaliens, entstanden ähnlich strukturierte städtische politische Einheiten, unter denen v. a. die Stadt Rom herausragte. Sie brachten zwar keine den griechischen Städten vergleichbaren kulturellen Leistungen hervor, adaptieren jene aber erfolgreich. Die Besonderheit der Römer scheint u. a. darauf beruht zu haben, dass ältere, segmentär-gentilizische Abhängigkeitsverhältnisse in Form des Klientelwesens erfolgreich in die hochkulturelle Stadtgesellschaft überführt wurden. Die Folge war eine stabile Adelsherrschaft, die eine Entwicklung zur Demokratie wie in griechischen Städten verhinderte. Der Stabilität der inneren Verhältnisse diente die Entwicklung eines rationalen Rechtssystems, das in Griechenland kein Vorbild hatte. Vor allem aber zeichnete das römische Gemeinwesen eine militärische Effektivität aus, die im Rahmen der – wie auch in Griechenland – häufigen Kriege der Städte untereinander dazu führte, dass im Laufe des vierten Jahrhunderts v. Chr. zunächst Latium, dann das restliche Italien, schließlich im dritten Jahrhundert durch den Sieg über die rivalisierende Stadt Karthago der gesamte westliche Teil des Mittelmeerraumes unter die Herrschaft der Stadt gebracht wurde. Auch Rom war im Übrigen eine Gesellschaft männlicher Vollbürger, die in ihrem Haus, der domus, eine väterliche Gewalt (patria potestas) über Frau, Kinder und Sklaven ausübten, eine väterliche Gewalt, die hier sogar bis zum Tötungsrecht der ihr Unterworfenen reichte. Kennzeichnend für die Geschichte der antiken Gesellschaften ist nun, dass sie über die skizzierte Form nicht hinausgekommen sind. Die Geschichte Griechenlands im vierten Jahrhundert v. Chr. ist gekennzeichnet durch politische Desintegration der politisch integrierten Stadtgesellschaften: Nach dem ruinösen Peloponnesischen Krieg zwischen den beiden mächtigsten Städten, Athen und Sparta, herrschte ein fast permanenter Krieg aller gegen alle ohne stabile Bündnisbeziehungen, und – in Wechselwirkung damit – kam es im Inneren vieler Städte zu zum Teil mit äußerster Bruta­lität geführten Bürgerkriegen, denen Kämpfe zwischen rivalisierenden Gruppierungen der Oberschicht und Spannungen zwischen Oberschicht und Volk zugrunde lagen. Das Ergebnis dieser Desintegration war, dass das einfacher strukturierte – aus griechischer Sicht eher barbarische – Reich der Makedonen im Norden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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unter einem fähigen König, Philipp II., innerhalb weniger Jahre Griechenland erobern und damit unter die Herrschaft einer auswärtigen Monarchie bringen konnte. Das Macht- und Organisationspotential, das in den griechischen Stadtgesellschaften steckte, zeigte sich, als es der Sohn Philipps, Alexander d. Gr., in einem Krieg einte und innerhalb weniger Jahre das riesige persische Großreich bis zum Indus eroberte. Während die antike griechische Gesellschaft gewissermaßen politisch implodierte und von außen erobert wurde, zeigte sich im westlichen Mittelmeerraum die politische Explosion einer Stadt, die alle anderen unter ihre Herrschaft brachte. Nach dem Sieg über Karthago waren die in der Nachfolge Alexanders in Griechenland und im vorderen Orient entstandenen hellenistischen Monarchien nacheinander an der Reihe und wurden bis zum Jahre  31  v. Chr. vollständig unter römische Herrschaft gebracht, eine Herrschaft, die damit zur Herrschaft über die antike Welt überhaupt geworden war. Bezeichnend waren nun aber die Kosten dieses römischen Erfolgs: Die Stabilität der römischen Adelsherrschaft, die durch eine kunstvolle politische Ordnung (Magistratur, Volksversammlungen, Senat) über Jahrhunderte gesichert worden war, zerbrach in den Bürgerkriegen des ersten Jahrhunderts v. Chr., die sich gewissermaßen zu antiken Weltkriegen ausweiteten. Einzelne bedeutende Adlige  – prominent zuerst Sulla, dann Pompeius und Caesar, schließlich Antonius und Oktavian, der spätere Augustus – nutzten die enormen Machtressourcen des Reiches im Streben nach einer Alleinherrschaft, die offensichtlich strukturell notwendig geworden war: Die städtische Adelsrepublik war unfähig, das Weltreich zu regieren. So bildete auch hier – wie in Griechenland, nur von innen statt von außen kommend und in Form des Kaisertums – die Monarchie den Endpunkt der politischen Entwicklung. Im Vergleich mit den differenzierten städtischen politischen Verfassungen der klassischen Zeit war die auf Militär basierende römische Monarchie einfach strukturiert: Die Trennung von Person und Herrschaftsrolle, die komplizierten Verfahren zur Herstellung politischer Entscheidungen, die die griechischen Poleis ebenso wie die römische res publica ausgezeichnet hatten, wurden aufgehoben in der Herrschaft eines Einzelnen und seines Hofes. Der Kaiser war weder wählbar noch absetzbar, man konnte ihn nur ausrufen oder umbringen, was beides denn auch häufig geschah. Mit der römischen Kaiserzeit entstanden somit Verhältnisse, die auch für andere vorneuzeitliche hochkulturelle Gesellschaften gewissermaßen »normal« waren: eine große Territorien beherrschende Monarchie. Zugleich kann man beobachten, dass auch in kultureller Hinsicht  – vergleicht man mit­ © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Thukydides, der Attischen Tragödie oder Aristoteles – fortan Variation auf hohem Niveau, nicht aber Innovation dominierte. Der »Sonderweg« der antiken Gesellschaft war beendet. Nicht freilich diese selbst: Das römische Kaiserreich führte vielmehr zur räumlichen Ausbreitung antiker städtischer Lebensformen in den noch nicht urbanisierten Randgebieten von Nordafrika über Britannien bis zum Donauraum, es bescherte dem Mittelmeerraum noch einige Jahrhunderte relativ friedlicher Zustände und z. B. ein Straßensystem, dessen Qualität erst im 19. Jahrhundert wieder erreicht wurde. Im Westen hatte es Bestand bis zu den germanischen Reichsbildungen der sog. Völkerwanderungszeit im fünften und sechsten Jahrhundert, im Osten gab es in Byzanz einen Fortbestand des Reiches bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Bevor nun ein gegenwärtiges Modell der Beschreibung der modernen Gesellschaft skizziert und den vorgestellten griechisch-römischen Gesellschaftsstrukturen gegenübergestellt wird, ist ein früherer Versuch zu bedenken, dem es ebenfalls darum ging, die Antike in theoretisch abgesicherter Form hinsichtlich ihrer Modernität zu analysieren.13 Er wurde 1908 von Max Weber vorgelegt. Die Frage nach der Modernität der Antike nahm bei ihm die Form der Frage nach dem antiken »Kapitalismus« an. Webers Arbeit »Agrarverhältnisse im Altertum«, ein Buchumfang erreichender Artikel, der von ihm für die dritte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften verfasst wurde, leitet ein Kapitel ein, das die Überschrift »Zur ökonomischen Theorie der antiken Staatenwelt« trägt und in dem die Frage gestellt wird: »Kennt das Altertum (in einem kulturhistorisch relevanten Maß) kapitalistische Wirtschaft?« Diese sieht Weber mit einem Begriff »rein ökonomischen Inhalts« als überall dort gegeben, »wo Besitzobjekte, die Gegenstand des Verkehrs sind, von Privaten zum Zweck verkehrswirtschaftlichen Er­werbes benutzt werden.«14 Der Begriff »Kapitalismus« hebt also ab auf ein ausschließlich auf seine ökonomische Funktion ausgerichtetes Handeln zur Erzielung von Gewinn am Markt. Weber listet verschiedene Bedingungen auf, die solches rein ökonomisch ausdifferenziertes Handeln in der Antike begünstigten und solche, die es behinderten. Er kommt z. B. ausführlich auf die Besonderheiten der Verwendung unfreier Arbeit zu sprechen, die durch Mortalitätsrisiken und schwankende Sklavenpreise rational schwer kalkulierbar war. Als Krone antiker Kapitalverwertungsarten sieht er die Steuerpacht, d. h. die private Ersteige13 Vgl. Aloys Winterling, Die römische Republik im Werk Max Webers. Rekonstruktion – Kritik – Aktualität, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 595–635. 14 Weber, Agrarverhältnisse, S. 59 (Max Weber Gesamtausgabe Bd. 1/6, S. 334). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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rung der Steuereinnahmen von beherrschten Gebieten, was ihn zu der Charakterisierung des antiken Kapitalismus als einem »politischen Kapitalismus« führt, der an erobernde städtische Gemeinwesen gebunden war und daher zur Zeit der späten römischen Republik und ihres antiken Weltreichs seine größte Blüte hatte. Zugleich sieht er auch den Untergang des antiken Kapitalismus politisch bedingt: Er sei behindert worden durch die Labilität politischer Verhältnisse, durch die Vermögenskonfiskationen in griechischen Poleis ebenso wie im Kaiserreich; er sei schließlich gar »erstickt« worden durch die spätantike Bürokratie und das Leiturgiesystem. Webers Frage nach der Modernität der Antike konzentrierte sich also auf einen bestimmten Teilbereich der modernen Gesellschaft, den Bereich der Wirtschaft, den er – 1908 – für den entscheidenden hielt. Er setzte die spezifische Modernität dieses Teilbereiches, seine weitgehende Eigenrationalität und Autonomie, ins Zentrum seiner Analyse und zeigte, dass sich diese auf Grund der sie umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen in der Antike nur in bestimmten Sektoren und temporär entfalten konnte.15 Ein gutes Jahrzehnt später entwickelte Weber in der berühmten »Zwischen­ betrachtung« der Aufsätze zur Religionssoziologie ein anderes Modell für die Modernität der modernen Gesellschaft, das nicht nur die Besonderheit moderner Wirtschaft, sondern auch die weiterer gesellschaftlicher Teilbereiche in den Blick nimmt, neben der Wirtschaft vor allem die Politik, die Wissenschaft und die persönliche Lebensführung des Individuums. In allen diesen Bereichen konstatiert Weber eine »okzidentale« Rationalisierung, die die moderne Gesellschaft insgesamt von allen anderen vormodernen Gesellschaften unterschied. Dieses umfassendere Modell gesellschaftlicher Differenzierung hat er auf die Antike jedoch nicht mehr angewandt.

15 Merkwürdigerweise hat sich dann in der Alten Geschichte eine Kontroverse um die Frage gebildet, ob die antike Wirtschaft primitiv oder modern gewesen sei, eine offensichtlich falsche Alternative, die – anders als Weber – die gesellschaftliche Umwelt der antiken Wirtschaft ignorierte und Webers Ergebnisse noch dazu. (Vgl. als Übersicht: Moses I. Finley [Hg.], The Buecher-Meyer Controversy, New York 1979; Helmuth Schneider, Die Bücher-Meyer Kontroverse, in: William M. Calder III, Alexander Demandt [Hg.], Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden 1990, S. 417–455.) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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b) Die Modernität der Moderne

Die derzeit wohl komplexeste Theorie und Beschreibung der modernen Gesellschaft hat im Gefolge von Max Weber und Talcott Parsons der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann mit dem Konzept der funktionalen Differenzierung vorgelegt. Sie ist für Historikerinnen und Historiker generell von Interesse, weil sie – in Form einer Theorie sozio-kultureller Evolution – in zentralen Hinsichten temporale Dimensionen zum Thema macht, was ja keineswegs bei allen modernen Gesellschaftstheorien der Fall ist.16 Demnach handelt es sich bei allen vormodernen Gesellschaften mit Schriftgebrauch um stratifizierte Gesellschaften,17 die nach den Prinzipien Rang und Ehre geschichtet waren und bei denen die Kommunikation innerhalb der vornehmen Oberschicht multifunktional war: Freundschaft zwischen Adligen z. B. hatte über die rein persönliche Beziehung hinausgehend zugleich Bedeutung für eine Vielfalt von gesellschaftlichen Funktionen. Sie ging einher mit ökonomischer Unterstützung, mit Unterstützung in Machtfragen und vor Gericht oder auch mit Hilfe beim Erwerb von Ehre und sozialem Status. Sie war damit wirtschaftlich, politisch, rechtlich und hinsichtlich der Rangordnung gleichzeitig relevant. Demgegenüber zeichnet sich die primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft nach Luhmann dadurch aus, dass sich für bestimmte Funktionsbereiche jeweils spezialisierte Teilsysteme gebildet haben:18 Z. B. Politik, die sich mit Entscheidungsfindung befasst, Recht, das Verhaltens­ erwartungen absichert, Wirtschaft, der es um Vorsorge für zukünftigen Bedarf geht, Wissenschaft, die sich um allgemein akzeptierte Weltbeschreibungen kümmert, und der Bereich von kleinfamilialen und anderen Nahbeziehungen, die unter Absehung von weiteren Rollen der Partner den Ort für Liebe und Freundschaft darstellen. Typisch für diese Systeme ist, dass sich auf ihrer Basis vielfach Organisationen und entsprechende professionalisierte Rollen ausbilden: Politiker, Juristen, Manager oder Wissenschaftler, dass andererseits alle Mitglieder der 16 Einen guten Einblick in die komplexe Theorie Luhmanns gibt jetzt: Oliver Jahraus u. a. (Hg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2012. – Die Systemtheorie ist selbstverständlich nicht die einzige Theorie der modernen Gesellschaft. Zu konkurrierenden Theorien, die auf Phänomene der Entdifferenzierung bei Analysen der Gegenwart aufmerksam machen, vgl. den Beitrag von Alexander Nützenadel in diesem Band. 17 Vgl. besonders den Abschnitt über stratifizierte Gesellschaften in: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997, Bd. II, S. 678–707. 18 Vgl. z. B. ebd., Bd.  II, S.  707–742 (»Ausdifferenzierung von Funktionssystemen«) und S. 743–775 (»Funktional differenzierte Gesellschaft«). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Gesellschaft in irgendeiner Weise an den von diesen Funktionssystemen geformten Kommunikationen teilhaben: als der staatlichen Gewalt Unterworfene und Wähler in der Politik, als Empfänger von Zahlungen und Konsumenten in der Wirtschaft oder als Mitglieder eines Publikums, das auch lebensweltlich unplausible Dinge akzeptiert (z. B. dass sich die Erde dreht), wenn sie als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse gelten. Typisch für die Funktionssysteme ist zudem, dass sie mit unterschiedlichen Codes oder Leitdifferenzen operieren und die Welt entsprechend beobachten, während die Codes und Differenzen der jeweils anderen Systeme für sie nicht relevant sind: In der Politik ist es z. B. die Unterscheidung machtvoll/machtlos, im Recht recht/unrecht, in der Wirtschaft Zahlung/Nichtzahlung, in der Wissenschaft wahr/unwahr, in der Religion Immanenz/Transzendenz oder in den Nahbeziehungen geliebt/nicht geliebt. Die relative Autonomie der Teilsysteme und ihrer Codes zeigt sich bei Interferenzphänomenen. Geldzahlungen können z. B. wissenschaftliche Forschungen erleichtern (oder andere erschweren), nie aber kann eine Geldzahlung selbst wissenschaftlich Wahrheit herstellen. In ähnlicher Weise kann Geld nicht die Stelle von Macht einnehmen, und wenn mit Geldzahlungen Macht erkauft wird, dann handelt es sich um Bestechung oder Korruption, die gerichtlich verfolgt werden können. Wenn die Politik umgekehrt meint, sie könne die Wirtschaft retten, z. B. durch das Drucken von Geld, dann droht als wirtschaftssysteminterne Reaktion Inflation. Die Wissenschaft wiederum kann bei einer Regierungskrise der Politik nicht mit wahren Aussagen helfen. Die Autonomie und gegenseitige Blindheit der jeweiligen Teilsysteme hat nun nicht etwa zur Folge, dass sie von einander unabhängig wären, vielmehr sind sie in höherem Maße voneinander abhängig als Teilsysteme in vormodernen Gesellschaften. Während dort z. B. aufgrund der Multifunktiona­ lität von Haushalten (die ein System von Nahbeziehungen, eine ökonomische Versorgungseinheit und die Grundlage des gesellschaftlichen Standes gleichzeitig waren) Funktionsausfälle relativ leicht kompensiert werden konnten, sind die Folgen katastrophal, wenn in einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft ein Teilsystem, z. B. die Politik, ausfiele. Und die höchste Aufmerksamkeit beansprucht nicht etwa das stärkste Teilsystem, sondern das mit der höchsten Versagensquote, das daher die größte Gefahr für alle anderen darstellt. In der Gegenwart ist dies zweifellos die Wirtschaft. Für die einzelnen Menschen bedeutet funktionale Differenzierung, dass sie an mehr oder weniger allen Teilsystemen irgendwie beteiligt sind, aber nirgendwo in der Gesellschaft mehr einen festen Platz haben. Während sie in stratifizierten Gesellschaften – als Adliger oder Bauer oder Sklave – einer © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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bestimmten Schicht in der Regel per Geburt zugeordnet waren,19 gelten moderne Menschen daher als Individuen, die sich selbst zu verwirklichen haben. Menschen – und mit diesem Satz hatte Luhmann in den siebziger Jahren viele provoziert – sind die Umwelt der Gesellschaft, die als funktional differenziertes Kommunikationssystem gedacht wird. Während also vormoderne stratifizierte Gesellschaften, so kann man festhalten, nach Luhmann durch Multifunktionalität der Kommunikationen und durch »Einbettung« der Funktionsbereiche wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Religion etc. in weitere gesellschaftliche Beziehungssysteme und insbesondere in die Stratifikation gekennzeichnet waren, ist die moderne Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht – anders als alle historischen Gesellschaften – durch Verzicht auf Multifunktionalität und durch die Ausdifferenzierung von Teilsystemen gekennzeichnet, die auf bestimmte gesellschaftliche Funktionen spezialisiert sind. Die enorme Steigerung der Komplexität durch funktionale Differenzierung  – und die im Verlauf der Ausdifferenzierung erfolgende weltweite Ausdehnung dieses Gesellschaftstyps – wird übrigens in der Systemtheorie keineswegs als Fortschritt gefeiert. Die Möglichkeit, dass es sich um eine grandiose Fehlentwicklung ungewissen, vielleicht desaströsen Ausgangs handelt, wird bei Luhmann ausdrücklich offen gelassen.20

c) Die Modernität der Antike

Fragt man in diesem Kontext nun nach der Modernität der Antike, so ist zunächst festzustellen:21 Funktionale Differenzierung als primäre Form gesellschaftlicher Differenzierung hat es in der Antike nicht gegeben. Die Frage 19 Vgl. dazu besonders Niklas Luhmann, Zum Begriff der sozialen Klasse [1984], in: Ders., Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2008, S.  72–131: Ungleichverteilung sozialer Güter auf Menschen und daraus resultierende Schichtungen kommen in der modernen Gesellschaft weiterhin vor, haben vermutlich gegenüber vormodernen Gesellschaften sogar zugenommen, sie haben aber keine strukturtragende Bedeutung mehr; sie gelten nicht als natur- oder gar gottgegeben, sondern stören eher, indem sie z. B. Wählerverhalten beeinflussen oder auf andere Weise zum politischen Problem werden. 20 Siehe Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, besonders den Abschnitt »Ökologie des Nichtwissens«, S. 149–220. 21 Der Frage nach funktionaler Differenzierung in der Antike ging erstmals eine von Hartmut Leppin und mir geleitete Sektion auf dem 49. Deutschen Historikertag 2012 in Mainz nach, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht wurden. Von der Systemtheorie angeregte Fragestellungen sind in der Alten Geschichte, anders als z. B. in der Geschichte der Frühen Neuzeit, bislang eher selten zu finden. Siehe z. B.: Christian Mann, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nach Funktionssystemen ist gleichwohl aufschlussreich. Denn praktisch alle modernen Funktionssysteme sind in einer besonderen Form auch in der Antike beobachtbar. Darauf deuten z. B. Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit und Freundschaft oder Liebe, die etwa seit dem spätarchaischen Griechenland, dem 6. Jahrhundert v. Chr., in den Quellen greifbar sind. Ein Sonderstatus kam offensichtlich dem politischen Bereich zu: Schon die in archaischer Zeit entstanden Organisationsstrukturen und institutionalisierten Verfahren, die Ämterorganisationen, Ratsgremien und Volksversammlungen sowie die Wahl- und Abstimmungsverfahren, bedeuteten, indem sie auf die Herstellung und Durchsetzung alle betreffender Entscheidungen zielten, eine Ausdifferenzierung politischer gegenüber anderen Dimensionen menschlicher Kommunikation. Insbesondere die Trennung von Rolle und Person bei der Ausübung politischer Funktionen in der Polis, ge­ sichert durch die Jährlichkeit der Ämter, und die Möglichkeit der Übermächtigung von Machthabern, gesichert durch die Kollegialität der Amtsträger und ihre Kontrolle durch Rats- und Volksversammlungen, dokumentieren komplexe Differenzierungen auf der Ebene politischer Rollen und Verfahren. Sodann ist die Reflexivität der Politik bemerkenswert, ihre Anwendung auf sich selbst, sichtbar an den Veränderungen der politischen Ordnung durch politische Entscheidungen, wie sie in Griechenland seit archaischer Zeit, in Rom seit der mythischen Vertreibung der Könige und den sog. Ständekämpfen durchgängig praktiziert wurden. Die Sonderrolle des politischen Bereichs wird auch daran sichtbar, dass sich die Gesellschaft auf der Ebene von autonomen städtischen Einheiten als »politische Gesellschaft« selbst beschrieb – so in den berühmten Einleitungssätzen der Politik des Aristoteles, wonach die koinonia politike, die städtische bürgerlich-politische Gemeinschaft, die wichtigste aller menschlichen Gemeinschaften sei, die alle anderen umfasse.22 Ähnlich definierte Cicero drei Jahrhunderte später die res publica als »Sache des Volkes« (res populi).23 Aber handelt es sich hier um Politik als ausdifferenziertes Funktionssystem? Es scheinen mir zunächst segmentäre Strukturen zu sein, die die AusPolitische Gleichheit und gesellschaftliche Stratifikation. Die athenische Demokratie aus der Perspektive der Systemtheorie, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 1–35; zur geschichtswissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie insgesamt: Frank Buskotte, Resonanzen für Geschichte. Niklas Luhmanns Systemtheorie aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, Berlin 2006; methodisch unklar: Christian Gizewski, Kategorien- und Methodenprobleme eines systemtheoretischen Ansatzes in der Alten Geschichte erörtert an Sozialsystemen, Texten und geistigen Strömungen des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, Diss. Berlin, Technische Universität, 1977. 22 Aristoteles, politica 1252 a 1–7. 23 Cicero, de re publica 1, 25. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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differenzierung des politischen Bereichs in der Antike begrenzten: Der Haushalt (oikos und domus) limitierte die politische Inklusion nach unten, und die polis bzw. civitas, d. h. die politische Stadt, die gleichzeitig einen Interaktionszusammenhang auf der Basis persönlicher Kenntnis der beteiligten männlichen Bürger bildete, limitierte sie nach oben. Polisübergreifende politisch integrierte Einheiten entstanden nicht. Das lässt sich auch für die spätere Zeit der Reichsbildungen in Hellenismus und Kaiserzeit zeigen. Des Weiteren blieb antike Politik eingebettet in die stratifikatorische Struktur der Gesellschaft. Die Herkunft aus einer vornehmen Familie war in der Regel Voraussetzung für die – in formal freier Wahl besetzten – Ämter. Und umgekehrt war Erfolg bei der Bekleidung von Ämtern ein wichtiges Mittel zur Erlangung von Ehre und Rang.24 Dieser Befund müsste noch differenziert werden, insbesondere hinsichtlich der Situation in den demokratischen Gemeinwesen Griechenlands oder auch hinsichtlich der späteren Entwicklungen unter den Bedingungen von Monarchie und Hof im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit. Gleichwohl limitierte die Stratifikation der Gesellschaft, ihre Differenzierung in Adlige bzw. Vornehme einerseits und das nichtvornehme Volk andererseits, die Autonomie des politischen Bereichs, der  – jedenfalls bezogen auf folgenreiches Handeln  – als ein Inter­ aktionszusammenhang innerhalb der sozialen Oberschicht erscheint. Ähnliches lässt sich im Bereich der Wirtschaft feststellen:25 Zwar gab es geldwirtschaftliche Verflechtungen, Handel und große Produktions­stätten. Einerseits blieb jedoch auch hier der Haushalt die Basis ökonomischer Organisation: Es gab keine Fabriken, sondern nur größere Ansammlungen von arbeitenden Sklaven, die jeweils einem einzelnen Hausherrn gehörten. Dasselbe galt für agrarische Großbetriebe, die sog. Latifundien. Es gab keine Banken, die modernen Instituten vergleichbare Funktionen erfüllt hätten. Und v. a.: Wirtschaftliche Tätigkeit wurde von denen, die es sich leisten konnten, negativ gewertet. Das Ziel reich gewordener Bürger war es in aller Regel, Land zu kaufen, mit den Geldgeschäften aufzuhören und einen aristokratischen Lebensstil zu pflegen, um dadurch ihren Nachkommen der nächsten oder übernächsten Generation den Zugang zu den entsprechen-

24 Überlegungen dazu für Griechenland bei Winterling, Aristoteles’ Theorie der politischen Gesellschaft (wie Anm. 9); für Rom: Aloys Winterling, ›Staat‹, ›Gesellschaft‹ und politische Integration in der römischen Kaiserzeit, in: Klio 83 (2001), S. 93–112. 25 Aufschlussreich: Fabian Goldbeck, Ökonomische Kommunikation zwischen Freundschaft und wirtschaftlicher »Rationalität«. Wirtschaftliches Handeln der Römer unter systemtheoretischer Perspektive, Vortrag auf dem 49. Deutschen Historikertag Mainz 2012, maschr. 2012 (vgl. Anm. 21). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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den Kreisen zu verschaffen. »Adel«, definierte Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr., ist »alter Reichtum und Tugend«.26 In vielen Bereichen gab es zweifellos Professionalisierungen, basierend auf Rollendifferenzierungen und Geldwirtschaft. Als Beispiele sind das Söldnerwesen im klassischen Griechenland und das römische Militär seit der späten Republik anzuführen. Ähnliches galt für den Bereich von Bildung und Erziehung, wo seit dem späteren 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland Sophisten als mobile Lehrer zur Verfügung standen. Zugleich aber war wiederum das Haus die Alternative: Römische Adelsfamilien kauften sich gebildete griechische Sklaven als Lehrer ihrer Kinder. Blickt man auf die als Philosophie firmierende Wissenschaft der Antike, so hat man den Eindruck, dass es temporär zu Funktionsspezialisierungen beeindruckenden Ausmaßes kam: Man denke an die von Aristoteles­ arbeitsteilig organisierte Großforschung und die gleichzeitige Universalisierung der wissenschaftlichen Erkenntnisbereiche. Nach seinem Tod jedoch gerieten Aristoteles’ Schriften zeitweise in Vergessenheit, und in Rom waren es gerade Nicht-Profis, v. a. Mitglieder der senatorisch-ritterlichen Aristokratie  – berühmt etwa Cicero und Seneca  –, die zu Trägern vergleich­ barer Denkbemühungen wurden. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert schließlich wurden Literaturkenntnis, Dichtung und Historiographie geradezu ein Distinktionsmerkmal der senatorischen Oberschicht Roms, die sich in dieser Zeit bereits aus Italien und verschiedenen Provinzen des Reiches rekrutierte. Die Frage nach der Modernität der Antike, spezifiziert durch die Frage nach funktionaler Differenzierung, ergibt somit: Es zeigen sich Funktionsdifferenzierungen umfangreicher Art, nicht nur im politischen Bereich, sie bleiben jedoch rückgebunden an andere Formen gesellschaftlicher Differenzierung: An ältere segmentäre Strukturen (Haushalt, Stadt) und v. a. an eine durchgängig feststellbare Stratifikation der Gesellschaft: Rang und Ehre sind die Leitdifferenzen gesellschaftlicher Kommunikation, die die einzelnen Funktionsdifferenzierungen limitieren. Stellt die griechisch-römische Antike nun hinsichtlich ihrer Ansätze von Funktionsdifferenzierung einen Sonderfall im Rahmen vormoderner Gesellschaften dar? War sie aufgrund ihrer hier geschilderten Eigenschaften in besonderer Weise als Projektionsfläche produktiver Missverständnisse für die spätere frühmoderne Gesellschaft Europas geeignet? War sie damit eine Bedingung der Möglichkeit der Moderne? Oder gar deren notwendige Voraussetzung? Vermutlich lautet die Antwort: Ja. Solche weitergehenden Fragen 26 Aristoteles, politica 1294 a 21 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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haben hier jedoch aufgrund der derzeitigen Forschungslage offen zu bleiben. Ihre Beantwortung setzte vergleichbare und vergleichende Analysen anderer »Antiken«, anderer stratifizierter Gesellschaften, v. a. des Alten Orients, des antiken China, des antiken Indien und des präkolumbianischen Mittel- und Südamerika, voraus. Erst vor dem Hintergrund solcher komparatistischer Untersuchungen wäre es möglich, die Besonderheiten der europäischen Antike – und damit ihre Bedeutung für die Entstehung der modernen Welt – in methodisch kontrollierbarer Weise zu bestimmen.

Schluss: Aristoteles und die Gier der Banker. Zur Antiquität der Moderne Im ersten Buch seiner politika behandelt der Philosoph die Lehre vom Haushalt, die Oikonomia, und stellt die Frage, welche Bedeutung die Erwerbskunst und speziell die Gelderwerbskunst dabei spiele. Er schreibt, der Zweck der Hauswirtschaft bestehe darin, dem Bürger zu ermöglichen, gut und unabhängig zu leben, um seinen Tätigkeiten in und für die P ­ olis nachgehen zu können. Da dies der Natur des Menschen als zoon politikon entspreche, sei Erwerbskunst nur dann gemäß der Natur, wenn sie diesem Ziel diene. Durch dieses Ziel sei sie auch automatisch begrenzt: Wahrer Reichtum sei Besitz, der Autarkie ermögliche, und daher nicht unbegrenzt. Gelderwerbskunst dagegen kenne keine Grenze, sie diene nicht dem guten Leben des Bürgers in der Polis, sondern ausschließlich dem Erzeugen von Reichtum und Geld. Geld­ erwerbskunst, die nach unbegrenztem Gelderwerb strebe, sei daher überflüssig und wider die Natur. Dies gelte in besonderer Weise für Gewinn von Geld aus Geldgeschäften: »… erst recht ist der Wucher hassenswert, der aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen: das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.«27 Aristoteles ist sich darüber klar, dass seine normativen, also Seinsollendes beschreibenden, Aussagen in der Poliswelt seiner Zeit kontrafaktisch sind: Zwar scheine es, dass jeder Reichtum eine Grenze haben müsse. »Tatsächlich aber sehen wir das Gegenteil: Alle, die sich mit Erwerb befassen, vermehren 27 Aristoteles, politica 1258 b 1–9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ihr Geld ins Unbegrenzte. … Ursache … ist, dass man sich um das Leben, nicht aber um das vollkommene Leben bemüht.«28 Die Überlegungen des Aristoteles lassen sich leicht nachvollziehen. Die stratifizierten Polisgesellschaften seiner Zeit waren nicht kompatibel mit der Autonomie eines Wirtschaftssystems, das keine Rücksicht auf Haus-, Polisund Schichtungsgrenzen nahm. Die Freisetzung ökonomischer Rationalität bewirkte Umverteilungen, die soziale Desintegration und politische Instabilität zur Folge hatten. Die philosophische Antwort darauf war kontrafak­ tische Normativität und moralische Verurteilung.29 Dies ist angesichts der limitierten Modernität der Antike nicht verwunderlich. Verwunderung ergreift einen jedoch, wenn man, gerüstet mit althistorischem Wissen, die Gegenwart beobachtet. Es scheint sich in der Moderne gegenüber dem Griechenland des 4. Jahrhunderts v. Chr. nicht viel geändert zu haben: Trotz eines ganz offensichtlich funktional ausdifferenzierten, voll monetarisierten, globalisierten und autopoietsch geschlossenen Wirtschaftssystems scheint sich das Verständnis wirtschaftlicher Sachverhalte seit Aristoteles nicht wesentlich weiterentwickelt zu haben: Nimmt man die veröffentlichte Meinung – und von einer Wirtschafts-Wissenschaft waren seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Finanzkrise wenig substantielle Beiträge zu hören  –, so scheinen Personalisierung und Moralisierung die einzigen Reaktionen zu sein: Amerikanische Banker mussten wie in stalinistischen Schauprozessen öffentlich ihre Schuld eingestehen und Abbitte leisten, und ein deutscher Bundespräsident, selbst zuvor vier Jahre Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds, bezeichnete die globalen Finanzmärkte mit einer Hilflosigkeit dokumentierenden Metapher als »Monster«. In der Gier von Personen, die in der Geldwirtschaft tätig sind, wird das zentrale Problem verortet. Systemische Krisen werden auf moralisches Fehl­ verhalten einzelner Akteure reduziert. Hatte Aristoteles Recht? Mir scheint der Fall ein Beispiel dafür zu sein, dass die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft manchmal erschreckend antiquiert wirkt, d. h. sich an Rezepten orientiert, die – wenn nicht gar selbst antik, so doch – auf der Ebene antiker Selbstbeschreibungen angesiedelt bzw. stecken geblieben sind. Man könnte ähnliches im Bereich der politischen Theorie feststellen. So wird als Reaktion auf immer komplexer werdende Probleme – z. B. das Problem, Entscheidungen zu treffen, die für alle notwendig sind, die aber keine Mehrheit finden  – lediglich mit der Forderung nach mehr Partizipation 28 Aristoteles, politica 1257 b 32 – 1258 a 1. 29 Siehe Aloys Winterling, »Arme« und »Reiche«. Die Struktur der griechischen Polisgesellschaften in Aristoteles’ ›Politik‹, in: Saeculum 44 (1993), S. 179–205; sowie: Ders., Aristoteles’ Theorie der politischen Gesellschaft. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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reagiert, d. h. durch die Forderung nach stärkerer Beteiligung auf der Akteursebene, nach einer Zivilgesellschaft, die sich sehr stark am Vorbild der antiken Stadtgemeinden orientiert, die schon vor zweieinhalbtausend Jahren nicht mehr funktionierten. Die Frage nach der Modernität der Antike kann, so scheint mir, Elemente der Antiquität der Moderne freilegen. Und das soll die Frage. Denn – so moralisch gut und sympathisch manche der antiken Denkmuster sein mögen (die Begründungen für die Sklaverei bleiben ja meist ausgeblendet30) – es ist zweifelhaft, ob wir uns sie heute noch leisten können.

30 Z. B. Aristoteles, politica 1252 b 14 – 1255 b 40. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Zwischen Segregation und Akkulturation Paradoxien christlicher Stadtsemantiken im Römischen Reich

Einleitung Eine entscheidende Ursache für die Ablehnungsgefühle, welche die frühen Christen bei ihren nichtchristlichen Mitbürgern erzeugten, war deren Distanz zur Lebenswelt der antiken Stadt. Christen lebten zwar vielfach in Städten, sie wurden durch ihre Mitbürger aber im besten Falle als nicht existent wahrgenommen, als Schattengestalten, als Menschen, die ihre Orientierung so ausschließlich im Himmel suchten, dass sie irdische Strukturen verachteten und für die Schönheiten des sie Umgebenden, insbesondere ihrer Städte, zutiefst blind waren. Wie fremdartig das entsprechende Gebaren der Christen empfunden wurde, belegen z. B. Vorwürfe des Redners Aelius Aristeides, die Christen trieben sich in den Türeingängen herum, mieden aber öffentliche Plätze, suchten die Nähe Geringstehender und verweigerten ihre Mitwirkung an den Aufgaben der Allgemeinheit. Durch diese Missachtung der Tradition würden sie das menschliche Zusammenleben stören.1 Andere Zeitzeugen beschwerten sich darüber, die Christen gefährdeten durch ihre Teilnahmeverweigerung an den öffentlichen Kulten die Existenz der Städte, da die Götter so zu keinen Hilfeleistungen mehr bereit seien.2 Zudem bedrohe ihre Polemik gegen städtische Kulte die damit verbundenen Feste und somit auch die Wirtschaft ihrer Vaterstadt.3 Ihre Selbstausgrenzung aus den städtischen Spielen wurde bestenfalls mit Mitleid, oft aber auch mit Verachtung kommentiert.4 1 Aristeid. Or. 3,664–672; Tert. nat. 1,101–8; 2,1; Min. Fel. 6 f.; vgl. Stephen Benko, Pagan Criticism of Christianity during the First Two Centuries, ANRW II 23,2, Berlin 1980, 1055–1118. 2 Athenag. Suppl. 13; Cypr. ad Dem. 3–5. 3 So bereits Apg 19,23–40 für den Demetriusaufstand gegen Paulus in Ephesus; vgl. Helmut Castritius, Materiell-ökonomische Hintergründe der Christenverfolgungen im Römischen Reich, in: Ders. u. a. (Hg.), Herrschaft, Gesellschaft, Wirtschaft I, Donauwörth 1973, S. 82 ff. 4 Min. Fel. 12,5 f.; Theodor Klauser, Fest, in: Reallexikon für Antike und Christentum 7 (1969), S. 747–766, 766. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Diese wahrgenommene Distanz war umso gravierender, als die ca. zweitausend Städte des Imperium Romanum keineswegs nur Siedlungs- und Wirtschaftszentren darstellten, sondern Orte besonderer Bedeutung und starker öffentlicher Präsenz waren.5 Da sie die einzige Verwaltungsebene unterhalb der Provinzgliederung bildeten, setzten die römischen Kaiser gezielt auf Städtegründungen und auf die Nutzung der Traditionen kommunaler Eigenverantwortung insbesondere das Engagement kommunaler Eliten zur Finanzierung und Verwaltung ihres Reiches.6 Vor allem aber waren die Städte kulturelle Zentren, und sie bildeten in diesem Sinne nicht nur den Lebensmittelpunkt ihrer Bewohner, sondern auch das Zentrum ihrer mentalen Orientierung. Man genoss Bäder, Theater, Portiken, Tempel und Bibliotheken und nahm die Städte demzufolge als Orte baulicher Schönheit, materiellen und handwerklichen Glanzes wie kultureller und intellektueller Annehmlich­ keiten gleichermaßen wahr.7 Positiv vermerkt wurden auch die geordnete Verwaltung, die gesicherte Versorgung sowie die Existenz von Vereinen.8 Welcher Stadt man entstammte, war essentieller Teil der Selbstdefinition. Dieses Gefühl der Verbundenheit führte zu erheblichem Engagement für die Mitbürger, sei es bei der Wiederherstellung von städtischen Bauten, der Finanzierung von Spielen oder öffentlichen Banketten.9 Trotz aller Überformung durch imperiale Strukturen blieben die Städte auch im römischen Kaiserreich Orientierungspunkte für die Identität ihrer Bürger, Orte pulsierenden Lebens, baulichen Glanzes und kultureller Aktivitäten gleicher­ maßen. Max Weber hat mit seiner Charakteristik der antiken Stadt als eines anstaltsmäßig vergesellschafteten Bürgerverbandes, ausgestattet mit besonderen und charakteristischen politischen Organen, die Besonderheiten die5 Michael Stahl, »Nun blühen alle Städte der Griechen«  – Stadtkultur im Imperium Romanum, in: Andreas Hoppe (Hg.), Raum und Zeit der Städte. Städtische Eigenlogik und jüdische Kultur seit der Antike, Frankfurt a. M. 2011, S. 79–94, 81. 6 Vgl. R. Gest. div. Aug. 28; Stahl, ebd.; Werner Dahlheim, Die Funktion der Stadt im römischen Herrschaftsverband, in: Friedrich Vittinghoff (Hg.), Stadt und Herrschaft. Römische Kaiserzeit und Hohes Mittelalter, München 1982, S. 13–74. 7 Vgl. geradezu exemplarisch für das römische Gallien und benachbarte Regionen den Sammelband: Robert Bedon (Hg.), Amoenitas urbium. Les agréments de la vie urbaine en Gaule romaine et dans les régions voisins, Limoges 2001/02, siehe etwa die Artikel von Robert Bedon, Les charmes de la vie urbaine à Augustoritum (Limoges) au IIe siècle de notre ère, ebd., S. 337–354; Alain Bouet, Les bâtiments thermaux et sportifs en Aquitaine, ebd., S. 57–75; Nicolas Mathieu, Conscience et réalité de l’amoenitas urbium. Les cas des provinces de Lyonnaise et de Belgique au Haut-Empire d’après les textes épigraphiques, ebd., S. 103–133. 8 Vgl. hierzu Raymond Chevallier, Les agréments de la vie urbaine sous le Haut-Empire­ romain. Textes littéraires et archéologie (contrepartie de Juvenal), ebd., S. 433–447. 9 AE 1975, 255; 1977, 859; CIL VIII, 754; Patrick Le Roux, L’amor patriae dans les cités sous l’Empire romain, in: Inglebert (Hg.), Idéologies, S. 143–161, 149. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ses Stadttyps treffend beschrieben.10 Die vielfache Selbstausgrenzung der Christen aus diesem zutiefst integrativen Kosmos traf ihre nichtchristlichen Mitbürger nachhaltig und hat das negative Image der frühen Gemeinden entscheidend mitbestimmt. Frühere Forschungen haben diese Äußerungen tiefer Alterität auf eine unangemessene Wahrnehmung der Christen durch ihre heidnische Umwelt zurückgeführt.11 Diese Sicht wurde in der neueren Forschung jedoch mit dem plausiblen Argument korrigiert, dass die räumliche Distanz zwischen Christen und Nichtchristen viel zu gering war, um völlige Fehlwahrnehmungen zu erzeugen. Gegen permanente Falschwahrnehmungen spricht jedoch auch, dass sich die paganen Wahrnehmungskategorien für Christen über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg als erstaunlich konstant erwiesen.12 Eine Erklärung ist vielmehr darin zu sehen, dass die normativen Orientierungen und habituellen Praktiken der Christen inkompatibel mit den Erwartungen ihrer Mitbürger hinsichtlich adäquaten civischen Verhaltens blieben.13 Allerdings stehen zahlreiche Quellen der Tendenz einer empfundenen und gelebten Stadtdistanz der frühen Christen entgegen. Diese belegen nicht nur deren vielfache lebensweltliche Verhaftung innerhalb einer städtischen Umgebung, was als solches kaum überraschend ist. Entscheidender ist deren deutlich erkennbare emotionale Verwobenheit mit dem Kulturraum Stadt, oft in ambivalenten Brechungen. Diese Brechungen verweisen auf eine tiefergehende Paradoxie im Verhältnis zwischen Christentum und antiker Stadt. So teilten die Christen zwar tatsächlich zahlreiche normative und kulturelle Bezüge ihrer Mitbürger nicht und folgten damit biblischen Maximen. Zugleich aber war das frühe Christentum ein essentiell städtisches Phänomen.14 10 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 52002, S. 743. 11 Walter H. Wagner, After the Apostles: Christianity in the Second Century, Minneapolis 1994, S. 133; Marta Sordi, The Christians and the Roman Empire, London 1994, S. 32 f.; Margaret Y. McDonald, Early Christian Women and Pagan Opinion: The Power of the Hysterical Women, Cambridge 1997, S. 71. 12 Craig de Vos, Popular Graeco-Roman Responses to Christianity, in: Philip Francis Esler (Hg.), The Early Christian World Vol. 2, London 2000, S. 869–889. 13 Die weitgehende Vereinbarkeit von christlichen Normen und städtischen Obliegen­heiten anhand einiger konzilianter Bibelstellen bereits für die Frühphase des Christentums zu konstatieren, wie z. B. bei Bruce W. Winter, Seek the Welfare of the City. Christians as Benefactors and Citizens, Michigan 1994, widerstreitet also der Quellenlage. 14 Wayne A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, S. 24–110; Adolf Deißmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1908, S. 211; Martin Hengel, Zwischen Jesus und Paulus. Die »Hellenisten«, die »Sieben« und Stephanus (Apg 6,1–15; 7,54–8,3), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 72 (1975), S. 151–206, 200. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Die frühe Mission erfolgte nahezu ausschließlich über die Städte, was dazu führte, dass die Verbreitung des Christentums über mehrere Jahrhunderte dort ungleich höher war als auf dem Land.15 Und wenn, wie Martina Löw gewiss zu Recht betonte, Städte in die Selbstentwicklung und Selbstbeschreibung ihrer Bürger konstitutiv einwirken, und zwar sowohl hinsichtlich der Habitusformierung als auch hinsichtlich der Kategorien ihrer Reflexivität,16 muss die antike Urbanität auch Christen beeinflusst haben. Deshalb stellt sich die Frage, in welchen Kategorien die ambivalente Distanz zu fassen ist, mit welcher die frühen Christen den Städten ihrer Umwelt begegneten. Lässt sich diese unter den Begriff der Segregation fassen, d. h. als Tendenz der normativen, möglicherweise auch räumlichen Abgrenzung und Polarisierung gegenüber dem kulturellen Sinnsystem der antiken Stadt?17 Entwickelte christliche Theologie alternative Stadtkonzepte, postulierte sie eventuell sogar antiurbanistische Ideen, also prinzipielle Infragestellungen des Konzepts Stadt, verbunden mit Forderungen nach einem Rückzug aus den Städten? Wie wurden diese als Stadtdistanz empfundenen Haltungen begründet? Welche Tendenzen liefen ihnen möglicherweise entgegen? Die Frage nach den normativen Zugängen der frühen Christen zur antiken Stadt, d. h. die Frage nach der Wahrnehmung und Formung eines spezifischen sozialen Raumes durch eine spezifische Gruppe reagiert nicht nur auf ein Forschungdesiderat, sondern möchte sich auch in aktuelle Debatten der Stadt­ soziologie einfügen. Deren Interesse gilt nicht nur den Beziehungen zwischen sozialen Gruppen im städtischen Raum, sondern auch Prozessen der Sinnformung von Städten. Diese Debatte ist vor allem unter zwei Aspekten für die skizzierte Fragestellung fruchtbar: Der erste betrifft die Analyse einer stadtübergreifenden religiös-kulturell basierten normativen Gruppenkohärenz. Damit sollen Ansätze der neueren Urbanistik aufgegriffen werden, welche Städte nicht mehr als Einheit von Territorien und Lebensstilen versteht, sondern als Orte 15 Für einige Regionen, etwa Syrien, Phrygien und Bithynien sind bereits für das 2. Jahrhundert n. Chr. christliche Gemeinden im ländlichen Raum nachweisbar; Plin. ep. 10,96,9; Hippolyt. in Dan. 4,19; Just. Mart. apol. 1,67,3; Tert. apol. 1,7. Wirklich Fuß gefasst hat das Christentum auf dem Land erst ab der Mitte des 3. Jahrhunderts, so zu Recht Eckhard Plümacher, Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeitlicher Stadt und frühem Christentum, Neukirchen-Vluyn 1987, S. 8; vgl. Orig. Cels. 3,9; William H. C. Frend, Town and Countryside in Eraly Christianity, in: Derek Baker (Hg.), The Church in Town and Countryside, Oxford 1979, S. 25–42; Ders., The Winning of the Countryside, in: Journal of Ecclesiastical Studies 18 (1967), S. 1–14. 16 Vgl. Martina Löw, Jede Stadt ist ein Seelenzustand, in: Hoppe, Raum und Zeit der Städte, S. 11–24, 12.  17 Hartmut Häussermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2004, S. 139–195. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der Verflechtung von baulich-manifesten und sozial-psychischen Strukturen versteht. Die Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Wechselverhältnissen zwischen Städten und Individuen, wobei Orte verstärkt über die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Aneignungsstrategien städtischer Milieus rezipiert werden, als Konstruktionsleistung sozialer Akteure bei der Gestaltung von Räumen. Oliver Frey und Florian Koch haben diesen Ansatz auf die Formel gebracht: »Das theoretische Raumkonzept von Milieus zieht den Umstand in Betracht, dass Räume kontextabhängig konstruiert werden. Kontextabhängigkeit meint, dass die Sinnzusammenhänge sich in einem lokalen Kontext mit jeweils spezifischen institutionellen Kulturen, Normen und Arbeits­abläufen befinden. Auch die Werthaltung, der Habitus und die sozialstrukturellen Merkmale innerhalb unterschiedlicher städtischer Milieus bestimmen die Konstruktionsleistung mit«.18 Welche Werthaltungen sind in den patristischen Texten dieser Epoche zum Thema ›Stadt‹ nachweisbar? Ein zweiter Aspekt betrifft die Debatte um das Phänomen der städtischen Eigenlogik, d. h. den spezifischen Impulsen, die jede Stadt auf die Identität ihrer Bürger ausübt.19 Der Grundgedanke hierbei ist, dass Städte sich zu Sinnzusammenhängen verdichten, die Menschen in ihrer Identität, d. h. in Gefühlen, Einstellungen, im Denken prägen, wobei es trotz gruppenbedingter Unterschiede zu stadtspezifischen Homogenitäten kommt.20 Wie nachhaltig wirkten sich städtische Eigenlogiken auf die Stadtperzeption früher Christen aus? Hierbei sind die Abgrenzungstendenzen der Christen primär in religiöskulturellen Facetten zu bestimmen. Es wird also, Anregungen der Kulturgeschichte des Politischen folgend, die antike Stadt vor allem als kultureller Sinnhorizont zu bestimmen sein, der von einer relevanten Gruppe nur begrenzt geteilt wurde.21 Es wird zu klären sein, welche Sinnhorizonte die Einstellung der Christen gegenüber den antiken Städten ihres Lebensumfeldes 18 Oliver Frey/Florian Koch, Positionen zur Urbanistik. Impulse zur Weiterentwicklung der Stadt- und Raumforschung durch die interdisziplinäre Zusammenführung raumbezogener Wissenschaften, in: Dies. (Hg.), Positionen zur Urbanistik I. Stadtkultur und neue Methoden der Stadtforschung, Münster 2011, S. 20 f. 19 Helmuth Berking/Martina Löw, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a. M. 2008, S. 7–14, 8 f. 20 Martina Löw, Seelenzustand, S. 16 f.; Dies., Differenzen zwischen Städen als konzeptuelle Herausforderung, in: Berking/Löw, Eigenlogik, S. 33–53. 21 Vgl. hierzu das anregende Urteil von Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Braunschweig 2 1989, S.  10 f.: »Meistens ist unsere Wahrnehmung von der Stadt nicht ungeteilt und gleichmäßig, sondern vielmehr zerstückelt, fragmentarisch, mit anderen Dingen und Interessen vermischt.« © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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in ablehnender wie zustimmender Form prägten. Und welche Rolle spielten schließlich christliche Stadtkonzeptionen beim Transformationsprozess der Städte in der Spätantike?

Distanzsemantiken Ein Forderung durchzieht geradezu leitmotivisch die Schriften der Theo­ logen: Christen sollten zu den Städten, in denen sie lebten, weitgehende Distanz aufbauen. So propagierte Clemens von Alexandria bereits im 2.  Jahrhundert n. Chr.: »Denn tatsächlich »ein Fremder und ein Gast« ist in seinem ganzen Leben jeder, der eine Stadt bewohnt, aber alles in ihr, was von anderen bewundert wird, verachtet und in der Stadt wohnt, als wäre es eine Wüste, damit nicht der Ort Gewalt über ihn habe, sondern sein eigener freier Entschluß ihn als gerecht erweise«.22 In ähnlicher Weise pries etwa zur gleichen Zeit der unbekannte Verfasser des sogenannten Diognetbriefs das Leben seiner Glaubensgenossen. Er merkte an, dass diese zwar die Städte von Griechen und Nichtgriechen bewohnten und sie sich auch der jeweiligen Landessitte in Nahrung Kleidung und sonstiger Lebensart fügten. Allerdings bewohnten sie dieses Vaterland nur als Beisassen, sie ließen sich alles wie Fremde gefallen, denn jede Fremde sei ihnen Vaterland und jedes Vaterland Fremde.23 Beide normativen Erwartungshorizonte unterscheiden sich lediglich in Nuancen: Zielt die zweite eher auf wohlwollende Neutralität ab, setzt die erste auf strikte Abgrenzung (in der Stadt zu wohnen wie in einer Wüste). Ihr genereller Tenor eint beide jedoch: Christen konnten durchaus im Lebensraum Stadt verweilen. Sie sollten dies jedoch als lediglich temporäre Heimat betrachten und ihre Orientierung in keiner Weise an den von der Stadt vermittelten Werten, Gütern und Attraktivitätsformen ausrichten. Gefordert wird damit eine persönliche Ausrichtung völlig unabhängig von kollektiven Erwartungen und Lebensformen der Stadt. Die Forderungen manifestieren somit eine klare Absage an jegliche Einwirkungen städtischer Prägekräfte. Als Begründung für diese einschneidende Forderung schufen Theologen flammende Negativbilder der antiken Stadt, welche oftmals klare Züge einer 22 Clem. Al. strom. 7,77,3: Ἀτεχνῶς »ξένος γὰρ καὶ παρεπίδημος« ἐν τῷ βίῳ παντὶ πᾶς οὗτος, ὃς πόλιν οἰκῶν τῶν κατὰ τὴν πόλιν κατεφρόνησεν παρ’ ἄλλοις θαυμαζομένων, καὶ καθάπερ ἐν ἐρημίᾳ τῇ πόλει βιοῖ, ἵνα μὴ ὁ τόπος αὐτὸν ἀναγκάζῃ, ἀλλ’ ἡ προαίρεσις δεικνύῃ δίκαιον. 23 Diogn. 5,5. Diognet deutet hier die Position der Christen nach dem Muster der Metöken; vgl. Horacio E. Lona, An Diognet. Übersetzt und erklärt, Freiburg 2001, S. 161 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Pathogenese trugen und die antiken Städte als Orte der Sünde diffamierten. Die Vorwürfe betrafen angeblich schädliche Auswirkungen von öffentlichen Festen und Spielen auf die private Moral,24 aber auch die weitgehende Orientierung an diesseitigen Kriterien wie Prestigegewinn, Vermögenserwerb sowie dem Beifall der Mitbürger als Richtschnur eigener Aktivitäten. Augustinus deutete irdische Sozialbeziehungen generell als gestörte Ordnungen hinsichtlich der Liebe: Ganze Gemeinschaften würden zwar dieses Ziel verfolgen, sich dabei jedoch in interessenbasierter Eigenliebe und der Jagd nach irdischem Gewinn verfangen.25 Auch Athanasius monierte: »So ist denn auch fast jede Stadt voll von Unzucht, weil ihre Sitten nach denen ihrer G ­ ötter sich richten.«26 Das Dictum der angeblichen ›Verderbtheit‹ antiker Städte und die damit verbundenen Forderungen nach Selbstausgrenzung, die Kriterien der kulturellen Segregation durchaus erfüllen, erklärt sich jedoch entscheidend als völlige Abgrenzung gegenüber den dort geltenden Wertesystemen und in der geforderten Integration in einen Normenkosmos, der einem völlig anderen Orientierungssystem folgte. Dass man Christ war, sollte die Ebene der privaten Lebensführung ebenso durchformen wie die einzugehenden Sozialbeziehungen bzw. die Einstellung zu politischen und kulturellen Institutionen.27 Im Zentrum dieses Orientierungssystems stand die Beziehung zwischen In24 Clem. Al. paed. 3,76 f.; Theoph. Autol. 3,15; Novat. spect. 3,1 f.; Orig. Cels. 8,21–23.; Tert. apol. 42,4–7; vgl. Robert D. Sider, Tertullian, On the shows. An Analysis,in: Journal of Theological Studies 29 (1978), S. 339–365; Werner Weismann, Kirche und Schauspiele. Die Schauspiele im Urteil der lateinischen Kirchenväter unter besonderer Berücksichtigung von Augustin, Würzburg 1972; Ottorino Pasquato, Gli spettacoli in S. Giovanni Crisostomo. Paganesimo  e Cristianesimo ad Antiochia i Costantinopoli nel IV secolo, Rom 1976. Allerdings erbringt die Analyse von Heiko Jürgens, Pompa diaboli. Die lateinischen Kirchenväter und das antike Theaterwesen, Stuttgart 1972 den aufschlussreichen Befund, wie ambivalent die Theologen auch bei dieser Frage agierten. Sie bemühten sich einerseits, ihre Mitchristen wegen angeblicher sittlicher Gefahren und Verbindungen mit traditionellen Kulten vom Besuch der Schauspiele abzuhalten, griffen andererseits in Predigten immer wieder auf Bilder und Vergleiche aus dem Bühnenwesen zur Illustration anderer Sachverhalte zurück, was die Omnipräsenz dieses Phänomens im antiken Alltag zeigt. 25 Aug. civ. 9, 24,2 f.; Miikka Ruokanen, Theology of Social Life in Augustine’s De civitate Dei, Göttingen 1993, S. 131–142. 26 Athan. c. gent. 25: Καὶ γὰρ σχεδὸν πᾶσα πόλις πάσης ἀσελγείας ἐστὶ μεστὴ δι’ ὁμοιότητα τρόπων τῶν παρ’ αὐτοῖς θεῶν γινομένη. 27 Vgl. z. B. Joh. Chrys. hom. in Kal. 2 (PG 48,953 ff.); hom. in Is. 5,5 (PG 56,62). So warb er etwa auch bei den Männern Antiochias als Häuptern des christlichen Haushalts und ›Lehrmeistern‹ ihrer Frauen für beständigen Psalmengesang mit ihrer Familie, besonders nach den Mahlzeiten. Ziel war die beständige Inzuchtnahme der Seele, als Vorkehrung für ›unmäßiges Gelächter‹ und einen ›zügellosen Geist‹ (in Ps. 61,2; PG 55,157); vgl. Tiersch, Chrysostomus, 72 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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dividuum und Gott, die entscheidende Sorge sollte deshalb die um das eigene Seelenheil sein. Die Sorge um die bürgerliche Gemeinschaft und deren Akzeptanz wurde damit gegenstandslos. Die eingangs skizzierten feindseligen Haltungen der nichtchristlichen Umwelt sind als Reaktionen auf diese vehementen Forderungen nach Abgrenzung zu bewerten. Dies führte sogar dazu, Christen als Feinde des Menschengeschlechts sowie als fremd gegenüber jeglichen menschlichen Sitten und Gebräuchen zu diffamieren. Zwar versuchten christliche Autoren dieser äußersten Form der Differenzwahrnehmung schon vor der Zeit der verstärkten Annäherung zwischen christlicher Kirche und römischer Gesellschaft z. B. mit dem Einwand zu begegnen, Christen seien keineswegs so völlig andersartig als ihre nichtchristlichen Mitbürger,28 sie spendeten lediglich nicht für den Unterhalt von Tempeln, sondern ließen ihre Mittel der caritativen Fürsorge zukommen. Ansonsten praktizierten sie nahezu die gleichen Formen des Lebenserwerbs wie ihre Mitbürger.29 Sie hätten die gleichen Berufe, Lebensweisen, die gleiche Kleidung wie jeder andere, zudem nutze man Märkte, Werkstätten und Gasthäuser gemeinsam. Schließlich gehöre man weder zu den Brahmanen noch zu den Gymnosophisten oder den Waldmenschen und sei auch nicht aus dem Leben ausgeschieden. Man versuche lediglich die irdischen Dinge in rechtem Maß zu gebrauchen. Allerdings bezeugen Attacken gegen etablierte kulturelle Praktiken der paganen Umwelt, die etwa das nächtliche Baden zum Fest der Saturnalien als unsinnig zu diskreditieren versuchten, daß das Anliegen der Theologen vor allem dem dahinter­ stehenden Symbolsystem galt30. Fragt man jedoch danach, ob diese normative Abgrenzung auch bis zur Verdichtung in einer eigenständigen Alternativkonzeption der christlichen Stadt führte, ergibt sich ein ambivalenter Befund. So findet sich in patristischen Texten in der Tat die häufige Ermahnung, Christen sollten ihre wahre Heimat nur im Jenseits, in der himmlischen Stadt finden, dem himmlischen Jerusalem.31 Von dieser Stadt wird gesagt, sie besäße keinen Tempel, denn die Gegenwart Gottes sei überall, weshalb auch alles Unreine, Lüge und Gräuel in dieser Stadt keinen Platz hätten32 Hier fände sich ein »Strom lebendigen Wassers …, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes« sowie die »Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte« und deren Blätter »zur Heilung der Völker dienen« (Apk 22,1). Diese unübersehbar hymnischen 28 29 30 31 32

Tert. apol. 35–36,1. Tert. apol. 42,1. Tert. apol. 42,4–6. Mak. hom 15,9. Clem. Al. strom. 4,172,2 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Lobpreisungen lassen deutlich werden, dass man das himmlische Jerusalem in Analogie zu Paradiesvorstellungen konzipierte.33 Allerdings verdeutlichen die zitierten Passagen, dass das himmlische Jerusalem in diesen Deutungen kaum noch Bezug zum irdischen Jerusalem, zu irdischen Städten generell besaß. Es wandelte sich vielmehr zur unbestimmten Metapher für das in Christus geschehene und offenbar gewordene Heil. In dem Maße wie es zu einer Entwertung des irdischen Jerusalem kam, entwickelte das himmlische Jerusalem ein theologisches Eigenleben, das sich eher als Gegenmodell zum irdischen Jerusalem, ja zu jeder Art irdischer Stadt verstand, als dass es eigene Züge eines christlichen Stadtverständnisses ausbildete.34 Es manifestierte sich als Gegenwelt, die ihren Sinn gerade in der Transzendierung der Begrenzungen irdischer Städte auch in ihrer baulichen Gestalt sah.35 Kennzeichen des himmlischen Jerusalem war also dessen »eschatolo­ gische Vergrößerung«.36 Christoph Markschies betonte zu Recht, dass es sich hierbei nicht um eine einfach quantitative Ausweitung von Grenzen, sondern um deren völlige Überschreitung handle und damit um eine fundamentale qualitative Differenz: Das himmlische Jerusalem entsprach in dieser Diktion letztlich dem gesamten Kosmos. Wenn also Clemens von Alexandria nur den Himmel als Polis im eigentlichen Sinne verstanden wissen wollte, bildet dieses Verständnis die logische Konsequenz.37 Damit fehlen, letztlich konsequenterweise, im himmlischen Jerusalem zahlreiche funktionale Differenzierungen und Strukturen irdischer Städte, 33 Alle theologischen Aussagen beziehen sich auf die grundlegenden Bibelstellen in der Johannes­apokalypse (Apk 21,2 ff.), dem Galater- (4,21–31) und dem Hebräerbrief (11,16). Dort wird die Stadt mit quadratischem Grundriss geschildert Apk 21,15 f., ihre hohen Mauern, in denen sich zwölf Tore mit Engeln und den Namen der zwölf Stämme Israels befinden Apk 21,12, bestehen aus Edelsteinen Apk 21,11,18–21; vgl. Jes 54 11 ff. Der Text enthält zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf die alttestamentliche Paradiesdarstellung (Gen 2f) sowie auf die Schilderung des neuen Tempels bei Ezechiel (Ez 40– 48; vgl. hierzu insbesondere Rita Müller-Fieberg, Das »neue Jerusalem« – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Berlin 2003, S. 190 ff.), so dass insgesamt deutlich wird, dass die Schöpfung in der Endzeit unter einem christologischen Vorzeichen wieder an die Idealität des Anfangs zurückkehrt. Es handelt sich somit um eine Art »restaurative Utopie« (zum Begriff Gershom Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, S. 121–169, 125). 34 Vgl. hierzu auch Christoph Markschies, Himmlisches und irdisches Jerusalem im antiken Christentum, in: Martin Hengel u. a. (Hg.), La Cité de Dieu/Die Stadt Gottes, Tübingen 2000, S. 303–350, 310. 35 Vgl. etwa Herm. sim. 1,1,1; Melito, pass 44 f. 36 Martine Dulaey in ihrem Kommentar zu Victorin. Poetov. in apoc. 21,2, Paris 1997 (SC 423,202). 37 Clem. Al. strom 4,172,2 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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da sie als unnötig, ja defizitär angesehen werden. Die Projektionen des himmlischen Jerusalem verbinden vielmehr die Vorstellung einer Steigerung des Glanzes irdischer Städte mit einer Vermeidung der Nachteile, die irdischem Stadtregiment generell unterstellt wurden. Wegen dieser apokalyptischen Tendenzen bestand in den Anfängen der christlichen Theologie offenbar also kein Interesse an der Ausbildung eines spezifisch christlichen Alternativmodells zum Gesamthorizont der antiken Stadt. Das himmlische Jerusalem erwies sich in dieser Hinsicht zumindest als auffallend konturlos.

Zugehörigkeitssemantiken Insofern überrascht es nicht, dass die Vision des himmlischen Jerusalem zwar in der patristischen Theologie dauerhafte Geltung behielt, sie sich aber für die Christen in der Spätantike nie zur wirkungsvollen Konkurrenz für die antike Stadt entwickelte, sondern die Quellen vielfache Indizien für positivere Wahrnehmungen und Semantisierungen der antiken Stadt spiegeln. So kamen Forderungen nach einem Leben zugleich in und neben der Stadt bei vielen Christen offenbar nicht an.38 Die meisten von ihnen sahen das städtische Leben ihres täglichen Umfeldes durchaus als ihr dauerhaftes Zuhause an. Externe Beobachtungen der Alterität markieren also nur einen Teil der Realität. Zahlreiche Inschriften bezeugen Christen nicht nur in den verschiedensten Berufen, sondern z. B. auch am Kaiserhof und in unterschiedlichsten Verwaltungsämtern.39 Dass offenkundig in den Gemeinden höchst kontroverse Debatten über das Verhältnis zwischen Christen und Welt stattfanden, verdeutlichen die apologetischen Tendenzen einiger Predigten. So monierte der »Hirte des 38 Wolfgang Wischmeyer, Griechische und lateinische Inschriften zur Sozialgeschichte der Alten Kirche, Gütersloh 1982, bietet zahlreiche epigraphische Beispiele zur Vielfalt christlicher Lebensentwürfe, z. B. die Inschrift eines Kämmerers von Caracalla (Nr.  1, S.  32), die eines kaiserlichen Gutsverwalters (Nr.  43, S.  70), eines Prätorianers (Nr.  3, S.  33) sowie eines Archivars des praefectus urbi Romae (Nr.  18, S.  45). Wolfgang Wischmeyer, Von Golgatha zum Ponte Molle. Studien zur Sozialgeschichte der Kirche im 3.  Jahrhundert, Göttingen 1992, konstatiert 166 zwar zu Recht, dass man eine Sozial­ geschichte der frühen Kirche mangels verlässlicher Datenbasis nicht schreiben könne, illustriert aber 183–190 am Konflikt Bischof Cyprians mit einem sozial offenbar bestens vernetzten Gemeindehonoratioren (Cypr. ep. 41; 43; 52; 58), dass einige Christen im 3. Jahrhundert offenbar bestens arriviert waren und durch ihren Gemeindeeinfluss sogar eine Konkurrenz für die Kirchenhierarchie darstellten. 39 Tert. scap. 4,5 f.; Eus. HE 8,1,1–7; Hier. vir. ill. 42; Diehl ILCV I,56; 57; 1583; 3332; MAMA I,170. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Hermas« die Weltorientiertheit seiner Mitchristen und versuchte ihnen die ausschließliche Orientierung an christlichen Normen als verpflichtendes Primat aufzuerlegen. Er warf ihnen vor, derart ihren Grundstücken, Wohnungen und anderem Besitz verhaftet zu sein, dass sie darüber die christlichen Gesetze vernachlässigten.40 Auch Johannes Chrysostomus beschwerte sich in einer Predigt zwei Jahrhunderte später bei seinen Zuhörern, dass diese zwar sehr wohl über irdische Machtstrukturen im Bilde seien und dafür erhebliches Interesse aufbrächten. Was man aber tun müsse, um sich innerhalb der himmlischen Stadt einen Spitzenrang zu verdienen, sei den meisten völlig egal.41 Theologische Forderungen und deren Rezeption durch die Gemeindechristen befanden sich bisweilen also in starker Diskrepanz. Doch auch die christliche Theologie blieb trotz aller Forderungen zur Selbstausgrenzung immer an die Tatsache der vorwiegend städtischen Existenz der frühen Gemeinden gebunden, die normativ bewältigt werden musste. Folgerichtig findet sich selbst angesichts von Verfolgungen nie die Aufforderung zur Flucht aus den Städten etwa aufs Land.42 Maßgeblich und breit rezipiert blieb vielmehr immer der Satz Mt 10,23: »Wenn ihr aus einer Stadt vertrieben werdet, so flieht in eine andere!«43 Bisweilen findet sich sogar Spott gegen Zeitgenossen, die Städte aus Prinzip mieden. Dieser ergoss sich z. B. über jüdische Zeloten wegen deren angeblicher Weigerung eine Stadt zu betreten, damit sie nicht durch ein Tor schreiten müssten, auf dem Bildsäulen standen.44 Christliches Denken setzte somit deutlich offensiver auf die Stadt als Lebenswelt als die zeitgleiche rabbinische Theologie. Sehr wahrscheinlich spiegeln sich hier die unterschiedlichen Entstehungskontexte von jüdischer und christlicher Religion bzw. der Umstand, dass der Städtebau in Israel mit den Eroberungen durch Assyrer und Babylonier nahezu zum Erliegen gekommen war und erst in hellenistischer Zeit wieder auflebte.45 Und auch der Preis ländlicher Einfachheit als positiver Kontrast zu den sittlichen Gefahren des Stadtlebens, ein fester Topos jeglicher antiurbaner Strömungen, findet 40 Herm. sim. 3,1,1–6. 41 Joh. Chrys. hom. in Mt 1,8. 42 Vgl. zur terminologischen Gleichsetzung von Landbewohnern und Heiden in der Kategorie ›paganus‹ bereits Oros. hist. 1.  prol. 9: Ex locorum agrestium compitis et pagis­ pagani vocantur; Christine Mohrmann, Encore une fois paganus, in: Vigiliae Christianae 6 (1952), 109–121. 43 Mt 10,23: ὅταν δὲ διώκωσιν ὑμᾶς ἐν τῇ πόλει ταύτῃ, φεύγετε εἰς τὴν ἑτέραν. 44 Hippol. refut. omn. haer. 26. 45 Vgl. Unyong Sim, Das himmlische Jerusalem in Apk 21,1–22,5 im Kontext biblisch-jüdischer Tradition und antiken Städtebaus, Trier, 1996, 42 f. In der nachexilischen Zeit wurde lediglich Jerusalem wieder aufgebaut und der Tempel in bescheidenem Maß restauriert; Neh 2,11–7,4; Esr 4,24–6,22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sich in patristischen Texten auffallend selten bzw. in anderer Konnotation. An dieser Stelle lässt sich die Beobachtung formulieren, dass die von Theologen postulierte Form der Segregation zwar eine Distanz zur antiken Stadt in entscheidenden normativen, institutionellen und kulturellen Bezügen im­ plizierte, aber nie die Verweigerung der städtischen Lebensform. Die Stadt bildete nach wie vor das Leitbild gesellschaftlicher Gemeinschaft.46 Angesichts dieser urbanen Prägung des frühen Christentums erscheint es geradezu unausweichlich, dass die theologische Bewältigung dieser Realitäten umso stärker in patristischen Texten erkennbar wird, je nachhaltiger sich die christliche Kirche in der Gesellschaft des Römischen Reiches platzierte. So ist die starke Distanz zur umgebenden Stadt, nahezu erwartbar, v. a. mit der Verfolgungszeit des Christentums bis zum Anfang des 4. Jahrhunderts zu verbinden. In den Zeiten nach der sogenannten konstantinischen Wende finden sich hingegen zahlreiche Argumente zugunsten des Ausgleichs zwischen Christentum und antiker Stadt. Diese lauteten z. B. dahingehend, dass man auch innerhalb einer Stadt ein tugendhaftes Leben führen könne und müsse, da Versuchungen ohnehin überall lauerten. Vor allem aber gäbe es viele sinnhafte Aufgaben für Christen speziell in den Städten, sei es die Seelsorge für den Klerus oder die Armenfürsorge für die Laien.47 Die Ursachen für diese zunehmend gelassenere Einstellung verweisen auch auf eine entscheidende Entwicklungstendenz der christlichen Kirche.48 Bereits während der Zeit ihrer Verfolgung hatten sich kirchliche Organisationsstrukturen auf Basis und in klarer Nachbildung von weltlichen Verwaltungsstrukturen entwickelt, die essentiell auf den Städten als Kernpunkten der zivilen Verwaltung basierten.49 Oftmals wurden auch die hieraus resultierenden Hierarchien sehr selbstverständlich übernommen. So bildete sich z. B. der Vorrang der jeweiligen Provinzhauptstadt auch im kirchlichen Bereich ab und wurde explizit damit begründet, dass sich hier die meisten 46 Dies zeigen z. B. Carlo Bertelli, Visual Images of the Town in Late Antiquity and the Early Middle Ages, in: Giovanni P. Brogiolo/Brian Ward-Perkins (Hg.), Die Idea and Ideal of the Town between Late Antiquity and the Early Middle Ages, Leiden u.a.1999, 127–146; Rainer Warland, Die spätantike Stadt als Leitbild und Lebensform, in: Gunnar Brands/ Hans-Georg Severin, Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung, Wiesbaden 2003, 291–298; Gunnar Brands, Die spätantike Stadt und ihre Christianisierung, in: ebd., 1–26, 17. 47 Hier. ep. 58,4 f. 48 Die wachsende Etablierung des Christentums in den Städten als primäre Folge eines Identitätswandels des Dekurionats zu sehen, welches durch die wachsende Macht der römischen Zentralgewalt in seiner Position geschwächt wurde und sich deshalb neuen Identifikationsangeboten zuwandte, so die These Plümachers, Identitätsverlust, passim, greift zu kurz. 49 Elisabeth Hermann-Otto, Ecclesia in re publica. Die Entwicklung der Kirche von pseudo­ staatlicher zu staatlich inkorporierter Existenz, Frankfurt a. M. 1980, 23–71. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Menschen zu Geschäftszwecken aufhielten.50 Bischöfe wurden seit konstantinischer Zeit zu einem wesentlichen Teil des administrativen Systems. Sie erfüllten städtische Verwaltungsaufgaben bis hin zur Stadtverteidigung, zum Brückenbau sowie zur Organisation der Lebensmittelversorgung oder agierten bei Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch innerhalb der zahlreichen feindlichen Invasionen der Spätantike, d. h. die christliche Kirche verknüpfte sich dauerhaft mit dem Lebensraum Stadt.51 Insofern erscheint es geradezu folgerichtig, dass die vertraute und omni­ präsente Kategorie der Stadt in Predigten wie Traktaten zum häufig gebrauchten Argument für theologische Botschaften wurde, so z. B., wenn Ambrosius seine Gemeinde mit dem Hinweis tröstete, Gott der Herr werde ihre Seelen gegenüber den beständigen Angriffen des Teufels durch seine Gnade ebenso erfolgreich festigen wie eine permanent belagerte und doch erfolgreich standhaltende Stadt.52 Ein anderer Vergleich parallelisierte die Fürsorge eines Stadtgründers, welche gleichermaßen allen Teilen dieser Stadt gelte, mit der unterschiedslosen Fürsorge Gottes für alle seine Geschöpfe: So wie alle Teile der Stadt in Verbindung mit ihrem Gründer stünden und erst in ihrer Gesamtheit funktionierten, gelte das auch für die Relation der Geschöpfe zu ihrem Schöpfer.53 In all diesen und zahlreichen ähnlichen Gleichnissen ist die Stadt der Inbegriff für Ordnung, Geborgenheit, Harmonie, Schönheit sowie eine funktionierende Administration.

Christliche Semantiken und die Transformation der Stadt in der Spätantike Dennoch ist zu fragen, in welcher Form christliche Theologen vom Stadtsymbol Gebrauch machten, d. h. welche Komponenten sie ggf. hervorhoben, welche sie nicht erwähnten. Da die antike Stadt als Symbol von hoher Illustrationskraft war und somit einen entsprechenden Bedeutungsüberschuss gewährleistete,54 sie zugleich aber nicht den Kern der zu vermittelnden theologischen Botschaft darstellte, sondern nur ihren Träger bildete, sind ent50 David Hunt, The Church as a Public Institution, in: Averil Cameron/P. Garnsey (Hg.), CAH XIII. The Late Empire 337–425, Cambridge 1998, 238–276, 242–250. 51 Hermann-Otto, Ecclesia, 290–348. 52 Ambros. hexaem. hom. 9,66. 53 Athan. or. c. Ar. 2,42. 54 Bedeutungsüberschuss wird hier verstanden im Sinne der Semiotik, wonach die Bedeutung eines Symbols die rationale Ebene übersteigt und für den Beobachter eine weit darüber hinausweisende tiefgreifende psychische Bedeutung besitzt; vgl. hierzu Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, Stuttgart 92002, S. 132 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sprechende Zuspitzungen erwartbar und zugleich höchst aussagekräftig. Die angeführten Beispiele stehen durchaus exemplarisch für das in zahlreichen Predigten konstruierte Modell der Stadt, welches nicht im Modell der griechisch-römischen Bürgerstadt und im gemeinsamen Tun aller Bürger bestand, sondern die monarchische Stadt hellenistischer Prägung propagierte. Der Grund hierfür lag selbstverständlich nicht im realen Erleben derartiger Städte, sondern in dem Umstand begründet, dass diese Form der Stadtorganisation am präzisesten der theologischen Formel von der hierarchischen Beziehung von Schöpfer und Geschöpfen entsprach. Die hier hervorgehobene Stadt definiert sich als Ordnung bzw. Funktionalität, sowie in ihrer Verfassung als Struktur, auch durch Hierarchie. Und obwohl die Stadt als Symbol geradezu ubiquitär ist, finden sich auch zahlreiche Aussagen, welche gegen die reale Vielheit und Verschiedenheit der Städte des Reichs in sakraler wie politischer Sicht Einheit und Ordnung setzten, deren Heterogenität sogar eher als Nachteil qualifizierten. Um die erhebliche Strahlkraft der überaus präsenten Strukturen zu entkräften, verwiesen Theologen gern auf die nachteilige Vielfalt städtischer Lokalgottheiten. Diese deuteten sie nicht nur als Indiz für deren begrenzten Geltungsbereich, sondern zugleich auch für die überschätzte Wirkmächtigkeit städtischer Ansprüche.55 Dem zutiefst antiken religiösen Pluralismus, der religiösen Autonomie als Selbstverwaltung lokaler Kulte, welcher mit der Vielzahl der Städte korrespondierte,56 wurde die Einheitlichkeit des christlichen 55 Athan. gent. 23: καὶ ὅλως ἑκάστη πόλις καὶ κώμη, τοὺς ἐκ γειτόνων οὐκ εἰδυῖα θεούς, τοὺς ἑαυτῆς προκρίνει, καὶ μόνους εἶναι τούτους νομίζει θεούς. περὶ γὰρ τῶν ἐν Αἰγύπτῳ μυσαρῶν οὐδὲ λέγειν ἐστί, πᾶσιν ἐπ᾿ ὀφθαλμῶν ὄντων ὅτι ἐναντίας καὶ μαχομένας ἀλλήλαις ἔχουσι τὰς θρησκείας αἱ πόλεις, καὶ οἱ ἐκ γειτόνων ἀεὶ σπουδάζουσι κατὰ τῶν πλησίων τὰ ἐναντία σέβειν. »Jede Stadt und jedes Dorf gibt den eigenen Göttern den Vorzug, da es die der Nachbarn nicht kennt, und sie halten nur diese für Götter. Von den Mißgeburten der Ägypter braucht man nicht einmal zu reden, da sie allen in den Blick treten. Haben doch dort die Städte entgegengesetzte und sich widerstreitende Kulte, und sind doch die Nachbarn immer darauf aus, jeweils einen anderen Gegenstand zu verehren als der Anwohner.« Ähnlich auch Orig. Cels. 8,26. 56 Vgl. hierzu Frateantonio, Religiöse Autonomie, S. 25–29, 48. Deren Basis bietet die in den paganen Quellen vorherrschende Überzeugung von der territorialen Bindung der einzelnen Stadtreligionen, der Stadtgemeinschaft als Kultgemeinschaft; vgl. für Rom Bernhard Linke, Religio und res publica – Religiöses Denken und gesellschaftliches Handeln in der römischen Republik, in: Bernhard Linke/M. Stemmler (Hg.), Mos maiorum – Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Historia-Einzelschriften 141, Stuttgart 2000, S. 269–298. Diese städtische religiöse Autonomie setzte sich ihrerseits aus mehreren Komponenten zusammen, wie die Besetzung der städtischen Priestertümer, die Finanzierung der Kulte, die Kriminalgerichtsbarkeit über Heiligtümer sowie die städtische Befugnis zur eigenständigen Bestimmung von Festtagen, vgl. hierzu Christiane Sourvinou-Inwood, Further Aspects of Polis Religion, in: Aion 10 (1988), S. 259–274. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Gottes sehr selbstbewusst gegenübergestellt. Dieser, so das Argument, übersteige nicht nur die große Zahl lokaler Polisgottheiten, sondern mache damit letztlich auch durch die Einheitlichkeit seiner Macht die engen lokalen Grenzen städtischer Entitäten obsolet und transzendiere sie. Die Stadt wurde somit zum Symbol des himmlischen Kosmos stilisiert, deren entscheidendes Signum das Leben des hier versammelten Gottesvolkes nach christlichen Geboten sei.57 Sie definierte sich eher als Gemeinschaft von Personen, denn als Konglomerat bestimmter Bauten oder civischer Praktiken.58 Deshalb solle der Christ sein Engagement vor allem der christlichen Gemeinde widmen, gleichsam einer Stadt in der Stadt.59 Urbane Vielfalt ist in diesem Kontext nicht nur verzichtbar, sondern sogar eher ein Abweichen vom idealen Maß des himmlischen Kosmos. So bedeutsam die Stadt auch als Ordnungsstruktur ist, sie unterscheidet sich zumindest dieser theologischen Begründung nach bestenfalls von ihrer administrativen Reichweite her, aber nicht qualitativ von anderen Ordnungsstrukturen wie Provinz oder Reich, sie besitzt keine eigene Wertigkeit oder Dignität. Hier sind Gründe dafür zu sehen, dass Augustinus den Begriff der ›civitas‹ in seinem Werk über den Gottesstaat unterschiedslos für Einheiten unterschiedlicher Art verwendet, sei es die Stadt oder der Staat.60 Nicht die institutionelle Bewältigung von Differenz und Dissenz war also das anzustrebende Ziel, sondern deren Ausblendung und Minimierung. Trotz dieser klaren theologischen Tendenz kann der reale Transforma­ tionsprozess der Städte in der Spätantike nicht primär auf diese Seman­ tiken zurückgeführt werden. Dagegen spricht bereits der Umstand, dass in der Spätantike keine der platonischen Idealstadt ähnelnde christliche Stadt­ utopie entwickelt wurde, die städtebaulich oder architektonisch argumentiert hätte.61 Der Transformationsprozess der römischen Städte in der Spätantike ist vielmehr als Resultat komplexerer Abläufe zu bewerten, deren 57 Vgl. z. B. Joh. Chrys. hom. in 2Kor. 16,4 (PG 61,516). Diese Verknüpfung, welche letztlich auf Platons Timaios zurückgeht, prägte auch die Idealbilder der Stadt im Mittelalter, vgl. hierzu ausführlich Keith D. Lilley, City and Cosmos. The Medieval World in Urban Form, London 2009, S. 15–28. 58 Nicole Gauthier, La Topographie chrétienne entre idéologie et pragmatisme, in: Brogiolo/Ward-Perkins, The idea and ideal of the town, S. 195–209, 207. 59 Orig. Cels. 3,29. 60 Vgl. die treffenden Bemerkungen von Christof Müller, Geschichtsbewußtsein bei Augustinus. Ontologische, anthropologische und universalgeschichtlich/heilsgeschichtliche Elemente einer augustinischen Geschichtstheorie (CASSICIACUM XXXIX/2), Diss. Würzburg 1993, 251 f. 61 So zu Recht Brands, Die spätantike Stadt, S. 11. Diese entstanden vielmehr erst in der frühen Neuzeit, z. B. in der »Utopia« des Thomas Morus bzw. dem »Sonnenstaat« Tommaso de Campanellas. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Hauptursachen nicht mit religiösen Umbrüchen in Zusammenhang standen. Hierzu zählten neben verheerenden Naturereignissen wie zahlreichen Erdbeben sowie der Ausbruch der sogenannten »Justinianischen Pest«, welche Mitte des 5. Jahhundert im gesamten Römischen Reich auftrat,62 auch die militärischen Katastrophen dieser Epoche, wie z. B. der Ansturm von Langobarden, Vandalen und Goten.63 Diese Ereignisse führten nicht nur zu Bevölkerungsschwund und materiellen Zerstörungen, sondern auch zu einem generellen Rückgang wirtschaftlicher Prosperität, z. B. durch den Zusammenbruch von Handelswegen, der Reregionalisierung von Wirtschaftskreisläufen und der geringeren Nachfrage nach Luxuswaren. Zudem beseitigte der endgültige politische Bedeutungsverlust Roms und die Entstehung neuer politischer Regionalzentren mit andersgearteten Formen der Machtdurchsetzung die politische Existenzberechtigung für das Netz an kleinen, mittleren und größeren Städten, welche bis dahin das Herzstück römischer Administration gebildet hatten. Die bereits seit längerem sichtbaren Probleme des Kurialenstandes hatten dies noch beschleunigt.64 Angesichts der tiefgreifenden Veränderungen durch Eroberung und Zerstörung, die in den Quellen immer wieder als traumatisierende Erfahrungen des Verlusts von Vertrautem und gewohnter Sicherheit beschrieben werden, überrascht es wenig, dass die allmähliche Christianisierung oft keineswegs mit durchgreifenden Wandlungen im Stadtbild verbunden war. Christliche Städte berücksichtigten meist in hohem Maße gewachsene Stadtbilder,65 schon deshalb, weil man in einer Zeit vielfacher politischer und kultureller Brüche ein erhaltenes bauliches Gefüge als Indiz für werterhaltende und staatstragende Kontinuität ansah.66 Kirchen traten zu bisherigen Monumentalbauten eher hinzu, als dass sie diese ablösten. Vielfach wurden nicht neue Baulichkeiten geschaffen, sondern bestehende bauliche Gefüge in christlichem Sinne uminterpretiert. Die 62 Pauline Allen, The Justinianic Plague, in: Byzantion 49, (1979), S. 5–20; Mischa Meier, »Hinzu kam auch noch die Pest …« Die sogenannte Justinianische Pest und ihre Folgen, in: Ders. (Hg.): Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005, S. 86–107 63 Vgl. hierzu Mischa Meier, Zur Wahrnehmung und Deutung von Naturkatastrophen im 6.  Jahrhundert n. Chr., in: Dieter Groh u. a. (Hg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003, S. 45–64; Brogiolo, Ideas of the Town, S. 108–113; Peter J. Heather, The Fall of the Roman Empire, London 2005, S. 194–198, 288–296, 395. 64 Vgl. hierzu Mac Mullen, Corruption, S. 44 ff. 65 Vgl. hierzu umfassend Franz A. Bauer, Stadt, Platz und Denkmal in der Spätantike, Mainz 1996, S. 309–329. 66 Brands, Die spätantike Stadt, S. 9–11. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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bisherige Topographie wurde mit christlichen Legenden versehen, welche neue Bedeutungszuschreibungen bei gleichbleibenden Bauten ermöglichten.67 Oft begnügte man sich mit einer zeichenhaften Christianisierung, d. h. einem Kreuz über dem Stadttor oder an öffentlichen Gebäuden. Die Forschung hat diesen Befund zu der These verdichtet, dass es wohl eher langfristig gewandelte funktionale Bedürfnisse waren, die sich nun in einer veränderten Baustruktur spiegelten, und zu einer ›rationaleren‹ Nutzung von Städten führten. So vollzog sich z. B. der Handel jetzt stärker in Ladenlokalen bzw. in Ladenstraßen als auf der einheitlichen Agora klassischen Typs.68 Dies resultierte in vielen Städten in einem Bedeutungsverlust und der Aufgabe der Agora, der Anlage mehrerer kleiner neuer Plätze sowie in einer Veränderung bisheriger Straßengliederungen, die zuweilen als ›Basarisierung des spätantiken Straßenraums‹, als Entstehung einer ›comfortable disorder‹ gedeutet wurde.69 Unbestreitbar wurden diese Umgestaltungen als zeitgemäße, den Bedürfnissen entsprechende Form städtischen Lebens betrachtet, die nicht notwendigerweise mit einer nachlassenden Vitalität der jeweiligen Kommune einhergingen.70 Allerdings ist diese Sichtweise m. E. zu erweitern, denn gerade diese Phänomene lenken ebenso wie die beschriebene Rationalisierung innerhalb der Neudefinition von Stadtnutzung den Blick zurück auf ihre normativen Grundlagen. Sie können nicht ohne mentale Basis durchgeführt worden sein, seien es geänderte Erwartungen, Unzufriedenheiten mit Bisherigem, der Schwund von Bindungen an traditionelle Bauten oder Prestigestrukturen bzw. der Einfluss neuer Normen. Innerhalb dieses komplexen Motivbündels sollten christliche Stadtsemantiken und ihre Folgewirkungen nicht ver­ absolutiert werden, sie sind aber als dessen Bestandteil zu beschreiben.

67 Franz A. Bauer, Die Stadt als religiöser Raum in der Spätantike, in: Archiv für Religionsgeschichte 10 (2008), S. 179–206. 68 Brands, Die spätantike Stadt, S. 17–19, 21; Peter Garnsey/C. R. Whittaker, Trade and industry in the urban economy, in: Cameron/Garnsey, CAH XIII, S. 312–337, 332 ff.; 335 ff. 69 So die Begriffe von Yoram Tsafrir, in: Lee I. Levine (Hg.), Jerusalem. Its Sanctity and Centrality to Judaism, Christianity and Islam, New York 1999, S. 142; vgl. auch Wolfram Hoepfner, Das Ende der Agora, in: Brands/Severin, Die spätantike Stadt, S. 145–150; Brian Ward-Perkins, From Classical Antiquity to the Middle Ages. Urban Public Building in Northern and Central Italy A. D. 300–850, Oxford 1984, S. 182 f.; 185. Zur Dezentralisierung bzw. Diversifizierung der Stadt in mehrere kleinere Zentren v. a. in Nordafrika vgl. Timothy W. Potter, Towns in Late Antiquity. Iol Caesarea and its Context, Sheffield 1995, S. 73. 70 So zu Recht Brands, Die spätantike Stadt, S. 21. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Resümee Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es weniger aktive Angriffe christlicher Bischöfe waren, welche die traditionelle Kultur antiker Urbanität zum Versiegen brachten. Allerdings wurde diese komplexe voraussetzungsreiche Kultur von christlicher Seite auch nicht gestützt.71 Andere Normen ersetzten schließlich die Welt von Forum, Agora, Theater und städtischem Euergetismus. Kennzeichnend für die ambivalente Einstellung christlicher Theologen zur Stadt antiker Prägung bleibt dennoch, dass es immer wieder Schriften gerade der klassisch gebildeten klerikalen Eliten waren, welche eine memoria der antiken Vergangenheit transportieren, die von der Bewunderung vergangener Größe und dem Wissen um die Schönheit städtischer Bauten zeugt. Insbesondere in der Gattung des Stadtlobs wurden Bilder der antiken Stadt tradiert, welche den Preis städtischer Vorzüge mit traditionellen Sujets verbanden.72 Und es waren diese Schriften, deren Rezeption unter den gewandelten Umständen des Hochmittelalters für eine Wiederbelebung städtischer Kultur und bürgerlichen Selbstbewusstseins sorgte. Somit sind hier Wurzeln dafür zu sehen, dass die europäische Stadt nach längerer Zäsur auch jenseits ihrer Bedeutung als Handelskommune den besonderen Typus bürgerlicher Kultur und Organisation wiederentdeckte, den Max Weber herausgestellt hat.

71 Spieser, City, S.  11–13; Helen Saradi, The dissolution of the urban space in the early Byzantine centuries: the evidence of the imperial legislation, in: Symmeikta 9 (1994), S. 295–308; Dies., Privatization and subdivision of urban properties in the early Byzantine centuries: social and cultural implications, in: Bulletin of the American Society of Papyrologists 35 (1998), S. 17–43. 72 Carlo Bertelli, Visual Images of the Town in Late Antiquity and the Early Middle Ages, in: Brogiolo/Ward-Perkins, The idea and ideal of a Town, S. 127–146; Carl Joachim Classen. Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Hildesheim 1980, S. 37–68 mit zahlreichen Beispielen für die Kontinuität klassischer Topoi des Stadtlobs im Mittelalter. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Michael Borgolte

Mittelalter in der größeren Welt – Mediävistik als globale Geschichte Von der Sozialgeschichte zur europäischen Geschichte des Mittelalters

Wer in Berlin Geschichte professionell betreibt, sei es als Studierender, sei es als Dozentin oder Dozent, tut es an keinem Ort wie jedem anderen. Erst recht gilt das an der Humboldt-Universität. Denn dies ist ein Platz bedeutender wissenschaftlicher Aufbrüche, dem politische Umwälzungen, ja Katastrophen wiederholt schweren Schaden zugefügt haben. Keinem wachen Zeitgenossen kann der Nachhall dieser Ereignisse verborgen bleiben, zumal die Nähe zum politischen Zentrum unseres Gemeinwesens und die Konzentration der Medien in unserer Umgebung die historische Erinnerung aktualisieren. Jeder, der Geschichtswissenschaft in ethischer Verantwortung begreift, muss den Erfahrungen Berlins und seiner Universität Unter den Linden Rechnung tragen. Ich habe jedenfalls meine Rolle als Professor für Mittelalterliche Geschichte von Anfang an so verstanden, dass sich hier exzellente Forschung und der Dialog mit der jüngeren Geschichte beziehungsweise der Öffentlichkeit gegenseitig bedingen.1 Seit meiner Berufung 1991 haben sich unterschiedliche Aufgaben gestellt. Die erste Herausforderung bestand darin, als Westdeutscher an der führenden Universität der untergegangenen DDR zu einer fairen Auseinandersetzung mit dem geschichtswissenschaftlichen Erbe der ostdeutschen Mediävistik zu finden.2 Als Sozialhistoriker, der ich damals war, wollte ich herausfinden, welche Errungenschaften der marxistischen Mediävistik bei aller notwendigen ideologischen Distanzierung für künftige Mittelalter­forschungen im geeinten Deutschland bewahrenswert waren. Das Ergebnis enttäuschte mich, denn fast alles, was diesseits der Elbe geleistet worden war und durch den politischen 1 Vgl. Benjamin Scheller, Mittelalter für die Gegenwart. »Kognitive Entgrenzung« und wissenschaftlicher Stil in den Mittelalterforschungen Michael Borgoltes, in: Michael Borgolte, Mittelalter in der größeren Welt. Essays zur Geschichtsschreibung und Beiträge zur Forschung, hg. von Tillmann Lohse/Benjamin Scheller, Berlin/Boston 2014, S. 1–10. 2 Michael Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989, München 1995. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Umbruch nicht entwertet wurde, hatte die westliche Geschichtswissenschaft auch, wenn nicht besser, aufzubieten. Mein vergleichendes Studium der beiden deutschen Mediävistiken der Nachkriegszeit ernüchterte zudem durch die Einsicht, dass die Sozialhistorie anscheinend selbst ihre Inspirationskraft eingebüßt hatte; als Projekt der sechziger Jahre war sie, natürlich ohne ihre Agenda schon erfüllt zu haben, kein Faszinosum für kreative Köpfe mehr.3 Anders verhielt es sich mit dem Vorhaben einer europäischen Geschichte des Mittelalters. Für sie fehlte bis Mitte der neunziger Jahre noch jede wissenschaftlich überzeugende Realisierung. Obschon die aktuellen politischen Determinanten für eine Überwindung oder besser Ergänzung der herkömmlichen nationalgeschichtlichen Betrachtungsweise auf der Hand liegen4 und von mir ausdrücklich anerkannt wurden, wirkten bei der Zuwendung zu diesem Themenfeld doch in erster Linie forschungsimmanente Impulse. Zum einen war die Forderung des Franzosen Marc Bloch schon von 1928, europäische Geschichte vergleichend zu betreiben, trotz ungezählter Ermahnungen noch nie erfüllt worden, zum anderen wandte sich die Historie jetzt über­raschend wieder der Geschichtsschreibung zu. Diese Aufgabe von Geschichte als Wissenschaft hatten noch meine akademischen Lehrer verworfen, weil sie sich als gebrannte Kinder der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges den Wertentscheidungen, die jede Historiographie erfordert, nicht stellen wollten. Die neue Akzeptanz der Geschichtsschreibung, die in anderen Teil­ bereichen der Historie eher stärker als in der Mediävistik ausgeprägt war, hatte natürlich auch damit zu tun, dass die Universitätshistoriker ihre Aufgaben im öffentlichen Diskurs wieder ernst nehmen wollten.

Pluralität Der Weg zu europäischen Geschichten des Mittelalters auf komparatistischer Grundlage, die ich 2002 und 2006 vorlegen konnte5, war windungsreich, steinig und voller Untiefen; vor allem gab es keine Hinweisschilder­ 3 Ders., Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit, München 1996. 4 Ders., Vor dem Ende der Nationalgeschichten? Chancen und Hindernisse für eine Geschichte Europas im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 561–596; ND in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt, S. 31–59. 5 Ders., Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250. Stuttgart 2002; Ders., Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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anderer, wie ans Ziel zu gelangen wäre, und keinen Kanon des Wissens, das zu vermitteln war. Die ungewohnte Freiheit bei der historischen Arbeit belohnte indessen alle Mühen, ja die Konstruktion und Erzählung der Geschichte erwies sich in diesem Fall als ein euphorisierendes Erlebnis, das ich auch allen jüngeren Kolleginnen und Kollegen wünschen möchte. Andererseits war ich bei der Niederschrift dieser Werke stets davon überzeugt, mit ihnen in der Geschichtswissenschaft nur auf Ablehnung und Widerstand zu stoßen. Tatsächlich war die Resonanz auf meine Bücher zuerst in den Medien und bei den Nachbarfächern positiver, aber erstaunlicher Weise zog »die Zunft« dann nach. Meine zentrale These war, dass Europa im Mittel­ alter keine Einheitskultur gewesen ist und weder auf die antiken griechischrömischen Überlieferungen noch auf die christlichen Wurzeln allein zurückgeführt werden kann. Dagegen seien auf dem Kontinent in seiner ganzen Geographie mehrere Kulturen zu unterscheiden, die nebeneinander be­ standen und aufeinander einwirkten und für die ich Christentum, Judentum und Islam als religiöse Grundlagen benannte. Tatsächlich lassen sich ja im Westen der Bereich der katholischen Kirche, im Osten die griechisch dominierte christliche Orthodoxie sowie im Süden die muslimischen Randländer – zunächst in Spanien und Unteritalien, dann in Griechenland und auf dem Balkan – erkennen, während die Juden in allen diesen Zonen Europas anzutreffen waren, wenn auch in unterschiedlicher Dichte. Statt vom christlichen sei also von einem monotheistischen Europa zu sprechen. Natürlich habe ich mit meinem Deutungsansatz auch auf die Beobachtung reagiert, dass sich unsere Lebenswelt durch den Zuzug von Angehörigen unterschiedlicher Religionen verändert und namentlich das Verhältnis zu den Muslimen ein gesellschaftlich brisantes Problem aufgeworfen hat. Europas Geschichte im Zeichen des Monotheismus zu deuten, erlaubte auch, die Dialektik von Gewalt und Verständigung, Anziehung und Abstoßung zu verstehen, denn im Bezug auf den Einen Gott konnten sich die Angehörigen verschiedener Religionen ebenso friedlich verständigen wie feindselig miteinander rivalisieren. Hier dürfte eine Wurzel für die Dynamik der euro­päischen Geschichte gelegen haben, die ein Kult der vielen Götter so nicht hätte entbinden können. Wenn es also kaum eine europäische Identität geben konnte und kann, die von allen Bewohnern des Kontinents geteilt wird, ist eben die Nicht-Iden­ tität Kennzeichen der Europäer, und diese These ist in der internationalen Debatte bereits mehrfach vertreten worden.6 Gewiss kann man nicht sagen, dass die neuen Einsichten inzwischen allenthalben akzeptiert worden sind, 6 Edgar Morin, Europa denken, Frankfurt a. M. 1991; Norman Davies, Europe. A History. Oxford 1996, S. 28. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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aber immer mehr jüngere Mediävistinnen und Mediävisten erkennen, dass die kognitive Entgrenzung, die ein Abschied von der Abendlandgeschichte des Mittelalters mit sich bringt, durch neue Forschungsimpulse belohnt wird.7 Eine beachtliche Ausstrahlung hat in diesem Sinne ein Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft erlangt, das von 2005 bis Mitte 2011 gelaufen ist und hier an der Humboldt-Universität sowie an der Universität Heidelberg koordiniert wurde. Unter dem Titel »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter« erforschten dutzende interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen an rund zwanzig deutschen Universitäten die dialektischen Prozesse von ephemerer Einheitsbildung und gegenläufiger Diversifikation in Europa.8

Die Grenzen Europas Wie alle anderen Konzeptionen hatte allerdings auch meine Geschichtsschreibung ihre Schwächen. Natürlich konnte ich wie alle meine Vorgänger das gravierendste Problem nicht bewältigen, dass über die Grenzen Europas kein Konsens besteht. Es ist auch nicht erkennbar, wie dies überhaupt möglich sein sollte. Die Frage nach den Grenzen Europas hat schon Herodot nicht beantwortet, weil ihm der Westen unbekannt war, und mindestens seit dem Mittelalter gilt das Gleiche für den Osten. Zweifellos könnten nur die Politiker, nicht aber die Historiker, über Europas Grenzen entscheiden, doch würden sie dabei mit der Geschichte Europas selbst brechen müssen. Das Schlüsselproblem ist bekanntlich, ob Russland und die Türkei, die Staaten und die Völker, zu Europa gehören sollen oder nicht. Wird die Frage bejaht, und zwar 7 Vgl. Benjamin Scheller, Die Stadt der Neuchristen. Konvertierte Juden und ihre Nachkommen im Trani des Spätmittelalters zwischen Inklusion und Exklusion, Berlin/Boston 2013; Juliane Schiel, Mongolensturm und Fall Konstantinopels. Dominikanische Erzählungen im diachronen Vergleich, Berlin 2011; Jenny Rahel Oesterle, Kalifat und Kaisertum. Herrschaftsrepräsentation der Fatimiden, Ottonen und frühen Salier an religiösen Hochfesten, Darmstadt 2009; Wolfram Drews, Die Karolinger und die Abbasiden von Bagdad. Legitimationsstrategien frühmittelalterlicher Herrscherdynastien im transkulturellen Vergleich, Berlin 2009; Almut Höfert, Den Feind beschreiben. »Türkengefahr« und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt/New York 2003. – Dass der Perspektivenwechsel jetzt auch längst »etablierte« Historiker erreicht, zeigen zwei neue Darstellungen: Rudolf Schieffer, Christianisierung und Reichsbildungen. Europa 700–1200, München 2013; Bernd Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200–1500, München 2011. 8 Vgl. besonders Michael Borgolte u. a. (Hg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, Berlin 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nur in einem der beiden Fälle, dann würden die Grenzen unseres Kontinents bis zum Stillen Ozean oder zum Berg Ararat, also weit nach Asien hinein, vorgeschoben, so dass die Rede von Europa sinnlos würde; wird sie aber verneint, verlöre Europa einen Teil seiner Geschichte. Denn nicht erst seit Peter dem Großen, sondern seit der Konversion der Rus’ zum orthodoxen Christentum gehört Russland Europa an, während die muslimischen Türken als Erben von Byzanz schon seit dem 14. Jahrhundert auf europäischem Boden heimisch geworden sind. Die Schwierigkeiten mit den Außengrenzen verschärfen sich noch durch die unbestreitbare Einsicht, dass die drei monotheistischen Religionen nicht nur das geographisch so oder so bestimmte Europa, sondern auch Nordafrika und Vorderasien bis zum Indus geprägt haben; ein besonderer Bezug auf unseren Kontinent müsste also durch einen interkontinentalen Vergleich eigentlich erst einmal abgesichert werden. Versuchsweise war auch schon von einer monotheistischen Weltzone die Rede, die über Europa weit hinausging und vom Atlantik bis zum Indus reichte. Andererseits lässt sich nicht verkennen, dass es im mittelalterlichen Europa neben monotheistischen Juden, Christen und Muslimen auch Polytheisten, Dualisten und wohl auch Atheisten gegeben hat.9 Schließlich ist es gewiss zu einfach, Kulturen mit Religionen gleichzusetzen oder aus diesen abzuleiten.

Globalgeschichte des Mittelalters Die Probleme einer vergleichenden europäischen Geschichte des Mittel­ alters lassen sich umgehen durch die Konzepte der Globalgeschichte. Anders als der Begriff suggerieren könnte, will Globalgeschichte nicht unbedingt Geschichte der ganzen Welt sein;10 deshalb lässt sie sich auch aufs Mittel­a lter 9 Zu Atheisten bahnbrechend jetzt: Dorothea Weltecke, »Der Narr spricht: Es ist kein Gott.« Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt 2010. 10 Michael Borgolte, Migrationen als transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Europa. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder, in: Historische Zeitschrift 289 (2009), S.  261–285; ND in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt, S.  425–444, S.  261, bzw. S. 425, unter Bezug auf: Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Dies./Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007, S.  7–49, S.  27; Jürgen Osterhammel/Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, München 42007, S. 10. Siehe jetzt auch: Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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anwenden, das als eine beschränkte Ökumene von Europa, Nordafrika und Asien verstanden werden kann und mit den anderen Welten der beiden Amerikas, Afrikas südlich der Sahelzone und der pazifischen Inselwelt noch keine Kommunikationsgemeinschaft gebildet hat. Abgrenzungsprobleme wie für Europa ergeben sich hier also nicht. Im Unterschied zur vergleichenden europäischen Geschichte stehen bei der Globalhistorie die Beziehungen und Wechselwirkungen von Menschen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen im Vordergrund; Globalgeschichte definiert also nicht in problematischer Weise verschiedene Zivilisationen, um diese komparativ miteinander in Beziehung zu setzen. Die Festschreibung von »Großkulturen« auf bestimmte Räume und die Behauptung ihrer Homogenität gelten ihr als suspekt. Mit ihrem beziehungsgeschichtlichen Ansatz, der herkömmlichem historischen Denken gerecht wird, ist sie methodisch viel weniger anspruchsvoll als vergleichende Geschichte, die die meisten Forscherinnen und Forscher rasch überfordert. Erfolgreich ist Globalgeschichte vor allem deshalb, weil sie zum Studium lokaler oder regionaler Kulturkontakte und -verflechtungen in ihren globalen Zusammenhängen animiert.11 Sie kann also potentiell für jeden Ort der Vergangenheit betrieben werden und ist deshalb, ganz im Gegensatz zur alten Universalgeschichte, ausgesprochen forschungsfreundlich. Globalhistorische Studien reagieren auf den zeitgenössischen Befund der Globalisierung als einer universell verdichteten und beschleunigten Kommunikation und einer scheinbar grenzenlosen Mobilität für Menschen, Güter und Ideen. Ihre Fragestellungen und Methoden sind deshalb auch von der Neuen Geschichte entwickelt worden, während die Mediävistik mit ihr erst wenig Erfahrung sammeln konnte.12 Von einer Globalgeschichte des Mittelalters kann man aber nur dann sprechen, wenn sie auf den Begriff von »Globalisierung« bezogen werden kann, der als Sigle für weltweite Vernetzung der Kommunikation und des Handels aus dem späten 20. Jahrhundert stammt. Globalhistorische Studien im Mittelalter zielen deshalb auf transkulturelle Verflechtungen ab.13 In transkultureller Perspektive gibt es keine reinen, sondern nur »hybride« Kulturen, in denen sich Elemente verschiedener Herkunft vermischt und gegebenenfalls etwas ganz Neues ergeben haben. Um diese Verflechtungen zu bezeichnen und zu analysieren, bedient sich die 11 Natalie Zemon Davis, Global History. Many Stories, in: Max Kerner (Hg.), Eine Welt – Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen, 26. bis 29. September 2000. Berichtsband. München 2001, S. 373–380, S. 374. 12 Vgl. Borgolte, Mittelalter in der größeren Welt. 13 Ders./Matthias M. Tischler (Hg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittel­a lterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika, Darmstadt 2011; Ders. u. a. (Hg.), Europa im Geflecht der Welt. Mittelalterliche Migrationen in globalen Bezügen, Berlin 2012. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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gegenwärtige Forschung auch der Begriffe »interconnectivity« und »entangled histories«. Dabei bezeichnet »interconnectivity« Formen eines kulturellen Transfers, der in beide Richtungen verläuft und bei dem eine gewisse Frequenz von Interaktionen zu verzeichnen ist. Hierzu zählen in der Neuzeit die Wechselbeziehungen zwischen Amerika und Europa über den Atlantik. Mit den Methoden des Vergleichs und der Transferforschung lassen sich bei regelmäßigen Interaktionen dieser Art freilich noch die Elemente eines Phänomens bestimmen und auf ihre Herkunft zurückführen. Der Begriff­ »entangled histories« zielt dagegen auf eine ganz Neues hervorbringende Synthese, dem die Ingredienzien nicht mehr entzogen werden können. Er wurde aus der Quantenphysik entlehnt.

Transkulturalität Die Globalgeschichte hat uns bewusst gemacht, dass Zivilisationen oder Großkulturen gar nicht existieren; sie sind nur gedachte Einheiten, um komplexe Differenzerfahrungen vereinfachend zu ordnen. Vermutlich können wir sie in der Wissenschaft heuristisch, also als Hilfsmittel der Analyse, zwar nicht entbehren, dürfen sie aber ontologisch mit wirklich Bestehendem nicht verwechseln. Der Begriff »Transkulturalität« soll dem gerecht werden, indem er zum Ausdruck bringt, dass eine gedachte Kultur forschend überschritten werden soll, ohne zur Etablierung einer neuen Kultur hinzuführen. Transkulturalität bedeutet also nicht nur, die Grenzen einer bestimmten Kultur aufzulösen, sondern Kultur selbst als unaufhörlichen Prozess zu verstehen. Globalgeschichte hat, im Unterschied zur alten Weltgeschichte, keine Botschaft über Ursprung und Ziel der Geschichte. Ihr einziger Fokus ist die zunehmende Vernetzung der Menschen, also ein analytischer Befund ohne Wertbezug.14 Der Amerikaner Jerry H. Bentley sah immerhin die Anfänge aller Globalisierung beim Auftreten des homo erectus und charakterisierte sie entsprechend mit dem Streben nach »Kenntnis der weiteren Welt«.15 So verstanden, ginge es besonders um Forschungen über die Transgression von Grenzen und die produktive Auseinandersetzung mit dem Fremden. Die Prozesse der Entgrenzung, die die Globalgeschichte demnach kennzeichnen, 14 Vgl. Ders., Karl der Große  – Sein Platz in der Globalgeschichte, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 63, 2013, S. 167–188. 15 Jerry H. Bentley, Globalizing history and historicising globalization, in: Barry K. Gills/ William R. Thompson (Hg.), Globalization and Global History, London/New York 2006, S. 18–32, S. 20. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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lassen freilich die Frage des Begreifens, also der Kognition, der Geschichte offen. In gewisser Weise war es deshalb konsequent, dass die Herausgeber einer 2008 in Wien erschienenen Globalgeschichte ihre Bände schematisch nach Vierteljahrtausenden und Jahrhunderten einteilten, ohne ihnen einen epochal deutenden Titel zu geben.16 Bei der soeben abgeschlossenen Welt­ geschichte der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die gleichfalls eine Globalgeschichte sein wollte, verfuhr man anders und machte sich mit Interpretationen angreifbar.17 Bentley selbst hat mit einem Koautor eine wegweisende und inzwischen sehr erfolgreiche globalhistorische Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart vorgelegt, bei der er die Beharrungskraft von Traditionen und die Innovationen durch kulturellen Austausch zu Leitmotiven machte.18 Ansonsten fehlen noch überzeugende globalhistorische Synthesen. Um die älteren Epochen in die globalhistorische Forschung einzubeziehen, hat wiederum Jerry Bentley vorgeschlagen, sich unter dem Leitmotiv der »cross-cultural interaction« – oder transkulturellen Verflechtung – auf Fernhandel, imperiale Expansionen und Migrationsbewegungen zu konzentrieren. Dies ist, wie mir scheint, ein fruchtbarer Ansatz auch für die Mittel­ alterforschung. Am weitesten vorgewagt hat sich auf diesem Felde schon 1989 Janet Abu-Lughod.19 Im Anschluss an und im Gegensatz zu Immanuel Wallerstein suchte die amerikanische Soziologin und Historikerin nachzuweisen, dass es schon zwischen 1250 und 1350 ein Weltsystem des Handels und des kulturellen Austauschs gegeben habe, das sich zwischen den beiden Extremen Nordwesteuropa und China erstreckte. Damals hätten sich vormals bestehende regionale ökonomische Systeme und kulturelle Inseln miteinander vernetzt; das mittelalterliche Weltsystem habe allerdings keineswegs alle Menschen und Räume vereint, wie wir es von der gegenwärtigen Globalisierung kennen, sondern nur die Gipfelpunkte eines Inselmeers von Städten. Der Austausch zwischen diesen Zentren sei vergleichsweise gering gewesen, das Netzwerk nur zart entwickelt. Bemerkenswert sei aber das damalige Gleichgewicht zwischen Ost und West, das jederzeit zugunsten eines jeden Kontrahenten habe umschlagen können. Vom Weltsystem des Mittelalters 16 Angela Schottenhammer/Peter Feldbauer (Hg.), Die Welt 1000–1250, Wien 2011; Thomas Ertl/Michael Limberger (Hg.), Die Welt 1250–1500, Wien 2009. 17 Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hg.), Weltdeutungen und Weltreligionen, 600 bis 1500, Darmstadt 2010. 18 Jerry H. Bentley/Herbert F. Ziegler, Traditions and Encounters. A Global Perspective on the Past, Boston 42008. 19 Janet L. Abu-Lughod, Das Weltsystem im 13. Jahrhundert. Sackgasse oder Wegweiser? In: Peter Feldbauer u. a. (Hg.), Mediterraner Kolonialismus. Expansion und Kulturaustausch im Mittelalter, Essen 2005, S.  131–156; Dies., Before European Hegemony. The World System A. D. 1250–1350, New York/Oxford 1989. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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hätte also auch eine Dominanz Chinas bis zur Moderne ausgehen können. Indessen sei es Mitte des 14. Jahrhunderts zusammengebrochen, bedingt vor allem durch die großen Pestepidemien; bezeichnenderweise war es gerade die weltweite Vernetzung, die nach der europäisch-asiatischen Ausweitung von Handel und Verkehr nun auch das Ende des Systems herbeiführte.20 Janet Abu-Lughod hat in ihrer Konstruktion eines mittelalterlichen Weltsystems das östliche Europa weitgehend ausgespart. Eine wertvolle Ergänzung auch im Sinne des globalhistorischen Ansatzes bei den imperialen Staatenbildungen hat deshalb kürzlich die Osteuropahistorikerin Gertrud Pickhan von der Freien Universität Berlin beigesteuert.21 Gegen die geläufige Rede vom »Mongolenjoch« und russischen Sonderweg in der europäischen Geschichte verwies Pickhan auf vielfältige schöpferische Austauschbeziehungen der Russen mit ihren fremden Herren und Nachbarn zwischen der Zerstörung des Kiewer (1240) und der Vollendung des Moskauer Reiches (1533). Sie plädierte für »das Aufbrechen eines isolationistischen Konzepts der Geschichte Russlands«, durch die Perspektiven auf transkulturelle Verflechtungen eröffnet würden. Entstehung und Konsolidierung des Moskauer Reiches könnten als »Beispiel für eine produktive Überlappung verschiedener Einflusszonen« verstanden werden, bei der neben dem Mongolenreich noch Byzanz, das ebenfalls benachbarte Polen-Litauen sowie West- und Mitteleuropa beteiligt waren. Zu beachten ist, dass Novgorod im Norden als zweite Metropole des Kiewer Reiches von der Mongoleninvasion verschont geblieben war. Novgorod hatte ein riesiges Hinterland, das vor allem als Reservoir für die begehrten Pelze diente. Anfang des 14. Jahrhunderts war es mit über 20 000 Einwohnern die größte und reichste Stadt der Rus’. Hier hatte die Hanse einen festen Stützpunkt. Abgesehen von Pelzen boten die Russen den Westeuropäern Wachs für Kerzen und Siegel an, die Hanse ihrerseits lieferte westliche Tuche, Bernstein, Silber, Buntmetalle und Lebensmittel wie Salz, Heringe, Met, Wein, Gewürze und Südfrüchte. »Im 14. Jahrhundert hielten sich mitunter bis zu 200 Kaufleute aus Deutschland gleichzeitig in Novgorod auf. Der lange Reiseweg machte längere Präsenzzeiten in der russischen Stadt erforderlich, was trotz des konfessionellen Gegensatzes zu vielfältigen Kontakten und Begegnungen mit den Einheimischen führte; ein Teil der Kaufleute lebte bei russischen Familien, wenn der Platz im Peterhof nicht ausreichte.« Norddeutsche Baumeister errichteten zusammen mit russischen Kollegen Bauten im Novgoroder 20 Vgl. Michael Borgolte, Kommunikation: Handel, Kunst und Wissenstausch, in: Fried/ Hehl (Hg.), Weltdeutungen, S.  17–56, 469 f.; ND in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt, S. 493–532. 21 Gertrud Pickhan, Von der Kiever Rus zum Moskauer Reich. Osteuropa, in: Ertl/Limberger (Hg.), Die Welt 1250–1500, S. 113–137; die folgenden Zitate ebd., S. 114 und 123–125. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Kreml. Die Novgoroder Erzbischöfe des 15. Jahrhunderts förderten die Kulturkontakte, bei denen Übersetzungen eine zentrale Rolle spielten. Die Attraktivität des östlichen Europa war für die Kaufleute aus dem Westen dadurch erhöht, dass die mongolische Reichsbildung den weitergehenden Handel nach Ostasien und dem Mittelmeer sicher machte. Die Mongolen waren aber auch selbst an der Fortführung des Westhandels interessiert und gewährten russischen Händlern schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zahlreiche Privilegien für die Durchreise. Die tatarische Residenzstadt Sarāi an der unteren Wolga »wurde zu einer Drehscheibe des internationalen Transithandels«. Über sie »gelangte die kostbare asiatische Seide auf die europäischen Märkte, und auch für die begehrten Pelze war Sarāi ein wichtiger Umschlagplatz (…). – Auch das Handwerk der Rus’ profitierte von diesen neuen Möglichkeiten. So ergaben sich (wenn auch teilweise unfreiwillige) Arbeitsmöglichkeiten für russische Handwerker in Sarāi.« Das traditionelle Narrativ von der durch die Tataren verursachten Rückständigkeit Russlands ist deshalb nach Pickhan zu revidieren. Es sei vielmehr davon auszugehen, »dass das wirtschaftliche Niveau und der Lebensstandard der Menschen in der Rus’ bereits im 14. Jahrhundert die Standards der Blütezeit des Kiever Reichs in quantitativer wie qualitativer Hinsicht übertrafen. Insbesondere der Nordosten der Rus’ war in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts so reich wie nie zuvor; dazu trug zweifellos die Möglichkeit bei, am Warenaustausch zwischen Orient und Okzident teilzunehmen. Aus dem Osten wurden kostbare Seidenstoffe, Waffen, Perlen und Edelsteine wie auch Gewürze und Arzneien bezogen. Die Tataren ihrerseits exportierten vor allem Pferde in die Rus’, die im Weideland östlich der Wolga gezüchtet und in großer Zahl auf den Moskauer Märkten gehandelt wurden.« An die Stelle Sarāis, das 1399 von Tamerlan zerstört wurde, trat im folgenden Jahrhundert von allem Kazan’. Hierhin kamen »neben Griechen, Armeniern und Osmanen auch italienische Kaufleute (…). In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts intensivierte sich der Handelskontakt zwischen der Krim und Moskau, das zu diesem Zeitpunkt bereits 30 000 bis 35 000 Einwohner zählte und Novgorod überrundet hatte.« Der Direkthandel mit der Krim wurde durch den Zerfall des Mongolenreiches ermöglicht. Russische und deutsche Kaufleute im Nordwesten suchten die Verständigung durch bilinguale Gesprächsbücher, die überliefert sind. Weniger gut erforscht sind die Kulturkontakte zwischen der Rus’ und ihren Handelspartnern in Sarāi, Kazan’ und auf der Krim. Die nordostrussischen Eliten orientierten sich in Kleidung und Waffen aber zunehmend an östlichen Vorbildern. Auf sie gehen die heute als typisch russisch angesehenen Pelzmützen mit Ohrenklappen zurück. Die Moskauer Fürsten übernahmen aber auch © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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das tatarische Steuersystem, ohne das sie ihr zunehmend weiträumiges Reich kaum hätten regieren können, ferner das mongolische Post- und Kurierwesen. Auch beim Militär lernten sie von den Asiaten. Andererseits bewahrte die orthodoxe Kirche die religiösen Traditionen, die die Rus’ mit Byzanz verbanden. Während sich im Volk christliche Frömmigkeit und heidnische Lebenspraxis durchdrangen, war der byzantinische Einfluss in der Hochkultur und Kunst Russlands vorherrschend. Der Moskauer Großfürst Ivan III. öffnete sein Land gegen Ende des 15. Jahrhunderts aber auch hier westlichen Einflüssen. So holte er westliche Militärspezialisten herbei, die für die Einführung der Feuerwaffen sorgten. Griechen und Italiener wurden in der Wirtschaft und Verwaltung tätig. Im Moskauer Kreml selbst bauten italienische Architekten zusammen mit Russen. Die Mariä- Entschlafens-Kathedrale wurde zwischen 1475 und 1479 unter Federführung des italienischen Architekten Aristotele Fioravanti gebaut; sie vereint Elemente altrussischer Baukunst und italienischer Renaissance. »Eindrucksvoller«, so resümiert Pickhan zu Recht, »kann Transkulturalität wohl kaum vor Augen geführt werden.«

Migrationen Ein besonders ertragreiches, aber auch umstrittenes Forschungsfeld eröffnet sich der Globalgeschichte des Mittelalters bei den Migrationen; die Bearbeitung dieses Themas wird nicht nur durch die wissenschaftliche Faszination bei der Erschließung und kritischen Bewertung komplexer Überlieferungen, sondern ebenso durch die Aussicht beflügelt, dabei das besondere Interesse einer sozialpolitisch engagierten Leserschaft zu finden. Zusammen mit einer Reihe jüngerer KollegInnen, darunter Barbara Schlieben, sowie mit FachvertreterInnen der Byzantinistik, Islamwissenschaft und Judaistik bereite ich gegenwärtig ein groß angelegtes Forschungsvorhaben zur Migrationsgeschichte des Mittelalters vor. Migrationen, also die langfristige oder dauernde Verlagerung des Lebensmittelpunktes oder Wohnortes von Personen oder Personengruppen, wird von uns dezidiert unter dem Aspekt des Kulturaustauschs zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen beziehungsweise deren transkultureller Verflechtung untersucht.22 Aus der un­ absehbaren Fülle von Forschungsaufgaben sei hier nur das Problem der Massenmigration angesprochen. 22 Vgl. Borgolte, Migrationen; Ders./Tischler (Hg.), Transkulturelle Verflechtungen; Ders. u.a. (Hg.), Europa im Geflecht der Welt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Von Europa hat ein Mediävist gesagt, dass Massenbewegungen bis zur Gegenwart geradezu die Grundtatsache seiner Geschichte seien, auf der die Vielfalt seiner Sprachen, Traditionen sowie historischen und politischen Identitäten beruhten.23 Ob dieses Urteil mehr als eine politisch korrekte Behauptung aus liberaler Gesinnung darstellte, kann man schon für unsere eigene Zeit fragen, doch ist sicher, dass ihr für die Geschichte des Mittelalters kritische Studien als Beweisgrundlage mangeln. Nehmen wir nur die sogenannte germanische Völkerwanderung, die meist an den Beginn dieser historischen Epoche gesetzt wird.24 Dabei handelte es sich um langfristige und keineswegs kontinuierliche Bewegungen germanischer Stämme, die  – vom Norden und Osten Europas herkommend – vor allem über Rhein und Donau ins römische Imperium vorstießen und zu dessen Auflösung in Italien, Gallien, Spanien und Nordafrika vorstießen. Angetrieben wurden die an sich sesshaften »Barbaren« teilweise durch aggressive Nomadenvölker, vor allem aber von der Sehnsucht nach dem besseren Leben, die die römische Stadtkultur und Latifundienwirtschaft bei ihnen geweckt hatten. Im Okzident errichteten seit dem frühen 5.  Jahrhundert die erfolgreichsten germanischen Heerführer und Könige auf römischem Boden die Reiche der Burgunder, der West- und Ostgoten, der Sueben, Vandalen, Franken und Langobarden. Auch wenn die Zuwanderer in jedem Fall nur einen geringen Bruchteil der römischen Provinzialbevölkerung ausgemacht haben, ging die Forschung bis vor kurzem von immigrierenden germanischen Massen aus. Was beispielsweise die Langobarden betrifft, so glaubt man, dass 568 deren ganzes Volk von Pannonien nach Italien eingewandert sei. Manche Historikerinnen und Historiker stellen sich vor, dass sich »eine riesige Wanderlawine mit Frauen und Kindern, mit Hausrat und Vieh, in Karren, zu Pferd und zu Fuß« über das Land ans Mittelmeer gewälzt habe.25 Berechnungen zu Umfang des Wandervolkes sind indessen hypothetisch und in der Forschung umstritten geblieben. Die Schätzungen schwanken zwischen 80 000 und 200 000 Menschen. In der jüngsten internationalen Forschung sind indessen starke Zweifel an gentilen Massenmigrationen vom Typ der Langobarden aufgekommen. In einer Vielzahl neuerer Arbeiten, konstatierte unlängst der Engländer Peter Heather in einer magistralen Darstellung der »barbarischen Invasionen«, »wurde die Bedeutung der Migration (…) entscheidend relativiert. So gehen 23 Patrick J. Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt a. M. ²2002, S. 18 f. 24 Zuletzt: Peter Heather, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart 2011. 25 Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter, Berlin 1990, S. 398. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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inzwischen viele Historiker davon aus, dass es überhaupt keine massenhafte Migration gab, sondern dass sich immer nur wenige Menschen auf Wanderung begaben.«26 Manche Historiker lehnten die Vorstellung großer Migrantengruppen gar so entschieden ab, »dass sie die Handvoll Quellen, die explizit das Gegenteil belegen (…), für falsch erachten. Griechisch-römische Quellen, so ihre Vermutung, seien mit einem Migrationstopos infiziert (…). Die Auffassung, wonach große Populationen weite Distanzen zurücklegten, wird allmählich durch die Vorstellung kleinteiliger mobiler Gruppierungen ersetzt, die im Lauf ihrer Wanderschaft immer mehr Gefolgsleute an sich banden.«27 Im selben Sinne wie Heather referierte auch sein Landsmann Guy Halsall die neue Skepsis gegenüber der Massenmigration: »A particularly pertinent insight [of recent decades] is that migrations do not operate as ›floods‹, washing over new territories«.28 Stattdessen wird neuerdings hervorgehoben, dass Menschen und menschliche Gruppen in der Geschichte ständig gewandert sind, ohne besondere Verdichtungen hervorzubringen. »Migration« wird sogar für eine Grundbefindlichkeit gehalten, so wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod.29 Wenn diese Bedenken und Einwände zutreffen sollten, könnte natürlich gar nicht mehr von einer eigenen historischen Periode der Völkerwanderungen die Rede sein. In einer kürzlich erschienenen Studie habe ich selbst die These von der langobardischen Wanderlawine überprüft und zu meiner eigenen Verblüffung festgestellt, dass sie nicht aufrecht erhalten kann.30 Die historiographischen Zeugnisse, die das Bild einer Masseneinwanderung nahelegen, stammen erst aus späterer Zeit und fassen eine Reihe von besonderen Vorgängen vereinfachend zusammen. Eine entscheidende Hilfe bei der Analyse war die Anwendung migrationstheoretischer Einsichten und Begriffe. Demnach kann statt von einer Immigration des langobardischen Volkes unter seinem König Alboin genauso gut oder eher besser von einer politisch nur schwach induzierten Kettenmigration die Rede sein. Man muss sich demnach die langobardische Einwanderung nach Italien weniger als einen geplanten und zentral organisierten, sondern vielmehr als einen sich selbst stimulierenden 26 Heather, Invasion der Barbaren, S. 17. 27 Ebd., S. 37. 28 Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568, Cambridge 2007, S. 418. 29 Klaus J. Bade u. a., Die Enzyklopädie. Idee – Konzept – Realisierung, in: Ders. u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn ²2008, S. 19–27, S. 19. 30 Michael Borgolte, Eine langobardische »Wanderlawine« vom Jahr 568? Zur Kritik historiographischer Zeugnisse der Migrationsperiode, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, 2013, S. 293–310; ND in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt, S. 475–492. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Prozess verstehen, bei dem die Erfolgsberichte von Pionieren die anderen in mehreren Schüben nachzogen. Als sich die Langobarden oder auch die anderen gentes, die Goten, Vandalen, Sueben und Burgunder, endgültig auf römischem Reichsboden niedergelassen hatten, hatten sie nach weiträumigen Wanderungen ihre früheren Siedelgebiete aufgegeben und konnten nicht mehr mit dem Nachzug von Angehörigen und Freunden aus der »Heimat« rechnen. Aus der Migrationsforschung weiß man, was diese Auslieferung an die Fremde bedeutete: Die Zuwanderer mussten sich entweder im Laufe der Zeit weitgehend der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft anpassen oder durch Separation bis zur Diaspora-Existenz ihre Identität zu bewahren suchen. Eine vergleichende Betrachtung hat ergeben, dass bei keinem der Wandervölker und ihren Staatenbildungen eine vollkommene Anpassung an die römische Kultur zu konstatieren ist.31 Es gab zahlreiche Hybridisierungen, bei denen sich Elemente verschiedener Herkunft vermischten, ohne schon untrennbar in etwas völlig Neuem aufzugehen. Zu diesen Hybriden zählten zum Beispiel die in lateinischer Sprache und nach dem Vorbild der Kaiser durch germanische Könige erlassenen Gesetze, die gentile Rechtsgewohnheiten aufzunehmen suchten. Einer umfassenden Synthese durch transkulturelle Verflechtung stand indessen das Bedürfnis der Migranten entgegen, ihre Eigenart vor der überwältigenden Mehrheit der Einheimischen zu schützen. Am deutlichsten zeigt sich das an der Wahl einer abweichenden christlichen Konfession, da die genannten Völker keine römischen Katholiken, sondern stets oder über mehrere Generationen hinweg sogenannte Arianer waren. Dieser partikulare Widerstand scheint ihnen aber nichts genützt zu haben, denn alle Reiche mit ihren führenden Völkern sind bis zum frühen Mittelalter untergegangen. Anders verhielt es sich nur mit den Franken, die im Zuge ihrer Großreichsbildung den Katholizismus angenommen und eine ungewöhnliche Fähigkeit zur Apperzeption fremder Anregungen entwickelt haben. Diese ging über bloße Hybride hinaus und unterschied sich so deutlich von den anderen Völkern. Die Gründe lagen offenbar in einer ganz anderen Art der Reichsbildung. Nichts deutet nämlich darauf hin, dass die Muttergruppen der Franken am niedergermanischen Limes von weither kommend ins Reichsgebiet eingewandert waren. Auch später wurden die Franken nicht zu Migranten, die wie die Vandalen oder Langobarden ihre Heimat verließen, um sich in 31 Ders., Mythos Völkerwanderung. Migration und Expansion bei den »Ursprüngen Europas«, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 41 Multilingual, 2010, S. 23–47, bes. S.  39; ND in: Ders., Mittelalter in der größeren Welt, S.  445–473, hier bes. S.  39 bzw. S. 463 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fremden Ländern niederzulassen, sondern sie dehnten ihr Siedel- und Herrschaftsgebiet schrittweise aus, ohne den Niederrhein aufzugeben. Die Sorge der Wandervölker, sich in fremder Umgebung zu verlieren, mussten die Franken nicht teilen; ihre Vorstöße lassen sich eher als Expansion denn als Migration verstehen. Mit den Provinzialrömern konnten sie sich über Jahrhunderte kontinuierlich auseinandersetzen und mit ihnen in Wechselbeziehung treten. Sie romanisierten sich, während sich die Romanen frankisierten. Religiöse Differenz zur Abgrenzung wurde nicht benötigt. Was für die Franken galt, lässt sich ähnlich auch bei anderen expandierenden Völkern beziehungsweise erobernde Mächten erkennen, so bei den Arabern und Berbern in Spanien oder den Byzantinern in Unteritalien. Lag also, so könnte man generell fragen, die kulturstiftende Bedeutung eher bei den Reichsbildungen als bei den Migrationen? Indessen darf nicht unterschätzt werden, dass an transkulturellen Verflechtungen auch migrierende Einzelpersonen und kleinere Menschengruppen mitgewirkt haben, Handwerker zum Beispiel, Gelehrte, Künstler, Söldner, Mönche oder auch die Juden. Die universal am weitesten verbreitete Migration dürfte die Verlagerung des Lebensmittelpunktes eines oder beider Ehepartner bei der Familiengründung gewesen sein. Eine Heiratsmigration kann sich durchaus mit einer mikrokulturellen Transformation in einer ansonsten homogenen Gesellschaft verbunden haben. So soll die Braut im brahmanisch-hinduistischen Kastenwesen bis zur Gegenwart ganz in Haus und Sippe des Mannes überwechseln und sich deren Clan- und Familiengott unterstellen.32 Mehr Zeit mit der Akkulturation mochte sich eine christliche Fürstentochter im mittelalterlichen Europa am fremden Hof lassen; solange sie nämlich die Sprache ihres Gatten nicht beherrschte, durfte ihr ein Beichtvater aus der Heimat kaum verweigert werden.33 Migranten erwarben und verbreiteten Wissen. Dass dies nicht nur für die Gelehrten und Schüler unter ihnen galt, sondern auch für die Handwerker, nimmt die neuere Forschung mehr und mehr zur Kenntnis. Ein Beispiel ist der Chinese Du Huan; diesen hatte im Jahr 751 die Armee des arabischen Kalifats mit rund 20 000 Leidensgenossen nach ihrem Sieg über das Heer der Tang-Dynastie am Fluss Talas in Kasachstan verschleppt.34 Du Huan 32 Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, S. 126, 136, 138–148. 33 Vgl. Karl-Heinz Spieß, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern des Spätmittelalters, in: Irene Erfen/Ders. (Hg.), Fremdheit und Reisen im Mittelalter, Stuttgart 1997, S. 17–36, bes. S. 30, 33 f. 34 Xinru Liu/Lynda Norene Shaffer, Connections Across Eurasia. Transportation, Communication, and Cultural Exchange on the Silk Roads, Boston 2007, S. 173. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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verbrachte zwölf Jahre als Gefangener in verschiedenen muslimischen Ländern und berichtete später über Landsleute, die dort als Weber, Maler, Goldund Silberschmiede tätig waren. Vermutlich traf er auch chinesische Papiermacher, deren Technik den Arabern wohl schon bekannt gewesen war und ihnen jetzt bei den geringen Materialkosten die Verwaltung ihres Riesen­ reiches und die Verbreitung ihrer Sprache und Religion erleichterte. Die vielleicht bemerkenswertesten Migranten waren jedoch die Asketen, die ihren normalen Lebensraum vorsätzlich verließen, um bettelnd auf Wanderschaft Gott und Erlösung zu suchen; am Ende ließen sie sich (vorübergehend) als Eremiten oder in klösterlichen Kommunitäten nieder.35 In Indien hatte der Buddha die nach festen Regeln lebenden Mönchsgemeinschaften überhaupt erst eingeführt, aber in christlicher Zeit verbreiteten Händler und Wandermönche selbst die Lebensform unter anderem nach China, Korea und Japan weiter. Die Integration des Buddhismus in China, deren Höhe­ punkt im westlichen Frühmittelalter lag, gehört zu den spannendsten Kapiteln transkultureller Verflechtung im mittelalterlichen Jahrtausend. Schon die Übersetzung der heiligen Schriften vom Sanskrit oder Pali ins Chine­ sische stellte eine enorme Herausforderung dar; die indischen Sprachen flektieren, sind grammatisch analytisch angelegt und regen zu Abstraktionen an, während das Chinesische assoziativ ist, Bildausdrücke aneinanderreiht und eher synthetisch verfährt. Vor allem aber ist der chinesischen Menta­ lität  – durch die Verehrung der Ahnen und kosmische Ordnungsvorstellungen geprägt  – der Verzicht auf Familie im Mönchtum völlig fremd, ja suspekt.36. Auch im Christentum war die Anachorese, das »Sich aus dem gewohnten Lebenskreis Entfernen«, ein hohes Gut persönlicher Frömmigkeit. Indessen hat hier die Weltabwendung immer wieder zur Weltgewinnung geführt, wie sich exemplarisch an Patrick, dem Apostel der Iren im 5.  Jahrhundert, zeigen ließe. Durch sein Werk wurden die Iren, ein kel­ tisches Volk, das niemals der römischen Reichsgewalt unterstanden hatte, für die katholische, universale Christenheit gewonnen. Patricks Geschichte ist ein Beleg dafür, dass die Migranten des mittelalterlichen Jahrtausends, wie die Menschengeschlechter vor ihnen, die Ökumene bis an die Grenzen der Erde zu erweitern und die neuen Völker und Länder zu erkunden und zu gestalten suchten. 35 Tillmann Lohse, Ascetics, missionaries and pilgrims, medieval era, in: Encyclopedia of Global Human Migration, in: Immanuel Ness (Hg.), The Encyclopedia of Global Human Migration, Vol.  II, Malden/Mass. u. a. 2013, S.  565–572, deutsche Übersetzung in:­ Michael Borgolte (Hg.), Migrationen in Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2014, S. 267–277. 36 Michael von Bruck, Einführung in den Buddhismus, Frankfurt a. M. 2007, S. 313, 315. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Globalgeschichte des Mittelalters zu betreiben, dies hoffe ich deutlich gemacht zu haben, befreit aus der Enge Europas und ist ein Heilmittel gegen die übertriebene Sorge um die Bewahrung der eigenen Identität. Wer sie als Mediävist pflegt, soll und darf die Traditionen und Errungenschaften des eigenen Fachs nicht aufgeben, aber er kann und muss mit den Fachleuten für andere Kulturen in engen Austausch treten. Er kann als Forscher und Erzähler der Geschichte praktizieren, was auch lebensweltlich ein Gebot der Stunde ist. Ich beglückwünsche alle, die jetzt jung sind und sich in dieser verheißungsvollen Epoche der Wissenschaft entfalten können, und ich freue mich auf manche Beiträge, die ich zu diesem Aufbruch selbst noch leisten möchte.37

37 Zuletzt Michael Borgolte, Fünftausend Jahre Stiftungen. Eine Typologie von den Anfängen bis zur Gegenwart, in: Historische Zeitschrift (im Druck). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Yuhanna al-Asad oder die Sprache des Exils Kulturelle Übersetzung zu Beginn der Neuzeit1

Johannes Leo de Medicis Das Tagebuch des päpstlichen Zeremonienmeisters Paride de Grassi beschreibt für den 6. Januar 1520 ein Ereignis, das in Rom allem Anschein nach für einiges Aufsehen sorgte. In durchaus auffälliger Ausführlichkeit hält es auch dessen Vorgeschichte fest: »Vor geraumer Zeit brachte unsere Flotte eine Flotte der Mauren auf, die vom Großen Türken kam: classis maurorum venientium a magno turcho. Mit ihr geriet ein Botschafter des Königs von Fès, orator regis feciarum, in Gefangenschaft. […] Nachdem dieser Botschafter lange in der Engelsburg verbracht hatte, sagte er, ob nun aus Berechnung, um dem Gefängnis zu entkommen, oder durch wahres Verlangen geleitet, dass er sich entschieden habe, Christ zu werden. Der Papst ließ ihn zunächst fragen, aus welchen Gründen er seinen Glauben ablegen wolle, um nach einem anderen zu streben, den er doch gar nicht kenne. Da er als wahrhaft gelehrt galt: vere doctus nam in lingua sua peritissimus esset dicitur in philosophia et medicinis, unterhielten sich viele Philosophen und Ärzte mit ihm. Darüber hinaus verbesserte er unter allgemeinem Beifall, cum laude universali, arabische Texte, die in vielen Fällen sinnwidrig, ja, töricht und falsch übersetzt worden waren. Dieser Botschafter, den zu prüfen mich der Papst mit zwei anderen Bischöfen beauftragt hatte, sagte mir, er wolle dem mauretanischen Glauben abschwören, weil er durch und durch verwirrend und widersprüchlich sei:­ fidem mauretanie non velle habere propter varietatem et confusionem suam ac in se ipsam multipliciter contrariam, habe doch Mohammed, ein in sich gespaltener Mann, diesen Glauben und diese Sekte aus Verachtung für Christus und die Christen eingeführt. […] Als er schließlich einige Grundsätze unse1 Der folgende Beitrag führt Überlegungen weiter, die bereits in englischer Sprache erschienen sind: Peter Burschel, Yuhanna al-Asad, or the Language of Exile, in: Gesa Macken­ thun/Sebastian Jobs (Hg.), Agents of Transculturation: Border-Crossers, Mediators, GoBetweens, Münster 2013, S. 39–49. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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rer christlichen Lehre kennengelernt hatte, sagte er, dass sie ihm ausnahmslos gefielen und dass er sie deshalb ganz besitzen wolle. Es stand allerdings außer Frage, dass er noch Zweifel hatte, weil er noch nicht ausreichend unterrichtet worden war.«2 Paride de Grassi berichtet weiter, wie er und andere Geistliche den ge­ fangenen Botschafter unterwiesen; wie dieser allmählich seine Zweifel verlor; und wie er schließlich auf Befragung alle Glaubensartikel anerkannte: »examinatus de articulis fidei respondit in omnibus credere«, sodass die Taufe für das Dreikönigsfest anberaumt werden konnte, die kein Geringerer als der Papst an keinem geringeren Ort als Sankt Peter spendete. Paride de Grassi betont, dass er selbst assistiert habe, und nennt zudem die drei Kardinäle, die als Taufpaten bestimmt worden waren: Bernardino López de­ Carvajal, Lorenzo Pucci und Egidio Antonini da Viterbo. Wir können es unschwer rekonstruieren, sie alle hatten Grund dazu, diese Ehre auf ihr Engagement im Kampf gegen den Islam zurückzuführen.3 Der Name, auf den der gefangene Botschafter getauft wurde, war der Name des Papstes selbst: sein Geburtsname, sein Papstname und der Name seiner Familie – Johannes Leo de Medicis.

Joan Lione Granatino: Ein Vogel, der auch schwimmen kann Sechs Jahre später fand in Rom ein italienisches Manuskript seinen Abschluss, das eine große Karriere vor sich hatte, obwohl es sprachlich nicht über jeden Zweifel erhaben war, ja, auf einen Verfasser hindeutete, dessen Muttersprache schwerlich Italienisch sein konnte: der »Libro de la Cosmographia & Geographia de Affrica«. Wie das Datum und den Ort der Fertigstellung der Handschrift erfahren wir auch den Namen des Verfassers lediglich aus dem Kolophon: Joan Lione Granatino, Johannes Leo aus Granada.4 Fast 500 Blätter umfassend, besteht das in der Biblioteca Nazionale Centrale 2 Abdruck dieser Passage nach dem lateinischen Manuskript in der Biblioteca Apostolica Vaticana, dem auch die Übersetzung folgt: Dietrich Rauchenberger, Johannes Leo der Afrikaner. Seine Beschreibung des Raumes zwischen Nil und Niger nach dem Urtext, Wiesbaden 1999, S. 455 f. – Vgl. hier auch die zeitliche und örtliche Rekonstruktion der Gefangennahme des Botschafters: S. 57–66. 3 In diesem Sinne bereits Natalie Zemon Davis, Trickster Travels. A Sixteenth-Century Muslim Between Worlds, New York 2007, S. 62–65 (inzwischen auch deutsch: Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident, Berlin 2008). 4 Abdruck des Kolophons: Rauchenberger, Johannes Leo, S. 137, 448. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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in Rom liegende Manuskript aus neun Teilen.5 Am Ende des ersten Teils, der als allgemeine Einführung in Geographie, Klima, Wirtschaft und Kultur Afrikas konzipiert ist, kommt der Verfasser nach den Tugenden auch auf die Laster der Afrikaner zu sprechen, »Dellj Vitij & cosè nephandè chè hanno lj Affricani«, was ihm, wie er hervorhebt, alles andere als leicht falle. Denn es sei Afrika gewesen, das ihn habe aufwachsen lassen; hier sei er zu einem anständigen Mann geworden, zu einem »buon homo«. Doch wie auch immer, wie jeder »compositorè« müsse er die Dinge so erzählen, wie sie sind, »narrarè le cosè come sonno« – ob er wolle oder nicht.6 Wie ernst es ihm damit ist, unterstreicht der Verfasser, indem er die Geschichte eines Mannes erzählt, der dazu verpflichtet wird, die Strafe des Auspeitschens an einem Freund zu vollziehen, und der daraufhin zu dessen Erstaunen mit ganzer Härte zuschlägt. Gleichzeitig aber gibt der Verfasser seinem Publikum noch etwas anderes mit auf den Weg. Ein Verschweigen der Laster der Afrikaner würde ihn selbst lasterhaft erscheinen lassen, weshalb er es mit einem Vogel halten wolle, von dem eine andere Geschichte erzähle. Wie die Geschichte des Mannes, der seinen Freund auspeitscht, stamme, so der Verfasser weiter, auch diese Geschichte aus einem Buch, das hundert Geschichten enthalte, dem »Libro del cento novelle«. Als die Tiere noch sprechen konnten, habe ein kluger und mutiger Vogel die erstaunliche Eigenschaft besessen, sowohl im Wasser als auch am Himmel leben zu können. Als eines Tages der König der Vögel Steuern erhob, sei der Vogel unverzüglich hinab ins Meer geflogen, um künftig unter den Fischen zu leben. Als aber bald darauf auch der König der Fische Steuern erhob, sei er aus dem Wasser zurück in den Himmel geschossen: »da lacqua fugendo allj vcellj dicendo al loro la medesima scusa«. Keine Frage, so der Verfasser, dass der Mensch es genauso halte. Wo immer er könne, suche er seinen Vorteil: »dovè chè l’homo vedè el suo vantagio semprè ad quello attendè«. Gleichzeitig kündigt der Verfasser an, diesen Grundsatz auch als »compositorè« zu beherzigen. Wenn die Afrikaner zu tadeln sind, werde er entschuldigend hervorheben, nicht in Afrika geboren worden zu sein, sondern in Granada. Wenn aber das Land seiner Herkunft zu tadeln ist, werde er darauf bestehen, in Afrika aufgewachsen zu sein und nicht in Granada. Allerdings wolle er die Afrikaner begünstigen und ausschließlich über jene Laster berichten, die allgemein bekannt seien.7 5 MS V. E. 153 (davor MS V. E. 953). Ausführlich zum Manuskript (und seinen Wegen): Rauchenberger, Johannes Leo, S. 126–139; Davis, Trickster Travels, S. 94–97. 6 Lione Granatino, Bl. 41v-43v. 7 Ebd., Bl. 43v-44v. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Es ist viel nach jenem »Libro del cento novelle« gesucht worden, das die beiden Geschichten enthält, die der Verfasser hier erzählt. Nach allem, was wir sagen können, hat ein solches Buch nie existiert. Weder in Europa noch in Afrika noch irgendwo sonst. Die beiden Geschichten, das sind seine Geschichten.8

Yuhanna al-Asad Es wird niemanden überraschen: Der Konvertit Johannes Leo de Medicis und der Geschichtenerfinder Joan Lione Granatino sind ein und dieselbe Person. Denn nicht nur, dass die Namensgleichheit schwerlich Zufall sein kann. Wir sind zudem in der Lage, die Spuren des Konvertiten – wenn auch alles andere als lückenlos – bis zur »Cosmographia« zu verfolgen, weil er die wiedergewonnene Freiheit keineswegs nutzte, um das Land des Krieges, um die »Dar al-Harb« zu verlassen. Im Gegenteil, Johannes Leo de Medicis, Joan Lione Granatino blieb hier, um zu forschen, zu lehren und zu schreiben. Als er zu Beginn des Jahres 1526 seine »Cosmographia« abschloss, war er in den humanistischen Gelehrtenkreisen Italiens bereits kein Unbekannter mehr – und das nicht nur als Lehrer, Kopist, Kommentator und Übersetzer, sondern auch als Verfasser gelehrter Abhandlungen. So legte er in den Jahren nach seinem Glaubenswechsel u. a. eine arabische Verslehre in lateinischer Sprache vor.9 Wir können seiner Biografin Natalie Zemon Davis zustimmen: Es war jene humanistische, jene nicht zuletzt von jüdischen Gelehrten geprägte, jene transkulturelle Fremde, die den einstigen Botschafter des Sultans von Fès zu einem »author of his own« werden ließ, zu einem »author of his own«, der sich bezeichnenderweise seit seiner Taufe Yuhanna al-Asad, Yuhanna der Löwe nannte, wann immer er seinen Namen auf Arabisch schrieb.10

Al-Hasan bin Muhammad bin Ahmad al-Wazzan al-Fasi Was wir über ihn wissen, das wissen wir vor allem von ihm selbst. Von einem Vogel also, der auch schwimmen konnte. Jenen Namen zum Beispiel, den er vor seiner Taufe getragen hatte, weil er als gelehrter Botschafter bereits wäh8 So bereits nachdrücklich Davis, Trickster Travels, S. 110–116, die in diesem Zusammenhang auf die arabisch-islamische Erzähltradition der »hila« – der List – verweist. 9 Rauchenberger, Johannes Leo, S. 83–125. 10 Davis, Trickster Travels, S. 65, 87. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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rend seiner Gefangenschaft Manuskripte aus der Vatikanischen Bibliothek ausleihen durfte, die er in zwei Fällen arabisch mit »Al-Hasan bin Muhammad bin Ahmad al-Wazzan al-Fasi« signierte.11 Nebenbei bemerkt, während er hier mit »al-Fasi« seine nordafrikanische Vergangenheit hervorhob, fügte er seiner arabischen Signatur an anderer Stelle einmal auch »al-Gharnati« hinzu, »aus Granada«.12 Seine nordafrikanische Vergangenheit wiederum kennen wir nur, weil­ Yuhanna al-Asad – wie ich ihn von nun an nennen werde – in seiner »Cosmographia« durchaus auf sie zu sprechen kommt, wie bruchstückhaft, wie schemenhaft, wie irreführend auch immer. Ausschließlich hier finden wir Hinweise auf seine frühe Kindheit in Granada, bevor die Familie mög­ licherweise bereits 1491 vor den siegreichen Kastiliern nach Fès floh, wo schon seit Jahrhunderten Auswanderer und Flüchtlinge lebten, die von der iberischen Halbinsel stammten; oder auf seine Studienzeit in einer der dortigen Moscheeschulen; oder auf seine Erfahrungen als angehender Jurist, »faqih«, in einem Hospital für geistig Behinderte; oder auf seinen »haddsch«, seine große Pilgerfahrt nach Medina und Mekka; vor allem aber auf seine Reisen als Diplomat (und wohl auch Sklaveneinkäufer) im Dienste des neuen Wattasidensultans Muhammad al-Burtughali, die ihn mehr als einmal ins subsaharische Afrika führten, aber auch nach Algier, Tunis, Istanbul und Kairo.13 Auf der anderen Seite wissen wir auch, dass uns Yuhanna al-Asad  –­ jenseits des einen oder anderen kommunikativen Umwegs in der »Cosmographia« – die beiden wohl tiefsten Einschnitte in seinem Leben verschweigt: seine Gefangennahme und seinen Glaubenswechsel.

Die Sprache des Exils Fragt man, warum Yuhanna al-Asad seinem Publikum diese Einschnitte verschweigt, so scheint die Antwort in einer Passage des achten Teils der »Cosmographia« zu liegen, in der es wie nebenbei um die Pläne des Verfassers geht. Eine Antwort, die uns zugleich beim Anliegen dieses Beitrags ankommen lässt. Denn nicht nur, dass Yuhanna al-Asad in dieser Passage ein Buch über Europa ankündigt. Er lässt sein Publikum auch wissen, dass er dieses 11 Rauchenberger, Johannes Leo, S. 68 f. 12 Davis, Trickster Travels, S. 15. 13 Oumelbanine Zhiri, L’Afrique au miroir de l’Europe. Fortunes de Jean Léon l’Africain à la Renaissance, Genf 1991; Rauchenberger, Johannes Leo, S. 27–66; Davis, Trickster Travels, S. 15–54. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Buch schreiben werde, sobald er von seiner Reise nach Europa zurückgekehrt sei. Was er uns damit unmissverständlich zu verstehen gibt, darf wohl so zusammengefasst werden: Ich habe in Europa ein Buch über Afrika geschrieben, das es mir erlaubt oder doch zumindest nicht unmöglich macht, in eben dieses Afrika zurückzukehren, um dort ein Buch über Europa zu schreiben.14 Das aber heißt: Indem wir den Fall Yuhanna al-Asad in den Blick nehmen, nutzen wir die Chance, einen kulturellen Grenzgänger ganz eigener Art kennenzulernen.15 Einen Gelehrten, der als Gefangener in eine Fremde geriet, in der ihm nur der Glaubenswechsel jene doppelbödige Freiheit garantierte, die sich als Exil beschreiben lässt.16 Einen Konvertiten, der nach und nach zu einer Sprache des Exils fand, wie Artikulationen dieser Freiheit in Anlehnung an James Clifford und die Diaspora-Forschung genannt werden können17 – und der im Horizont der Rückkehr, aber abgeschnitten von den Netzwerken islamischer Überlieferung zu einem »author of his own« wurde. Einen Broker schließlich, der uns Einblicke in einen kulturellen Übersetzungsprozess ermöglicht, der durchaus seinesgleichen sucht.18 Denn soviel steht fest: Wer Anfang des 16. Jahrhunderts in Europa über Afrika schreiben wollte, um später einmal in Afrika über Europa schreiben zu können, der musste schon in Europa an Afrika denken – und sei es nur in Gestalt des osmanischen Botschafters in Venedig, der den italienischen Buchmarkt in aller Regel sehr genau beobachten ließ.19 Kurz, Yuhanna al-Asad durfte beim Schreiben in Europa keineswegs nur ein christliches Publikum vor Augen haben. Das wiederum heißt auch: Indem wir den Fall Yuhanna al-Asad in den Blick nehmen, sind wir in der Lage, diesen kulturellen Übersetzungsprozess20 – 14 Lione Granatino, Bl. 432v-433r. 15 Zur Figur des kulturellen Grenzgängers hier nur Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions. The Wonder of the New World, Chicago 1991, S.  119–151; Monika Fludernik/Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Grenzgänger zwischen Kulturen, Würzburg 1999; Simon Schaffer u. a. (Hg.), The Brokered World: Go-Betweens and Global Intelligence, 1770–1820, Sagamore Beach 2009; Mark Häberlein/Alexander Keese (Hg.), Sprachgrenzen – Sprachkontakte – kulturelle Vermittler. Kommunikation zwischen Europäern und Außereuropäern (16.–20. Jahrhundert), Stuttgart 2010. 16 Vgl. dazu grundlegend Ilija Trojanow, Exil als Heimat, in: Peter Burschel u. a. (Hg.), Intellektuelle im Exil, Göttingen 2011, S. 9–18. 17 James Clifford, Diasporas, in: Cultural Anthropology 9 (1994), S. 302–338, S. 310. 18 Für einen Vergleich: Natalie Zemon Davis, Non-European Stories, European Listeners, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 7 (2003), S. 200–219. 19 Davis, Trickster Travels, S. 107 f. 20 Zur methodisch-theoretischen Konzeptionalisierung von »Kultur als Übersetzung« hier nur Doris Bachmann-Medick (Hg.), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin 1997; sowie Dies., Übersetzung als Medium kultureller Kommunikation und Auseinandersetzung, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart und Weimar 2004, S. 449–465. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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über die gängigen Definitionsangebote der »intellectual history« hinaus  – mit Bertolt Brecht (und anderen) als »eingreifendes Denken« zu verstehen, das auf die handlungsleitende Macht der Worte setzt, um die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der sozialen Welt zu verändern. Denn nicht nur, dass wir auf diese Weise mehr über die Genese kultureller Autonomie als Voraussetzung »eingreifenden Denkens« in Erfahrung bringen können. Wir lernen zudem auch jene noch immer nicht ausreichend vermessenen Räume der Übersetzung kennen, in denen Erfahrungs- und Wissensbestände semantisch so verändert werden, dass sie zur Intervention taugen, dass sie in Deutungskonkurrenz treten können und dass sie damit nicht zuletzt auch politisch produktiv werden.21 Wenn wir vor diesem Hintergrund noch einmal auf die Frage zurückkommen, warum uns Yuhanna al-Asad seine Gefangennahme und seinen Glaubenswechsel verschweigt, so liegt zumindest in einem Fall die Antwort auf der Hand: Wer in seiner Situation (und mit seinen Plänen) beabsichtigte, aus dem Land des Krieges in das Land des Friedens, in die »Dar al-Islam« zurückzukehren, hatte allen Grund, seine Konversion, die im Namenswechsel ohnehin offenbar geworden war, mit gebührender Diskretion zu behandeln. Warum aber verschweigt Yuhanna al-Asad auch seine Gefangennahme durch christliche Piraten auf dem Seeweg von Kairo zurück nach Fès im Sommer 1518? Obwohl es nur eine Vermutung sein kann, gehe ich im Unterschied zu Natalie Zemon Davis und anderen davon aus, dass Yuhanna al-Asad dieses Ereignis deshalb unerwähnt lässt, weil er seinen Aufenthalt in der nichtislamischen Fremde in die Tradition der »rihla« stellen wollte, die als asketische Herausforderung (und Studienreise) von vielen islamischen Autoritäten als die einzige Entschuldigung für einen Muslim anerkannt wurde, sich über Gebühr in einem nichtislamischen Land aufzuhalten.22 Wir können es auch anders sagen: Unser Vogel, der auch schwimmen konnte, wusste sehr genau, dass kulturelle Übersetzung vor allem eines bedeutet, die Fähigkeit, sich in immer neuen »Zwischenräumen« einzurichten.23 21 Ingrid Gilcher-Holtey, Prolog: Eingreifendes Denken, in: Dies., Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 7–14. 22 Houari Touati, Islam en voyage au Moyen Âge. Histoire et anthropologie d’une pratique lettrée, Paris 2000; vgl. auch Nabil Matar, Europe Through Arab Eyes, 1578–1727, New York 2009. 23 Zum (postkolonialen) Konzept der »Zwischenräume«: Sigrid Weigel, Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151–165, hier etwa S. 153; Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 312. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Und er wusste auch, dass es dazu der »hila«, der klugen, der heiligen List bedurfte. Um noch einmal auf die Vogelgeschichte, auf »seine« G ­ eschichte zurückzukommen. Wenn Yuhanna al-Asad in seiner »Cosmographia« vorgibt, dass diese Geschichte aus einem gewissen »Libro del cento novelle« stamme, dann durfte er angesichts des kulturellen Horizonts seiner Zeit einigermaßen sicher sein, bei seinem Publikum zumindest zwei Vorstellungen zu erzeugen: die einer arabischen und die einer italienischen Herkunft der Geschichte.24

Afrika Nähert man sich vor diesem Hintergrund der »Cosmographia«, so fällt zuerst einmal auf, dass Yuhanna al-Asad »Afrika« gut europäisch als geo­ graphische Einheit – als Erdteil – versteht und damit ganz entschieden mit der arabisch-islamischen Überlieferung bricht, die diesen Raum nie (oder doch fast nie)  mit nur einem Namen bezeichnet hatte. Zugespitzt formuliert, Yuhanna al-Asad schuf in seiner »Cosmographia« einen Raum, den die arabisch-islamische Welt noch gar nicht kannte und den er auf seinen Reisen aller Wahrscheinlichkeit nach nie als einen zusammenhängenden, ja, als einen einheitlichen Raum »er-fahren« hatte. (Und wohl auch nicht hätte ­»er-fahren« können.) Das aber bedeutete, dass er tun musste, was andere arabisch-islamische Gelehrte nie hatten tun müssen und nie getan hatten. Er musste darüber nachdenken, was diesen Raum zu einem Raum machte.25 Obwohl weitgehend außer Frage steht, dass Yuhanna al-Asad sehr genau um dieses Problem wusste, führt uns zumindest der erste Blick in seine »Cosmographia« nicht vor Augen, ob (bzw. wie) er es löste. So ist ihm zwar die Ordnung der Klimazonen, der »aqalim«, vertraut, deren strukturierende Kraft schon die berühmten Kosmographien al-Idrisis und Ibn Khalduns unter Beweis gestellt hatten. Den Versuch aber, »sein Afrika« über Grenzziehungen zu konstituieren bzw. zu hierarchisieren, die den tradierten Klimazonen entsprechen, unternimmt er nicht. Im Gegenteil. Ob er auf die »Affricanj de la Barbaria« im Norden oder auf die »Affricanj nigrj« im Süden zu sprechen kommt: Vernunft und Unvernunft, Glauben und Unglauben, Recht und Unrecht, Tugend und Laster verteilen sich in seiner »Cosmographia« alles in 24 So auch Davis, Trickster Travels, S. 114. 25 Vgl. ebd., S. 125–128. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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allem erstaunlich gleichmäßig.26 Gewiss, wie Ibn Khaldun und andere geht auch Yuhanna al-Asad gut humoralpathologisch davon aus, dass das Klima nicht nur Einfluss auf die Hautfarbe, sondern auch auf die äußere Erscheinung, auf das Temperament, auf die Moralvorstellungen und auf die Formen sozialer und politischer Vergemeinschaftung hat. Im Unterschied aber zu vielen seiner Vorgänger schließt Yuhanna al-Asad nicht aus, dass auch Afrikaner mit schwarzer Hautfarbe »civilj«, »justj«, »ingeniosj« und »rationabilj« sein können, buchverbunden und rechtsgelehrt, gastfreundlich und wirtschaftlich erfolgreich. Hinzu kommt, dass er den geschlechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen afrikanischen Bevölkerungsgruppen – er spricht zumeist von »mescolanza«  – ein deutlich größeres Gewicht für charakterliche und kulturelle Entwicklungen beimisst als langfristigen klimatischen Einflüssen. So bedauert er zwar, dass die arabische Sprache in aller Regel unter der »mescolanza« zu leiden habe, während die Ausbreitung der Syphilis durch sie beschleunigt werde, weist aber zugleich darauf hin, dass sie deshalb allgemeinen Wohlstand, friedliche Nachbarschaft und gute Dichtung keineswegs ausschließe.27 Am Rande nur: Angesichts dieses Befundes überrascht es nicht, dass­ Yuhanna al-Asad  – obwohl auch die Bewohner »seines Afrika« von Noah abstammen28  – den Fluch Noahs über Kanaan, den Sohn des Ham, und­ Noahs Segen für Sem, dem er Kanaan als Knecht zuweist, nicht erwähnt und damit erstaunlich radikal mit der christlichen Tradition bricht, die den Fluch Noahs auf alle Nachkommen Hams bezog und sie auf diese Weise ewiger Knechtschaft auslieferte.29 Wir können es nur vermuten: Wenn­ Yuhanna al-Asad die Verwunderung, ja, Empörung seines italienischen Publikums in dieser Frage bewusst in Kauf nahm, dann wohl kaum ohne den Gedanken, dass der Fluch Noahs auch dem Koran keiner Erwähnung wert war. Wie auch immer wir diese Vermutung taxieren, die Tatsache, dass auch Yuhanna al-Asad die Afrikaner auf Noah zurückführt, schafft noch kein Afrika, das diesen Namen verdient. Müssen wir uns also von der Hoffnung verabschieden, aus der »Cosmographia« zu erfahren, was »sein Afrika« zusammenhält? Ich glaube nicht. Versucht man, die afrikanischen Bevölke26 Zusammenfassend: ebd., S. 134–151. Vgl. zudem Dies., »Leo Africanum« Presents Africa to Europeans, in: Joaneth Spicer (Hg.), Revealing the African Presence in Renaissance Europe, Baltimore 2012, S. 61–79. 27 Lione Granatino, Bl. 41v, 365r+v, 376v-377r, 378r-383r. 28 Ebd., 6v, 18v-19r, 395r, 429v. 29 Stephen R. Haynes, Noah’s Curse. The Biblical Justification of American Slavery, New York 2002. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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rungsgruppen in der »Cosmographia« einmal jenseits klimabezogener und humoralpathologischer Perspektiven in den Blick zu nehmen, so ist eine durchaus einfache Beobachtung zu machen. Es ist mehr oder weniger durchgängig der Islam, der eine Gruppe gesetzestreu, gottesfürchtig, gastfreundlich und vor allem gebildet werden lässt. Wir dürfen es so deutlich sagen: Gruppen ohne Glauben, Gruppen, die dem Islam fern stehen, oder Gruppen, die ihn nicht so praktizieren, wie sie sollten, erscheinen in der »Cosmographia« nicht als »rationabilj« oder doch zumindest nicht als vollständig »rationabilj«.30 Ist es also der Islam, der Afrika macht? Man braucht diese Frage nicht zu verneinen, um noch einen anderen Akzent zu setzen. Das Afrika der »Cosmographia« ist meiner Ansicht nach zuerst einmal vor allem eines: Es ist das Afrika eines diplomatisch gewieften Berufsreisenden und deshalb zuallererst ein Afrika räumlicher Bewegungen und dynamischer Beziehungen. Es ist ein Afrika politisch und ökonomisch hochkomplexer und interregionaler Netzwerke; ein Afrika des Gebens und des Nehmens; ein Afrika auf Augen­ höhe. Das aber heißt auch, es ist ein Afrika, das kaum noch etwas zu tun hat mit jenem monströsen Erdteil gleichen Namens, den die Europäer bislang kannten. Keine Frage, es ist das Afrika eines Vogels, der auch schwimmen konnte.31

Ramusio und kein Ende Angesichts dieser Befunde erstaunt es nicht, dass der erste Herausgeber der »Cosmographia«, der venezianische Humanist Giovanni Battista Ramusio, das Manuskript keineswegs nur sprachlich überarbeitet hatte, als er es 1550 in den Druck gab.32 So versuchte er zum Beispiel, die moralisch, politisch und sozial produktiven Einflüsse des Islam auf die schwarzafrikanischen Bevölkerungsgruppen immer wieder zu relativieren, indem er Passagen, die auf die vorislamische Geschichte dieser Gruppen bezogen waren, aus der Vergangenheits- in die Gegenwartsform übertrug.33 Wie gravierend (und folgenschwer) solche Eingriffe auch waren: Wirft man einen Blick in die christlichen Übersetzungen der »Cosmographia«, so 30 Lione Granatino, Bl. 376v-377r, 380r+v. 31 Vgl. dazu auch Davis, Trickster Travels, S. 149–151. 32 Die Ausgabe, die für diesen Beitrag herangezogen wurde, ist der 1563 in Venedig erschienene Druck in der dritten Auflage der »Navigationi et Viaggi« Ramusios: Della descrittione dell’Africa Et delle cose notabili che quiui sono, Bl. 1r-95v. 33 Ebd., Bl. 77v. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nimmt sich Ramusios Druck geradezu harmlos aus. Denn nicht nur, dass in den Übersetzungen regelmäßig Passagen fehlen, die den Islam – vor allem im direkten Vergleich mit dem Christentum – allem Anschein nach zu ausgewogen präsentiert hatten. Die Übersetzer griffen darüber hinaus immer wieder auch ergänzend in ihre Vorlagen ein, um aus Joan Lione Granatino– Yuhanna al-Asad einen strammen (also strikt antiislamischen) Konvertiten zu machen. Hinzu kommt, dass sowohl in Ramusios Ausgabe als auch in den Übersetzungen mehr oder weniger durchgängig Passagen fehlen, die von ihren Interpreten als zu freizügig empfunden worden zu sein scheinen, nicht zuletzt Passagen homoerotischen Inhalts.34 Immerhin, kritische Editionen des Manuskripts von 1526 sind in Arbeit.35 Andererseits: Unser Vogel wäre kein Vogel der besonderen Art gewesen, wenn er es seinen christlichen Interpreten so einfach gemacht hätte. Ver­gessen wir nicht: Hier beherrscht einer die Sprache des Exils. Was aber heißt das konkret? Das heißt, dass Yuhanna al-Asad auf der einen Seite zwar über seine Vergangenheit als Muslim berichtet und dabei durchaus zielstrebig einen Islam jenseits aller eschatologischen Militanz entwirft, dass er auf der anderen Seite aber kaum ein Wort über seine Gegenwart als Christ verliert. Wir wissen, dass ihm auf seinen Reisen durch Afrika dichtende Rechtsgelehrte lieber waren als heilige Krieger; oder dass er den Exzessen wundertätiger Sufis skeptisch gegenüberstand; wir wissen, dass er wenig von allzu heroischer Askese hielt; und dass er den Schiiten vorwarf, die Einheit der muslimischen Welt zerstören zu wollen.36 Wie aber stand er zur Menschwerdung Gottes? Wie zum römischen Papsttum? Wie zum entstehenden Luthertum? All das wissen wir nicht. Obwohl manches dafür spricht, angesichts dieses Befundes davon aus­ zugehen, dass wir es in der »Cosmographia« mit der sunnitisch wie schiitisch akzeptierten Praxis der »taqiya« zu tun haben, der Verheimlichung des eigenen aufrichtigen Glaubens unter Zwangsbedingungen, führt uns Yuhanna al-Asad selbst noch in eine andere Richtung.37 So glaube ich jedenfalls. Als er auf die Geschichte des nordafrikanischen Christentums zu sprechen kommt, geht er wie selbstverständlich davon aus, dass der heilige Augustinus arianischer Christ und damit Antitrinitarier gewesen sei.38 Jener Augustinus, der 34 Beispiele: Davis, Trickster Travels, S. 153–157, 196–211, 259 f. 35 Rauchenberger, Johannes Leo, S. 136–171; Davis, Trickster Travels, S. 313. 36 Lione Granatino,, Bl.  21r-22r, 56v, 100v, 115r, 151r, 168r+v, 173r+v, 185r, 322r, 406r, 411r+v, 418v. 37 Rudolf Strothmann/Moktar Djebli, Takiyya, in: The Encyclopaedia of Islam. New Edition, Bd. 10, Leiden 2003, S. 134–136; Nikki R. Keddie, Symbol and Sincerity in Islam, in: Studia Islamica 19 (1963), S. 27–63. 38 Lione Granatino, Bl. 27r. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sich wie kaum ein zweiter gegen die arianische Häresie ausgesprochen hatte. Wir dürfen es so deutlich sagen: Yuhanna al-Asad muss es besser gewusst haben, und zugleich hinzufügen, dass Ramusio und die späteren Übersetzer der »Cosmographia« den antitrinitarischen Augustinus schlicht und einfach übersehen zu haben scheinen.39 Eine Verwechselung, ein Fauxpas, ein Versehen? Ich glaube nicht. Denn was tut Yuhanna al-Asad, wenn er Augustinus zum Antitrinitarier macht? Er reklamiert ihn für ein Afrika, das antitrinitarisch für die Ausbreitung des Islam sehr viel besser bereitet war als trinitarisch.

Noch einmal: »io faro come uno ucello« Damit aber schließt sich der Kreis. Denn ob wir Yuhanna al-Asad auf die »taqiya« festlegen wollen oder nicht, fest steht, dass uns seine »Cosmographia« in eine Welt führt, die ohne die doppelte Freiheit der Konversion, die ich Exil nennen möchte, nicht hätte entstehen können: die Freiheit, in Freiheit zu schreiben, und die Freiheit des »in-between«, die Freiheit jener »Zwischenräume«, ohne die kulturelle Übersetzungen nicht möglich sind. Das aber heißt auch: Wie auch immer wir das Produkt dieser doppelten Freiheit taxieren, allein die Probleme, die seine Herausgeber und Über­setzer mit ihm hatten, und jene, die sie mit ihm hätten haben müssen, deuten darauf hin, dass hier tatsächlich Erfahrungs- und Wissensbestände produktiv geworden sind. So produktiv, dass wir mit einigem Recht von »eingreifendem Denken« sprechen dürfen. Aber wie sollte es auch anders sein: Als Giovanni Battista Ramusio die »Cosmographia« zum Druck vorbereitete, ersetzte er gut humanistisch die dritte durch die erste Person, wobei ihm nur an wenigen einschlägigen Stellen keine Arbeit erwartete. Eine dieser Stellen war »io faro come uno ucello« – »ich werde es wie der Vogel machen«.40 Nach allem, was wir sagen können, überlebte unser Vogel ein Jahr nach Abschluss der »Cosmographia« den Sacco di Roma und ging nach Afrika zurück. 1532 scheint er sich in Tunis aufgehalten zu haben.41 Seine »Cosmo­ graphia« war zu diesem Zeitpunkt in den einschlägigen humanistischen Kreisen Europas bereits bekannt. 39 Vgl. dazu auch Davis, Trickster Travels, S. 184 f. 40 Lione Granatino, Bl. 43v. 41 Davis, Trickster Travels, S. 245–260. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Birgit Aschmann

Jenseits der Norm? Die spanische Monarchie im 19. Jahrhundert

»Ich habe immer das Beste für das spanische Volk gewollt«, beteuerte Isabella II. gegenüber dem spanischen Romancier Benito Pérez Galdós, der die enthronte Königin Spaniens kurz vor ihrem Tod 1904 in ihrem Pariser Exil besuchte. Gewollt, so setzte Isabella fort, habe sie immer das Beste, nur – gekonnt habe sie nicht. Sie wisse, gestand sie dem Schriftsteller, dass sie alles sehr schlecht gemacht habe. Aber es sei doch nicht alles ihre Schuld gewesen. »Das Unvermögen, lag es an mir oder an den anderen? Das ist die Frage, die mir bleibt«.1 Noch unlängst wurden in der spanischen Forschung diese Fragen abgetan als Manipulationsversuche einer Ex-Monarchin, die alle Schuld für ihr Versagen verdrängen und den Gesprächspartner in einer für sie typischen Charmeoffensive umgarnen wollte.2 Tatsächlich gelang es ihr immerhin, P ­ érez Galdós derart zu beeindrucken, dass die Skizze, die Galdós von ihr entwarf – eigentlich ein Vertreter der dezidiert antiisabellinischen Pro­ gressisten  – so wohlwollend ausfiel wie kaum ein anderes zeitgenössisches oder späteres Porträt.3 Das sonst gängige, dezidiert negative Bild entsprach der Tradition liberaler Historiker, die seit dem 19.  Jahrhundert kein gutes Haar an der Monarchin ließen, welcher sie vorwarfen, sämtliche liberalen Reformprojekte verraten zu haben. Denjenigen, die dann im 20. Jahrhundert den autoritären Regimen zuneigten, galt das vergangene Säkulum ohnehin als politischer Sündenfall, der zur Zwietracht der Parteien, Aufkündigung des sozialen Friedens, Preisgabe der staatlichen Einheit, Herausforderung der 1 Benito Pérez Galdós, La Reina Isabel; in: Ders.: Obras Completas, hg. von Federico Carlos Sainz de Robles, Bd. 6, Madrid 1951, S. 1414–1420, S. 1417. 2 Vgl. u. a. Isabel Burdiel, The queen, the woman and the middle class. The symbolic failure of Isabel II. of Spain; in: Social History 39 (2004) Nr. 3, S. 301–319, S. 307. 3 Vgl. Pérez Galdós. Der Text wurde unmittelbar nach ihrem Tod im April 1904 geschrieben. Das drei Jahre später verfasste, fiktional angelegte Episodio nacional »La de los tristes destinos« ging wieder stärker auf Distanz zu Isabella, siehe Benito Pérez Galdós: La de los tristes destinos; in: Ders., Obras Completas, Bd.  3: Episodios Nacionales, Madrid, Neu­ ausgabe 1970, S. 655–781. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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göttlichen Allmacht und Verlust nationaler Größe geführt habe.4 Das Privatleben Isabellas II. schien dieses politische Chaos nur zu spiegeln, weshalb Franco gelegentlich daran gezweifelt haben soll, ob einer was taugen könne, der von dieser Königin abstamme.5 In der Spanienhistoriographie hat inzwischen eine Neubewertung des 19.  Jahrhunderts begonnen, im Rahmen derer sich auch der Blick auf die Monarchin verändert, die die Geschicke des Landes von 1843 bis 1868 maßgeblich mitbestimmte.6 Diese Entwicklung fügt sich in einen allgemeinen Trend, im Zuge dessen die Monarchen Europas erneut verstärkt in den Blickwinkel des historiographischen Interesses geraten sind.7 Dabei fällt auf, dass in den diversen vergleichenden Studien zwar immer wieder die Monarchien Englands, Deutschlands und Frankreichs thematisiert werden, eine aber zumeist fehlt: die spanische.8 Das ist umso bedauerlicher, als erstens die spezi4 So erklärte u. a. Francisco Franco mit Bezug auf diese Phänomene in einer Rede vom 21.6.1950, dass »das 19. Jahrhundert, welches wir gern aus der Geschichte getilgt hätten, die Negation des spanischen Geistes« gewesen sei, vgl. Agustín del Río Cisneros, Pensamiento político de Franco, Madrid 1964, S. 54. 5 So Franco gegenüber Alberto Martín Artajo; vgl. Javier Tusell, Franco y los católicos. La política interior española entre 1945 y 1957, Madrid 1984, S. 58 f. 6 Vgl. u. a. José María Jover Zamora, Prólogo; in: Ders.: La era isabelina y el sexenio democrático (1834–1874) [Historia de España, hg. von Ramón Menéndez Pidal/José María Jover Zamora, Bd.  34], Madrid 1981, S.  XV–CLXII, S.  XXV. Gerade apologetisch klingen die Hymnen für Isabella aus den Reihen der Real Academia de Ciencias Morales y Polí­ ticas hundert Jahre nach ihrem Tod in Abkehr bisheriger Verunglimpfungen der einstigen Monarchin: »España contempla de otro modo Isabel II.« Man wolle klarstellen, dass sich die Akademie hinter diese Neubewertung stelle und »mit Bewunderung« auf jene junge Frau blicke, die dazu beigetragen habe, dass ihre Herrschaft »fuese otra ›hora de España‹«. So die einführenden Worte in: Miguel Herrero y Rodríguez de Miñon/Juan Velarde F ­ uertes, Isabel II. Conmemoración del primer centenario de su fallecimiento, Madrid 2004, S. 11–14, S. 14. Nach einer mehr als zehnjährigen Archivrecherche hat Isabel Burdiel – nachdem sich die Historiographie über fünfzig Jahre an der Person der Königin weitgehend desinteressiert zeigte – nunmehr die maßgebliche Biographie vorgelegt. Ein erster Teil, der die Vita Isabellas bis zur »Revolution« 1854 behandelt, wurde bereits 2004 publiziert, sechs Jahre später erschien das umfangreiche Werk, das den Lebensweg der spanischen Königin bis zu ihrem Tod 1904 nachzeichnet, vgl. Isabel Burdiel, Isabel II. Una biografía (1830–1904), Madrid 22011. 7 Dies ist erkennbar an der Menge jüngerer historiographischer Studien über einzelne Monarchen, Dynastien oder Aspekte der Monarchie, vgl. u. a. Daniel Schönpflug, Die Heiraten der Hohenzollern – Verwandtschaft, Politik und Ritual in Europa 1640–1918, Göttingen 2013; Karina Urbach, Queen Victoria. Eine Biographie, München 2011; Volker Sellin, Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011; Edgar Feuchtwanger, Englands deutsches Königshaus. Von Coburg nach Windsor, Berlin 2011; Frank-Lothar Kroll, Die Hohenzollern, München 2008; Matthias Stadelmann, Die Romanovs, Stuttgart 2008. 8 Auch die Studie von Volker Sellin konzentriert sich auf Großbritannien, Frankreich, Österreich, Russland und Preußen, während die spanische Monarchie auf nur zwei Seiten abgehandelt wird, vgl. Sellin, Gewalt, S. 54–56. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fische spanische Entwicklung das europäische Panorama an Vielfalt ergänzt, zweitens die Interdependenzprozesse v. a. zwischen Spanien, Frankreich und England beispielhaft die Verflechtungen europäischer Nationen, aber auch innen- und außenpolitischer Aspekte illustrieren, und drittens das spanische Beispiel geeignet ist, ein aktuelles Narrativ der Monarchieforschung zu hinterfragen, wonach die europäischen Throne aus der Bewältigung der französischen Revolution durch Anpassungen an Erwartungen des Bürgertums gestärkt und stabiler als zuvor hervorgegangen seien. Grundsätzlich also wird die Entwicklung der Monarchie in Europa im 19. Jahrhundert nicht mehr als eine Niedergangsgeschichte erzählt.9 Umso dringlicher stellt sich die Frage, woran dann das Scheitern der isabellinischen Monarchie im 19. Jahrhundert lag. War es ihr eigenes Unvermögen oder das der anderen? Was unterschied Isabellas Herrschaft von anderen europäischen Monarchien? Einer der offenkundigen Unterschiede zwischen ihr und (fast) allen anderen europäischen Monarchen der damaligen Zeit war ihre Geschlechtszugehörigkeit, so dass es naheliegt, nach der Rolle des Genderaspektes in der Beurteilung ihrer Herrschaft und deren Niedergang zu fragen, was schon allein deshalb methodisch reizvoll ist, als sich dadurch Körper-, Gender-, emo­ tions- und politikgeschichtliche Aspekte zusammenbringen lassen.10 Dabei war das Faktum einer Frau auf dem Thron weder in der Geschichte Spaniens noch im europäischen Umfeld der Zeitgenossen ein Einzelfall. Schon damals wurde die Katholische Königin Isabella I. von Kastilien ebenso als Vergleichsmaßstab herangezogen wie Queen Victoria.11 An der Geschlechtszugehörigkeit allein konnte der Misserfolg Isabellas also nicht gelegen haben. Ganz im Gegenteil ist sogar die These geäußert worden, dass sich gerade das »Frausein« in die Entwicklung des Konstitutionalismus im 19. Jahrhun9 Vgl. dazu Arno J. Mayer, The Persistence of the Old Regime, New York, 1981. Ebenso Dieter Langewiesche, Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2013. Dabei waren die Monarchien keineswegs gleichermaßen erfolgreich, was schon ein Blick auf Frankreich lehrt, dessen Königsherrschaft gleich mehrfach zur »monarchie impossible« wurde (vgl. Pierre Rosanvallon, La monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, Paris 1994). Doch anders als in Frankreich war der Monarchismus in Spanien tiefer verwurzelt, hier wurde die Monarchie als traditions- und integrationsstiftendes Ordnungselement lange hoch geschätzt. 10 Zur jüngeren Auseinandersetzung mit emotionsgeschichtlichen Themen vgl. Bettina Hitzer, Emotionsgeschichte  – ein Anfang mit Folgen; in: H-Soz-u-Kult, 23.11.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011–11–001 [letzter Zugriff: 15.6.2014]. 11 Zu den Vergleichen mit Isabella I. von Kastilien vgl. u. a. Vilches, Isabel II., S. 201–204; Riego, S.  11; wie sehr schon den Zeitgenossen die Queen als Folie für die Beurteilung Isabellas diente, ergibt sich aus dem Auftrag von Salustiano de Olózaga an die seit 1841 mit der Erziehung Isabellas beauftragte Gräfin Espoz y Mina, »Siga usted preparándonos otra reina Victoria«, zitiert in: Isabel Burdiel, Isabel II: un perfil inacabado; in: Dies. (Hg.), La política en el reinado de Isabel II, Madrid 1998, S. 187–216, 199. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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dert ideal fügte, im Rahmen dessen es zur »Feminisierung der Monarchie« gekommen sei.12 Die Machtbeschränkung des Monarchen beschrieb David Cannadine als »Entmännlichung«, die nun vor allem »weiblichen« Charaktereigenschaften weiten Raum gegeben habe, wie Häuslichkeit, Passivität, Mutterschaft und einer gewissen Prunksucht.13 So sei insbesondere die Herrschaft Victorias davon geprägt, dass parallel zum Rückgang der politischen Macht das symbolisch Dekorative in den Vordergrund getreten sei.14 So umstritten die Thesen vom politischen Bedeutungsverlust der Krone im 19. Jahrhundert auch sein mögen – vollkommen unstrittig ist, dass der Anschein bürgerlicher Familienharmonie und die offenkundige Akzeptanz bürgerlicher Frauenideale der britischen Königin Anerkennung eintrugen. So wurde anlässlich ihres Todes gerade ihre »true womanhood« bzw. ihre »pure womanliness« als Ursache ihrer Größe hervorgehoben.15 Dieser Entwicklung aber steht die Monarchie Isabellas entgegen. In mancherlei Hinsicht hinterfragt sie das Narrativ der »Feminisierung« in seinen beiden Kernbereichen: erstens der politischen Entmachtung und zweitens der Übernahme bürgerlicher Leitvorstellungen vom angemessenen weiblichen Verhalten. Dabei wurde ihr insbesondere die beobachtete, diskutierte und akzentuierte Abweichung von dieser »Norm« des viktorianischen Weiblichkeitsideals zum Verhängnis. Die Diagnose eines solchen Normverstoßes geriet zum entscheidenden diskursiven Argument bei der Delegitimierung ihrer Herrschaft, was nicht nur den Sturz, sondern auch die dauerhafte Stigmatisierung Isabellas bedingen sollte. Im Vordergrund stehen dabei im Folgenden die Wahrnehmung der weiblichen Aspekte Isabellas durch die politische Elite und die zeitgenössische Öffentlichkeit, bzw. die Intentionen, mit 12 Vgl. Clarissa Campbell Orr, The feminization of the monarchy 1780–1910: royal masculinity and female empowerment; in: Andrzej Olechnowicz (Hg.), The Monarchy and the British Nation, 1780 to the Present, Cambridge 2007, S. 76–107. Zu den Thesen, wonach Victoria durch die Übernahme bürgerlicher Rollenerwartungen bzgl. weiblichen Verhaltens zum idealen Symbol der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts geriet, vgl. schon Margaret Homans: »To the Queen’s Private Apartements«: Royal Family Portraiture and the Construction of Victoria’s Sovereign Obedience; in: Victorian Studies 37 (1993), S. 1–40, S. 2 f. 13 David Cannadine, From biography to history: writing the modern British monarchy; in: Historical Research 77 (2004), S. 303. Zugleich hinterfragt Campbell Orr diese These, indem sie auf die nach wie vor politisch bedeutsame Rolle Victorias verweist, vgl. Campbell Orr, Feminization, S. 78. 14 Entsprechend subsummiert Cannadine die britische, ab 1876 imperiale Symbolpolitik der »Empress« Victoria unter dem Stichwort »Ornamentalism«. David Cannadine: Ornamentalism: How the British Saw Their Empire, London 2002, zur Rolle der Monarchin im Rahmen eines politischen Machtverlustes vgl. ebd., S. 101 ff. 15 Zitiert in: Adrienne Munich, Queen Victoria’s Secrets, New York 1996, S. 11. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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denen spezifische Bilder von ihr gezeichnet und verbreitet wurden, wobei es den ereignisgeschichtlichen Umständen der Entstehung dieser Bilder Rechnung zu tragen gilt, weil andernfalls der extreme Wandel der Wahrnehmung nicht nachzuvollziehen wäre.16

»La niña inocente« – Das unschuldige und verletzliche Mädchen Die Charakterisierung Isabellas als »unschuldiges Mädchen« prägte die liberale Publizistik in den Jahren 1833–1846. Damit ist jene Zeitspanne umfasst, die von der Proklamation der Dreijährigen zur Königin über deren Volljährigkeitserklärung im Alter von 13 Jahren bis zur Verheiratung der Sechzehnjährigen 1846 reichte. Mit dem Topos der »Unschuld« übernahm der öffentliche Diskurs wertorientierte Argumentationsmuster aus dem religiösen Feld, die sich bezüglich der positiven Deutung der »Unschuld« als eines schützenswerten weiblichen Gutes mit den genderspezifischen Denkmustern der bürgerlichen Gesellschaft deckten. Andere rekurrente Begriffe wie »Ángel«17 (Engel) bei der Bezeichnung Isabels bestärkten dieses Zusammengehen religiöser und bürgerlicher Diskursmuster, setzte sich doch in dieser Zeit das Ideal des »ángel doméstico«, des häuslichen Engels, als feminines Leitbild breiter bürgerlicher Schichten – auch – in Spanien durch.18 Dabei waren dieser allgemeinen Konnotation drei weitere Assoziationen eingeschrieben, die sich aus dem ereignisgeschichtlichen Kontext ergaben. Erstens wurde die mädchenhafte Unschuld als Symbol eines politischen Neubeginns gelesen, der als Garant von Frieden und Eintracht galt: als »Iris de paz«19 (Augapfel

16 Der folgende Teil ist (weitgehend) publiziert unter Birgit Aschmann, Von der »niña inocente« zur »ilustre prostituta«. Techniken der Apologie und Delegitimierung der spanischen Königin Isabella II. über den Genderdiskurs; in: Claudia Jarzebowski/Anne Kwaschik (Hg.), Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne, Göttingen 2013, S. 217–240. 17 Als ein Beispiel für die vielen Bezeichnungen als »ángel« siehe die Apologie Isabellas als »ángel deseado« im Gedicht von Venancio Huarte in Jaén, zitiert in: Vilches, Isabel II., S. 33. 18 Zum Idealbild der bürgerlichen Frau als »häuslichem Engel« in Spanien vgl. das Kapitel »Family Values« in: Lou Charnon-Deutsch, Fictions of the Feminine in the NineteenthCentury Spanish Press, Pennsylvania 2000, S. 53 ff. 19 Jorge Vilches zufolge war es der bekannteste Topos, der mit Isabella während ihrer Kindheit verknüpft und vor allem in den Jahren 1835–43 von den Progressisten verbreitet wurde, vgl. Vilches, Isabel II., S. 21. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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des Friedens) und »símbolo de unión«20 wurde die kleine Isabella gefeiert. Doch gerade die Intensität, mit der Isabella zugleich als »iris de esperanza«21, also als Inkarnation des Prinzips Hoffnung, beschrieben wurde, verrät, wie wenig die mit Isabella verknüpften Friedens- und Einheitserwartungen mit der Gegenwart zu tun hatten. Ganz im Gegenteil war ja gerade Isabella seit ihrer Geburt zum Streitobjekt ideologisch verhärteter, politischer Kontrahenten geworden, die sich – zumindest vordergründig – um die Bedeutung ihrer Geschlechtszugehörigkeit stritten. Der Konflikt mündete schließlich in den siebenjährigen sogenannten »Karlistenkrieg«. Die Betonung der »Unschuld« der kindlichen Königin galt daher erstens dem Bestreben, den Makel des Bürgerkriegs vergessen zu machen und mit den emotional positiv besetzten, urchristlichen Konzepten des Friedens, der Eintracht und der Hoffnung zu verknüpfen. Dies war für die religiös geprägte spanische Gesellschaft umso wichtiger, als nicht nur die konservativen Mächte Europas, sondern auch der Vatikan Isabella die Anerkennung zunächst versagten. Zweitens konnte die junge Monarchin über den »Unschuldsdiskurs« als inhaltliche Leerstelle, als unbeschriebenes Blatt dargestellt werden, das nun nach eigenen politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen zu gestalten war. So wurde Isabella gerade wegen der allgemein vorausgesetzten Machtlosigkeit, bedingt durch Alter und Geschlecht, zur Projektionsfläche politischer Partikularinteressen der durchaus heterogenen Gruppierungen innerhalb des liberalen Lagers. Die Demonstration von Anhänglichkeit entsprach dabei einer unausgesprochenen Umarmungsstrategie, die im Gegenzug für Liebe und Enthusiasmus eine klare Festlegung auf konkrete politische Inhalte einforderte. Die emotionale Disposition, d. h. die schwärmerische Verehrung der kindlichen Königin, ging also fest mit spezifischen politischen Erwartungen einher. Zu den liberalen Kernbestandteilen zählte die Festlegung Isabellas auf eine Verfassung. »Viva Isabel II. constitucional«, lauteten Hochrufe schon während des Aufstandes 1836, der aus Furcht vor einem restaurativen Schwenk der Regentin ausgebrochen war,22 und Bildnisse verpflichteten Isabellas Monarchie auf die Konstitution von 1837. Diese Vereinnahmungen gingen umso leichter vonstatten, als von dem »unschuldigen Kind« kein Widerspruch zu erwarten war. Doch da alternative Gruppierungen mit divergierenden, wenn nicht gar inkompatiblen Vorstellungen das

20 So Fermín Caballero in Eco del Comercio vom 30.7.1836. 21 Vgl. u. a. die Presse selbst auf Kuba: Diario constitutional, Santiago de Cuba, 19.11.1836, wiedergegeben bei Vilches, Isabel II., S. 20. Zur Hoffnung, die sich auf Isabella konzentrierte, siehe auch ebd., S. 18. 22 Vgl. Vilches, Isabel II., S. 23. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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»unschuldige Kind« nicht minder für sich beanspruchten, schlummerten in der schwärmerischen Verehrung als »símbolo de unión« Inkohärenzen, die früher oder später zu Enttäuschungen und Kollisionen führen mussten. Ein drittes Element des »Unschuld«-Topos barg die Logik, wonach die Unschuld ein empfindliches, flüchtiges Gut war, weshalb sie des besonderen Schutzes bedürfe. Tatsächlich lässt sich beobachten, wie mit dem Vorwurf gegenüber anderen, dem unschuldigen Mädchen zu nahezutreten, ebenso Politik gemacht wurde wie mit der Selbststilisierung zur unverzichtbaren Schutzmacht. Wie sehr der Körper der Königin zum Symbol der Macht geworden war, ergab sich schon daraus, dass sie selbst im Kreise der Verwandtschaft als »prenda«, als Pfand, bezeichnet wurde, über welches zu verfügen die eigene Machtstellung bedingte.23 Nirgends verdichtete sich dies derart wie im Skandal vom November 1843, als der progressistische Regierungschef Salustiano de Olózaga die Unerfahrenheit der jüngst für volljährig erklärten Königin nutzen wollte, um eine Regierungsumbildung im eigenen Interesse voranzutreiben. Als dies die konservative Kamarilla am Hofe erfuhr, gelang es ihr, den Spieß umzudrehen, indem nunmehr der Regierungschef mittels des Vorwurfs, der Königin körperlich zu nahe gekommen zu sein, skandalisiert wurde. Angesichts der öffentlichen Empörung, die sich umso leichter erregen ließ, als Isabella durch die bisherigen Formen der Apologie als ebenso unschuldig wie verletzlich dargestellt worden war, musste der Politiker Olózaga um sein Leben fürchten und das Land verlassen. Doch war der Erfolg der Kontrahenten insofern ein Pyrrhussieg, als die öffentliche Austragung der Debatte um die vermeintlichen Schändlichkeiten dem Ansehen der Königin nur schaden konnte. Dass eine Woche lang im Kongress über die Glaubwürdigkeit der Monarchin diskutiert wurde, die als Opfer die fragwürdigen Handgreiflichkeiten des Politikers bezeugen sollte, konnte ihrem Prestige nur abträglich sein, zumal sie nun eindeutig innerhalb des zerklüfteten liberalen Lagers für die konservative Linie, die »moderados«, Partei beziehen musste. Damit hatte sich zugleich erstmals die Vorstellung, Isabella könnte über den Parteien stehend vermitteln, als genau die Fiktion erwiesen, die sie von Beginn an gewesen war.24 Als ebenso trügerisch erwies sich die Annahme, dass ein Gatte an ihrer Seite Isabella lenk- und berechenbar machen würde, schon weil die Ehe zwischen Isabella und Francisco de Asís bald nur noch auf dem Papier bestand.

23 Siehe Burdiel, Isabel II. 2004, S. 167. 24 Zum »incidente Olózaga« vgl. Burdiel, Isabel II. 2011, S. 119–150; Dies. Isabel II. 2004, S. 225–236; Vilches, Isabel II., S. 34–49. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Die Heirat und ihre Folgen Die Geschichte ihrer Beziehung ist schnell erzählt: Nachdem sich die internationalen Mächte, konkret Frankreich und Großbritannien, darauf verständigt hatten, dass ausschließlich ein spanischer Bourbone als Heiratskandidat in Frage käme, einigten sich die führenden Liberalen und die Mutter der Braut auf deren Cousin Francisco de Asís, einen Sohn des jüngsten Bruders von Ferdinand VII.25 Im Oktober 1846 wurde die Ehe geschlossen, doch nur wenige Monate nach der Hochzeit kam es zum Eklat, als Isabella nunmehr die Zeit ostentativ mit einem Liebhaber verbrachte.26 Das Zerwürfnis wurde vollends dadurch öffentlich, dass Francisco sich weigerte, seine Gattin im darauffolgenden Jahr in den Sommerpalast zu begleiten. Nachdem der Lieb­ haber mit einer Beförderung und einer stattlichen Summe Geldes bestochen werden konnte, kam es zur Versöhnung der Eheleute, die jedoch schon deshalb vordergründig blieb, weil Isabella auch weiterhin dazu neigte, emotionale und sexuelle Bestätigung außerhalb der Ehe zu suchen. Die Auswirkungen dieser Hochzeit waren wegen ihrer diplomatischen Rückwirkungen für die internationale Geschichte Europas bedeutsam, schließlich zerbrach an ihnen die Entente cordiale zwischen England und Frankreich von 1834, da sich die Briten durch die Wahl von Francisco zum einen und durch die vereinbarungswidrig zeitgleich erfolgte Verheiratung der Schwester Isabellas mit dem Herzog von Orléans düpiert fühlten.27 Zu diesen außenpolitischen Verwicklungen kamen die innenpolitisch desaströsen Folgen der Doppelhochzeit hinzu. Gerade das eheliche Verhalten des Königspaars trug in entscheidendem Ausmaß zur Destabilisierung der politischen Macht innerhalb Spaniens und langfristig zu einem Legitimationsverlust der Monarchie bei. Zu diesen Zersetzungserscheinungen konnte es nicht zuletzt deshalb kommen, weil es innergesellschaftlich keinen Konsens bei der Beurteilung von Isabellas Verhaltens gab, bis sich schließlich – multifaktoriell bedingt – doch eine gruppenübergreifende Ablehnung 25 Zur Anbahnung der Ehe sowie den persönlichen, internationalen und nationalen Dimensionen vgl. das Kapitel »Aquel desacierto insigne: Historia de un matrimonio«; in: Burdiel, Isabel II. 2011, S. 159–181; übereinstimmend Dies., Isabel II. 2004, S. 251–294; Vilches, Isabel II., S. 51–92. 26 Zur Krise der jungen Ehe, die als »Palastfrage« (cuestión de Palacio) in die Archive einging, vgl. u. a. Burdiel, Isabel II. 2004, S. 298–334. Vilches berichtet diese Episode unter dem Titel: »El escándalo«, vgl. Ders., S. 93–132. 27 Zu den internationalen Auswirkungen der »Spanischen Heiraten« vgl. das diesbezügliche Kapitel in Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878, Paderborn 1999, S. 302–305. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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durchsetzen konnte. Gerade weil der Umgang Isabellas mit ihrem Mann so kontrovers beurteilt wurde, sollen kurz die zugrunde liegenden Verhaltensweisen skizziert und deren mögliche Ursachen reflektiert werden. Zunächst erstaunt die Heftigkeit, mit der Isabella dem Gatten, den zu heiraten sie trotz ersten Zögerns schließlich zugestimmt hatte, den Rücken kehrte. Zugleich unterstrich das gesamte Verhalten Isabellas einen emotionalen Ausnahmezustand.28 Quellenberichte deuten darauf hin, dass sich die 16jährige nach der passiven Fügung in das ihr zugewiesene Eheschicksal plötzlich reaktiv ihrer Individualität, ihrer Körperlichkeit und ihrer Macht besann. Gefühle, so schrieb Ute Frevert, dokumentieren »eine spezifische Qualität des Individuums, sich seiner Existenz zu versichern (…) und sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen.«29 In der emotionalen Reaktion und im körperlichen Verhalten Isabellas manifestierte sich hier eine Identitätsfindung in dezidierter Abkehr von dem, was aktuell von ihr erwartet wurde. Das devote Verhalten gegenüber der Mutter, die sie für das Ehearrangement verantwortlich machte, war einem blanken Hass gewichen und der Tagesrhythmus durch neue Prioritäten für Vergnügungen derart durcheinander geraten, dass für die politischen Absprachen mit den Ministern kaum Zeit noch blieb.30 Wie sehr die politischen Pflichten hinter ihren privaten Neigungen zurücktraten, zeigte sich, als Isabella bereit war, im Interesse ihres neuen Liebhabers die Regierung umzubilden.31 Jetzt rächte es sich, dass der konservative Flügel der Liberalen 1845 eine neue Verfassung durchgesetzt hatte, welche der Königin erhebliche Vorrechte einräumte.32 Nun aber war die gedachte Ordnung auf den Kopf gestellt: Isabella, über deren Körper bislang die anderen verfügt hatten, zeigte demonstrativ, dass sie jetzt selbst bestimmen wollte, wem er gehörte. War ihr Körper für andere ein Instru28 Ein Symbol für diesen Ausnahmezustand war die zwischenzeitliche Weigerung, »normal« mit ihrem Privatsekretär Juan Donoso Cortés, dem Vertrauten ihrer Mutter und v. a. deren Gatten, zu kommunizieren. Donoso Cortés schrieb entnervt von einer Begegnung mit der Königin, in welcher sie ausschließlich singend auf seine Fragen ge­a ntwortet habe, so Schreiben von Donoso Cortés an Fernando Muñoz, 21.3.1847; wiedergegeben in Burdiel, Isabel II. 2004, S. 304. 29 Ute Frevert, Gefühle definieren: Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten; in: Dies. u. a., Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M., 2011, S. 9–39, S 13. 30 Vgl. Burdiel, Isabel II. 1998, S. 204; Vilches, Isabel II., S. 95. 31 Siehe Burdiel, Isabel II. 2004, S. 304 f. 32 Zur Verfassungsentwicklung in der isabellinischen Ära vgl. Miguel Herrero y Rodríguez de Miñon, El significado constitucional del reinado de Isabel II; in: Ders./Juan Velarde Fuertes, Isabel II. Conmemoración del primer centenario de su fallecimiento, Madrid 2004, S. 17–34. Der Verfasser kommt immerhin zu dem bemerkenswerten Ergebnis, die isabellinische Herrschaft sei »una isla de estabilidad política« gewesen, ebd., S. 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ment der Politik gewesen, so macht sie die Politik nunmehr zum Instrument ihres Körpers. Zu der Zurückhaltung, die gemäß bürgerlicher Leitbilder einerseits von der Ehefrau und andererseits von einer konstitutionellen Monarchin erwartet wurde, stand dies in diametralem Kontrast. Dass sich Isabella über die massiven Bedenken brüskierter Politiker und Familienmitglieder ungeniert hinweg setzte, mag erstens damit zu tun gehabt haben, dass sich ihr »emotionaler Stil« und entsprechend ihre politischen und privaten Verhaltensmuster eher an einem absolutistischen bzw. aristokratischen Modell orientierten. Hinzu kam, dass sich gerade in ihrem engeren Familienumfeld die Frauen mehrfach ganz freizügig so verhielten, wie es ihren emotionalen bzw. sexuellen Wünschen entsprach. Isabellas Mutter hatte rechtliche Vorgaben missachtet, um dauerhaft mit einem ehemaligen Unteroffizier der königlichen Garde zusammenleben zu können, der die Regentin nicht nur emotional, sondern auch politisch beeinflusste.33 Ihre Tante Luisa Carlota, eine Schwester María Cristinas, hatte aus ihren außerehelichen Verbindungen ebenso wenig einen Hehl gemacht wie aus ihrer Verachtung für den eigenen Gatten. Zu guter Letzt waren die Erinnerungen an das Verhältnis der Großmutter, Maria Luisa von Parma, Gattin von Karl IV., mit dem Ersten Minister Manuel Godoy Teil des kollektiven Gedächtnisses der Zeitgenossen.34 Es liegt nahe anzunehmen, dass Isabella angesichts dieser Vorbilder nicht das Gefühl dafür entwickelte, ihr Verhalten sei allzu deviant. Zweitens wurde sie darin zunächst von auswärtigen und spanischen Ratgebern bestärkt, die Anhänger der linksliberalen Progressisten waren, aus deren Lager der neue Liebhaber stammte, und die nun berechtigterweise davon ausgingen, aus den Leidenschaften der Königin politischen Profit schlagen zu können.35 Dabei war das Verhalten des britischen Botschafters seinerseits in besonderer Weise von Emotionen gelenkt, fühlten sich doch gerade die Briten durch das gesamte Hochzeitsarrangement zutiefst provoziert, schließlich war die Schwester Isabellas ganz gegen vorangegangene Vereinbarungen

33 Siehe Burdiel, Isabel II. 2011, S. 53. 34 Schon die Beziehungen zwischen Maria Luisa von Parma und Manuel Godoy waren zu ihren Lebzeiten Zielscheibe einer Kritik gewesen, die sich in Form politischer Porno­ graphie artikulierte. Zum ehelichen Verhalten der älteren Schwester der Mutter von Isabella II., Luisa Carlota, vgl. Burdiel, Isabel II. 2011, S. 27. Im Übrigen zeigen die Reaktionen von Francisco de Asís, wie sehr ihm das abschreckende Beispiel des betrogenen Großvaters als Menetekel vor Augen stand, so z. B. wenn er im August 1847 gegenüber einem Vertrauten den Liebhaber seiner Frau mit Manuel Godoy verglich: »¡Serrano! ­¿Sabes lo que es? Un Godoy fracasado.« Zitiert in: Burdiel, Isabel II. 1998, S. 207. 35 Zur Reaktion der spanischen Progressisten auf die Ankündigung der Heirat siehe u. a. Vilches, S. 83. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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vorzeitig einem Sohn des französischen Königs angetraut worden.36 Ent­ sprechend bestärkte der britische Botschafter Bulwer die Königin in ihren Passionen für den »schönen General«, wie Isabella ihren Favoriten nannte.37 Auch wurde die britische Presse zum süffisanten Resonanzraum jener Gerüchte, die in den Straßen Madrids die vermeintlichen Gründe für die Abneigung Isabellas gegenüber ihrem Gatten kolportierten, was auf einen dritten Grund für das abweichende emotionale Verhalten Isabellas hinweist. Schon vor der Ehe waren Zweifel an dessen Männlichkeit bzw. Vermutungen über seine homosexuellen Neigungen laut geworden. Zudem wurden Coplas gesungen, die das von der Norm abweichende Urinalverhalten des Königsgemahls karikierten.38 Auf diese Weise wurden die physischen Defizite Franciscos, der offenbar an einer Hypospadie, einer angeborenen Harnröhrenanomalie litt, zum Stadtgespräch.39 Dies dürfte neben den politischen Präferenzen für den Progressismus ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dass die Bevölkerung Madrids auf den Ehebruch Isabellas überaus verständnisvoll reagierte. Die Akklamationen auf den Straßen, die sie gemeinsam mit dem Liebhaber General Serrano, der in seiner männlichen Attraktivität das genaue Gegenbild Franciscos war, hochleben ließen, verdeutlichten die anhaltende Popularität der Königin.40 Dass diese Popularität zu seinen Lasten ging, dürfte eines der entscheidenden Motive dafür gewesen sein, dass der mehrfach enttäuschte Francisco zur Gegenoffensive ansetzte. An der Liebe der Gattin war ihm nicht gelegen, zumal er offenherzig zugab, auch seinerseits nichts für sie zu empfinden. Dass sie sich aber weigerte, »ihre Rolle zu

36 Zu den Vorwürfen der Briten vgl. u. a. die in The Times abgedruckten Briefe von Lord Palmerston an die französische Regierung vom 22.9.1846 sowie die französischen Reaktionen in: The Times, 14.1.1847; 15.1.1847. 37 Der britische Botschafter Bulwer und der spanische Finanzminister Salamanca schürten offenbar intentional den Hass der Eheleute aufeinander und rieten der Königin zur Scheidung, vgl. Vilches, S. 107f, S. 112. Insbesondere Salamanca versuchte, aus den sexuellen Neigungen der Königin Kapital zu schlagen; entsprechend animierte er sie zu weiteren Abenteuern, schürte ihre Libido durch die Zusendung obszöner Zeitschriften und arrangierte Treffen mit potentiellen Sexualpartnern, ebd., S. 119. 38 Lieder und Bilder spielten schon deshalb innerhalb der spanischen Gesellschaft eine große Rolle bei der Beeinflussung der Öffentlichkeit, weil der hohe Grad des Analpha­ betismus die alternative Zurkenntnisnahme gedruckten Materials erschwerte. Um 1900 waren nur 45 Prozent der Spanier des Lesens und Schreibens kundig, vgl. zur ge­ sellschaftlichen Entwicklung u. a. Santos Juliá, Un siglo de España. Política y sociedad, Madrid 1999. 39 Vgl. Burdiel, Isabel II. 1998, S. 203; Vilches, Isabel II., S. 79 f. 40 Burdiel, Isabel II. 1998, S. 205. Dass, wie Vilches nahelegt, die Akklamationen nur von den progresistas gekauft worden waren, will in Anbetracht der Massen, die sich enthu­ siasmiert zeigten, nicht überzeugen, vgl. Vilches, Isabel II., S. 115. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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spielen«41 und »die Formen zu wahren«42, empfand er explizit als »grausam« und »schikanös«.43 Er hatte die demütigende Präsenz des Liebhabers zu erdulden, musste sich seine Hoffnungen auf die Übernahme politischer Macht abschminken und durfte nicht einmal »Herr im eigenen Hause sein.«44 Seine Versuche, das Verhalten der eigenen Gattin zu skandalisieren, trafen kurzfristig auf keine Resonanz, waren aber langfristig desaströs sowohl für Isabella als auch die Monarchie. In einer Zeit, in der sich europaweit bürgerliche Normvorstellungen über eheliches Verhalten und Hierarchien der Geschlechter durchsetzten und zudem immer wieder Korrelationen zwischen dem Familienglück der Monarchen und dem Wohl der Nation konstruiert wurden, entwickelte sich das Image der zerrütteten Ehe bald zu dem Handicap der Königin. Zumal sich nach und nach diejenigen von Isabella abwandten, die es aus Gründen politischer Opportunität zunächst für nützlich gehalten hatten, sie zu unterstützen.

Delegitimierung Isabellas über den Genderdiskurs Zunächst gingen die Briten zu ihr auf Distanz, nachdem der progressistische Liebhaber Isabellas entfernt und durch einen konservativen ersetzt worden war. In der diplomatischen Berichterstattung überwog plötzlich eine überaus negative Beschreibung Isabellas. Ihr Charakter, so der jetzige britische Botschafter Otway am 16.7.1854 an seinen Minister, sei eine Mischung aus »Extravaganz und Wahnsinn, kapriziösen Phantasien, perversen Absichten und grundsätzlich schlechten Neigungen«.45 Der Umstand, dass in diesem Schreiben gleich mehrfach der Begriff »pervers« verwandt wird, verweist auf die Bedeutung der Sexualität im Rahmen des Delegitimierungsdiskurses der nächsten Jahre. Dass aber die britischen Diplomaten sich erst an der sexuellen Praxis der Königin zu stoßen begannen, nachdem sich diese für sie nicht mehr nutzen ließ, nährt die Vermutung, dass es nicht allein die Hegemonie 41 Francisco äußerte gegenüber einem Vertrauten: »He querido siempre salvar las apariencias (…) pero Isabelita es menos flexible que yo, o más violenta, y no ha querido desempañar su papel, hacer el sacrificio que pedía el bien de la nación.« Zitiert in: ebd., S. 203. 42 Vgl. ebd., S. 207. 43 »No era necesario vejarme«, klagte Francisco, vgl. ebd. 44 »Quiero ser el amo de mi casa«, beteuerte Francisco, vgl. ebd., S. 203. 45 »Un carácter tan peculiar que es casi imposible de definir y que tan sólo puede ser comprendido imaginando un compuesto simultáneo de extravagancia y locura, de fantasias caprichosas, de intenciones perversas y de inclinaciones generalmente malas.« (PRO, FO 72/844, Nr. 48), zitiert in: Burdiel, Isabel II., 1998, S. 187. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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bürgerlicher Familienbilder war, was das Verhalten der Königin zunehmend in Kritik geraten ließ. Vor allem boten sie eine Ebene symbolischer Kommunikation, hinter der sich politische Interessen vortrefflich verbergen ließen. Erneut wurde der Körper Isabellas zur Projektionsfläche politischer Vorstellungen. Nachdem sie mehr und mehr die liberalen Projekte zu verraten schien, wurde ihr in einer Druckgraphik aus den späten 1850er Jahren der Verfall der konstitutionellen Monarchie in die Gesichtszüge geschrieben.46 Dabei galt das Gesicht traditionell als »image of the soul«, als authentischster Ausdruck von Ideen und Emotionen.47 So diente das Bild dazu, eine Monarchin zu decouvrieren, deren Ideen und Emotionen mit den Konzepten des Liberalismus nicht in Einklang zu bringen waren. Auszeichnungen hätte – so legte die Zeichnung nahe – sie sich nur erworben durch Bereicherungen, Undankbarkeit, Ignoranz (verdeutlicht durch Bücher auf dem Scheiterhaufen) und Grausamkeit: Auf dem Orden wird eine Hinrichtung mit der spanischen Garrote dargestellt.48 Der exekutierte liberale General Zurbano liegt mit seinen Söhnen ihr auf der Brust und versinnbildlicht ebenso wie die zahlreichen Totenschädel das inhumane Regiment einer Königin, die über Leichen geht – wie sie auch die Gefühle anderer missachtet: An den Zacken der Krone sind vier durchbohrte Herzen aufgespießt: Die Buchstaben darüber verweisen auf die bisherigen Liebhaber der Königin. Der schlaffe, gleichgültige Gesichtsausdruck akzentuiert eine Kaltherzigkeit, die jedes menschliche Mitgefühl vermissen lässt – und das, wo gerade die Fähigkeit zum Mitleiden und Mitfühlen seit dem 18.  Jahrhundert zur bürgerlichen Kardinaltugend avanciert war.49 Das Gesicht selbst, und damit Spiegel von Geist und Seele, ist vollkommen von Klerikalen beherrscht (Papst, Mönchen und Nonnen), und über allem thront die umstrittenste Nonne Spaniens: Sor Patrocinio, das personifizierte Feindbild der spanischen Progressisten.50 Es war nicht zuletzt 46 Die Druckgraphik in Form damals gängiger Visitenkarten fand Isabel Burdiel unter Zeichnungen aus der Hand der jugendlichen Isabella, die ihre Mutter María Cristina sammelte, und welche jetzt im Archivo Histórico Nacional zu finden sind; abgedruckt in: Burdiel, Isabel II., 2004, S. 11. Zum Fundort vgl. ebd., S. 13. 47 Zu den Zitaten vom Ende des 18. Jahrhunderts aus der Encyclopaedia Britannica vgl. Anne Schmidt: Gefühle zeigen, Gefühle deuten; in: Frevert, Gefühlswissen, S.  65–92, S. 71. 48 Undankbarkeit und Grausamkeit gehörten neben der Unmoral zu den offenbar obligatorischen Bestandteilen des Diskreditierungsdiskurses, vgl. u. a. Vilches, Isabel II., S. 266, 321, S. 336. 49 Siehe Frevert, Gefühle definieren, S. 20. 50 Zur Ordensschwester, die in den 1830er Jahren die Madrider Gesellschaft im Zug eines Prozesses, der die Authentizität ihrer Stigmata prüfen sollte, in Anhänger und Gegner spaltete, vgl. das Kapitel: Sor Patrocinio. La Monja de las Llagas (1811–1891); in: Julián Moreiro, Españoles excesivos, Madrid 2008, S. 185–239. Der progressistischen Regierung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Isabellas Hinwendung zu den Klerikalen aus der Kamarilla ihres Mannes, die Mitte der 1850er Jahre die Abkehr der Liberalen von Isabella bewirkte. In den 1860er Jahren zehrten politische Fehlentscheidungen das letzte Vertrauensreservoir der Liberalen in die Monarchin auf. Doch in breiten Bevölkerungskreisen wurde Isabella nach wie vor geschätzt. Auf Phasen dominierender Diskreditierung waren immer wieder solche der Wertschätzung gefolgt, welche sich aus dem positiven Parallelbild speiste, das seit ihrer Geburt existierte.51 Der missglückte Attentatsversuch des Priesters Merino ausgerechnet in dem Moment, in dem die junge Mutter mit ihrer neugeborenen Tochter erstmals in der Öffentlichkeit erschien, hatte 1852 eine neue Welle der Sympathie für die junge Königin ausgelöst.52 Diese ebbte allerdings im Rahmen der schweren politischen Krise 1854–1858, die Isabella beinahe den Thron gekostet hätte, schnell wieder ab. Unter der Regierung O’Donnell (1858–1863) trugen wiederum wirtschaftliches Wachstum und außenpolitische Erfolge maßgeblich zur Konsolidierung der innenpolitischen Lage und der Wahrnehmung Isabellas bei.53 Diese positive Wahrnehmung der Königin erlitt einen irreparablen Bruch, als Isabella im Jahre 1866 insgesamt 87 Militärs, die sich an einem blutig niedergeschlagenen antimonarchischen Putsch beteiligt hatten, erbarmungslos exekutieren ließ.54 Auch diejenigen Politiker und Militärs, die Isabella bisher loyal unterstützt hatten, wandten sich nun von ihr ab. Aber weiterhin koexistierte in breiten Kreisen das Bild der volkstümlichen Königin, der »reina castiza«.55 Deshalb bedurfte es nun forcierter publizistischer Anstrengungen, diese Popularität durch Gegenpropaganda zu durchkreuzen. Es war insofern

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war ihre Spiritualität nicht zuletzt deshalb zum politischen Problem geworden, weil sie in ihren Visionen Siege der Karlisten vorherzusehen schien und der Regentin die Legitimität absprach, vgl. u. a. ebd., S. 207. Diese Diskreditierung María Cristinas weckte das Interesse von deren Schwester, Luisa Carlota, welche die Ordensfrau mit der geistigen Betreuung ihrer Söhne betraute. Dieserart wurde Sor Patrocinio früh zur Vertrauensperson von Francisco de Asís. Zur These der überdauernden Koexistenz beider – konträrer – Bilder von Isabella in der spanischen Gesellschaft, siehe Vilches, Isabel II., S. 9. Ebd., S. 149–154; Burdiel, Isabel II. 2011, S. 239 f. Die unklaren Motive des Franziskaners Martín Merino stimulierten Spekulationen, die schließlich die Urheberschaft bei Francisco de Asís selbst vermuteten. In Abschnitten, die Tagebuchaufzeichnungen gleichen, berichtet Pérez Galdós über das Attentat vom 2.2.1852 und die anschließenden Sympathiebekundungen, die sich zur »idolatría« steigerten; in: La revolución de julio; in: Obras Completas, Bd. 3: Episodios Nacionales, Madrid, Neuausgabe 1970, S. 9–12, Zitat S. 11. Vgl. u. a. José Sánchez Jiménez, La España contemporánea, Madrid 1991, S. 436–441. Zu den außenpolitischen Erfolgen zählte der Marokko-Krieg von 1859, der Isabella kurzfristig erneut als Symbol aller Spanier in den Vordergrund treten ließ. Siehe Vilches, Isabel II., S. 238f; Burdiel, Isabel II. 2011, S. 784 f. Zur »reina castiza« vgl. u. a. Burdiel, Isabel II. 1998, S. 197; Vilches, Isabel II., S. 336. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ein Kampf um Emotionen, als die Sympathien, die Isabella noch in weiten Teilen der Bevölkerung genoss, durch negative Gefühle ersetzt werden sollten. Dazu griffen die Liberalen zum drastischen Mittel politischer Pornographie, welche die Regierungsunfähigkeit Isabellas durch die Unterstellung einer deviant-maßlosen Sexualität nahelegte.56 Der Höhepunkt dieser Strategie war um die Revolution 1868 erreicht, die im Sturz Isabellas mündete. Dass ausgerechnet die von den Moderados, dem konservativen Zweig der Liberalen, protegierten Brüder Gustavo Adolfo und Valeriano Béquer Zeichnungen vorlegten, die Isabella definitiv moralisch diskreditieren sollten, zeigt, wie einhellig Isabella inzwischen von allen politischen Fraktionen fallen gelassen worden war. Die Aquarelle der Brüder Béquer akzentuierten das Bild einer willenlosen, lasziven Femme fatale, die ausschließlich von ihrem »furor uterino« getrieben war.57 Ein ungezügeltes Triebleben aber war aus der Perspektive des Bürgertums das »ganz Andere«, das Unterschichten oder den Habitus von Nichteuropäern kennzeichnete.58 Stärker konnte emotionales Fehlverhalten bzw. der Kontrast zum emotionalen Ideal nicht mehr betont werden. Im westeuropäischen Bürgertum hatte sich längst ein Standard, ein »emotionales Regime« etabliert, an dem das emotionale Verhalten von Frauen gemessen wurde. Dem Brockhaus von 1852 zufolge hatten sie »Repräsentanten der Sitte, der Liebe, der Scham«59 zu sein, und es hatte durchaus mit Victorias nationaler und internationaler Akzeptanz zu tun, dass sie genau diese Prinzipien zu verkörpern schien.60 Umso mehr sticht die abweichende Darstellung 56 Dabei gehört es offenbar seit der Frühen Neuzeit zu den europäischen visuellen Traditionen der Diskreditierung von Frauen, sie in ihrem Status als Geschlechtswesen anzugreifen, vgl. Sabine Alfing, Weibliche Lebenswelten und die Normen der Ehre; in: Dies./ Christine Schwedensack (Hg.): Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld 1993, S. 17–185, S. 179. 57 Die 89 Aquarelle, welche Isabella II. sowie die Personen ihres Umfeldes in eindeutig kompromittierenden, pornographischen Positionen darstellten, entstanden 1868/1869, wurden erstmals 1991 unter dem Pseudonym SEM vom Verlag El Museo Universal veröffentlicht und befinden sich heute in den Beständen der Biblioteca Nacional in Madrid; vgl. SEM: Los borbones en pelota [Valeriano Béquer und Gustavo Adolfo Béquer], hg. von Robert Pageard, Lee Fontanella und María Dolores Cabra Loredo, Madrid 1991. Die Zeichnungen gelten als »Ausnahmewerk in jeder Hinsicht«. Nirgendwo auf der Welt gab es in diesen Zeiten eine vergleichbare Formensprache der Kritik, vgl. ebd., S. 6. Zur Protektion der Brüder durch die Moderados vgl. Robert Pageard, Reflexiones sobre las acuarelas secretas de los hermanos Béquer; in: ebd., S. 13–20, S. 19. 58 Siehe Frevert, Gefühle definieren, S. 14. 59 Vgl. Brockhaus 1852, zitiert in: Frevert, Gefühle definieren, S. 36. 60 Kurt Tetzeli von Rosador, Victorias Disziplinierung des Herzens; in: Kurt Tetzeli von Rosador/Arndt Mersmann, Victoria. Ein biographisches Lesebuch, München 2001, S. 281– 301, S. 289. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Abb. 1: »No seas lividinosa/y tapa, tapa la cosa« (Quelle: SEM: Los borbones en pelota [Valeriano Béquer und Gustavo Adolfo Béquer], hg. von Isabel Burdiel, Zaragoza 2012, S.239 [Bild Nr. 93 des Kataloges])

Isabellas hervor. Sie war, stand unmittelbar vor ihrem Sturz in der Presse zu lesen, »die ekelhafteste aller Prostituierten«.61 So war es nicht zuletzt Ekel, den die Zeichner evozieren wollten, indem sie Isabella als Tänzerin mit bereitwillig geöffneten Beinen darstellten, die zum Blick nach ihren Genitalien einluden.62 Wie sehr die Ordnung der Geschlechter durcheinander geraten war, illustriert nicht zuletzt der erigierte Penis, der auf dem Stab aufgespießt war, den sie anstelle des Zepters in der Hand hält. Dabei kennzeichnet der 61 »La más asquerosa de las prostitutas«, vgl. der Artikel »Dinastías incrustadas por el viente de Isabel de Borbón« El Centinela del Pueblo, 23.7.1868, zitiert in: CharnonDeutsch, Fictions, S. 112. 62 Aquarell Nr.  93 [die Nummerierung entspricht derjenigen, welche die Künstler vor­ genommen und auf ihren Werken hinterlassen haben; sie geht bis Nr. 107. Offenbar sind in der Sammlung einige Zeichnungen verloren gegangen]; abgedruckt in SEM, borbones, S. 371. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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geflügelte Phallus gemäß antiker Bildlichkeit den Ort eindeutig als Bordell.63 Zugleich enthebt die an die Vegetation eines Urwaldes erinnernde Darstellung des Hintergrundes die Szene dem Bereich von Kultur und Zivilisation und ordnet Isabella dadurch dem Triebhaften ungezügelter Natur zu, wodurch verbreitete Topoi des europäischen Genderdiskurses des 19. Jahrhunderts reproduziert wurden.64 Dadurch, dass auf den Bildern die königlichen Insignien zu erkennen sind, die durch das sexuelle Verhalten als entwürdigt dargestellt werden, ist der Diskurs keiner ausschließlich um das normgerechte emotionale und sexuelle Verhalten von Frauen, sondern auch einer um die Monarchie. »When royal bodies become the focus of such interest«, diagnostizierte Lynn Hunt, »we can be sure that something is at issue in the larger body politic«.65 Insofern sind die Aquarelle der Brüder Béquer aussagekräftig, auch wenn über ihren Verbreitungsgrad kurz nach der Entstehung nur spekuliert werden kann – wobei ähnliche Abbildungen und prosaische Beschreibungen damals zuhauf kursierten.66 Durchgängig zeichneten sie eine Monarchin, die sittlich-moralisch-emotional das Schickliche weit hinter sich gelassen hatte. Wer sich aber – so in­ sinuierten die Karikaturen – wahllos den Untertanen als Geschlechtspartnerin anbot, konnte nicht mehr als »Mutter« verehrt werden.67 So wie Gefühle als »gleichsam authentische Signifikanten einer Person« galten und daher vermeintlich erlaubten, auf den »wahren« Charakter rückzuschließen68, galt der Charakter des Monarchen zugleich aber auch als Ausdruck des Zustandes der Nation. Damit hatte der Diskurs schließlich einen erklärenden Charakter innerhalb des Niedergangsnarrativs der spanischen Nation: Wenn es so um die Königin bestellt war, hatte es mit der spanischen Monarchie auch nur bergab gehen können.69 Darüber hinaus wirkte diese Deskription jedoch performativ, indem sie durch die Darstellung des Prestigeverlustes diesen 63 Zum geflügelten Phallus als Hinweis auf ein Bordell vgl. Karl-Wilhelm Weeber, Hier wohnt das Glück; in: Abenteuer Archäologie 1 (2005), S.  35–39, 39; in: www. wissenschaft-online.de/artikel/834419. 64 Zur Zuordnung von Frauen zur Natur und Pflanzenwelt vgl. u. a. Charnon-Deutsch,­ Fictions, S. 15 ff. 65 Lynn Hunt, Eroticism and the Body Politic. Baltimore 1991, S. 108. 66 Siehe u. a. Burdiel, Isabel II. 2011, S. 793. 67 Entsprechend dichtete Manuel del Palacio in der Satirezeitschrift Gil Blas am 8.10.1868: »De los españoles madre/la llamaron con placer,/mas – fue su madre? – No padre/fue tan sólo su mujer«. 68 Siehe Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?; in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208, S. 186. 69 Zum Niedergangsnarrativ in Spanien vgl. u. a. das Kapitel »The Myth of Perpetual­ Decline«; in: Henry Kamen, Imagining Spain. Historical Myths & National Identity, New Haven/London 2008, S. 172–205. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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massiv beschleunigte. Eine Königin, deren Wahrnehmung als »Prostituierte« im Bürgertum hegemonialen Status erlangte, war nicht länger haltbar. Zu guter Letzt kam diesem Diskurs insofern eine ebenso mobilisierende wie legitimierende Funktion zu, als er über die Skandalisierung des Verhaltens Isabellas den Beziehungsbruch rechtfertigte, der mit dem Sturz 1868 voll­zogen wurde. Gegenüber den Auswirkungen dieser negativen Bildpropaganda war Isabella letztlich machtlos. Dabei hatte sie seit der Mitte der 1850er Jahre gezielt an einer Imagerevision gearbeitet, sich weitgehend in ihre Rolle als bürgerliche Monarchin gefügt und den Schein ehelicher Normalität gewahrt. Insofern scheint ihre eingangs angesprochene Ratlosigkeit angesichts der Frage, an wessen Unfähigkeit die eigene Herrschaft gescheitert sei, nicht ganz unplausibel. Ausschlaggebend für das eigene Scheitern dürfte die extreme Pola­ risierung innerhalb der politischen Kräfte Spaniens gewesen sein, welche es der Königin von Beginn an erschwerten, jene integrative Symbolkraft zu entfalten, die das Spezifikum konstitutioneller Monarchien des 19.  Jahrhunderts ausmachte. Aber zu den strukturellen Schwierigkeiten und dem Fehlverhalten anderer kam das eigene Unvermögen hinzu. Ihre ausgesprochene Volkstümlichkeit konnte letztlich das fehlende politische Geschick nicht ausgleichen, zumal – anders als bei Victoria, die ihrerseits auch kein politisches Genie war – niemand an ihrer Seite stand, der das Defizit an Kenntnissen und Begabungen hätte kompensieren können. Als der spanische Romancier Benito Pérez Galdós nach Isabellas Tod im April 1904 deren Herrschaft bilanzierte, zeigte er sich überzeugt, dass ihr Scheitern zu vermeiden gewesen wäre, hätte ihr – neben einem Staatsmann von Format – ein Ehemann zur Seite gestanden, der nach Kriterien der Vernunft ausgewählt worden und dem sie in wechselseitiger Zuneigung verbunden gewesen wäre. Dann hätte auch aus ihr eine »reina burguesa y correctísima« werden können.70 Eine solche Hervorhebung bürgerlicher Wertvorstellungen unterstreicht die Tragweite von Isabellas tatsächlichen und vermeintlichen moralischen Verfehlungen. Die öffentliche Festschreibung des Bildnisses als »ilustre prostituta« führte zwangsläufig zur Diskreditierung nicht nur der Königin, sondern auch der Regierungsform. Eine entehrte Königin entehrte die Monarchie. Dabei sei es – so Walter Bagehot in seiner Einschätzung zur britischen Monarchie von 1867 – gerade die »ehrwürdige Institution«, welche den Nutzen der Königin unermesslich mache, die als »oberste[r] Hüter unserer Moral«

70 Galdos, Reina Isabel, S. 1418, das Zitat siehe S. 1420. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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angesehen werde.71 »Unser Königshaus«, so Bagehot, »soll vor allen Dingen verehrt werden«72. Eine »unmoralische«, »entehrte Königin« aber war demnach nicht mehr von Nutzen, sondern nur noch von Schaden. Vor der »lepra borbónica« warnte daher 1868 bezeichnenderweise Salustiano de Olózaga, der seit seiner Demütigung 1843 zur Gallionsfigur des antidynastischen Kampfes geworden war.73 Von diesem entehrenden Geschwür galt es sich zu befreien. »España con Honra«, lautete entsprechend die Devise der Aufständischen von 1868. Eine Königin »jenseits der Norm« legitimierte die Revolution. »Das Unheil eines schlechten Monarchen ist fast nicht mehr zu beseitigen«, prognostizierte Bagehot.74 Die Spanier versuchten sich davon zu befreien, indem sie sich erst von der Dynastie, dann ganz von der Monarchie trennten. Doch selbst als unter dem Druck der Karlisten die spanischen Monarchisten eine Restauration der Bourbonendynastie durchsetzten, blieb das Stigma des Unheils an Isabella II. haften. Als der eigene Sohn – der im Übrigen in England erzogen werden sollte – nach dem Scheitern der Ersten spanischen Republik zum König gekrönt wurde, trugen die spanischen Politiker Sorge, dass Isabella im französischen Exil blieb und kein Schatten ihres unrettbar verlorenen Leumunds auf die restaurierte Monarchie fiel.75 Und selbst noch 2004, als sich der Todestag Isabellas zum hundertsten Mal jährte, blieb Juan Carlos sorgsam darauf bedacht, in keine Nähe mit seiner Ururgroßmutter gerückt zu werden – offenbar als Teil seiner überdauernden Strategie, jeden Eindruck zu vermeiden, Spanien könne – politisch oder moralisch – jenseits der in Europa geltenden Normen anzusiedeln sein.76

71 »Der Nutzen der Königin in ihrer Eigenschaft als ehrwürdige Institution ist nicht abzuschätzen. Ohne sie würde das gegenwärtige englische Regierungssystem versagen und verschwinden.« Walter Bagehot: Die englische Verfassung, hg. von Klaus Streifthau, Berlin 1971, S. 69, 82. 72 Ebd., S. 86. Es gelte, den »Zauber der Monarchie« zu erhalten, siehe ebd. 73 Vgl. Isabel Burdiel, Salustiano de Olózaga: La res más brava del progresismo; in: Manuel Pérez Ledesma/Isabel Burdiel (Hg.), Liberales eminentes, Madrid 2008, S. 77–124, S. 77. 74 Bagehot, Verfassung, S. 106. 75 Siehe u. a. Vilches, Isabel II., S. 300–311. 76 So erteilte das Königshaus allen Einladungen eine Absage, die Ausstellung zu Ehren Isabellas II. anlässlich deren 100. Todestages zu eröffnen. Eine vergleichbare Zurückhaltung hatte es sich, wenn es um das Gedenken an politische Persönlichkeiten wie Antonio ­Cánovas oder Práxedes Mateo Sagasta ging, nicht vorgeschrieben. Siehe Burdiel, Isabel II. 2011, S. 17. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Hannes Grandits

Wettstreit der Tugenden: urbane Lebensentwürfe im habsburgischen Fin-de-siècle1

Es gibt sicher verschiedene Einordnungsversuche über das Charakteristische an der spät-habsburgischen Zeit im Allgemeinen und der k.u.k.-Hauptstadt Wien im Besonderen. Von der imperialen Donaumetropole ist  – je weiter man sich von der Zeit entfernte – wohl immer stärker ein ganz spezielles Bild in den Vordergrund öffentlichen Erinnerns gerückt: jenes vom Wien des Finde-siècle, das Wien der Ringstraßenpalais, des Jugendstils (mit Klimt, Otto Wagner und Schiele und der Sezession…), das bürgerliche Wien, mit allerlei Abgründen, wie sie etwa von Sigmund Freud analysiert und erklärt worden sind, und das Wien einer höchst eigenen imperialen Selbstüberhöhung rund um einen alten greisen Kaiser Franz Joseph, der an der Wende zum 20. Jahrhundert schon immer da gewesen zu sein schien. In der Tat feierte FranzJoseph 1908 bereits sein 60. Thronjubiläum, und es fehlte nicht viel und er hätte auch sein 70. Jubiläum geschafft. Dennoch schien im beginnenden 20. Jahrhundert eben dieser Kaiser irgendwie schon aus einer bereits lange vergangenen Zeit zu kommen. Dieses Bild des imperialen-künstlerischen »Wien um 1900« konnte im Laufe der Zeit – eigentlich erst besonders in den letzten zwei, drei Jahrzehnten2 – so dominant werden, dass es zunehmend begann, den Blick auf viele andere Bereiche zu verstellen. Im touristischen »Branding« ist das Wien des Fin-de-siècle mittlerweile fest etabliert. Wobei »fest etabliert« wohl eher eine starke Untertreibung darstellt. Blickt man etwa auf den Ausstellungs- und Kulturveranstaltungskalender im sog. »Klimtjahr 2012« zurück, in dem sich der Geburtstag des Malers Gustav Klimt zum 150. Mal jährt, so kann man wohl von einem noch nie dagewesenen Jugendstil und Gustav Klimt-Hype 1 Dieser Text war die Grundlage der Antrittsvorlesung von H. Grandits an der HumboldtUniversität zu Berlin, die am 17. Januar 2012 im Senatssaal der Humboldt-Universität gehalten wurde. 2 Vgl. für Details dieses Prozesses insbesondere Heidemarie Uhl, ›Wien um 1900‹ – das making of eines Gedächtnisortes, in: Monika Sommer u. a. (Hg.), Imaging Vienna: Innenansichten – Außenansichten – Stadterzählungen, Wien 2006, S. 47–70. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sprechen. Alle großen Wiener Museen  – von Albertina und Belvedere bis zum Völkerkundemuseum – widmeten damals der Zeit und der Kunst der Zeit große Schauen. Fast überall konnten sich diese Ausstellungen über einen massenhaften Besucheransturm aus dem In- und Ausland freuen. Aber nicht allein mit einem Blick auf das Klimt-Jahr 2012 kann festgestellt werden, dass das »Lebensgefühl« und die »Aura« des habsburgischen Fin-de-siècle mittlerweile vor Ort in Wien (aber mit darüber hinaus gehender Strahlkraft) immer prägender geworden sind. Auf die museale oder touristische Selbst­ präsentation der Stadt trifft dies ganz sicherlich zu und gerade im touris­ tischen Bereich geschieht das nicht selten jenseits der Grenze zu einer verherrlichenden Idealisierung dieser Zeit. Aber was geht dies einen allgemeinen Historiker an, d. h. einen, der nicht Kunstgeschichte sondern die Geschichte Südost- und Mitteleuropas in seiner engeren Fachbezeichnung trägt? Welche Fragen und Antworten könnten potentiell auch von Interesse sein, jenseits der Anerkennung der Bedeutsamkeit etwa des Klimt-Schaffens? Je mehr ich mich mit diesen Fragen und damit verbunden mit der eigentlichen einstigen zeitgenössischen Rezeption von Klimt befasst habe, desto offenbarer wurde mir, dass diese Thematik einen sogar ganz besonders anschaulichen Einstieg in die Art und Weise geben könnte, wie um 1900 nicht nur bürgerliche sondern generell urbane Moral- und Tugend-Vorstellungen in späthabsburgischer Zeit verhandelt wurden. Aber um welche Tugenden bzw. Untugenden ging es, welche Weltsichten standen in der Zeit um 1900 in der damaligen Hauptstadt des Habsburgerreiches tatsächlich zur Disposition? Mit dieser Thematik möchte ich mich heute in meinem Vortrag beschäftigen. Zu diesem Zweck werde ich folgendermaßen vorgehen: Als Einstieg werde ich kurz Verlauf und Positionen des im Jahre 1900 eskalierten Streits über Klimts sogenannte »Fakultätsbilder«, die er im Auftrag der kaiserlichen Regierung für die Universität Wien gemalt hat, unter Rückgriff auf die schon klassische Studie von Carl Schorske skizzieren. An diesen Bildern sollte sich damals eine die Grundfragen wissenschaftlichen Tuns hinterfragende akademische Debatte entzünden, die dann aber zunehmend in eine öffentliche Verhandlung des Charakters bürgerlicher Moralvorstellungen bzw. »öffentlicher Moral« überging und in die sich nach der akademischen Welt auch die Regierung und Teile der damaligen Partei-Politik involvierten. Danach soll der thematische Faden der »bürgerlichen Moral« weiter­ gesponnen werden. Dies wird vor allem am Beispiel des für »Moralvorstellungen« wohl sehr zentralen Bereichs der »Familie« bzw. des »familialen Lebens« geschehen. Zuerst wird es dabei um die Art und Weise der damals © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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praktizierten diskursiven Abgrenzungen von bürgerlicher und nicht-bürgerlicher Familienwelt gehen. Mit Blick auf Themen wie Ehelichkeit, Sexualität und familialer »Tugendhaftigkeit« soll dann ein historisch-empirischer Forschungsstand über Familienleben im Wiener proletarischen Milieu der späthabsburgischen Zeit mit Aspekten des damaligen bürgerlichen Familien­ entwurfs in Bezug gesetzt werden. Am Ende soll ein kurzes Fazit stehen. Meine Hoffnung ist es, über diesen Betrachtungsweg Einblicke in die im Titel gestellte Problematik der Wettstreit der Tugenden in den urbanen Lebens­ entwürfen der damaligen Zeit eröffnen zu können.

Klimts »Fakultätsbilder« Kommen wir zu den »Fakultätsbildern« und dabei besonders auf das Bild »Philosophie«, das von Klimt als Allegorie auf die philosophische Erkenntnisfindung gemalt wurde. Es war als eines von vier geplanten Decken­ gemälden zur Ausschmückung und Symbolisierung der damals vier Fakultäten für die Aula des neuen Ringstraßen-Baus vorgesehen. Klimt erhielt den Zuschlag für die »Philosophie«, »Medizin« und »Jurisprudenz« und präsentierte im Jahre 1900 als erstes seinen Entwurf für die »Philosophie«. Die Reaktion kam prompt: 87 Mitglieder der Philosophischen Fakultät unterzeichneten eine Petition, in der sie gegen das Gemälde protestierten und das Kultus­ministerium baten, es abzulehnen. Worum ging es den protestierenden Universitätsangehörigen? Carl Schorske, der herausragende (und 2011 zum Wiener Ehrenbürger ernannte) amerikanische Historiker über das späthabsburgische Wien, hat die Gründe hierzu eng in Zusammenhang auch mit den dem Bild inhärenten Versinnbildlichungen von wissenschaftlicher Erkenntnis gedeutet und dürfte hierbei das Hauptproblem für viele der involvierten Wissenschaftler passend benannt haben.3 Für führende, vielfach in gesellschaftlichen Fragen durchaus auch liberal eingestellte Exponenten des Protests charakterisierte das Bild eine völlig unpassende Ästhetik und sandte vor allem eine inakzeptable symbolische Botschaft aus. Das Bild zeigte nicht, wie sich das so manche Teilnehmer des Protests wünschten, »Philosophen, die in einem Hain versammelt stehen oder auf und ab gehend Schülern dozieren«, d. h. also in der Gesellschaft wirkend die Beherrschung des menschlichen Lebens und Natur verbreiteten. Es zeigte nicht, wie  – in so vielen 3 Siehe für die Details dieses Streits Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna, New York 1981, S. 231–245. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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damals üblichen antikisierten-Darstellungen  – »das Licht der Aufklärung, der Ratio und Erkenntnis und Zivilisation über die Dunkelheit der Barbarei und des Unwissens triumphierten«.4 Das Bild zeigte etwas völlig anderes. Es zeigte eine Welt – und hier komme ich nochmals auf Schorskes Deutung zurück – »ineinander verknotete[r] Leiber der leidenden Menschheit, die ziellos schwebend in einer zähflüssigen Leere langsam vorbei treiben. Aus der kosmischen Trübe – die Sterne sind weit hinten – taucht eine schwere schlafende Sphinx empor, völlig blind, die nichts als die Verdichtung des atomisierten Raumes ist. Einzig das Antlitz (der Katalog nennt die Gestalt »das Wissen«) auf dem unteren Rand des Bildes lässt in seinem Leuchten das Vorhandensein einer bewussten Intelligenz vermuten. Man sieht eine Weltvision, dar­ gestellt als ein endloses Kreisen von Gebären, Liebe und Tod.«5 Mit einem solchen Weltbild und mit so einem antirationalistischen, dunklen und das Unterbewusste (schlafende, träumende) betonende Wissenschafts­ bild wollte sich eine große Mehrheit der Angehörigen der Philo­sophischen Fakultät damals nicht repräsentiert sehen. Aber es gab auch eine Fraktion, die durchaus einverstanden war mit der Art und Weise von Klimts Repräsentation. Es gab Stimmen, die Klimt Recht gaben. Wir hätten es nicht mit einer Welt zu tun, die teleologisch auf der Bahn des Fortschritts voranschreiten würde. Im Gegenteil würde es weder Fortschritt noch Rückschritt sondern eher ständige Wandlung geben. Die Gegensätze von Bewusstem und Unbewusstem wären in der Tat fließend, wie auch die wissenschaftliche Erkenntnis nicht von der Spitze einer gedachten Pyramide herunterblickend erreicht werden würde. Es wäre schon richtig, »das Wissen« mit einer subjek­ tiven Perspektive auf den Weltenlauf darzustellen. Auf jeden Fall ging der hier nur in Ansätzen dargelegte akademische Streit im Rahmen einer Vielzahl öffentlicher Diskussionen hin und her. Dabei ging es sowohl um die akademische Tugend der Wissenssuche, wie auch um ihre ästhetische Symbolisierung. Die lange gewährte Unterstützung für Klimts Entwürfe durch die habsburgische Regierung, i. e. das Kultusministerium, sollte letztlich schwinden, als sich der Streit um die Klimt’schen Fakultäts-Bilder vom akademischen in den parteipolitischen Bereich verlagerte. Vor allem die im Wiener Rathaus knapp vor der Jahrhundertwende im Jahre 1897 an die Macht gekommene Christlich-Soziale Partei mit ihrem charismatischen und skrupellos antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger involvierte sich mit polemischer Kritik in einer anderen Art und Weise in die Debatte. Sie identifizierte das Bild »Philosophie« und die weiteren Fakultätsbilder von Klimt 4 Ebd., S. 232. 5 Ebd., S. 227–228. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ob der dort gezeigten freizügigen und alles andere als idealisierten Darstellungen ineinander verschlungener nackter Körper einfach als »unmoralisch«. Für Lueger und seine Anhänger würden die Bilder die herrschenden bürgerlichen und ästhetischen Tugenden auf Gröbste verletzen. Lueger und die ihm nahestehende bürgerlich-konservativ-katholische Presse begannen Druck auf das Kultusministerium auszuüben. Um sich selbst aus der Kritik zu nehmen, zog sich das Kultusministerium schließlich auf eine eher neutrale Position zurück, ließ Klimt alleine im Pressehagel der Propaganda. Von der rechten Presse wurde Klimt sogar – obwohl selbst nicht jüdischer Herkunft – sogar zu einem Feindbild eines antisemtischen Propagandafeldzugs stilisiert.6 Um den weiteren Verlauf der Debatte abzukürzen, hier das Ergebnis: Klimt zog sich (in seinem öffentlichen Ansehen sehr beschädigt) schließlich ins Private zurück. In seinem künstlerischen Schaffen beschäftigte er sich nun vor allem mit Landschaftsbildern und Portraits von Oberschichten-Frauen, die er in einem immer byzantinischer werdende Stil darstellte. Die »Philosophie« und seine anderen Fakultätsbilder wurden nicht Teil der Deckengestaltung der Universitätsaula. Die »gesunden, bürgerlichen Moral­vorstellungen« hatten sich durchgesetzt, hatten obsiegt – so zumindest die konservativ-katholische Deutung dieses Ergebnisses etwa von L ­ ueger und von seinem Lager.

Anarchie der Vorstadt Aber welche »gesunde« bürgerliche Moral ist hier für die damalige spät­ habsburgische Zeit konkret gemeint? Das ist nicht unbedingt einfach und ohne große Differenzierungen zu fassen. Auch wäre es zu realitätsfern, einfach nun einen bürgerlichen Normen-Katalog über das »richtige Leben« hinsichtlich etwa Ehe, Heirat, Moral und Familie aufzuführen. Interessanterweise ist es leichter möglich, sich der ganzen Problematik anzunähern, wenn man sich zuerst einmal folgenden strukturellen Sachverhalt der Wiener Sozialtopographie im Fin-de-siècle in Erinnerung ruft. Es hat mit einer besonders starken sozialen Segregierung im Wiener Stadtraum zu tun, die sich vor allem im Laufe der sogenannten Gründerzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert recht umfassend etabliert hatte. Die Wiener Innenstadt behielt – auch aufgrund der für die kaiserliche Herrschaft bedrohlichen Ereignisse des revolutionären 1848-er Jahres – noch beinahe bis zum Ende der 1850er Jahre das Bollwerk einer Stadtmauer mit anschließendem Glacis. 6 Ebd., S. 239–240. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Erst als 1858 mit der Schleifung der Festungsanlagen begonnen wurde, entstand im Verlauf der folgenden Jahrzehnte in einem Kreis um die Innenstadt der Prachtboulevard der bekannten »Ringstraße«, der umringt wurde von repräsentativen öffentlichen Bauten und immer mehr auch prestigiösen Palais und Wohnbauten. Was sich bald ergab, war eine fast durchgängige, um den Stadtkern orientierte sozial geschichtete Wohnstruktur. Im Stadtinneren und um die Ringstraße war das aristokratisch-großbürgerliche Stadtgebiet. Im Nahbereich der Ringstraße nach außen hin kam es zunehmend zu einer Veränderung der Wohnstruktur. Während noch im Biedermeier eine recht starke Durchmischung von handwerklich-bürgerlichen mit Unterschichtenstraßen nahe dem städtischen Zentrum existent war, wurden die der Ringstraße äußerlich benachbarten Bezirke im Zuge der Ringstraßengestaltung mehr und mehr allein bürgerliches Mittelschichtsgebiet. Arbeiterschaft, Proletariat, Unterschichten wurden zunehmend in ehemaligen Vorstädte verdrängt  – was auch einher ging mit einer enormen Zuwanderung aus dem ländlichen Raum ins imperiale Zentrum der Habsburgermonarchie, wo sich die Bevölkerung im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrfach verdoppelte und bis 1910 auf einen Einwohnerstand von zwei Millionen anwuchs.7 Wie Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner in ihrem exzellenten Buch »Anarchie der Vorstadt« zeigen, kam es gleichzeitig mit diesem realen Prozess dieser im europäischen Großstadtvergleich besonders akzentuierten sozio-geographischen Segmentierung gleichzeitig im bürgerlichen Diskurs der Stadt auch zu einer stark zunehmenden diskursiven »Pathologisierung« eben der Vorstadt. Die beiden Autoren bringen diesen Sachverhalt wie folgt auf den Punkt: »Die urbane Peripherie [wurde] zum Territorium des Niederen, des Abstoßenden, des Abschaums und der Unkultur und damit zum ›Anderen‹ der bürgerlichen Gesellschaft erklärt.«8 Sie belegen diese Einschätzung mit einer Vielzahl zeitgenössischer Zitate. Noch einen anderen Deutungs­ ansatz aus dem Maderthaner/Musner Buch möchte ich kurz darlegen: »Die sich selbst spiegelnde Inszenierung der Pracht des Ringstraßen-Wien und damit erfolgte Identitätsfeststellung einer bürgerlich-aristokratischen Herrschaftselite korrespondiert mit der Komplementärvorstellung eines anderen Wien, eines ›dunklen Kontinents‹ voller Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, der der Domestizierung und Zivilisierung durch das Zentrum bedarf.«9 7 Renate Banik-Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens 1867–1934, Wien 1982; Michael John, Hausherrenmacht und Mieterelend. Wohnverhältnisse und Wohnerfahrung der Unterschichten in Wien 1890–1923, Wien 1983. 8 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M. 1999, S. 89. 9 Ebd., S. 52. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Man liegt rückblickend wahrscheinlich nicht wirklich falsch mit der Aussage, dass in der aristokratisch-großbürgerlichen bzw. generell der »gut­bürgerlichen« Gesellschaft der Wiener Innenstadt eine recht negative, problembehaftete  – folgt man Maderthaner/Musner sogar eine »pathologische« – Vorstellung von der Welt und den Menschen da draußen in den äußeren Bezirken wohl recht vorherrschend war. Aber eigentlich wussten die meisten Männer und Frauen, Söhne und Töchter der guten Gesellschaft über die Welt da draußen nicht wirklich viel. Oder besser, man wollte auch nicht viel wissen, war nicht brennend daran interessiert. Über das Leben oder die Menschen der Vorstädte wurde etwa in der »hohen Literatur« des Fin-de-siècle bzw. generell der späthabsburgischen Zeit eigentlich nicht wirklich viel reflektiert. Abseits vereinzelter Klischees (wie jenes vom einfachen »süßen Mädel«) sind sie nicht weiter interessant und kaum entscheidend Teil einer literarischen Handlung.10 Diese Handlung konzentriert sich meist auf Fragen und Probleme, die innerhalb der bürgerlichen Welt selbst verortet waren und verhandelt wurden. Da war man sich in der guten Gesellschaft der Innenstadt in der Regel selbst genug. Das heißt nicht, dass über das Elend der breiten Bevölkerungsschichten – über die in den Vorstädten herrschenden miserablen Wohnungsverhältnisse, über den dort grassierenden Alkoholismus oder über die Mangelernährung und den weitverbreiteten desolaten Gesundheitszustand eines beträchtlichen Teils der Vorstadtbevölkerung – nicht geschrieben wurde. Das Genre, in dem dies geschah, war aber nicht jenes der bürgerlichen Literatur sondern jenes der sozialreformatorischen Schriften, der Polizeiberichte und des Journalismus.11 Blickt man in die grundsätzliche Art und Weise des Schreibens in diesen Textformen, so fällt es einem nicht leicht, nicht an die Begrifflichkeit einer angewandten »kulturellen Hegemonie« Gramscianischen Typs zu denken.12 Die Welt der Vorstädte, wie wird diese beschrieben? Zumeist liest man über eine Welt des Elends, der zerrütteten Familien, von Gewalt und außerehelicher Sexualität oder – im Ton der Zeit – von »liederlichen Moral«. Die Protagonisten haben in der Regel keine Namen, die beschriebenen Massen sind gesichtslos, oft krank und disziplinlos. Aber liegen diese Berichte fehl, stimmte das nicht auch – zumindest in den grundsätzlichen Zügen und etwa mit Bezug auf den in meinem Vortrag besonders interessierenden Bereich der Familie? Dominierten nicht in der Tat »aufgelöste« und »verlotterte« 10 Ebd., S. 68 ff. 11 Ebd., S. 68–85. 12 Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Hamburg 1992, Sechstes Heft, § 87. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Familienbindungen im proletarischen Milieu bzw. in den Zinskasernen der vom Lande in die damalige imperiale Millionenstadt Wien kommenden Zuwanderer?

Proletarischer Familienalltag Dies ist eine jener für mich sehr wichtigen Fragen, die ich schon einmal hin und her wälzte, als ich knapp nach meiner Dissertation von der ehrwürdigen Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, noch als vergleichsweise junger Forscher, die höchst überraschende Einladung (ausgestattet mit einem längerfristiger ausgelegten Werkvertrag) erhalten hatte, einen längeren analytischen und regional vergleichenden Beitrag über »Ländliches und Städtisches Familienleben« im Habsburgerreich zwischen 1848 bis 1918 zu verfassen.13 Hatten – so auch die damalige Überlegung – die erzkonservativen Polizeiärzte oder reaktionär-bürgerlichen Politiker oder engagierten Sozialreformer nicht auch recht? Muss man die von ihnen aufgestellten Kategorien von »Elend« und Verfall in den Sozial- und Familienbeziehungen des proletarischen Milieus und der so großen urbanen Unterschichten nicht ernst nehmen? Die Hinwendung zu und Auseinandersetzung mit historischer bzw. historisch-anthropologisch ausgerichteter Familienforschung, wie sie in den neunziger Jahren in der österreichischen Historiographie boomte  – ich möchte hier nur Namen wie Michael Mitterauer, Joseph Ehmer, Reinhold Sieder, Waltraud Heindl und vor allem Karl Kaser nennen  –, gab mir die nötige Orientierung, mich über die zeitgenössische ordnungspolitische, sozialreformatorische oder journalistische Literatur hinaus auch ganz systematisch, einerseits, mit »quantifizierbaren« Fakten in Bezug auf Heirat und Familie genauso wie, andererseits, mit sog. »emischen« Betrachtungen von Zeitgenossen, also über biographische Selbstzeugnisse von Angehörigen der Arbeiterschaft oder der Unterschichten der Zeit, der Thematik anzunähern. Als Resultat ergab sich ein Befund über die sogenannte »proletarische Familie«, bei dem klar wurde, dass Familienleben im Bereich der proletarischen bzw. Unterschichten in der Tat – etwa in der Großstadt Wien – am Beginn 13 Hannes Grandits, Ländliches und städtisches Familienleben im Wandel, in: Helmut Rumpler u. a. (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band IX. Sozialgeschichte, Wien 2010, S. 621–699. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht eine sehr krisenhafte Phase durchschritt, dass es aber in den Jahrzehnten danach sehr klare Tendenzen einer Stabilisierung trotz Massenzuwanderung gab und vor allem, dass es notwendig war, innerhalb der »proletarischen Welt« zwischen sehr verschiedenen Milieus sehr stark zu differenzieren. Anhand einiger ausgewählter Aspekte möchte ich dies ein wenig illustrieren. Ich möchte beginnen mit einigen Strukturmerkmalen, was Heirat, Heiratsalter und die sogenannte »Ehelichkeit« bzw. »Unehelichkeit« der geborenen Kinder angeht (letzteres wurde im 19. Jahrhundert und auch noch lange danach gerne auch in den Begriffen von »legitim« oder »illegitim« ausgedrückt). In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren etwa in Wien traditionell zentrale Wirtschaftsbereiche der Stadt in eine tiefe Krise geraten. Das betraf vor allem die textile Hausindustrie, die in Wien von jeher einer breiten Bevölkerung relativ gute Möglichkeiten des Lebensunterhalts geboten hatte, und auch die Textilmanufaktur. Seit der Jahrhundertmitte fielen die Löhne in diesen Bereichen dramatisch und auch ganze Produktionsstätten – insbesondere in der Seidenindustrie – machten bankrott. Arbeitsmöglichkeiten in neuen zukunftsträchtigen industriellen Branchen waren in der Zeit der Krise der textilen Industrie in Wien erst in relativ geringem Umfang vorhanden. Als Konsequenz davon konzentrierte sich das Schwergewicht der Produktion und der Einkommensmöglichkeiten noch stärker als bisher auf das Kleingewerbe und Handwerk. Im Gewerbe und Handwerk herrschten damals noch ganz strikte hausrechtliche Arbeits- und Lebensverhältnisse. Dies bedeutete für die Gesellen und Arbeiter, dass sie im Haushalt des Meisters nicht nur arbeiteten, sondern in vielen Branchen in der Regel dort auch wohnten. Solange sie im Haushalt des Meisters lebten, war eine Heirat prinzipiell untersagt. Erst wenn sie den Haushalt verließen und sich entweder als Meister oder in einem anderen Einkommensbereich eine Lebensgrundlage geschaffen hatten, war an Heirat zu denken. Viele konnten wegen der prekären allgemeinen Arbeitssituation den Schritt aus der Wohnund Arbeitswelt ihrer Meister und Arbeitgeber nicht, oder erst in höherem Alter, machen. Auch für junge Frauen ergaben sich durch die wirtschaftliche Krisensituation deutlich verringerte Möglichkeiten des Verdienstes.14 Betrachtet man die folgenden Zahlen, so werden die Folgen davon sehr offenbar. In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhundert waren zwei Drittel der Männer im Alter von 30 Jahren noch unverheiratet, bei den Frauen dieses 14 Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980, S. 43–89. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Alters waren auch nur knapp die Hälfte (46 Prozent) verheiratet, 54 Prozent der Frauen waren im Alter von 30 also noch ledig. In keinem anderen Zeitabschnitt des 19. Jahrhunderts heirateten sowohl Männer als auch Frauen im Schnitt so spät.15 Als Folge davon gab es einen immens hohen Anteil nicht ehelicher Kinder. Insgesamt wurden von der Jahrhundertmitte bis in die neunziger Jahre immer mehr als 40 Prozent der in Wien zur Welt kommenden Kinder »unehelich« geboren. Anfang der 1850er Jahre erreichte die Unehelichkeitsrate der geborenen Kinder einen Höhepunkt und betrug 51 Prozent. Wie Studien zeigen, erlebte Wien in dieser Zeit eine Hochkonjunktur der Gebär- und Findelhäuser, die eine Reaktion auf die damals häufigen Kindesweglegungen darstellten und die »ungewollt« geborenen Kinder aufnahmen. Nach nur kurzer Betreuung in einer solchen Anstalt wurden die Kinder zumeist so früh wie möglich zu Zieheltern in die Vorstädte oder aufs Land gegeben.16 Die äußerst prekären Bedingungen des Familienlebens im Arbeitermilieu begannen sich ab den späten 1860er Jahren und mit dem beginnenden wirtschaftlichen Boom der Gründerzeit aber abzuschwächen. Wien trat in eine Phase der Hochindustrialisierung und in vielen neuen Branchen und Be­ trieben entstanden allmählich bessere Arbeitsmöglichkeiten. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Strukturen proletarischer Familienorganisation. Eine davon war die Tendenz früherer Eheschließungen. So stieg der Anteil der Verehelichten immer mehr an, was einen Rückgang der unehelichen Geburten zur Folge hatte. Bis zur Jahrhundertwende fiel die Rate der unehelichen Geburten bereits auf etwa 30 Prozent und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dann noch weiter auf Werte von knapp um 20 Prozent. Als indirekte Folge einer sinkenden Säuglingssterblichkeit fiel in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg auch gleichzeitig die allgemeine Geburtenhäufigkeit pro Frau.17 Ohne Zweifel ist hier eine deutliche Stabilisierungsentwicklung festzu­ machen. Diese Entwicklung kam aber nicht bei allen Arbeiterschichten in gleicher Weise zum Tragen. Aufgrund der unterschiedlichen Produktions­ bedingungen, den verschiedenen Branchen, der Lohnhöhe und den ungleichen Wohnbedingungen entwickelte sich kein einheitlicher proletarischer Familientyp. Es würde aber zu weit gehen, alle möglichen Differenzierungen hier ausführen zu wollen. Ausgehend von der dominierenden Freizeit­ 15 Ebd., S. 43–89. 16 Michael Mitterauer, Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München 1983, S. 102–108. 17 Ehmer, Familienstruktur, S. 169–185. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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gestaltung und Familienorientierung wäre etwa der familienorientierte Arbeiter von den Dauergästen im Wirtshaus und den Arbeitern »zwischen Familie und Wirtshaus« unterscheidbar. Je nachdem, zu welcher Gruppe man den »Familienvorstand« zählen konnte, hatte dies natürlich Auswirkungen auf den Alltag der Familie. Auswirkungen auf die angestrebten Ideale des familialen Lebens hatten auch die alltagspolitischen Zugehörigkeiten der Arbeiter. Arbeiter mit unpolitischem und/oder bürgerlichem Vereinsleben bewegten sich dabei oft in anderen Alltagsbezügen als jene mit einem politisierten sozialistischen Hintergrund. Facharbeiter in den einkommensreichen neuen Industrie-Branchen  – der Maschinenbauindustrie, in der Elektro­ technik oder der chemischen Industrie – hatten ganz andere Einkommensgrundlagen als etwa die vielen ungelernten Ziegelarbeiter und -arbeiterinnen am Wienerberg usw. und so fort.18 Was aber an der Wende vom 19.  zum 20.  Jahrhundert dennoch durch alle diese Milieus hindurch als soziale Norm immer stärker wirksam zu sein schien, war ein starker sozialer Druck zu heiraten. Diese Erwartungs­ haltung war auch im Arbeitermilieu der Großstadt Wien alles andere als gering. Eine Familie zu gründen, war die angestrebte Norm. Einer Abweichung wurde insbesondere bei Frauen mit Unverständnis begegnet. Ein kurzes Zitat aus den Lebenserinnerungen der Textilarbeiterin und späteren Wiener Arbeiterführerin Adelheid Popp kann helfen, diesen Erwartungsdruck etwas zu veranschaulichen. Popp erinnert sich in der zitierten Stelle an einen prominenten Besuch, den ihr die berühmten Sozialisten Friedrich Engels und August Bebel zu Hause in Wien abstatteten, und den sehnlichsten Wunsch ihrer Mutter, dass sie heiraten und eine Familie gründen möge: »Die alte Frau konnte sich für ihre Tochter kein anderes Los vorstellen, als eine gute Ehe. Ihre Tochter gut zu verheiraten, war ihr Sinnen und Trachten und gar viel musste ich ausstehen, wenn ich mich gegen eine Ehe wehrte, die nur den Zweck gehabt hätte, mir mein Los zu erleichtern und mich von der Fabrik zu befreien. Heiraten und Kinder bekommen, sah sie als die Bestimmung des Weibes an. So sehr ihr anfangs die Lobreden [von Friedrich Engels und August Bebel], die sie über mich hörte, schmeichelten, (…) Als wir wieder allein waren, sagte sie geringschätzig: ›So Alte bringst du daher‹. In ihren Augen handelte es sich bei jedem Manne, der kam, um einen Freier für mich,

18 Siegfried Reck, Arbeiter nach der Arbeit. Sozialhistorische Studie zu den Wandlungen des Arbeitsalltags, Gießen 1977, S. 110–146; vgl. auch Josef Ehmer, Familie und Klasse. Zur Entstehung der Arbeiterfamilie in Wien, in: Michael Mitterauer/Reinhard Sieder (Hg.), Historische Familienforschung, Wien 1982, S. 300–325. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und da es ihr sehnlichster Wunsch war, mich verheiratet zu sehen, so wurde jeder daraufhin betrachtet.«19 Heirat war also eine durchaus hochgehaltene Norm. Im proletarischen Milieu stellte der eigene Verdienst oder das Angesparte die schwierigste Heiratsvoraussetzung dar. Wenn die Eltern wenigstens einen kleinen oder symbolischen Beitrag zu den Hochzeitskosten leisten konnten, war man froh. Ein »Erbe« konnte man jedoch nicht erwarten. Eltern und verheiratete Kinder wohnten fast immer separiert voneinander und nur in Übergangs- oder Notsituationen gab es eine gemeinsame Haushaltsführung. Das gleiche galt auch für andere Verwandte. Gegenseitige Hilfe und mitunter auch engen verwandtschaftlichen Kontakt von Haushalt zu Haushalt gab es aber vielfach schon. Das veranschaulicht auch die im Folgenden zitierte Erinnerung über die Sonntagsgestaltung in einer tschechischen Zuwanderer-Verwandtschaft im Wien der Jahrhundertwende: »Wir sind immer am Sonntag zur Großmutter gegangen, in die Sigmundsgassen. Da sind alle Familienmitglieder gekommen, soweit sie vorhanden waren, meine Großmutter hat zwölf Kinder gehabt, ein paar sind davon gestorben, aber von den Töchtern waren immer drei, vier dort, und von den Männern auch. Meine Großmutter hat eine größere Wohnung gehabt, durch das Kohlengeschäft und sie war auch Hausmeisterin. Da sind in dem Hausmeisterkammerl die Männer gesessen. Wenn man hineingekommen ist, hat man im Moment niemanden gesehen, weil das war so verraucht und da haben sie von drei bis acht auf’d Nacht Karten gespielt oder getratscht und da ist es lustig hergangen. Die Frauen sind in der Wohnung drüben gesessen, meine Großmutter mit den Tanten und die haben getratscht. Eine hat Zither gespielt und da haben sie noch so harmlose Spiele gehabt, Domino, oder so was.«20 Bei vielen der jüngeren und erst zugewanderten Migranten war die Kindererziehung noch mit dem Herkunftskontext der Eltern verbunden. Die Kinder wuchsen dann zum Teil bei den Großeltern auf dem Lande auf und wurden erst nach Wien geholt, wenn klar war, dass die Eltern bleiben würden oder nachdem sich deren ökonomische Lage in der Stadt konsolidiert hatte. Ein Großteil der zugewanderten Arbeiter hielt die Beziehung zur heimatlichen Familie aufrecht. Das Gros der Zuwanderer in Wien kam ja aus

19 Adelheid Popp, Die Jugendjahre einer Arbeiterin um 1890, in: Stefan Riesenfellner (Hg.), Arbeiterleben. Autobiographien zur Alltags- und Sozialgeschichte Österreichs 1867– 1914, Graz 1989, S. 168 f. 20 Interview mit Karl Ziak, geb. 1902, zitiert in: Michael John/Albert Lichtblau (Hg.), Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien 1990, S. 246 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Böhmen, Mähren, der heutigen Slowakei und natürlich aus dem nieder­ österreichischen Umfeld. Da die Distanzen zum Heimatort oft nicht allzu weit waren, war regelmäßiger Kontakt durchaus möglich.21 Vieles könnte hier noch ausgeführt werden. Die stereotype Charakterisierung der proletarischen Familie als »nichtfunktionierende« Gemeinschaft bzw. als »im Zersetzungs- und Auflösungsprozess« befindlich darf aber dennoch hinterfragt werden. Zwar lebte in Wien eine Mehrheit der proletarischen Familien tatsächlich in prekären Verhältnissen  – ein Großteil stand im alltäglichen Kampf um Nahrung, Kleidung, Brennstoff und nicht zuletzt um Wohnung und auch soziale Probleme wie Alkoholismus und Prostitution dürften in verschiedenen Milieus durchaus verbreitet Phänomene gewesen sein – dennoch gab es bei weitem nicht nur verelendete Familienbeziehungen. Die Lebensumstände waren vielfach prekär aber unterschiedlich und funktionierende Solidargemeinschaften gab es oftmals gerade bei den sozial gefährdetsten Gruppen.

Familie und Moral Aber wenden wir uns wieder den bürgerlichen familialen Normen und Realitäten im imperialen Wien zu. Um mehr Verständnis über »bürgerliche Moral«, um das »richtige Leben« hinsichtlich etwa Ehe, Heirat und Familie in den vornehmeren bzw. bürgerlichen Schichten, ist es ja schon weiter oben gegangen. Wie gesagt, ist es recht schwierig, über alle möglichen Differenzierungen hinweg gültige Aussagen machen zu wollen. Was man aber getrost als gemeinsame Grundlage des existenten Normenspektrums benennen kann, um den sich alles drehte, war die Tatsache, dass im bürgerlichen Verständnis des beginnenden 20. Jahrhunderts Ehelichkeit eine große, ja sogar immens zentrale Rolle für ein geglücktes Lebens spielte. Das war die eine Säule, auf der die bürgerliche Normenwelt im Wiener Fin-de-siécle ruhte, die andere war Standesgemäßheit. Beide Säulen mussten in der dominanten Sicht der Zeitgenossen tragen – eine allein war zu wenig. Für viele war es alles andere als einfach, ihr Leben auf diesen (mitunter wackeligen) Säulen aufzubauen. Lassen sie mich zur Veranschaulichung des möglichen Umgangs mit diesen Aspekten von Ehelichkeit und Standesgemäßheit im Wiener bürgerlichen Milieu der behandelten Zeit ein paar exemplarische Ausführungen machen. 21 Michael John/Albert Lichtblau, Die innerfamilialen Beziehungen der Arbeitsmigranten in Kaiserzeit und Zwischenkriegszeit, in: Dies., Schmelztiegel Wien, S. 214–225. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Die dominanten Heirats- und Familienformierungsmuster in der bürgerlichen Familienwelt sind nur schwer über quantifizierende Zugänge aus­ zumachen, da solche Forschungen kaum existieren. Versuchen wir dennoch einige charakteristische Tendenzen herauszustellen. Waltraud Heindl zeigte, dass es in Wien über lange Perioden des 19. Jahrhunderts hinweg selbst bei vielen höheren Beamten wegen begrenzter finanzieller Mittel erst lange nach dem 40. Lebensjahr möglich war, eine standesgemäße Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen.22 Ein sehr hohes Heiratsalter war also im bürgerlichen Beamtenmilieu keine Seltenheit  – größerer Altersabstand zwischen einem bereits älteren Mann und einer noch jüngeren Ehefrau ebenfalls nicht. Das hing oftmals vor allem an den Erwartungshaltungen des sozialen Umfelds und der Pflicht, diesen entsprechen zu müssen. Familiengründung war eben bedingt durch die Perspektive, nach der Heirat ein standesgemäßes Familienleben führen zu können  – sich etwa eine Wohnung entsprechender Größe, Hauspersonal usw. leisten zu können. Dazu war für den zukünftigen »Familienerhalter« entweder das Vorrücken in eine bestimmte Gehaltsstufe vonnöten  – worauf auch öfters gewartet wurde  – bzw. es gab Ersparnisse oder aber das eigene oder das von der Ehefrau in die Ehe eingebrachte ererbte Kapital. Erbregelungen, wie sie im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch vorgeschrieben waren, wurden natürlich im Milieu der Juristen, Beamten und Geschäftstreibenden eingehalten. Auch Töchter waren dabei Erben und erhielten bei ihrer Verehelichung einen großen Teil ihres Erbteils. Natürlich gab es auch in bürgerlichen Haushalten individuelle und Familienstrategien, die immer auch besondere Lösungen zugunsten oder zuungunsten einzelner Erben vorsahen. Den Vätern war es meist besonders wichtig, zur Absicherung der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Position einen standesgemäßen Schwiegersohn bzw. eine standesgemäße Schwiegertochter zu finden. Was standesgemäß war, hing aber nicht allein vom tatsächlichen finanziellen Kapital ab. Sozialer Aufstieg, Gruppenkohärenz etwa von Gewerbe­ treibenden, Beamten oder Unternehmerfamilien, und auch die Tendenz, dass Heiratspartner nach Möglichkeit aus der eigenen religiösen oder nationalen Gruppe stammen sollten, spielten eine Rolle. Diese Prinzipien wurden jedoch innerhalb bürgerlicher Gruppierungen mit unterschiedlicher Konsequenz verfolgt.23 Während eine Heirat bei manchen wohlhabenden katho­lischen Wiener Gewerbetreibenden lange Zeit in erster Linie der Absicherung der 22 Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien 1991, S. 246 f. 23 Hannes Stekl, Bürgertumsforschung und Familiengeschichte, in: Ders. (Hg.), Bürgerliche Familien. Lebenswege im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2000, S. 9–33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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eigenen Wirtschaftsposition zu dienen hatte und man in den eigenen Kreisen blieb – erst nach 1900 kam es in der untersuchten Gruppe zur Einheirat in akademisch gebildete Kreise, auch gemischt-konfessionelle Heiraten waren bis zu Jahrhundertwende verpönt –, zeigt eine Untersuchung über das Heiratsverhalten im nobilitierten Wiener Bürgertum, dass es hier, in ge­ringerem Ausmaß als bisher angenommen, zur Bildung so genannter Beamten-, Offi­ ziers- oder Unternehmerdynastien kam. Fast jede der zuletzt genannten Gruppen bezog im Heiratsverhalten auch Mitglieder der anderen Berufsgruppen mit ein. Auch kam es zu gemischt-konfessionellen und gemischtnationalen Eheschließungen, nicht aber zu Heiratsverbindungen mit eingesessenen Aristokratenfamilien (diese Tatsache, dass diese »Haute Bour­ geoisie« in der Habsburgermonarchie – anders als in anderen Teilen Europas – weder die Aristokratie verdrängte noch sich mir ihr tatsächlich vereinte, machte einen besonderen Charakterzug des Großbürgertums in Wien aus). Gemeinsame berufliche Betätigung spielte also im Wiener bürgerlichen Milieu eine zwar wichtige, aber keine absolut und allein konstituierende Rolle, bürgerliches Statusbewusstsein meist aber schon.24 In vielerlei Hinsicht gilt dies auch für weite Teile des jüdischen Bürgertums, das eine für die Entwicklung der bürgerlichen Kultur in Wien (gleiches gilt auch für viele andere habsburgische Städte) sowohl quantitativ als auch von ihrer Gestaltungskraft her zentrale Gruppe darstellte.25 Zur Verortung der eigenen sozialen Stellung waren also mehrere Aspekte relevant. Das war  – wie schon gesagt  – vor allem die berufliche und öko­ nomische Position des Haushaltsvorstandes. Das war aber auch der Lebensstil, den die Familie pflegte. Die Anzahl der Zimmer der Wohnung oder des bewohnten Hauses oder die Ausstattung des Salons, in dem man seinen Lebensstil repräsentierte, waren dabei ebenso entscheidend wie die Größe des Hauspersonals. Gerade das letztgenannte Kriterium stellte durchaus ein »Muss« zur Bewahrung von sozialem Status und bürgerlicher Selbst­ verortung dar. In Wien machte der Anteil der Hausdienerschaft am Anteil der Berufstätigen im Jahre 1869 fast 20 Prozent aus – ein enorm hoher Wert. In gewissen Stadtteilen mit einem hohen Bedarf an Hauspersonal, etwa der Inneren Stadt, lagen die Werte dabei noch deutlich höher. 1890 war der Anteil der Hausdienerschaft an der berufstätigen Bevölkerung allerdings schon etwas gesunken und bis 1910 fiel er weiter auf 10 Prozent, was sich damit er24 Marie-Therese Arnbom, Heiratsverhalten des nobilitierten Wiener Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: Robert Hoffmann (Hg.), Bürger zwischen Tradition und Modernität, Wien 1997, S. 143–161. 25 Michael Mitterauer (Hg.), »Gelobt sei, wer dem Schwachen Kraft verleiht.« Zehn Generationen einer jüdischen Familie im alten und neuen Österreich, Wien 1987. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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klären lässt, dass die Stadt durch massiven Zuzug und durch Eingemeindungen eine stark anwachsende Einwohnerzahl bekam. Im großbürgerlichen Milieu Wiens kreuzten sich nicht selten großbürgerliche Ambitionen mit jenen eines aristokratischen Lebensstils. Hier gab es auch separate Schlafräume der Ehepartner, eigene Zimmer für jedes Kind, verschiedenste Erzieher und Gouvernanten oder auch Mansarden für die Dienerschaft. Dienstbotenleben spielte sich in diesen reichen bürgerlichen Häusern also – abgesehen von den alltäglichen, durch die Arbeit geregelten Kontakten mit der bürgerlichen Familie – in eigenen Dienstbotensphären ab. Die niedergeschriebenen Erinnerungen einer Wiener Industriellentochter an ihre Kindheit können helfen, dies ein wenig zu veranschaulichen: »Der Vater und der Großvater meines Vaters waren böhmische Industrielle, In­haber zweier Fabriken chemischer Produkte. (…) Mein Vater verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Brünn, später übersiedelte die Familie nach Wien. Meine Großeltern lebten auf großem Fuß, Dienerehepaar, weiteres Personal, Hauslehrer jeder Kategorie, dies gehörte bei aller Bescheidenheit nach außen zum selbstverständlichen Stil. (…) 1900 heirateten mein Vater und meine Mutter in Wien. (…) Als mein Bruder auf die Welt kam, wurde eine Amme für ihn engagiert. Das ging so vor sich: Man rief im Ammeninstitut an, tat kund, dass man eine Amme brauche, und kurz darauf erschien die Amme, in Bäuerinnentracht und angetan mit einem malerischen Frauenkopfputz. (…) Am 10. August 1903 erblickte ich das Licht der Welt, und gleichzeitig mit mir zog auch die Kinderfrau Agathe ein. Nun begann ein strenger Wind zu wehen. Agathe; eine ältere Frau, war zwar ein Matador in ihrem Fach, entwickelte sich aber zu einem wahren Hausdrachen.«26

Das Gebot eines respektvollen Verhältnisses innerhalb der Familie und eines distanzierten Umgangs mit den Dienstboten waren meist wichtige Bestandteile bürgerlicher Lebensrealität. Auch wenn die materiellen Umstände in vielen weniger bemittelten bürgerlichen Familien als in dem im Zitat beschriebenen großbürgerlichen Kontext sich anders darstellten. Dort herrschten dann auch andere räumliche Strukturen des familiären Alltags. Die beiden folgenden Zitate beschreiben Verhältnisse, die wohl sehr weit verbreitet waren, und sie nehmen Bezug auf die Schwierigkeit, den Normen eines angestrebten bürgerlichen Lebensstils auch im Alltag der damaligen Zeit zu entsprechen: »Nur die Eltern hatten richtige, ständige Schlafstellen; die Kinder spielten, lernten und schliefen auf improvisierten Liegestellen zum Teil  im Salon, zum Teil  im Speisezimmer.«  – »Die Wohnungen des ausgehenden 26 Erinnerungen von Claire Eugenie Millik-Stransky, zitiert in: Andrea Schnöller/Hannes Stekl (Hg.), »Es war eine Welt der Geborgenheit«. Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik, Wien 1987,S. 77–83. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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19.  Jahrhunderts entbehrten jeder Art von Aufrichtigkeit. Die Bestrebungen der bürgerlichen Bewohner von Drei- oder Vierzimmerwohnungen waren darauf ausgerichtet, in ihren Äußerlichkeiten den Luxus der Palais nachzumachen, (…) während etwa ein halbes Dutzend Kinder mit den Eltern das gemeinsame Schlafzimmer teilen musste!«27 Die Wohnungen in großen Teilen der bürgerlichen Welt gliederten sich meist entsprechend einer gewissen standesgemäßen Ordnung in Salon, das war der Raum für die Besuche und die Repräsentation, das Speisezimmer, das Herrenzimmer, das auch als Arbeitsraum für den männlichen Familien­ vorstand diente, das Schlafzimmer und schließlich die Küche. Die Küche war der Hauptaufenthaltsort des Dienstmädchens. Die Küche oder auch eine kleine, mitunter fensterlose Schlafkammer war auch der Schlafplatz der Haushaltskraft. In der Wohnsphäre galt für die Dienstboten in der Regel das Gebot, nicht aufzufallen und die Arbeit im Hintergrund zu verrichten. Dies änderte sich etwas, wenn es Kinder in den Familien gab, denn auch ein beträchtlicher Teil  der Betreuung der Kinder lag in der Regel im Aufgaben­ bereich des Personals bzw. des Dienstmädchens.

Ambivalenzen Hier kommen wir zu einer der Ambivalenzen bürgerlichen Familienverständnisses hinsichtlich einer sehr bewussten Separierung zu der sogenannten nicht-bürgerlichen Welt. Eigentlich eröffnet sich hier auch ein Widerspruch, zu dem was weiter oben hinsichtlich der starken Polarisierung von bürgerlicher zu nicht-bürgerlicher Welt gesagt wurde. Dort wurde dar­gelegt, dass die Söhne und Töchter der guten Gesellschaft mit der Welt und den Menschen da draußen in der Vorstand nicht wirklich viel zu schaffen hatten, mit dieser nicht viel zu tun hatten und daran auch nicht brennend interessiert gewesen wären. Vielleicht stimmt dies auch hinsichtlich des Interesses. Blickt man aber tiefer, so war die nicht-bürgerliche Lebenswelt aber – trotz der diskursiven Inszenierung einer sozialen Trennung und Kluft – dennoch mit jener in der bürgerlichen Innenstadt auch in recht grundsätzlicher Weise verschränkt. Von der unsichtbar/sichtbaren Dienstmädchenwelt, mit den Ammen, die Säuglinge betreuten, bis zu den Dienstmädchen, die für die kleinen und heranwachsenden Kinder das Essen kochten und sie zum Spaziergang durch 27 Grandits, Familienleben, S. 695. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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die Parks im Kinderwagen schoben, reichte die Lebenswelt der meist aus der Vorstadt oder vom Land kommenden Dienstmädchen ins zutiefst Private bürgerlicher Familienrealität. Um 1910 zählte eine Berufsstandszählung in Wien 100 000 meist jüngere Mädchen in dieser Berufskategorie der »Dienstmädchen« im häuslichen Dienst (nie wieder sollte dieser Stand so hoch sein – schon in den zwanziger Jahren fiel die Zahl auf weniger als 10 Prozent des Standes von 1910 herab).28 Getrennt und gleichzeitig eng verschränkt war die bürgerlichen Welt mit jener in vorstädtischen Raum auch in einem ganz sensiblen Bereich: jenem der Sexualität. Dieses Thema erfuhr ja bekanntlich gerade in der hier be­ handelten Periode des Fin-de-siècle in Wien in den sich rund um – und auch gegen – Sigmund Freud etablierenden »Psychoanalytischen Zirkeln« mit damals besonderer Weltgeltung wissenschaftlicher Reflexion. Trotz der schon erwähnten ganz besonderen Betonung von Ehe im bürgerlichen Wertkanon, war die Sexualpraxis in einem wohl beträchtlichen Teil der männlich-bürgerlichen Welt – vor allem in gewissen Phasen der Jugend und des Junggesellentums (das bei einer schon erwähnten oftmals sehr späten Heirat für viele bürgerliche Männer oft recht lang war), aber nicht nur dann, sondern ganz besonders etwa auch im Milieu des Militärs – mit der zur Vorstadt hinaus gelegenen Rot-Licht-Welt verknüpft. Letztgenannte hatte im Wien von 1900 eine enorm große Kapazität und war der Ort vieler tausender, in der Regel aus den Unterschichten entstammender Frauen. Wie systematisch etwa diese Verbindung bei der männlichen Bürgerjugend war, zeigt eine im Jahre 1912 unter jungen Ärzten durchgeführte Erhebung, die nach ihrer ersten Geschlechtspartnerin befragt wurden. Sie brachte folgendes, wohl auch für andere Teile der bürgerlichen Jugend nicht unrepräsentatives, Ergebnis: nur 4 Prozent nannten ein Mädchen, das als potentielle Ehefrau in Frage kam, 17 Prozent ein Dienstmädchen oder eine Kellnerin und schließlich 75 Prozent aber eine Prostituierte.29 Die Welt der Vorstadt und die bürgerliche Welt, so getrennt diese auch in der Tat waren und so stark diese Trennung auch diskursiv betont wurde, standen sich also auch angesichts dieser Zahlen alles andere als wirklich unvermittelt gegenüber.

28 Ebd., S. 692. 29 Maderthaner/Musner, Anarchie, S. 96. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Fazit In der »Monarchie der Gegensätze«, als die die Habsburgermonarchie gerne bezeichnet wurde, baute sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zunehmend eine bürgerlich-proletarische Polarisierung auf. Auch und gerade die Art der familialen Lebensführung wurde zu einer der zentralsten Abgrenzungskriterien. Tugendhaftigkeit im gelebten Familienmodell war – zumindest nach außen hin – ein Merkmal, wodurch man gerne die bürgerliche Familienwelt von einer  – nicht selten in Beschreibungen der Zerrüttung  – dargestellten Welt der Arbeiter, der Vorstädte und der Unterschichten schied. In diesem Tugenddiskurs waren auch viele Motive einer moralischen Normenwelt versteckt, die mitunter eher Ziel als Wirklichkeit war. Jedenfalls waren die inneren Differenzierungen sowohl innerhalb einer bürgerlichen wie auch einer proletarischen Welt prägnant, die diskursiven Polarisierungen oftmals weit größer als die gelebten Realitäten. Familienziele und -zwänge wandelten sich in der Abfolge der Generationen am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Dabei lassen sich gleich­ zeitig zwei recht gegensätzliche Tendenzen der Veränderung ausmachen: Zum einen kam durch positive Beschäftigungsverhältnisse in wachsenden Teilen der Arbeiterschaft zumindest in Wien in vielerlei Hinsicht ein klarer Schub hin zur Stärkung sogenannter bürgerlicher Familienmerkmale auch in breiteren Teilen der kleinbürgerlichen, kleingewerblichen und zum Teil auch proletarischen Welt merkbar voran. Zum anderen wurden gleichzeitig in Teilen der bürgerlichen Welt die etablierten Verhältnisse zwischen den Generationen und zum Teil  auch zwischen den Geschlechtern bzw. in der Art und Weise, wie man diese bürgerliche Welt künstlerisch darstellen dürfe, von einer kleinen avantgardistischen Elite herausgefordert. Wie eingangs am Beispiel einer sich um ein Bild von Gustav Klimt entzündenden Polemik über eine angemessene Gesellschaftssicht bzw. -abbildung versucht wurde zu zeigen, konnten dabei leidenschaftlich unterschiedliche Positionen dazu vor allem innerhalb der bürgerlichen Welt aufeinanderprallen. Diese Wiener Welt sollte in der Form, wie sie hier diskutiert wurde, nicht mehr lange währen. Der Erste Weltkrieg läutete dramatische Veränderungen ein. Je mehr sich im Verlauf des sich über Jahre hinziehenden Ersten Weltkriegs die Lage dann in den Jahren 1917 und 1918 zu einer Situation allgegenwärtigen Mangels und Hungers verschärfte, desto weniger vermochten die staatlichen Rationierungsmaßnahmen das Absinken des größten Teils der Bevölkerung – nun aber über fast alle gesellschaftliche Grenzen hinweg – in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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unermessliche Not zu verhindern. In den Oktober- und Novembertagen 1918 brachen dann die Kriegsindustrie und die habsburgische Armee zusammen. Der über Jahrhunderte gewachsene staatliche Verband der Habsburgermonarchie zerfiel. Die Etablierung der Nachfolgestaaten hatte die Abwanderung von mehr als 300 000 Menschen aus der Hauptstadt Wien zur Folge. Das ehemalige habsburgische Wirtschafts-, Finanz- und Verwaltungszentrum, das einst ausgerichtet auf ein 50 Millionen Einwohnerreich war, unterlag nach dem Ersten Weltkrieg einem massiven Bedeutungsverlust. Die Weltstellung z. B. der Wiener Luxus- und Konsumgüterindustrien sowie das Wirken der Kunstschaffenden waren von der weitgehenden Verarmung der traditionellen bürgerlichen Oberschichten schwer in Mitleidenschaft gezogen. Mit dem Jahre 1918 hatten sich – für große Teile der Einwohnerschaft der Stadt – die bis zum Krieg tradierten und leidenschaftlich verteidigten Ordnungs- und Autoritätskonzepte, sozialen Hierarchien und kulturellen Codes plötzlich erledigt. Für die meisten waren das auf einmal nur noch die einstigen Leit­bilder einer untergegangenen Vergangenheit, die in den neuen, durch den Krieg entstandenen, alles andere als geordneten und zutiefst krisenhaften Verhältnisse der neuen Gegenwart zunehmend deplatziert erschienen. In der Gegenwart, etwa im sogenannten »Klimt-Jahr« 2012 ganz besonders, aber eben auch im touristischen Alltagsbetrieb ebenso wie in sehr vielen künstlerischen, musealen oder anderen Veranstaltungen wenden sich mittlerweile Jahr für Jahr wieder viele hunderttausende Menschen aus einer zeitlichen Distanz heraus dieser untergegangenen Welt des Wiener Fin-de-siècle zu. Die ästhetischen Prämissen von damals bleiben also ein sich nicht wirklich verflüchtigender Bestandteil unseres mitteleuropäischen bzw. europä­ ischen kulturellen Gepäcks. Wie ich versucht habe zu zeigen, standen hinter diesen Prämissen einst aber sehr kontrovers diskutierte und in sich sehr ­widersprüchliche Vorstellungen und Realitäten von Tugendhaftigkeit und gesellschaftlicher Moral.

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Politische Ökonomie der Korruption Bestechung, Klientelismus und Institutionenwandel um 1900

Die Jahrzehnte um 1900 erscheinen im historischen Rückblick als klas­sische Epoche der Korruption. In vielen Ländern Europas und Nordamerikas häuften sich die Berichte über Korruptionsaffären, Finanzskandale und persönliche Verfehlungen von Amtsträgern. So kam es in den Vereinigten Staaten unter dem republikanischen Präsidenten Ulysses Grant gleich zu mehreren spektakulären Korruptionsskandalen, etwa als 1875 der »Whiskey Ring« aufflog. Es handelte sich dabei um ein engmaschiges Netzwerk aus Alkoholproduzenten, Händlern und hochrangigen Politikern, die systematisch Zollbehörden und Steuerbeamte bestochen hatten. In einem viel beachteten Strafprozess wurden 110 Personen verurteilt, zahlreiche Politiker und Beamte verloren ihre Positionen.1 Geradezu epidemisch verbreitete sich die Korruption in den expandierenden Metropolen wie Chicago oder New York, wo im Umfeld kommunaler Bau- und Infrastrukturinvestitionen regelrecht mafiöse Strukturen entstanden. Schmiergeldzahlungen zur Erlangung öffentlicher Aufträge gehörten hier zur Tagesordnung, wobei sich eine enge Verflechtung von Geschäftswelt, kommunaler Verwaltung und lokalen Parteibossen herausbildete. Die Parteizentrale der New Yorker Demokraten  – Tammany Hall – stieg im Gilded Age zu einem Symbol der korrupten Stadtpolitik auf. In kommunalen Wahlen wurden insbesondere die zahl­reichen verarmten Immigranten durch Geldgeschenke zur Stimmenabgabe für die Partei bewegt.2 Nicht viel anders stellte sich die Lage in Europa dar. In Italien wurde unter dem links-liberalen Präsi­denten Agostino Depretis die Machttechnik des

1 Timothy Rives, Grant, Babcock, and the Whiskey Ring, in: Prologue 32 (2000), H. 3. 2 Elmer E. Cornwell, Bosses, Machines, and Ethnic Groups, in: Alexander B. Callow (Hg.), The City Boss in America: An Interpretive Reader, New York 1976; Oliver E. Allen, The­ Tiger: The Rise and Fall of Tammany Hall, New York 1993; Richard C. Lindberg, To Serve and Collect. Chicago Politics and Police Corruption from the Lager Beer Riot to the Summerdale Scandal 1855–1960, Carbondale/Ill. 1998. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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»Trasformismo« erfunden. Es ging darum, in dem zersplitterten Parteien­ system durch das ständige Austarieren von Interessen, Posten und Ämtern sowie durch massive Wählerbestechung eine parlamentarische Mehrheit zu sichern – eine Technik, die für die politische Kultur Italiens bis heute kennzeichnend ist.3 Auch Frankreich wurde während der »Dritten Republik« durch zahlreiche Korruptionsfälle erschüttert. Sie galt schon Zeitgenossen als »Äffairen­ republik«.4 1887 musste Präsident Jules Grévy zurücktreten, nachdem ans Licht gekommen war, dass er sich mit Hilfe seines Schwiegersohns ein weit gespanntes Netz informeller Beziehungen bis in allerhöchste Wirtschaftskreise aufgebaut hatte. Staatsaufträge und gut dotierte Posten wurden gezielt nach politischer Opportunität verteilt. Zudem hatte Grévy durch Amts­ betrug und Insidergeschäfte an der Pariser Börse ein erhebliches Vermögen angehäuft. Seit der Grévy-Affäre reihte sich in Frankreich ein politischer Korruptions-Skandal an den anderen  – vom legendären Panama-Skandal 1892 bis hin zur Stavisky-Affäre im Jahre 1933, einem Finanzskandal, an dem die Republik fast zerbrach.5 Spätestens seit der Jahrhundertwende mehrten sich auch in Großbritannien und Deutschland spektakuläre Fälle von »Grand Corruption«. Ein Beispiel war die Marconi-Äffäre im Jahre 1912, bei der mehrere britische Regierungsmitglieder  – darunter Schatzkanzler Lloyd George  – im Verdacht standen, dem Telegraphenunternehmen Marconi vertrauliche In­formationen zugespielt und sich gleichzeitig durch Insidergeschichte mit Aktien des Unternehmens persönlich bereichert zu haben. Fast zeitgleich wurde Deutschland durch die Kruppsche »Kornwalzer«-Affäre erschüttert, bei der es um die Übermittlung von geheimen Informationen an den Rüstungskonzern ging – hier standen allerdings weniger Politiker als hohe Ministerial­beamte unter Korruptionsverdacht.6 Wie erklärt sich die massive Zunahme der Korruption um 1900? Frank Bösch hat argumentiert, dass es sich hierbei lediglich um eine Spielart des öffentlichen Skandals handelte, welcher im späten 19. Jahrhundert mit dem 3 Raffaele Romanelli, L’Italia liberale (1861–1900), Bologna 1979. 4 Jean Garrigues, La république des hommes d’affaires, 1870–1900, Paris 1997. 5 Jens Ivo Engels, Revolution und Panama. Korruptionsdebatten als Systemkritik in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik, in: Jens Ivo Engels u. a. (Hg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 143–174. 6 Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009; Jens Ivo Engels, Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert; in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 313–350. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Aufstieg der politischen Massenpresse in großer Zahl auftrat.7 Nach dieser Auffassung deuten die Korruptionsaffären nicht zwangsläufig auf eine neue soziale Praxis hin, sondern sind in erster Linie Ausdruck einer veränderten gesellschaftlichen Bewertung.8 Tatsächlich lässt sich um 1900 eine starke Moralisierung des Korrup­ tionsdiskurses beobachten. Sie war Ausdruck eines tiefgreifenden Normenwandels, der die Gesellschaften Europas und Nordamerikas in dieser Zeit erfasste. Bestechung und Amtsmissbrauch galten nun nicht mehr nur als individuelle Verfehlungen, die strafrechtlich verfolgt werden mussten, sondern als Ausdruck pathologischer gesellschaftlicher Zustände. In der politischen Debatte wurde Korruption vielfach als politische Chiffre gebraucht, um die Gefahren und sozialen Dynamiken der Moderne zu thematisieren. Diese Verschiebungen in der politischen Semantik können dieses Phänomen aber nicht alleine erklären. Diese These dieses Beitrages lautet, dass sich im späten 19. Jahrhundert nicht nur die gesellschaftlichen Normen ver­ änderten, sondern auch ein neuer Typus der Korruption entstand, der sich von den frühneuzeitlichen Patronage- und Klientelsystemen grundlegend unterschied. Der hier verwendete Begriff der »politischen Ökonomie der Korruption« zielt auf zweierlei: Zum einen spielen sich korrupte Handlungen vielfach an der Schnittstelle von Wirtschaft und Politik ab. Diese Schnittstelle muss daher im Zentrum der Analyse stehen. Zum anderen werden Ansätze der Neuen Politischen Ökonomie und der Institutionenökonomik auf­ gegriffen, um korrupte Praktiken zu analysieren. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den institutionellen Voraussetzungen und Anreizstrukturen, die Akteure dazu bewegen, korrupte Handlungen zu begehen. Im Folgenden werden zunächst einige theoretische Überlegungen angestellt, die neuere Debatten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in diesem Feld aufgreifen. Im zweiten Teil werden zwei Fälle skizziert, die für die Korruptionspraktiken um 1900 charakteristisch sind. Auf dieser Grundlage sollen im dritten Teil  übergreifende Thesen formuliert werden, welche die neuen Korruptionsformen seit dem späten 19. Jahrhunderts erklären. 7 Frank Bösch, Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 7 (2006), S. 25–32; vgl. auch Christine Landfried, Korruption und politischer Skandal in der Geschichte des Parlamentarismus, in: Rolf Ebbinghausen (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989, S. 130–148; Sighard Neckel, Political Scandals. An Analytical Framework, in: Comparative Sociology 4, 1/2 (2006), S. 101–111. 8 Jakob von Klaveren hat vor langer Zeit schon einmal die These vertreten, dass Korruption in allen historischen Epochen auftrete und nur die gesellschaftliche Bewertung einem Wandel unterliege: Jacob van Klaveren, Die historische Erscheinung der Korruption, in ihrem Zusammenhang mit der Staats- und Gesellschaftsstruktur betrachtet, in: Viertel­ jahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44 (1957), S. 289–324. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Wirtschaftswissenschaft und Korruption In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung gibt es drei theoretische Ansätze zur Erklärung von Korruption. Der erste Ansatz geht davon aus, dass Akteure eine rationale Kosten-/Nutzenentscheidung treffen. Sie wägen die Vorteile (z. B. zusätzliches Einkommen, verbesserte Markteintrittschancen) mit den Kosten (Strafverfolgung, moralische Verurteilung) ab und treffen auf dieser Basis eine Entscheidung. Meist verfügen korrupte Akteure über eine Monopolstellung, so etwa ein Beamter, der über die Vergabe eines öffentlichen Auftrages entscheidet. Der zweite Ansatz interpretiert Korruption als spezifische Form des Rent-Seeking.9 Private Akteure versuchen, sich durch Bestechung von Amtsträgern Vorteile zu verschaffen und Einkommen zu erzielen, die sie unter Marktbedingungen nicht realisiert hätten. Korruption wird daher vielfach als eine Alternative zum politischen Lobbying angesehen – allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass der staatliche Beamte im Falle von Korruption ebenfalls einen persönlichen Nutzen erzielt und eine Art Monopolrente abschöpfen kann. Andrei Shleifer und Robert Vishney haben diese Überlegung aufgegriffen und theoretisch zeigen können, dass vor allem die Größe des öffentlichen Sektors, die Struktur des politischen Systems und die Formen der Marktregulierung für das Ausmaß der Korruption in einer Gesellschaft verantwortlich sind. Demgegenüber treten andere Faktoren – etwa die Wettbewerbsintensität oder die Offenheit einer Volkswirtschaft in den Hintergrund. Überdies konnten die beiden Autoren beweisen, dass Korruption erhebliche Wohlfahrtsverluste bewirkt. So entstehen Fehlanreize, die zu einer suboptimalen Allokation volkswirtschaftlicher Ressourcen führen. Überdies sind Bestechung und Veruntreuung mit hohen Transaktionskosten verbunden, welche die Marktteilnehmer weitaus stärker belasten als eine einfache Steuer. Deshalb verursacht Korruption höhere volkswirtschaftliche Kosten als politisches Lobbying.10 Der dritte theoretische Ansatz stützt sich auf institutionenökonomische Überlegungen und argumentiert, dass Korruption stets eine Verletzung eines 9 Anne P. Krueger, The Political Economy of a Rent-Seeking Society, in: American Economic Review LXIV (1974), S. 291–303; Johannes Graf Lambsdorff, Corruption and Rent Seeking, in: Public Choice 113 (2002), S. 97–125; Susan Rose-Ackerman, Corruption and Government. Causes, Consequences, and Reform, Cambridge 1999. 10 Andrei Shleifer/Robert W. Vishny, Corruption, in: The Quarterly Journal of Economics, 108 (1993), S. 599–617; zum Verhältnis von Korruption und Lobbyismus vgl. auch F ­ lorian Eckert, Lobbyismus – zwischen legitimem politischem Einfluß und Korruption, in: Ulrich von Alemann (Hg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung, Wiesbaden 2005, S. 267–286. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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formellen oder informellen Vertragsverhältnisses impliziert. In der Regel werden Prinzipal-Agenten-Probleme für die Entstehung von Korruption verantwortlich gemacht. Der Prinzipal (der Staat, der Wähler oder eine Behörde) delegiert bestimmte Aufgaben an einen Agenten, ohne deren Ausführung detailliert überwachen zu können. Dadurch entstehen Informationsasymmetrien, die ein Einfallstor für opportunistisches Verhalten bilden. Die Prinzipal-Agenten-Theorie hat gegenüber anderen Ansätzen den Vorteil, dass sie eine mikroökonomische Perspektive einnimmt. Sie ist zur Analyse konkreter Korruptionsfälle besonders gut geeignet, da sie das Akteurs­handeln in spezifischen Situationen in den Mittelpunkt stellt. Überdies entgeht sie einem Definitionsproblem, das in der Diskussion vielfach auftaucht. Juristische oder politikwissenschaftliche Ansätze beschränken Korruption auf Handlungen, die gegen eine moralisch oder rechtlich sanktionierte Norm verstoßen. Aus institutionenökonomischer Perspektive geht es weniger um die Verletzung einer gesellschaftlichen Norm als um den Bruch eines Vertragsverhältnisses zwischen Prinzipal und Agenten. Dieser Vertrag kann juristisch kodifiziert sein, es kann sich aber auch um eine informelle Absprache oder implizite Norm handeln. Gerade in früheren Epochen, in den es noch keine rechtlichen Sanktionen gab, stehen solche informelle Normverstöße im Zentrum der Betrachtung. Schließlich lassen sich mit der Prinzipal-Agenten-Theorie – im Unterschied zu anderen Modellen, die Korruption als Missbrauch öffentlicher Macht zu privaten Zwecken definieren – auch korrupte Handlungen innerhalb der privaten Wirtschaft analysieren.

Empirische Erforschung der Korruption Die empirische Erforschung von Korruption steht vor einem grundsätzlichen Problem. Da sich korrupte Transaktionen in der Regel im Verborgenen abspielen, sind gesicherte Aussagen über Umfang und Form kaum möglich. Dieses Quellenproblem betrifft nicht nur die historische Forschung, sondern auch die aktuelle Korruptionsmessung. Die bekannten Korruptions­indices, die Transparency International, die Weltbank oder die OECD seit einigen Jahren regelmäßig erstellen, beruhen auf lückenhaften Daten. So werden z. B. die Zahl der Strafprozesse oder die ermittelten Bestechungs­summen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erfasst. Vielfach werden zudem Einschätzungen von Experten und Geschäftsleuten herangezogen. Solche umfragebasierten Verfahren gelten für eine bestimmte Moment­aufnahme als recht zuverlässig und ermöglichen auch Vergleiche zwischen Ländern und Welt© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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regionen. Veränderungen über längere Zeiträume lassen sich damit jedoch nicht darstellen, auch ist eine präzise Quantifizierung mit Hilfe solcher qualitativer Methoden ausgeschlossen.11 Für die historische Forschung sind die empirischen Lücken noch größer, da vergleichbare Erhebungen für die Vergangenheit nicht existieren. Statistische Erhebungen, etwa von Strafverfahren, sind über längere Zeiträume nicht aussagekräftig, da sich Gesetzeslage und Verfolgungspraxis meist ändern. Historische Untersuchungen müssen sich daher auf qualitative Analysen beschränken, die bestimmte Korruptionsfälle in den Mittelpunkt stellen. In der Regel liegen immer dann Quellen vor, wenn es zu einem öffentlichen Skandal oder juristischen Verfahren gekommen ist. Im Folgenden sollen zwei Fälle dargestellt werden, die für die Zeit um 1900 als repräsentativ gelten können und die aufgrund einer straf­rechtlichen Verfolgung gut dokumentiert sind: Als erstes wird der Panama-Skandal von 1892 betrachtet, der als bedeutendster Korruptionsfall im ausgehenden 19.  Jahrhunderts galt. Zweitens soll der römische Bankenskandal von 1893 analysiert werden, der über den spezifisch italienischen Kontext hinaus ebenfalls eine paradigmatische Qualität besaß. Der Panama-Skandal bestand aus der Verquickung mehrerer Korrup­ tionsfälle. Das 1881 begonnene Kanalbauprojekt im mittelamerikanischen Dschungel war von Beginn mit hohen finanziellen, organisatorischen und technischen Risiken belastet. Diese Risiken wurden jedoch angesichts des 1869 erfolgreich abgeschlossenen Suez-Kanals systematisch unterschätzt. Die 1876 in Paris gegründete Société Civile Internationale du Canal Inter­ océanique operierte mit einer überaus unrealistischen Zeit- und Finanz­ planung und musste offenbar schon für den Erwerb der Konzession von der kolumbianischen Regierung hohe Bestechungssummen zahlen. Ferdinand Lesseps, der die Anteile der Gesellschaft 1879 für 10 Millionen Francs erwarb und auf die »Compagnie de Panama« übertrug, finanzierte das Projekt im Wesentlichen über den privaten Kapitalmarkt. Ein Grundproblem bestand darin, dass die Unternehmensleitung in Paris nur geringe Kontrollmöglichkeiten über die Bautätigkeit vor Ort besaß. Aufgrund von Missmanagement und einer viel zu geringen Kalkulation der Investitionskosten stand das Unternehmen schon nach zwei Jahren vor dem finanziellen Aus.12 Um die Finanzierung des Projektes zu sichern, legte die Kanalgesellschaft in mehreren Tranchen Anleihen auf, deren Zeichnung sich jedoch im11 Zu den verschiedenen Ansätzen vgl. Charles Sampford u. a. (Hg.), Measuring Corruption, Aldershot 2006. 12 Vgl. Jean Y. Mollier, Le scandal de Panama, Paris 1991; Pierre A. Bourson, L’affaire Panama, Paris 2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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mer schwieriger gestaltete. Als sich jedoch abzeichnete, dass die Bauarbeiten weitaus langsamer voranschritten als geplant, verloren die Aktien merklich an Wert. Mehrfach wurden Journalisten bestochen, um durch geschönte Berichte die tatsächlichen Probleme des Großprojektes zu verschleiern. Darüber hinaus erhielten zahlreiche Abgeordnete und Regierungsmitglieder Gratisaktien, damit sie eine Ausnahmegenehmigung für eine Lotterieanleihe unterstützten, die in Frankreich eigentlich verboten war. Die fragwürdigen Finanztransaktionen konnten jedoch nicht verhindern, dass das Unternehmen 1888 Konkurs machte. Zu diesem Zeitpunkt waren über 88 Millionen Pfund in das erst zu einem Drittel fertig gestellte Projekt geflossen. Die Panama-Affäre hat vor allem deshalb die Aufmerksamkeit der histo­ rischen Forschung gefunden, weil sie zu den großen politischen Skandalen jener Zeit zählte und in Frankreich ein politisches Erdbeben auslöste. Die französische Massenpresse berichte detailliert über die dunklen Machenschaften, es kam zu mehreren parlamentarischen Untersuchungen und Strafprozessen, zwei Regierungen stürzten über den Skandal. Die Tatsache, dass die französische Regierung die Aktionäre über die prekäre finanzielle Situation des Unternehmens im Dunklen gelassen hatten und rund 800 000 Kleinanleger in ihr Verderben laufen ließ, sorgte für eine nachhaltige Diskreditierung der politischen Klasse. Da mehrere jüdische Bankiers und Politiker in den Fall ver­ wickelt waren, nutzte die politische Rechte die Affäre für antisemitische Hetzkampagnen. Abgesehen von diesen politischen Implikationen handelt es sich bei der Panama-Affäre um das Musterbeispiel moderner Korruption. Es öffnet Einblicke in die institutionellen Voraussetzungen und ökonomischen Mechanismen korrupten Handelns, wie sie auch heute vielfach zu beobachten sind. Das zweite Fallbeispiel, der Skandal um die Banca Romana, fand nicht nur zeitgleich statt, sondern wies auch eine Reihe ähnlicher Merkmale auf, so dass Zeitgenossen von einem »italienischen Panama« sprachen.13 Ausgangspunkt dieses Skandals war das dezentrale Notenbanksystem Italiens. Nach der Einigung Italiens im Jahre 1861 war keine nationale Notenbank gegründet worden. Vielmehr übertrug der Staat das Emissionsrecht sechs regionalen Geschäftsbanken. Dies führte jedoch zu großen Unregelmäßigkeiten, da sich private und öffentliche Aufgaben vielfach nicht trennen ließen und eine effektive Kontrolle durch staatliche Behörden schwer umzusetzen war. Als besonders problematisch erwies sich das Geschäftsgebaren der Banca Romana, die bis zur nationalen Einigung die Finanzgeschäfte des Kirchenstaates verwaltete und die tief in den stadtrömischen Klüngel verstrickt war. Nach 13 Friedrich Engels, Vom italienischen Panama (Beiträge aus dem »Vorwärts« vom Januar 1893), in: Friedrich Engels/Karl Marx, Werke, Bd. 22, Berlin 1970, S. 358–364. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Auflösung des Kirchenstaates wurde der Bank die Notenausgabe in Rom und Teilen Mittelitaliens übertragen, was jedoch zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten führte. Von Anfang an überzog die Banca Romana das ihr zugewiesene Notenkontingent, indem sie Banknoten mit der gleichen Nummer mehrfach druckte. So emittierte die Bank seit 1871 statt der vorgesehen 60 Milliarden insgesamt 113 Milliarden Lire. Diese Mittel flossen zum Teil in illegale Geschäfte auf dem römischen Immobilienmarkt, der seit der Verlegung des Regierungssitzes nach Rom einen regelrechten Spekulationsboom erfuhr.14 Mehrfach wurden öffentliche Behörden zum Erwerb von Baukonzessionen bestochen. Ein erheblicher Teil der Mittel wurde aber auch für die Finanzierung der Wahlkämpfe der regierenden liberalen Partei sowie für die Bestechung mehrerer Abgeordneter und Regierungsmitglieder verwendet. Dabei ging es nicht zuletzt darum, das lukrative Emissionsrecht der Regionalbanken zu bewahren, welches durch die geplante Gründung einer Zentralbank gefährdet war.15 Erst als 1888/89 die Immobilienblase platzte und mehrere Geschäftsbanken Konkurs anmeldeten, wurde eine parlamentarische Untersuchungskommission eingesetzt, die das Ausmaß des korrupten Finanzsystems ans Licht brachte.16 In einem anschließenden Strafprozess verurteile ein Gericht den Gouverneur und den Direktor der Banca Romana zu hohen Gefängnisstrafen. Zudem stürzte der liberale Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti, dem vorgeworfen wurde, die parlamentarischen Untersuchungen behindert zu haben. Zu den langfristigen institutionellen Folgen der Affäre gehörte eine umfassende Regulierung des Bankenwesens sowie die Zentralisierung und Verstaatlichung des Notenbankwesens unter dem Dach der neu gegründeten Banca d’Italia.17

Übergreifende Überlegungen Auf der Grundlage der beiden Fallbeispiele sollen abschließend einige übergreifende Überlegungen angestellt werden, um die Korruptionspraxis des späten 19. Jahrhunderts zu erklären. 14 Alexander Nützenadel, Städtischer Immobilienboom und Finanzkrisen im späten 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2011/2, S. 97–114. 15 Enzo Magri, I ladri di Roma. 1893 scandalo della Banca Romana: politici, giornalisti, eroi del Risorgimento all’assalto del denaro pubblico, Mailand 1993. 16 Ausführliche Dokumentation in: Napoleone Colajanni, Banche e Parlamento. Fatti, discussioni e commenti, Mailand 1893. 17 Guglielmo Negri (Hg.), Giolitti e la nascita della Banca d’Italia nel 1893, Rom 1989. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Erstens fällt auf, dass bei diesen Korruptionsfällen zahlreiche Akteure aus unterschiedlichen Bereichen involviert waren. Es handelt sich somit um »systemische Korruption«, die auf eingeübten Verhaltensweisen, informellen Regeln und sozialen Netzwerken beruhte. Allerdings unterschieden sich die hier beobachteten Praktiken von den Patronagebeziehungen vormoderner Gesellschaften. Es ging nicht in erster Linie darum, durch die Gewährung von Vorteilen soziale Hierarchien und familiale Bindungen zu stabilisieren, sondern darum, sich durch den Missbrauch von Handlungs- und Eigentumsrechten zusätzliche Einkommensquellen zu verschaffen. Allerdings sind  – wie die Beispiele deutlich machen – klassische Patronage und moderne Korruption nicht immer scharf von einander zu trennen. Vielfach wirken ältere Patronagepraktiken fort. Dies gilt etwa für die stadtrömischen Familienclans, die in Immobiliengeschäfte verwickelt waren, oder für das politische Klientelsystem in Frankreich, dass Präsident Jules Grevy während seiner langen Amtszeit aufgebaut hatte. Zweitens ist die Zunahme der Korruption im späten 19. Jahrhundert nicht ohne die massive Ausweitung der Staatstätigkeit zu verstehen. Ein großer Teil  der Bestechungsvorgänge spielte sich im Umfeld öffentlicher Investi­ tionsprojekte ab. Der Ausbau der Infrastrukturen, die Expansion der städtischen Leistungsverwaltung, das Wachstum der Metropolen und die staatliche Regulierung immer weiterer Bereiche schufen vielfältige Ansätze für Bestechung und Veruntreuung. Neben den hier vorgestellten Beispielen ließen sich zahlreiche ähnliche Fälle anführen, etwa die Bestechungsvorgänge beim Eisenbahnbau in den USA und Großbritannien oder die Rüstungsskandale im Wilhelminischen Kaiserreich. Grundsätzlich spielte es keine Rolle, ob diese Projekte durch öffentliche Mittel oder private Investoren finanziert wurden. Auch bei privat finanzierten Projekten wurden häufig Amtsträger bestochen, um Konzessionen zu erwerben oder bestimmte Finanzierungsformen zu ermöglichen. So wurden beim Panama-Skandal keine öffentlichen Mittel veruntreut, sondern durch die parlamentarische Absegnung unseriöser Finanzierungsmethoden zahlreiche Anleger betrogen. Dennoch wäre es falsch, allein die Zunahme der Staatstätigkeit bzw. die sich vergrößernde Schnittstelle von privatem und öffentlichem Sektor für die Zunahme der Korruption verantwortlich zu machen. Vielmehr müssen auch die Veränderung innerhalb der privaten Wirtschaft berücksichtigt werden. Die Entstehung großer privater Unternehmen, die Formierung bürokratischer Binnen­strukturen und die Trennung von Eigentümer und Manager schufen zunehmend Prinzipal-Agenten-Probleme, die ein Einfallstor für opportunistisches Verhalten öffneten. Insbesondere im Auslandsgeschäft kam es vielfach zu Veruntreuung und Bestechung, wie das Beispiel der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Panama-Gesell­schaft zeigt. Dabei machten sich nicht nur die fehlenden Kontrollmöglichkeiten bemerkbar, sondern auch die Tatsache, dass im Auslandsgeschäft unlautere Praktiken stets damit gerechtfertigt wurden, dass nur eine gewisse Flexibilität zum Erfolg führe. Drittens hing die Zunahme der Korruption im späten 19. Jahrhundert mit dem tiefgreifenden ordnungspolitischen Wandel zusammen. Aus der Transformationsforschung ist bekannt, dass politische und wirtschaftliche Systemwechsel mit einer ausgreifenden Korruptionsaktivität einhergehen. Die Entwicklungen in der postsowjetischen Umbruchzeit oder auch in China nach Einführung der Marktwirtschaft bieten dafür reichliches Anschauungsmaterial. Für den Zusammenhang von Korruption und ordnungspolitischen Wandel gibt es mehrere Erklärungen. Zum einen sind die Möglich­keiten der Kontrolle in Transformationsphasen gering, weil entweder die alten Institutionen nicht mehr ausreichend funktionieren oder neue Kontroll- und Sanktionsmechanismen noch nicht bestehen. Zum anderen existieren in Transformationsperioden keine eindeutigen Handlungs- und Verfügungsrechte. Das Beispiel des römischen Bankenskandals führt dieses Problem plastisch vor Augen: Die hybride Organisation des Notenbankwesens war eine Voraussetzung für die Herausbildung korrupter Praktiken. Erst mit der Etablierung eines staatlichen und zentralisierten Notenbanksystems konnten diese Formen des Missbrauchs unterbunden werden. Viertens ist die zunehmende Korruption nicht ohne den politischen Mobilisierungsschub zu verstehen, der die europäischen Gesellschaften um 1900 erfasste. Zwar hat es auch schon in den ständischen und frühparlamentarischen Systemen Stimmenkauf und Abgeordnetenbestechung gegeben, so etwa in Großbritannien im 18.  Jahrhundert oder auch in Frankreich während der »Juli-Monarchie« ab 1830, wo unter dem roi citoyen Louis P ­ hillipe die Praxis der Abgeordnetenbestechung aufblühte. Doch mit der Entstehung des modernen »politischen Massenmarktes« (Hans Rosenberg) gewannen korrupte Praktiken eine neue Qualität. Die Ausweitung des Wahlrechtes und die fortschreitende Parlamentarisierung führten vielfach zu einer Zunahme von Unregelmäßigkeiten. Zwar verlor die direkte Wählerbestechung durch die Einführung des geheimen Wahlrechtes in den meisten parlamentarischen Systemen an Bedeutung. Der verschärfte politische Wettbewerb und die Entstehung moderner Parteien schufen aber ein neues Einfallstor für Korruption, da der Finanzbedarf für Parteiorganisationen und Wahlkämpfe stark anstieg. Für die Gewinnung eines Wahlkreises mussten Abgeordnete ein hohes Wahlkampfbudget aufwenden. Unternehmen und Verbände griffen durch Wahlkampffinanzierung verstärkt in das politische Geschäft ein. Die Grenze zwischen legalen Wahlkampfspenden und expliziter Wahl- und © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Abgeordnetenbestechung war hierbei fließend. Diese Beobachtung deckt sich mit der politikwissenschaftlichen Korruptionsforschung, welche die ältere Auffassung widerlegt hat, dass Demokratisierung per se zu einer Verminderung von Korruption führt. Vielmehr weisen gerade junge und unvollständige Demokratien, in denen der parlamentarische Wettbewerb mit einer präsidialen Verfassung und einer starken Bürokratie einhergeht, eine besonders hohe Korruptionsaffinität auf.18 Fünftens deuten die Korruptionsskandale der Jahrhundertwende auf einen tiefgreifenden Normenwandel hin. Korruption wurde politisch und moralisch zunehmend kritisch bewertet. Angesichts der immer häufiger auftretenden Fälle von Bestechung und Vorteilsnahme im Amt entstand ein verstärktes Bewusstsein über die Schädlichkeit von Korruption. Anders als in den frühneuzeitlichen Gesellschaften wurden Ämterkäuflichkeit, Patronage und Bestechlichkeit zunehmend als Problem betrachtet. Davon zeugen die im späten 19. Jahrhundert in den meisten europäischen Ländern erlassenen Gesetze gegen Bestechung von Amtsträgern oder Stimmenkauf. Aus Sicht der Prinzipal-Agenten-Theorie handelte es sich um nichts anderes als eine Externalisierung von Transaktionskosten, die nun dem Staat übertragen wurden. Auch die zunehmende Skandalisierung der Korruption kann in diesem Sinne gedeutet werden. Durch die moralische Aufladung korrupten Handelns und die Mobilisierung der öffentlichen Meinung mussten die betroffenen Personen mit einem langfristigen Reputationsverlust rechnen. Als Fazit kann festgehalten werden, dass die um 1900 auftretenden Korruptionsskandale Ausdruck einer tiefgreifenden Transformation der europäischen Gesellschaften waren. Es handelte sich nicht um einen archaischen Überrest traditionaler Sozialbeziehungen, oder wie der Soziologe Dirk ­Baecker einmal formuliert hat, um ein »Hereinragen der Bindungsinstrumente der alten Welt in die neue Welt«.19 Vielmehr ist Korruption ein Phänomen, das mit der Genese moderner Institutionen und einer arbeitsteiligen Wirtschaft untrennbar verbunden ist. Dies erklärt, warum die meisten Gesellschaften bis heute mit diesem Problem befasst sind.

18 Alan Doig/Robin Theobald (Hg.), Corruption and Democratisation, London 2000; Jonathan Moran, Democratic transitions and forms of corruption, in: Crime, Law and Social Change 36 (2001), S. 379–393. 19 Dirk Baecker, Korruption, empirisch, in: taz, 24.1.2000, S. 14. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Afrika in der Welt Afrikanische Geschichte im 20. Jahrhundert 1

Ein Kontinent ohne Geschichte? Beginnen möchte ich diesen Beitrag mit einer Person, welche die Meisten nicht auf den ersten Blick mit Afrika assoziieren würden, mit N ­ icolas Sarkozy nämlich, der es gleich zu Beginn seiner Amtszeit als franzö­sischer Präsident mit einer Rede in der senegalesischen Hauptstadt Dakar geschafft hat, negativ in die Annalen der Afrikawissenschaften einzugehen. In seinem »Discours de Dakar« formulierte er etwa folgende bemerkenswerte Sätze: »Afrikas Drama ist, dass der Afrikaner nicht genug in die Geschichte eingetreten ist. Der afrikanische Bauer kennt nur den ewigen Wiederbeginn der Zeit im Rhythmus der endlosen Wiederholung derselben Gesten und derselben Worte. In dieser Geisteshaltung, wo alles immer wieder anfängt, gibt es Platz weder für das Abenteuer der Menschheit noch für die Idee des Fortschritts. In diesem Universum, wo die Natur alles regelt, entkommt der Mensch der Qual der Geschichte, die den modernen Menschen gefangen hält, und er bleibt regungslos in einer unveränderlichen Ordnung. Nie geht er auf die Zukunft zu. Nie kommt er auf die Idee, aus der Wiederholung auszutreten, um sich ein Schicksal zu erfinden. Dies ist das Problem Afrikas.«2 Diese Ausführungen gemahnen sehr stark an jene berühmten Denk­ muster, die sich um 1800 Bahn brachen und für die nicht zuletzt der große Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel steht. Hegel prägte die Vorstellung 1 Die folgenden Überlegungen entstanden im Zusammenhang mit Vorarbeiteten zu einer »Geschichte Afrikas seit 1850«, die ich für die Neue Fischer Weltgeschichte verfasse. Einige Aspekte des Aufsatzes habe ich bereits an anderer Stelle formuliert. Vgl. Andreas Eckert, Nation, Staat und Ethnizität in Afrika im 20. Jahrhundert, in: Arno Sonderegger u. a. (Hg.), Afrika im 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2011, S. 40–59; Ders., Area Studies and the Writing of Non-European History, in: Matthias Middell/Lluís Roura (Hg.), Transnational Challenges to National History Writing, Houndsmill 2013, S. 140–163. 2 Zit. nach Dominic Johnson, Sarkozy befremdet Afrika, in: taz. die tageszeitung, 1.8.2007. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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eines unilinearen Evolutionismus, demzufolge es nur eine, stufenförmig fortschreitende Weltgesellschaft geben kann, die ihrerseits in der bürgerlichen Gesellschaft gipfelt. Die Geschichte der nicht-europäischen Gesellschaften wurde dagegen zu einer Vorgeschichte reduziert. Hegel gebrauchte diesbezüglich die Metapher vom »Kinderland« Afrika.3 Diese Vorstellungen prägten bald die Wissenschaften, in denen man die imperiale Trennung zwischen Europa als Subjekt und der kolonisierten Welt als Objekt institutionell festschrieb: Die aufkommenden Sozial- und Wirtschaftswissenschaften etwa waren für die europäische Welt der Moderne zuständig, »vormoderne« Kulturen, vermeintlich ohne Geschichte (wie Afrika) oder vermeintlich stagnierend, wie etwa China und Indien, gehörten in den Gegenstandsbereich der Ethnologie oder der entstehenden Area Studies beziehungsweise Philologien. Diese Grenzziehungen hat der Ethnologe Johannes Fabian einmal treffend als die »Versagung der Gleichzeitigkeit« bezeichnet, und Dipesh Chakrabarty hat davon gesprochen, dass die Gesellschaften Afrikas und Asiens in einen imaginären Warteraum der Geschichte eingesperrt wurden.4 Dies trägt bis heute nach, unter anderem spürbar in der verbreiteten Perspektive, dass etwa afrikanische Gesellschaften »noch nicht so weit« seien oder vom vermeintlichen Normalfall, also dem nordatlantischen Kontext, abwichen. Als die meisten Kolonien in Afrika um 1960 unabhängig wurden, war sowohl bei Historikern als auch in der Öffentlichkeit der Glaube weit verbreitet, Afrika sei ein Kontinent ohne Geschichte. Niemand hat dies brutaler aus­gedrückt als Hugh Trevor-Roper, Königlicher Professor für Neuere Geschichte in Oxford, der 1965 verkündete, die Historie Afrikas bestünde lediglich aus den »unbefriedigenden Drehungen barbarischer Stämme in pittoresken, aber irrelevanten Weltgegenden.«5 Den Trevor-Ropers in den historischen Instituten gelang es in den sechziger- und siebziger Jahren jedoch nicht, dies gilt jedenfalls für England, zum Teil Frankreich und vor allen die USA, den nachhaltigen Aufstieg der außereuropäischen Geschichte und auch der Geschichte Afrikas an den Universitäten aufzuhalten. Im Falle Afrikas schien die Dekolonisierung der Geschichte gleichsam noch dringlicher zu sein, als in anderen ehemals kolonisierten Weltgegenden. Caroline Neale hat dieses Gefühl der Dringlichkeit so gefasst: »Die neuen Nationen brauchten eine neue Geschichte, und diese musste die alte widerlegen,

3 Georg F. W. Hegel, Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986 (1822–28), S. 120. 4 Vgl. Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Objects, New York 1983; Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Potcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. 5 Hugh Trevor-Roper, The Rise of Christian Europe, in: The Listener 28/11 (1963), S. 71. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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weil die alte sowohl falsch war als auch den Stolz Afrikas verletzte.«6 Dieses Projekt der Dekolonisierung der Geschichte wurde in den sechziger Jahren von afrikanischen und »westlichen« Historikern geteilt, die alle, wie John ­Lonsdale es einmal treffend formuliert hat, wie eine »Vereinigung von engagierten Gelehrten für ein freies Afrika« agierten.7 Die großen Themen waren vor­koloniale Geschichte und antikolonialer Widerstand, Themen, die als »genuin afrikanische Geschichte« charakterisiert wurden. Untersuchungen zur Kolonialzeit galten hingegen als Rückfall in die alte eurozentrische Kolonialgeschichte. Im Bereich der Methoden schien die »mündliche Geschichte«, wie sie etwa Jan Vansina in seinem berühmten Buch »Oral Tradition as History« 1965 dargelegt hatte, eine afrikanische Alternative zu schriftlichen Quellen darzustellen. Dabei war es verbreitete Überzeugung, dass AfrikaHistoriker für die angemessene Analyse dieser mündlichen Traditionen über intime Kenntnisse der lokalen Sprachen und Kulturen verfügen müssen, aus denen die Traditionen stammten, also ausgedehnte Forschungen vor Ort durchzuführen hatten. In den sechziger Jahren war afrikanische Geschichte gleichsam ein aufregendes Feld für Pioniere, mit einer glänzenden Zukunft; ein Bereich, in dem es viel zu tun gab. Der Zauber, der dem Anfang innewohnte, war rasch verflogen. Eine Dekade später warnte Terence Ranger, dass es nicht genug sei, die Nachfrage nach ein wenig Wissen über die neuen Nationen Afrikas zu befriedigen: »Das Gefühl der Aufregung, der Wichtigkeit gar war teilweise das Resultat des großen, schmeichelhaften Interesses. Da unsere Kunden so zufrieden mit dem waren, was wir ihnen offerierten, herrschte wenig Anreiz, genauer zu untersuchen, wie eng unsere Forschungen eigentlich mit den Realitäten in Afrika verbunden waren.«8 Die Mitte der siebzigerer Jahre, als Ranger seine Kritik artikulierte, markierte eine Periode, in welcher der Enthusiasmus für die neue afrikanische Geschichte bereits radikal im Niedergang begriffen war. Die große Mehrheit der jungen afrikanischen Staaten schlug sich mit substantiellen politischen und ökonomischen Problemen herum. Diese Situation hatte wiederum massive Folgen für die Wissensproduktion in Afrika selbst. Die Publikation von historischen Büchern litt nachhaltig unter Währungsproblemen, Papiermangel und fehlenden Käufern – Studierenden fehlte das Geld, um Bücher zu kaufen. Der wirtschaftliche Niedergang in Afrika 6 Caroline Neale, Writing »Independent« History. African Historiography, 1960–1980, Westport 1980, S. 9. 7 John Lonsdale, States and Social Processes in Africa: A Historiographical Survey, in: African Studies Review 24 (1981), S. 143. 8 Terence O. Ranger, Towards a Usable Past, in: Christopher Fyfe (Hg.), African Studies since 1945, Harlow 1976, S. 17. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ging einher mit einem neuen Modus der Selbstkritik von Afrika-Historikern innerhalb wie außerhalb Afrikas, der sich aus der wachsenden Desillusionierung über die politische Situation ebenso speiste wie über die Frustration angesichts der offenkundigen Grenzen methodischer Innovation im Bereich der Afrika-Geschichtsschreibung. Diese methodische Frustration bezog sich primär auf die Tatsache, dass man in den sechziger Jahren den mündlichen Traditionen gleichsam zu viel zugetraut bzw. zugemutet hatte. Afrika-Historiker mussten zunächst einmal einsehen, dass keineswegs »einfache Leute«, sondern in der Regel die Mächtigen in mündlichen Traditionen die entscheidende Rolle spielten oder auch als Informanten agierten. Zudem erwiesen sich mündliche Traditionen nicht als »Dokumente«, sondern als sich beständig wandelndes Resultat der Bemühungen vieler Generationen, durch die Interpretation der Vergangenheit ihre eigene Gegenwart zu verstehen und zu manipulieren. Bei aller Verdrossenheit, die daraus resultierte, gab es Mitte der siebziger Jahre auch intellektuelle und nicht zuletzt institutionelle Erfolge zu verzeichnen. Dazu zählten ein Aufwuchs an Stellen, mehrbändige Gesamtdarstellungen, Zeitschriften und größere Anerkennung durch den Mainstream, zumindest in den Vereinigten Staaten. Vielleicht wichtiger noch als die institutionelle Etablierung des Feldes war das, was Steven Feierman die durch den Aufstieg der afrikanischen Geschichte mit angestoßene »Auflösung der Weltgeschichte« genannt hat. Die neue Afrika-Historiographie habe das Verständnis von »allgemeiner« Geschichte und von Europas Platz in der Welt nachhaltig verändert. Es sei, schreibt Feierman, nicht mehr länger möglich, eine Position aufrecht­ zuerhalten, die historische Prozesse in nicht-europäischen Gesellschaften lediglich als Folge der umfassenden Einflüsse aus einem europäischen Zentrum begreife.9 Diese Einsicht ist freilich weit davon entfernt, common sense zu sein, und viele große Werke der Geschichtswissenschaft frönen einem Modell, das William McNeills klassischem Verständnis von Weltgeschichte als »Aufstieg des Westens« folgt.10 Nehmen wir etwa Fernand Braudels beeindruckende dreibändige Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Braudel ging es u. a. um den systematischen Charakter der Ungleichheit zwischen den Menschen. Er war an der Frage interessiert, wie sich die Herrschaft des kapitalistischen Zentrums aus Entwicklungen innerhalb Europas und aus Beziehungen zwischen lokalen Ökonomien und Weltwirtschaft entfaltete. 9 Steven Feierman, African Histories and the Dissolution of World History, in: Robert H. Bates u. a. (Hg), Africa and the Disciplines. The Contribution of Research in Africa to the Social Sciences and Humanities, Chicago 1993, S. 167–212. 10 William R. McNeill, The Rise of the West. A History of the Human Community, Chicago 1963. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Zudem bemühte sich der französische Historiker darum, den Beitrag des außerhalb Europas gewonnenen Reichtums zum Aufstieg des Kapitalismus zu ana­lysieren, aber er behandelte Afrikaner und in geringerem Umfang die Menschen Nord- und Südamerikas nur insoweit als historische Akteure, als sie in einem europäischen Kontext relevant wurden: »Dieses Nicht-Europa aber müssen wir, so gern wir es an sich betrachten möchten, im Schatten Westeuropas sehen, ohne den es schon im 18. Jahrhundert nicht mehr zu verstehen ist… Jedenfalls bezieht Europa schon damals einen beträchtlichen Teil seiner Substanz und Kraft aus aller Welt, wodurch es angesichts der Auf­ gaben, die sich auf seinem Weg von Fortschritt zu Fortschritt stellen, über sich hinauswächst.«11 Große Teile der Welt werden hier einfach aufgrund der Tatsache zusammengefasst, dass sie nicht zu Europa gehören. Überdies beschreibt Braudel an anderer Stelle afrikanische Entwicklungen in essentialistischen ethnischen Begriffen. Das Beispiel des großen Annales-Historikers spricht zwei Grundprobleme an, denen sich eine Darstellung der Geschichte Afrikas stellen muss: Erstens ist zu fragen, wie viel Europa es braucht, um die Historie Afrikas seit dem späten neunzehnten Jahrhundert zu schreiben? Und zweitens, wie geht man mit den im Kontext Afrikas vielleicht besonders hart­näckigen Stereo­ typen und Essentialisierungen um? Diese Fragen strukturieren auch einige der zentralen Forschungsfelder und Forschungskontroversen zur neueren afrikanischen Geschichte, die sich in den vergangenen drei Jahrzehnten entwickelt haben und die im Zentrum der folgenden Abschnitten stehen werden.

Afrika als Weltregion? Stillschweigend, aber bewusst, so lässt sich jedenfalls vermuten, haben sich die Gründer der Teildisziplin Geschichte Afrikas darauf verständigt, eine kontinentale Definition von Afrika einzuführen, welche zwar gelegentlich Nordafrika mit einschloss, Afrikaner in der Diaspora hingegen ausschloss. Programmatische Begründungen für diese Setzung gab es nicht, gleichwohl liegt die Erklärung auf der Hand: Den Pionieren im Bereich der Geschichte Afrikas war es vornehmlich darum zu tun, das Feld als eigenständig zu definieren, und nicht einfach als Hintergrund der Geschichte Amerikas zu konzep11 Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Bd. 3: Aufbruch zur Weltwirtschaft, München 1986, S. 429 f. Zur Kritik an Braudel vgl. Feierman, African Histories, S. 173–175. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tualisieren, wie es frühere afroamerikanischer Autoren, etwa W. E. B. Du Bois in seiner bahnbrechenden, 1915 veröffentlichten Untersuchung »The Negro«, getan hatten. Daher erschien es opportun, afrikanische Geschichte, inklusive der Geschichte des Sklavenhandels, aus ihren atlantischen Bezügen  – und auch aus der Welt der Sahara und des Indischen Ozeans – herauszulösen, um sie als gleichsam autonomes, existenzfähiges Subjekt zu konstituieren. Dieser Zuschnitt ist vor dem eingangs geschilderten Hintergrund der vermeintlichen Geschichtslosigkeit und der Vision der Nationsbildung nachvollziehbar. Die darin implizit enthaltene Annahme, dass etwa afrikanische Sklaven, sobald sie sich an Bord eines Sklavenschiffes befanden oder Teil einer SaharaKarawane wurden, aufhörten, Gegenstand der afrikanischen Geschichte zu sein, ist zumindest aus vergleichender Perspektive jedoch problematisch.12 Vor diesem Hintergrund sind Diaspora-Studien lange Zeit ohne Rückbindung an die Afrika-Historiografie konzipiert worden. In den vergangenen zwei Dekaden hingegen hat das Interesse an einer Erforschung und Konzeptualisierung von Diaspora, welche stärkere Bezüge zum afrikanischen Kontinent formuliert, spürbar zugenommen.13 Dies hängt mit einer weiteren Entwicklung seit den achtziger Jahren zusammen: Seither wird das alte holistische Verständnis einer territorial verankerten Kultur, das konstitutiv für die area studies war, zunehmend durch eine prozesshafte und praxisorientierte Auffassung von Kultur als, wie Ulf Hannerz es nennt: »work in progress«, abgelöst.14 Mit der Loslösung des Kulturbegriffs von seinen räumlichen Bezügen rückten Prozesse wie kulturelle Globalisierung und Diaspora stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Phänomene ermöglichen zum einen die Auflösung der traditionellen Vorstellung einer Kongruenz von Kultur und Raum, sind andererseits aber ohne symbolische Raumstrukturen nicht zu denken. Was bedeutet die Entkoppelung von Kultur und Raum für das Verständnis der »Region« Afrika? Hieraus resultierte die Einsicht, dass Kultur nicht mehr nach vorgegebenen räumlichen Strukturen definiert werden kann, sondern die einzelnen »Regionen« selbst als Resultate kultureller Markierungsprozesse verstanden werden müssen. »Was ist an Afrika afrikanisch«, sollte also eine Frage sein, nicht etwas Gegebenes. Die Untersuchung sozialer Netzwerke, Diasporen, kultureller Verknüpfungen 12 Vgl. Robin Law/Paul Lovejoy, The Changing Dimensions of African History: Reappropriating the Diaspora, in: Simon McGrath u. a. (Hg.), Rethinking African History, Edinburgh 1997, S. 181–200. 13 Patrick Manning, The African Diaspora. A History Through Culture, New York 2009; Tejumole Olaniyan/James Sweet (Hg.), The African Diaspora and the Disciplines, Bloo­ mington 2010.. 14 Ulf Hannerz, The World in Creolisation, in: Africa 57 (1987), S. 57. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und Affinitäten sollte tatsächlichen Bewegungen im Raum folgen, anstatt zwischen bereits definierten »Lokalitäten« oder »Regionen« und einer vagen Vorstellung vom »Globalen« zu unterscheiden.15

Afrika in der Welt: Mobilität und Diaspora Wenn wir Afrika in einer globalgeschichtlichen Perspektive betrachten, erscheint es dringlich, die Idee, dass Afrika ganz »anders« sei als der Rest der Welt, zu revidieren. Eine Geschichte Afrikas darf den Kontinent nicht exotisieren und gleichzeitig seine Spezifika herauszuarbeiten. Das Bild vom »rückständigen«, von einer mehr oder weniger neutralen Welt umgebenen Afrika ist ebenso falsch wie die Idee eines »heilen Afrika« inmitten einer feindlichen Welt. Afrikas Gesellschaften sind in unterschiedlicher Intensität seit langem mit der Welt verknüpft, wenn auch oft in einer Art und Weise, die nicht dem allzu voreilig mit »Globalisierung« gleichgesetzten Bild von grenzenlosen, unpersönlichen Märkten entspricht. Afrikas regional stark differierende globale Verbindungen auf kommerzieller und ideologischer Ebene sind in der Regel über spezifische Netzwerke organisiert. Dazu zählen ethnische Diasporen ebenso wie staatliche Organisationen, islamische Bruderschaften, Kartelle, christliche Kirchen und mafia-ähnliche Strukturen.16 Eine Möglichkeit, diese Netzwerke nachzuzeichnen, bietet das Studium von Migration und Diaspora. Die Erfordernisse des globalen Kapitalismus haben Afrikaner nun schon seit mindestens fünf Jahrhunderten auf den globalen Arbeitsmarkt gezogen. Die Geschichte dieser Migration beginnt mit den versklavten zwangsverschifften Afrikanern, die seit dem 16. Jahrhundert auf den Plantagen der »Neuen Welt« schufteten. Dazu gehörten in der Folge die schwarzen Arbeiter, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Amerikas Eisenbahnen bauten und für andere große Infrastrukturprojekte arbeiteten, die afrikanischen Soldaten, die in beiden Weltkriegen kämpften (und starben); die Afrikaner, die nach 1945 in den Fabriken Frankreichs tätig waren, und schließlich der aktuelle Brain Drain gut ausgebildeter Afrikaner

15 Frederick Cooper, Africa’s Past and Africa’s Historians, in: Canadian Journal of African Studies 34,2 (2000), S. 299. 16 Vgl. John Lonsdale, Globalization, Ethnicity and Democracy: A View from ›the Hopeless Continent‹, in: Anthony G. Hopkins (Hg.), Globalization in World History, London 2002, S. 194–219; Jean-François Bayart, Africa in the World: A History of Extraversion, in: African Affairs 99, 395 (2000), S. 217–267. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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in Richtung Westen ebenso wie Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.17 Das 20.  Jahrhundert war durch neue und komplexe Formen der Migration charakterisiert. Ein gut untersuchter Fall sind die Soninke, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Hauptteil der aus Afrika stammenden Migranten in Frankreich stellten. Die Migration der Soninke war nicht so sehr durch die Gewalt und die Steuerforderungen des kolonialen Staates motiviert, sondern vielmehr durch die Suche nach ökonomischen Gelegenheiten und den Wunsch, auf diese Weise in der Heimat einen Elitenstatus aufrechtzuerhalten. In der nachkolonialen Periode nutzten oft am Rande der Lega­lität operierende, wahrhaft transnational agierende afrikanische Händler persönliche Beziehungen, die durch Verwandtschaft, Ethnizität, Freundschaft, Religion und Nationalität begründet sein konnten. Internationale familiäre Netzwerke spielten hier eine wichtige Rolle.18 Die Ideologie des Panafrikanismus, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte, betont die engen kulturellen und damit verknüpft nicht selten auch die »rassischen« Verbindungen zwischen den Gesellschaften Afrikas und der afrikanischen Diaspora über politische und kontinentale Grenzen hinweg und gipfelt in der Vision eines alles vereinigenden afrikanischen Staates.19 Dieses sehr heterogene Projekt entstand im 19. Jahrhundert durch eine kleine Gruppe afroamerikanischer Intellektueller – zu nennen ist wiederum vor allem W. E. B. Du Bois – in Auseinandersetzung mit der von ihnen erlittenen rassistischen Herabwertung, politischen Unterdrückung und ökonomischen Ausbeutung. Aus dieser Situation wollte man sich befreien und parallel die Einheit und Integration afrikanischer Gesellschaften auf dem Kontinent und in der Diaspora herbeiführen. Die Ideen des Panafrikanismus speisten sich aus diversen Quellen: aus der Erfahrung von  – und den Kämpfen gegen  – Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus ebenso wie aus europäischen Ideologien wie Liberalismus, Marxismus und Sozialismus, aber auch aus nationalistischen Ideen in anderen Teilen der kolonisierten Welt, etwa aus Gandhis Philosophie. Panafrikanismus steht also 17 Emmanuel Akyeampong, Africans in the diaspora: the diaspora and Africa, in: African Affairs 99, 395 (2000), S. 183–215; zu rezenten Migrationen: Abdoulaye Kane/Todd H. Leedy (Hg.), African Migrations: Problems and Perspectives, Bloomington 2013. 18 François Manchuelle, Willing Migrants. Soninke Labor Diasporas, 1848–1960, Athens 1997; Janet McGaffey/Rémy Bazenguissa-Ganga, Congo-Paris. Transnational Traders on the Margins of the Law, Oxford 2000. 19 Vgl. Andreas Eckert, Bringing the Black Atlantic into Global History: The Project of PanAfricanism, in: Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier (Hg.), Competing Visions of World Order: Global Moments and Movements, 1880s-1930s, New York 2007, S. 237–257. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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für ein äußerst komplexes Netzwerk mit diversen Ursprüngen, Kontexten, Zielen, Ideologien und Organisationsformen. So wichtig es ist, Migration und Diaspora als wesentliche Elemente einer Geschichte Afrikas in der Neuesten Zeit zu betonen, gilt es zugleich vor dem zu warnen, was man als Fetischisierung der Mobilität in Teilen etwa der Global-, aber auch der Kulturgeschichtsschreibung bezeichnen könnte. Es besteht die Gefahr, den Fokus zu stark auf jene faszinierenden, in ihrer Bedeutung lange übersehenen bzw. unterschätzten mobilen Afrikaner zu lenken, seien es nun Seeleute, Händler oder Intellektuelle oder Städter, und auf diese Weise zunehmend die gleichsam immobilen Personen zu ignorieren, welche die große Mehrheit der Bevölkerung Afrikas stellten und stellen und welche die Geschichte des Kontinents ebenfalls geprägt haben – etwa Bauern.20

Ethnizität und »Tribalismus« Wohl kein zweites Stereotyp über Afrika ist so hartnäckig wie jenes vom jahrhundertalten Tribalismus, der bis heute den Kontinent präge und für viele Katastrophen verantwortlich gemacht werden könne, etwa den Genozid in Ruanda. Dem gegenüber steht eine umfassende Diskussion in den Afrikawissenschaften, welche die Komplexität dieses partiell hochmodernen Phänomens heraushebt. »Europäer glaubten, dass Afrikaner Stämmen angehörten; Afrikaner gründeten Stämme, um dazu zu gehören.« Mit diesem prägnant-lakonischen Satz hat John Iliffe am Beispiel Tansanias als einer der ersten auf jenen Prozess verwiesen, der unter den Labeln »Erfindung« bzw. »Konstruktion von Ethnizität« die Afrikawissenschaften in den vergangenen Dekaden intensiv beschäftigte.21 Vor allem das einige Jahre nach Iliffe von Eric Hobsbawm und Terence Ranger geprägte Konzept der »Erfindung von Tradition« entfaltete für die Erforschung der afrikanischen Geschichte eine immense Wirkung.22 Seither ist es nahezu unmöglich geworden, über Tradition, Gebräuche oder Ethnizität in Afrika zu sprechen, ohne auf deren 20 In den siebziger und frühen achtziger Jahren waren Bauern ein wichtiger Gegenstand afrikahistorischer Forschung. Vgl. Martin A. Klein (Hg.), Peasants in Africa, Historical and Contemporary Perspectives, Beverly Hills 1980. Im Kontrast zu südasiatischen Historiographie ist ländliche Arbeit in der Afrika-Geschichtsschreibung nicht völlig verschwunden, sondern taucht in vielen Kontexten wieder auf, etwa im Rahmen kolonialer Zwangsarbeit. Vgl. z. B. Eric Allina, Slavery by any other name. African Life under Company Rule in Colonial Mozambique, Charlottesville 2012. 21 John Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979, S. 324. 22 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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»erfundenen«, »imaginierten« oder »konstruierten« Charakter zu verweisen. Hatte etwa der »Stamm« mit einem »Häuptling« an der Spitze lange Zeit als Inbegriff afrikanischer Sozialordnungen gegolten, suchten Historiker im Anschluss an Ranger nun zu zeigen, dass die sogenannten Stämme, die bis heute die afrikanische Politik mitprägen, weniger Überbleibsel des vor­ kolonialen Afrika als das Resultat kolonialer Durchdringung oder der Modernisierung sind, bewusst gestaltet und zielgerichtet konstruiert, erfunden von Kolonialbeamten, Missionaren und einigen afrikanischen Älteren. Das Konzept der Erfindung hat jedoch dazu geführt, die Fähigkeiten der Kolonialherren, afrikanische Institutionen zum Zwecke der europäischen Hegemonie zu manipulieren, in der Regel weit zu überschätzen.23 Der Fokus auf die koloniale Konstruktion vermeintlich zeitloser, unveränderbarer Traditionen und Ordnungen führte ohne Zweifel zu wichtigen Einsichten in die jüngere Historie Afrikas. Er ermöglichte, zentrale Widersprüche kolonialer Rhetorik aufzuzeigen und die scheinbare Dichotomie von afrikanischer Tradition und europäischer Modernität in Frage zu stellen. Zu den tieferen Ironien der Kolonialgeschichte gehört, dass die Kolonisierenden den Kolonisierten jede eigene Geschichte absprachen, dass jedoch die kolonialen Verwaltungen auf der lokalen Ebene versuchten, historische Erinnerungen zu instrumentalisieren, indem sie sich, wo immer es ging, vor Ort auf Männer stützten, welche die eigene Vorrangstellung durch Rückgriff auf Traditionen zu legitimieren wussten. Der Begriff »Erfindung« bereitet jedoch seit geraumer Zeit schon Unbehagen. Er erweist sich als wenig sinnvolle analytische Kategorie, weil er Tradition essentialisiert, historische Prozesse der Re-Interpretation und Neuordnung negiert und Afrikaner als leichtgläubige Subjekte konstruiert. Hingegen sind in der Kolonialperiode ältere Traditionen kontinuierlich neuinterpretiert, Gewohnheiten endlos debattiert und ethnische Grenzen beständig verschoben worden. Jüngere Studien haben wiederholt hervorgehoben, dass Kolonialpolitik keineswegs einer kohärenten Herrschaftsstrategie entsprang, sondern durch beständige Aushandlungen und Kompromisse charakterisiert war. Kolonialregimes hingen, um erfolgreich sein zu können, in beträchtlichem Maße von der Kooperation der Kolonisierten ab. Um afrikanische Ambitionen zu mobilisieren, mussten die Kolonialherren sowohl an die Vergangenheit als auch an die Zukunft appellieren; an das, was Afrikaner gewesen sind und auch an das, was 23 Carola Lentz, Ethnizität und die Interpretation der Vergangenheit, in: Jan-Georg Deutsch/ Albert Wirz (Hg.), Geschichte in Afrika. Einführung in Probleme und Debatten, Berlin 1997, S. 149–174; Thomas Spear, Neo-Traditionalism and the Limits of Invention in British Colonial Africa, in: Journal of African History 44 (2003), S. 3–27. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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viele zu sein wünschten. Die Europäer mussten also Instrumente finden, um die Tradition für die Gestaltung der Zukunft einsetzen zu können und umgekehrt. Über viele Dekaden haben afrikanische Politiker und Intellektuelle ebenso wie westliche Sozialwissenschaftler »Ethnizität« und »Tribalismus« gleichsam routinemäßig als rückständig und als unwillkommene Unterbrechung auf dem Weg zur Moderne gebrandmarkt. Zum Zeitpunkt der Un­ abhängigkeit war der unitarische Nationalstaat das Referenzmodell, das Lieblingskind nicht nur der Modernisierungstheoretiker, sondern auch der Sozialisten. Frantz Fanon, der radikale Theoretiker einer antikolonialen Revolution, sprach gar davon, es sei notwendig, alle Regionalismen und Tribalismen zu »liquidieren«, sonst müsse die Einheit des Volkes eine Chimäre bleiben.24 Skepsis, Kritik oder gar Widerstand gegen die Politik der Regierung galten den Herrschenden als Gefährdung der ohnehin noch fragilen nationalen Einheit und des gesellschaftlichen Fortschritts. So wurden Gewerkschaften und Oppositionsparteien bald neutralisiert oder gar verboten. Doch während die afrikanischen Politiker einerseits das »Stammesdenken« normativ ablehnten und rituell die Überwindung des Tribalismus forderten, zögerten sie andererseits nicht, wenn nötig, ihrerseits an »Stammesgefühle« zu appellieren bzw. ethnische Solidarität für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Nach 1990 nahm diese Strategie in beträchtlichem Maße zu. Seither stehen wir vor der paradoxen Situation, dass zwar in der Forschung weit­ gehend Einigkeit darüber besteht, dass das vorkoloniale Afrika nicht aus fein säuberlich abzugrenzenden Stämmen oder ethnischen Gruppen bestand; im gegenwärtigen Afrika aber ist die Vorstellung weit verbreitet, die heute bekannten ethnischen Gruppen existierten bereits seit Jahrhunderten. In den öffentlichen politischen Diskursen gelten ethnische Gruppen nicht als relativ rezente Schöpfungen, sondern als Relikt einer langen Vergangenheit.25

Die Bedeutung des Kolonialismus Ende der sechziger Jahre schrieb der bedeutende nigerianische Historiker­ Jacob Ade Ajayi, die Kolonialperiode sei trotz mancher Einschnitte lediglich eine »Episode« im langen Kontinuum der afrikanischen Geschichte gewesen. Damit verband er die Hoffnung, die Regierungen im unabhängigen Afrika 24 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1966. 25 Vgl. Lentz, Ethnizität. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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könnten auf dem vorkolonialen Erbe aufbauen.26 Über vier Dekaden später ist Ajayis Argument kaum mehr aufrechtzuerhalten. Die koloniale Vergangenheit lastet weiterhin schwer auf der Gegenwart Afrikas. Doch erscheint in der jüngeren Forschung die Kolonialgeschichte gleichsam weniger kolonial als früher.27 Sie kann heute weder als »zivilisatorische Mission« noch als Zeit des heroischen Widerstands gegen eine von außen aufgezwungene Tyrannei gedeutet werden. Vielmehr lässt sie sich als eine Geschichte ebenso vielfältiger wie widersprüchlicher Kooperationen und Auseinandersetzungen interpretieren. Afrikaner suchten in diesem Kontext die im Zuge der Kolonialherrschaft verfügbaren Ressourcen für sich zu nutzen. Dazu gehörten westliche Erziehung, Märkte für Massengüter, aber auch militärisch-politische Allianzen mit den Kolonialregimes. Auch in Afrika war Gewalt jedoch ein beständiger Aspekt der kolonialen Ordnung. Der Kolonialismus entfaltete durchaus eine beträchtliche transformative, zuweilen auch zerstörerische Kraft, aber beileibe nicht immer im Sinne der Kolonialherren. Insgesamt hatten die europäischen Kolonialherren etwa große Schwierig­ keiten, Afrikaner zu verlässlichen Produzenten für die europäischen und Weltmärkte zu machen. Koloniale Regierungen konnten ihre Forderungen nach Steuern und Tributen in Gestalt von Zwangsarbeit mit Hilfe einheimischer Oberer zwar partiell umsetzen. Schwieriger war es, Afrikanern den Zugang zu Land zu verwehren und sie umfassend zur Lohnarbeit zu zwingen. Die Komplexität der sozialen Beziehungen in Afrika machte es für afrikanische Mächtige wie europäische Invasoren besonders schwer, jene Voraussetzungen für die systematische Ausbeutung zu schaffen, die für den Kapitalismus charakteristisch sind. Auch die »Erfolgsgeschichten« in der Kolonialwirtschaft Afrikas – etwa der Kakaoanbau in der Goldküste, Nigeria und der Elfenbeinküste – sind weniger auf die transformative Kraft der Europäer zurückzuführen als auf die Initiativen afrikanischer Agrar­produzenten. Im Kontext des Kakaoanbaus lassen sich die flexiblen Produktionsbeziehungen im Übrigen nicht auf das Entweder-oder von »traditioneller bäuerlicher« oder »kapitalistischer« Wirtschaft reduzieren. Die Personen, die für 26 Jacob F. A. Ajayi, Conclusion. Colonialism: an episode in African history, in: Lewis H. Gann/Peter Duignan (Hg.), Colonialism in Africa, 1870–1960, Bd. 1: The History and Politics of Colonialism, 1870–1914, Cambridge 1969, S. 497–509. 27 Die folgenden Abschnitte basieren auf Frederick Cooper, Conflict and Connection. Rethinking Colonial African History, in: American Historical Review 99,4 (1994), S. 1516– 1545; Ders., Africa in  a Capitalist World, in: Darlene Clark Hine/Jacqueline McLeod (Hg.), Crossing Boundaries. Comparative History of Black People in Diaspora, Bloomington 1999, S. 391–418; Ders., Africa since 1940. The past of the present, New York 2002. Vgl. ebenfalls John Parker/Richard Reid (Hg.), Oxford Handbook of Modern African History, Oxford 2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Kakaopflanzungen besonders geeignete Böden kontrollierten, verpachteten ihn häufig an auswärtige Unternehmer, die wiederum Verwandte oder andere Farmer zur Pflanzung von Bäumen einsetzten. Gelegenheits­arbeiter, Tagelöhner, Wanderarbeiter und auch ländliche Lohnarbeiter stellten weitere Arbeitskraft. Die Ausbeutungsmöglichkeiten in diesem gemischten System waren begrenzt. Pflanzer konnten nicht beliebig expandieren und ihre Arbeiter nicht unbeschränkt ausbeuten, weil die Dauer ihrer Pachten und ihr Zugang zu Arbeitskräften von nicht unbegrenzt strapazierbaren Sozial- und Klientelbeziehungen abhingen. Die Kolonialherren profitierten enorm von diesem System, dessen Bedeutung und Funktionieren ihnen jedoch weitgehend verschlossen blieb. Die Afrikaner, hebt Cooper hervor, produzierten nicht nur die wertvollen Produkte, sie machten es auch in ihren eigenen Arbeits- und Lebensformen. Mittel- und langfristig musste Afrika jedoch einen hohen Preis für den erfolgreichen Widerstand gegen die Logik von Ausbeutung und Akkumulation bezahlen. Er besteht nicht nur im Niedergang der wirtschaftlichen Bedeutung, in der Ironie, dass Afrika durch die koloniale Herrschaft zwar noch intensiver als zuvor in globale wirtschaftliche Trends involviert wurde, seine Arbeitskraft und seine Produkte sich gleichzeitig jedoch als zunehmend unwichtiger für die Weltwirtschaft erwiesen. Als mindestens ebenso kostspielig offenbart sich die Repräsentation des Kontinents als »verloren« oder »anders«, die in dem Argument gipfelt, die Ursache für Afrikas Probleme seien die afrikanischen Menschen und Kulturen selbst. Afrika ist, was es ist, weil es Afrika ist! Den kolonialen Regimes in Afrika gelang es nicht, die Ausübung ihrer Herrschaft zu routinisieren und zu normalisieren und im Sinne Michel­ Foucaults in den Kolonien eine Disziplinargesellschaft zu errichten. Bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg etwa nutzten die Kolonialverwaltungen jene Bestrafungspraktiken, die aus Foucaultscher Perspektive durch eine moderne Gouvernementalität hätten beseitigt werden müssen: Auspeitschen, kollektive Bestrafungen für Dörfer und Verwandtschaftsgruppen und Zwangsarbeit bei Vertragsverletzungen. Ebenso inkohärent blieben die Kolonialherren in ihren Bemühungen, sich »Tradition« und »traditionelle Herrscher« für stabile Herrschaftsformen nutzbar zu machen. In den meisten afrikanischen Territorien erschienen den Kolonial­herren verstärkte Demokratisierung und der Aufbau parlamentarischer Institutionen hingegen unabdingbar für jene neuen kolonialen Utopien und Projekte, die im Kontext des Zweiten Weltkriegs an Bedeutung gewannen. Die vermehrte Ressourcenabschöpfung der afrikanischen Besitzungen konnte, so die Überzeugung der Kolonialpolitiker, nur im Zuge einer grundlegenden © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Modernisierung der afrikanischen Gesellschaften gelingen. Der koloniale Verwaltungsstaat bekam einen demokratischen Mantel umgehängt. Das auto­ritäre Gerüst blieb. Entwicklung war die Zauberformel nach dem Zweiten Weltkrieg. Entwicklung im Kontext von spätkolonialer Politik war etwas, das in und für, aber nur sehr bedingt mit Afrika getan werden musste. Die neue Generation afrikanischer Politiker, die sich in der Regel aus der kleinen Schar gut ausgebildeter städtischer Afrikaner zusammensetzte, verstand sich indes als Bürger und wollte nicht länger Eingeborener sein. Ihre Vertreter verlangten ohne Wenn und Aber politische Mitsprache. Parallel verlor die koloniale Entwicklungsinitiative rasch ihren Reformeifer, zumal die hohen finanziellen Kosten einer »Modernisierung« Afrikas nicht tragbar schienen. In den Verwaltungs- und Wirtschaftskreisen in Paris und London setzte sich Mitte der fünfziger Jahre zudem die Erkenntnis durch, dass Afrika zukünftig für die Ökonomie in Europa und der Welt nur eine marginale Rolle spielen würde. Die hohen Kosten, die etwa mit der Schaffung von Wohlfahrtsstaaten nach europäischem Muster verbunden waren und noch sein würden, erschienen den Europäern immer mehr als Fehlinvestition. Am Ende übernahmen die Afrikaner das Projekt »Entwicklung« zusammen mit dem von den Kolonialherren aufgebauten Staatsapparat. Die sich zurückziehenden bzw. »herausstolpernden« Europäer konnten sich indes einreden, dass ihre Nachfolger zwangsläufig den von ihnen angelegten Pfaden folgen würden.

Ein Kontinent in der Dauerkrise? Wie ist die zweifelsohne krisenhafte Entwicklung in den meisten Teilen des unabhängigen Afrika zu erklären, ohne in die Stereotype zu verfallen, entweder den Kolonialismus, den Kapitalismus, die afrikanischen Eliten oder die Afrikaner an und für sich für das Schlamassel verantwortlich zu machen.28 Die rasche Unabhängigkeit erwies sich retrospektiv gesehen in vielerlei Hinsicht jedenfalls als Pyrrhussieg. Niemand machte sich die Mühe oder glaubte Zeit zu haben, nach Alternativen zu den demokratischen Nationalstaaten westlichen Zuschnitts zu suchen. Die Masse der ländlichen Bevölkerung setzte die bewusste, mittlerweile seit Generationen erprobte Verweigerung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen fort, praktizierte eher defensives Überlisten von Gewalthabern denn demokratische Partizipation. 28 Zur nachkolonialen Geschichte Afrikas vgl. nuanciert Paul Nugent, Africa since In­ dependence. A Comparative History, Basingstoke 2004; Cooper, Africa since 1940. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Die Eliten handelten wie ihre kolonialen Vorgänger im Bewusstsein, die legitime und einzig fähige herrschende Klasse zu sein, und sahen den Staat nicht zuletzt als Instrument privater Akkumulation an. Sie setzten weiterhin auf die Strategie des »social engineering« und damit auch auf eine durch Interventionismus, zensorische Attitüden und Kontrolle charakterisierte Politik. So haben die unabhängigen Staaten Afrikas beides geerbt: den Kolonialstaat, der keine Grundlage für Demokratie und Zivilgesellschaft gelegt hat, und die Ablehnung dieses Staates durch die Bevölkerung in vielfältigen, unsystematischen Formen, die wiederum nicht zur Herausbildung alternativer Strukturen oder Institutionen geführt haben. Die Generation der politischen Führer Afrikas meinte am Ende der Kolonialzeit in der Position zu sein, das jeweils Beste von Europa und Afrika auswählen zu können. Doch die Politiker wurden Opfer ihres schnellen Erfolges. Sie konzipierten, ganz Gefangene des zeittypischen Machbarkeitswahns, ihren jungen Staat als Sozialstaat mit umfassender Interventionskompetenz, sahen sich jedoch mit dem Erbe eines schwachen und zugleich autoritären Staates konfrontiert. Zudem mussten sie erkennen, dass die ererbte koloniale Wirtschaftsstruktur ihnen kaum Handlungsspielraum ließ. Angesichts der großen Lücke zwischen Wollen und Können und aus Schwäche suchten die Regierenden häufig ihr Heil in autoritären Lösungen. Die Entwicklungsanstrengungen der spätkolonialen Regimes schufen auch in reicheren, mit Bodenschätzen gesegneten Ländern nie die Grundlage für eine starke Volkswirtschaft. Die Ökonomien orientierten sich weiterhin nach außen, und die wirtschaftliche Macht des Staates blieb auf die Schnittstelle zwischen »nationalstaatlich-territorial« bestimmten Innen und Außenräumen beschränkt. Die afrikanischen politischen Eliten hatten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit der Mobilisierung gegen den Staat in der Regel ein untrügliches Gefühl dafür bekommen, wie prekär die Macht war, die sie geerbt hatten. Der bestenfalls gemischte Erfolg kolonialer und nach­ kolonialer Entwicklungsanstrengungen erweckte in den politischen Eliten wenig Hoffnungen, dass die ökonomische Entwicklung ausreichend Wohlstand generieren würde, um ihnen politischen Kredit zu verschaffen, und auch zu wenig einheimisches Wachstum, um genügend Steuern abzuwerfen. So besannen sie sich auf die Strategie, die bereits die Regierenden der Kolonialstaaten praktiziert hatten: Begrenzte, von den Herrschenden kontrollierte Aufstiegsmöglichkeiten und die Einengung von Spielräumen schienen das beste Mittel gegen eine potentielle Opposition. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger stand hinter dem postkolonialen Staat in Afrika nicht das Gewalt- und Zwangspotential eines Empire; der post­ koloniale Staat war verwundbar, nicht stark. Diese Schwäche hat sich in den © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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vergangenen drei Dekaden offenkundig dramatisch verschärft. Afrika liefert in gegenwärtigen Debatten Anschauungsmaterial für vermeintlich »staatsferne« Gesellschaften, für »Gesellschaften ohne Staat« gar oder zumindest für solche, in denen das Ende der Staatlichkeit kurz bevorzustehen scheint. Die Kategorie »schwacher Staat« erntet freilich Widerspruch. Die Krise vieler nationalstaatlich verfasster Gesellschaften ist gleichwohl nicht zu leugnen. Die »Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit«, nach Max Weber der Grundpfeiler moderner Staatlichkeit, ist für viele afrikanische Regierungen jedenfalls weiter in die Ferne gerückt als je zuvor. Staatliche Systeme sozialer Sicherung, ohnehin nie besonders entwickelt, sind allerorten längst zusammengebrochen. Die Bevölkerung wendet sich in vielen Ländern enttäuscht von den Staatsorganen ab und versucht sich zur Überlebenssicherung fern aller staatlichen Organisationen verstärkt selbst zu organisieren, in Kirchen, Bruderschaften, Frauenorganisationen sowie diversen anderen lokal verwurzelten Netzwerken und Zweckbündnissen. Gleichwohl scheinen die Nachrichten vom Ende des Staates in Afrika übertrieben; denn was südlich der Sahara zum Teil blutig beerdigt wird, ist eher die Vision von einem national verfassten Wohlfahrtsstaat, wie sie die Kolonialherren und spätkolonialen Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatten. Diese Vision ist zwar gescheitert, doch Alternativen zum modernen Staat sind nicht zu sehen, wohl aber Varianten, unterschiedliche Formen der inneren Ausgestaltung. »Warum sollte der Territorialstaat, gar als Nationalstaat, wie er in Europa mit viel Gewalt und Elend errichtet wurde, das Vorbild für den Rest der Welt sein«, fragt in diesem Zusammenhang Christoph Marx und fügt hinzu: »Möglicherweise wird das 21.  Jahrhundert eine Auffächerung der Entwicklung in Afrika zeigen, mit der Durchsetzung des europäischen Staatsmodells in einigen Gebieten, in differente Lösungen in anderen.«29

Schluss Das einst von den afrikanischen Nationalisten beschworene Reich der Freiheit erweist sich für die meisten Menschen südlich der Sahara bis heute als Chimäre. Dennoch muss festgehalten werden, dass die meisten afrikanischen Länder in den sechziger und siebziger Jahren ein bemerkenswertes, 29 Christoph Marx, Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004, S. 339. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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wenngleich bescheidenes Wirtschaftswachstum erlebten; vor allem aber stieg die Lebenserwartung, die Kindersterblichkeit ging zurück und der Zugang zu Bildung verbesserte sich. Staatliches Handeln hatte erheblichen Anteil an der Transformation afrikanischer Ökonomien und Gesellschaften in dieser Periode. Viele Afrikaner konnten in der Dekade nach der Unabhängigkeit die begründete Erwartung hegen, durch ihre Arbeit bescheidenen Wohlstand zu erlangen und als Bürger, wenn auch geringe, staatliche Leistungen zu empfangen. Bildung war eine wichtige Verheißung, denn sie versprach qualifizierte Stellen und angemessene Bezahlung. Mit dem Ölschock und der weltweiten Rezession der siebziger Jahre änderte sich die Situation nachhaltig. Die Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds untergruben in den folgenden Dekaden genau jene sozialpolitischen Maßnahmen, welche vielen Menschen in Afrika Hoffnung gegeben und neue Möglichkeiten eröffnet hatten, während die versprochenen Wunderwirkungen des Marktes aus­ blieben.30 Den afrikanischen Eliten des nachkolonialen Afrika gelang es überdies in der Regel nicht, den Nationalstaat durch Leistung, Entwicklung und politische Teilhabe zu legitimieren. Gleichwohl hat sich der Staat als politischer Bezugsrahmen behaupten können, selbst wenn mangelnde Legitimität und das Ausbleiben von staatlichen Wohlfahrtsleistungen partikulare Identitäten und Loyalitäten immer wieder bestärken. Es ist jedoch nicht unzureichendes Nationalgefühl, welches die Anfälligkeit afrikanischer Staaten verursacht. Vielmehr erschweren die defizitären Steuerungs- und Regelungskapazitäten afrikanischer Staaten die Entfaltung nationaler Identitäten. Ganz verhindert haben sie sie jedoch nicht. In zahlreichen Staaten Afrikas haben sich in den letzten Dekaden distinkte nationale (Alltags-)Kulturen herausgebildet, die sich nicht nur bei Sportereignissen und im kulinarischen Bereich manifestieren, sondern etwa auch bei den Unabhängigkeitsfeiern in den vergangenen Jahren. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass afrikanische Länder gleichsam »normale Nationen« geworden sind, zwar rezenter, aber deswegen keineswegs artifizieller als die europäischen. Hier wie dort »liegen Patriotismus und Engagement mit Politikmüdigkeit, Kritik und Zweifeln an der Einheit der Nation im Widerstreit«.31 Gerade in diesen Jahren beginnt sich Afrikas Platz in der Welt erneut zu wandeln. Einige Indikatoren sind das enorme Bevölkerungswachstum, mas30 Vgl. Frederick Cooper, Writing the History of Development, in: Journal of Modern European History 8,1 (2010), S. 5–23. 31 Carola Lentz, Die afrikanischen Unabhängigkeitsjubiläen. Eine Einführung, in: Dies./ Godwin Kornes (Hg.), Staatsinszenierung, Erinnerungsmarathon und Volksfest. Afrika feiert 50 Jahre Unabhängigkeit, Frankfurt/Main 2011, S. 13. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sive Urbanisierung, ein größere Integration afrikanischer Märkte nicht zuletzt dank neuer Technologien (Mobiltelefon) und ein neues externes Interesse an Afrika, an seinen Rohstoffen, an seinem Land. Afrika verfügt über fast achtzig Prozent der weltweit freien Agrarflächen. Ob mehr als eine kleine Elite in Afrika davon profitiert, wie hoch die ökologischen Folgen sein werden, darüber lässt sich nur spekulieren, aber die heute circa eine Milliarde Afrikaner werden den künftigen Gang der Weltgeschichte stärker bestimmen als je zuvor.32

32 Vgl. Stephen Ellis, Season of Rains. Africa in the World, London 2011; Jean Comaroff/ John L. Comaroff, Der Süden als Vorreiter der Globalisierung. Neue Postkoloniale Perspektiven, Frankfurt a. M. 2012. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Michael Wildt

Alle Gewalt geht vom Volke aus Zur Abgründigkeit eines politischen Grundsatzes in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

»Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« So lautet der Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, und so steht es in allen demokratischen Verfassungen der Welt. Denn das Volk, nicht ein Monarch, nicht Gott, kein metaphysischer Grund, allein und nur das Volk legitimiert die Demokratie, die Volksherrschaft. Aber wer ist das Volk? Und was heißt Gewalt? Der Begriff des Volkes führt stets die blutigen Kämpfe, die in seinem Namen geführt werden, mit sich: die Abgrenzungen nach oben und unten, nach innen und außen. Staatsvolk will nichts gemein haben mit dem Pöbel, der Menge, den Massen; allein das Wort Volksherrschaft, gar in der Doppelung Volksdemokratie, ruft die Assoziationen Terror, Anarchie und Willkür hervor. Das auserwählte Volk Gottes glaubt sich gegenüber den ungläubigen Völkern in einer unzweifelhaften Position der Überlegenheit; das Volk, zur Nation gekürt, verwandelt die Bevölkerung eines Territoriums in eine Abstammungsgemeinschaft oder in Staatsbürger, die sich ebenfalls mit der ganzen Kraft des naturrechtlichen Vernunftanspruchs zur modernisierenden Herrschaft über andere Völker und Nationen berufen sehen können.1 Zum Begriff der Gewalt, ein im Deutschen sehr vielschichtiges Wort, gibt das Grimmsche Wörterbuch umfassend Auskunft. Es kann Stärke, Macht, Kraft, Herrschaft, Obrigkeit, Amtsgewalt ausdrücken – Bedeutungen, die im Lateinischen den Begriffen potentia, potestas, auctoritas entsprechen. Gewalt kann aber auch violentia heißen, also unmittelbare, körperliche, Schmerz oder Tod zufügende Gewalt. Unternimmt man den Versuch, diese verschiedenen Wortbedeutungen zu systematisieren, so lassen sich zwei Gebrauchsweisen unterscheiden: einmal geht es um das Haben von Gewalt, im Sinne 1 In einer überarbeiteten Form erschien dieser Vortrag in der Festschrift für Jan Philipp Reemtsma: Ulrich Bielefeld u. a. (Hg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen, Hamburg 2012, S. 438–457. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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von Amtsgewalt, Herrschaftsgewalt, und zum anderen um Gewalthandeln, jemandem Gewalt zufügen. Beide Wortbedeutungen stecken in dem Verfassungsbegriff der Volks­ gewalt. Zum einen wird klargestellt, dass sich demokratische Herrschaft, in der Regel parlamentarisch-repräsentative Republiken, nur durch das Volk legitimiert  – was nicht bedeuten muss, dass das Volk auch herrscht. Den­ Autoren der amerikanischen Verfassung war sehr daran gelegen, durch rigide Auswahlverfahren nur diejenigen herrschen zu lassen, bei denen der Sinn für das Gemeinwohl und Regierungskompetenz vorausgesetzt werden können.2 Zum anderen enthält der Verfassungsgrundsatz aber auch die­ Potentialität, dass eben dieses Volk die Souveränität besitzt, die Herrschaftsform selbst zu bestimmen – und zu ändern. Herrschaft wie Revolution birgt der Verfassungsgrundsatz, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Und nicht zufällig würden Verfassungsjuristen, wie der Staatsrechtler Friedrich Müller einmal schrieb, am liebsten alle Nachfragenden an diesem grundlegenden Verfassungsartikel mit den Worten vorbeiwinken: Weiter, weiter, weiter, hier gibt es nichts zu sehen!3 Denn obgleich wir uns in unserem politischen Alltag keine Gedanken über die Gewalt des Volkes machen und uns beruhigt an die Fortsetzung des Artikels 20, Absatz 2 des Grundgesetzes halten, wonach die Gewalt des Volkes »in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird, kann doch nichts darüber hinwegtäuschen, dass auch der Umsturz, die revolutionäre Gewalt in diesem zentralen Grundsatz jeder demokratischen Verfassung enthalten ist. Die stets mögliche Revolution ist, wie Martin Kriele schreibt, die »Sprengkraft, die in der Idee der Volkssouveränität liegt«, die kein Verfassungsstaat ausschließen, allenfalls mäßigen und mildern könne.4 Wer aber ist das Volk? All diejenigen, die wählen dürfen? Was ist dann mit den Minderjährigen, Entmündigten, Strafgefangenen? Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hätte man zusätzlich nach den Frauen fragen müssen, die in Deutschland erst seit 1918, in den USA seit 1920, in Frankreich seit 1945 und in der Schweiz erst seit 1971 auf Bundesebene wählen dürfen. 2 Vgl. dazu ausführlich den Eintrag Demokratie in: Geschichtliche Grundbegriffe. Histo­ risches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Kosselleck, Studienausgabe, Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 821–899. 3 Friedrich Müller, Wer ist das Volk? Die Grundfrage der Demokratie – Elemente einer Verfassungstheorie VI, Berlin 1997, S. 14. 4 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 6., überarb. u. erw. Auflage, Stuttgart u. a. 2003, S. 133. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Gehörten Frauen bis dahin nicht zum Volk? Und was heißt es dann, wenn von den gewählten Abgeordneten des Parlaments in den Verfassungen gesagt wird, dass sie »Vertreter des ganzen Volkes« seien? Was bedeutet es, wenn das Bundesverfassungsgericht seine Urteile »im Namen des Volkes« verkündet? Anscheinend gibt es auch außerhalb der Verfassung ein Volk, wenn zum Beispiel die Präambel des Grundgesetzes lautet, dass »sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben« habe.5 War es 1949 das deutsche Volk, das sich diese Verfassung gegeben hat? Waren es nicht vielmehr die Alliierten, die nach der Niederschlagung eines ungeheuerlichen Gewaltregimes als Sieger und Inhaber der höchsten Gewalt in Deutschland den Parlamentarischen Rat einsetzten, dessen Mitglieder nicht durch freie, allgemeine, gleiche Wahlen bestimmt wurden? Eine Volksabstimmung über das Grundgesetz hat es bekanntermaßen weder 1949 noch nach der Wiedervereinigung 1990 gegeben, obwohl es im Grundgesetz selbst in Artikel 146 hieß, dass es seine Gültigkeit an dem Tag verliere, »an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.«6 »Das Volk«, so hielt der ehemalige Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer fest, »ist nicht etwas, auf das man zeigen und das man in den Zeugenstand rufen könnte, damit es beeidet, dass seine Rechte verletzt worden sind. Das Volk ist keine Sache, und es ist auch nicht eine bestimmte Gruppe, es ist nicht identische mit ›Bevölkerung‹; es ist vielmehr ein generale tantum.«7 Das Volk ist offenkundig vorhanden und doch unsichtbar; es ist nicht zu sehen und tritt doch mit Macht, mit aller Gewalt auf der politischen Bühne auf.

5 Zur verfassungsgebenden Gewalt des Volkes vgl. Friedrich Müller, Fragment über Verfassunggebende Gewalt des Volkes. Elemente einer Verfassungstheorie V, hg. von Klaus Rohrbacher, Berlin 1995; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, in: Ulrich K. Preuß (Hg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 58–80. 6 In der geltenden Fassung heißt es nach dem Einigungsvertrag vom 31.8.1990 nun: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« 7 Winfried Hassemer, Im Namen des Volkes. Populismus und Teilhabe in der Rechtspolitik, in: Bielefeld u. a. (Hg.), Gesellschaft, S. 142–165, S. 151. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Das unsichtbare und doch tätige Volk Als die Abgeordneten des englischen Parlaments zu Beginn des 17.  Jahrhunderts in ihrem erwachenden politischen Selbstbewusstsein mit dem König um dessen Anspruch auf die Prärogative, unabhängig vom Parlament zu regieren, stritten, erklärten sie ihren Willen für den des Volkes – ganz ungeachtet der Tatsache, dass die weitaus meisten Angehörigen des House of Commons aus dem niederen Adel, der gentry, stammten, nur von Männern mit Vermögen in wenigen, vom König bestimmten boroughs gewählt worden waren, also in keiner Weise für die englische Bevölkerung repräsen­tativ waren.8 »We the People of the United States«, so beginnt die 1787 beschlossene Verfassung der Vereinigten Staaten  – und auch hier wurde der Kongress, der die Verfassung verabschiedete, von weißen Männern mit Besitz gewählt. Frauen, Schwarze und die indigene Bevölkerung zählten nicht zum Volk, dessen realer Existenz die Volksvertreter durchaus mit großem Misstrauen und Abwehr gegenüber standen. Zwei Jahre später, 1789, rief der französische König die Generalstände, also die Delegierten des Adels, des Klerus und des so genannten Dritten Standes, worunter ausschließlich männliche Besitzbürger fielen, nach Paris, um durch Steuerbewilligungen den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Schon wenige Wochen nach ihrem Eintreffen in Paris erklärte sich der Dritte Stand zur Nationalversammlung, das heißt zu dem Organ, das die Nation, das Volk vertritt. Aber das reale Volk trat selbst auf den Plan. Als sich Meldungen verdichteten, dass der König möglicherweise mit Waffengewalt gegen die Nationalversammlung vorgehen wolle, stürmte eine Menge am 14.  Juli 1789 die Bastille und fügte den königlichen Truppen eine entscheidende Niederlage zu. Drei Tage später zeigte sich Ludwig XVI. mit der revolutionären blau-roten Kokarde in Paris. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die am 26.  August 1789 von der Nationalversammlung verabschiedet wurde, wurde feierlich festgehalten, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren würden und der Zweck jeden Staates in der Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte liege: des Rechts auf Freiheit, auf Eigentum, auf Sicherheit und auf Widerstand gegen Unter­drückung. Souveränität könne nur die Nation, das französische Volk, be­anspruchen.

8 Vgl. dazu Edmund S. Morgan, Inventing the People. The Rise of Popular Sovereignty in England and America, New York/London 1988.4 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Keine Körperschaft, kein Einzelner könne eine Gewalt ausüben, die nicht vom Volk ausgeht. Im Mittelpunkt der französischen Erklärung von 1789 steht die ­Freiheit – und damit das Grundproblem jeder demokratischen Ordnung, das JeanJacques Rousseau, der erkennbar bei den Formulierungen in Paris Pate gestanden hat, deutlich benannte: das Problem der Vereinbarkeit von individueller Freiheit und politischer Herrschaft. »Es ist eine Form der Assoziation zu finden,« schrieb Rousseau im »Contract Social« dreißig Jahre vor der Französischen Revolution, »die mit ihrer vereinten Macht die Person und die Güter eines jeden Assoziierten verteidigt und schützt und in der jeder, indem er sich mit allen vereint, dennoch nur sich selbst gehorcht, und so frei bleibt wie zuvor.«9 Bekanntlich hat Rousseau als Lösung des Problems einen Gesellschaftsvertrag vorgeschlagen, mit dem alle Individuen als Gleiche sich gleichberechtigt und freiwillig dem allgemeinen Willen aller unterwerfen. Durch diesen Akt tritt an die Stelle jeder einzelnen vertragschließenden Person ein kollektiver Körper, das Volk, das durch dieses Abkommen »seine Einheit, sein gemeinsames Ich (son moi commun), sein Leben und seinen Willen erhält«.10 Für Rousseau konnte es prinzipiell keine Repräsentation des Volkswillens geben. Nur das versammelte Volk könne in seinem allgemeinen Willen, dem volonté génerale, diesem Gemeinwohl Ausdruck geben, d. h. Gesetz werden lassen. Keine langen Diskussionen, keine Parteien, die das Volk spalten, keine Mehrheitsentscheidungen, mit denen die Einzelnen wieder nur ihren Einzelinteressen nachgehen, sondern Konzentration auf das Gemeinwohl als Ausgangspunkt wie Ziel des Gesellschaftsvertrages. Dieser allgemeine Wille, so Rousseau, kann nicht irren, ist stets rechtens, auch wenn das Volk nicht immer das Gute zu erkennen vermag.11 Praktisch – so lautete und lautet der Haupteinwand von Rousseaus Kritikern bis heute  – ist diese an die antike Polis angelehnte Vorstellung, das Volk könne zusammentreten und entscheiden, nur in Stadtstaaten oder kleinen Kantonen zu verwirklichen. In großen Territorialstaaten kann das Volk nur durch Repräsentation seinen Willen bekunden. Bei Hegel ist das Volk ohne staatliche Gliederung nur eine »formlose Masse«, die eben nur 9 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 2003, S. 31. 10 Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 32. 11 Vgl. dazu allgemein Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ›Gesellschaftsvertrag‹ (Reihe Werkinterpretationen), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002; sowie die klugen kritischen Reflexionen über die Frage, ob Rousseau Demokrat war, bei Catherine Colliot-Thélène, Demokratie ohne Volk, Hamburg 2011, S. 75–96 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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vermittelt durch den Staat überhaupt zu seinem konkreten Begriff kommt;12 bei Kelsen ist das Volk nur noch ein juristischer Tatbestand für die Bezeichnung der »Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung«13. Das Volk verschwindet hinter den Verfahrensregeln einer parlamenta­ rischen Demokratie, wird »introuvable« (Pierre Rossanvallon)14 – und kann doch plötzlich wieder auf die Bühne der Geschichte springen. Die Demonstranten, die am 7.  Oktober 1989 in Dresden skandierten: »Wir sind das Volk«, sprachen damit sowohl dem SED-Regime die Legitimation ab, das Volk der DDR politisch zu vertreten, wie sie auch selbst den Anspruch erhoben, nicht bloß das »Volk« zu repräsentieren, sondern das Volk zu sein. Jene orange­farben gekleidete Menge auf dem Majdan in Kiew im Jahr 2004, die sich weigerte, die Wahl von Janukowytsch zum Präsidenten zu akzeptieren, und statt dessen Neuwahlen forderte, beanspruchte – jenseits der existierenden Verfassungsinstitutionen, auch des gewählten Parlaments  –, das Volk der Ukraine zu sein, zumindest: in seinem Namen zu sprechen – und kaum jemand in der Welt hat nach der Repräsentativität oder Legitimation dieser Menge gefragt. Andererseits: »Was macht eine Demokratie«, fragte Sebastian Haffner, »wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?«15 Die revolutionäre Konsequenz, mit der die Nationalsozialisten 1933 die politische Ordnung umgestalteten, war nicht allein auf dem Terror gegründet, sondern entsprach, wie Haffner schrieb, »einem sehr verbreiteten Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie«.16 Endlich schien jene politische und soziale Einheit des Volkes erreicht  – unter Ausschluss von Kommunisten, Sozialisten, Juden, ›Zigeunern‹, Bettlern, Behinderten und anderen mehr –, die sich viele Deutsche erhofft hatten. Diese unhintergehbare, aber auch unheimliche Gewalt im Sinne von potentia, mit der das »Volk« aus der Unsichtbarkeit plötzlich in Erscheinung zu treten vermag und die politische Ordnung umstürzt, steckt in dem Verfassungssatz, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Wir sollten der Versuchung widerstehen, vermeintlich durch das 20. Jahrhundert eines Besseren belehrt, uns über Rousseau zu erheben. Denn seine radikale Demokratietheorie gründet nicht allein in der zentralen Frage, wie individuelle Freiheit und politische Herrschaft miteinander zu verein­baren

12 Georg W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1953, S. 245. 13 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1929, S. 19. 14 Pierre Rosanvallon, Le peuple introuvable, Paris 1998. 15 Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S. 219. 16 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sind. Sein Lösungsvorschlag einer direkten Volksherrschaft, so unrealisierbar sie uns auch erscheinen mag, besitzt die entscheidende Qualität, dass nämlich beide Seiten, der Bürger als Souverän, als Autor der Gesetze, und der Bürger als Untertan, als Adressat der Gesetze, ohne repräsentative Vermittlung zusammenfallen, identisch bleiben. Diese für eine demokratische Ordnung grundlegende Doppelrolle der Bürger, nämlich Subjekt wie Objekt politischen Handelns zu sein, wird in repräsentativen Demokratien, in denen die Wahlberechtigten alle paar Jahre zu den Urnen gerufen werden, ansonsten aber die staatlichen Instanzen regieren, kaum noch erfahrbar. Der Staat, der laut Verfassung ja nur ein Organ der Volksgewalt ist, tritt stattdessen vielen Bürgerinnen und Bürgern wie ein mächtiger Gegner gegenüber, mit dessen Entscheidungen und dessen Gewalt man anscheinend nichts zu tun hat. Demokratie braucht, wie Rousseau schrieb, das einigende Band des Gemeinwohls, wenn eine Gesellschaft mehr sein soll als eine Räuberbande, deren Mitglieder ja ebenfalls einen Vertrag miteinander schließen, und sei es den, wie die Beute aufzuteilen ist. Rousseaus Theorie setzt einen dem Gemeinwohl verpflichteten Staatsbürger voraus, der aber durch die vernünftigen Gesetze erst geschaffen werden muss. Das Volk stünde demnach nicht substanzialistisch am Anfang der Demokratie, sondern wäre das prozedurale Ziel. Es wäre erst noch zu erschaffen – eine politische Konstruktion, die allerdings konzeptionell jede Erziehungsdiktatur im Namen des Volkes möglich macht. Lassen sich nicht mit der Theorie Rousseaus politische Verhältnisse denken, in denen der allgemeine Wille, das Gemeinwohl eines noch nicht zu sich selbst gelangten Volks von einer Gruppe oder gar einem Einzelnen ausgedrückt wird, als Stimme des volonté générale? Ich muss nicht daran erinnern, dass sich das Gremium der Nationalversammlung, das Tausende durch die Guillotine ermorden ließ, Wohlfahrtsausschuss nannte. Entscheidend wurde in der Französischen Revolution, so hielt der französische Historiker François Furet fest, wer überzeugend im Namen des Volkes sprechen konnte. Furet: »Wenn die Französische Revolution […] in ihrer politischen Praxis die theoretischen Widersprüche der Demokratie auslebt, so deshalb, weil sie eine Welt ins Leben ruft, in der die Vorstellungen von der Macht der Kern des Handelns sind und in der das semiotische Kraftfeld absoluter Herr über die Politik ist. Es gilt zu wissen, wer das Volk oder die Gleichheit oder die Nation vertritt: die Fähigkeit, diese symbolische Stellung innezuhaben und zu bewahren, bestimmt den Sieg.«17 17 François Furet, 1789. Jenseits des Mythos, Hamburg 1989, S. 62. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Das Volk der Verfassung kann nicht – außer in Rousseaus Theorie – als Ganzes auftreten und seine politischen Geschicke in die eigene Hand nehmen. Aber es ist keineswegs eine irreale Referenz der Demokratie; das Volk ist wirklich, in Form der Vielheit lebender Menschen, die als Adressaten von den politischen Entscheidungen betroffen sind. Und das Problem, ob diese Vielen sich nicht bloß als Adressaten, sondern auch als Autoren der Gesetze verstehen, bleibt als Grundproblem der Demokratie ebenso erhalten wie die Frage, wer im Namen des Volkes sprechen darf. Die Ambivalenz des politischen Volks zwischen souveräner Universalität und Einheit auf der einen und der Vielheit des empirischen Volkes und der individuellen Staatsbürgerschaft auf der anderen Seite bleibt der Debatte um das Volk und seine Gewalt eingeschrieben. Der liberale, jüdische Staatsrechtler Hugo Preuß, der vier Tage nach dem Umsturz, am 15. November 1918, von Ebert mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes beauftragt wurde, hatte tags zuvor im Berliner Tageblatt programmatisch geschrieben: »Nicht Klassen und Gruppen, nicht Parteien und Stände in gegensätzlicher Isolierung, sondern nur das gesamte deutsche Volk, vertreten durch die aus völlig demokratischen Wahlen hervorgehende deutsche Nationalversammlung, kann den deutschen Volksstaat schaffen. Sie muß ihn baldigst schaffen, wenn nicht unsagbares Unheil unser armes Volk vollends verelenden soll. Gewiß muß eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein; aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf, die Unterdrückung einer sozialen Schicht durch die andere bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller Volksgenossen.«18 Die Staatsrechtler der Weimarer Republik hatten arg damit zu kämpfen, die neue demokratische Verfassung von 1919 anzuerkennen, die doch durch einen nicht zu übersehenden revolutionären und gewalttätigen Rechtsbruch, die Revolution 1918/19, gegen die alte Verfassung des Kaiserreichs zustande gekommen war. Die Revolution in Deutschland war, so Gerhard Anschütz in seinem maßgebenden Kommentar zur Verfassung der Weimarer Republik, »eine gewaltsame Zerstörung alten Rechts, also Rechtsbruch« und zugleich »Schöpferin einer neuen Rechtsordnung«.19 Über die Konstruktion, dass nur

18 Hugo Preuß, Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat, in: Ders., Staat, Recht und Freiheit. Aus 40 Jahren deutscher Politik und Geschichte. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuß, Tübingen 1926, S. 365–368, Zitat S. 367 f. 19 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.  August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Dritte Bearbeitung, Berlin 121930, S.  3; vgl. dazu Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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die Rechtsordnung gewechselt habe, der Staat aber geblieben sei, suchte Anschütz, die politische Sprengkraft der Revolution juristisch einzuhegen. Just in eben dem Moment, als das Volk als souveränes Staatsvolk, als Versammlung der mündigen Bürger, in greifbare Nähe gerückt war und die Weimarer Verfassung vom 11.  August 1919 in Artikel 1 bestimmte: »Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus«, bündelte der Begriff der Volksgemeinschaft all die Kritik an der Republik und ihrer demokratischen Verfassung.

Volk und Volksgemeinschaft Volksgemeinschaft ist kein genuiner nationalsozialistischer Begriff. Seine erste Hochkonjunktur verdankte er dem Ersten Weltkrieg.20 Der Satz Wilhelms II. vom August 1914, dass er von nun an keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kenne, erzielte weite Resonanz, weil er den Wunsch vieler Deutscher nach Gleichheit und Inklusion zu repräsentieren vermochte. Das »Zusammenstehen mit der Volksgemeinschaft in Not und Tod« sei das Gebot der Stunde, formulierte der Sozialdemokrat und spätere preußische Wissenschaftsminister Konrad Haenisch 1916.21 Und Victor Klemperer vertraute Anfang August 1914 seinem Tagebuch an, dass, sollte sich das Deutsche Reich behaupten, ein großes Glück aus diesem Krieg erwachse: nämlich »höhere Brüderlichkeit im Volk«.22 Gerade Juden und Sozialdemokraten hofften, dass sie aufgrund ihrer patriotischen Haltung endlich von der Mehrheit der Gesellschaft als gleichwertig akzeptiert werden würden. Gemeinschaft, hat Helmuth Plessner als klug beobachtender Zeitgenosse zu Recht konstatiert, war das »Idol dieses Zeitalters«.23 Seit dem 19.  Jahrhundert bildete in Deutschland »Gemeinschaft« den Gegenbegriff zu »Ge­ sellschaft« – als Ausdruck für die Kritik an der rasanten Dynamisierung und

20 Vgl. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. 21 Zit. nach Gunther Mai, »Verteidigungskrieg« und »Volksgemeinschaft«. Staatliche Selbstbehauptung, nationale Solidarität und soziale Befreiung in Deutschland in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1900–1925), in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 583–602, S. 591. 22 Victor Klemperer, Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881–1918, hg. von Walter Nowojski, Bd. 2, Berlin 1996, S. 182. 23 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], Frankfurt a. M. 2002, S. 28. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Pluralisierung von Sozialverhältnissen im Zuge von Industrialisierung, Säkularisierung, Marktorientierung und politischem Liberalismus. »Die Sehnsucht nach Gemeinschaft entspringt immer der Reaktion gegen eine als schlecht empfundene Gegenwart. Somit ist die Wirklichkeit solcher Gemeinschaftsmodelle nicht in der Vergangenheit zu suchen, auf die sie sich in der Regel beziehen, sondern in der Gegenwart.24 »Gemeinschaft« wird stets im Horizont der modernen »Gesellschaft« eingeklagt und ist genuiner Teil des selbstvergewissernden Krisendiskurses der Moderne. Niemand hat diesen Gegensatz wortreicher zu Papier gebracht als Ferdinand Tönnies, dessen 1887 erstmals erschienenes Buch »Gemeinschaft und Gesellschaft« den Nerv der Zeit traf und gesellschaftliche Diskussionen fortan bestimmte. Im Begriff der »Gemeinschaft« bündeln sich Hoffnungen auf die Überwindung von Entfremdung, sowohl in revolutionärer wie restaurativer Hinsicht. Diese Ambivalenz, sowohl wiederherzustellen, was als verloren gilt, wie auch in der Zukunft herbeizuführen, was als soziale Ordnung erstrebenswert sei, ist dem Begriff der »Gemeinschaft« von Anfang an inhärent. Deshalb würde man auch den Begriff der »Volksgemeinschaft« missverstehen, wenn man ihn als Beschreibung einer tatsächlich existierenden gesellschaftlichen Realität nehmen würde. Nicht in der Feststellung eines sozialen Ist-Zustandes, sondern vielmehr in der Verheißung, in der Mobilisierung lag die politische Kraft der Rede von der »Volksgemeinschaft«. Der Begriff der »Volksgemeinschaft« wurde in Deutschland schon vor 1933 zu einer, wie Hans-Ulrich Thamer hervorhebt, »beherrschenden politischen Deutungsformel«25. Die liberalen Parteien betonten den sozialharmonischen inkludierenden Aspekt. Für die Sozialdemokraten hatte sich die Arbeiterklasse mittlerweile zum Volk der Schaffenden ausgeweitet, die einer kleinen und ungerechtfertigt mächtigen Minderheit von Monopolkapitalisten und Großgrundbesitzern gegenüber standen. Und selbst diese Minorität könnte, wenn sie einer wirklichen Arbeit nachginge, Teil einer sozialistischen Volksgemeinschaft werden. In den Reden Friedrich Eberts als Reichspräsident hatte die Volksgemeinschaft als Inklusion aller Schaffenden ihren festen 24 Vgl. Gérard Raulet, Die Modernität der »Gemeinschaft«, in: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1993, S.  72–93, S. 73. 25 Hans-Ulrich Thamer, Volksgemeinschaft: Mensch und Masse, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500- 2000, Wien 1998, S. 367–388, S. 367; vgl. dazu Michael Wildt, Die Ungleichheit des Volkes. »Volksgemeinschaft« in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Ders./Frank Bajohr (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009, S. 24–40. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Platz. Dagegen begriff die Rechte die Volksgemeinschaft vor allem in ihrer exkludierenden Dimension. Weniger die Frage, wer zur »Volksgemeinschaft« zählte, trieb die Rechte um als vielmehr, wer in keinem Fall zur ihr gehören dürfe. »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« – so heißt es klar und deutlich im Parteiprogramm der NSDAP aus dem Jahre 1920. Es war Carl Schmitt, der die Ambivalenz des Volksbegriffs in der Weimarer Verfassung mit antiliberaler Stoßrichtung polarisierte. Das politische Volk, von dem alle Gewalt in der Demokratie ausgeht, wird nach Schmitt nicht durch die Verfassung als Gesamtheit aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger konstituiert, es muss vielmehr notwendig vorausgesetzt werden, um eine Verfassung überhaupt wollen zu können. Schmitt nahm in seiner Lektüre die Inkohärenz des Rousseau’schen Konzepts maliziös wahr und nutzte dessen Modell, um das souveräne Volk nicht mehr als eine Assoziation freier und gleicher Bürger zu begreifen, sondern Gleichheit substantialistisch zu postulieren: »Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.«26 Handelte es sich 1923, als Schmitt diesen Text veröffentlichte, bei den Auszuschließenden bei ihm um, wörtlich, »Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegenrevolutionäre«, so ließ sich diese Liste nach 1933 mühelos um Juden, »Fremdrassige« und »Gemeinschaftsfremde« erweitern. In Schmitts Schriften selbst verwandelte sich das »Gleichartige« konsequent in das »Artgleiche«.27 Nicht der einzelne Mensch, nicht das subjektive Recht als Angelpunkt der bürgerlichen Rechtsordnung, sondern das Recht der Gemeinschaft, das Recht der Volksgemeinschaft bildete den Kern eines nationalsozialistischen Rechts. Insbesondere der SS-Jurist Reinhard Höhn, der sich 1934 bei Ernst Krieck in Heidelberg habilitiert hatte, profilierte sich als »Vorkämpfer des Gemeinschaftsgedankens im Staatsrecht« (Michael Stolleis). »Die neue, auf Gemeinschaftsboden fußende Welt«, so Höhn 1934, »stürmte mit ihren Be-

26 Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1923, S. 13 f. 27 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1963, S. 27, 20. Den Hinweis auf die signifikante Silbenverdrehung von »gleichartig« in »artgleich« verdanke ich Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 101–105. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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griffen Gemeinschaft, Führer, Volk, Rasse gegen eine Welt an, die auf einem anderen Boden stand.«28 In deutlicher Kritik an den Theoretikern eines eher etatistischen »Führerstaats« wie Otto Kollreutter oder Ernst Rudolf Huber setzte Höhn andere Akzente: »An die Stelle des individualistischen Prinzips ist heute ein anderes getreten, das Prinzip der Gemeinschaft. Nicht mehr die juristische Staatsperson ist Grund und Eckstein des Staatsrechts, sondern die Volksgemeinschaft ist der neue Ausgangspunkt.«29 Höhn nahm damit einen Gedanken auf, den Schmitt 1934 in einem einflussreichen Aufsatz »Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens« formuliert hatte, in dem er zwischen dem Normativismus als Gesetzes- und Regeldenken, dem Dezisionismus als Denken des Rechts von der Entscheidung des Richters her und schließlich dem konkreten Ordnungsdenken unterschied, das sich auf konkrete Gemeinschaften innerhalb des Volkes beziehe. »Für das konkrete Ordnungsdenken«, so Schmitt, »ist ›Ordnung‹ auch juristisch nicht in erster Linie Regel oder eine Summe von Regeln, sondern, umgekehrt, die Regel ist nur ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung.«30 Zwar war die These, dass das angewandte Recht weniger in den geschriebenen Gesetzen als vielmehr in den Rechtsgewohnheiten der jeweiligen Rechtsgenossen zu finden sei, nicht neu. Aber Schmitts konkretes Ordnungsdenken in Verbindung mit dem Konzept einer Volks­gemeinschaft stellte den Wendepunkt in der Entwicklung einer nationalsozialistischen Rechtstheorie dar. Der jüdische und sozialdemokratische Jurist Ernst Fraenkel, der nach seiner Emigration aus Deutschland in die USA mit seinem 1941 erschienenen Buch »The Dual State« eine der wichtigsten zeitgenössischen Analysen des NS-Regimes verfasste, sah die politischen Konsequenzen dieses Rechtsdenkens sehr klar. »Der Vorstellung, daß die Gemeinschaft alleinige Quelle des Rechts sei, entspricht die Lehre, daß es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne. […] Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gel-

28 Reinhard Höhn, Gemeinschaft als Rechtsprinzip, in: Deutsches Recht 1934, zit. nach: Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994, S. 8. 29 Reinhard Höhn, Die staatsrechtliche Lage, in: Volk im Werden, 1934/35, zit. nach: Michael Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), Heft 1, S. 16–38, S. 29. 30 Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Berlin 1934, S. 13; vgl. dazu insbesondere Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a. M. 2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.«31 Nicht, dass es Schmitt darum gegangen wäre, konkrete Gemeinschaften, sobald sie nur ein geordnetes Ganzes darstellten, gleichermaßen zur Rechtsquelle konkreter Ordnungen werden zu lassen. Das würde in der Tat auf eine Art Liberalismus autonomer Gruppen hinauslaufen – für Schmitt ohne Zweifel eine Schreckensvision. Erst in der Verbindung mit der nationalsozialistischen Gemeinschaftsvorstellung enthielt das Konzept sein dezisionistisches Element, da nur diejenigen Gruppen als Träger konkreter Ordnungen anerkannt worden seien, die als »Gemeinschaft« im nationalsozialistischen Sinn akzeptiert wurden. Konkretes Ordnungsdenken legitimierte damit die rassistische Hierarchisierung von Gemeinschaften: Während die deutsche Volksgemeinschaft in relativer Rechtssicherheit leben konnte, wurden andere Gruppen, allen voran die Juden und darüber hinaus sämtliche sogenannte »Fremdvölkische« und »Gemeinschaftsfremde«, in die Rechtlosigkeit gestoßen und uneingeschränkt verfolgt. In den Worten von Heydrichs Stellvertreter Werner Best hatte eine nationalsozialistische Polizei folgerichtig eine umfassende Aufgabe zu bewältigen, indem sie »den politischen Gesundheitszustand des deutschen Volkskörpers sorgfältig überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime […] feststellt und mit jedem geeigneten Mittel beseitigt.«32 Wenn die Gemeinschaft zum Wert an sich hypostasiert wird, ohne sie inhaltlich bestimmen oder auf ein Ziel orientieren zu können, wird das Vorhandensein eines ständigen Feindes zur alleinigen Grundlage ihrer Existenz. Nur die Grenze zwischen »uns« und »denen«, zwischen Freund und Feind vermag der Gemeinschaft Kontur zu geben. Schmitts Lehre von der Freund-Feind-Kennung als dem existentiellen Unterscheidungskriterium des Politischen war daher im buchstäblichen Sinn konstitutiv für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Schmitt, so Fraenkel, lieferte den Nationalsozialisten »eine Legitimation, indem er bewies, daß fehlender Inhalt kein Mangel, sondern die vollkommene Realisierung des Politischen ist«.33

31 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand, hg. von Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 193; vgl. dazu Michael Wildt, Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels ›Doppelstaat‹ neu betrachtet, in: Mittelweg 36 12 (2003), Heft 2, S. 45–61. 32 Best, Geheime Staatspolizei, zitiert nach: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996, S. 164. 33 Fraenkel, Doppelstaat, S. 253. Zur Freund-Feind-Kennung vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, München/Leipzig 1932, S. 27. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Volk und Gewalt In der Weimarer Republik hielt noch das von Georg Jellinek geknüpfte Band, das Nation, Staatsgewalt und Territorium zusammenschloss. Aber das »Volk« barg in sich jene Sprengkraft, die das Jellineksche Band zerreißen würde. Das Konzept der Nation kann ethnische Zuschreibungen beinhalten, die bereits Homogenitätsforderungen nach sich ziehen. Bekanntlich wurden kulturelle Minoritäten in bestehenden Nationalstaaten mit repressiven Nationalisierungspolitiken bis zum Punkt der völligen Auflösung ihrer Identität assimiliert. Auf sie wurde fraglos erheblicher Druck und staatlicher Zwang ausgeübt, aber sie wurden nicht vernichtet. Erst der im 19. Jahrhundert zur Leitidee avancierte Biologismus stempelt die Andersheit des »Anderen« zu einer Naturtatsache, ruft also unentrinnbar genetische und nicht mehr bloß genealogische Differenzen auf, die per definitionem nicht assimiliert werden können. Indem das Volk naturalisiert wird, sich folglich nicht mehr über Verfahren des Rechts als Staatsvolk konstituiert, löst sich, wie Ulrich Bielefeld festhielt, die Nation als politische Form der modernen Gesellschaft auf.34 Damit folgten mörderische Politiken der Segregation und Ausmerzung den vormaligen Assimilationsprojekten. Die Ausbreitung des rassischen Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts als qualitativ neue Form der Judenfeindschaft ist daher eng mit der Durchsetzung der Biologie als Leitwissenschaft des »Lebens« verbunden. Nach außen durchbricht das ethnisch definierte Volk die territorialen Grenzen des Nationalstaats. Der nun geforderte »Lebensraum« reicht weit über staatliche Grenzen hinaus, stellt sie sogar in Frage. Die Forderung nach der territorialen Autonomie ethnischer Gruppen, die sich mit vorgeblich eindeutigen Bevölkerungsmehrheiten und geschlossenen Siedlungsstrukturen in einer entsprechenden Region begründet findet, verweist stets auch auf eine zugrunde liegende Homogenitätsvorstellung, nach der »Volk« und »Raum« zueinander gehören.35 Die Virulenz, mit der das deutsche Reich, insbesondere nach 1933, die Frage der »Volksdeutschen« in Europa auf der Tagesordnung hielt, zielte nicht bloß auf die Revision des Versailler Vertrages, also die Rückkehr zu den Grenzen von 1914, sondern weit mehr auf die völkische Neuordnung Europas. In seiner Rede im Reichstag am 6. Oktober 1939, nach 34 Ulrich Bielefeld, Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2003, S. 71. 35 Vgl. dazu Samuel Salzborn, Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt a. M. 2005, S. 159–162; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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dem Sieg über Polen, kündigte Hitler unverblümt eine Politik der ethnischen Säuberungen in Osteuropa an, das »mit nichthaltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt« sei, die nun rückgesiedelt werden sollten. »Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne.« Was hier als vornehmlich auf die volksdeutschen Minoritäten bezogen zu sein scheint, beinhaltet in Wirklichkeit ein umfassendes völkisch-rassisches Neuordnungskonzept, das mittels Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für »arische« Deutsche schaffen sollte. Konsequent sprach Hitler nicht mehr nur von der »Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten«, sondern auch von einer »Ordnung und Regelung des jüdischen Problems«.36 Gewalt war für die Nationalsozialisten kein bloßes Instrument der Politik, sie war Politik. Mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28.  Februar 1933 legte die NS-Führung die staatliche Grundlage für eine neue Ordnung der Gewalt. Wesentliche Grundrechte wie die Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht oder die Gewährleistung des Eigentums wurden außer Kraft gesetzt. Kennzeichnenderweise vermied die Reichstagsbrandverordnung bewusst, den militärischen Ausnahmezustand auszurufen und die exekutive Gewalt wie bisher üblich an einen Militärbefehlshaber zu übertragen. Stattdessen stärkte sie die Macht der Polizei im NSRegime und ließ erkennen, wie wenig die nationalsozialistische Führung in den traditionellen Kategorien eines Staatsnotstands oder Belagerungszustandes dachte. Nun glaubten die Parteigruppen die Möglichkeit erhalten zu haben, ihre Revolution, die »Säuberung« der deutschen Gesellschaft von Kommunisten und Juden, verwirklichen zu können. Wenn die Anwendung physischer Gewalt nicht mehr auf dem Einverständnis gleicher und freier Staatsbürger beruht und vom Recht eingehegt wird, sondern ausschließlich vom politischen Anspruch auf Befehlsgewalt abhängt, gibt es für die vielen politischen Instanzen des Regimes keinen Grund, ihrerseits auf Gewalt zu verzichten. Allerdings: Wer die Gewaltanwendung allein an politische Zwecke bindet, verfügt über kein überzeugendes Argument mehr, auf dem Monopol der Gewaltanwendung zu bestehen; es blieb allein der Anspruch auf Befehlsgewalt und Disziplin des Gehorsams. So fiel es der NS-Führung immer wieder 36 Verhandlungen des Reichstages, Bd. 460, Berlin 1939, S. 51–63; vgl. dazu Michael Wildt, »Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse«. Hitlers Reichstagsrede vom 6.  Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), Heft 1, S. 129–137. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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schwer, die Kontrolle über die Gewalt zu behalten, nachdem sie selbst, ganz im Sinn des utilitaristischen Einsatzes zugunsten der »Volksgemeinschaft«, Gewalt »von unten« gefördert hatte. »Aus dem Auffassungskreis untergeordneter Parteidienststellen ist die Meinung nicht auszurotten«, so der Regierungspräsident in Wiesbaden im Sommer 1935, »daß der Führer gewissermaßen ein doppeltes Gesicht habe. Gewisse Anordnungen, insbesondere auf dem Gebiet der Judenfrage, müßten dem Ausland gegenüber getroffen werden. Der wahre Wille des Führers dagegen sei jedem echten Nationalsozialisten aus seiner Weltanschauung heraus bekannt, und diesen Willen gelte es zu vollstrecken. Damit handele man im Sinne des Führers. Aus dieser Auffassung heraus erklärt es sich, daß bei den verschiedenartigsten Gewalt­ tätigkeiten und Sonderaktionen gegen Juden, die nach den Vorfällen am Kurfürstendamm in Berlin in verstärkter Weise einsetzten, Parteigenossen und Mitglieder der SA maßgeblich beteiligt waren.«37 Die Transformation der deutschen Gesellschaft in eine gewalttätige Volksgemeinschaft war ein politischer Prozess, der sich nicht nur in den großen Städten vollzog, sondern gerade in der Provinz, in den Dörfern und kleinen Orten, wo die Nazis zwar die Führungsposten erobert, aber noch nicht die politische Macht errungen hatten. Die Verfolgung der deutschen Juden als »Volksfeinde«, als »rassische Gegner des deutschen Volkes« war das wesentliche politische Instrument zur Zerstörung des Staatsvolkes und zur Herstellung der Volks­gemeinschaft. In der politischen Praxis vor Ort hieß das, soziale Distanz herzustellen, jedwede Solidarität und Mitleid mit den Verfolgten zu stigmatisieren, um die Juden zu isolieren und für rechtlos, ja vogelfrei, zu erklären. Das nationalsozialistische Konzept der »Volksgemeinschaft« verabschiedete keineswegs den Gedanken vom Volk als Souverän. Doch wurde nun das »Volk« als rassenbiologisch definierter und regulierter, von Juden, »Fremdrassigen«, »Minderwertigen« und »Gemeinschaftsfremden« gereinigter »Volks­ körper« verstanden, dessen Leistungsfähigkeit gesteigert, intensiviert und maximiert werden sollte. Von diesem rassistisch bestimmten ethnos sollte alle Gewalt ausgehen, nicht vom demos, dem konstitutionellen Staatsvolk, nicht von der Versammlung freier Bürger, gleich welchen Geschlechtes, welcher Religion, Hautfarbe oder Abstammung. Die Gewalt­a ktionen gegen Juden haben nicht die Volksgemeinschaft geschaffen, aber diese Praxis der Gewalt nahm die Wirklichkeit der Volksgemeinschaft, wenn auch zeitlich und 37 Bericht des Regierungspräsidenten in Wiesbaden, August 1935, in: Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945, hg. von Otto Dov Kulka/Eberhard Jäckel, Düsseldorf 2004, CD-ROM, Dokument Nr. 1141. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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räumlich begrenzt, vorweg. Gewalt machte einen Gesellschaftszustand konkret, ja körperlich erfahrbar, in dem die alte Ordnung außer Kraft gesetzt war und sich eine neue politische Ordnung rassistischer Ungleichheit etablierte, in der sich das nationalsozialistische Volk als politischer Souverän realisierte und jeder Gewalttäter »Partizipationsmacht« erfahren konnte.

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Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung 1953–1964 Stalins Erben und die Entstalinisierung

Als Stalin im März 1953 einen tödlichen Schlaganfall erlitt, schien es, als seien die Götter sterblich. Ein Gott war gestorben. Wie konnte das Unerhörte geschehen? Wer sollte das Land regieren? Und wie sollte die Herrschaft der Wenigen legitimiert werden, nachdem ihre einzige Autoritätsquelle versiegt war? Das Gefühl der Unsicherheit war allgegenwärtig. Niemand wusste, was nach dem Tod des Diktators geschehen würde. »Wir aber hatten völlig vergessen«, schrieb Ilja Ehrenburg über die Atmosphäre jener Tage, »daß Stalin ein Mensch war. Er hatte sich in einen allmächtigen und geheimnisvollen Gott verwandelt.«1 Aber nicht jeder empfand den Tod des Diktators als bedrückendes Ereignis. Manche versprachen sich ein besseres Leben, so wie im Mai 1945 viele geglaubt hatten, der Terror und die Gewalt werde nun zu Ende sein. Millionen Menschen waren verunsichert, aber Millionen glaubten auch, dass es schlimmer nicht kommen könne.2 Aber niemand hätte im März 1953 für möglich gehalten, was wenig später geschah: dass die Gefährten Stalins den Terror für immer beenden würden. Schon wenige Wochen nach dem Tod des Despoten handelten seine Nachfolger. Sie stellten das Verfahren gegen die so genannten »Mörderärzte« ein, ließen alle Verhafteten frei und beendeten die antisemitischen Kampagnen, die sich im letzten Lebensjahr Stalins, einer Lawine gleich, über alle Lebensbereiche ergossen hatten. Wenig später wurden die Folter verboten und die strafenden Befugnisse des Sicherheitsapparates eingeschränkt. Kaum war Stalin gestorben, einigten sich seine Nachfolger darauf, die Macht untereinander aufzuteilen und das Spiel mit dem Tod zu beenden. Nikita Chruschtschow wurde Parteichef, Georgi Malenkow Ministerpräsident, Wjatscheslaw Molotow durfte wieder Außenminister sein, und Stalins Henker, Lawrenti Berija, übernahm die Kontrolle über das Innenministerium 1 Ilja Ehrenburg, Menschen, Jahre, Leben, Bd. 3, Berlin 1978, S. 256–257. 2 Elena Zubkova, Obščestvo i reformy 1945–1964, Moskau 1993. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und die Staatssicherheit. Es schien, als sei die Atmosphäre der Paranoia für immer aus dem Kreml verschwunden. Nur einmal noch machten Stalins Nachfolger von den alten Methoden Gebrauch, als sie im Juni 1953 Lawrenti Berija, Stalins skrupellosesten und sadistischen Gefolgsmann, aus dem Weg räumen und wenig später erschießen ließen. Zwar war auch Berija ein Anwalt des neuen Kurses gewesen. Alles, was er nach dem Tod Stalins tat, war eine Widerlegung der eigenen Vergangenheit. Stalins Henker verwandelte sich in einen Reformer: er öffnete die Lager, entwarf sich als Anwalt einer liberalen Nationalitätenpolitik und empfahl dem Politbüro, die DDR aus dem kommunistischen Herrschaftsbereich zu entlassen.3 Die Gefährten trauten ihm nicht, und sie hatten gute Gründe dafür. So sehr fürchteten sie den georgischen Gefolgsmann Stalins, dass sie nicht nur ihn, sondern auch seine Helfer und Mitwisser aus dem Kaukasus umbringen ließen. Berija hoffte, sein Leben retten zu können, obwohl er doch hätte wissen müssen, dass sich für ihn, den Henker des Despoten, niemand verwenden würde. Und dennoch schrieb er den Gefährten von einst Briefe aus der Zelle, er erinnerte sie an die Freundschaft und die Treue, die sie einander geschworen hätten. »Mit ganzer Seele und mit ganzer Energie« werde er arbeiten, ganz gleich an welchem Ort, wenn die »lieben Genossen« ihm nur vergeben könnten.4 Aber die Genossen zogen es vor, sich seiner zu entledigen. Nie wieder sollte ein Einziger unumschränkte Gewalt über sie gewinnen, nie wieder die Staatssicherheit das Politbüro beherrschen, und deshalb begingen sie einen letzten Mord, um die Demontage der Despotie zu vollenden. Niemand verstand damals, warum ausgerechnet der einfältige Chruscht­ schow im Machtkampf siegte und warum er zum Vater der Entstalinisierung wurde. Er hätte Stalinist bleiben können, nachdem er sich die Macht gesichert hatte. Niemand hätte von ihm verlangt, mit der eigenen Vergangenheit schonungslos abzurechnen. Kein Untertan und Kommunist hätte im Jahr 1953 gefordert, was 1956 geschah. Unter Stalin war die Kommunistische Partei entmachtet worden. Das Zentralkomitee trat nicht mehr zusammen, und zwischen 1939 und 1953 wurde nur einmal ein Parteitag einberufen, um dem greisen Diktator zu huldigen. Alle wichtigen Entscheidungen wurden in den Ministerien und an Stalins Hof getroffen, die Partei hatte auf­gehört, ein

3 Stefan Merl, Berija und Chruščev. Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2001), S. 484–506; Amy Knight, Beria. Stalin’s First Lieutenant, Princeton, N. J. 1993, S. 176–200. 4 Vladimir Naumov/Jurij Sigačev (Hg.), Lavrentij Berija. 1953. Stenogramma ijul’skogo plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 1999, S. 69, 78. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Ort sozialer und politischer Mobilisierung zu sein.5 Chruschtschow aber reaktivierte die Partei, weil er begriffen hatte, dass es ohne Öffentlichkeit keine Veränderung geben würde. Wer sich auf den Willen von Millionen Parteimitgliedern berufen konnte, hatte größere Möglichkeiten, sich gegen Widersacher und Altstalinisten durchzusetzen. Denn eine andere Öffentlichkeit als die Partei gab es nicht. Ohne ihre Wiederbelebung hätte es keine Entstalinisierung gegeben. Chruschtschow wäre ein Reformer ohne Macht und Rückhalt gewesen, und er hätte sich gegen seine Gegner nicht durchsetzen können.6 Aber die Entstalinisierung war kein bloßes Spiel mit der Macht. Sie war auch ein moralisches Projekt, das zur Obsession eines Mannes wurde, der mit der Schuld nicht weiterleben wollte. »Ich habe keinen Zweifel«, schrieb Georgi Arbatow, der zu den Vordenkern der Perestrojka gehörte, »daß Stalins Grausamkeit, Hinterhältigkeit und Despotie Chruschtschow abstießen, der mehr als einmal persönlich von Stalin gedemütigt worden war.«7 Und deshalb musste Stalin aus seinem Leben verschwinden. Die Entstalinisierung war nicht zuletzt das Projekt eines Gedemütigten, der sich von der Übermacht eines despotischen Vaters befreite. Schon wenige Wochen nach dem Tod des Diktators wurden alle Spuren seiner allgegenwärtigen Präsenz beseitigt, denn die Gefährten wollten an die Demütigungen, die sie in den zurückliegenden Jahren erlitten hatten, nicht erinnert werden. Stalins Bücher und Schallplatten, seine privaten Habseligkeiten wurden verstreut, seine Mitarbeiter und Bediensteten entlassen, und auch seine Datscha in Kunzewo wurde verriegelt. Im Jahr 1955 wurde sein Geburtstag in der Presse schon nicht mehr erwähnt, und im Führungskreis sprach niemand mehr von den Verdiensten des Vaters und Lehrers. Nicht einmal die engsten Angehörigen des Diktators blieben verschont. Im April 1953 wurde Stalins habgieriger, brutaler und alkoholkranker Sohn, Wassili, verhaftet, der, als der Vater noch lebte, als Offizier bei der Luftwaffe Untergebene misshandelt, Devisen unterschlagen und Sexorgien für sich und seine Freunde veranstaltet hatte. Man stellte ihn vor Gericht und verurteilte ihn zu acht Jahren Gefängnis. »Keine

5 Yoram Gorlizki/Oleg Khlevniuk, Cold Peace. Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945– 1953, Oxford 2004, S. 17–65. 6 Alexander Titov, The Central Comittee Apparatus under Khrushchev, in: Jeremy Smith/ Melanie Ilic (Hg.), Khrushchev in the Kremlin. Policy and Government in the Soviet Union, 1953–1964, London 2011, S. 41–60; Yoram Gorlizki, Party Revivalism and the Death of Stalin, in: Slavic Review (1995), S. 1–22. 7 Georgi Arbatow, Das System. Ein Leben im Zentrum der Sowjetpolitik, Frankfurt a. M. 1993, S. 69. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Seele fand sich mehr, die ihn verteidigt hätte«, erinnerte sich seine Schwester Swetlana.8 Wenig später schon spürten die Funktionsträger das Ende der Willkürherrschaft. In den letzten Jahren der Despotie hatten die Minister und höheren Beamten ihre Behörden erst verlassen dürfen, wenn Stalins Sekretär Poskrjobyschow ihnen mitgeteilt hatte, dass der Diktator zu Bett gegangen war. Im Sommer 1953 brach Chruschtschow mit dieser Praxis. Allen Funktionsträgern sei es nunmehr gestattet, ohne Aufforderung am späten Nachmittag nach Hause zu gehen, um Kraft für den nächsten Arbeitstag zu schöpfen, ließ der Parteichef in einem Rundschreiben an alle Behörden mitteilen. Niemals wieder würden die Beamten aus ihren Büros und Häusern abgeholt werden, weil ein Diktator ihrer Dienste überdrüssig geworden war.9 Jedermann konnte spüren, dass eine neue Epoche angebrochen war. Im Mai 1954 hielt Chruschtschow vor dem Parteikomitee der Stadt Leningrad eine Rede, in der er die »Leningrader Affäre« thematisierte. 1950 waren auf Anordnung Stalins nicht nur der Leiter der staatlichen Planbehörde, Nikolai Wosnesenski, der ZK-Sekretär Alexei Kusnezow und der Parteichef der Stadt, Pjotr Popkow zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Mit ihnen starben Tausende ihrer Gefolgsleute. Chruschtschow sprach über das Verbrechen, ohne den Verbrecher beim Namen zu nennen. Nicht Stalin, sondern Berija sei für die Morde verantwortlich gewesen, erklärte er. Und dennoch kam in Chruschtschows Rede überhaupt zum ersten Mal die Verantwortung der Täter zur Sprache. Man könne nicht so tun, als sei nichts geschehen. »Das Zentralkomitee hält es für seine Pflicht, die Wahrheit wiederherzustellen und den Schandfleck zu beseitigen, der auf der Leningrader Parteiorganisation liegt.«10 Wenig später, im Juni 1955, konfrontierte er auch die Staatsanwälte mit der Gewalt der zurückliegenden Jahre. Auf einer Konferenz der Prokuratur sprach Chruschtschow offen über Terror und Folter, Willkür und Rechtlosigkeit. Menschen seien ohne Urteil erschossen worden, und kein Staatsanwalt habe die Gefängnisse besuchen und die Verhafteten befragen dürfen.

8 Swetlana Allilujewa, Zwanzig Briefe an einen Freund, Wien 1967, S. 301. Zur Verhaftung Wasili Stalins vgl. das Verhörprotokoll vom 9. Mai 1953, in: Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii (RGANI), fond 89, opis’ 68, delo 3, ll. 151–166. 9 Chlevnjuk, Politbjuro CK VKP(B) i Sovet Ministrov, S. 409. 10 Reč pervogo sekretarja CK KPSS N. S. Chruščeva na soveščanii apparata leningradskogo oblastnogo i gorodskogo komitetov KPSS, in: Andrej Artizov u. a. (Hg.), Nikita Sergeevič Chruščev. Dva cveta vremeni. Dokumenty iz ličnogo fonda N. S. Chruščeva, Moskva 2009, Bd. 2, S. 522–533; Jurij Aksjutin, Chruščevskaja »ottepel’« i obščestvennye nastroenija v SSSR v 1953–1964 gg., Moskau 2004, S. 502. Zur Leningrader Affäre vgl. Jörg Baberowski, Verbrannte Erde, S. 485–487. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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»Warum ist das alles passiert?«, rief er in den Saal, »Warum? Weil die staatliche Ordnung zerstört worden ist.«11 Chruschtschow selbst hatte erfahren, was es hieß, Angst zu haben. Er war von Stalin gedemütigt worden, er hatte sich vor der Grausamkeit des Despoten gefürchtet. »Auch er hatte«, erinnerte sich Arbatow, »den zerstörerischen Verlust menschlicher Würde erlebt, der sich aus ständiger Angst ergibt.«12 Das alles verschwand nun aus dem Alltag des Führungszirkels, in dem Abstimmungsniederlagen oder Meinungsverschiedenheiten nicht mehr mit dem Leben oder dem Verlust der Freiheit bezahlt werden mussten. Gefolgsleute, die wenige Jahre zuvor noch Mordbefehle unterschrieben, gefoltert und einander denunziert hatten, hielten nunmehr Frieden, nachdem sie sich darauf verständigt hatten, das Spiel mit dem Tod zu beenden. Als Lazar Kaganowitsch, der zu den treuesten und skrupellosesten Helfern Stalins gehört hatte, im Machtkampf des Jahres 1957 unterlag, rechnete er noch mit dem Schlimmsten. Er bat Chruschtschow, ihn nicht töten zu lassen, so wie es ihm zweifellos widerfahren wäre, wenn er sich Stalin widersetzt hätte. »Genosse Chruschtschow, ich kenne Dich seit vielen Jahren. Ich bitte Dich, nicht zuzulassen, daß man mit mir so verfährt, wie man mit den Leuten unter Stalin abgerechnet hätte.« Der »eiserne Lazar« erhielt eine milde Strafe. Er wurde 1957 aus dem Politbüro entfernt und als Direktor einer Asbest-Fabrik in den Ural abgeschoben. Und auch Molotow, der sich mit Kaganowitsch gegen Chruschtschow verschworen hatte, musste nur eine symbolische Erniedrigung über sich ergehen lassen. Man schickte Stalins Außenminister als Botschafter in die Mongolei.13 Kritik und Opposition wurden kalkulierbar, weil Unterlegene mit dem Verlust ihrer Ämter, nicht aber mit ihrer Verhaftung rechnen mussten. Chruschtschows Widersacher gingen also ein geringes Risiko ein, als sie sich im Sommer 1964 darauf verständigten, den Generalsekretär zu stürzen, weil sie glaubten, er sei für sie zu einem Sicherheitsrisiko geworden. 1961 hatte der impulsive und sprunghafte Generalsekretär der Partei ein neues Programm aufgezwungen: kein Funktionär sollte nunmehr länger als drei Wahlperioden im Amt bleiben. Danach sollten ihnen jüngere Kommunisten folgen 11 Iz vystuplenija Chruščeva N. S. na vsesojuznom soveščanii prokurorsko-sledstvennych rabotnikov, in: Artizov u. a. (Hg.), Nikita Sergeevič Chruščev. Bd. 2, S. 522–533; A ­ ksjutin, Chruščevskaja »ottepel’«, S. 544. 12 Arbatow, System, S. 69. 13 Sergej Parfenov, Železnyj Lazar. Konec kar’ery, in: Rodina (1990), S. 72–80, S. 74. Vgl. auch Feliks Čuev, Tak govoril Kaganovič. Ispoved stalinskogo apostola, Moskau 1992; Valerij A. Tjurčinov/Aleksej M. Leontjuk, Vokrug Stalina. Istoriko-biografičeskij spravočnik, Sankt Petersburg 2000, S. 237–239. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und sie ersetzen. Ebenso wie die einfachen Funktionäre empfanden auch die Mitglieder des Zentralkomitees diese Reform als Bedrohung ihrer sozialen und politischen Existenz. Deshalb verschworen sie sich gegen den unberechenbaren Chruschtschow. Denn der Austausch der Kader wäre das Ende der Herrschaft durch Personen gewesen, er hätte das System destabilisiert und die mächtigen Personenverbände um ihre Machtressourcen und sozialen Privilegien gebracht.14 Chruschtschow leistete keinen Widerstand, er versuchte nicht einmal, Unterstützung für sein politisches Überleben zu organisieren. Als ihn die eigenen Gefolgsleute im Oktober 1964 absetzten, wurde er weder öffentlich erniedrigt noch bestraft. Stattdessen verließ er den Kreml als freier Mann und fuhr im Dienstwagen nach Hause. Am 13. Oktober 1964 erklärte Chruschtschow vor dem Präsidium des Zentralkomitees, dass die Parteigremien als Institutionen nunmehr erwachsen geworden seien und »jede beliebige Person kontrollieren« könnten. Am Abend nach seiner Entmachtung sprach er mit Anastas Mikojan über die Bedeutung des Geschehens. »Hätte sich irgend jemand auch nur im Traum vorstellen können«, fragte er, »daß wir Stalin sagen, daß er uns nicht passt und wir ihm vorschlagen, in Pension zu gehen? Von uns wäre nichts übrig geblieben. (Ot nas by mokrogo mesto ne ostalos’) Jetzt ist alles anDers. Die Furcht ist verschwunden und man unterhält sich unter Gleichen. Und das ist mein Verdienst.«15

Die Geheimrede und ihre Folgen Chruschtschow und seine Anhänger im Politbüro hätten sich mit dem­ Erreichten zufrieden geben können. Sie hätten den Mantel des Schweigens über die Greuel der Vergangenheit legen können, und niemand hätte sie aufgefordert, zu sprechen. Chruschtschow aber war entschlossen, die Verbrechen des Diktators beim Namen zu nennen, aus moralischen Gründen, und weil er offenkundig überzeugt war, dass irgendwann die Zeit der ausgespro14 Titov, The 1961 Party Programme, S. 17. 15 Andrej Fursenko (Hg.), Prezidium CK KPSS 1954–1964, Moskva 2003, Bd. 1 ­Černovye protokol’nye zapisi zasedanij. Stenogrammy, S. 872; Andrej Artizov (Hg.), Nikita Chruščev 1964. Stenogrammy plenuma CK KPSS i drugie dokumenty, Moskau 2007; Anastas Mikojan, Tak bylo. Razmyšlenija o minuvšem, Moskva 1999, S. 614–616; Sergei Chruscht­ schow, Nikita Chruschtschow – Marionette des KGB oder Vater der Perestroika?, München 1991, S. 188; William J. Tompson, The Fall of Nikita Khrushchev, in: Soviet Studies (1991), S. 1101–1121. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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chenen Wahrheiten kommen werde. »Früher oder später werden die Leute aus den Gefängnissen und Lagern kommen und in die Städte zurückkehren«, warnte er die Mitglieder des Politbüros vor dem Beginn des XX. Parteitages im Februar 1956. »Sie werden ihren Verwandten, Freunden, Genossen und allen daheim erzählen, was passiert ist. Das ganze Land und die gesamte Partei werden erfahren, daß Menschen zehn bis fünfzehn Jahre im Gefängnis verbracht haben – und das alles wofür? … Wie können wir so tun, als wüßten wir nicht, was geschehen ist?«16

Chruschtschow selbst hatte zu den Vollstreckern Stalins gehört, auch er hatte Todeslisten unterschrieben und Terrorbefehle erteilt. Niemals hatte er Stalin widersprochen, jeden seiner Befehle befolgt. Aber er hatte es auch aus Angst getan, aus Angst um sich und seine Familie. So rechtfertigte er sich und seinesgleichen in der Rede, die er dem XX. Parteitag vortrug. Chruschtschows Entstalinisierung war eine zivilisatorische Leistung, die das Leben von Millionen Menschen veränderte. Nicht an den moralischen und politischen Maßstäben der westlichen Demokratien, sondern an den Möglichkeiten der zurückliegenden Erfahrungen sollte gemessen werden, was die Entstalinisierung war. Für all jene, die den Stalinismus erlebt und überlebt hatten, war, was in den Regierungsjahren Chruschtschows geschah, eine Wiedergeburt, ein Entkommen aus finsterer Vergangenheit. Die Entstalinisierung befriedete eine traumatisierte und vom Terror verseuchte Gesellschaft, und es waren die Täter selbst, die diese Leistung zustande brachten, ohne daran zu zerbrechen. Denn Chruschtschow und seine Anhänger in der Führung gingen ein unkalkulierbares Risiko ein, als sie über die Schrecken der Vergangenheit sprachen, deren Vollstrecker sie selbst gewesen waren. Niemand konnte voraussehen, wohin die Liberalisierung der politischen Verhältnisse führen würde. Würden Stalins Gefährten ihr am Ende zum Opfer fallen? Sie mögen das Risiko gespürt haben, weil sie untereinander offen über die Konsequenzen der Entstalinisierung sprachen. Trotz alledem wurden unmittelbar nach dem Tod des Despoten die Tore der Lager ge­öffnet, ohne einen Plan, was mit Hunderttausenden Kriminellen, Traumatisierten und Entwurzelten geschehen sollte. Wo sollten all diese Menschen arbeiten und leben, wovon sollten sie sich ernähren, mit wem die Wohnung teilen? Was würde geschehen, wenn Opfer Tätern und Denunzianten begegneten? Niemand konnte auf diese Fragen befriedigende Antworten geben. Doch die Reformer ließen sich nicht beirren, wohl auch, weil sie erfuhren, was in den Lagern geschehen war. Zuerst sprachen die Frauen und Verwandten der Ge16 Chruschtschow erinnert sich, Reinbek 1971, S. 353–354. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fährten, die auf Befehl Stalins verhaftet und eingesperrt worden waren, die Ehefrau Molotows, die Schwiegertochter Chruschtschows und die Frauen der getöteten Kommunisten. Woche für Woche erhielten Chruschtschow und andere Mitglieder des Politbüros Briefe von Kommunisten, die aus den Lagern entlassen worden waren und nun Zeugnis ablegten über die Willkür und Grausamkeit, mit der man sie behandelt hatte.17 Im Jahr 1955 hatte Chruschtschow den Leiter des Sekretariats im Zentral­ komitee, Pjotr Pospelow, damit beauftragt, Material über die Verbrechen der Vergangenheit zu sammeln. Pospelow und seine Mitarbeiter ermittelten Täter und Opfer, sie präsentierten dem Politbüro Verhörprotokolle, Todeslisten und Briefe, die die Gefolterten dem Diktator geschrieben hatten. Chruschtschows Sekretär, Wladimir Malin, notierte, dass die Aussagen der Misshandelten vor dem Politbüro verlesen wurden, weil Chruschtschow darauf bestand, dass angehört werden müsse, was mit den ehemaligen Weg­ gefährten geschehen war. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, weil Molotow darauf bestand, dass Stalins Rolle als »großer Führer« anerkannt werden müsse. Chruschtschow und Mikojan widersprachen ihm. Nach allem, was geschehen sei, rief Mikojan, könne man nur den Verstand verlieren. Und Chruschtschow fügte hinzu: »Stalin war der Sache des Sozialismus ergeben, aber er machte alles mit barbarischen Methoden. Er hat die Partei zerstört. Er ist kein Marxist. Er hat alles Heilige, was der Mensch hat, vom Erdboden hinweggefegt. Er hat alles seinen Launen untergeordnet.« Offenkundig begriffen die Mitglieder des Politbüros, dass auch mit ihnen etwas geschah, was sie nicht vorausgesehen hatten.18 Der Damm war gebrochen. Niemand konnte sich der Präsenz des Schreckens jetzt noch entziehen. Und so ließen sich die Mitglieder der Führung von der Dynamik des Geschehens treiben. Auf dem XX. Parteitag im Februar 1956 sprach Chruschtschow offen und schonungslos über die Verbrechen Stalins und die Gründe, warum er und die anderen Mit­glieder der politischen Führung zu Komplizen des Despoten geworden waren. Chruschtschow sprach aus, was jedermann wusste, aber nicht zu sagen wagte, und im Jahr 1961, als schon niemand mehr danach verlangte, erteilte er die Anweisung, die Leiche des Diktators aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz zu entfernen. Auf dem XXII. Parteitag, der im Oktober des gleichen Jahres einberufen wurde, ließ Chruschtschow nicht nur Opfer des stalinistischen Terrors zu 17 Vgl. die entsprechenden Dokumente in: Vitalij J. Afiani (Hg.), Doklad N. S. Chruščeva o kul’te ličnosti Stalina na XX s-ezde KPSS. Dokumenty, Moskva 2002; Vladimir N ­ aumov, Zur Geschichte der Geheimrede Ν. S. Chruščevs auf dem XX. Parteitag der KPdSU, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1997, Nr. 1, S. 137–177, hier S. 144–145. 18 Afiani, Doklad N. S. Chruščeva, S. 175–176. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Wort kommen. Über den Schmerz, den die Opfer empfänden, sprach auch der neue KGB-Chef, Alexander Schelepin. »Manchmal wunderst Du Dich«, sagte er über Stalins Helfer im Sicherheitsapparat, »wie diese Leute ruhig herumlaufen und friedlich schlafen. Sie sollten von Alpträumen heimgesucht werden, sie sollten das Schluchzen und Fluchen der Mütter, Ehefrauen und Kinder der unschuldigen Genossen hören, die sie getötet haben.« Niemals zuvor hatten Stalins Erben über Stalins Verbrechen auf diese Weise gesprochen. Sie gaben zu, dass Menschen mit ihrem Wissen getötet worden waren, und sie gestanden ein, dass die Partei Fehler begehen konnte.19 Worten folgten Taten, die erkennen ließen, dass die Führung es ernst meinte. Zehntausende Tschetschenen, die 1944 nach Kasachstan deportiert worden waren, kehrten nach der Geheimrede im Februar 1956 in ihre Heimat zurück. Zwischen April 1953 und Januar 1956 wurden mehr als 1,5 Millionen Häftlinge aus den Straflagern entlassen und Rehabilitationskommissionen bei der Staatsanwaltschaft eingerichtet, deren Mitglieder in alle Regionen der Sowjetunion reisten, um entlassene Häftlinge zu befragen und ihre Anträge entgegenzunehmen. Bis 1960 wurden 700 000 Opfer des stalinistischen Terrors rehabilitiert, mehrere Millionen Eingaben bearbeitet und beantwortet.20 In der Mangelgesellschaft aber bejubelten nur wenige, was Chruschtschow und seine Anhänger für eine Errungenschaft hielten, weil jeder Entlassene ein Konkurrent um knappe Ressourcen und jeder Kriminelle ein Sicherheitsrisiko war. Die Heimkehr von Deportierten und die Entlassung von Sträflingen empfanden deshalb nur wenige als Wohltat. Wer viele Jahre in Straflagern verbracht hatte, fand nur schwer ins normale Leben zurück. Von den Freien konnten entlassene Sträflinge keine Hilfe erwarten. Niemand wollte ihnen Arbeit geben, es gab keine Wohnungen, in denen sie leben konnten.21 Und dennoch blieben die Entlassenen nicht stumm. Kommunisten, die man eingesperrt und gefoltert hatte, stellten Fragen, weil sie nicht verstanden, warum jene, an deren Händen Blut klebte, nur mit dem Anführer, aber nicht mit sich selbst abrechneten, und in Georgien und in Aserbaidschan protestierten Studenten auf den Straßen, weil sie es nicht ertragen konnten, 19 XXII s-ezd Kommunističeskoj Partii Sovetskogo Sojuza, 17–21 oktjabrja 1961 goda: Stenograficeskij otčet, Moskva 1962, Bd.  2, S.  114–120, 404–405; Kathleen Smith, Remembering Stalin’s Victims. Popular Memory and the End of the USSR, Ithaca, N. Y. 1996, S. 35. 20 Miriam Dobson, Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin, Ithaca, N. J. 2009, S. 5, 51; Naumov, Zur Geschichte der Geheimrede. 21 Nancy Adler, The Gulag Survivor: Beyond the Soviet System, New Brunswick, N. J. 2002. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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dass Chruschtschow den Diktator aus dem Kaukasus zum Verbrecher erklärt hatte.22 Als die Historikerin Anna Pankratova in einer Vortragsreihe im März 1956 vor Parteimitgliedern, Künstlern und Lehrern zu erklären versuchte, warum die Verbrechen Stalins beim Namen genannt werden müssten, konfrontierte man sie mit unangenehmen Wahrheiten. War denn Stalin allein für die Exzesse verantwortlich? Was hätten denn die Gefährten Stalins, die jetzt die Verbrechen aufdecken wollten, damals getan? Warum hätten sie an Stalins Grab Tränen vergossen und sich später von ihm losgesagt?23 Überall sprachen Menschen über die Schrecken der Vergangenheit und über die Verantwortlichen. Stalin war zum Verbrecher erklärt worden. Aber was hatten seine Gefolgsleute getan? Warum hatten sie den Diktator gepriesen, und warum zogen sie ihn jetzt in den Schmutz? Hatten sie damals gelogen, oder sagten sie jetzt die Unwahrheit? Selbst in den Schulen wurden solche Fragen gestellt. Ein Schüler der siebten Klasse, schrieb der Dichter und Literaturkritiker Kornej Tschukowski am 9. März 1956 in sein Tagebuch, habe ihm gegenüber erklärt: »Das bedeutet, das die Zeitung ›Wahrheit‹ (Prawda, J. B.) die Zeitung ›Lüge‹ war.«24 Jahrzehnte hatten die Führer gelogen, und nun sagten sie zum ersten Mal die Wahrheit. Eine andere Interpretation ließ die Diskussion über die Geheimrede überhaupt nicht zu. Erstmals kamen die schrecklichen Erlebnisse von Tausenden überhaupt offen zur Sprache, wenngleich die Täter nirgendwo zur Verantwortung gezogen wurden. Das Regime beendete den Krieg gegen das eigene Volk, als seine Führung begriff, dass es Gehorsam auch ohne Anwendung von Zwang erzeugen konnte. Jedermann kritisierte die politische Führung, und nichts geschah. Wann hatte es jemals zuvor eine offene Debatte oder eine Demonstration gegeben, die nicht mit der Erschießung ihrer Organisatoren beendet worden wäre? Chruschtschow selbst erklärte die Essenz des Tauwetters mit den Worten: »Die Bedürfnisse nahmen zu, ich würde sogar sagen, dass nicht die Bedürfnisse zunahmen, es nahmen vielmehr die Möglichkeiten zu, über Bedürfnisse zu sprechen.«25 Der Stalinismus war tot. Daran konnte es vier Jahre nach dem Ende des Despoten keinen Zweifel geben. Die Staatsgewalt verzichtete auf die exempla22 Polly Jones, From the Secret Speech to the Burial of Stalin. Real and Ideal Responses to De-Stalinization, in: Dies. (Hg.), The Dilemmas of De-Stalinization. Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, London 2006, S. 41–63. Zur Biographie eines Rückkehrers vgl. den Roman von Friedrich Gorenstein, Der Platz, Berlin 1995 (russisch: Mesto, Lausanne 1991). 23 Smith, Remembering Stalin’s Victims, S. 29. 24 Kornei Čukovskii, Sobranie Sočinenii, Moskva 2007, Bd. 13 Dnevnik. 1936–1969, S. 214. 25 Petr Vajl/Aleksandr Genis, 60-e. Mir sovetskogo čeloveka, Moskva 1996, S. 220. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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rische Anwendung exzessiver Gewalt und stellte den inneren Frieden wieder her. Niemals mehr würden Menschen stigmatisiert und als Repräsentanten eingebildeter Kollektive deportiert oder getötet werden. Selbst die nationalistischen ukrainischen Partisanen, die während des Zweiten Weltkrieges gegen die Sowjetmacht gekämpft hatten, durften in ihre Heimat zurückkehren, obwohl es in der Parteiführung niemanden gab, der auf die Loyalität der Bevölkerung in der westlichen Ukraine und in den baltischen Republiken viel gegeben hätte. Inzwischen jedoch waren sie sich ihrer Macht gewiss, und so konnten sich großmütig zeigen.26 Auf diese Veränderungen musste auch der allmächtige Geheimdienst eine Antwort finden. Er erhielt nun ein ziviles Image. Die Tschekisten tauschten Lederjacken und Uniformen gegen Anzüge und versuchten, sich als Ordnungshüter mit sauberen Händen neu zu entwerfen. Die Lubjanka sollte kein Haus des Schreckens mehr sein, in dem Menschen gefoltert und getötet wurden. In ihr dienten jetzt Funktionäre, die die Bevölkerung überwachen und erziehen, aber nicht mehr in Angst und Schrecken versetzen sollten. Chruschtschows Minister für Staatssicherheit  – Alexander Schelepin und Wladimir Semitschastnyj – repräsentierten die neue Zeit: beide waren Vorsitzende des Komsomol gewesen, bevor sie mit der Leitung des KGB beauftragt wurden. Sie verwandelten den Sicherheitsapparat in eine Erziehungsund Überwachungsbehörde, vor der nur Angst haben musste, wer dem Regime und seinen Wahrheiten widersprach. Als ein Mitarbeiter des KGB im Jahr 1960 auf einer Versammlung von Geheimdienstmitarbeitern über die »glorreichen« Traditionen der Tschekisten sprach, unterbrach ihn Schelepin mit den Worten: »Welche Traditionen? Die blutigen Traditionen der Tscheka sind auf den Parteitagen verurteilt worden!«27 Die Zeit des Terrors war vorüber, und sie würde niemals wiederkommen. Daran ließ Chruschtschow überhaupt keinen Zweifel, und am Ende lernten selbst die Tschekisten, das auch sie von der Erwartungssicherheit pro­ fitierten, die der Parteichef in das politische Leben eingeführt hatte. Vor allem aber hatten er und seine Anhänger im Machtapparat verstanden, das ohne einen Wandel der Herrschaftsrepräsentation Vertrauen nicht entstehen würde. Der stalinistische Funktionär war ein Kämpfer, der jede Festung be-

26 Amir Weiner, The Empire Pays a Visit. Gulag Returnees, East European Rebellions and Soviet Frontier Politics, in: Journal of Modern History (2006), S. 333–376; Ders., »Déja Vu All Over Again: Prague Spring, Romanian Summer, and Soviet Autumn on the Soviet Western Frontier«, in: Contemporary European History (2006), S. 159–194. 27 Zitiert in: Julie Elkner, The Changing Face of Repression under Khrushchev, in: Ilic/ Smith (Hg.), Soviet State and Society, S. 142–161, S. 143. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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zwang und Gegner mitleidlos vernichtete, Stalins Lenin ein finsterer Krieger. Chruschtschow aber gab Lenin ein menschliches Gesicht. Beim Gedanken an den Revolutionsführer sollten sich die Herzen nicht zusammenziehen, sondern erwärmen.28 Und dennoch dauerte es Jahre, bis die Furcht und das Misstrauen aus den Körpern und Seelen der Menschen entwich. Aber schon am Ende der fünfziger Jahre schien jedermann zu spüren, dass die Zeit des Todes und der willkürlichen Verfolgung nicht wiederkommen würde. Die Todesangst verschwand aus dem Alltag, und sie kehrte auch nie wieder in ihn zurück. Seine Eltern seien mit der Angst aufgewachsen, sie hätten die Furcht, die in ihnen war, geradezu verkörpert, erinnerte sich der Musiker Alexander Konstantinov aus Saratow. Ihre Kinder seien jedoch ohne Angst vor dem all­ gegenwärtigen Tod aufgewachsen. »Wir wußten, daß der KGB existierte. Aber das hatte keine Bedeutung für uns.«29 Wer die schlimmsten Jahre des Terrors nicht erlebt hatte, konnte unbefangener mit dem Neuen umgehen als die Verschreckten und Terrorisierten.

Dissidenz und Konsum Schon wenige Jahre nach dem Tod des Diktators durften Romane und Er­ zählungen erscheinen, die das Leiden der Vergangenheit thematisierten: Wladimir Dudinzews »Nicht vom Brot allein«, Ilja Ehrenburgs Roman »Tauwetter«, der einer ganzen Ära ihren Namen gab, und später die Erzählung Aleksander Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch«. Chruschtschow selbst hatte entschieden, dass Solschenizyns Erzählung über den Alltag in Stalins Straflagern 1962 veröffentlicht werden durfte, auch deshalb, weil sie den Irrsinn, für den niemand verantwortlich gewesen zu sein schien, lakonisch in Worte fasste. Alexander Twardowskijs Literaturzeitschrift »Novyi Mir« wurde zur Ikone einer ganzen Generation, zu einem Fenster, durch das man hinaus in die Freiheit blicken konnte. Tausende schrieben Briefe an den Herausgeber und kommentierten, was sie gelesen hatten. Leser machten die Erfahrung, dass sie Meinungen über Gelesenes zu Papier bringen durften, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Gelesenes und Geschriebenes wurde Gegenstand von Gesprächen und Dis28 Vaijl/Genis, 60-e, S. 219. 29 Donald Raleigh (Hg.), Russia’s Sputnik Generation. Soviet Baby Boomers Talk about Their Lives, Bloomington 2006, S. 35, 38. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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kussionen, und irgendwann wurde für normal gehalten, was 1953 noch Anlass für eine Verhaftung gewesen wäre.30 Das Leben wurde leichter, jedermann spürte, dass sich nach dem Tod des Diktators die Lebensumstände zum Besseren wendeten. In der Welt Stalins hatten Bauern und Arbeiter Opfer zum Ruhme des Machtstaates erbringen müssen. Chruschtschow hingegen träumte von blühenden Landschaften, vom Leben im Überfluss, von einem Kommunismus mit fließendem Wasser und gut sortierten Supermärkten, und er verband das eigene Schicksal mit der Einlösung eines Versprechens: niemand sollte mehr Hunger leiden, Menschen aufhören, Sklaven zu sein. Kolchosbauern erhielten erstmals einen bescheidenen Lohn und wurden in das System der Altersversorgung integriert, sie waren nicht länger rechtlose Menschen zweiter Klasse, die von der Obrigkeit nach Belieben schikaniert und ausgeplündert werden konnten. Die Löhne von Arbeitern und Angestellten stiegen, weil der Staat sie sub­ ventionierte, und auch das Warenangebot erweiterte sich. Niemals zuvor hatten Arbeiter Konsumgüter kaufen können. Selbst ihre Ernährung verbesserte sich. Sie konnten sich Fleisch, Speck und Eier leisten und mussten nicht länger nur von Kartoffeln und Brot leben. Arbeiter gewannen durch die Reformen Chruschtschows mehr als Angestellte, weil die Regierung die Mindestlöhne anhob und die Einkommensunterschiede zwischen den Berufsständen nivellierte. Keine andere Veränderung mobilisierte mehr Unterstützung und Zustimmung als die Verbesserung der Lebensumstände.31 Schon zu Beginn der fünziger Jahre hatte Chruschtschow entschieden, dass es Aufgabe des staatlichen Wohnungsbaus sei, menschenwürdige Behausungen zu errichten. Unter Stalin mussten Architekten Prachtbauten entwerfen, die den Funktionären des Regimes ein Zuhause gaben und die Allmacht des Staates und seiner Beamten repräsentierten. Die Verhältnisse für Arbeiter und Bauern waren hingegen erbärmlich. Wie »Ratten« müssten sie und ihre Kinder leben, beklagte sich eine Bewohnerin von Lwow 1951 in einem Brief an den Stadtsowjet. Noch fünf Jahre nach dem Ende des Krieges haus30 Denis Kozlov, Naming the Social Evil. The Readers of Novyi Mir and Vladimir­ Dudintsev’s Not By Bread Alone, 1956–1959, and beyond, in: Jones, The Dilemmas, S.  80–98; Ders., »I Have Not Read, but I Will Say«: Soviet Literary Audiences and Changing Ideas of Social Membership, 1958–1966, in: Kritika (2006), S. 557–597; Vladislav Zubok, Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia, Cambridge, Mass. 2009, S. 60–87; Stephen V. Bittner, The Many Lives of Khruschev’s Thaw. Experience and Memory in Moscow’s Arbat, Ithaca, N. Y. 2008. 31 Alastair McAuley, Economic Welfare in the Soviet Union. Poverty, Living Standards, and Inequality, Madison 1979; Chruschtschow, Nikita Chruschtschow, S. 88; Hans-­Henning Schröder, »›Lebendige Verbindung mit den Massen‹. Sowjetische Gesellschaftspolitik in der Ära Chruščev«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (1986), S. 523–560, S. 529–538. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ten Millionen Menschen in baufälligen Kommunalwohnungen, Erd­löchern und Kellern. Für Chruschtschow war die stalinistische Einschüchterungs­ architektur eine zynische Obszönität. Man könne schöne Fassaden und hohe Decken zwar anschauen, sonst aber seien sie zu nichts zu gebrauchen, erklärte er im Dezember 1954 auf dem sowjetischen Architekten­kongress. Nicht einmal unter dem Zaren hätten Arbeiter in solch erbärmlichen Verhältnissen leben müssen. Er selbst habe in den Bergwerken von Juzowka gearbeitet, und dennoch sei er noch vor der Revolution in eine eigene Wohnung gezogen. Im Jahr 1957 setzte Chruschtschow das größte Wohnungsbauprogramm ins Werk, das es jemals in dem Land gegeben hatte. In zwölf Jahren, so versprach er, werde es in der Sowjetunion keinen Wohnungsmangel mehr geben. Zwar konnte dieses Versprechen nicht gehalten werden. Trotzdem verließen mehrere Millionen Menschen in den fünfziger Jahren die überfüllten Kommunalwohnungen und baufälligen Häuser und zogen in moderne Wohnungen ein, die mit Toiletten und fließendem Wasser ausgestattet waren. Bis zum Jahr 1962 wurden neun Millionen Wohnungen gebaut, die das Leben von 40 Millionen Menschen veränderten.32 Nur wer die bedrückenden Verhältnisse kennt, aus denen diese Menschen kamen, kann ermessen, welches Glück sie empfunden haben müssen. Chruschtschows Wohnungsbauprogramm, schreibt der Anthropologe Victor Buchli, sei eine »zweite Kulturrevolution« gewesen.33 Die Wohnung war nicht nur ein Ort des komfortablen Lebens. Sie wurde zu einem Rückzugsraum, in dem alles möglich war, was jenseits der eigenen vier Wände undenkbar gewesen wäre. Sie ermöglichte eine Privatheit, die es für die meisten Sowjetbürger niemals zuvor gegeben hatte. Nicht der Staat, sondern die Familie wurde zum wichtigsten Bezugspunkt im Alltagsleben. Und in der Nischengesellschaft konnten sich Bedürfnisse entfalten, über die Staatsbehörden und ihre Funktionäre keine Kontrolle mehr ausübten. Kaum hatten sich die Wohnungstüren hinter den Bürgern geschlossen, ertönte das Gelächter der Millionen. Mit der Allmacht des Staates war es nun vorbei.34 Der Konsum war zur einzigen Legitimationsquelle der Macht geworden. »Welchen Kommunismus hatten wir denn?«, erinnerte sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Altuchowa im Gespräch mit dem amerikanischen Historiker Donald Raleigh an die späten Chruschtschow-Jahre. »Und dennoch 32 Mark Smith, Property of Communists. The Urban Housing Program from Stalin to Khrushchev, DeKalb 2010, S. 102. 33 Victor Buchli, An Archeology of Socialism, Oxford 1999, S. 137. 34 Vladimir Shlapentokh, Public and Private Life of the Soviet People: Changing Values in Post-Stalin Russia, New York 1989; Greg Castillo, Cold War on the Home Front: The Soft Power of Midcentury Design, Minneapolis 2010. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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glaubten wir an ihn. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir glaubten an ihn, weil wir sahen, dass wir besser und besser lebten. Wir sahen das mit unseren eigenen Augen.«35 Für Chruschtschow und die Sowjetbürger war der Kommunismus nichts weiter als ein Synonym für ein besseres Leben, für eine USA der Supermärkte und Raketentechnik, die ohne Wahlen und Gewerkschaften auskam. Auf dem XXII. Parteitag im Jahr 1961 erklärte er, in nur einem Jahrzehnt werde der Lebensstandard in der Sowjetunion höher als in den USA sein.36 Zwar glaubten nur wenige Menschen, was die Partei­ führung ihnen versprach. Nur schlechter sollten die Verhältnisse nicht werden. Chruschtschows dilettantische Agrarreformen aber bewirkten, dass die sowjetische Wirtschaft in eine schwere Krise geriet. Als zu Beginn der sechziger Jahre Lebensmittel aus den Geschäften verschwanden und das Brot rationiert werden musste, sank sein Stern in der sowjetischen Öffentlichkeit. Es kam zu Unruhen und Arbeiteraufständen, die mit Gewalt niedergeschlagen werden mussten.37 Die Legitimation war verloren, das Tauwetter vergessen. Chruschtschow wurde ein Opfer seiner eigenen Gefolgsleute, und niemand schien wirklich erschüttert zu sein. Chruschtschow befreite die Sowjetunion aus ihrer Isolation. In ­Moskau wurde das Kremlgelände für Besucher freigegeben, das Kaufhaus GUM am Roten Platz und das Restaurant »Praga«, die auf Anweisung Stalins geschlossen worden waren, wieder eröffnet. Chruschtschow selbst ging mit gutem Beispiel voran, reiste umher, zeigte sich den Bürgern auf der Straße und sprach mit ihnen. Die Macht war nicht länger ein unergründliches Geheimnis.38 Ausländer durften die Sowjetunion besuchen und bereisen. Künstler aus dem Westen – Yves Montands, Bennie Goodman – traten auf sowjetischen Bühnen auf, der Amerikaner Van Cliburn gewann 1958 nicht nur den sowjetischen Tschaikowski-Klavierwettbewerb, er eroberte auch die Herzen russischer Frauen, die sein Hotel belagerten und ihm Liebesbriefe schrieben. Anlässlich der internationalen Jugendfestspiele im Jahr 1957 kamen mehr als 30 000 Ausländer nach Moskau, die sich den Sowjetbürgern auf den Straßen der Hauptstadt in einer Unbefangenheit präsentierten, die es im Land Stalins niemals zuvor gegeben hatte. Auf dem Puschkin-Platz spielten Jazz-Bands, und junge Amerikaner brachten Russen bei, wie man Rock-and-Roll tanzte.39 35 Raleigh, Russia’s Sputnik Generation, S. 73. 36 Titov, The 1961 Party Programme, S. 10. 37 Vladimir Kozlov, Mass Uprisings in the USSR: Protest and Rebellion in the Post-Stalin Years, Armonk, N. Y. 2002. 38 Sergei Chruschtschow, Geburt einer Supermacht. Ein Buch über meinen Vater, Klitzschen 2003, S. 49. 39 Zubok, Zhivago’s Children, S. 88–120, besonders S. 104–105. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Jewgenij Jewtuschenko erinnerte sich, er habe damals nicht nur von der Freiheit gekostet, sondern auch ein amerikanisches Mädchen geküsst. Unter Stalin wären solche Begegnungen riskant gewesen, nunmehr blieben sie folgenlos. Zwei Jahre später besuchten Hunderttausende eine Industrieausstellung in Moskau, auf der amerikanische Firmen einer faszinierten Öffentlichkeit die Vielfalt und Qualität ihrer Produkte zeigten. Die Welt war bunt, sie war größer als der sowjetische Kosmos, und es gab Alternativen zur Trostlosigkeit. Man konnte Menschen daran hindern, dieses Wissen auszusprechen, aber man konnte sie nicht zwingen, es zu vergessen. Auch sowjetische Künstler reisten zu Gastspielen nach Europa und in die USA, und erstmals kam die politische Elite mit dem Lebensstil der westlichen Welt in Kontakt.40

Das Erbe des Terrors Chruschtschow befreite die sowjetische Gesellschaft vom Massenterror und von der Allgegenwart der Gewalt. Und dennoch verschwanden die Schrecken der Vergangenheit nicht spurlos aus den Köpfen. In einer von Misstrauen und Gewalt kontaminierten Gesellschaft konnte es keine schonungslose Auseinandersetzung mit der blutigen Vergangenheit geben. Denn die Reformer waren die Täter von einst, und die Opfer hatten keine andere Wahl als ihnen gegenüber sprachlos zu bleiben. Millionen waren gestorben, Millionen hatten Heimat und Freiheit verloren, Millionen waren traumatisiert. Opfer waren zu Tätern, Täter zu Opfer geworden, und die meisten Menschen hatten niemals erfahren, warum man sie verhaftet hatte und warum ihre Angehörigen getötet worden waren. Und weil der Terror scheinbar zufällig und blind zuschlug, weil er am Ende auch die Vollstrecker verschlang, wurde, was im Jahr 1937 in der Sowjetunion geschah, von den Überlebenden als eine Naturkatastrophe erinnert, die keinen Urheber hatte. Wie eine alles niederwälzende Naturgewalt, einer Flutwelle gleich, hatte sich der Terror über das Land geworfen. Wenn aber die Macht aus beliebigem Anlass und ohne erkennbaren Grund straft, verliert sie ihr moralisches Gewicht. Was jedem jederzeit widerfahren kann, wirkt nicht mehr diskrimi40 Zubok, Zhivago’s Children, S.  88–120; Susan E. Reid, Who Will Beat Whom? Soviet Popular Reception of the American National Exhibition in Moscow, 1959, in: Kritika (2008), S. 855–904; Anne Gorsuch/Diane Koenker (Hg.), Turizm: The Russian and East European Tourist under Capitalism and Socialism, Ithaca, N. Y. 2006; Miriam Dobson, The Post-Stalin Era: De-Stalinization, Daily Life and Dissent, in: Kritika (2011), S. 905–924, S. 910. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nierend, und deshalb war die Strafe in Stalins Kosmos nichts als Schicksal.41 Niemand empfand es deshalb als anstößig, dass auf dem Donskoje-Friedhof in Moskau nicht nur die Überreste der Ermordeten verscharrt wurden, sondern auch Stalins Henker, Wassili Blochin, seine letzte Ruhe fand, der im Jahr 1937 auf dem Schießplatz von Butovo außerhalb von Moskau Zehn­ tausende mit seinem Revolver erschossen hatte. Auch Berijas Leiche wurde dort anonym bestattet.42 Noch im Tod waren Täter und Opfer miteinander verbunden. Wie hätte eine Aufarbeitung aussehen müssen, die dieser menschlichen Katastrophe gerecht geworden wäre? In Wahrheit gab es zum großen Schweigen und zur totalen Absolution keine Alternative, weil das Sprechen über das Erlebte Täter wie Opfer um den Verstand gebracht hätte. Ohne die Erfahrung der totalen Gewalt wird die Praxis der totalen Absolution überhaupt nicht verständlich. Nur ausnahmsweise kam es in den Jahren der Entstalinisierung zur Verfolgung von Verbrechen, die an wehrlosen Opfern begangen worden waren. In Aserbaidschan musste sich Mir Dschafar Bagirow, der »kleine Stalin«, für seine Untaten vor Gericht verantworten, in Georgien wurden die Gefolgsleute Berijas mit ihren Mordtaten konfrontiert und verurteilt, manche Tschekisten ihren Opfern gegenüber gestellt und die Folterer von einst aus dem Dienst entlassen. Und in Moskau verhandelte ein Gericht im Sommer 1956 gegen Leonid Raichman, einen Helfer Berijas, der unter Stalin für die Folterung und den Tod von Tausenden verantwortlich gewesen war. Die Richter luden Zeugen und konfrontierten sie mit Raichman und den Denunzianten, denen sie ihr Schicksal zu verdanken hatten. Am Ende aber wurden nicht mehr als 100 leitende Mitarbeiter des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen, die Prozesse eingestellt und die grausamsten Mörder aus dem Dienst entlassen.43 Täter und Opfer trafen eine unausgesprochene Vereinbarung, niemals über das Geschehene zu sprechen. In der Sowjetunion war jede Erinnerung an das 41 Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, in: Ders., Soziale Normen, hg. von Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eßbach, Frankfurt a. M. 2006, S.  ­158–174, S. 171. 42 Arsenij Roginskij, Nach der Verurteilung. Der Donskoe-Friedhof und seine öster­ reichischen Opfer, in: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Stalins letzte Opfer. Verschleppte und erschossene Österreicher in Moskau 1950–1953, Wien 2009, S.  97–139, S. 135. 43 Ivan Mel’nikov (Korrespondent »Izvestii« po Azerbaidz^anskoj SSR), Zapiska o processe M. Bagirova i ego soobščnikov, in: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen (FSO), Fond 23 (Čingiz Gusejnov); Anna L. Vojtolovskaja, Sud nad sledovatelem, in: Zvenja, Bd. 1, Moskau 1991, S. 400–436; Hiroaki Kuromiya, Voices of the Dead. Stalin’s Great Terror in the 1930s, New Haven, C. T. 2007, S. 248–249. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Leiden der Vergangenheit eine Erinnerung, die Schweigen produzierte: weil die Opfer über ihre Erfahrungen nicht sprechen konnten, weil sie nicht die Kraft fanden, ihre schrecklichen Erlebnisse in Worte zu fassen, ohne Schaden an der eigenen Seele zu nehmen, weil sie vergessen mussten, um nicht verrückt zu werden, und weil niemand wusste, ob die Gewalt des Regimes nicht doch noch einmal in den Alltag zurückkehren würde, ob man dem Frieden trauen durfte. Der Atomphysiker Arkadi Dartschenko, der in den fünfziger Jahren in Saratow zur Schule gegangen war, erinnerte sich, dass seine Eltern, die im Lager gewesen waren, niemals über das Erlebte gesprochen hätten. »Wer weiß, was noch passieren wird?«, hätten sie gesagt. »Damals wußte ich,« ergänzte seine Klassenkameradin Natalja Belovolova, »daß meine Mutter im Gefängnis gewesen war, und ich schämte mich dafür. Ich wollte nichts davon wissen.«44 Opfer und Täter hatten keine andere Wahl als sich mit der gesellschaftlichen Ordnung zu arrangieren. Eine andere hatten sie nicht. Dennoch sollte das Leiden von Millionen nicht umsonst gewesen sein. Niemand hält es aus, nur Opfer des Schicksals oder des Zufalls gewesen zu sein. Nur wenige Menschen können es ertragen, von allem ausgeschlossen zu sein, wenn keine Hoffnung besteht, dass die Diktatur, in der sie leben, jemals enden wird. Und so verschwand das große Morden im Heldenepos des­ Großen Vaterländischen Krieges, dem zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion. Im Krieg waren alle Opfer und alle Sieger gewesen, und selbst, wer sich nicht als Sieger sah, konnte doch aufhören, die Verluste der Vergangenheit zu beweinen. Denn nichts war furchtbarer gewesen als der Krieg. Nach allem, was man gemeinsam durchgestanden hatte, fiel es leichter, den Tätern zu vergeben und die Vergangenheit in milderes Licht zu tauchen. Alle Leiden der Vorkriegsjahre schienen nun gerechtfertigt zu sein, das scheinbar sinnlose Morden erhielt einen höheren Sinn und im gemeinsamen Leiden von Millionen konnten sich Täter und Opfer als Angehörige einer unauflösbaren Gemeinschaft miteinander verbinden. Alle waren Helden gewesen, und wer Schreckliches erlebt hatte, sollte für immer schweigen. Die Opfer bekamen Anerkennung und die Obrigkeit konnte darauf verzichten, Zustimmung mit nackter Gewalt zu erzwingen. Man konnte das eigene Schicksal beweinen und ein Bewunderer Stalins sein.45 Wer nichts anderes kennt, als die Diktatur, entwickelt andere Bewertungsmaßstäbe als Menschen, die auf die verlorene Freiheit zurückblicken. Es gab nach dem Ende der Terrorherrschaft keine konkurrierenden Deutungseliten 44 Raleigh, Russia’s Sputnik Generation, S. 132, 166. 45 Nina Tumarkin, The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York 1994; Orlando Figes, Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland, Berlin 2008, S. 837–916. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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mehr, keine Kirche als moralische Institution, keine Emigration mit Stimme, keine Erinnerung an die Zeit vor dem Kommunismus, kein Westfernsehen, keine »Brüder und Schwestern« im Ausland und keine Besatzer, die man für Elend und Unterdrückung verantwortlich machen konnte. Eine andere als die sowjetische Ordnung gab es nicht, und kein Mensch hätte im Ernst Lebensalternativen für möglich gehalten.46 Es gab nichts als die Diktatur, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit. In der Erinnerung der Überlebenden verschmolz der stalinistische Massenterror mit den Vernichtungsexzessen der nationalsozialistischen Eroberer zu einer einzigen, großen Katastrophe, die unverschuldet über sie gekommen war. Alles, was vor 1941 geschehen war, verblasste gegenüber den apokalyptischen Schrecken des großen Krieges. Stalins Nachfolger schlossen Frieden, und sie ermöglichten es Opfern und Tätern, sich in die große Erzählung der Überlebenden einzureihen. Nicht einmal Chruschtschows Nachfolger konnten die Rehabilitation des Despoten noch mit der Lobpreisung des Terrors verbinden.

Was bleibt von Chruschtschow? Chruschtschows Reformen veränderten die Sowjetunion. Er selbst aber scheiterte, weil er sich an Versprechungen messen lassen musste, die er nicht erfüllen konnte und weil er den Apparat und seine Gefolgschaftsnetze, auf die er seine Macht gründen musste, durch demokratische Reformen destabilisierte. Am Ende war er ein Reformer ohne Macht. Die kommunistische Elite atmete erleichtert auf, als der impulsive und unberechenbare Chruschtschow im Oktober 1964 gestürzt wurde. Doch auch unter den Intellektuellen und Gebildeten stand der einfältige Generalsekretär, der nur mit Mühe lesen und schreiben konnte, in geringem Ansehen. Seine primitiven Auffassungen über Kunst und Literatur, seine wüsten Ausfälle gegen abstrakte Malerei, trugen ihm den Ruf ein, ein dumpfer Einfaltspinsel zu sein. Boris Pasternak, der sich Chruschtschows Druck beugen und die Annahme des Nobelpreises verweigern musste, nannte ihn »einen Idioten und ein Schwein«.47 46 Smith, Remembering Stalin’s Victims, S. 8–11. 47 Vyskazyvanija N.  S. Chruščeva pri poseščenii vystavki proizvedenij moskovskich chudožnikov 1 dekabrja 1962g., in: Artizov u. a. (Hg.), Nikita Sergeevič Chruščev, Bd. 2, S. 522–533; Aksjutin, Chruščevskaja »ottepel’«, S. 368–377; Susan E. Reid, In the Name of the People. The Manège Affair Revisited, in: Kritika (2005), S. 673–716; Priscilla Johnson, Khrushchev and the Arts. The Politics of Soviet Culture, 1962–1964, Cambridge, Mass. 1965, S. 101–105. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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In der Rückschau aber überwogen die hellen Seiten Chruschtschows, auch in der Erinnerungen von Intellektuellen. Ein »Jahrzehnt akademischer Freiheit« sei die Ära des Tauwetters gewesen, schreibt Paul Josephson. Niemals zuvor hatte es in der Sowjetunion eine solche Atmosphäre des Aufbruchs und der Befreiung gegeben.48 So haben sich später, in den Jahren der Reaktion, viele Dissidenten wehmütig an die »magische« Epoche des Aufbruchs erinnert, die ebenso schnell endete, wie sie begonnen hatte. Die Epoche des Tauwetters, schrieb die Menschenrechtlerin Ludmilla Alexejewa im Jahr 1993, sei eine »Zeit der Erweckung« gewesen, in der sie von der Freiheit gekostet und die Wahrheit gesehen habe. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie lesen, schreiben und sprechen dürfen, ohne die Partei und die Regierung dafür um Erlaubnis bitten zu müssen. Dafür empfinde sie eine tiefe Dankbarkeit.49 Millionen Menschen konnten aussprechen, was wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Chruschtschow ist vergessen, weil man sich in Russland lieber an Stalin erinnert als an ihn, den Reformer, der den Menschen das Lachen zurückgab. Es ist deprimierend, zweifellos. Solange die »Fesseln des Sieges« und die Erinnerung an die Macht des Imperiums das Gedächtnis beherrschen, wird jedes autoritäre Regime leichtes Spiel haben, seinen Bürgern einzureden, dass die Sklavenhalter die eigentlichen Helden seien.50 Vielleicht wird man auch in Russland irgendwann einmal sehen können, dass Freiheit und Stärke keine Gegensätze sind. Und vielleicht wird eines Tages erkannt werden, dass die Entstalinisierung eine der größten zivilisatorischen Leistungen des 20. Jahrhunderts gewesen ist, das Werk eines ungebildeten Bauernsohnes, der zum Reformer wurde, weil er mit unausgesprochener Schuld nicht weiterleben konnte. »Chruschtschow«, bekannte die Dichterin Anna Achmatowa, »hat für mich das Größte getan, was ein Mensch für einen anderen tun kann – er hat mir meinen Sohn zurückgegeben.«51

48 Paul Josephson, New Atlantis Revisited: Akademgorodok, the Siberian City of Science, Princeton, N. J. 1997, S. 263. 49 Ludmilla Alexeyeva/Paul Goldberg, The Thaw Generation: Coming of Age in the PostStalin Era, Pittsburgh 1993, S.  4–5; Masha Gessen, Dead Again: The Russian Intelligentsia after Communism, London 1997, S.  12; Steven V. Bittner, The Many Lifes of Khrushchev’s Thaw. Experience and Memory in Moscow’s Arbat, Ithaca, N. J. 2008, S. 5–7. 50 Lev Gudkov, Die Fesseln des Sieges. Russlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: Osteuropa (2005), S. 56–73. 51 Zitat in: Lidija Čukovskaja, Zapiski ob Anne Achmatovoj, Moskva 1997, Bd. 2 1952–1962, S. 202. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Memoiren der Macht Gedachte Geschichte in der Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre

Lebenszeugnisse von Männern und Frauen, die Geschichte machten, zählen seit jeher zu den beliebtesten Formaten der Beschäftigung mit der Vergangenheit. In weit geringerem Maße, wenn überhaupt, kann diese Feststellung allerdings für die besondere Gattung der Lebensbilder von System­repräsentanten in der sozialistischen Welt gelten  – ihre unmittelbare politische Beglaubigungsfunktion ließ jedem Leser von vornherein wenig Raum für die Hoffnung auf eine persönliche und authentische Darstellung der Weltgeschichte, wie ›sie eigentlich gewesen‹ sei. Nicht zufällig wird das Genre der zeitgenössischen Autobiographik kommunistischer Funktionsträger bis heute auch in der Forschungsliteratur eher stiefmütterlich behandelt und auf die Frage zugespitzt, »warum in der DDR überhaupt eine Autobiographik entstehen konnte«.1 In der Tat: Welchen Aussagewert können lebensgeschichtliche Zeugnisse beanspruchen, denen es nicht nur an historischer Wahrheit, sondern auch an biographischer Wahrhaftigkeit gebricht, weil der sie leitende »autobiographische Pakt« erkennbar nicht Autor und Leser verbindet, sondern persönliches Erleben und politisches Dogma? Doch so einleuchtend ein geringschätziges Urteil über die zeitgenössische Autobiographik kommunistischer Führungseliten prima vista scheinen mag, als so kurzsichtig erweist es sich bei näherem Hinsehen auf eine Textgattung: In ihr triumphierte keineswegs schlicht die Lüge über die Wahrheit, sondern das verordnete Regimegedächtnis musste seinen Geltungsanspruch immer neu behaupten. Dies näher zu begründen, ist das Ziel des folgenden Beitrags, der sich mit den historischen Erkenntnischancen befasst, die die Lebenserzählungen parteiverbundener Vorkämpfer des DDR-Sozialismus bieten. 1 Volker Depkat, Die DDR-Autobiographik als Ort sozialistischer Identitätspolitik, in: Martin Sabrow (Hg.), Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20.  Jahrhundert, Leipzig 2012, S.  110–138, S.  110; ebd. auch ein Überblick über den Forschungsstand. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Parteigedächtnis und Zeitzeugenschaft Der Kreis von Parteiveteranen, die zur öffentlichen Darstellung ihrer politischen Vita gelangten, war freilich ebenso eng gezogen wie der Erfahrungsschatz, den sie vor ihren Lesern ausbreiten konnten. Denn jede parteiverbundene Lebenserzählung stand ebenso in Gefahr, die innere Geschlossenheit des historischen Herrschaftsdiskurses anzugreifen, wie sie andererseits die Chance bot, die Dogmen der Parteigeschichte am individuellen Lebens­schicksal zu beglaubigen. Widersprüche zwischen Lebens- und Partei­geschichte zu vermeiden, stellte die oberste Maxime der parteikommunistischen Autobiographik dar, und sie ließ das Ideal einer gleichsam kollektivierten Erinnerung entstehen, die historische Objektivität und gelebte Authentizität miteinander verband. Seine förmliche Institutionalisierung fand dieses Ideal in einem besonderen »Erinnerungsarchiv« des Parteiapparats, dessen Vorläufer bis 1949 zurückreichten und das sich Anfang der sechziger Jahre im Zuge der Diskussionskampagne um den »Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung« zu einem eigenen Sektor des Zentralen Parteiarchivs im Institut für Marxismus-Leninismus (IML) herausbildete.2 Es sammelte persönliche Zeugnisse kommunistischer Veteranen und stimulierte deren Entstehung mit Hilfe gezielter Befragungen – aber es sekretierte sie zugleich auch und publizierte in einer eigenen Schriftenreihe ausgewählte Erinnerungen erst nach mehrstufigen Filterungsprozeduren.3 Der Überzeugung kommunistischer Parteiherrschaft gemäß, die ihren politischen Führungsanspruch als wissenschaftlich begründet verstand und 2 »Im Beschluß des Sekretariats des ZK der SED vom 8. April 1963 wird die Sammlung von Erinnerungen bei führenden Funktionären der deutschen Arbeiterbewegung ausdrücklich zu einer Aufgabe des Zentralen Parteiarchivs erklärt. Von diesem Zeitpunkt an gehört die systematische Sammlung dieser Erinnerungen zum Bestandteil der Komplettierung der Archivmaterialien.« Ilse Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen bei der Verbreitung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes. Erfahrungen und Probleme des Sammelns, Gestaltens, Wertens. Diss. phil. IML, Berlin (O) 1981, S. 296. Zu Charakter und Geschichte des Erinnerungsarchivs: Karin Hartewig, Das »Gedächtnis« der Partei. Bio­ graphische und andere Bestände im Zentralen Parteiarchiv der SED in der »Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv«, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993, S. 312–323; Beatrice Vierneisel, Das Erinnerungsarchiv. Lebenszeugnisse als Quellengruppe im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 117–144; Siegfried Lokatis, Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003, S. 194–199. 3 Vierneisel, Das Erinnerungsarchiv, S. 130 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ausgab, unterlag auch die Arbeit am Parteigedächtnis einer behaupteten Deckungsgleichheit von Erkenntnis und Interesse, von persönlichem Zeugnis und politischer Verwendung. Dass die Sammlung von Erinnerungen eine politische Aufgabe darstellte, für die »vor allem politisch-ideologische Weitsicht und organisatorische Systematik erforderlich« waren4 und die sich ständig an den formulierten Bedürfnissen der SED-Führung zu orientieren hatte, stand daher außer Frage. »Die Partei geht davon aus, daß das Schreiben und Sammeln von Erinnerungen nicht dem Zufall überlassen bleiben kann«, und sie hatte zu entscheiden, welcher »Partei- und Staatsfunktionär« als »Erin­ nerungsautor« überhaupt in Frage kam und wer nicht.5 Der mit dem gesamten Parteiarchiv dem IML unterstellte Sektor »Erinnerungen« wurde so zum Produktionsort eines Parteigedächtnisses, das den authentischen Erlebnisgehalt der biographischen Überlieferung zu wahren suchte und zugleich die Erinnerungen der befragten Erinnerungs­autoren von allen »subjektivistischen Entstellungen« reinigte.6 In diesem Sinne legten interne Richtlinien zunächst ganz im Interesse einer möglichst wahrhaftigen Überlieferung fest, dass es bei der Aufnahme von Erinnerungen als geschichtlichem Quellenmaterial auf eine »Schilderung der Ereignisse an(komme), wie sie dem Teilnehmer im Gedächtnis haften geblieben sind, und nicht, wie sie den vorhandenen Dokumenten entnommen wurden«.7 Auch sollten die Befragten nach einem orientierenden Vorgespräch ihre Erinnerungen unbedingt selbst zu Papier bringen, um die völlige Authentizität des Festgehaltenen nicht zu gefährden. Auf der anderen Seite aber verlangten die Richtlinien, die Befragten »so zu orientieren, daß die Rolle der Partei und des ZK’s im Zusammenhang mit dem Kampf, der Arbeit und der Funktion des einzelnen Genossen dargestellt« werden konnte.8 Das in diesen gegenläufigen Ansprüchen angelegte Spannungsverhältnis einer »ritualisierte(n) Form der Erfahrungsvermittlung«9 suchte das Erinnerungsarchiv zu überwinden, indem es das Ringen um die »richtige Erinnerung« zu einem 4 Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen, S. 296. 5 »Die Liste (Kartei) potentieller Erinnerungsautoren wird im Zentralen Parteiarchiv von der Direktion des Instituts für Marxismus-Leninismus und bei den Bezirksleitungen vom 2. Sekretär bestätigt.« Ebd., S. 299. 6 »Old Communists were not asked to record what they perhaps remembered, or associated with a particular event or set of episodes. Instead, they were told what to remember and how to structure their memories in a predetermined historical narrative.« Catherine Epstein, The Production of »Official Memory« in East Germany: Old Communists and the Dilemmas of Memoir-Writing, in: Central European History 32 (1999) 2, S. 181–201, S. 188. 7 Zit. nach: Vierneisel, Das Erinnerungsarchiv, S. 122. 8 Zit. nach: Lokatis, Der rote Faden, S. 197. 9 Hartewig, Das »Gedächtnis« der Partei, S. 316. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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gleichlautenden Auftrag an Befragte und Befrager erklärte, dem sich vor allem die altersbedingten Mängel des Erinnerungsvermögens entgegenstellten. Maßgebliche Bedeutung kam daher schon der Kontaktaufnahme zu10, bei der die parteiamtlichen Gedächtnishüter den erwarteten Nutzen zu erläutern hatten – und die Sorge zu zerstreuen, dass die geplante Befragung eine politische Loyalitätsprüfung in der Tradition der bekannten Parteisäuberungen bedeuten könnte.11 Zusammengefasst: In der sozialistischen Sinnwelt besaß die Erinnerung des Individuums kein historisches Eigenrecht, sondern blieb eine unvermeidbar mängelbehaftete Sonderform der allgemeinen Geschichtsschreibung. Mit Bedauern musste auch der Sektor »Erinnerungen« zur Kenntnis nehmen, dass die angestrebte Homogenisierung von Einzelnem und Typischem eine Chimäre blieb und »die Auskünfte und Berichterstattungen bei aller Anerkennung des guten Willens [!] zur Objektivität mehr oder weniger subjektiven Charakter trugen«. Die Störungsquellen einer »wahren Erinnerung« waren leicht zu identifizieren, indem »einmal die Rückerinnerung immer ein[en] Faktor der Unzuverlässigkeit bildete, zum anderen persönliche Sympathie- u. Antipathiegefühle die wirklichen Sachverhalte beeinflußte, und zum Schluß auch eine Taktik der Zurückhaltung aus Gründen der Vorsicht und der Befürchtung vor unangenehmen Folgen als Möglichkeit unterstellt werden mußte«.12 In noch weit höherem Maße als auf gesammelte Zeitzeugenäußerungen erstreckte sich diese bemerkenswerte Scheu vor der gedruckten Erinnerung auf die besondere Form der umfassenden Autobiographie. Deren Entstehung suchte das Parteiarchiv in enge und gut gesicherte Kanäle zu lenken, wie schon die allgemeinen Reflexionen der zuständigen Sektorleiterin im IML andeuten: »In Einzelfällen wird mit dem künftigen Autor die Aufzeichnung umfassender Lebenserinnerungen vereinbart, die das gesamte Leben und Wirken des Autors einschließen.«13 10 »Das erste persönliche Gespräch mit dem künftigen Autor erweist sich oft als wichtig für das Gelingen der gemeinsamen Aufgabe, die der Leiteinrichtung und dem Autor gestellt ist.« Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen, S. 300. 11 »Der künftige Autor soll in einer vertrauensvollen Atmosphäre die Überzeugung gewinnen, daß seine Erinnerungen gesellschaftlich bedeutsam sind, daß sie von der Partei gebraucht werden und daß ihm die Partei dafür die erforderliche Unterstützung geben wird.« Ebd. 12 Zit. nach: Vierneisel, Erinnerungsarchiv, S. 124. Zum Ideal einer Fusion von Geschichte und Gedächtnis vgl. auch: Martin Sabrow, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft in der DDR, in: Christoph Cornelißen u. a. (Hg.), Diktatur – Krieg – Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945, Essen 2005, S. 83–99. 13 Zit. nach: Vierneisel, Erinnerungsarchiv, S. 124. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Tatsächlich brachten kommunistische Autobiographien es im »Leseland DDR« nicht gerade auf eine beeindruckende Zahl.14 Entstehung und Erscheinen von Funktionärsmemoiren verdankten sich in der Regel fast in jedem Fall der außerordentlichen Hartnäckigkeit und Leidensbereitschaft ihrer Autoren, die die von ihnen vorgelegten Texte in einer häufig über Jahre hinweg geführten Auseinandersetzung mit verschiedenen Parteiinstanzen durchzukämpfen hatten. Kaum jemand stand diesen Prozess so souverän durch wie der »linientreue Dissident« Jürgen Kuczynski, der in seinen bis 1945 reichenden Lebenserinnerungen sogar eine angesichts der heiklen Literaturverhältnisse in der DDR denkbar kühne Reflexion auf die Gattung Autobiographie unterbrachte. Deren Spezifika leitete er zudem nicht etwa aus Einlassungen der DDR-Geschichtswissenschaft ab, sondern im Dialog mit Wilhelm von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe, und so schloss er seine Ich-Erzählung folgerichtig auch mit der Hoffnung auf »die Verzeihung unseres größten Autobiographen« Goethe.15 Sehr viel unsicherer fühlte sich der SED-Funktionär und Schriftsteller Fritz Selbmann in Anbetracht der »Zurschaustellung der eigenen Blöße in Leihbibliotheken und Buchhandelsschaufenstern« und machte sich eingedenk der dem Menschen eingeschriebenen Eitelkeit nur skeptisch »an das Geschäft des halb ungewollten, halb unbewußten, im Ganzen aber unumgänglichen Opfers auf dem Altar der historischen Wahrheit«.16 Selbmann wusste, wovon er sprach: Die allermeisten in der DDR erschienenen Autobiographien beruhten auf erzählerischen Kompromissen mit dem Parteiapparat, die unvermeidlich den autobiographischen Wahrhaftigkeitspakt mit dem Leser brechen mussten. Diesen Unterwerfungszwang sprachen freilich nur die wenigsten Erinnerungsautoren so unbefangen an wie der in der DDR 1953 unter falschen Anschuldigungen aus seinen Parteiämtern verstoßene und später nur verschämt rehabilitierte Franz Dahlem. Als Alexander Abusch, einst Mitstreiter im französischen Exil, seine Rolle bei Kriegsausbruch 1939 in Dahlems Lebenserinnerungen falsch bewertet 14 Ilse Schiel, der zufolge »das Erinnerungsbuch eines Funktionärs der Arbeiterbewegung vor etwa 15 Jahren noch eine kleine Sensation« darstellte, listete in ihrer Dissertation 34 Autobiographien auf, die in den siebziger Jahren in den drei Verlagen erschienen seien, die sich vorrangig mit der Geschichte der Arbeiterbewegung befassten. Schiel, Zum Platz und Wesen der Erinnerungen, S. 25 ff. 15 Jürgen Kuczynski, Memoiren. Die Erziehung des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler, Berlin (O)/Weimar 21975, S. 426. 16 Fritz Selbmann, Alternative  – Bilanz  – Credo. Versuch einer Selbstdarstellung, Halle/ Saale 41975, S.  7. Die von Selbmanns Sohn betriebene Publikation eines Folgebandes scheiterte am Widerstand der Parteiinstanzen. Epstein, The Production of »Official Memory«, S. 193. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fand und sich darüber brieflich bei Dahlem beschwerte, konterte der mit der kühlen Antwort, darauf näher einzugehen wäre »nur möglich gewesen, wenn man die historische Wahrheit geschrieben hätte, wozu die Zeit heute noch nicht reif ist«.17 Schlimmer noch erging es dem im Zuge der spätstalinistischen Säuberungskampagnen als Zionist und französischer Agent abgeurteilten und später ebenfalls stillschweigend rehabilitierten Altkommunisten Paul Merker, der für die unter Leitung Ulbrichts erarbeitete Parteigeschichte »mehr als eintausend Seiten Erinnerung geliefert« haben wollte. Ihm blieb am Ende nur das Bedauern, »daß ich keine Gelegenheit hatte, durch meine Erinnerungen zu einer geschichtlich einwandfreien Darstellung (…) beizutragen«.18 Andere zogen sich kampflos in resigniertes Schweigen zurück. Über die lebensgeschichtlichen Ausarbeitungen des ehemaligen KPO-Anhängers Jacob Walcher wurde wegen ihres nur »bedingten Wert(s)« 1958 parteiintern verfügt, dass sie nicht publiziert, sondern vielmehr »in Verwahrung genommen und im Panzerschrank aufgehoben« werden sollten – tatsächlich verschwanden sie ganz und tauchten erst sechs Jahre später im Nachlass eines IML-Mitarbeiters wieder auf.19 Woher rührte die bemerkenswerte Scheu der Partei vor dem Gedächtnis ausgerechnet ihrer erprobtesten Kämpfer, die doch ihr ganzes Leben der kommunistischen Sache geweiht und auch in den härtesten Macht­proben und unter schlimmster Verfolgung die Loyalität zur politischen Führung stets über das persönliche Fortkommen gestellt hatten? Fraglos kommt in diesem so vielen der »veteran communists«20 auferlegten biographischen Schweigegebot die historische Abrechnung der siegreichen Moskau-­Fraktion unter Ulbricht zum Ausdruck, die sich in den fünfziger Jahre konkurrierender Politikvorstellungen besonders von West-Emigranten entledigte und alte Rechnungen beglich.21 Doch allein personenbezogene Erklärungen verde17 Franz Dahlem an Alexander Abusch, 25.11.1970, zit. nach Ulrich Pfeil, Zwischen »Parteilichkeit« und Geschichte »wie ich sie tatsächlich erlebt habe«. Textgenese am Beispiel der Memoiren von Franz Dahlem, in: Deutschland Archiv 35 (2002), H. 1, S. 81–89, S. 84. 18 Zit. nach Lokatis, Der rote Faden, S. 306. 19 Ebd., S. 197. 20 Catherine Epstein, The Last Revolutionaries. German Communists and Their Century, Cambridge 2003. 21 Ulrich Pfeil, Konstruktion und Dekonstruktion von Biographien in der DDR-Historiographie, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR zwischen Mauerbau und Mauerfall, Münster/Hamburg/London 2003, S. 68–95, S. 88 ff. Ulbrichts persönliches Interesse an der damnatio memoriae seines Rivalen Dahlem wurde nicht nur im Westen verbreitet, wie etwa der »Spiegel« bei Erscheinen von Dahlems Erinnerungen in einem bemerkenswert gut informierten Artikel darlegte. SED: Kampf um die Führung. Aufstieg und Fall des früheren Ulbricht-Rivalen Franz Dahlem, in: Der Spiegel 35/1978, S.  65–70. Auch Honecker selbst machte Dahlem gegenüber daraus keinen Hehl: »Du wirst mir beipflich© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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cken leicht den Blick in die Tiefenschichten der kommunistischen Sinnwelt. Die alle autobiographischen Schreibversuche in der DDR begleitende Konfrontation zwischen eigener Erinnerung und Parteigedächtnis beruht im Kern auf einem strukturellen Dilemma zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, das sich in der geschlossenen Sinnwelt der kommunistischen Politikkultur nicht lösen ließ, nämlich dem Gegensatz zwischen einer auf zeitlicher Gewordenheit beruhenden Lebenserzählung und der auf zeitlose Richtigkeit ausgerichteten Selbstinszenierung der kommunistischen Partei. In einer politischen Kultur, in der die charismatisch überhöhte »Partei« politische Unfehlbarkeit beanspruchen konnte und unumschränkte Definitionsmacht über die Grenzen des Sagbaren ausübte, hätte jedes Eingeständnis, dass die leitenden Kader früher ganz anders gedacht und gehandelt hatten, als es der gegenwärtigen Linie entsprach, den Avantgardeanspruch der Partei in Frage gestellt, die »immer recht« zu haben beanspruchte. Nirgendwo kommt die Paradoxie der die erzählte Zeit aufsaugenden Erzählzeit plastischer zum Ausdruck als in einer selbst der Zensur zum O ­ pfer gefallenen Passage der Autobiographie von Alexander Abusch, in der der Autor über seine ihn bis ins Innerste erschütternde Freisprechung von dem Vorwurf berichtet, ein zionistischer Agent gewesen zu sein: »Es geschah im Sommer 1951, daß der Vorsitzende der Zentralen Parteikontrollkommission der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands dem Manne, dessen Geschichte bisher erzählt wurde, entgegenkam mit einem Gesicht, aus dem persönliche Freude leuchtete und sagte: ›Also, es ist nichts gewesen.‹ Der angesprochene Genosse stand stumm, starrte Genossen Hermann Matern an, den er als einen Kommunisten von lauterem Charakter, Kampf­ gefährten aus Thälmanns Zeiten gut kannte, ja, sich ihm herzlich verbunden fühlte. (…) Nun stand er äußerlich vielleicht wie versteinert, durchtobt von einem Sturm der Gefühle in Kopf und Herz. Matern blickte ihn an: ›Du sagst nichts, Ernst?‹ Schließlich fragte der Angesprochene: ›Was ist nicht gewesen?‹ Hermann Matern nahm ihn freundschaftlich in den Arm: ›Setz Dich doch, bitte! Das Parteiverfahren gegen Dich hat niemals stattgefunden. Verstehst Du immer noch nicht, was ich damit meine?‹«22 Persönliches und Politisches zu verbinden, stellte sich daher für kommunistische Lebenszeugnisse als eine genrespezifische Herausforderung dar, die im Grunde gar nicht zu bewältigen war. Das Parteigedächtnis selbst kapituten, daß das jetzige Politbüro noch zu Lebzeiten Walter Ulbrichts mit der Praxis gebrochen hat, bestimmte Genossen mit einem Bannfluch zu belasten«. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (i.f. SAPMO-BArch), DY 30, 9990, Erich Honecker an Franz Dahlem, 28.1.1975. 22 Hartewig, Das »Gedächtnis« der Partei, S. 321. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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lierte schon Anfang der sechziger Jahre vor der Aufgabe, auch nur Gesammelte Reden, Briefe und andere Lebenszeugnisse aus dem Nachlass führender Parteifunktionäre zu veröffentlichen, weil sie sich wegen ihrer »außerordentliche(n) Häufung von zeitbezogenen Aussagen und Einschätzungen« nicht in das Raster der zeitlosen Kohärenz einfügen ließen.23 Angesichts der un­ aufhörlichen Grabenkämpfe um die Publikation von Lebenserinnerungen höherer Parteifunktionäre zog das ZK-Sekretariat die Entscheidung über die Grenzen der Erinnerung im April 1974 gänzlich an sich und machte fürderhin die »Veröffentlichung von geschlossenen Lebenserinnerungen dieses Personenkreises« von seiner Zustimmung abhängig.24

Das Ideal der »parteigeschichtlichen Lebenserinnerungen« Die kommunistische Autobiographik ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich immerfort an der kaum aufhebbaren Differenz zwischen den Handlungshorizonten der erinnerten Lebenszeit und den Handlungsnormen der Gegenwart abarbeitete. Daraus konnte sich die für eine Lebenserzählung seltsam wirkende Frage entwickeln, die der kommunistische Widerstandskämpfer und spätere Parteifunktionär Karl Mewis seinen Lesern gleich mit den ersten Worten seiner 1971 herausgekommenen »Erlebnisse im Kampf gegen die faschistische Diktatur« vorlegte: »Man muß darüber schreiben – das ist klar. Nur, was und wie? Wie weit soll man ins Einzelne, Persönliche gehen? (…) Soll man mehr persönliche Erinnerungen auskramen, oder darf man sich nur an die allgemeineren politischen Tatsachen halten?«25 Der in seinen Erinnerungen vor allem mit Herbert Wehner abrechnende Mewis, der darüber nach Ulbrichts Ablösung rasch ins politische Abseits geriet, formulierte in diesen Eingangsüberlegungen das Problem, das den Charakter 23 Pfeil, Konstruktion und Dekonstruktion von Biographien, S. 71 ff.; Martin Sabrow, Das Wahrheitsproblem in der DDR-Geschichtswissenschaft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (1996), S. 233–257. 24 Ordnung für die Veröffentlichung von Erinnerungen führender Persönlichkeiten der revolutio­nären Arbeiterbewegung, 24.4.1974, zit. bei Heidrun Bomke, Vergangenheit im Spiegel autobiographischen Schreibens. Untersuchungen zu autobiographischen Texten von Naturwissenschaftlern und Technikern der DDR in den 70er und 80er Jahren, Weinheim 1993, S. 181. Vgl. auch Lokatis, Der rote Faden, S. 355; Pfeil, Konstruktion und Dekonstruktion von Biographien, S. 82 f.¸ Epstein, The Production of »Official Memory«, S. 191 f. 25 Karl Mewis, Im Auftrag der Partei. Erlebnisse im Kampf gegen die faschistische Diktatur, Berlin (O) 1971, S. 6. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der kommunistischen Autobiographik bestimmt: »Und kann man vom eigenen Erleben her alles erzählen, was geschah?«26 Wie bescheiden oder selbstbewusst parteiverbundene Autoren in der DDR mit dieser Herausforderung auch umgingen – keiner von ihnen stellte das grundlegende Axiom in Frage, dass es in der eigenen Lebenserzählung nicht auf die bürgerliche Subjektentfaltung ankomme, sondern auf die Übereinstimmung von »Ich« und »Wir«. In diesem Sinne reflektierte Mewis eingangs darüber, dass auch »darin viel vom Typischen und Wesentlichen der ganzen Entwicklung enthalten sein« könne.27 Nicht anders bemühte sich Alexander Abusch, sein persönliches Erleben zu einem »Zeitgemälde« weiterzuentwickeln: »Sosehr sich Memoiren von der rein wissenschaftlichen, objektiven Geschichtsschreibung unterscheiden, so würden sie nicht subjektiv sein, sondern subjektivistisch werden, wenn sie nicht soviel wie möglich Zeit einzubringen und Epochenbewußtsein über den Wirbel der Erscheinungen zu stellen versuchten.«28 Und auch der SED-Generalsekretär selbst hielt bis zum Untergang seiner Herrschaft an der Auffassung fest, dass »Memoiren und Autobiographien (…) brauchbare Hilfsmittel sein (können), wenn sie nicht subjektiv gefärbt sind.«29 Kein in der DDR publizierter Lebensbericht gab folgerichtig zu erkennen, dass er das Produkt eines kollektiven Schreibprozesses darstellte, in dem der Rohstoff der persönlichen Erinnerung erst parteikonform geschliffen worden war. Regelmäßig dankten Autoren dem IML und seinem obersten Linien­wächter Ernst Diehl artig »für gute Hinweise und Ratschläge«30 und unterstrichen, dass ihr Buch nicht hätte entstehen können, »hätte es nicht Genossen gegeben, die mich dazu ermunterten, und solche, die mir halfen, im Laufe der Jahre Verblaßtes aufzufrischen oder schriftliche Quellen und Ausgangsmaterial zu erschließen«.31 Einen kleinen Einblick in die auf seine Ich-Erzählung einwirkenden Anpassungsansprüche erlaubte seinen Lesern Franz Dahlem, der in seinen Memoiren den »Parteihistorikern des Instituts (für Marxismus-Leninismus), also meinen ersten kritischen Lesern,« seinen 26 Ebd. Zur Kaltstellung des erbitterten Wehner-Feindes Mewis unter Honecker siehe die instruktive Darstellung von Michael F. Scholz, Herbert Wehner in Schweden 1941–1946, München 1995, bes. S. 155 ff. 27 Mewis, Im Auftrag der Partei, S. 8. 28 Alexander Abusch, Der Deckname. Memoiren, Berlin (O) 1981, S. 10. 29 SAPMO-BArch, DY 30/33684, Hanna Wolf, Einige Überlegungen zum Band II/2 der Pateigeschichte 1929 bis 1945, 29.6.1987, mit eigenhändiger Unterstreichung Erich Honeckers. 30 Max Seydewitz, Es hat sich gelohnt zu leben. Lebenserinnerungen eines alten Arbeiterfunktionärs, Bd. 2, Mein sozialistisches Vaterland, Berlin (O) 1978, S. 477. 31 Armeegeneral Heinz Hoffmann, Mannheim – Madrid – Moskau. Erlebtes aus drei Jahrzehnten, Berlin (O) 21982, S. 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Dank für »eine Reihe wertvoller Hinweise« abstattet, »denen ich zu einem beachtlichen Teil  gefolgt bin«.32 Listig brachte wiederum der Vielschreiber Kuczynski in seiner Studie »Probleme der Autobiographie«33 eine Ankündigung seines nächsten Memoirenbandes »Dialog mit meinem Urenkel«34 unter, um so die Genehmigungsprozedur für das bereits seit zwei Jahren in der Begutachtung schmorende Werk zu beschleunigen.35 Üblicherweise aber blieben die Konflikte zwischen dem Erinnerungsautor und seinen Prüfungsinstanzen dem Leser verborgen und wurden wie im Falle Jürgen Kuczynskis allenfalls erst mit der Öffnung der Archive nach dem Ende der DDR publik. Das ahistorische Führungsdogma der SED vertrug sich selbst bei den wenigen Parteifunktionären, die mit dem Privileg der öffentlichen Selbst­ reflexion ausgestattet waren, nicht mit dem Anspruch auf lebensgeschichtliche Authentizität, weil im Gehäuse der staatssozialistischen Doktringesellschaft Einzelschicksale zugleich die allgemeine Geschichtserzählung in ihrem gesetzmäßigen Verlauf zu bestätigen hatten.36 Dennoch wäre es eine erkenntnisverstellende Vereinfachung, die kommunistische Autobiographik als bloßes Lügengewebe abzustempeln und als »Symptom (…) der geistigen Unfreiheit« zu begreifen, »die Selbsterkenntnis und Bekenntnis im Lebensrückblick ausschließt und damit die echte Autobiographie unmöglich macht«.37 Entstehung und Veröffentlichung der Lebensberichte auch von höchsten Parteifunktionären waren von einem zwar unerfüllbaren, aber von beiden Seiten in der Regel ernsthaft angestrebten und fast immer hart umkämpften Anspruch geprägt, persönliche Lauterkeit mit politischer Zweckmäßigkeit in Übereinstimmung zu bringen und zu einer alle Beteiligten überzeugenden Beglaubigungserzählung zu gestalten. Sie kreisten um den Wert des »subjektiven Faktors« und die Gefahr, dass »durch überzogene Ob-

32 Franz Dahlem, Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. 1938 bis August 1939. Erinnerungen, Bd. 1, Berlin (O) 1977, S. 14. 33 Jürgen Kuczynski, Probleme der Autobiographie, Berlin (O)/Weimar 1983. 34 Jürgen Kuczynski, Dialog mit meinem Urenkel  – Neunzehn Briefe und ein Tagebuch, Berlin (O)/Weimar 1983. 35 Siegfried Lokatis, Angeknabberte Tabus: das Genre der Autobiographie und die Zensur in der DDR, in: Sabrow, Autobiographische Aufarbeitung, S. 139–148, S. 147. 36 Zu ostdeutschen Funktionärsmemoiren als »biographisch angereicherte Variationen der gängigen Abhandlungen über die Geschichte der Arbeiterbewegung und die KPD« vgl. Jürgen Danyel, Die unbescholtene Macht. Zum antifaschistischen Selbstverständnis der ostdeutschen Eliten, in: Peter Hübner (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozial­ geschichte der DDR, Köln 1999, S. 67–85, S. 68. 37 Gerhard Schmolze: Unseliges und seliges Erinnern. Das Problem der Autobiographie in der DDR, in: Deutsche Studie 19 (1981), S. 73–95, S. 92 f. Vgl. Bomke, Vergangenheit im Spiegel autobiographischen Schreibens, S. 12. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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jektivierung der Mensch aus der Geschichte herausfällt«38, und verhandelten damit immer neu das Existenzrecht einer Textsorte, die in der ostdeutschen Erziehungsdiktatur gleichermaßen propagandistisch bejaht wie ideologisch verneint wurde. Im Ergebnis entstand so ein literarisches Genre, dessen Fiktionalität ganz der heutigen Theoriediskussion um den selbstreferentiellen Charakter der Autobiographie insgesamt entsprach, zugleich aber von Autoren und Zensoren als zwar konflikthaftes, aber doch gleichgerichtetes Streben nach der »objektiven« Wahrheit über die Vergangenheit verstanden wurde.39 Wer der autobiographischen Überhöhung eigener historischer Verdienste überführt wurde, büßte auch im Geschichtsdiskurs des SED-Staates mit publizistischer oder – wie Karl Mewis – fallweise auch persönlicher Marginalisierung. Damit erweisen sich auch noch so überformte Lebensberichte von DDR-Erinnerungsautoren als aussagekräftige Texte. Sie geben Einblick in die literarischen Baugesetze eines paradoxen Modus der Geschichts­ erzählung in der DDR, und sie machen die legitimatorische Verfassung einer »partizipativen Diktatur« (Mary Fulbrook) sichtbar, deren Herrschaft nicht zuletzt auf der oktroyierten Einsicht und der behaupteten Zustimmung der gesellschaftlichen Akteure gründete.

Die kommunistische Ankunftsbiographie und ihre Erzählstruktur Für das Verständnis des DDR-Geschichtsdenkens nicht weniger aufschlussreich als die äußeren Formungskräfte sind die inneren Baupläne kommunistischer Autobiographien. Die Räume des Sagbaren organisierten bei weitem nicht nur die Zensurmaßnahmen des parteigeschichtlichen Kontrollapparates, sondern ebenso stark der narrative Aufbau und die strukturierenden Ordnungsmuster, in denen kommunistische Erinnerungsautoren sich über ihr Leben Rechenschaft zu geben suchten. Jeder Autobiograph ordnet seine Entwicklung zu einem sinnhaften Zusammenhang und sucht seinem Le38 »Die Übereinstimmung mit der Epoche war soweit getrieben, daß man die Individualität ausgetilgt hatte«, diagnostizierte die Literaturwissenschaft der DDR selbst in den achtziger Jahren. Werner Mittenzwei, Zur Biographie Brechts. Diskussion, in: Sinn und Form 37 (1985), H. 2, S. 257 f. 39 Die Spannung, in der sich »das autobiographische Schreiben als kollektiver Prozeß« von Autor und Parteigedächtnis entfaltete, veranschaulicht am Beispiel der Memoiren von Max Seydewitz die Studie von Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 80 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ben im Rückblick Bedeutung und ein Mindestmaß an Kontinuität zu verleihen, das noch die härtesten lebensgeschichtlichen Umbruchs­erfahrungen in die Ich-Synthese des Erzählers zu integrieren erlaubt.40 Wer die Handlungs­ fäden seines Lebens nicht zu einer kohärenten Lebensgeschichte zusammenzuführen wusste, wer die peinlich pochenden oder schamhaft abgedrängten Facetten seiner Vergangenheit nicht mit dem Kontinuitätsanspruch des erzählenden Ichs vereinbaren konnte, der sah sich als Parteifunktionär auch in der DDR zur öffentlichen Verschwiegenheit über sein Leben verurteilt. Für nicht wenige DDR-Repräsentanten blieben die immer wieder neu erfragten Lebensläufe in der Kaderakte die einzige biographische Textsorte, in der die dunklen Flecken der eigenen Vergangenheit schonungslos offenbar wurden  – und etwa im Fall verschwiegener Mitgliedschaften in NSOrganisationen manchmal nicht einmal dort. Prominente Parteifunktionäre wie Albert Schreiner und Willi Stoph erlegten sich selbst ein lebenslanges autobiographisches Schreibverbot auf, weil sie der Schmach ihres zeitweiligen Abfalls von der Partei anders nicht glaubten begegnen zu können. Die erdrückende Mehrheit ostdeutscher Erinnerungsautoren sah erst nach 1989 die Stunde eines mit dem Willen zur Wahrhaftigkeit verfassten Lebensberichts gekommen, um dann im Sinne Karl Schirdewans ihre »detaillierten Kenntnisse über das Funktionieren des stalinistischen Systems Ulbrichtscher Prägung in den allgemeinen Aufklärungsprozeß einzubringen« oder ihren eigenen Anteil am Scheitern des sozialistischen Experiments biographisch zu verarbeiten.41 Gegenüber dieser postkommunistischen Bewältigungsliteratur nach 1989 und auch der exkommunistischen Abkehrbiographik vor 198942 aber lassen sich die Memoiren von DDR-Parteifunktionären als besonderer Typus mit eigenen Bauformen des biographischen Erzählens fassen, nämlich als prokommunistische Ankunftsliteratur. Weit stärker als die beiden anderen Erzählmuster der Abkehr und der Bewältigung stellt die Organisationsform 40 Autobiographisches Schreiben stellt »Kontinuität her, die zur Gegenwart hinführt und prinzipiell zukunftsoffen ist. (…) Das maßgebliche Sinnbildungskriterium der ›Lebenserinnerungen‹ ist eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifende Kontinuitätsvorstellung«. Dagmar Günther, »And now for something completely different«. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaf, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 25–61, S. 52. 41 Karl Schirdewan, Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie, Berlin 1998, S. 301. 42 Zur Typologie der biographischen Auseinandersetzung mit der Welt des Kommunismus: Martin Sabrow, Den Umbruch erzählen. Zur autobiographischen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit, in: Frank Bösch/Martin Sabrow (Hg.), ZeitRäume. Pots­ damer Almanach, Göttingen 2012, S. 143–158. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der Ankunftsbiographie auf die Folgerichtigkeit der lebensgeschichtlichen Reifung ab, die sich als schroffe Lossagung von den bürgerlichen Herkunftsbanden erzählen ließ oder als schrittweise erfolgendes Hineinwachsen in den Kosmos der kommunistischen Bewegung. Von der radikalen Konversion des privilegierten Adelssprosses bis zur prononcierten Kontinuität des Kindes aus einer klassenbewussten Arbeiterfamilie spannt sich der Bogen der ankunftsbiographischen Erzählstruktur; immer aber wird das vorwärts gelebte und rückwärts verstandene Leben in der kommunistischen Biographik als Weg zur Erleuchtung geschildert, die das Ich im Lauf einer oft müh­samen Aufklärungs- oder Selbstaufklärungsphase die Welt plötzlich mit neuen Augen sehen lässt: »Nun pilgerten wir alle vierzehn Tage zu einer Schule im Westen Berlins und hörten hier in der Aula Philipp Dengel über histo­ rischen und dialektischen Materialismus sprechen. Wir scheuten den weiten Weg nicht. Alles, was man uns in der Volksschule an geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Fakten beigebracht hatte, sahen wir nun mit anderen Augen, wir sahen die wirklichen Zusammenhänge von Ereignissen und Erscheinungen. Wie umfassend war die neue Lehre!«43 Gerne nutzen Ankunftsbiographien die Form des bürgerlichen Bildungsund Entwicklungsromans, um sie sozialistisch zu wenden und das Auf­ gehen ihrer bürgerlichen Individualität im politischen Kollektiv der Partei zu schildern. Buchtitel wie Alfred Kurellas »Unterwegs zu Lenin«44 oder Max­ Seydewitz’ »Es hat sich gelohnt zu leben«45 fassen den lebensgeschichtlichen Bruch mit dem eigenen Herkommen als Heilung und betten ihn als Entwicklungsschritt in das größere Ganze der Menschheitsbefreiung ein, deren kontinuierlicher Gang noch mit den Weihen der historischen Gesetzlichkeit und ihrer Zukunftsorientierung ausgestattet wird. Das lerngeschichtliche Erleuchtungsnarrativ erlaubt es, Abweichungen, »Fehler«, »Schwankungen«, »Auseinandersetzungen« als Teil  der Reifung zu integrieren  – die einzige Möglichkeit, um die Verschlungenheit individueller Lebenswege in die Geschlossenheit des Kommunismus als Sinnwelt zu integrieren. Die kommunistische Autobiographik steht damit in der Erzähltradition von Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren, aber sie dreht den Bildungsgedanken des Goethischen Künstlerromans um: Aus der angestrebten Individualisierung wird die ersehnte Vergemeinschaftung im politischen 43 Franz Becker, Vom Berliner Hinterhof zur Storkower Komendatura, Berlin (O) 1985, S. 84 f. 44 Alfred Kurella, Unterwegs zu Lenin. Erinnerungen, Berlin (O) 1967. 45 Max Seydewitz, Es hat sich gelohnt zu leben. Lebenserinnerungen eines alten Arbeiterfunktionärs, Bd. 1, Erkenntnisse und Bekenntnisse, Berlin (O) 1976; Bd. 2, Mein sozialistisches Vaterland, Berlin (O) 1978. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Kollektiv. Immer liegt ihr das individuelle Bekenntnis zur hegelianischen Selbstaufgabe zugrunde, die das persönliche Leben ganz in der sozialistischen Sache aufgehen lässt. In der Erinnerung der parteiverbundenen Berufsrevolutionäre folgt das eigene Leben ganz dem Takt der politischen Verhältnisse und erscheint die Ankunft des »sozialistischen Zukunftsstaates« als biographische Erfüllung.46 Aus dieser Konstellation folgte, dass in der kommunistischen Autobiographik das private Leben nur dann erzählenswert erschien, wenn dies dem politischen Einsatz diente; mehr noch, dass eine Aufgabe des politischen Haltes in der kommunistischen Bewegung dem Verlust der biographischen Identität gleichgekommen wäre. In diesem Sinne konnte Kuczynski den konsequenterweise mit seinem Parteieintritt endenden ersten Teil seiner Memoiren (in denen er von sich selbst nur als »J. K.« spricht) mit dem emphatischen Bekenntnis abschließen: »Vom ersten Tag an war ich glücklich in der Partei. (…) Aus der Partei auszutreten hätte mir geschienen, wie aus dem Leben, wie aus der Menschheit auszutreten.«47 Mehr noch als den punktuellen Eingriffen der Zensur ist es den strukturellen Organisationsmustern der erzählten Erinnerung zuzuschreiben, dass die Lebenszeugnisse der ostdeutschen Berufsrevolutionäre sich so einförmig und gleichgerichtet lesen. Insofern war es weder Zufall, noch Liebe­ dienerei, sondern vor allem auf die Wirkungskraft der herrschenden autobiographischen Schreibgesetze zurückzuführen, wenn sich Franz Dahlem bei der Lektüre der Memoiren Erich Honeckers eine überraschende Erkenntnis aufdrängte: »Beim Vorlesen Deiner Biografie ›Aus meinem Leben‹ stellte ich ständig mit Erstaunen fest, daß wir eine Reihe von Gemeinsamkeiten in unserer Vergangenheit haben. (…) Durch das Kennenlernen Deines Lebens­ weges und Deiner Entwicklung wurden mir jetzt Zusammenhänge klar, auf die ich in meinen Memoiren eingehen werde und die die Zeit betreffen, in der ich als Berater der Komintern nach Frankreich fuhr und bei der Durchreise auch Deinen Vater kennenlernte.«48 Wie weit die strukturellen Gemeinsamkeiten ihrer autobiographischen Schreibstrategien reichten, illustriert eine narrative Nebenfigur, auf die fast alle ostdeutschen Erinnerungsautoren zurückgriffen: Auf dem Weg der Erleuchtung begegnete ihnen regelmäßig ein wissender Begleiter, der das politische Erwachen des autobiographischen Ichs mit kluger Zurückhaltung und gelegentlichem Eingreifen begleitet. Die Erleuchtung wird vorbereitet in einem Entwicklungsnarrativ, das die Abweichung von der Wahrheit mit 46 Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 235. 47 Kuczynski, Memoiren, S. 158. 48 SAPMO-BArch, DY 30, 9994, Franz Dahlem an Erich Honecker, 25.8.1981. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Blindheit und Unerfahrenheit erklärt: »Vater Brosig«, schilderte Franz Becker seine Erleuchtung, »war mir schon oft durch seine klugen und sachlichen Vorschläge aufgefallen. Meist stimmten unsere Meinungen in schulischen und politischen Fragen überein. Seit vielen Jahren war er arbeitslos. (…) So hatte er Zeit (…) und begleitete mich öfter ein Stück auf dem Nachhauseweg, bis in unsere Wohnung. Er erzählte von seinen Erlebnissen im ersten Weltkrieg, von den von ihm geführten Streiks und von seiner Parteiarbeit. Dabei beobachtete er meine Reaktion. Das war für ihn wohl ein Stückchen Parteiarbeit. Er kannte meinen Lebenslauf nicht (…). Deshalb ging er vorsichtig vor: Er erzählte uns von den Aufgaben der Internationalen Arbeiterhilfe. (-) So wurden Friedel und ich 1930 Mitglied der IAH.«49 Für andere Erinnerungsautoren führen weniger Menschen als Schriften das Wandlungserlebnis herbei. Alexander Abusch berief sich in seinen Memoiren auf die Lektüre von Morus, Marx und Engels: »Ich erlebte beim Lesen zunächst etwas Merkwürdiges: Alles, was in der Kindheit bei dem erzwungenen Lernen der Biblischen Geschichte märchenhaft meine Phantasie angeregt hatte (…), kehrte nun verändert wieder und beschäftigte mich ungeheuer, riß mich hin und her bei dem, was ich nicht völlig verstand.«50 Die ankunftsbiographische Schreibstrategie kannte Umwege und Ver­ zögerungen der »Erziehung zum Kommunisten«, wie Jürgen Kuczynski seine Memoiren programmatisch überschrieb, aber sie besaß keine integrierende Erzählmöglichkeit für Abfall und Ausschluss. Bevor Franz Dahlem seine Erinnerungen überhaupt schreiben konnte, bedurfte es zuvor eines sichtbaren Beweises nicht nur seiner Wiederaufnahme in die kommunistische Führungselite, sondern auch des förmlichen Widerrufs seines seinerzeitigen Ausschlusses, den sich Dahlem im Sommer 1971 vom neuen Ersten ZK-Sekretär Erich Honecker als Grußadresse zu seinem 80. Geburtstag erbat.51 Nachdem Honecker ihm diesen Gefallen Anfang 1972 getan hatte, erbat er sich die schriftliche Fassung der Rehabilitierungsworte, um sich durch sie autobiographische Schreiblegitimation zu verschaffen.52 Alexander Abusch wiederum ließ das traumatische Erlebnis seiner anderthalbjährigen innerparteilichen Verfolgung und Isolierung an seiner Ich-Identität in 49 Becker, Vom Berliner Hinterhof, S. 83. 50 Abusch, Deckname, S. 26. 51 »Das wichtigste in der Grußadresse wäre vor allem eine Feststellung, daß ich auch in jener für mich schweren Zeit, als die schweren ungerechfertigten Anschuldigungen er­ hoben worden waren, mich als ein standhatfter, disziplinierter Kommunist gezeigt habe.« SAPMO-BArch, DY 30, 9990, Franz Dahlem an Erich Honecker, 28.7.1971. 52 »Es wäre mir lieb, wenn Du mir eine Copie Deiner Ansprache auf dem Essen des ZK geben würdest. Es sind darin einige Angaben enthalten, die ich später in meinen Erinnerungen verwenden möchte.« Ebd., Franz Dahlem an Erich Honecker, 19.1.1972. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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solchem Maße zweifeln, dass der Ich-Erzähler sein erzähltes Ich förmlich abspaltete: »Sprechen wir wieder einmal in der dritten Person, denn was passierte, das scheint mir wie ein fernes Erlebnis, in das eigentlich nicht der Erzählende nach seinem ganzen bisherigen Leben, sondern nur ein anderer verwickelt werden konnte.«53

Erich Honeckers Herrschermemoiren Mit Erich Honeckers Memoirenwerk »Aus meinem Leben« erschien 1980 die einzige Funktionärs-Autobiographie der DDR, die sich von allen äußeren Anpassungszwängen frei wusste, weil sie vom Staatschef selbst stammte. Zwar hatte sich auch Walter Ulbricht, von Konrad Adenauers Erinnerungen angestachelt, seit 1968 mit einem eigenen Memoirenprojekt getragen und ein dreiköpfiges Historikerteam beauftragt, ihm dazu einzelne Materialien zusammenzustellen. Tatsächlich lieferten die Zuarbeiter eine solche Fülle von Dokumenten zur doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte, dass sie einen ganzen Schrank füllte, darunter aber nichts zu Ulbrichts persönlicher Entwicklung.54 Offenbar zielte das Vorhaben des sich als »Historiker im dritten Beruf« Sehenden mehr darauf, eine historisch-politische Betrachtung zur deutsch-deutschen Staatenkonkurrenz zu liefern als einen biographischen Lebensabriss, und es schlief wohl noch vor Ulbrichts Absetzung 1971 wieder ein.55 So blieb Erich Honecker der einzige Staatschef in der sowjetischen Hemi­ sphäre, der während seiner Amtszeit eine Autobiographie veröffentlichte. Schon dieser Umstand verlieh dem Werk singuläre Züge – kein anderer Erinnerungsautor in der DDR haftete mit buchstäblich jedem seiner Worte so sehr für die Übereinstimmung seiner Lebensgeschichte mit den ideolo53 Zit. nach Hartewig, Das »Gedächtnis« der Partei, S. 321. Dieser Teil von Abuschs Memoiren fiel ebenfalls der Zensur zum Opfer. 54 Vgl. die Einschätzung von Günter Benser, einem der drei seinerzeit beauftragten Historiker: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Ulbrichts Anliegen gewesen sein könnte, Aufschlüsse über seine Persönlichkeitsentwicklung zu geben, zum Beispiel, wie er mit den schlimmen Seiten der kommunistischen Bewegung zurechtgekommen ist. Subjektiv gefärbte Porträts seiner Zeitgenossen und Wegbegleiter, mit denen die meisten Autobiografen ihre Bücher schmücken, wären wohl seine nicht Sache gewesen. Wir waren auch gar nicht gehalten, biografisches Material zu Walter Ulbricht zusammenzutragen.« Mitteilung Günter Benser an den Vf., 16.2.1014. 55 Günter Benser, Für Ulbricht war die Geschichte eine bewegende Kraft, in: Egon Krenz, Walter Ulbricht. Zeitzeugen erinnern sich, Berlin 2013, S. 393–402. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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gischen Normen des Parteigedächtnisses wie Erich Honecker. Eine Ausnahmestellung nahm seine Ich-Erzählung auch darin ein, dass sie als einzige ostdeutsche Funktionärsbiographie nicht von einer übergeordneten Instanz auf ihre Konformität mit dem Regelwerk des historisch Denkbaren geprüft wurde, sondern dessen Normen im Gegenteil sogar in Maßen umformulieren konnte. Tatsächlich ließ Honecker in seinem Lebensbericht prominente kommunistische Parteigänger auftauchen, deren Namen in der DDR-Historiographie bis dahin weitgehend totgeschwiegen worden waren. Unter ihnen befanden sich der 1933 vermutlich auf Stalins Befehl ermordete Max Hoelz ebenso wie der mit ihm als »trotzkistischer Staatsfeind« verfolgte Erich Wollenberg. Dem in der Folge aus der KPD ausgeschlossenen Wollenberg dankte Honecker zudem in einer Unbefangenheit für die auf der Moskauer Parteihochschule empfangenen Lehren, wie sie keinem anderen ostdeutschen Erinnerungsautor möglich gewesen wäre.56 Kein anderer Erinnerungsautor auch hätte so warmherzig wie Honecker über den jahrzehntelang als Erzverräter gebrandmarkten Herbert Wehner schreiben und expressis verbis bekennen können, dass er viel von ihm gelernt habe.57 In dieser erzählerischen Freiheit präsentieren sich Honeckers Erinnerungen als ein autobiographischer Sonderfall, der die Grenzen des Genres sprengt. Allerdings können diese Ausnahmestellung nur die acht von der Geburt 1912 bis zur Befreiung 1945 reichenden Jugend- und Reifungskapitel für sich in Anspruch nehmen, während die restlichen 25 Kapitel im Wesentlichen das Werk unterschiedlicher ZK-Abteilungen darstellen, deren in wenigen Wochen erstellte Ausarbeitungen anschließend von einer Redaktionsgruppe des IML in einheitliche Form gebracht und Honecker zur Autorisierung vorgelegt wurden. Die Schilderung seines bis zur Befreiung aus dem Zuchthaus Brandenburg im April 1945 reichenden Werdegangs aber ging im Kern tatsächlich auf Erich Honecker zurück, der mehrere Wochenenden im Herbst 1979 dazu genutzt hatte, seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen, um sie anschließend von verschiedenen Formulierungshelfern und Fakten­ prüfern aus dem Parteiapparat redigieren zu lassen. Gerade weil die Zwänge einer institutionalisierten Außenkontrolle in diesem Fall fehlten, veranschaulichen Honeckers Herrschermemoiren auch in ihren selbst verfassten Jugendkapiteln die inneren Baugesetze der kommunistischen Biographik. Ihr Fundament bildete die herausragende Ich-Gewiss­

56 »Noch heute bin ich Wollenberg dafür dankbar, obwohl er sich, wie gesagt, später auf die Seite des Gegners schlug.« Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 41981, S. 41. 57 Ebd., S. 81. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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heit des Autors über seine musterhafte Lebensgeschichte.58 Seine vom englischen Pressetycoon Robert Maxwell angeregten Memoiren durchzog die Gewissheit, auf eine vorbildhafte und von allen Anfechtungen freie Kontinuität seines politischen Werdegangs zurückblicken zu können: »Ich kann mich an keinen Augenblick in meinem Leben erinnern, da ich an unserer Sache gezweifelt hätte – weder in der Kindheit noch in der Jugendzeit, den Jahren der politischen Arbeit im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und des Eintritts in die Kommunistische Partei Deutschlands, weder im antifaschistischen Widerstandskampf 1933 bis 1935 noch im faschistischen Zuchthaus 1937 bis 1945, weder in der Berliner Prinz-AlbrechtStraße, dem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), im Dezember 1935 noch vor dem ›Volksgerichtshof‹ im Juni 1937, weder in der Kaserne der ›Leibstandarte Adolf Hitler‹ der faschistischen ›Schutzstaffel‹ (SS) Ende 1935 noch im Angesicht des Henkers, der während der anderthalb Jahre Untersuchungshaft mein ständiger Begleiter war.«59 Während Autoren wie Franz Dahlem oder Max Seydewitz und auch Jürgen Kuczynski ihre Jugend als Schritt für Schritt erfolgendes Hineinwachsen in die kommunistische Bewegung erzählten, präsentierte Honecker sich in seinen eigenen Erinnerungen als puer senex, dessen erste in Erinnerung gebliebenen Kindheitserlebnisse um die Kriegsnot und die Russische Oktoberrevolution kreisten und der bedauert, dass er seine eigene Geburt in schlechten Zeiten nicht hatte bewusst erleben können.60 Zahlreiche Faktoren wirkten im Entstehungsprozess des Werkes zusammen, um die behauptete Kontinuitätsgewissheit des Autors zu stützen. An erster Stelle sind hier die Bemühungen der Arbeitsgruppe des IML zu nennen, deren Auftrag es war, eine Lebenserzählung zu liefern, die auch den misstrauischsten Blicken von Freund und Feind gewachsen wäre: »Und überhaupt: In diesem Buch dürfen keine Widersprüche sein. Alles kann der Gegner denn dazu schreiben, nur nicht, es lasse Fragen offen, stehe im Widerspruch zu ›dem und dem‹. Die Autobiographie muß stimmen.«61 Zu diesem Zweck bereiste zudem eine andere Historikergruppe die Bundesrepublik, um dieser Forderung durch Quellenrecherche in verschiedenen Archiven 58 Zur Entstehungsgeschichte der Honecker-Memoiren: Martin Sabrow, Die Wahrheit der Wunschbiographie: Erich Honecker, in: Volker Depkat/Wolfram Pyta (Hg.), Autobiographie zwischen Quelle und Text (i.E.). 59 Honecker, Aus meinem Leben, S. 9. 60 »Soll man es begrüßen oder beklagen, daß sich die Geburt eines Menschen seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung entzieht?« Ebd., S. 6. 61 Privatarchiv Harald Wessel, Blankenfelde, Dr. Harald Wessel an den Genossen F. J. Herrmann, Büro Honecker, 19.1.1980. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und zahlreiche Zeitzeugengespräche mit Familienangehörigen und frühen Weggefährten von Honecker nachzukommen.62 Eine nicht geringere Rolle spielten umgekehrt die Anstrengungen des Parteigedächtnisses, alle in der DDR archivierten Unterlagen zu Erich Honecker vor der Einsichtnahme Dritter zu schützen und auf ihre biographische Ausnutzbarkeit durch »den Gegner« abzuklopfen. Zu diesem Zweck wurde im Januar 1978 ein »Maßnahmeplan« festgelegt, der die »Aufklärung feindlicher Pläne und Absichten gegen die Partei- und Staatsführung (…) durch auftragsgemäße Presseveröffentlichungen in der BRD« zum Ziel hatte. Er sah unter Wahrung der Konspiration nicht weniger als die »Erfassung und Aufbereitung sämtlicher verfügbarer Materialien offiziellen und inoffiziellen Charakters« vor, wobei »vorhandene Erkenntnisse, auch aus anderen Diensteinheiten des MfS (…) und Forschungseinrichtungen des Partei- und Staatsapparates der DDR einzubeziehen« seien. Mit Hilfe dieses gigantischen Aufwandes glaubte die Staatssicherheit aus der Kakophonie der umlaufenden Quellen und Zeugnisse so etwas wie eine auf Problemzonen fokussierte Gesamtbiographie der führenden Genossen mit Honecker an der Spitze gewinnen zu können: »In einer Analyse sind sämtliche zusammengetragenen Veröffentlichungen, Dokumente und Erkenntnisse zu bestimmten Zeitabschnitten im persönlichen Werdegang der vorgegebenen Personen zu erfassen mit dem Ziel, Wider­ sprüche darin auszuweisen, die tatsächlichen Quellen erkennbar zu machen und feindliche Absichten zu dokumentieren.«63 Erst am Ende dieses biographischen Absicherungsprozesses standen die einzelnen Retuschen, die Honecker an seiner Lebensgeschichte vornahm, um seine kontinuitätsgewisse Ich-Identität zu wahren. Offenkundiger Sti­ lisierung unterlag vor allem das Bild von Honeckers persönlicher und familiärer Standhaftigkeit gegenüber dem NS-Regime. Honeckers Memoiren geben keinen Aufschluss über die einzelgängerische Verschlossenheit und manchen Mitgefangenen befremdende Büttelhaltung, in der Honecker seine verschiedenen Kalfaktorenposten während der Haftzeit in augenscheinlicher Distanz zum kommunistischen Netzwerk seines Zuchthauses verbracht hatte. Sie übergehen die näheren Umstände seiner Befreiung 1945 ebenso 62 »Die Reise erfolgte in Absprache mit dem Generalsekretär unserer Partei, Genossen Erich Honecker. Es war als Aufgabe gestellt, Dokumente und Materialien zur Ausarbeitung der Autobiographie zu sichten und Kopien zu beschaffen. Außerdem sollten Fotos beschafft, die Erinnerungen von Kampfgefährten aufgenommen und historische Fakten anhand einschlägiger Quellen exakt überprüft werden.« SAPMO-BArch, NY 4167, 417, Prof. Dr. Voßke. Bericht über die Reise in die BRD vom 14. bis 25. Januar 1980. 63 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, MfS HA IX/11 SV 19/77, Bd. 36, Maßnahmeplan, 24.1.1978. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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wie seine erste und politisch anstößige Eheschließung mit einer Aufseherin des Berliner Frauengefängnisses, in dem er selbst viele Monate inhaftiert war und von dem aus regelmäßig weibliche Opfer des NS-Regimes zur Hinrichtung nach Plötzensee überstellt wurden. Doch diese öffentliche Bloßstellung eines verlogenen Ich-Erzählers erklärt wenig. Sie schließt von dem Umstand, dass auch Honecker seinen Lebenslauf im Rahmen der für kommunistische Regime charakteristischen »politics of biography«64 redigierte, auf den autobiographischen Fälschungsvorsatz und meint somit die kommunistische Sinnwelt als machtgestütztes Lügengespinst abtun zu können. Auch in diesem Fall aber lässt der Blick auf die Art, in der Honecker die kohärenzbedrohenden Aspekte seines Lebens in seine Kontinuitätsbiographie integrierte die klare Unterscheidung von Wahrheit und Lüge verschwimmen: Auch an den neuralgischen Stellen seiner bis 1945 reichenden Ich-Erzählung ist nicht so sehr simples Verschweigen das Mittel der Wahl, sondern das Bemühen um narrative Einpassung. So unterdrückte der Ich-Erzähler Erich Honecker den die Familientradition befleckenden Übergang seines jüngsten Bruders zu den Nazis durchaus nicht, sondern erzählte ihn nur sinnverkehrend als Geschichte einer gescheiterten Bemächtigung durch das NS-Regime. Ebenso sparte er in seinen Erinnerungen auch die in der Haft eingegangene Beziehung zu einer Angehörigen des Wachpersonals nicht rundweg aus, sondern integrierte seine spätere erste Ehefrau  – ohne Namensnennung und in verschiedene Personen aufgespalten – als »gute Bekannte« bzw. heimliche Unterschlupfgeberin in die Lebenserzählung. Niemals auch widersprach Honecker den unterschiedlichen schon in der DDR kursierenden Versionen seines Gefängnisausbruchs und der abermaligen Befreiung nach der zwischenzeitlichen Wiedergefangennahme im Frühjahr 1945. Vielmehr suchte er sie möglichst weitgehend in seine Erzählung zu integrieren, indem er bereits veröffentlichte Erinnerungen ausdrücklich zitierte oder stillschweigend paraphrasierte. Welche weiterführenden Erkenntnisse lassen sich hieraus ziehen? Honeckers Kontinuitätsbiographie operierte mit den Kunstgriffen der Auslassung, der Dekontextualisierung und der Umwertung, aber sie log nicht. Sie suchte eine Brücke zwischen persönlicher Glaubwürdigkeit und politischer Opportunität zu schlagen, über die der Autor nicht alleine ging, sondern in der fürsorglichen Belagerung durch einen Parteiapparat, der widersprechende Lesarten nach Kräften zu bekämpfen versuchte, dem Ich-Erzähler aber zugleich eigene narrative Vorgaben aufherrschte. Honeckers Memoiren entwickelten sich in einem Parallelogramm der Kräfte, in das neben den eigenen auch 64 Epstein, The Last Revolutionaries, S. 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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die bereits publizierten Erinnerungen von Zeitgenossen ebenso einflossen wie die biographischen Legitimationsansprüche des SED-Apparats und dessen Leitnorm in der Verbindung von Wahrhaftigkeit und Widerspruchsfreiheit bestand. Das so geschaffene biographische Konstrukt war von hoher Überzeugungskraft65, wie niemand schlagender demonstrierte als der Autor selbst, der auch nach dem Untergang des SED-Staates und bis zu seinem Tod unverändert an seiner biographischen Kontinuitätsgewissheit festhielt. Um seine Selbstcharakterisierung gebeten, erteilte er dem ihn untersuchenden Gefängnisarzt im September 1990 die lakonische Auskunft: »Ich war Kommunist, bin Kommunist und werde Kommunist bleiben.«66

Fazit Wie sich im Durchgang durch die verschiedenen Formungskräfte des Parteigeschichtsbildes in der DDR zeigte, nahm die Kategorie der Erinnerung im Geschichtsdiskurs des Staatssozialismus keinen eigenständigen Platz ein. Vielmehr war die Vorstellung einer konstitutiven Spannung zwischen persönlicher Erinnerung und historischer Wahrheit im geschichtstheoretischen Gerüst der DDR-Geschichtswissenschaft kategorial ausgeschlossen: »Erinnerungen und Erlebnisberichte (…) geben bei aller subjektiven Färbung ein wahrheitsgetreues Bild ihrer Zeit, da ihre Handlungen mit den objektiven Gesetzen der historischen Entwicklung übereinstimmen. Das ist auch die wahre Ursache dafür, daß diese Erinnerungen und Erlebnisberichte von der bürgerlichen Wissenschaft als nicht ›seriös‹ abgetan werden.«67 Wie sehr diese Vorstellung von Zeitzeugenschaft sich von der zeitgenössischen Geschichtskultur der Bundesrepublik unterschied, illustriert ein ostdeutscher Betreuerbericht zu dem 1987 in Eisenhüttenstadt durchgeführten Oral-His65 Zur beifälligen zeitgenössischen Rezeption vgl. beispielsweise die Einführungsworte zum Vorabdruck der Honecker-Erinnerungen im »Spiegel«: »Über 507 Seiten entsteht das Bild eines ehrlichen, ideologisch überzeugten deutschen Kommunisten, der die Vormacht Sowjet-Union kritiklos respektiert, der aber seinen deutschen Lesern sehr wohl ›Probleme‹ einräumt und ›Verbesserungen‹ – etwa im humanitären Bereich – verspricht.« »Es gibt keine glatte Straße in die Zukunft«. Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, veröffentlicht seine Memoiren, in: Der Spiegel 35/1980, 25.8.1980, S.  36–41, S. 37. 66 Archiv der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 7, K.-J. Neumärker/J. Morgner/G. Schott, Nervenfachärztliches Gutachten Erich Honecker, 2.9.1990, S. 43. 67 Walther Eckermann/Hubert Mohr (Hg.), Einführung in das Studium der Geschichte, Berlin (O) 1966, S. 374 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tory-Projekt von Lutz Niethammer: »Dieses Vorgehen der Interviewer zielt darauf, einen unverfälschten Selbstausdruck der Befragten zu erhalten. Nicht Annäherung der Standpunkte/Bestrebungen, sondern Aufdeckung der Unterschiede, der Fremdheiten und Andersartigkeiten ist das oberste Ziel der vorliegenden Interaktion.«68 Dennoch: Auch im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR ging es niemals allein um die bloße Unterdrückung individuellen Erlebens zugunsten eines oktroyierten Parteigedächtnisses, sondern zugleich immer auch um die Utopie einer erreichbaren Übereinstimmung von kommunikativer und kultureller Erinnerung. Ostdeutsche Memoiren verwandelten sich unter dem äußeren Druck des institutionalisierten Parteigedächtnisses und der inneren Lenkung durch ihre Erzählkonventionen in eine weitgehende entsubjektivierte Erinnerung zweiter Ordnung, die dennoch auch unter dem Druck der empörendsten Gängelung nicht in der binären Logik von Wahrheit und Lüge aufging. Die kommunistische Autobiographik erzählt auf diese Weise vielleicht nur wenig Verlässliches über den politischen Lebensweg ihrer jeweiligen Verfasser, aber jedenfalls sehr viel über die Funktionsweise eines Herrschaftssystems, das sich nicht nur auf Gewalt stützte, sondern ebenso auf das Bindung erzeugende Zusammenspiel von gedanklicher Geschlossenheit und erfahrener Glaubwürdigkeit.

68 Bericht über die Fortsetzung des oral history-Projektes der BRD-Historiker in Eisenhüttenstadt vom 21.4. bis 3.5.1987, in: Lutz Niethammer u. a., Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991, S. 622. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Liberale Demokratie und politische Gewalt in den siebziger Jahren1

Köln, 5. September 1977. Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer verlässt sein Büro und macht sich auf den Weg zu seiner Dienstwohnung, als sein Wagen und der zweier Sicherheitsbeamter durch ein Auto an der Weiterfahrt gehindert werden. Sein Fahrer und die drei Personenschützer in seiner Begleitung werden an Ort und Stelle erschossen, Schleyer selbst wird entführt. Es folgen sechs dramatische Wochen, während der er von der RAF gefangen gehalten wird. Am 19. Oktober wird sein Leichnam im Kofferraum eines Audi in Mulhouse gefunden. Rom, 16. März 1978, ein halbes Jahr später nur: Fünf Leibwächter be­gleiten den Vorsitzenden der christdemokratischen Partei Italiens, Aldo Moro, auf seinem Weg zur Abgeordnetenkammer, als ein Wagen die Weiterfahrt blockiert. Ohne Vorwarnung eröffnen die Insassen dieses Wagens das Feuer auf Moros Konvoi, wenige Minuten nur, dann sind alle fünf Sicherheitsbeamten tot. Aldo Moro bleibt wie durch ein Wunder unverletzt, er wird in ein wartendes Auto gezerrt, dann verliert sich seine und der Täter Spur. 55 Tage lang wird er nun in der Gewalt der Roten Brigaden verbringen, während im ganzen Land hektisch nach ihm gesucht wird. Am 9. Mai schließlich findet man ihn, erschossen, im Kofferraum eines Renaults in der Via Caetani in Rom. Die Fälle Schleyer und Moro markierten den erschütternden Höhepunkt einer ganzen Kette politisch motivierter Anschläge, die nahezu alle westlichen Gesellschaften in den siebziger Jahren in Atem hielt. Ganz singulär freilich waren die Morde und Bombenanschläge in einer weiteren historischen Perspektive gewiss nicht. Vielmehr müsste man sehr früh ansetzen, 1 In diesem Beitrag wurde die Vortragsform weitgehend beibehalten. Nur wörtliche Zitate werden durch Quellenangaben belegt. Eine ausführlichere und mit vollständigen Quellenund Literaturangaben versehene Version erscheint in: Johannes Hürter (Hg.), Staat gegen Terrorismus. Demokratie und Sicherheit im Westen 1970–1990, München 2014. Einige der hier präsentierten Überlegungen habe ich bereits ausführlicher und am empirischen Gegenstand dargelegt unter dem Titel: Konfrontation und Kommunikation. Demokratischer Staat und linke Gewalt in der Bundesrepublik und den USA in den 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 249–277. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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wollte man eine histoire totale politischer Gewalt schreiben, ließen sich die aus der Antike überlieferten Tyrannenmorde doch ebenso dazu rechnen wie die Gewaltkampagnen, die in Zeiten der Revolution gegen Andersdenkende unternommen wurden oder die Sprengstoffattentate, die seit Erfindung des Dynamits ihren festen Platz im Handlungsrepertoire der Anarchisten hatten. Aber hier soll es allein um die Frage gehen, wie liberale Demokratien mit der Erfahrung politisch motivierter Gewalt umgingen, wie man diesen Umgang untersuchen kann, und was man daraus im Hinblick auf politischen Wandel in liberalen, rechtsstaatlich verfassten demokratischen Gesellschaften erfahren kann. Ich stelle mich also ganz auf die Seite des Gesetzes. Aber ich weiß auch, dass ich staatliches Handeln nicht isoliert betrachten kann, entwickelt es sich doch in einer permanenten, höchst dynamischen Wechselwirkung zum Terrorismus, vor allem aber vollzieht es sich in einem spannungs­ reichen Wechselspiel mit der Öffentlichkeit, deren Rolle ich im Folgenden deshalb immer mit thematisieren werde. Terrorismus, nota bene, ist ein jeweils zeitgenössischer Begriff, der eigentlich nur in Anführungszeichen gebraucht werden sollte, für die Form politischer Gewalt, um die es hier geht, jedoch gebräuchlich geworden ist. Die folgenden Ausführungen geben Einblick in ein größeres Forschungsprojekt, das den Wandel der liberalen Demokratien des atlantischen ­Westens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts der Herausforderung durch den Terrorismus zeigen und erklären kann. Hier sollen Ansätze erläutert werden, wie das Handeln staatlicher Akteure zu untersuchen ist, das Handeln von Akteuren in Regierungen und Parlamenten, im Polizeiapparat und in der Justiz, die mit der strafrechtlichen Verfolgung politisch motivierter Taten befasst waren, aber auch damit, der Öffentlichkeit zu erklären, was geschehen war, gegebenenfalls Gesetze zu verabschieden, wenn die bestehenden gesetzlichen Grundlagen nicht auszureichen schienen, um den Terrorismus einzudämmen, oder die Korrekturen am Zusammenspiel der Institutionen vornahmen, weil sie sich davon ein wirksameres Vorgehen gegen die Gewalt versprachen. Gegliedert ist der Beitrag nicht chronologisch und nicht nach Ländern geordnet, sondern anhand von Situationen, die ich in exemplarischer Absicht ausgewählt habe, weil sie mir die maßgeblichen, hier interessierenden Zusammenhänge in der Kürze der Zeit besonders gut zu veranschaulichen scheinen. Sechs Etappen sind nun gleichsam abzuschreiten: vom Terrorismus über seine Verfolgung, das Sich-Zeigen des Staates, die Prozesse und Gefängnisse bis hin zur Gesetzgebung. Mit einigen Überlegungen zur historischen Einordnung werde ich dann schließen. Mein zeitlicher Schwerpunkt liegt auf den siebziger und achtziger Jahren, die ich in den Zusammenhang des 20. Jahrhunderts einbette. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Die Terroristen oder What’s the problem? 21. Mai 1970. Im Namen der linksradikalen Gruppe Weatherman erklärt Bernardine Dohrn der US-Regierung den Krieg. 18. April 1974. Die Roten Brigaden kidnappen den Genueser Staatsanwalt Mario Sossi. Er wird am 23. Mai wieder freigelassen. »Terrorismus ist primär eine Kommunikationsstrategie«, schreibt der Soziologe Peter Waldmann in seinem vielbeachteten Standardwerk zum Thema.2 Das ist keine nachträgliche Zuschreibung durch den Wissenschaftler von seinem Schreibtisch aus, sondern die Terroristen selbst sehen das so. Ihnen geht es nicht um den Menschen an sich, den sie entführen und ermorden, sondern um das System, das er repräsentiert. Nicht den Menschen Jürgen Ponto will die RAF ermorden, sondern sie will das kapitalistische System treffen, für das er als Vorstandssprecher der Dresdner Bank tätig ist. Nicht den Menschen Mario Sossi entführen die Roten Brigaden, sondern den Staatsanwalt von Genua, nicht den Menschen Francesco Coco ermorden sie 1976, sondern den Staatsanwalt als Vertreter des Justizapparats. Mit der Tat beginnt, wie sie erklären, »eine neue Phase des Klassenkrieges, die darauf abzielt, den Staatsapparat zu zerlegen, indem die Personen angegriffen werden, die ihn verkörpern und seine konterrevolutionären Initiativen lenken.«3 Die Liste der Morde und ihrer Rechtfertigungen ließe sich weiter fortsetzen, aber es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass die Taten zum einen politisch motiviert sind, und dass sie zum anderen einer Zwangsläufigkeit folgen, in die sich die Täter hineinphantasiert haben. Solche Konstruktionsleistungen können wir bei jeder terroristischen Gruppierung beobachten, ganz gleich, ob wir auf die linken Gewalttäter der siebziger und achtziger Jahre sehen, die sich im Klassenkampf und im letzten Gefecht für die globale Befreiung vom Joch des Kapitalismus und des Imperialismus wähnen, und die sich als Stadtguerilleros eins glauben mit den Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt; ob wir auf die Rechtsterroristen schauen, die von nationaler Größe und, wie im italienischen Fall der sechziger und siebziger Jahre, einem totalitären Staat träumen, der alle Probleme der Gegenwart lösen würde, von ethnisch homogenen Gesellschaften; oder ob wir die islamistische Herausforderung von heute vor Augen haben. In jedem Fall ist Terrorismus politisch begründet, ihm liegt eine bestimmte, fest gefügte Weltsicht zugrunde, und 2 Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 32011, S. 17. 3 Lorenzo Ruggiero (Hg.), Dossier Brigate Rosse 1976–1978: Le BR sanguinarie di Moretti: documenti, comunicati e censure, Mailand 2007, S. 44. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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im Griff zur Waffe sehen Terroristen nur eine logische, zwangsläufige, legitime Konsequenz. Sie organisieren ihr Leben neu, stellen es ganz in den vermeintlichen historischen Auftrag; Jan Philipp Reemtsma spricht richtig vom Terrorismus als einer »Lebensform«.4 Terroristische Taten sind, auch wenn dies zynisch klingen mag, symbolische Akte, und zusammen mit den multimedialen Äußerungen der Täter – Bekennerschreiben, Pamphlete, in denen sie den Sinn ihres Handelns erläutern, ja: auch Kriegserklärungen; aber auch Tonbänder, Fotos, Videoaufnahmen, auf denen sie ihre Macht über ihr Entführungsopfer zeigen  – all diese Äußerungen formen ein mächtiges Gegennarrativ, das die liberalen Rechtsstaaten herausfordert. Es ist nicht die Mordtat, nicht der Bomben­ anschlag, nicht die Entführung an sich, die die Herausforderung darstellen  – für deren Verfolgung wäre im einfachen Strafrecht Vorkehr getroffen –, sondern der Sinn, der diesen Taten zugeschrieben wird. Der Psychologe und Linguist Michael Bamberg erkennt die Bedeutung von Gegennarrativen darin, dass sie dominante Machtzuweisungen dadurch herausfordern, dass ihre Subjekte für sich Handlungsmacht (agency) beanspruchen und zugeteilte Positionen radikal in Frage stellen.5 Im Fall von Terroristen lässt sich das gut beobachten zum Beispiel in den Situationen, in denen sie die Legitimität gerichtlicher Verfahren abstreiten und Verfahren stören. Vor allem zeigen sich Gegennarrative in ihren Kriegserklärungen und notorischen Selbstermächtigungen, »Recht« zu sprechen im Namen des vermeintlich legitimen Kampfes. Während die RAF sich im Extremfall anmaßt, »die korrupte Existenz Hanns-Martin Schleyers« zu beenden, oder die Roten Brigaden Aldo Moro im »Volksgefängnis« »verhören«, versagen die linksradikalen amerikanischen Weatherman der staatlichen Strafverfolgung Legitimation und Sinn: »To General Mitchell (dem Generalstaatsanalt) we say: Don’t look for us, Dog; We’ll find you first.«6

4 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 504. 5 Vgl. Michael Bamberg, Considering counter narratives, in: Ders./Molly Andrews (Hg.), Considering Counter-Narratives. Narrating, resisting, making sense, Amsterdam 2004, S. 351–371. 6 Kommuniqué der Entführer an die Zeitung Libération, 19. Oktober 1977, zit. nach ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 273; Ruggiero, Dossier, Bd. 2, S. 294; Communiqué #3 From The Weatherman Underground, 26. Juli 1970, in: Harold Jacobs (Hg.), Weatherman, Berkeley 1970, S. 515. Mit »Mitchell« war Justizminister John Mitchell gemeint. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Benennen, zeigen und fahnden 5. März 1970. US-Präsident Richard Nixon erklärt vor dem Kongress, die Zeit von »Geduld und Nachsicht« sei nun vorüber, ab jetzt behandle man die »anarchistischen und kriminellen Elemente als das, was sie sind.«7 14. Oktober 1970. Bernardine Dohrn, Gründungsmitglied der Weatherman, wird auf die Liste der zehn meistgesuchten Flüchtigen des FBI gesetzt. Terroristen kommunizieren auf vielfältige Weise. Genauso freilich kommunizieren staatliche Akteure. Sie sind nicht allein Empfänger terroristischer Botschaften, sondern sie setzen ihnen aktiv eigene Botschaften entgegen – auf nicht minder vielfältige Weise. Vertreter der Staatsgewalt schreiben auf ihre Weise terroristischen Taten Bedeutung zu, eine andere, als jene der terroristischen Gruppen selbst, aber eine nicht minder wirkmächtige. Im Akt solcher Zuschreibungen wird Terrorismus überhaupt erst zu Terrorismus, zu etwas Besonderem, Außergewöhnlichen, das den normalen Ablauf von Routinen stört. Man kann in allen liberalen Staaten ein grobes Muster der sprachlichen Auseinandersetzung mit politisch motivierter Gewalt erkennen, das ihnen gemeinsam ist: Sie beginnt mit tastenden Versuchen, eine Sprache für das zu finden, was vorgeht. Am einfachsten tun sich staatliche Akteure, wenn die Gewalt von außen kommt oder man sie als von außen kommend deuten kann. Beispiel hierfür wäre das Olympia-Attentat von 1972, bei dem die Täter einen palästinensischen Hintergrund haben. Ursachen und Sinn der Tat können gewissermaßen externalisiert werden. Auch bei den Bombenanschlägen und Geiselnahmen durch die Molukker, zumeist Kinder aus Soldatenfamilien, die aus Indonesien in die Niederlande eingewandert sind, ist solche Externalisierung noch möglich. Auf die Abwehr einer von außen kommenden Gefahr sind liberale Demokratien eingerichtet, die Gewähr äußerer Sicherheit ist gewissermaßen das Kerngeschäft des neuzeitlichen Staates überhaupt. Bei Bedrohungen von innen muss eine andere Sprache gefunden werden. Politische Gewalttäter werden als »Banden« bezeichnet, als »Anarchisten«, oder auch einfach als »irregeleitete Psychopathen«. Weibliche Täter erscheinen mal als »Flintenweiber«, mal als femme fatale mit der Waffe in der Hand, in jedem Fall als eine Irritation bestehender Geschlechterordnungen, selbst in den USA, wo das Bild waffentragender Frauen im Laufe des 19.  und frühen 20.  Jahrhunderts domestiziert wurde. 7 Richard Nixon, Statement about legislative proposals concerning explosives, 25.  März 1970, in: John T. Woolley/Gerhard Peters, The American Presidency Project [online], Santa Barbara, CA [letzter Zugriff: 31.10.2013]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Durch die sprachliche Konstruktion nicht-gewalttätiger Mehrheiten suchen staatliche Akteure die Terroristen gesellschaftlich zu isolieren; US-Präsident Nixon spricht dann von der silent majority, der deutsche Bundeskanzler beschwört die Gemeinsamkeit der Demokraten. Terroristen erhalten ein Gesicht, nach ihnen wird gefahndet, ihre Konterfeis auf Fahndungsplakaten sind zeitweise allgegenwärtig. Dass die Fotos häufig manipuliert sind und dem älteren Typus des Verbrecherbildes entsprechen – passt ins Bild. Im Zeigen liegt eine Demonstration des Wissens – man hat den Täter identifiziert, er kann nicht entkommen  –, eine abermalige Aufforderung an die Gesellschaft, mitzuwirken bei der Suche und auf diese Weise einen scharfen Trennstrich zwischen sich und den Terroristen zu ziehen; und darin liegt eine Dramatisierung, wenn die vermeintlich allgegenwärtige Gefahr diesen wenigen Menschen zugeschrieben wird. Dramatische Appelle durch hochrangige Vertreter des Staates suggerieren Handlungsfähigkeit; »Härte und Entschlossenheit« werden zu politischen Leitvokabeln, mit denen die Sprecher auch Männlichkeit beweisen, wo sie doch zugleich für den Schutz ihres Lebens auf eine Armada von Leibwächtern angewiesen sind. Auch der Kampf gegen den Terrorismus wird für viele zu einer Lebensform, die die Möglichkeit des eigenen Todes immer mit einschließt, wie die Mordanschläge auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback oder eine ganze Reihe italienischer Staatsanwälte und Richter belegen. Währenddessen laufen im Hintergrund, zumeist verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, die Fahndungsmaschinen. Wissen wird akkumuliert, Deutung produziert, technokratische Handlungszwänge geschaffen. Um Wissen zu gewinnen, müssen bisweilen staatliche Akteure Rollenwechsel vollziehen. Sie suchen terroristische Gruppen zu infiltrieren, um Taten antizipieren, das innere Gefüge der Gruppen verstehen, ja sie durch Verunsicherung und Vertrauenserosion von innen zersetzen zu können. Manchmal gelingt das, wie das niederländische Beispiel der Rode Jeugd zeigt, die sich schon anschickte, zu einer Polder-Variante der RAF zu werden, dann aber, ihre Erfolgsaussichten in einem Anflug von Realismus wägend, den Kampf aufgab. Häufiger gelingt es nicht. Der Einsatz von Undercover-Agenten und V-Männern kann am Ende kontraproduktiv wirken, wenn etwa Beweismittel, die auf diese Weise erhoben werden, vor Gericht nicht verwendet werden dürfen.

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Staat zeigen Manhattan, Oktober 1970. Nach mehreren Bombenanschlägen auf Polizeidienststellen werden Zugangskontrollen am Eingang der Reviere eingerichtet. Wer die Dienststelle betreten möchte, muss seine Taschen durchsuchen lassen, Körper werden auf der Suche nach Waffen oder Sprengstoff abgetastet. Ende Mai 1972. »Die ganze (Bundes-)Republik wird von einem Netz von Kontrollstellen überzogen. Aus der Luft stürzen sich Bereitschaftspolizisten auf harmlose Kraftfahrer, Bahnpolizei durchsucht Züge, Wasserschutz­ polizei Schiffe und Häfen, die Grenzen sind dicht.«8 In Situationen wie diesen zeigt sich der Staat. Dieses Sich-Zeigen kann dramatische Formen annehmen, wie das deutsche Beispiel nahelegt, es kann sich aber auch in Alltagssituationen einbetten, wie das Beispiel der ungezählten Polizeikontrollpunkte und verstärkten Patrouillengängen überall in den vom Terrorismus bedrohten westlichen Gesellschaften belegt. Was auf den ersten Blick wie eine pragmatische polizeiliche Maßnahme anmutet – gesunder Menschenverstand würde wohl ausreichen, um Kontrollen vor Polizeirevieren einzurichten, wenn bereits mehrere Dienststellen Ziele von Bombenanschlägen waren –, lässt sich bei näherem Hinsehen als ein performativer Akt deuten, durch welchen staatliche Akteure und Öffentlichkeit in Interaktion treten und durch den Sinn erzeugt wird. Der Begriff des Performativen wurde ursprünglich in der Sprachphilosophie geprägt, dann von den Theaterwissenschaften aufgegriffen und ist mittlerweile auch von der Geschichtswissenschaft adaptiert worden. In der performance wird nicht etwas Vorgegebenes aufgeführt, sondern eine genuine »Konstitutionsleistung« erbracht. Performativ bringen Akteure »Bedeutung im Augenblick des Äußerns, Aufführens und Sich-Verhaltens selbst hervor«, und zwar stets »im Zusammenspiel aller Beteiligten«.9 Nicht allein »Staat« und »Terroristen« als Antagonisten erscheinen aus dieser Perspektive als Akteure, sondern hier ist immer auch »der Dritte«, Mehrheitsgesellschaft und Öffentlichkeit, mit dabei; statt des bloßen Antagonismus zwischen zweien 8 Dieter Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA, Hamburg 1998, S. 110; zu dieser Aktion auch Klaus Weinhauer, »Staat zeigen«. Die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, Bd. 2, S. 932–947, S. 938. 9 In Anlehnung an Erika Fischer-Lichte: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold, Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: Dies. (Hg.), Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 1–31, S. 27. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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entfaltet sich ein komplexes Wechselspiel zwischen mehreren Akteuren und auf mehreren Ebenen. Akteure wechseln die Rollen. Wenn bei einer Polizeikontrolle die einen weiterfahren dürfen, die anderen aber beiseite gewunken werden, ihre Papiere vorzeigen und den Kofferraum öffnen müssen, wechseln sie von der Rolle des normalen Bürgers in die eines potentiell Verdächtigen. Fischer-Lichte weist auf das Moment der Irritation und Verunsicherung hin, das performances eigen ist. Liberale Rechtsstaaten zeichnen sich dadurch aus, dass die Bürger stabile Erwartungen an den Vollzug von Routinen haben, und dass sie erwarten, dass auch in außergewöhnlichen Situationen nicht allzu weit von Routinen abgewichen wird. Das Spannungsverhältnis zwischen Erwartungsstabilität und Irritation macht aus performativen Akten in liberalen Rechtsstaaten prekäre Gratwanderungen, bei denen Rechtsstaatlichkeit jedes Mal aufs Neue – und womöglich ein wenig anders als beim vorigen Mal – erzeugt wird.

Langen Prozess machen 21. Mai 1975. In einer eigens errichteten Mehrzweckhalle auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim beginnt der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe. Erst nach 192 Verhandlungstagen spricht der vorsitzende Richter drei Angeklagte schuldig, Ulrike Meinhof nimmt sich während der Prozesszeit das Leben. 17. Mai 1976. In Turin beginnt der Prozess gegen den »historischen Kern« der Roten Brigaden, 46 Personen sind angeklagt. Zwei Jahre dauert es, bis ein Urteil gesprochen werden kann. Terroristen sind schwierige Angeklagte. Sie nutzen das Gericht als Bühne, auf der sie ihre politischen Anliegen vortragen, vor allem aber den übrigen Prozessbeteiligten ihre Legitimation absprechen. Sie halten sich nicht an die Regeln, durchbrechen das Ritual, wie es die Strafprozessordnung vorgibt. In Turin etwa beanspruchen die Angeklagten für sich das in der Strafprozessordnung nicht vorgesehene Recht, sich selbst zu verteidigen, in Stammheim gibt es Querelen um zahlreiche Befangenheitsanträge, die Angeklagten begeben sich mehrfach in Hungerstreiks, die tägliche Verhandlungsdauer muss verkürzt werden. In Turin drohen die Angeklagten, ihre Genossen draußen würden jeden ermorden, der sich als Laienrichter, wie sie die Prozessordnung fordert, zur Verfügung stellt. Das alles wissen wir, und doch lohnt es sich, noch einmal genauer auf die vielfältigen Facetten von Strafprozessen und ihre Bedeutung für liberale Rechtsstaaten zu sehen. Zwei Facetten möchte ich hier ausführen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Zum einen: Gerichtsverfahren sind performances im eben beschriebenen Sinne. Angeklagte wechseln die Rolle und klagen die »Schweinejustiz« an, Zuschauer werden vor Einlass in den Saal scharf kontrolliert und wechseln in die Rolle mutmaßlicher Unterstützer der Angeklagten, Verteidiger werden unter Verdacht gestellt oder vom Verfahren ausgeschlossen. Sitzordnungen und besondere Vorkehrungen strukturieren die performance mit, wenn Angeklagte dem Verfahren in Handschellen zu folgen haben oder hinter dicken Glasscheiben oder Gittern Platz nehmen. Auch in diesem komplexen Wechselspiel wird Rechtsstaatlichkeit hervorgebracht und wandelt sich Rechtsstaatlichkeit. Zum anderen: Hören wir auf die Erzählungen. Die vielfältigen Forschungen aus dem Bereich der Erzähltheorie, wie sie in den Arbeiten zum legal storytelling fruchtbar adaptiert wurden, aus dem Feld der law and literature studies, einem spannenden Schnittfeld von Literatur- und Rechtswissenschaften, aber auch aus der forensischen Linguistik legen es nahe, genauer auf die Erzählungen und die Sprache vor Gericht zu achten. Vor Gericht werden Geschichten erzählt. Angeklagte erzählen, was sie getan und was sie nicht getan haben, und warum sie es tun mussten. Verteidiger fügen die Erzählungen ihrer Mandanten in Formen, die die Straf­ prozessordnung und das Strafrecht vorgeben; sie erzählen von mildernden Umständen oder davon, warum ihre Mandanten so und nicht anders handeln konnten. Staatsanwälte entfalten wiederum ein anderes Narrativ, das von der Unrechtmäßigkeit handelt und von den verwerflichen Motiven der Angeklagten. Am Ende hat der Richter darüber zu entscheiden, welche Erzählung am plausibelsten ist und welche legitim. Denn nicht alles, was plausibel ist, ist auch legitim. Das hängt von den Umständen ab, unter denen erzählt wird; es hängt davon ab, in welchem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext erzählt wird und nicht zuletzt auch davon, welchen Punkt die Erzählung als Anfang wählt. So haben die Erzählungen vor Gericht unterschiedliche historische Tiefe, je nachdem, ob sie die schwierige Jugend eines Angeklagten thematisieren oder die Tat als Konsequenz einer schon lange anhaltenden Unrechtserfahrung präsentieren. Wenn die Verteidiger der RAF darauf verweisen, dass hier eine Generation den Faschismus bekämpfe, weil ihre Eltern dies unterlassen hätten, so wählen sie bewusst einen Erzählanfang, der den Sinn der Erzählung dann vorstrukturiert. Umgekehrt präsentieren aber auch die Vertreter der Anklage und die Richter Erzählungen, in einem Kontinuum von Texten – vom Haftbefehl über die Anklageschrift und die Plädoyers bis hin zum Urteilsspruch – legen sie ein Narrativ dar, das – anders als das der Angeklagten – bestimmten Regeln unterworfen ist. Das betrifft einerseits die Form, die durch das Strafrecht und Strafprozessrecht vorstrukturiert ist. Liberale Rechtsstaaten folgen, anders als Despotien, in © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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denen allein der Wille des Herrschers maßgeblich ist, gesetzten Regeln, die wiederum in einem verregelten Verfahren zustande gekommen sind. Andererseits gelten Regeln auch für den Inhalt »staatlicher« Erzählungen vor Gericht. Es können nur Tatbestände thematisiert werden, die das Strafrecht kennt; und es können nur Urteile gesprochen werden, wenn keine Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestehen, das Strafmaß wiederum hat sich in einem vorgegebenen Rahmen zu bewegen. In Rechnung zu stellen ist dabei, nebenbei bemerkt, auch, dass sich die westlichen Rechtsstaaten im Strafprozessrecht unterscheiden. Folgt man den law and literature studies, so schafft das anglo-amerikanische common law andere erzählerische Spielräume für Ankläger und Verteidigung als etwa das aus der römischen Rechtstradition stammende deutsche Strafverfahren, in dem es um die Ermittlung von »Wahrheit« durch den Richter geht, der sich nicht am Präzedenzfall orientiert, sondern Tatbestände unter Rechtsnormen subsumiert. Man mag in den Erzählsituationen vor Gericht ein asymmetrisches Verhältnis sehen  – die einen können erzählen, was sie wollen oder für richtig halten, die anderen nicht. Die einen können von der lang anhaltenden Unterdrückung Nordirlands durch den britischen Staat oder vom Faschismus erzählen, Anklage und Richter müssen bei den konkreten zu verhandelnden Tatbeständen bleiben. Bleibt ihren Erzählungen deshalb der historische Rekurs, die historische Tiefe verschlossen? Verlieren dadurch ihre Argumente an Kraft und historisch gespeister Legitimation? Ja, lohnt es sich überhaupt, ihre Erzählungen zu analysieren? Dieser Schluss könnte nahe liegen. Indes, er wäre falsch. Das wird zum einen deutlich, wenn man all die Narrative mit einbezieht, die um den jeweiligen Prozess herum entfaltet werden, in öffentlichen Statements und Presseinterviews etwa. Zum anderen liegt die historische Sinnebene vielleicht gar nicht in erster Linie in den Erzählungen von Anklägern und Richtern vor Gericht selbst, sondern sie ist vielmehr in den ihren Erzählungen zugrundeliegenden Rechtsnormen und Gesetzestexten eingekapselt. Und sie kommt in der Sprache der Staatsanwälte und Richter zum Ausdruck, die bestimmte sprachliche Ausdrücke oder Metaphern wählen, andere hingegen fallen lassen; die das eine Detail eines Sachverhalts akzentuieren, das andere aber nicht, und die durch sprachliche Zuschreibungen historisch gesättigte Deutungshorizonte aufreißen können. Nicht zuletzt ist in Rechnung zu stellen, dass Erzählungen vor Gericht immer auch die Erzähltraditionen und erzählerische Topoi, die in den sie umgebenden Gesellschaften etabliert sind, in sich schließen – so zum Beispiel, wenn uns in der Zuschreibung sexueller Hörigkeit von Terroristinnen eine ganze Geschlechterordnung entgegentritt und uns die erzählerische Urform des boy-meetsgirl-Motivs begegnet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Das Gefängnis 9. November 1974. Holger Meins stirbt in der Justizvollzugsanstalt Wittlich nach 58 Tagen Hungerstreik. 5. Mai 1981. Im Gefängniskrankenhaus stirbt Bobby Sands nach 66tägi­ gem Hungerstreik. Er ist als IRA-Mitglied im Hochsicherheitsgefängnis Maze inhaftiert. Nach ihm sterben neun weitere Häftlinge. Das Gefängnis ist sehr viel mehr als ein abgeriegelter Ort, an dem verurteilte Täter ihre Haftstrafen verbüßen, vermeintlich abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Die Justiz erhofft sich von der Verurteilung und Inhaftierung von Terroristen eine Schwächung der Gewaltgruppen, wird ihnen durch die Inhaftierung von Mitgliedern doch manpower entzogen, und wirkt die Verhängung womöglich langer Haftstrafen doch idealerweise abschreckend auf künftige Täter. Tatsächlich ist das Gefängnis ein Ort dynamischster Interaktion z­ wischen liberalen Rechtsstaaten und politischen Gewalttätern. Strategisch und identitätspolitisch spielt das Gefängnis für terroristische Gruppen eine zentrale Rolle, wie am Beispiel der RAF und der IRA geradezu idealtypisch zu er­kennen ist. Das Gefängnis ist der Ort, von dem aus die dunklen, menschenverachtenden Seiten des »Schweinesystems« mit neuem Nachdruck und – tatsächlicher oder vermeintlicher – Evidenz ins Licht gerückt werden können. So sind die Haftbedingungen für Angeklagte in Untersuchungshaft und verurteilte Täter immer ein Thema öffentlicher Anklagen von Seiten terroristischer Gruppen. Verweise auf die Haftbedingungen haben beachtliches Potential, weitere Männer und Frauen für den Kampf im Untergrund zu mobilisieren, wie die sogenannte »zweite Generation« der RAF zeigt. Gefangenenbefreiungen sind für terroristische Gruppen gleichermaßen heroische wie legitime Akte. Die Befreiung Andreas Baaders bei einem Ausgang aus dem Gefängnis war der Gründungsakt der RAF, die Befreiung des Drogengurus Timothy Leary durch die Weatherman eine triumphale Bestätigung ihres counter-narratives, beides Coups für die Öffentlichkeit. Doch auch indem die Inhaftierten selbst die Regeln des Strafvollzugs immer wieder zu durchbrechen suchen, sei es, indem sie sich als politische Gefangene bezeichnen und das Tragen von Häftlingskleidung verweigern, sei es, dass sie ihre Zellen verwüsten und besondere Haftbedingungen fordern, sei es aber auch, dass sie Mitteilungen und politische Traktate nach draußen schmuggeln lassen, schaffen sie Öffentlichkeit an einem Ort, der eigentlich keine Öffentlichkeit hat. Und schließlich ist das Gefängnis der Ort, an dem die terroristischen Märtyrer geboren werden, jene, die im letz© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ten Kampf ihren eigenen Körper und ihr eigenes Leben für die Sache zu opfern bereit sind. Im Hungerstreik behaupten Häftlinge biopolitische Souveränität; sie nehmen sich das Recht, selbst über ihr Leben oder ihr Sterben zu entscheiden. Liberale Rechtsstaaten trifft gerade der Hungerstreik an einer empfindlichen Stelle. Sie treten dem Sterben-Wollen entgegen, indem sie den Hungernden zwangsernähren lassen, eine gewaltsame Intervention in den Körper des Gefangenen, die wiederum mobilisierende Proteste draußen nach sich zieht. Oder sie ignorieren das Sterben-Wollen und das damit verbundene Ringen um biopolitische Souveränität, wie etwa die britische Regierung unter Margaret Thatcher im Falle der IRA-Hungerstreikenden um Bobby Sands, und tragen auf diese Weise zur Festigung des Märtyrer-Status bei. Doch selbst jenseits solcher Extremsituationen ist das Gefängnis für liberale Demokratien ein schwieriges Terrain. Das Prinzip gleichen Rechts für alle legt auch eine Gleichheit hinter Gittern nahe, die faktisch wie rechtlich nur allzu bald aufgegeben wird, sobald Terroristen inhaftiert werden. Aus Sorge vor Flucht oder Gefangenenbefreiung werden Hochsicherheitsgefängnisse eingerichtet oder besondere Haftbedingungen in bestehenden Anstalten geschaffen wie die H-Blocks von Maze nahe Belfast oder der Hochsicherheitstrakt im siebten Stockwerk der JVA Stammheim. Masseninternierungen ohne Prozess wie in den Baracken auf der stillgelegten Air Force-Basis Long Kesh zwischen 1971 und 1974 tragen auf ihre Weise zur Mythenbildung bei. Denn Hochsicherheitsgefängnisse sind jenseits der Erfüllung besonderer Sicherheitsbedürfnisse Orte, an denen sich die Konfrontation zwischen liberalen Rechtsstaaten und politischer Gewalt noch einmal symbolisch zuspitzt. In dieser Konfrontation werden die Reformmöglichkeiten und Liberalisierungsbestrebungen demokratischer Staaten auf die Probe gestellt, wie sich an der Frage nach der Geltung des Resozialisierungsgedankens für Terroristen ebenso zeigt wie in den harten Konflikten um vorzeitige Begnadigungen inhaftierter Täter noch viele Jahre nach ihren Taten.

Die Gesetze 15. Oktober 1970. Der US-Kongress verabschiedet den Organized Crime Control Act, der strenge Bestimmungen im Umgang mit Sprengstoff enthält. 16. April 1978. In Rom nimmt die Camera die Deputati das Gesetzes­ dekret »zur Prävention und Bekämpfung schwerer Kriminalität« an, die sogenannte Legge Moro. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Liberale Rechtsstaaten können nicht handeln ohne gesetzliche Basis. Darin liegt das Vertrauen ihrer Bürger und ihre Legitimation begründet, staatliches Handeln muss normativ berechenbar sein. Selbst der Ausnahmezustand kennt nicht die unbeschränkte Macht der Exekutive, die Maxime »Not kennt kein Gebot« soll keine Geltung haben. Soweit die Theorie. Die Praxis folgt ihr, zumindest auf den ersten Blick. Zur Bekämpfung des Terrorismus werden bestehende Gesetze angewendet und neue verabschiedet. Neue Straftatbestände werden geschaffen, etwa die »Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung«, wie sie mit dem neuen § 129a ins deutsche Strafgesetzbuch eingefügt wird; oder die »Entführung zu terroristischen Zwecken«, wie sie die Legge Moro aus gegebenem Anlass strafbar macht. Durch neue Gesetze können Rechte von Angeklagten und Verteidigern beschnitten werden, auch hierfür bieten die bundesdeutschen Antiterrorgesetze aus dem Kontext der Schleyer-Entführung und die Legge Moro reiches Anschauungsmaterial. Gesetze können aber auch die räumlichen Dimensionen der terroristischen Bedrohung präzisieren, wie der genannte Crime Control Act, der den Transport von Sprengstoff über die Grenzen von Bundesstaaten innerhalb der USA unter Strafe stellt und auf diese Weise verdeutlicht, dass die zahlreichen Bombenanschläge nicht einzelne hot spots, sondern die gesamten Vereinigten Staaten bedrohen. Dass selbst in Momenten der größten Herausforderung durch den Terrorismus, wie sie die Schleyer- und Moro-Entführungen darstellen, Gesetze verabschiedet werden, die staatliches Handeln legitimieren sollen, liegt einerseits in der beschriebenen Logik rechtsstaatlichen Handelns begründet, ist andererseits aber auch in einer symbolischen Dimension zu verstehen, konterkariert der Akt der Gesetzgebung doch den Vorwurf der Terroristen, ein nur demokratisch camouflierter faschistischer Staat zu sein. Mögen die neuen Gesetze oder die Ergänzungen bestehenden Strafrechts als Ausdruck rechtsstaatlichen Handelns im Augenblick außergewöhnlicher Gefahren gemeint gewesen sein, so liegt eine etwas andere Deutung nahe, wenn man sie in einem längeren zeitlichen Horizont betrachtet. Dann markieren sie in gewissem Sinne einen ganz zentralen Punkt im Prozess der Liberalisierung westlicher Rechtsstaaten, einem Prozess, der auf dem Feld des Strafrechts erste wesentliche Impulse im späten 19. Jahrhundert erhalten und mit Unterbrechungen durch die Kriege – in die wir den Kalten Krieg mit einrechnen sollten – bis in die sechziger Jahre anhielt. In die sechziger und frühen siebziger Jahren fielen Reformen des Strafrechts in liberaler Absicht, man denke an die große Strafrechtsreform in der Bundesrepublik, oder an die italienischen Reformen, die – eine Ironie der Geschichte – Aldo Moro als Ministerpräsident ab 1964 mit angestoßen hatte. Weitere Beispiele ließen sich © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nennen. Die Anti-Terror-Gesetze sorgen für eine Kontraktion im Prozess der Liberalisierung, ich weiß nicht, ob sie vielleicht gar seinen Endpunkt bilden, was sich mit der Tatsache begründen ließe, dass keines der verabschiedeten Gesetze wieder aufgehoben wird, nachdem die Welle politischer Gewalt in den achtziger Jahre abebbt. Verknüpft man diesen Befund mit der Beobachtung, dass zur gleichen Zeit, seit den siebziger Jahren, andere Politikfelder ebenfalls erheblich transformiert werden, ergibt sich das Bild eines grundlegenden Wandels von Staatlichkeit. Denn die siebziger Jahre markieren auch das Ende umfassender politischer Planungsvorstellungen und -absichten, in ihnen beginnt der Umbau der westlichen Sozialstaaten, beginnt allmählich die Privatisierung von Staatsaufgaben. Ganz scheint es, als zögen sich die liberalen westlichen Staaten der Tendenz nach auf das Kerngeschäft neuzeitlicher Staatlichkeit zurück, die Gewährleistung von Sicherheit, nach außen, aber auch im Inneren. Obendrein sind in der Gesetzgebungspraxis in den siebziger Jahren erste Spuren zu erkennen, die auf die Persistenz kolonialer bzw. kriegsrechtlicher Praktiken hindeuten. Gewiss das markanteste Beispiel hierfür ist der Rückgriff auf das Instrument der Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, detention without trial, dessen sich die staatlichen Autoritäten in Nordirland zwischen 1971 und 1975 bedienen. Sie nehmen dafür als gesetzliche Basis zunächst den Civil Authorities (Special Powers) Act von 1922, ehe neue Gesetze verabschiedet werden, die an der Sache freilich nichts ändern. Guantanamo warf seine Schatten voraus. Die Anti-Terror-Politik der siebziger Jahre gleichsam als ein Scharnier zum war on terrorism zu deuten, in dem wir uns heute befinden, ließe sich mit weiteren Argumenten begründen: mit der Tendenz zur Stärkung des Amtes des Präsidenten in den USA beispielsweise, die unter Nixon zur imperial presidency wird, zu einer Machtbastion in einer Vorstellungswelt, die nur die Differenz zwischen Freund und Feind kennt. Es ließe sich begründen mit der Entdifferenzierung der Gewalten, wie sie beispielsweise in der italienischen Anti-Terror-Gesetzgebung zum Ausdruck kommt, die die Grenzen zwischen exekutiver und judikativer Macht verwischt, andere Beispiele aus anderen Staaten ließen sich nennen.

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Schluss Ich könnte schließen mit dem bedrückenden Szenario, das Sebastian Scheerer in seinem Artikel über »Terror« in Ulrich Bröcklings »Glossar der Gegenwart« entworfen hat: dass nämlich der liberale Rechtsstaat in seinem Kampf gegen den Terrorismus in einer Abfolge von mehreren Schritten selbst zum Terror-Staat wird, der seine Bürger kontrolliert und reglementiert, Andersdenkende ausgrenzt und sie Repressalien aussetzt.10 Gut möglich, dass die liberalen Rechtsstaaten, wie sie sich in der westlichen Welt nach 1945 voll entfaltet haben, die Erfahrung der Diktatur brauchten, um in der Auseinandersetzung mit dem Anderen das Eigene, Liberale, zu entwickeln. Aus ihrem Sieg über den Nationalsozialismus zogen liberale westliche Staaten, namentlich Großbritannien und die USA, ein Gutteil ihrer Legitimation und ihres Selbstverständnisses, während aus der Konfrontation mit den – als solchen wahrgenommenen – roten Diktaturen auch die neuen liberalen Staaten, denken wir an Italien und die Bundesrepublik, Sinn und Statur zu gewinnen vermochten. Heute, da das Andere nicht mehr so eindeutig zu erkennen ist, tut sich liberale Rechtsstaatlichkeit schwerer, dem Zug zum kontrollierenden und präventiven Sicherheitsstaat zu widerstehen. Der Kampf der westlichen liberalen Rechtsstaaten gegen die terroristische Herausforderung der siebziger und achtziger Jahre lässt sich als Erfolg deuten. Nirgends kam es zur Revolution, nirgends wurde die kapitalistische Ordnung aufgegeben, nirgends das parlamentarische System gestürzt. Mit Blick auf Spanien ließe sich sogar argumentieren, dass die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der ETA dazu beigetragen hat, dass die junge spanische Demokratie rechtsstaatliche Praktiken erlernte, schließlich ging man dort sukzessive von harten, repressiven und kaum als rechtsstaatlich zu bezeichnenden Mitteln ab. Es gelang den liberalen Rechtsstaaten, das Masternarrativ zu verteidigen und weiten Konsens herzustellen, der Terroristen eigene Handlungsmacht absprach und ihren counter-narratives die Anerkennung versagte. Dazu bedienten sich staatliche Akteure einer breiten Palette von Handlungsformen, die erzählerische und performative Elemente mit einschloss. Gerade in diesen wurde Rechtsstaatlichkeit nicht dargestellt oder abgebildet, sondern immer wieder aufs Neue hergestellt, in überaus komplexen, nuancenreichen Wechselspielen mit allen Beteiligten, den Terroristen selbst, aber auch der 10 Sebastian Scheerer, Terror, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004, S. 257–262. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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übrigen Gesellschaft. Die performative Konstitution von Rechtsstaatlichkeit konnte dabei durchaus Verunsicherung und Irritation hervorrufen, die wiederum auf die Ausprägung des Rechtsstaats unmittelbar zurückwirkte. Nutzt man diese sensiblen Sonden, um die Anti-Terror-Politik der siebziger und achtziger Jahre zu analysieren, ergibt sich ein spannungsreiches Bild, das einerseits ältere Erfahrungsschichten erkennen lässt, andererseits auf kommende Entwicklungen verweist und es so ermöglicht, die besondere Situation der siebziger und achtziger Jahre in den breiteren Kontext des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Was das 21. Jahrhundert für liberale Rechtsstaaten bringen mag, bleibt abzuwarten.

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Thomas Mergel

Zeit des Streits Die siebziger Jahre in der Bundesrepublik als eine Periode des Konflikts

Die siebziger Jahre sind in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Bundesrepublik derzeit noch umstritten: Einerseits gelten sie als das »sozialdemokratische Jahrzehnt«, in dem viele der Reformen, die in den sechziger Jahren vorbereitet oder gefordert wurden, durchgesetzt wurden. Sie dienen insofern als ein weiteres Kapitel in einer optimistischen Geschichte der Bundesrepublik, die vor allem vom Lernen der Demokratie, vom »langen Weg nach Westen« (Heinrich August Winkler) spricht. Dem gegenüber steht eine pessimistischere Geschichte, die das »Ende der Zuversicht« und den ökonomischen »Strukturbruch« betont und die eher das Ende der wirtschaftlichen, aber auch politischen Erfolgsgeschichte in den Mittelpunkt rückt.1 Bei solchen Zugriffen sind die normativen Einfärbungen kaum zu vermeiden, und hinter den wissenschaftlichen Beschreibungen lauert immer die politische Pädagogik. Im Folgenden soll deshalb eine erfahrungsgeschichtliche Dimension im Vordergrund stehen, die die zeitgenössischen Wahrnehmungen stärker in den Mittelpunkt rückt: Die Siebziger als eine Zeit des intensiven Konflikts über nahezu alle wichtigen Fragen. Werte, Regeln, politische Strategien und Instrumente, die Vergangenheit, politische Stile waren umkämpft und wurden höchst antagonistisch behandelt. Der Ausgang dieser Konflikte war offen, und im Rückblick wird man konstatieren, dass keinesfalls einfach die Achtundsechziger das Spiel gewannen. Viele dieser Konflikte sind bis heute nicht gelöst. Die einen Reformen wurden in den siebziger Jahren durchgesetzt, meist in harten Auseinandersetzungen. Andere blieben im Dickicht 1 Zum »optimistischen« Zugriff: Bernd Faulenbach, Die Siebzigerjahre  – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 1–38; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung ­1945–1980, Göttingen 2002. Zum »pessimistischen« Ansatz: Anselm Doering-Manteuffel/ Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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des Streits hängen oder wurden nach konservativen Maßgaben erledigt. Die maßgebliche Erfahrung dieser Jahre, so meine These, war eine Gesellschaft im Streit, der sich häufig über lange Zeit hinzog. Die Kluft zwischen den Gegnern war extrem tief, und in mancher Hinsicht kann man eine richtiggehende Kulturkampfatmosphäre ausmachen; so haben die Zeitgenossen es zumindest wahrgenommen. Der Anspruch auf Reformpolitik (was auch immer dies am Beginn des 21. Jahrhunderts meinen mag) traf heftig auf laut geäußerte konservative Verlustängste, und diese Szenen spielten weit hinein in das private Leben. Im Folgenden möchte ich zunächst den entscheidenden Code dieser Jahre beschreiben: die Spannung zwischen Links und Rechts. Sodann werde ich einige ausgewählte Felder diskutieren, in denen die Konflikte besonders heftig waren, bevor ich diese Kulturkampfatmosphäre aus einer Forschungsperspektive betrachte, die ich besser kenne: der Geschichte der Wahlkämpfe der siebziger Jahre. Schließlich werde ich kurz den plötzlichen und grundlegenden Wandel der Konstellation ansprechen, der sich mit dem Anfang der achtziger Jahre ergab.

Der Links/Rechts-Code Die Ordnung der politischen Szenerie nach der Logik von Links und Rechts ist in Zeiten von Großen Koalitionen nicht mehr jedem einleuchtend. In der Zeit nach 1968 durchdrang diese Logik jede Wirklichkeit, auch außerhalb der Politik. In fast jedem Bereich des Lebens war zu sagen, was links (also fortschrittlich) und was rechts (also konservativ oder reaktionär) war. Die dominante Erfahrung der Siebziger ist dabei die Stärke der Linken. In der Tat, es war in vieler Hinsicht ein sozialdemokratisches Jahrzehnt. Sozial­ demokratische Regierungen amtierten mit Wahlergebnissen, die bis dahin und seither nicht wieder erreicht wurden. Aber die Linke war zersplittert, und was für viele ein historischer Erfolg war: die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokratie, wurde von anderen wahrgenommen als eine Verbürgerlichung der SPD, wenn nicht gar als eine Art von Verrat an der Arbeiterklasse. Die sozialdemokratischen Wahlerfolge waren beeindruckend und öffneten neue Horizonte für die bundesdeutsche Gesellschaft, nicht zuletzt auch im Blick darauf, wie 1968 verarbeitet werden konnte. Willy Brandt würde später erklären, dass es die SPD – in persona: er selbst – war, die die radikale Linke wieder in die politische Gesellschaft integriert hatte, indem sie viele junge Leute anzog, die vorher die APO unterstützt hatten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Andererseits hatte die APO damals ihren Protest gegen die Große Koalition genau damit begründet, dass die SPD damit ihrer oppositionellen Kraft beraubt werde. Die meisten der Achtundsechziger, die der SPD beitraten, bildeten hier den starken linken Flügel. Andere aber blieben der Partei fern und organisierten sich in einer radikalen Linken, die sich seit den späten Sechzigern entwickelt hatte.2 Diese Organisationen hatten ihre größte Zeit während der siebziger Jahre, in Hinsicht auf die Zahl der Organisationen, die Höhe der Mitgliedschaft und die organisatorische Schlagkraft. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), der Kommunistische Bund Westdeutschlands (KBW), nicht zu verwechseln mit dem Kommunistischen Bund (KB), und viele andere kleinere Organisationen blühten in dieser Zeit, und sie zogen nicht nur alte Achtundsechziger an, sondern in hohem Maß auch jüngere Leute, die 1968 nicht mehr miterlebt hatten und es nun ihren großen Brüdern und Schwestern gleichtun wollten. Die Mitgliederzahl dieser Organisationen war durchaus eindrucksvoll. Die orthodoxe DKP zählte ungefähr 40 000 Mitglieder, und wenn wir die Mitläufer oder diejenigen mitzählen, die nur in einer der Satellitenorganisationen mitmachten, ohne Parteimitglied zu sein, dann waren es vielleicht 60 000, die sich an der DDR und der UdSSR orientierten. Die DKP wollte gern eine leninistische Kaderpartei sein, aber in der Realität war sie viel mehr eine »Gute Nachbarn«-Partei mit einer starken Dominanz von Intellektuellen aus 1968, gutsituierten Facharbeitern und Studenten, die vom sehr aktiven »Marxistischen Studentenbund Spartakus« angezogen wurden. Die anderen Gruppen auf der radikalen Linken waren in Hinsicht auf die Zahlen weniger eindrucksvoll, aber dafür waren sie durch ein sehr viel höheres Maß an Aktivismus gekennzeichnet. Einige waren echte Kaderorganisationen. Der KB zählte etwa 10 000 Mitglieder, der KBW vielleicht 7000 – genaue Zahlen zu bekommen ist schwer, weil die Organisationen sich sehr nach außen abschotteten. Wer hier als Mitglied aufgenommen werden wollte, musste willens sein, sein ganzes Leben der großen Sache zu opfern, inklusive großer Teile seines Einkommens und seines privaten Vermögens und großer Teile seiner Zeit. Beim KB oder dem KBW Mitglied zu sein bedeutete, seine Freundeskreise aufzugeben, Freizeitaktivitäten abzuschwören und auch auf eine berufliche Karriere zu verzichten, wenn dies von den Parteioberen so bestimmt worden war. Diese Organisationen waren militant auch dahingehend, dass sie Gewalt für ein legitimes politisches Mittel hielten und dies auch einsetzten. 2 Zum folgenden v. a.: Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Nicht alle linken Aktivisten waren so militant wie die Mitglieder von KBW und KB, und nicht alle Organisationen haben so sehr Besitz vom Leben ihrer Mitglieder ergriffen. Aber die radikale Linke mit einem schwer zu übersehenden Spektrum an Gruppen und Grüppchen entwickelte eine enorme Anziehungskraft vor allem für junge Männer. Sie umfasste nicht nur (vielleicht) 100 000 aktive Mitglieder, sondern strahlte auch aus auf Hunderttausende von Sympathisanten und Mitläufern, die vielleicht die konkreten politischen Ziele und auch die militanten Konfliktformen nicht teilen mochten, aber die Sprache, Kleidungsstile und Slogans übernahmen und die leicht für Demonstrationen und Kulturveranstaltungen mobilisiert werden konnten. Aus diesem Feld heraus entwickelten sich andere Milieus. Mit und neben den radikalen linken Gruppen formte sich die alternative Bewegung aus, die erst in den achtziger Jahren ihren Höhepunkt erreichen sollte.3 In vieler Hinsicht war diese Bewegung auch ein Vermächtnis der 1968er, denn sie führte die subjektivistischen Neigungen der Kommunebewegung, die spontaneistischen Aktionen eines Fritz Teufel und die lebensweltliche Orientierung – »das Private ist das Politische« – fort. Von den »ernsthaften« Linken wurden sie als »Müslis« verspottet und verdächtigt, unpolitisch und uninformiert zu sein. Aber auch sie waren Fleisch vom Fleische der Achtundsechziger, ebenso wie die feministische Bewegung, die sich ebenfalls selbstverständlich als links verstand, aber in der Frage, wie sich Klassenkampf und Befreiung der Frauen zueinander verhielten, bald mit den linksradikalen Männern aneinandergeriet.4 Und schließlich: auch die terroristischen Gruppen gehörten in spezifischer Weise zur Linken. Die Rote Armee Fraktion (RAF), die Bewegung 2. Juni und manch andere Gruppe umfassten nicht viele Personen, aber der Terrorismus dominierte die Diskussion über Links und Rechts in hohem Maße, stimulierte Sympathien und Antipathien und führte zu einer permanenten Debatte über fundamentale Fragen. Insbesondere die Frage der Gewalt wurde immer wieder aufs Tapet gebracht.5 Für viele auf der Linken war sie ein springender Punkt. Die meisten lehnten die Brutalität der RAF ab, ebenso ihr avantgardistisches Selbstverständnis und nicht zuletzt die unterliegende stalinistische Botschaft ihrer Exekutionen. Dennoch fanden Erklärungen der RAF ihr Publikum, vor allem durch die Forderung nach linker

3 Hierzu neuerdings grundlegend: Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt 2014. 4 Kristina Schulz, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundes­ republik und in Frankreich 1968–1976, Frankfurt 2002. 5 Hierzu jetzt: Karrin Hanshew, Terror and Democracy in West Germany, Cambridge 2012. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Solidarität trotz grundlegender Differenzen. Sie war für viele wichtiger als die Ablehnung der Gewalt. Der Diskurs der RAF drehte sich vor allem um ein »Wir«, das gegen ein nebulöses, immer aber »rechts« gedachtes »Sie« gerichtet war: gegen den imperialistisch genannten Staat ebenso wie gegen die bürgerliche, liberale wie konservative Welt. Trotz dieser scharfen Demarkationen gab es innerhalb der Linken enorme interne Konflikte, und in mancher Hinsicht waren diese sehr viel zerstörerischer als irgendeine Attacke von »rechts«. Nicht nur, dass diese Organisationen einander spinnefeind waren; auch verschiedene Lebensstile trafen konflikthaft aufeinander. Die feministische Bewegung attackierte die linken Männer, weil diese emanzipativ höchstens in der Theorie waren. Trotzkisten, Maoisten und Marxisten-Leninisten stritten miteinander, und nichts wurde so gefürchtet wie bürgerliches Abweichlertum oder Revisionismus. Es war in den siebziger Jahren leicht, links zu sein, aber alles andere als klar, was das bedeuten sollte, abgesehen von »gegen Rechts«. Ganz ähnliche Prozesse können aber auch auf der konservativen Seite beobachtet werden. Nach den glücklichen Zeiten der Adenauer-Ära hatten die Stürme von 1968, die Wahltriumphe der Sozialdemokraten und der zunehmende Alltagsliberalismus in der deutschen Gesellschaft die Konservativen hilflos und ahnungslos zurückgelassen, was ihren politischen und ideologischen Standort anbetraf. In den Augen der meisten Zeitgenossen waren die Konservativen eine schwache Kraft, und in weiten Teilen war das auch zutreffend. Eine Reform des politischen Konservatismus gewann nur sehr langsam an Boden. Frank Böschs Beobachtung ist allerdings richtig, dass trotz der Dominanz der Sozialdemokratie die siebziger Jahre eine Zeit waren, in der eine neue konservative Hegemonie sich auszuformen begann.6 Nicht nur, dass sie in vielen Ländern regierten und hier teilweise beeindruckende Wahlergebnisse einfuhren  – bei den Bundestagswahlen von 1976 erreichten die Christdemokraten mit Helmut Kohl als Kanzlerkandidat das zweitbeste Ergebnis ihrer Geschichte; die absolute Mehrheit wurde nur um ein einziges Prozent verfehlt. Auf regionaler Ebene regierten nicht die Sozial-, sondern die Christdemokraten. Indes, es war ein hybrider Konservatismus, der sich hier präsentierte. Da gab es nationalkonservative Politiker mit autoritären Dispositionen, wie Walter Filbinger in Baden-Württemberg, Alfred Dregger in Hessen oder Franz-Josef Strauß in Bayern. Sie verfochten eine konservative Strategie, die sich vor allem als eine Strategie gegen links verstand. Auf

6 Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 296–309. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der anderen Seite gab es ein weitverbreitetes Gefühl bei den Christdemokraten, dass die alten Formeln nicht mehr funktionierten; viele mögen auch ihren linken Söhnen und Töchtern zugehört haben. Jüngere Politiker wie Helmut Kohl, Heiner Geißler oder Richard von Weizsäcker standen für eine Neuorientierung der Christdemokratie, dafür, die Schützengräben der frühen Bundesrepublik zu verlassen und für eine Versöhnung mit einer modernisierten Gesellschaft, die Adenauers Schatten hinter sich lassen konnte. Zwischen diesen beiden Flügeln herrschte eine fundamentale Uneinigkeit. Als Repräsentant des liberalen Flügels hatte Helmut Kohl enorme Schwierigkeiten, die Nationalkonservativen in Schach zu halten. 1977 drohte Franz­ Josef Strauß unverhohlen mit einer bundesweiten Ausdehnung der CSU, und das hätte nichts anderes geheißen als eine Partei rechts von der CDU. Erst mit Strauß’ Niederlage als Kanzlerkandidat bei den Bundestagswahlen 1980 und mit dem Scheitern der sozialliberalen Koalition 1982 konnte Kohl sich als der unumstrittene Führer der Union etablieren. Die Christdemokratie, die sich während der achtziger Jahre entwickelte, war eine andere als noch fünfzehn Jahre zuvor. Der Nationalkonservatismus hatte nun weitgehend abgedankt, die Christdemokraten entdeckten neue Themen und entwickelten namentlich eine neue Sozialstaatspolitik, die unverkennbar von der Sozialdemokratie beeinflusst war und beanspruchte, diese zu modernisieren. Der Wiederaufstieg des Konservatismus während der Siebziger hatte eine wichtige Stütze in Organisationen und Initiativen, die gegründet worden waren, um die linke Dominanz zu brechen. Eine besonders wichtige war der »Bund Freiheit der Wissenschaft«, eine 1970 gegründete Professorenorganisation, die die akademische Freiheit gegen linke politische Korrektheit und die Politisierung der Universitäten verteidigen wollte.7 Unter seinen Mitgliedern fanden sich nicht nur ausgewiesene Konservative, sondern auch prominente Sozialdemokraten wie Richard Löwenthal und Thomas Nipperdey. Der Bund Freiheit der Wissenschaft driftete in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in ein ideologisches Fahrwasser ab, aber er diente als ein Reservoir für konservative Akademiker und Intellektuelle, die dem Satz »Der Geist steht links« entgegentreten wollten. Auch in der SPD meinten manche, dem linken Vormarsch müsse Paroli geboten werden. 1972 war unter der Ägide Willy Brandts der Radikalen­erlass eingeführt worden.8 Er reagierte auf Rudi Dutschkes Ankündigung eines »langen Marsches durch die Institutionen« von 1967, der verstanden wurde 7 Hierzu jetzt: Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der ›Bund Freiheit der Wissenschaft‹ in den siebziger Jahren, Göttingen 2014. 8 Gerhard Braunthal, Political Loyalty and Public Service in West Germany: The 1972 Decree Against Radicals and Its Consequences, Boston/MA 1990. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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als eine Politik, staatliche Administrationen, Schulen und Universitäten zu unterwandern. Der Radikalenerlass machte die Einstellung in den Staatsdienst abhängig von der Versicherung, dass die betreffende Person immer für die »Freiheitlich-Demokratische Grundordnung« einstehen werde. Dieser Begriff des Grundgesetzes, der 1952 vom Bundesverfassungsgericht präzisiert wurde, umschrieb das Bekenntnis zur liberalen Demokratie. Im Verwaltungsalltag wurde der Radikalenerlass dahingehend gehandhabt, dass man als Mitglied einer linksradikalen oder (seltener) rechtsradikalen Organisation nicht Beamter sein konnte. Wenn ein Polizist oder ein Briefträger angestellt werden sollte, gab es Routineanfragen beim Verfassungsschutz. Bis 1979, als diese Regelanfrage eingestellt wurden, wurden 3,5 Millionen in dieser Weise überprüft; 10 000 Kandidaten wurde die Einstellung verweigert, und 130 Beamte wurden aus dem Dienst entfernt. In Bayern dauerte die Regelanfrage bis 1991. Es gab schwere Auseinandersetzungen um dieses polemisch so genannte »Berufsverbot«, die auch international geführt wurden. Das Russell-Tribunal brandmarkte es 1978/79 als eine Verletzung der Menschenrechte, und in den neunziger Jahren erließ sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil, das die Einstellung eines abgelehnten Bewerbers verfügte. Kritiker verglichen den Erlass und seine Praxis mit der McCarthy-Ära in den USA der fünfziger Jahre, und es ist kein Zufall, dass das Wort »Berufsverbot« auch im Englischen bekannt ist. Die Entwicklung auf der Rechten ging der der Linken aber durchaus parallel. Auch hier zeigte sich zusehends ein radikaler Flügel. Er baute auf den aufsehenerregenden Wahlerfolgen der NPD in den späten sechziger Jahren auf; 1969 hatte die NPD nur knapp den Einzug in den Bundestag verpasst. Während der siebziger Jahre radikalisierte sich ein Teil des Spektrums. Militante, paramilitärische Organisationen wie die 1973 in Nürnberg gegründete Wehrsportgruppe Hoffmann oder die 1977 gegründete Aktionsfront Nationaler Sozialisten des Aktivisten Michael Kühnen wurden aktiv. 1980 kostet ein blutiges Attentat auf dem Münchener Oktoberfest 13 Tote und mehr als 200 Verletzte: eine der schlimmsten terroristischen Attacken der gesamten Bundesrepublik. Der Täter hatte Kontakte zur Wehrsportgruppe Hoffmann. Die Ängste, die sich daran entzündeten, wurden bestärkt durch wissenschaftliche Untersuchungen, die einem relevanten Teil  der Deutschen eine rechtsextreme Grundgesinnung attestierte: 13 Prozent der Befragten bejahten 1981 den Satz »Wir sollten wieder einen Führer haben«.9 9 5 Millionen Deutsche: »Wir sollten wieder einen Führer haben«. Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek 1981. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Man kann also links wie rechts einen Differenzierungsprozess ent­decken, der einen Radikalisierungsprozess auf den Flügeln mit sich brachte. An seinen Rändern wurde das politische Spektrum dicht bevölkert, während sich die Mitte anscheinend zunehmend leerte. Sie war jedoch keineswegs tot. Pragmatische Figuren wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl drängten genau in diese Mitte, und sie bereiteten das Feld für die hier später auftretende Übervölkerung. Aber die zeitgenössische Wahrnehmung war die eines Auseinanderdriftens des politischen Spektrums und einer zunehmenden Dominanz der Radikalen, sei es links oder rechts. Die Konstellation erinnerte an Weimar, und die Frage, ob die Bundesrepublik auf demselben abschüssigen Weg sei wie die erste deutsche Republik, beschäftigte Politiker und politische Kommentatoren gleichermaßen. Und in der Tat: es gab einige Parallelen zu entdecken. Politische Dispute wurden in fundamentale Konflikte übersetzt und machten auch die pragmatischsten Fragen zu Grundsatzfragen, die häufig an zentralen Begriffen ausgefochten wurden. Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 mit dem zentralen Satz »Wir wollen mehr Demokratie wagen« klingt wie eine programmatische Ankündigung. 1969 wurde er von vielen als Provokation verstanden, denn die Konservativen verstanden die Formulierung als eine Infragestellung ihrer politischen Lebensleistung. Die ganzen siebziger Jahre hindurch kann man eine intensive Diskussion verfolgen, was denn Demokratie eigentlich sei: War sie lediglich eine politische Organisationsform des Staates, die dem Erwachsenen pauschal politische Mündigkeit und Partizipation zugestand? Oder handelte es sich um eine gesellschaftliche Zielbeschreibung, ein Prinzip, das alle Bereiche der Gesellschaft umfassen sollte, die deshalb kontinuierlich »demokratisiert« werden musste? Diese Semantik der Demokratie als eines Lern- und Umgestaltungsprozesses machte konservative Pferde scheu. »Demokratie« war in den Siebzigern mithin ein Konfliktbegriff. Links und Rechts beschrieben einander als antioder undemokratisch. Die Jungsozialisten bezeichneten konservative Politiker wie Strauß oder Dregger als zumindest autoritär und antidemokratisch, wenn nicht gar als Faschisten. Die SPD wurde umgekehrt angeklagt, zu nachsichtig gegenüber Kommunisten zu sein und damit die Demokratie zu untergraben. Dass gleichzeitig Bundeskanzler Helmut Schmidt eine ausgesprochen pragmatische Politik trieb und der Ansicht war, »wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, rückte zeitgenössisch häufig in den Hintergrund. Was die Realität der politischen Strategien und Entscheidungen angeht, sind die Kontinuitäten zwischen den sechziger und den achtziger Jahren nicht zu übersehen. Die zeitgenössische Wahrnehmung war indes eine andere. Die fundamen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tale, aus 1968 rührende Politisierung ging mit einer enormen Polarisierung zwischen links und rechts einher, die wenig Raum für Kompromisse ließ.

Konfliktfelder Das führte zu einer Verschärfung der Auseinandersetzung, selbst in Feldern, wo es Raum für Kompromisse gab. Das am heißesten debattierte Thema war die politische Öffnung gegenüber dem Osten, kurz – und in relativ großer semantischer Einigkeit – als »Ostpolitik« bezeichnet. Hier gab es ursprünglich durchaus Affinitäten. Auch Konservative hatten sich seit den großen Krisen des Kalten Kriegs Anfang der sechziger Jahre zusehends der Vorstellung geöffnet, dass Verhandlungen mit dem Ostblock notwendig sein würden. Willy Brandt jedoch gelang es, das Thema zu besetzen, es mit visionären Hoffnungen auszustatten und es an seine Person und die Sozialdemokratie zu binden. Die Moderaten in der Union hatten es in dieser Konstellation schwer, gegen die Nationalkonservativen um Strauß und Außenminister Gerhard ­Schröder eine Aussöhnungspolitik zu vertreten. Deren Angst war, dass Entspannungspolitik mit einem Verzicht auf die »deutschen Ostgebiete« verbunden sein werde, mit der diplomatischen Anerkennung der DDR und schlussendlich mit einem Verzicht auf die deutsche Wiedervereinigung enden werde – obwohl die CDU schon seit Jahren keine beobachtbaren Neigungen gezeigt hatte, dieses Ziel engagiert zu verfolgen. Viele der starken Worte, die in diesen Auseinandersetzungen benutzt wurden, erinnerten an Weimar. Der Vorwurf der »Verzichtspolitik« war ebenso dem Weimarer Sprachschatz entnommen wie der des »Verrats«. In den Bundestagswahlen von 1972 stand die Ostpolitik im Zentrum des Wahlkampfs. Obwohl Meinungsumfragen zeigten, dass ungefähr 80 Prozent der deutschen Bürger Verhandlungen mit dem Osten befürworteten, stand die Union stramm dagegen, und sie blieb bei ihrer Position auch nach der dramatisch verlorenen Wahl und obwohl sich eine zunehmende internationale Akzeptanz für die Ostpolitik zeigte. Noch 1980 griff Franz Josef Strauß die Entspannungspolitik frontal an. Es mag als ein Hinweis auf den Grad an Polarisierung dienen, dass nicht einmal eindeutige demoskopische Ergebnisse die Unionspolitiker daran hindern konnten, eine Politik zu vertreten, die sich vor allem aus der Opposition zum Kontrahenten legitimierte. Doch nur kurze Zeit später entbrannten Auseinandersetzungen zum selben Politikfeld auf der anderen Seite des politischen Spektrums. 1977 hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt vorgeschlagen, die russische Aufrüstung mit © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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einer sogenannten Nachrüstung zu beantworten, verbunden mit dem Angebot, in Abrüstungsverhandlungen einzutreten.10 Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 brachte Schmidt in schwere Konflikte mit seiner eigenen Partei und führte zum Aufstieg der Friedensbewegung, die in den frühen achtziger Jahren zur größten Volksbewegung der gesamten Bundesrepublik wuchs, mit heute legendären Demonstrationen, die Hunderttausende von Teilnehmern mobilisierten. Die Friedensbewegung forderte einseitige Abrüstung durch den Westen und umfasste von der SPD-Linken über die Kirchen, Verbände und Gewerkschaften bis hin zur DKP ein breites Bündnis links von Schmidt. Diese weithin außerparlamentarische große Koalition war ein Grund für das Scheitern der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982. Ironischerweise gewann Helmut Kohl die Wahlen im März 1983 auch mit dem Versprechen, die Außenpolitik Schmidts getreulich fortzusetzen. Die mit Verteidigungspolitik und der Frage nach der Westorientierung eng verbundene Ostpolitik war nur eines von mehreren Feldern, in denen der politische Konflikt quer durch die Gesellschaft lief, Parteien zersplitterte und eine klare Links/Rechts-Codierung aufwies. Nicht nur in den Sphären der hohen Politik gab es solche Konflikte; auch auf sehr viel lebensweltlicherem Niveau wurden die Kämpfe mit der gleichen polarisierenden Verve bestritten. Viele der Themen dienen heute dazu, die These von der Liberalisierung der Bundesrepublik zu untermauern. Es sei aber daran erinnert, dass der Ausgang meistens keineswegs klar war und oft auch sehr knapp war. Zwei Beispiele mögen genügen: a. Kriegsdienstverweigerung. Das Grundgesetz gestand in Art. 4,3 die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen zu. Das Motiv dafür, die Erfahrung des nationalsozialistischen Kriegs, geriet aber in den fünfziger Jahren schnell ins Hintertreffen gegenüber der kommunistischen Bedrohung. Adenauer wollte dieses Grundrecht auf seltene Ausnahmen beschränkt sehen. Mit der Einführung der Wehrpflicht 1956 wurde auch das Verfahren eingeführt, die Gewissensentscheidung der Antragsteller zu prüfen und gegebenenfalls nicht anzuerkennen. Ein Ersatzdienst musste abgeleistet werden, meist in sozialen Institutionen oder Krankenhäusern.11 In den fünfziger Jahren waren Kriegsdienstverweigerer als »Drückeberger« und Feiglinge denunziert. Bis 1967 handelte es sich um ein marginales Phänomen. Doch im Zuge der Studentenbewegung stiegen die Zahlen rapide 10 Sehr ausgewogen hierzu: Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik 1982–1990, München 2006, S. 79–106. 11 Vgl. Patrick Bernard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982, München 2005. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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an, von 6000 auf 28 000 im Jahr 1971. Postwendend sprachen Konservative vom »Missbrauch« des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Die nun formalisierte »Gewissensprüfung« führte bei 70 Prozent der Kandidaten zur Ablehnung. Diese prohibitive Handhabung eines Grundrechts traf indes von Anfang an auf Proteste, die ähnlich polarisierten wie Felder der »großen Politik«. Der semantische Streit erstreckte sich bis weit ins Alltagsleben. Es war ein Bekenntnis, ob man von »Wehrdienstverweigerung« oder von »Kriegsdienstverweigerung« sprach. Der letztere Begriff  – er ist auch derjenige, den das Grundgesetz verwendet  – sagte nichts anderes, als dass alles Militär letztlich dem Krieg diene, dass man also auch im Frieden Kriegsdienst leiste. Er wurde vor allem von denjenigen benutzt, die die Gewissensprüfung bekämpften, während »Wehrdienstverweigerung« der Begriff für diejenigen war, die auch gern von »Drückebergern« sprachen und hier ein rares Aus­ nahmerecht sahen. Eine ähnliche semantische, politisch klar zuordenbare Differenz bestand zwischen »Zivildienst« und »Ersatzdienst«. Letzteres setzte den Dienst im Militär als die Normalität, den Zivildienst als eine bloße Kompensation. »Zivildienst« – der Begriff, der sich mit der Zeit durchsetzte – trug dagegen die Aura der Zivilgesellschaft und der Bürgerrechte. Seit 1974 hatten die Sozialdemokraten darauf hingearbeitet, die Gewissensprüfung abzuschaffen und sie durch eine einfache Mitteilung durch den Antragsteller zu ersetzen. Diese »Verweigerung per Postkarte« erregte den erbitterten Widerstand der Union, und sie rief nach der Verabschiedung des Gesetzes 1977 das Bundesverfassungsgericht an, das diese Regelung für verfassungswidrig erklärte. Es dauerte bis 1983 (nun unter der Ägide eines CDU-Kanzlers), bis die Verweigerung aus Gewissensgründen in einen Kompromiss mündete. Nun ersetzte ein schriftliches Motivationsschreiben die mündliche Gewissensprüfung vor einem Prüfungsausschuss. Der Preis dafür war freilich eine Verlängerung der Zivildienstdauer um drei Monate auf nunmehr 20 Monate. Denn, so das Argument der Verfechter, der Wille, auch Nachteile in Kauf zu nehmen, könne als ein Hinweis auf echte Gewissengründe zu werten sein. Auch hier näherten sich die Christdemokraten einer sozialdemokratischen Idee an, sobald sie selber an der Macht waren. Nur am Rande sei notiert, dass es 1997 150 000 Kriegsdienstverweigerer im nunmehr wiedervereinigten Deutschland gab. Nun ging die Sorge eher dahin, ihre Zahl könne abnehmen, denn in Krankenhäusern, Altersheimen und beim Roten Kreuz waren sie nun unverzichtbar für die Aufrechterhaltung des Betriebs. Das Bild des Drückebergers hatte sich fundamental verändert, hin zu einer notwendigen Einrichtung für das Funktionieren des Sozialstaates, und nicht zuletzt als eine wichtige Institution des Erwachsen© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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werdens für die jungen Männer. Nun bedeutete Zivildienst: Übernahme von Verantwortung. b. Eine sehr ähnliche Geschichte ist zu erzählen über das zweite Beispiel: die Abtreibung. 1953 wurde nach langem Kampf die Todesstrafe für Abtreibung endlich abgeschafft. Seit den sechziger Jahren hatte die Frauenbewegung die Liberalisierung des immer noch ziemlich drakonischen Abtreibungsrechts auf ihre Fahnen geschrieben. Der »Stern« kopierte eine französische Kampagne, als er 1971 in einer von Alice Schwarzer angestoßenen Aktion 374 Frauen bekennen ließ: »Ich habe abgetrieben«.12 Sie verlangten eine Änderung des Strafgesetzparagraphen 218, der Abtreibung ohne Ausnahme mit Strafe bedrohte. Diese Kampagne zettelte eine intensive und langandauernde Debatte an.13 Ein sozialdemokratisches Gesetz, das die Abtreibung bis zum vollendeten dritten Monat legalisierte, wurde vom Bundesverfassungsgericht wieder kassiert, begleitet von wütenden Protesten der Konservativen und der Kirchen. 1976, als die christdemokratisch regierten Länder den Entscheidungsprozess dominierten, setzten sie die sogenannte Indikationslösung durch: Unter bestimmten Umständen wie gesundheitlichen Gründen, Vergewaltigung oder sozialen Gründen war eine Abtreibung nun möglich, abhängig von einer verpflichtenden Beratung und der Freigabe durch einen Arzt. Die Letztentscheidung lag nicht bei der Frau, sondern beim Arzt. So sehr sie auch angefochten wurde: die Indikationslösung war fast zwanzig Jahre in Kraft und wurde erst durch die Verwerfungen der Wiedervereinigung abgeschafft. Denn in der DDR hatte ein ungleich liberaleres Abtreibungsrecht geherrscht, und das entfaltete in der wiedervereinigten Bundesrepublik einige Dynamik. Seit 1995 gilt Abtreibung nicht als legal, aber sie bleibt straffrei, so lange sie vor dem Ende der zwölften Woche und nach einer Beratung mit einer autorisierten Institution wie Pro Familia oder einem Arzt vonstatten geht. Aber die Entscheidung liegt nun bei der Frau. Trotz einer nach wie vor regen Diskussion scheint es, als ob auf diese Weise nun ein weithin akzeptierter Konsens erreicht sei, und wieder war der Liberalisierungsschritt von einer christdemokratischen Regierung durchgeführt. Beiden, Kriegsdienstverweigerung wie Abtreibung ist gemeinsam, dass die Auseinandersetzungen lange hin und her wogten, dass neue gesetzliche Regelungen, die in Abhängigkeit von aktuellen politischen Machtkonstellationen eingeführt wurden, nicht lange Bestand hatten, und dass eine starke Aufladung mit der Links/Rechts-Codierung, Fortschritt und Rückschritt die 12 STERN, 6. Juni 1971: 374 Frauen bekennen: Ich habe abgetrieben. 13 Vgl. Jürgen Gerhards u. a., Zwischen Palaver und Diskurs. Strukturen öffentlicher Meinungsbildung am Beispiel der deutschen Diskussion zur Abtreibung, Opladen 1998. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Debatten bestimmte. Viel Raum für Kompromiss bestand in dieser Konstellation nicht. Eine Folge dieser geringen Manövrierfähigkeit des politischen Systems war die zunehmende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als Schiedsrichter. Dieter Grimm, von 1987 bis 1999 selber Verfassungsrichter, klagte Anfang der achtziger Jahre, dass dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zugewiesen werde, politische Konflikte zu beenden, die von den politischen Akteuren selber nicht zu einem Kompromiss geführt werden könnten.14 Andere Felder könnten mühelos genannt werden: die Schulpolitik, wo die Wellen zwischen den Anhängern eines integrierten (etwa Gesamtschul-) und eines gegliederten Schulsystems im Grunde bis heute hoch schlagen. Die Frage der Ausgestaltung der Universitäten mit der zentralen Frage nach ihrer »Demokratisierung«, die »1968« so sehr bestimmt hatte, kam erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zur Ruhe. Das Scheidungsrecht war zwischen den Anhängern eines Schuld- und eines Zerrüttungsprinzips ähnlich umkämpft. Ebenso war es die Frage, wie weit der Staat in das Erziehungsrecht der Familien eingreifen, inwieweit er eine innerfamiliäre Arbeitsteilung fördern sollte  – etwa dadurch, dass er es finanziell förderte, wenn Frauen für die Erziehung der Kinder zu Hause blieben: dies ist heute noch umstritten. »Familie« wurde in diesen Debatten zu einem Signalwort der Konserva­ tiven; »Selbstbestimmung« oder »Emanzipation« waren Worte, die nach links wiesen. Diese auch semantisch sehr klar vollziehbare, durchgehende Klassifizierung von Rechts und Links, Konservativ und Progressiv ist auffällig. Es ist schwer, Felder zu finden, in denen diese klare Polarisierung nicht herrschte. Eines ist die Sozialpolitik.15 In den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik war die Sicherung gegen Lebensrisiken, seien es Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alter, kontinuierlich ausgebaut worden. Bei allem durchaus vorhandenen Dissens im Einzelnen wurde diese Grundlinie auch die siebziger Jahre hindurch durchgehalten. Edgar Wolfrum sprach von einer »sich gegenseitig überbietenden Konsenspolitik«16. Trotz wirtschaftlicher Probleme war der deutsche Sozialstaat alles andere als eine schrumpfende Größe. Exponenten eines Sozialstaats auf hohem Niveau finden sich auf allen Seiten des poli14 Dieter Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Bildung 17 (1984), S. 35–42. 15 Vgl. Winfried Süß, Der Keynesianische Traum und sein langes Ende. Sozioökonomischer Wandel und Sozialpolitik in den siebziger Jahren, in: Jarausch, Ende der Zuversicht, S. 120–137. 16 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 318. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tischen Spektrums. Linke Sozialstaatstheoretiker wie Claus Offe, der Ende der sechziger Jahre konstatiert hatte, dass soziale Ungleichheit nicht mehr länger eine Klassenfrage sei, teilten theoretische Überzeugungen mit konservativen Vordenkern wie Heiner Geissler, der auf der Basis ähnlicher Überlegungen wenige Jahre später neue benachteiligte Gruppen ausmachte: Alleinerziehende Mütter und alte Leute vor allem, denen die Lobbymacht der Arbeiterschaft fehlte.17 Neoliberale Konzepte, wie sie in den USA und Großbritannien florierten und hier den Sozialstaat in die Bredouille brachten, fanden in der Bundesrepublik nur rhetorische Aufnahme. Zusammengefasst kann konstatiert werden, dass wichtige Parameter des politischen und gesellschaftlichen Systems von den meisten keineswegs in Frage gestellt waren. Was aber heiß debattiert wurde, waren Werte, Lebensstile, die Demokratie im Alltag.

Konfliktrituale im Wahlkampf Die Konfliktkultur der siebziger Jahre lässt sich sehr schön in Wahlkampagnen studieren. Meist werden Wahlkämpfe lediglich als Vorlauf des Wahl­ ergebnisses studiert, und häufig wird der Erfolg oder Misserfolg bei den Wahlen auf den Wahlkampf zurückgeführt. Aber Wahlkämpfe sind weit mehr als das. Sie sind eine Phase dichter Kommunikation zwischen Politikern, Medien und Bürgern darüber, was wirklich wichtig ist in einer Gesellschaft und wie dies erreicht werden soll. Häufig sind Wahlkämpfe auch Ausdruck des Grades an politischer Einigkeit: Sie sind dann langweilig, wenn es nicht viel zu streiten gibt, und dann ist meist auch die Wahlbeteiligung niedrig. Wenn der Streit groß ist, dann sind häufig auch die Wahlkämpfe spannend, weil es um etwas geht.18 Dies war in den siebziger Jahren der Fall. Seit 1968 hatte die Gesellschaft sich gründlich politisiert. Die Bürger wollten informiert werden und diskutieren – und nicht nur das. Die Siebziger sind voll der Klagen über »Auswüchse«, über Tumulte, Störungen, abgerissene Plakate oder sogar Angriffe auf Kandidaten. Sie waren auch eine Zeit des hart zulangenden negative­ 17 Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme, in: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt 1972, S. 135–165; Heiner Geissler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976. 18 Zum Folgenden Thomas Mergel, Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik, Göttingen 2010. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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campaigning – obwohl die Demoskopen herausgefunden hatten, dass solche Strategien, den Gegner schlecht zu machen, in Deutschland ausgesprochen unpopulär waren. Herbert Wehner hatte 1969 den bisher »politischsten Wahlkampf« in der Geschichte der Bundesrepublik angekündigt. Dass Versammlungen gestört und Kandidaten angegriffen wurden, auch, dass die politische Gewalt neue Dimensionen erreichte: das hatte Wehner wohl nicht gemeint. 316 Personen, darunter 192 Polizisten wurden verletzt, und am 17.  September wurden bei einer Versammlung des NPD-Führers Adolf von Thadden zwei Gegendemonstranten von Schüssen getroffen. 1972 war die politische Gewalt noch ausgeprägter, und manche erwarteten sogar Tote. Dazu kam es nicht. Aber auch jetzt wurde ein sozialdemokratischer Wahlkampfhelfer von einer Gewehrkugel getroffen. Das war insofern eine Ausnahme, als die meisten Angriffe sich während der siebziger Jahre vor allem gegen die nationalkonservativen Kandidaten der CDU und der CSU richteten. Viel von der Bitterkeit in diesen Auseinandersetzungen verdankte sich der konstanten Erinnerung an das Scheitern Weimars. Parallelen zwischen diesen beiden Demokratien wurden gezogen, und es gab wenig Vorbehalte gegenüber schlechtem Geschmack. »Was haben der Reichstag und der Bundestag gemeinsam?« fragte ein Flugblatt der Bielefelder CDU 1972. Die Antwort war: »Beide sind durch Brand kaputtgegangen«  – gemeint war natürlich Willy Brandt.19 Die NS-Vergangenheit wurde als ein wichtiges Argument verwendet, wenn es darum ging, ob ein Kandidat wählbar sei oder nicht. Als 1969 Bundeskanzler Kiesinger sich über Kritik in den Medien beklagte und sie in seit langem bekannter Diktion die »zersetzende Presse« nannte, fragte Finanzminister Karl Schiller öffentlich, welche Zeit in Kiesingers Karriere möglicherweise für diese schlechten Beziehungen zur Presse verantwortlich sei. Jeder wusste, dass Schiller auf den Umstand anspielte, dass Kiesingers Karriere in Goebbels’ Propagandaministerium begonnen hatte. Vor allem Franz Josef Strauß musste sich der Vorwürfe und Anklagen erwehren, er sei lediglich ein als Demokrat verkleideter Nazi. Umgekehrt beschrieb dieser sich selber als einen, der den Zerstörern der Demokratie von links Widerstand entgegensetzte. Und er hatte keine Angst vor großen Schuhen. »Soll ich den Weg Friedrich Eberts gehen?« fragte er einen Interviewer, der wissen wollte, ob er sich nicht gerichtlich gegen die Diffamierungen wehren wolle.20 In seinen Augen waren die linken Gegendemonstranten die 19 Zit. nach: »Die Union propagiert die Finsternis«, in: Der Spiegel 45/1972, 30.10.1972, S. 31. 20 Johannes Hampel, Wahlkampf total, in: Politische Studien 253 (1980), S. 474. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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eigentlichen Faschisten, und mehr als einmal verglich er Störer seiner Veranstaltungen mit der SA. Die Politisierung führte jedoch nicht allein zu herabsetzenden histo­ rischen Vergleichen. Sie intensivierte auch die politische Debatte. Mit dem Ende der sechziger Jahre wurde es als Neuheit zur Kenntnis genommen, dass die Bürger nicht mehr einfach nur passive Teilnehmer an Wahlkampfveranstaltungen sein, sondern dass sie selber mitdiskutieren wollten. Viele von ihnen erwiesen sich als wohlinformiert und konnten den professionellen Politikern durchaus Paroli bieten. Es dauerte seine Zeit zu lernen, dass dies eine demokratische Tugend und keine Unbotmäßigkeit war. Im Lichte des Umstands, dass radikale Organisationen mittlerweile trainierte Redner in Veranstaltungen schickten, um diese zu Tode zu debattieren, war die Unterscheidung allerdings schwierig. In einem politischen Diskurs, in dem politische Semantiken hochgradig signifiziert waren, wurde das Sprechen zu einem zentralen Mittel der politischen Kommunikation – zu ebender Zeit, da das Fernsehen zum dominanten Leitmedium wurde und die Wahlkämpfer die Zukunft der politischen Kommunikation hier sahen. Wie Demoskopen 1972 herausfanden, war »Demokratie« inzwischen zu einem »linken« Wort geworden. Auch klassische konservative Schlüsselwörter wie »Sicherheit« waren von der SPD monopolisiert worden, nicht nur durch die Ostpolitik, sondern auch in der Kombination »soziale Sicherheit«. Im Konservatismus begann man zu registrieren, dass das Feld der Sprache ein wichtiges Kampffeld war, und als Folge organisierte der CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf eine Gruppe, die eine neue, schlagkräftige Sprachpolitik entwickeln sollte. Diese »Semantikgruppe« machte sich nun daran, der Linken die Sprache wieder abzujagen.21 Auf diese Weise entstand der berühmte und hart umstrittene Slogan »Freiheit oder Sozialismus«, der Schlachtruf der Wahlen von 1976 und teils auch noch 1980. Demoskopen hatten herausgefunden, dass anti­ sozialistische Gefühle bei den Bürgern sehr viel tiefer saßen als die Sympathie für Willy Brandt einen glauben machen konnte. Antisozialismus war weitaus populärer als beispielsweise die Wiedervereinigung. Der Slogan verlangte nach negative campaigning und Polarisierung, vor allem auch deshalb, weil »Sozialismus« auf der Linken längst positiv konnotiert war. Die Opposition zu »Freiheit« erregte auch Sozialdemokraten in höchstem Maß. Kanzlerkandidat Helmut Kohl war jedoch alles andere als begeistert von dem Slogan, weil nach seiner Überzeugung das eigentliche Wählerreservoir 21 Martin H. Geyer, War over Words: The Search for a Public Language in West Germany, in: Willibald Steinmetz (Hg.), Political Languages in the Age of Extremes, London 2011, S. 293–330. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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in der Mitte lag. Nationalkonservative Politiker wie Franz-Josef Strauß aber unterstützten eine Kampagne, die ausgerechnet dem pragmatischen Kanzler Helmut Schmidt vorwarf, die Bundesrepublik in die Arme der Sowjets zu treiben. Demgemäß sorgte Kohl dafür, dass »Freiheit oder Sozialismus« nicht im Zusammenhang mit seinem Namen und Gesicht auftauchte. Er nahm damit eine Strategie vorweg, die in der Mitte der siebziger Jahre noch nicht leicht Überzeugungskraft erlangen konnte, die aber danach zum Standard wurde. Die Schärfe der Auseinandersetzungen in den siebziger Jahren wurde zeitgenössisch bitter beklagt. Sie wurde als ein Mangel an politischer Kultur, gar als eine Bedrohung der Demokratie angesehen  – der Verweis auf Weimar diente als Chiffre dafür. Man kann es jedoch auch von der anderen Seite sehen: Mehr Konflikt und Streit – war das nicht die Kehrseite von Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen«? Die Schärfe der Konflikte war doch auch eine Konsequenz der politischen Mobilisierung der Gesellschaft! Politisierte Bürger besuchten Wahlveranstaltungen in großer Zahl und beteiligten sich engagiert. Sie strömten aber auch in großer Zahl in die Parteien, ebenso wie in die Gewerkschaften; die Wahlbeteiligung erreichte nie gekannte Höhen von über 90 Prozent. Die Bürger scherten sich also um Politik und wollten selber Politik machen. Demokratisierung hatte die Polarisierung als einen Nebeneffekt.

Neue Konfliktcodes in den achtziger Jahren Es ist frappierend, wie plötzlich sich die Konfliktkultur um 1983 herum änderte. Der Wahlkampf 1980 war einer der härtesten in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen. Die Auseinandersetzung um die Wirtschafts­ politik und die Nachrüstung hatten tiefe Wunden in die deutsche Gesellschaft geschlagen. 1982 scheiterte die sozialliberale Koalition. Tiefgreifende Entscheidungen standen jetzt an, für die sich der neue Kanzler Helmut Kohl mit einer verfassungsrechtlich umstrittenen Neuwahl die Legitimation besorgen wollte: die Nachrüstung, die Reform des Wohlfahrtsstaates und der staatlichen Finanzierung. Es gab gute Gründe zu erwarten, dass der Wahlkampf hart werden würde. Dass er dann zu einem der friedlichsten in der Geschichte der Bundesrepublik werden würde, lag sicher auch am beklagenswerten Zustand der SPD; dass er nur der Auftakt war zu einer neuen Epoche der politischen Kommunikation, die mit manchmal geradezu ängstlicher Besorgnis auf Polarisierung verzichtete, hatte mit der SPD jedoch nichts zu tun. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Seit 1983 sind die Wahlkämpfe in der Bundesrepublik zu Veranstaltungen geworden, die viel eher Übungen in Sachen »gute Demokratie« sind, die immer wieder selber an Sachlichkeit appellieren und in denen die leisen Töne vorherrschen  – dies fällt besonders auf, wenn man in die Nachbarländer sieht, und es fällt auch den Nachbarn auf. Ein wichtiger Grund dafür lag, so die Vermutung, im Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen, die die Parteien von außen unter Druck setzten und zum Zusammenrücken bewegten. Sie brachten neue Themen auf, die sich dem Links/Rechts-Code nicht einfach fügten.22 War Ökologie »links«? Frauenrechte, Frieden, Menschenrechte? Waren die langsam beginnenden Bürgerbewegungen im Ostblock »rechts«? Die Neuen Sozialen Bewegungen kritisierten nicht primär von links oder rechts, sondern von außen. Politiker und Journalisten sprachen über »Politikverdrossenheit«, aber das war der falsche Begriff. Denn diese Bewegungen waren ganz und gar nicht an der Politik verdrossen; vielmehr war es eine bestimmte Politikkonzeption, die sie kritisierten: die auf große Organisationen und Steuerung ausgerichteten, fortschrittsgewissen und technokratischen Konzepte, die, so die Kritik, Menschen wie Mäuse behandelten und Feindkonstellationen ritualisierte. Politische Eliten hatten sich in eine politische Klasse verändert und konnten nicht mehr als Repräsentanten der Bürger angesehen werden. Sie führten ihre eigenen rituellen Kämpfe und hatten oftmals die Probleme, die sie zu lösen vorgaben, selber produziert: so die Kritik, und naheliegenderweise formte sich die junge Partei der Grünen als eine Antiparteien-Partei. Politik, wie sie in den Neuen Sozialen Bewegungen verstanden wurde, folgte einer anderen Logik. Nun spielte die Sorge um die Zukunft, spielten postmaterielle Werte eine wichtigere Rolle. Das Subjekt (»Politik in der ersten Person«), die Bedeutung verschiedener Lebensformen und der Selbstbestimmung, die Rechte von Frauen und Kindern standen nun im Fokus. Insofern transzendierten diese Bewegungen das alte Links/Rechts-Schema. Manche dieser Bewegungen waren nicht neu. Viele von ihnen waren als ein integraler Teil der Linken gewachsen. Die Frauenbewegung ebenso wie die Anti-AKW-Bewegung hatte schon in den frühen Siebzigern oder sogar früher begonnen. Jedoch änderten diese Bewegungen ihren politischen Schwerpunkt mit der Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie Leute aus dem konservativen Spektrum anzogen. Auch konservative Frauen wollten sich nicht mehr gängeln lassen und ihren Töchtern gleiche Berufschancen sichern. Bayerische Bauern hatten gute Gründe, eine ökologische Landwirtschaft zu 22 Vgl. hierzu die nachdenklichen Überlegungen auf Seiten der sogenannten Ökolibertären: Lothar Baier u. a., Die Linke neu denken. Acht Lockerungen, Berlin 1984. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fordern, und viele trauten der Großindustrie-Strategie der CSU wenig. Diese Bewegungen waren auch nicht einfach Jugendbewegungen, wie eine verbreitete Rezeption sie vor allem am Anfang der achtziger Jahre sehen (und damit stillstellen) wollte. Eine parlamentarische Enquetekommission beschäftigte sich mit »Jugendprotest im demokratischen Staat«. Die Friedens- oder die Ökobewegung waren indes eben keine Ansammlung von Halbstarken. Aber: die Jugend wurde immer mehr als ein Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen wahrgenommen, und insofern war die Beobachtung als »Jugendbewegung« auch eine Metapher für deren Zukunftsfähigkeit.23 Auch die symbolische Seite der Neuen Sozialen Bewegungen scherte aus den überkommenen Mustern aus. Vor allem die Körperlichkeit ihres politischen Handelns hatte auf den ersten Blick eine antidiskursive und antirationale Dimension: Lichter- und Menschenketten, Nachtwachen, die Besetzung von Plätzen und Gebäuden, Blockaden von Kasernen. Manche Beobachter deuteten dies als eine Art von Gewalt, aber deren Formen änderten sich eben dramatisch. Die »kalte« Gewalt der RAF und der linksradikalen Kaderorganisationen trat in den Hintergrund, und statt dessen rückte bei den radikalen Bewegungen, vor allem den Autonomen, eine Form der körpernahen Gewalt in den Mittelpunkt. Massenmilitanz war ein wichtiges Stichwort. Steine werfen, vielleicht Molotow-Cocktails, Kettenbildung bei Demonstrationen (um weniger leicht auseinandergerissen zu werden), das Einreißen von Bauzäunen (um deutlich zu machen, dass die umstrittenen Bauten nicht leicht geschützt werden könnten): solche Aktionsformen hatten immer auch eine hochsymbolische Seite, die den eigenen Körper ins Spiel brachte. Diese körperliche Gewalt wurde häufig auch als anti-technologisch verstanden. Keine technischen Waffen, sondern Steine: das setzte auch einen Kontrapunkt zur immer hochgerüsteteren Polizei, die mit gepanzerten Wagen, Wasserkanonen, Tränengas und einer immer ausgefeilteren Computertechnologie daherkam. Strommasten mit der Hand abzusägen, das bedeutete auch: wie Bonifatius die heiligen Eichen eines sündhaften Technologieglaubens fällen. In diesen körperlichen und symbolreichen direkten Aktionsformen war die Form Teil der Botschaft. In den Augen dieser Bewegungen war die einzige politische Option eine fundamentale: draußen bleiben. Und auch wenn viele Ziele und Handlungsformen der Neuen Sozialen Bewegungen dem »normalen Bürger« nicht vermittelbar waren: die Kritik der politischen Klasse war es. Ein tiefes Misstrauen gegenüber etablierten Parteien und Politikern breitete sich aus, und 23 Vgl. Deutsches Jugendinstitut (Hg.), Die neue Jugenddebatte. Was gespielt wird und um was es geht: Schauplätze und Hintergründe, Weinheim 1982. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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bald zeigten sich die Konsequenzen: Ihr Wahlerfolg sank deutlich ab. Hatten 1982 noch mehr als 99 Prozent der Wähler für die drei Parteien Union, SPD und FDP gestimmt, so waren es acht Jahre später nur mehr 90 Prozent – und 2009 nur mehr 71. Und das bei dramatisch sinkender Wahlbeteiligung. Von ihrem Spitzenwert (1972), als 91 Prozent der Bürger zur Wahl gingen, sank sie innerhalb weniger Wahlen auf 78 Prozent (1990) und hat sich seither nicht mehr erholt. Dieser Druck von außen stimulierte ein Zusammenrücken der alten Eliten und der etablierten Strukturen. Unter dem Slogan der »Gemeinsamkeit der Demokraten« wurde das herkömmliche System gegenüber diesen neuen Bewegungen verteidigt. Nun wurde der Kulturkampf mit Grünen, Hausbesetzern, Anti-AKW-Aktivisten, Postmaterialisten und Politikverdrossenen geführt. Die »langen siebziger Jahre« zwischen etwa 1967 und 1983 lassen sich mithin beschreiben als eine Zeit des Streits, in denen um die Perspektiven einer Gesellschaft gekämpft wurde, die sich soeben ihrer Zukunft unsicher wurde. Das zentrale Gefühl der siebziger Jahre war, in einer Epoche der harten Auseinandersetzungen zu leben, in der alles in ein klar dichotomisches Korsett gezwängt wurde. Der zeitgenössische, hochgestimmte Ton der Reformbegeisterung ist nur die eine, oft beschworene Seite der Siebziger. Die andere, häufig übersehene sind die massiven Ängste, die sich auf konservativer Seite aufstauten. Dass aber viele der Entscheidungen, die wir heute als Beilegung von Konflikten lesen, von konservativen Regierungen getroffen wurden, verweist wiederum auf Handlungsoptionen der westdeutschen political society, die zeitgenössisch kaum gesehen wurden.

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Spurensicherung und das Jahr 1979 Über Kunst und Wissenschaft1

Denken wir heute über »Kunst und Wissenschaft« nach, dann meist in Bezug auf Veranstaltungsreihen, Artikelserien in Feuilletons und Themenhefte namhafter Zeitschriften. Die Begriffszusammenstellung ist selbstverständlich geworden und vereint, was ehedem getrennt betrachtet wurde. Ein Blick auf die materielle Kultur in Kunst und Wissenschaft, in die Arbeitsweisen und Praktiken von Wissenschaftlern und Künstlern und die Übernahme von zentralen Themen der jeweils anderen Seite haben deutlich gemacht, wie sehr die ›kalte objektive Wissenschaft‹ und die ›warme gefühlsbetonte Kunst‹ als Klischees gelten können, die zwar aus einer maßgebenden Epoche der Wissenschafts- und Kunstentwicklung stammen, heute jedoch als überholt erachtet werden. Den Weg zu einer wechselseitigen Betrachtung haben zentrale theoretische Schriften geebnet, wie sie in den achtziger und neunziger Jahren beispielsweise in der Wissenschaftsgeschichte erschienen, oder die Aufnahme naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen durch Künstler.2 Die Geschichte dieser Konjunktur eines Themas bleibt zu schreiben. Klar ist jedoch, dass dabei Ausstellungen eine zentrale Rolle spielten. Dies gilt umso mehr, wenn die Ausstellungen auch einen bestimmten Begriff transportierten und ihn durch die Präsentation und die gezeigten Objekte geschärft, dingfest­ gemacht und vereindeutigt haben. Ein solcher Begriff, der das große Feld von Kunst und Wissenschaft gleichermaßen bereitet und bereichert hat, ist die »Spurensicherung«. Anhand einer Ausstellung, die 1979 in Köln stattfand, möchte ich die »Spurensicherung« mithilfe ausgewählter Objekte beschreiben, um im Anschluss daran den wissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Kontext zu verdeutlichen. Wenn – wie Sybille Krämer beschreibt – die

1 Dieser Aufsatz beruht auf einem früheren Text, der in Teilen überarbeitet wurde; vgl. Anke te Heesen, Die Entdeckung des Exponats, in: Dies./Susanne Padberg (Hg.), Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, Ostfildern 2011, S. 136–163. 2 Etwa Bruno Latour, Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through­ Society, Cambridge/Mass. 1987 oder der Künstler Marc Dion und seine Projekte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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zentrale Einsicht der Moderne darin besteht, dass wir keinen zeichenfreien und interpretationsunabhängigen Zugang zur Welt und Wirklichkeit haben, dann ist die Spur so etwas wie eine unmittelbare Erfahrung dieses Interpretationsvorgangs.3 Denn die Spur  – so könnte man verdeutlichend zusam­ men­fassen  – erlaubt das Abwesende sinnlich wahrzunehmen und einen direkten körperlichen Bezug herzustellen. Die Vorstellung von der »Spurensicherung« stellte in den siebziger Jahren eine Verbindung zwischen Bildender Kunst und Geschichtswissenschaft her, ist mithin Teil  einer Wissens­ geschichte, die es im Folgenden darzustellen gilt.

Das »Musée Sentimental« im Kölnischen Kunstverein Das Pressebild zeigt Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen auf dem Boden sitzend im Ausstellungsraum des Kölnischen Kunstvereins zwischen den Resten des monumentalen bronzenen Reiterstandbildes Friedrich Wilhelm IV (Abb. 1). Zu sehen sind der liegende Schweif vor den beiden Personen, rechts der Kopf auf dem deutend die Hand Spoerris ruht und links hinter von Plessen die Kuppe des ehernen Pferdes. An den Wänden des Raumes sind weitere Objekte auszumachen, darunter an der rechten hinteren Wand das Epitaph der Ursula Columba von Groote. Bereits in dieser Fotografie rückt visuell die Verschiedenheit der ausgestellten Objekte in den Vordergrund. Eine weitere Fotografie des langgezogenen Raumes im Kunstverein zeigt noch einmal die drei überlebensgroßen Gussstücke, bevor sich der Blick des Betrachters in die Tiefe verliert (Abb. 2). Rechts und links sind auf weißen Podesten einzelne Objekte zu sehen. Neben Boden und Podesten kommt als dritte Präsentationsebene die klassische Vitrine hinzu, in der kleinformatige Objekte wie die Bleistifte Heinrich Bölls zu finden sind. Der in Köln lebende Schriftsteller hatte im Februar 1979 für die Ausstellung seine Arbeitswerkzeuge – Bleistifte, »benutzt, meist gespitzt (Faber Castell 9000, 10×3B, 1×2B, 1×4B)« – übergeben.4 Eine weitere Vitrine zeigt einen von dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer

3 Sybille Krämer, Was also ist eine Spur?, in: Dies. u. a. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 11–33. 4 Kölnischer Kunstverein (Hg.), Le Musée sentimental de Cologne. Entwurf zu einem Lexikon von Reliquien und Relikten aus zwei Jahrtausenden »Köln Incognito«, nach einer Idee von Daniel Spoerri, Köln 1979, S. 36. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Abb. 1: Marie-Louise von Plessen und Daniel Spoerri in der Ausstellung (aus: te Heesen/Padberg, Musée Sentimental 1979, S. 138)

Abb. 2: Blick in den Ausstellungsraum (aus: te Heesen/Padberg, Musée Sentimental 1979, S. 139) © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Abb. 3: Vitrine »Adenauer, Konrad« (aus: te Heesen/Padberg, Musée Sentimental 1979, S. 22)

getragenen Indianerschmuck, seine Rosenschere, seine Aktentasche, Schriftstücke und andere Memorabilien (Abb. 3). Die Beschriftung der Vitrine ist lapidar, auf dem ausgeschnittenen und aufgeklebten Papier liest der Betrachter »Adenauer, Konrad«. Diese Einblicke in die Ausstellung wie auch ihr Titel, »Le Musée Sentimental de Cologne – Reliquien & Relikte aus zwei Jahrtausenden – Köln Incognito«, machen deutlich, dass es in Köln 1979 um Fundstücke, um Relikte, aber auch Reliquien zu einer Stadtgeschichte Kölns ging. Wurde das erste »Musée Sentimental de Paris« von Spoerri und von Plessen 1977 im Centre Pompidou errichtet, so werden die sentimentalen Objekte in Köln zum ersten Mal im gängigen Kontext des white cube vorgeführt. Sie stammten aus zwei Jahrtausenden Kölner Geschichte bis hin zur Gegenwart, waren kostbar und wertlos und changierten zwischen Hochkunst und trivialem Kitsch, zwischen Alltag und Feiertag, Sakralem und Vulgärem. Diese Gegensätze waren, folgt man den Beschreibungen des Künstlers Daniel Spoerri, zentral: »Ein gutes Beispiel könnte man anhand der ›drei Ursulas‹ wie wir es intern bezeichnen, nennen: Drei Ursulas sind in diesem Museum mit Objekten vertreten. Das eine ist ein bedeutendes Barock-Reliquiar © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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der Heiligen Ursula im Verein mit einer Sammlung von Reliquien-Knochen vom sog. Ursula-Acker, das zweite ist das schon einmal erwähnte Totenschild der Ursula Maria Columba von Groote, geb. zum Pütz, die angeblich eine Geliebte Casanovas gewesen sein soll, und drittens wäre Ursula Gerdes zu nennen, die erste Mieterin des neuerbauten Eros-Centers in Köln.«5 Das Ordnungsprinzip der »drei Ursulas« und anderer ist ein simples: Die Objekte wurden im Ausstellungsraum nicht in ihren jeweiligen historischen Kontext eingeordnet, also wie in damals üblichen historischen Museen (und Aus­ stellungen) »nach Zeitabschnitten, Gattungen oder nach Territorien«, sondern nach »anekdotischen Gesichtspunkten«.6 Ihnen war eine alphabetische Ordnung zugrunde gelegt worden, die eine die Ausstellung durchziehende, abstrakte Struktur bildete. Man berief sich auf das große Aufklärungsprojekt, die Encyclopédie, in der die Wissensbestände der Welt unterschiedslos nebeneinander geordnet erschienen waren. Interessant sind an dieser Stelle die Ausführungen von Plessens, dass die Objekte so einen sentimentalen Wert in sich tragen können, sie »leben aus dem subjektiven Gefühl, das der Betrachter gleichsam als Biograph ihnen zukommen läßt – durch Erinnerung an eigene Erlebnisse, Erfahrungen, Empfindungen, seine Entdeckungen am Objekt«.7 Es ginge darum, so die Protagonisten, »einen Teppich von Zusammenhängen entstehen« zu lassen.8 Sentimentalisch, also geleitet von Empfindsamkeit, waren die ausgewählten Objekte in doppelter Hinsicht: Zum einen deshalb, weil die historischen Gegenstände – Reliquien gleich – mit Gefühlen aufgeladen seien, und »daß durch die Konfrontation des Gegenstandes mit dem Besucher, der diesen Gegenstand anschaut, seine Einmaligkeit belegt wird durch die ihm an­haftende Anekdote oder das historische Zeugnis eines biographischen Ereignisses«.9 Zum anderen, weil die Gegenstände dem Besucher Zugänge erlaubten, da er eine der drei Ursulas vielleicht persönlich kannte, oder da er wusste, wie man mit Bleistiften und Rosenschere umgeht. Das Alltagswissen des Besuchers wurde aufgewertet, die Objekte schufen Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen der ausgestellten Geschichte und der gelebten Gegenwart. Über ihre Arbeitsweise mit den Gefühlsobjekten berichtet von Plessen im Frühjahr 1979 in einem Interview mit Walter Grasskamp: Es reize sie, in den Archiven 5 Spoerri, Einleitung, in: ebd., S. 10. 6 Marie-Louise von Plessen, Zum Verhältnis von historischem Museum und »Musée Sentimental«, in: Kölnischer Kunstverein, S. 15. 7 Ebd., S. 15. 8 Ebd. 9 Marie-Louise von Plessen, Autoren-Museum, in: Olaf Schwencke (Hg.), Museum-Verklärung oder Aufklärung, Lockum 1986, S. 164–170, S. 166. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und Depots unbebautes Territorium zu erobern, es sich auf »sehr persönlichem Wege anzueignen, der zwar unwissenschaftlich verfährt, doch sehr nah an der Wissenschaft bleibt«.10 Dabei hebt sie die Beziehung zu Spoerri hervor: Sie arbeiteten einander direkt in die Hand, »nur da, wo ich mich dann zu sehr in die Wissenschaftlichkeit verrenne da hindert er mich dann wieder dran…« »Begrüßen Sie das«? »Ja, wenn wir zusammenarbeiten schon, auf jeden Fall, ich glaube sogar, daß es eine sehr notwendige Reibung ist, und gerade durch diese Reibung etwas entsteht, das eventuell gut sein kann«.11

Künstler und Historikerin Daniel Spoerri war zu diesem Zeitpunkt durch seine Fallenbilder bereits berühmt geworden und hatte in der »Topographie des Zufalls« eine Art Manifest für die Bedeutung und Definition des Territoriums geliefert: nämlich die zufällig zustande gekommene Zusammenstellung von Dingen auf einer eingegrenzten Fläche und ihre Fixierung. Marie-Louise von Plessen hatte zuvor als promovierte Historikerin zahlreiche Dokumentarfilme gedreht, einige davon mit Spoerri. In den verschiedenen Musées Sentimentaux – es werden im Laufe der Jahre noch zahlreiche andere entstehen  – kommen gewissermaßen die Idee des Fallenbildes und das wissenschaftliche Verständnis von Primärquellen, die Form, das Material des Objekts und das Wissen um seine Herkunft zusammen. Man kann sagen, dass es das Musée Sentimental ohne Spoerri nicht gegeben hätte, weil seine langjährige Beschäftigung mit der Positionierung von Dingen und ihren Bedeutungen, sein Witz und Humor, der in den Ding-Konstellationen fluxusartig dem Betrachter vermittelt wurde, hervorstachen. Andererseits hätte der Witz der Objekte nicht ohne deren historische Unterfütterung funktioniert, war die Ernsthaftigkeit der Quelle mit dem Authentizitätsversprechen der Geschichte gekoppelt. Doch wäre es falsch, hüben Gefühl und Humor, drüben den Ernst der Geschichte und Staub zu sehen. Beide Personen geben sich der Obsession für Dinge und Sammlungen hin, der »Liebe zu den Dingen«, der eine, um aus ihnen neue tableaux pièges zu machen, die andere, um aus ihnen historisch korrekte­ Geschichte mit persönlichem Zuschnitt zu bauen. 10 Walter Grasskamp, Nichts altert schneller als ein Avantgardist, Interview mit Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen, in: Kunstforum International 32 (1979), S. 81–91, S. 91. 11 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Und beide geben mehrere Linien zu erkennen, die zum Musée Sentimental führen: Als der Künstler das Atelier des verstorbenen Bildhauers ­Brancusi besuchte (dieser stirbt 1957), entwendete er einen Nagelknipser. Retrospektiv berichtet er: »Dieser einfache Gegenstand, gestohlen aus Brancusis Atelier gleich nach seinem Tod, wurde für mich – ich wusste es gleich – der Träger von allem, was Brancusi für mich bedeutete.«12 Jahre später, 1977 in Paris, wurde dieses Objekt zum Anknüpfungspunkt von Spoerris Beschäftigung mit den Dingen und wurde, mit einer handschriftlichen Notiz Spoerris versehen, in eine Vitrine gelegt und eröffnete zugleich die erste Seite des Kata­loges. Dieser Nagelknipser – Relikt oder Reliquie einer berühmten verstorbenen Person – lieferte auch den Grundstein für die »Boutique Aberrante«. In der Unternehmung von 1977 im Centre Pompidou stand zu Anfang zunächst die Idee einer »abnormen Boutique« in dem Sinne, dass dort Objekte, die Künstlern gehört hatten oder von ihnen berührt worden waren, als Quasi-Fetisch verkauft wurden. Spoerri verschickte dazu im Januar 1977 einen Brief an Künstler-Freunde und Bekannte: »In jedem Fall wäre es schön, wenn Du mir für den Ausstellungsstand einige Objekte aus Deinem Atelier oder solche, mit welchen Du eine Anekdote verbindest […] zusenden würdest.«13 Spoerri bekam unter anderem folgende Objekte zurück: verworfene Pläne, eine Hose, Scherenschnitte, vom Künstler gekaute Kaugummis, Dessous, von Gemälden gesammelter Staub, ein Hemd. Diese Idee wurde in die Geschichte verlängert, das gekaute Kaugummi nun bei dem Maler van Gogh gesucht: Was jetzt an Geigen und Totenbetten, Prothesen und Paletten, Kaffee­löffeln und Haaren zu Tage trat, war überraschend und bis dahin nicht gesehen: Kleine, unscheinbare Dinge, die nur die Jahrhunderte überdauert hatten, weil ihnen Bedeutung durch die sie ehedem besitzende Person zukam. Wird das Musée Sentimental bei Spoerri mit einem Nagelknipser in Zusammenhang gebracht (die eigene anekdotische Qualität dieser Geschichte wird sofort offenbar), erklärt es sich bei Marie-Louise von Plessen aus ihrer filmischen Arbeit. Als Dokumentarfilmerin und als Regisseurin widmete sie sich außergewöhnlichen Bauwerken und Menschen, wird ihre Faszination für »Orchideenexistenzen«14, für »Besessene, die ihr Leben mit der Obhut und dem Studium von Dingen verbringen«15 12 Darstellung aus dem Jahr 2001; in: Museum Jean Tinguely (Hg.), Anekdotomania, Ostfildern Ruit 2001, S. 228. 13 Brief von D. Spoerri, in: »Les Dossiers de la Boutique Aberrante«, Archives du Centre Pompidou, Paris, 4.1.1977, RL GF 97, meine Übersetzung. 14 So im Interview in: Heesen/Padberg (Hg.), Musée Sentimental, S. 30. 15 Marie-Louise von Plessen, Von der Liebe zu den Dingen, in: Gottfried Korff (Hg.), Alltagskultur passé? Positionen und Perspektiven volkskundlicher Museumsarbeit, Tübingen 1993. S. 161–170, S. 161. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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deutlich. In einem Text, in dem sie ihre Ausstellungsarbeit reflektiert, schreibt sie über die Zusammenarbeit von Kunst und Geschichte: »Ich möchte werben für den Gedanken der Hinzuziehung von Künstlern und Theaterleuten bei der Arbeit an der Neufassung von Konzept und Dramaturgie einer gewachsenen Sammlung. Die Angst von Chaos und Beliebigkeit, die dadurch ent­ stehen könnte, wäre wohl nur dann begründet, wenn der Sammlungsleiter zu einem Dialog mit Berufsgruppen, deren Aufgabe die Visualisierung ist, unfähig wäre.«16 Für ein solches Vorgehen prägt sie den Begriff des »Autoren-­ Museums« in Anlehnung an den bereits etablierten Begriff des »Autorenfilms«. Von Plessen beschreibt die Autoren-Museen als solche, »die durch die Entschiedenheit und Provokation ihrer These Anlaß zu Diskussionen« geben.17 Dabei solle man mit »entschieden subjektive[m, A. t. H.] Standpunkt« vorgehen, mit »deutlich subjektiver Handschrift« die Ausstellung konzipieren und damit Geschichte neu schreiben.18 Die Konzeption einer solchen Ausstellung wäre »subjektiviert in Form eines Künstlermuseums mit wissenschaftlicher Aufbereitung der Dokumentation«.19 Dieses Vorgehen beschreibt sie als »Spurensicherung«, sie spricht von einer personalisierten Form der Geschichte, von sich ergebenden Assoziationsfeldern.20 Verlässt man die verschiedenen Herkünfte und versucht zusammenzufassen, was ein Musée Sentimental ausmacht, so ist es einerseits eine Aufwertung der Objekte, der Relikte aus vergangenen Zeiten, die der Hochkunst aber auch dem Alltag entstammen konnten und die einem erweiterten Kulturbegriff entsprechen. Sie vermitteln einen sinnlichen Zugang zu einer vergangenen Zeit, die exemplarisch in den Objekten als Kulturgeschichte aufleuchten soll. Dabei kommt es auf die Zusammenstellung der Objekte im Raum an und die Ermöglichung ihrer Binnen-Kommunikation. Dies kann durch Formanalogien, durch Materialitätsaspekte oder verschiedene Bedeutungen geschehen. Alle Objekte sind dabei gleichwertig und  – dies ist das Entscheidende – führen immer zu einer Geschichte oder Anekdote. Hier ist der Punkt, an dem Künstler und Historikerin, Kunst und Geschichte zusammenkommen. Die Binnenerzählungen der bedeutenden Geschichte übersetzen große Ereignisse in ein menschlich fassbares Maß wie einen Nagelknipser. Ihr besonderer Charakter wird verstärkt, wenn die Objekte an die Gegenwart angebunden werden, wenn die Ausstellung thematisch, aber anti16 von Plessen, Autoren-Museum, S. 169. 17 Ebd., S. 164. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 168. In ihrem Text stellt sie abgrenzend das Autoren-Museum neben das Künstler-Museum, S. 164. 20 Ebd., S. 166, 168, 167. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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chronologisch vorgeht: Was Karneval bedeutet, erhellt sich schlagartig nicht durch Redemanuskripte einer Sitzung, durch historische Kostüme, sondern durch einen zeitgenössischen Schuh, an dem in dicken Lagen Kamellendreck klebt und der nach dem Umzug nicht geputzt wurde, sondern ausgestellt. Grundlage des Musée Sentimental war es, Spuren zu finden, Spuren zu sichern und Spuren herzustellen. In dieser Ambivalenz zwischen historischen, vorgefundenen und hergestellten Objekten bewegte sich das gesamte Ausstellungsprojekt.

Spurensicherung 1979 Nicht nur Marie-Louise von Plessen bezeichnet ihre Ausstellungsarbeit als »Spurensicherung«. »’Spurensicherung’ mit Hilfe spekulativer Konstruktion und historischer Dokumentation« beschreibt auch Spoerri.21 Spuren waren allgegenwärtig und gängige Begriffsmünze im Umfeld des Musée Sentimental. Bereits 1974 organisierte der Kunstkritiker Günter Metken im Hamburger Kunstverein eine Ausstellung, die den Titel »Spurensicherung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst« trug. Sie zeigte Repräsentanten einer neuartigen künstlerischen Praxis, nämlich der Speicherung und Auflistung von Objekten aus existierenden wie erfundenen Kulturen.22 Dabei wurden die künstlerischen Verfahren den wissenschaftlichen Verfahren der Klassifikation und Beweissicherung angeglichen: Paul-Armand Gette botanisierte das Pflanzenvorkommen auf Parkplätzen und dem Place de la Concorde, Didier Bay erstellte ein – so der Titel – »Mosaik des 5. Arrondissements«, indem er seine subjektiven Rundgänge durch das Viertel festhielt und Menschen wie Häuser, Tätigkeiten wie Perspektiven fotografisch fixierte und arrangierte. Nikolaus Lang dokumentierte mit 238 Objekten die Lebensweise der Geschwister Götte und die »Grundbauerwiesen bei Bayersoien«, darunter ein Kälberstrick, eine Schnupftabackdose oder die Bestellkarte einer Samengroßhandlung. Der SPIEGEL schreibt darüber: »Einer lauert, mit der Kamera hinterm Fenster, ahnungslosen Nachbarn und Passanten auf, ein anderer schnüffelt in verfallenen Berghütten nach der Hinterlassenschaft Verstorbener. […] Geduldig und detailbesessen, als hätten sie Kriminalfälle aufzuklären oder ferne Epochen zu erforschen, schwärmen Künstler zur Recherche 21 Spoerri, Musée Sentimental de Cologne, 1979, S. 9. 22 Vgl. Günter Metken, Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaft in der heutigen Kunst, Köln 1977. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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aus, tragen sie Protokolle und Beweisstücke zusammen. Eine neue KunstDisziplin greift um sich: ›Spurensicherung‹.«23 Weitere Künstler ließen sich aufzählen wie Annette Messager, Jochen Gerz oder Christian Boltanski. Ihre Tätigkeiten erinnern an die der Archäologen, der Ethnographen und der­ Naturforscher. Ihre gleichsam mimetische Anverwandlung von außerkünstlerischen wissenschaftlichen Praktiken beinhaltete die Kritik an diesen Methoden, indem sie auf Erfundenes oder Triviales, auf eigene Seelenzustände oder Alltagsgegebenheiten angewendet wurden. Hubert Molderings stellt fest, dass spätestens seit 1977 »das Wort ›Spurensicherung‹ ein fester Bestandteil der Sprache des Kunstkritikers [ist, AtH.], ohne daß es je zu einem Begriff geworden wäre. Blicken wir über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus, stellen wir fest, daß es weder in der französischen noch in der amerikanischen Kunstkritik einen äquivalenten Begriff gibt.«24 In diesen Ländern beziehe man sich auf die Begriffe »konzeptuelle Kunst«, was auch er, Molderings, bevorzuge, weil es das Kunstwerk als eine Erfindung ausweise und nicht als etwas Aufgefundenes. Klar sei aber, dass in diesen Arbeiten das Alltagsleben in den Blickpunkt gerückt werde.25 Und diesem Alltag war man auch an anderer Stelle nachgegangen, nämlich in den verschiedenen Projekten zu einer »Mündlichen Geschichte« (Oral History) und in den »Geschichtswerkstätten« seit den 1960er, vor allem den 1970er Jahren.26 Der Begriff »Spurensicherung« spielte hier eine Rolle, weil jenseits der großen Ereignisse das alltägliche Leben aufgearbeitet und dokumentiert werden sollte. Dies geschah in vielen Fällen auf regionaler Ebene und aus dem Antrieb heraus, die Geschichte des Holocaust zu recherchieren und den Alltag jenseits der politischen Geschichte des Nationalsozialismus zu lokalisieren. So wundert es nicht, dass die »Spurensuche« einen zentralen Begriff in dem 1973 zum ersten Mal ausgelobten »Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte« bildete, der von dem damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann ins Leben gerufen wurde und bis heute von der Körber-­ Stiftung (Hamburg) organisiert wird.27 Junge Teilnehmer des Wettbewerbs 23 »Erinnerung in der Kiste«, in: Der Spiegel 16/1974, S. 120. 24 Hubert Molderings, »Spurensicherung« in der bildenden Kunst, in: Detlef Hoffmann (Hg.), Spurensicherung. Geschichte und Vergangenheit in Kunst und Wissenschaft, Rehburg-Loccum 1984. S. 8–43, S. 9. 25 Ebd., S. 10. 26 Vgl. überblickend Alistair Thomson, Eine Reise durch das Gedächtnis unserer Bewegung: Vier paradigmatische Revolutionen in der Oral History, in: Bios (Sonderheft) 2007, S. 21–29. 27 Vgl. die Einleitung zur Bibliografie des Geschichtswettbewerbs von Alfons Kenkmann, Einleitung. 2007, 9. http://www.koerber-stiftung.de/uploads/tx_smskoerberimport/Bib liographie-Stand-2007-Einleitung.pdf [letzter Zugriff: 9.11.2012]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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wie die Mitglieder der Geschichtswerkstätten verstanden sich als »Erinnerungsarbeiter«, verfolgten eine »Geschichte von unten«, »zielen nicht aufs Große und Ganze nationaler
Herrschaft und Kultur, sondern auf die möglichst genaue
Re­konstruktion eines begrenzten Milieus in Gemeinde,
Landstrich oder Wohnviertel« ab.28 Doch diese lokale Geschichtsschreibung, das Zusammentragen von Spuren und Überliefertem wurde von der damaligen Geschichtswissenschaft durchaus kritisch gesehen. Zwar war zum Ende der siebziger Jahre auch in der Geschichtswissenschaft das Bewusstsein für die Bedeutung der Sozialund Alltags- wie der Arbeitergeschichte gestiegen, doch selbst Historiker wie Lutz Niethammer warnten nicht zu Unrecht vor einer »Abfolge statischer Genrebildchen« aus dem Alltag.29 Mit dem Sammeln von Alltagsrelikten allein war es also nicht getan, vielmehr bedurfte diese neuartige Form der Geschichtsschreibung durch Laien wie Experten einer theoretischen Unter­fütterung. Dies ist der Moment, in dem der 1979 erstmals erschienene Aufsatz des italienischen Historikers Carlo Ginzburg 1980 in der Zeitschrift »Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik« von Klaus W ­ agenbach unter dem Titel »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst« erscheint.30 Während im italienischen Originaltitel das Spionieren im Vordergrund stand, gibt der deutsche Titel auch den deutschen Kontext zu erkennen: Nicht nur der Begriff der »Spurensicherung« wird hier weiter prominent gemacht, sondern auch mit der Geschichte als einer »Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst« wird eine bestimmte Methode zum Thema gemacht, erhält die Spurensicherung eine bis dato vermisste Theorie, der Laienhistoriker eine methodische Rechtfertigung. In diesem Text beschreibt Ginzburg ein bestimmtes, sich im 19. Jahrhundert in verschiedenen Wissenschaftsbereichen entwickelndes Verfahren des Erkenntnisgewinns, das »Spurensicherung« genannt wird. Es besteht darin, aus minimalen Indizien, dem Nebensächlichen, aus scheinbar kleinen Zeichen zu kombinieren und ein vergangenes Ereignis herauszulesen. Ginzburg nennt dieses sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Humanwissenschaften durchsetzende epistemologische Modell Indizienparadigma, wel28 So im Artikel »Ein kräftiger Schub für die Vergangenheit«, in: Der Spiegel, 23/1983, S. 36–42, S. 36. 29 Lutz Niethammer zitiert in: ebd., S. 38. 30 Freibeuter. Heft 3, 1980. S. 7–17 und Freibeuter. Heft 4, 1980. S. 11–36. Ursprünglich: Carlo Ginzburg, Spie. Radici di un paradigma indiziario, in: Aldo Gargani (Hg.), Crisi della ragione, Turin 1979. S. 57–106. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ches sich auf die Semiotik stütze und der bereits viel älteren Beobachtungsgabe und dem Kennerblick des Einzelnen anheim gestellt sei. Prägnantestes Beispiel einer Verschriftlichung sei die Encyclopédie des 18. Jahrhunderts, in der ein großer Teil des Wissens der Handwerker und Bauern erstmals festgehalten und aus der individuellen Sphäre der Überlieferung herausgenommen worden sei.31 Dennoch bleiben die verschiedenen Jäger-, Wahrsage- und Indizienparadigmen bestehen, deren gemeinsames Modell der Teppich bildet:32 Nur durch das Zusammensetzen der Fäden kann ein dichtes homogenes Netz entstehen.33 Ginzburg bezeichnet das solcherart entstehende Wissen als ein stummes Wissen, »und zwar deswegen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. (…) Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition«. Und diese Regel gelte auch für den Historiker. Denn die Geschichtsschreibung – wie überhaupt die Humanwissenschaften – sei nie eine galileische Wissenschaft gewesen, vielmehr bleibe der Historiker an das Konkrete gebunden: »Auch wenn der Historiker sich explizit oder implizit auf eine Reihe von vergleichbaren Phänomenen beziehen muß, bleiben die Strategien seiner Erkenntnis und seine Ausdrucksweise zutiefst individualisierend«.34 Keine Darstellung der Geschichte der Kulturwissenschaften, keine Einführung in die Geschichtswissenschaften, die sich nicht auf den italienischen Historiker und seinen Aufsatz bezieht. Denn Ginzburg schließt Semiotik und Geschichtswissenschaft in einer bestimmten Lektüreform, der Spur, zusammen, die sich als eine zeitgenössische, moderne Historiographie versteht. Und er flicht in dieser betrachtenden Zusammenführung eine Kulturgeschichte der Schrift ein, die die Fähigkeit des Spurenlesens von sozialen und kulturellen Minderheiten in den Vordergrund hebt (Wahrsager, Handwerker). Was er damit demonstriert, ist ein epistemologisches Modell, das in einer bestimmten Kulturtechnik besteht und durch die Betrachtung des Details, der »Andacht zum Unbedeutenden«, der Hervorhebung des Alltäglichen und des Trivialen generiert wird. Ginzburgs Text ist aber noch in anderer Hinsicht bedeutsam: Er bildet gewissermaßen den indirekten missing link für den Erfolg des Kölner Musée Sentimental. Dies deshalb, weil er eine Aufwertung der direkten Erfahrungswelt zu erkennen gibt und damit die Nobilitierung des Gefühls als einem möglichen Erkenntnismittel. Die epistemologische Bedeutung von Gefühl, Intuition und Fantasie stand nicht nur 31 Ebd., S. 104. 32 Ebd., S. 107. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 93. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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im Zentrum der Überlegungen der Historiker (und Künstler), sondern muss auch vor dem Hintergrund der »Lehren des Don Juan« von Carlos Castaneda (1968, deutsch 1972) oder der »Traumzeit« von Hans Peter Duerr (1978) gesehen werden. Nur mithilfe des »Anderen der Vernunft«, wie es Wissenschaftler von Gernot Böhme bis Paul Feyerabend formulierten, konnte versunkenes Wissen gehoben, konnte der Geschichte und den in ihr existierenden Menschen posthume Gerechtigkeit widerfahren. Dieses »Andere« orientierte sich an der Alltags- und Sozialgeschichte, an solchen Protagonisten, wie sie in den Fragen des Brechtschen lesenden Arbeiters auftauchen. Während also der dokumentarische Aspekt der Spurensicherung vor allem um eine adäquate Aufarbeitung einer Sozial- und Alltagsgeschichte bemüht war, verfolgte der Intuitions-Aspekt der Spurensicherung das Auffinden des Besonderen, der Anekdote, des Individuellen. Was die Bauern bei Ginzburg, die Schamanen bei Castaneda, die fliegenden Frauen bei Duerr waren, sind im Musée Sentimental die Boxer, Kanzler und Eros-Center-Besitzer. Es handelt sich bei diesem eben zitierten Text um einen Aufsatz eines poli­tischen Historikers, dessen Freunde wie er selbst zum Gegenstand der Spurensicherung wurden. Der Alltag links-politischer Intellektueller der sechziger und siebziger Jahre wird begleitet von der Ausbildung und Vervollkommnung kriminalistischer Erfassungsinstrumente. Sie finden in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands ihren Höhepunkt im »Deutschen Herbst« und der Erfahrung der durch Horst Herold, dem damaligen Leiter des Bundeskriminalamtes, eingeführten Rasterfahndung. Im Verlaufe der späten siebziger Jahre wurden unzählige Spuren dokumentiert und gesammelt. Den ausgestellten Banalitäten in Köln waren die dokumentierten Unachtsamkeiten politischer Aktivisten und Terroristen vorangegangen: Eine quittierte Bareinzahlung für die Miete einer Wohnung, ein verlassenes Auto. Sieht man die entsprechenden kriminalistischen Zeitschriften und Tagungsbände dieser Zeit durch, so wird schnell deutlich, dass der Höhepunkt der Spuren­diskussion in der zweiten Hälfte des siebziger Jahre erreicht war. Die 1949 gegründete Zeitschrift »Kriminalistik« führte in ihren verschiedenen Foren und Aufsätzen immer wieder das Thema der Spur aus. Doch waren dies bis 1974 vor allem Texte über »Spurenkunde« gewesen, also über verschiedene »Fußspuren, Getreidespuren, Handschuhspuren, Lackund Farbspuren, Schleif­spuren, Schmauchspuren, Schuhspuren, Strohspuren, Trittspuren«  – so die Sachregister der Zeitschrift. Doch die Hochzeit der Auseinandersetzung über die Strukturierung und Organisation der Spurensicherung erfolgte in den Jahren danach. Ende 1979 veröffentlicht Horst Herold, Leiter des Bundeskriminalamtes von 1971 bis zu seiner Entlassung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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1981 durch den damaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum, einen Aufsatz über die »Erwartungen von Polizei und Justiz in die Kriminaltechnik«.35 In diesem Text beschreibt Herold den Stand der Kriminaltechnik für die Beweisverfahren in Strafprozessen. Zentrum des Textes bildet der Nachweis, dass der »Vorgang der Wahrheits- und Urteilsfindung soweit wie möglich von emotionalen und irrationalen Bestandteilen zu reinigen, […] soweit wie möglich zu verobjektivieren« sei.36 Es gehe um einen möglichst perfekten Sachbeweis, der nur auf der Grundlage einer weiterentwickelten Kriminaltechnik zu führen sei. Er stellt fest, dass bisher die »Fragen der Tatsachenerhebung und -bewertung« viel zu niedrig eingeschätzt worden seien und es so immer wieder dazu komme, dass dem Richter »vorwiegend subjektiv geprägte Beweismittel« vorlägen.37 Objektiv ist ein Sachbeweis oder die Spur aber erst dann, wenn er in ein übergeordnetes System eingespeist wird. Dies sei vor allem in einem geschlossenen System von Regeln zu finden und Herold nennt die hoffnungsvollen Stichworte der Zeit: »Entscheidungs- und Systemtheorie, die Operationsforschung, Kybernetik«.38 Was Herold vorschwebt, sind zentrale Datenbanken, bei denen weniger die klassische Kriminaltechnik zählt, als vielmehr die Zählbarkeit der Daten. Der Auftrag der Kriminaltechnik gehe dahin, »all das, was im Bereich kriminellen Geschehens meßbar, wägbar und bestimmbar zu machen, was bisher nur im Wege subjektiver Wahrnehmung empfunden und verglichen wurde. Mit diesem Ziel maximaler Ausschöpfung aller zunächst verborgenen Möglichkeiten erfüllt die Kriminaltechnik einen gesellschaftlichen Auftrag, zur Transparenz und Objektivität forensischer Urteilsbildung beizutragen.«39 Deshalb fordert er den verstärkten Einsatz von Computern, die Abgleichmöglichkeiten zwischen den Sammlungen der kriminalpolizeilichen Zentralstellen und das Anlegen zentraler, zunehmend digitalisierter Sammlungen von Handschriften oder Projektilen und Hülsen der Schusswaffen. David Gugerli hat das rechnergestützte Informationssystem Horst ­Herolds, des »Kommissars Computer«, beschrieben und zeigt auf, wie sich Such­ maschine und Terror wechselseitig über längere Zeit hinweg stabilisierten.40 Doch das Scheitern Herolds beginnt mit dem »Versagen der rechnergestützten Polizeiarbeit während der Schleyer-Entführung« im September 1977 35 Horst Herold, Erwartungen von Polizei und Justiz in die Kriminaltechnik, in: Kriminalistik, 33/1 (1979), S. 17–26. 36 Ebd., S. 17. 37 Ebd., S. 18. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 20. 40 David Gugerli, Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a. M. 2009, S. 65. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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und trägt maßgeblich dazu bei, dass die kybernetisch funktionierende Polizei und die zentrale Erfassung von Daten in einem »Überwachungsstaat« sich zur Horrorvision der 1980er Jahre entwickelten.41 Herolds Aufsatz ist – auf den Punkt gebracht – als eine vergangene Zukunftsvision eines kurz vor der Entlassung stehenden Bundeskriminalbeamten zu lesen. Während Herold nämlich versuchte, die Informatik als zentrales Instrument der Polizeiarbeit zu verankern, bleibt das Werkzeug der klassischen Kriminalistik, die subjektive Spur, im Amt. Viele seiner Kollegen standen seinen Neuerungen skeptisch gegenüber und diagnostizierten stattdessen – so bereits in einem Artikel in der Zeitschrift »Kriminalistik« 1974 – eine »Neuzeit der Spurenkunde«. Diese sei aber nicht in erster Linie von technischen Möglichkeiten geprägt, sondern von der sukzessiven Veränderung zur Einstellung gegenüber der materiellen Spur. Die »klassische[n] Spurenkunde«, so Jacob Meier, hatte lediglich belastendes Beweismaterial zusammengetragen »und ihre Authen­tizität anhand eines großen amtlichen Siegels zu beweisen.« Was dabei fehlte waren Vergleichs- und damit Entlastungsmaterialien, »in dem Sinne, daß alle diejenigen Materialien nicht sichergestellt wurden, die im Ausschlußverfahren die andern denkbaren Möglichkeiten von Tatabläufen eliminiert(en).«42 Und ähnlich wie in Köln oder wie bei Ginzburg dient der Teppich oder das Gewebe als zentrale Metapher der Spurensicherung: »Die früher als optimal angestrebte Verknüpfung der einzelnen Bauteile zur klassischen Indizienkette hat (…) einen Nachteil: Die Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied. (…) Wir benötigen zur Steigerung des Sicherheitsgrades oder des Wahrscheinlichkeitswertes eine Vernetzung oder Vermaschung; ein möglichst dichtes Gewebe. Dann erreichen wir auch das Ziel der Spurensicherung.«43 Meier nennt dies »feldüberdeckende Spurensicherung«.44 Ein Jahr später präzisiert Gerhard Teschke dieses Verfahren und beginnt seinen Text mit den folgenden Worten: »In unseren hektischen Tagen ist kaum noch Zeit für eine intensive Spurensuche bzw. Spurensicherung. Dieses liegt einmal daran, daß bei dem derzeitigen Arbeitsanfall die Zeit für eine gründliche Spurensuche in der Regel fehlt und zweitens nicht so häufig anfallende

41 Ebd., S. 66. »Lange vor dem Orwell-Jahr und lange vor dem rechnergestützten ›profiling‹ der heutigen Suchdienste war der Überwachungsstaat zum politischen Schreckensszenario geworden, das mit Herolds einstigem Programm so gut wie nichts zu tun hatte und dennoch als seine greifbare Folge bezeichnet werden muß.« (Ebd., S. 68–69) 42 Jakob Meier, Die Spurensicherung (I), in: Kriminalistik 28/4 (1974), S. 151–157, S. 151. 43 Ebd., S. 152. 44 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Spuren – zum Teil aus Unkenntnis – gar nicht erst gesucht werden.«45 In diesem Zitat, wie in weiteren Äußerungen Teschkes klingt bereits ein Argument an, dass (fast) allen Kriminalisten der Zeit gemeinsam ist: Es braucht Erfahrung, die Spur zu sehen, aufzunehmen und entsprechend zu interpretieren. 1978 faßt Karl-Heinz Gemmer, Kollege Herolds im BKA, bündig zusammen: »Trotz des erreichten Fortschrittes in Wissenschaft und Technik kommt es in der Kriminalistik jedoch nach wie vor auch auf die kreativen Fähigkeiten des Menschen an, die Bedeutung einer Information zu erkennen und Schlußfolgerungen daraus zu ziehen, sozusagen die Spuren zum Reden zu bringen«.46 Spuren auswerten und zuvor Spuren lokalisieren und zusammenstellen, diese Tätigkeiten sind abhängig von der Erfahrung und der Kennerschaft des jeweiligen Ermittlers. In den Texten wird deutlich, wie sehr die Narrative des Tathergangs auf einem Spurenkomplex basieren. Wie bei Herold stammen die Vergleichsbeispiele der einzelnen Fahnder vielfach aus den Ermittlungen zur RAF, doch kommen die Kollegen Herolds zu anderen Schlussfolgerungen: Nicht der Rechner übernimmt die Zusammenfassung aller Spuren, sondern immer noch der klassische Kriminalist mit seiner Erfahrung, oder nach Ginzburg formuliert, mit »Spürsinn, Augenmaß und Intuition«. Festzuhalten bleibt, dass der historische, der künstlerische und der kriminalistische Spurensicherungsbegriff gegen Ende der siebziger Jahre in be­sonderer Weise miteinander verbunden waren. Im Vordergrund der Betrachtung von Museum und Ausstellung, von Archivarbeit, Dokumenta­ tionsbestreben und Tatort standen das Gefühl, der erfahrene Blick des Kenners und die unvoreingenommene Betrachtung der Objekte. In dem Zusammentreffen von Kunst und Wissenschaft Ende der 1970er Jahre im Musée Sentimental – und in vielen anderen Projekten mehr – entwickelte sich ein dokumentarisierender und zugleich interpretatorischer Zugriff auf Vergangenheit wie Gegenwart, der uns bis heute begleitet und in der Materialität und im intuitiven Zugriff verankert ist. Im »Musée Sentimental de Cologne« wurde diesem Verständnis ein räumliches Äquivalent gegeben, das den Spürsinn des Betrachters aus der politischen Sphäre in die des Präsentationsraumes überführte und dort verankerte. Was wir seither aufgenommen haben, ist der subjektive, mit Intuition angereicherte Spurenbegriff von Gustav Heinemann bis Carlo Ginzburg und nicht der von Horst Herold.

45 Gerhard Teschke, Stiefkind Spurensicherung. Zugleich ein Beitrag zum Thema ›Fehler in Ermittlungsverfahren‹, in: Kriminalistik 29/12 (1975), S. 551–554, S. 551. 46 Karl-Heinz Gemmer, Kriminalistischer Wert des Sachbeweises, in: Kriminalistik 32/12 (1978), S. 529–534, S. 529. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Thomas Sandkühler

Die Geschichtsdidaktik der Väter Zur Kulturgeschichte der siebziger Jahre

Einleitung Der Titel meines Vortrags ist bewusst gewählt: Vor rund fünfzehn Jahren lotete Thomas Welskopp Grenzen und Chancen der Historischen Sozial­ wissenschaft seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter der Überschrift »Die Sozialgeschichte der Väter« aus.1 Seitdem ist die Historisierung von Sozialgeschichte und Historischer Sozialwissenschaft kräftig vorangeschritten. Vergleichbare Infragestellungen und Kontextualisierungen der Geschichtsdidaktik, die zur gleichen Zeit die öffentliche Bühne betrat, stehen bis heute weitgehend aus. Überwiegend haben die Protagonisten der damals ›neuen‹ Geschichtsdidaktik die Geschichte ihrer Disziplin selbst geschrieben, wogegen sich die Generation der Söhne und Töchter in Zurückhaltung übte. Macht und Einfluss der geschichtsdidaktischen Väter sind ungebrochen, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Geschichtsdidaktik niemals so herausgefordert wurde wie die Historische Sozialwissenschaft Bielefelder Provenienz. Die Polemik der Kulturgeschichte gegen eine vermeintlich kalte und menschenleere Strukturgeschichte inspirierte Welskopps Programm einer handlungstheoretisch fundierten Historischen Gesellschaftsgeschichte. Diese Kritik konnte die Geschichtsdidaktik, jedenfalls auf den ersten Blick, schon deshalb nicht (be)treffen, weil sie die Hinwendung zur Kultur schon vollzogen hatte. »Geschichtskultur« wurde seit Ende der achtziger Jahre zu einem weiteren, ja sogar zentralen Gegenstandsbereich geschichtsdidaktischer Forschung und Reflexion. Dieser Vorgang ist erst kürzlich mit polemischen Kommentaren aus dem Bereich der Zeitgeschichte bedacht worden, ohne dass sich die Geschichtsdidaktik bislang aufgerufen gesehen hätte, die Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik selbst zu schreiben.2 1 Vgl. Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 173–198. 2 Vgl. Martin Sabrow, Nach dem Pyrrhussieg. Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, On© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Aus mehreren Gründen sind die siebziger Jahre für ein solches Projekt von besonderem Interesse: Die Geschichtsdidaktik etablierte sich in diesem Jahrzehnt als gesellschaftskritische Wissenschaft vom historischen Lernen an den Universitäten.3 Sie operierte in enger disziplinärer Verbindung zur Historischen Sozialwissenschaft. Wie diese gegenüber dem späthistoristischen Wissenschaftsparadigma, erlangte die Geschichtsdidaktik durch ein eigenes Organ, die Zeitschrift »Geschichtsdidaktik. Probleme  – Projekte  – Perspektiven«, seit 1976 Meinungsführerschaft in Absetzung von einer geschichtstheoretisch unreflektierten Schulfachdidaktik. Diese war zuvor fast ausschließlich an den Pädagogischen Hochschulen betrieben worden und hatte in der Zeitschrift des Geschichtslehrerverbands, »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht« (GWU), ihr Forum. Ich möchte vorschlagen, die Geschichte der Geschichtsdidaktik als Kulturgeschichte zu schreiben statt im Rahmen der historischen Bildungs­ forschung. Auf diese Weise wird der zur Jahrtausendwende erreichte Diskussionsstand über Kultur und Gesellschaft selbstreflexiv auf die Fachgeschichte bezogen. »Kultur« steht, so gesehen, nicht im Gegensatz zu »Gesellschaft«, sondern sie bezeichnet die Art und Weise, wie sich Individuen und Gruppen die gesellschaftliche Wirklichkeit deutend zu Eigen machen, wie also gesellschaftliche Strukturen praktisch werden.4 Diskurse sind demzufolge kein sprachliches Universum eigenen Rechts, das die historische Wirklichkeit ersetzen könnte, sondern »Praktiken der Deutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion«, die gesellschaftlich ausgehandelten und sanktionierten Regeln folgen.5 Hier bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten an die wissenssoziologische Diskussion um Kultur und Gesellschaft.6 Ein solcher Zugang wird nicht nur durch die offenkundige Verwandtschaft zwischen line-Ausgabe, 2 (2005), H. 2 (URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Sabrow-2–2005 [letzter Zugriff: 10.8.2014]). 3 Vgl. Anke John, Disziplin am Scheideweg. Die Konstituierung einer universitären Geschichtsdidaktik in den 1970er Jahren, in: Michele Barricelli u. a. (Hg.), Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelten und Zukunftserwartung im 21. Jahrhundert, Schwalbach i. Ts. 2011, S. 192–213, mit der Lit. – Die DDR-Geschichtsmethodik bleibt hier außer Betracht, vgl. dazu Marko Demantowsky, Die Geschichts­ methodik in der SBZ und DDR – ihre konzeptuelle, institutionelle und personelle Konstituierung als akademische Disziplin 1945–1970, Idstein 2003. 4 Welskopp, Sozialgeschichte, S. 178 f. 5 Reiner Keller, Wissenschaftliche Diskursanalyse, in: Ders. u. a. (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, Opladen 2001, S. 113–145, S. 123. 6 Vgl. Thomas Mergel, Kulturgeschichte – die neue »große Erzählung«? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 41–77. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Geschichtskultur und Kulturgeschichte nahe gelegt, sondern auch durch das Erfordernis, Spezifika der Geschichtsdidaktik vergleichend herauszuarbeiten. Als Vergleichsgegenstand bietet sich die Historische Sozialwissenschaft an. Deren Protagonisten waren wie diejenigen der Geschichtsdidaktik von generationellen Erfahrungen und generationsspezifischen Deutungsmustern geprägt, die ihre Stellungnahme zu Gesellschaft und Geschichte beeinflussten, ohne diese zu determinieren.7 Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsdidaktik teilten vor dem Hintergrund eines nahezu grenzenlosen Fortschrittsoptimismus das Interesse an einer »kritischen historischen Gesellschaftsdiagnose mit politisch-pädagogischem Anspruch.«8 Dieses Interesse artikulierte sich allerdings in Formen, die der harten Gegensätzlichkeit der gesellschafts- und bildungspolitischen Auseinandersetzung in den siebziger Jahren geschuldet waren. Medium des Konfliktaustrags war nicht zuletzt die Theorie. Die Historische Sozialwissenschaft suchte das Typische historischer Phänomene zu erklären, statt das Individuelle zu verstehen, vor allem durch theoriegesättigte Vergleiche. Die Geschichtsdidaktik legte sich Rechenschaft darüber ab, wie der Gegenstand intentionaler Lernprozesse konstituiert wurde und wie folglich »Geschichte« in der deutenden An­eignung der Vergangenheit zustande kommen sollte, damit Schülerinnen und Schüler als aufgeklärte Zeitgenossen an der Schaffung einer gerechteren Gesellschaft mitwirken konnten. Mit diesen Bemerkungen sind einige Teile des weiten Feldes einer Kulturgeschichte der Geschichtsdidaktik bezeichnet, die im Folgenden abgeschritten werden sollen: Protagonisten und ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen, politische Polarisierung, das Verhältnis zwischen Geschichtsdidaktik und Historischer Sozialwissenschaft seit Mitte der siebziger Jahre.

7 Vgl. Thomas Sandkühler (Hg.), Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928–1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976, Göttingen 2014. 8 Welskopp, Sozialgeschichte, S. 173. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Großväter, Väter und Mütter Die Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre fiel entgegen ihrer Selbstwahrnehmung als neues Paradigma nicht vom Himmel.9 Ebenso wie die Sozial­ geschichte der sechziger und siebziger Jahre hatte sie Vorläufer seit Mitte/ Ende der fünfziger Jahre. Zu erinnern ist in unserem Zusammenhang an die Debatte um das Verhältnis zwischen Gemeinschaftskunde (Politische Bildung) und Geschichte sowie an die von Georg Pichts Warnung vor einer »Bildungskatastrophe« und Saul B. Robinsohns Curriculumtheorie angestoßene bildungspolitische Diskussion, die seit Mitte der fünfziger Jahre im Deutschen Bildungsrat institutionalisiert war. Anders als die Sozialgeschichte, die von Protagonisten der um die Jahrhundertwende geborenen Kriegsjugendgeneration auf den Weg gebracht wurde, fand die erneuerte Geschichtsdidaktik indes keine Väter vor, an denen sie sich abarbeiten konnte oder musste. Die Altvorderen, ihrem Selbstverständnis nach eher Geschichtspädagogen und Methodiker denn Historiker, wurden in den stürmischen Entwicklungen seit »1968« ohne größere Gegenwehr beiseitegeschoben und spielten fortan keine Rolle mehr. Dass im Bereich der Unterrichtsmethodik und des Schulbuchwesens gewichtige Reformleistungen bereits erbracht worden waren, ist erst neuerdings angemessen gewürdigt worden.10 In der allgemeinen Geschichtswissenschaft brachten um 1930 geborene Angehörige der so genannten 45er-Generation die Bielefelder Sozialgeschichte auf den Weg.11 Im Unterschied dazu sorgte die bereits erwähnte Besonderheit, dass Professuren für Geschichtsdidaktik eine Domäne Pädagogischer Hochschulen (PHs) waren, für eine andere Rollenverteilung. Angehörige der 45er-Generation wie Karl-Ernst Jeismann (Jahrgang 1925) und Joachim Rohlfes (Jahrgang 1929), beide PH-Professoren für Geschichte und ihre Didaktik, traten als eher fachkonservative Gegenspieler der neuen Didaktik auf. Andererseits wurden im Zuge des Hochschulausbaus seit dem sozial9 Vgl. Annette Kuhn, Geschichtsdidaktik in emanzipatorischer Absicht. Versuch einer kritischen Überprüfung, in: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung, Paderborn 1980, S. 49–81, S. 51–57. 10 Vgl. Wolfgang Hasberg/Manfred Seidenfuss (Hg.), Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945, Berlin 2008. 11 Vgl. Dirk A. Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 40 (2000), S.  233–263; Ulrich-Herbert, Drei politische Generationen im 20.  Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Generationalität und Lebens­geschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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liberalen Regierungswechsel von 1969 an Reformuniversitäten und Teilen sich progressiv verstehender PHs neue Dozenturen und Professuren mit geschichtsdidaktischer Denomination eingerichtet. Diese übernahmen meist nicht habilitierte Newcomer. Die Geschichtsdidaktik kam also etwa zur gleichen Zeit an den Universitäten an wie die Historische Sozialwissenschaft, war aber, in Lebensjahren gesprochen, jünger als diese, weil die Stelleninhaber die zeitraubende Prozedur des zweiten Buches hatten überspringen können. Diese charakteristische Verschiebung im Altersprofil hatte wiederum zur Folge, dass Generationenkonflikte innerhalb der Geschichtsdidaktik, sofern sie überhaupt ausgetragen wurden, zwischen 45ern und den oft nur wenige Jahre jüngeren 68ern stattfanden. Die einflussreiche These von den politischen Generationen der 45er und 68er hat Widerspruch hervorgerufen. Einerseits wird an den Unterschied zwischen Erlebnis- und Erzählgeneration erinnert, der vor allem bei den 68ern in Anschlag zu bringen ist. Andererseits konnte die narrative »Generationalisierung« auch andere Bezugspunkte und Ausdrucksformen haben als die emphatische Selbstwahrnehmung als eine Gruppe von Altersjahrgängen, die von übereinstimmenden politischen Erfahrungen zusammengehalten wurde.12 Die meisten ›neuen‹ Geschichtsdidaktiker blieben dem Spiel der politischen Generationen fern und orientierten sich an wissenschaftlichen Schulen und Denkrichtungen, unter denen die Historische Sozialwissenschaft einen vorderen Rangplatz einnahm. Bei den Übrigen war die politisch-generationelle Stellungnahme das Ergebnis gegenwartspolitischer Herausforderungen. Die 45er in der Geschichtsdidaktik nahmen sich offenkundig erst unter dem Eindruck der Studentenbewegung als Angehörige einer Generation wahr. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre ab 1973 waren auch der Nachvollzug eines aufgeschobenen Generationskonfliktes zwischen 45ern und 68ern, die sich ihrerseits erst durch die Kritik an dem hessischen Lehrplan zur Parteinahme im Sinne einer politischen Generationszugehörigkeit herausgefordert sahen. Erstere schrieben sich »Geschichtsbewusstsein« auf die Fahnen, letztere »Emanzipation«. Die 1934 geborene PH-Professorin Annette Kuhn, eine der wenigen Mütter der Geschichtsdidaktik, geriet als 68erin in einen heftigen Konflikt mit dem rund

12 Vgl. Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2005), H.  8 (URL: http://www.bpb.de/apuz/29215/gene ration-und-generationalitaet-in-der-neueren-geschichte?p=all [letzter Zugriff: 7.7.2014]). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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fünf Jahre älteren 45er Joachim Rohlfes, der beim Mannheimer Historikertag 1976 ausgetragen wurde.13 Seitdem verlor die Auseinandersetzung innerhalb der Geschichts­didaktik an Schärfe. Pragmatismus und Kooperation machten sich stärker geltend als Abgrenzung und Konflikt. Die begriffliche Plattform dieses generationsübergreifenden Kompromisses – zementiert wurde sie ebenfalls beim Historikertag 1976 – war »Geschichtsbewusstsein«, hier nun aber nicht mehr als Gegensatz zu »Emanzipation« verstanden, sondern als ihre notwendige Ergänzung. In dem Maße, wie der Fortschrittsoptimismus der Aufbruchszeit bröckelte, nicht zuletzt unter dem Eindruck der verheerenden Lehrerarbeitslosigkeit, verlor im Laufe der achtziger Jahre jedoch auch das emanzipato­ rische Gesellschaftsverständnis an Überzeugungskraft. Welche Lebenserfahrungen prägten die Geschichtsdidaktiker der siebziger Jahre? Woher kamen sie, wie wurden sie sozialisiert, wie schlug sich ihr Berufs- und Lebensweg in der Stellungnahme zum historischen Lernen nieder? Diese Fragen sollen im Folgenden anhand eines Samples von einfluss­ reichen Didaktikerinnen und Didaktiker der Jahrgänge 1928–1947 knapp beantwortet werden, die ich interviewt habe.14 Bereits diese Spanne von nicht weniger als zwanzig Geburtsjahren deutet darauf hin, dass die Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre generationell weniger profiliert und heterogener war als die Historische Sozialwissenschaft. Unter den »Historikern der Bundesrepublik« dominierte eine relativ geschlossene Kohorte der um 1930 Geborenen, die politisch überwiegend linksliberal eingestellt war.15 Die prägende Erfahrung dieser ungewöhnlich einflussreichen Generation, eben der 45er, war der Nationalsozialismus, den sie als Hitlerjungen und Flakhelfer erlebt und erlitten hatte. Tiefes Misstrauen gegen ideologischen Überschwang, die Orientierung auf eine maßvolle Reform der verkrusteten gesellschaftlichen Institutionen, die Wertschätzung der parlamentarischen Demokratie westlicher Provenienz und natürlich eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte – dies alles waren Schlussfolgerungen aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen in der Jugendzeit.

13 Sandkühler, Historisches Lernen, Teil 2, S. 506 ff. 14 Vgl. ebd. In der Einleitung zu diesem Band (Biographie und/als historisches Lernen. Generationen, Konflikte und Deutungsmuster in der Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre, ebd., S. 7–34) habe ich aus Platzgründen auf eine zusammenfassende Schilderung der Laufbahnen verzichtet. 15 Vgl. Paul Nolte, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine ›lange Generation‹, in: Merkur 53 (1999), S. 413–432. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Andererseits waren die akademischen Lehrer der Sozial- und Gesellschafts­ historiker intellektuelle Parteigänger des Nationalsozialismus gewesen, wie die Auseinandersetzung um die Rolle Theodor Schieders und Werner ­Conzes im »Dritten Reich« exemplarisch gezeigt hat.16 Kritische Fragen nach der NS-Vergangenheit der akademischen Väter wurden von den Jüngeren nicht gestellt, und auch das war ein Merkmal der 45er-Generation insgesamt. Meinem ältesten Interviewpartner Rolf Schörken (Jahrgang 1928), dem 45er unter den Didaktikern der siebziger Jahre, und seinen etwas jüngeren Kollegen Joachim Rohlfes und Wolfgang Hug (Jahrgang 1930) wären generationell die verstorbenen Didaktiker Karl Ernst Jeismann (1925–2012) und Friedrich J. Lucas (1927–1974) an die Seite zu stellen. Rohlfes legte die erste Monographie vor, die den Begriff »Geschichtsdidaktik« im Titel führte.17­ Lucas, Schörken und Jeismann traten Anfang der siebziger Jahre mit Plä­ doyers für das Geschichtsbewusstsein als geschichtsdidaktische Zentral­ kategorie hervor. Lucas lehrte an der Universität Gießen. Schörken wurde 1974 an die Gesamthochschule Duisburg berufen. Beide waren Sozialdemokraten. Die übrigen Genannten waren liberalkonservative PH-Professoren, die teils erhebliche Vorbehalte gegen die Studentenbewegung der sechziger Jahre geltend machten. Schörken, der aus kleinen Wuppertaler Verhältnissen kam und als Flakhelfer eingesetzt war, überlebte den Krieg schwerstverletzt und erfuhr den Zusammenbruch des NS-Staates als tiefen lebensgeschichtlichen Einschnitt, der zu politischer und kultureller Neuorientierung zwang. Rohlfes kam aus einer ländlichen Beamtenfamilie in Norddeutschland. Er hat sich zu seinen Kriegserfahrungen nicht näher geäußert, hebt aber ähnlich wie Schörken das befreiende Erlebnis der Zugänglichkeit von Literatur und Theater nach Kriegsende hervor. Hug, der aus einer Lehrerfamilie stammte, wurde durch das damals noch intakte katholische Milieu seiner badischen Heimat vor der nationalsozialistischen Begabtenförderung in der Adolf-Hitler-Schule Sonthofen bewahrt. Er besuchte bis Kriegsende ein kirchliches Internat. Ähnliche Erfahrungen machte der sieben Jahre jüngere bayerisch-schwäbische Didaktiker Karl Filser (Jahrgang 1937) mit der katholischen Kirche. Aus kleinsten ländlichen Verhältnissen stammend und zunächst Volksschullehrer, erhielt er an kirchlichen Bildungseinrichtungen wesentliche Impulse für die Öffnung des Geschichtsunterrichts gegenüber der Wissenschaft und dem selbstständigen Lernen von Schülerinnen und Schülern. Dies geschah 16 Vgl. Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, Stuttgart 2000. 17 Vgl. Joachim Rohlfes: Umrisse einer Didaktik der Geschichte, Göttingen 1971. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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während Filsers universitärem Zweitstudium und fiel in eine Zeit, als der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates und die Integration der bayerischen PHs in die nächstgelegenen Universitäten Anfang der siebziger Jahre Fragen der Geschichtsdidaktik auf die bildungspolitische Tagesordnung setzten. Das Zweitstudium verband Filser wiederum mit seiner drei Jahre älteren Kollegin Ursula A. J. Becher. Vielseitig interessiert und sprachbegabt, wurde die Tochter eines leitenden Angestellten aus Düsseldorf zunächst Volksschullehrerin, wie es dem Frauenbild der fünfziger und sechziger Jahre entsprach. Durch Vermittlung des Vaters von Klaus Bergmann (1938–2002), eines nordrhein-westfälischen Schulrates, kam Becher zur Zeit der Studentenbewegung an das Seminar Friedrich Lucas’, mit dem sie eng kooperierte. Becher promovierte bei dem Neuzeithistoriker Lothar Gall an der Universität Gießen und wurde anschließend erste wissenschaftliche Assistentin Jörn Rüsens (Jahrgang 1938), der 1974 als Ordinarius für Neuere Geschichte, Geschichts­ theorie und Geschichtsdidaktik an die Ruhr-Universität Bochum berufen worden war. Becher, Rüsen und ein größerer Teil der in den siebziger Jahren aktiven Geschichtsdidaktiker waren andererseits Kriegskinder. Bombenkrieg, Evakuierung und Flucht gehörten zu den prägenden Erfahrungen der Jahrgänge ab etwa 1934 und verband diese mit jüngeren Fachvertretern wie Hans-­ Jürgen Pandel (Jahrgang 1940) und Bodo von Borries (Jahrgang 1943). Der kriegsbedingte Verlust des Vaters, wie ihn Rüsen und ein erheblicher Teil der um 1943 geborenen bundesdeutschen Historiker erlebten, war unter den von mir interviewten Geschichtsdidaktikern eher die Ausnahme. Aber die Abwesenheit des Vaters während des Zweiten Weltkrieges sorgte auch in den Familien derjenigen, die den Krieg überlebten (wie etwa der Vater des 1935 geborenen Didaktikers Werner Boldt, der aus Berlin in das damals deutsch besetzte Polen evakuiert worden war und von dort flüchten musste), für eine starke familiäre Stellung der Ehefrauen. Andererseits konnte der Zufall des Geburts- und Wohnortes zu sehr abweichenden Prägungen in Kindheit und Jugend führen. Die süddeutschen Didaktiker Hug, Filser, Gerhard Schneider (Jahrgang 1943) und ihr nordhessischer Kollege Ulrich Mayer (Jahrgang 1941) waren vom Zweiten Weltkrieg kaum tangiert. Mayer sah aus zwanzig Kilometern Entfernung zu, wie die Universitätsstadt Gießen im Feuer alliierter Brandbomben versank, blieb aber von Luftangriffen verschont. Die bis etwa 1938 geborenen Geschichtsdidaktiker teilten mit den 45ern ein hohes Leistungsethos, im Falle Rüsens verstärkt durch seine Herkunft aus einem kleinbürgerlichen Kaufmannsmilieu, die Wertschätzung von Literatur, Sprache und Philosophie und die Wahrnehmung der fünfziger Jahre als zukunftsoffenes, reformfreudiges Jahrzehnt. Sie nahmen bereits den von © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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den 45ern in Gang gesetzten Liberalisierungsschub wahr und stimmten mit diesen in einer eher skeptischen Beurteilung der Studentenbewegung überein. Diese konnte im Einzelfall – so bei Wolfgang Hug – einer positiven retrospektiven Würdigung der 68er-Bewegung weichen. Aber insgesamt überwogen Distanz und teils scharfe Kritik am überschäumenden Moralismus und Marxismus der studentischen Linken. Diese konnte sich allerdings mit einer Befürwortung der sozialliberalen Reform- und Ostpolitik seit 1969 verbinden. Willy Brandts Leitwort »Mehr Demokratie wagen« war für viele Didaktiker politisch maßgeblich, wurde aber von den ab etwa 1939 Geborenen anders und weitgehender interpretiert als von ihren älteren Kollegen. Intellektuelle Leitsterne für die Älteren und einen Teil der Jüngeren waren Historiker wie der in der NS-Zeit in die innere Emigration abgedrängte, nunmehr in München lehrende Badener Franz Schnabel (bei ihm promovierten gleichzeitig Wolfgang Hug und Annette Kuhn), aber auch NS-belastete Gelehrte wie Reinhard Wittram in Göttingen (Joachim Rohlfes’ Doktorvater), Theodor Schieder in Köln (Rüsens Doktorvater) und Werner Conze in Heidelberg. Bei Conze promovierte Werner Boldt. Annette Kuhns Heidelberger Habilitationsverfahren kam wegen ihrer Berufung nicht mehr zum Abschluss. Gerhard Schneider promovierte zwar bei dem Mediävisten Peter Classen, zählte sich aber zu Conzes Schülerkreis. Nicht zu unterschätzen ist die schulbildende Wirkung von Friedrich­ Lucas’ Gießener Seminar. Der 45er Lucas war in den sechziger Jahren einer von ganzen zwei Geschichtsdidaktikern an einer bundesdeutschen Universität und der einzige Professor, der das Fach mit hohem theoretischem Anspruch unterrichtete. Lucas plädierte u. a. für eine von der französischen Annales-Schule inspirierte Strukturgeschichte, eine kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Analyse der Sprache im Geschichtsunterricht. Dieses Programm war Fleisch vom Fleische der Sozialgeschichte jener Zeit. Von Lucas wurden Ursula Becher, Ulrich Mayer, Klaus Bergmann und Hans-­ Jürgen Pandel ausgebildet. Die beiden Letztgenannten waren in den siebziger Jahren zusammen mit Annette Kuhn Hauptvertreter der kritisch-kommunikativen, an der Emanzipation der Lernenden orientierten Didaktik. Der vorhin erwähnte Generationskonflikt zwischen 45ern und 68ern fand jedenfalls in Gießen nicht statt. Zwischen Lucas und seinen Schülern bestand vielmehr gutes persönliches Einvernehmen, wenngleich er Vorbehalte gegen die Kategorie der Emanzipation verhalten geltend machte, die Becher teilte. Ähnlich wie Jörn Rüsen, ihr vier Jahre jüngerer Bochumer Habilitationsvater, sah sie die Geschichts­ didaktik in engem Bezug zu Geschichtsforschung und Geschichtstheorie. Dies verband Rüsen und Becher mit Karl-Ernst Jeismann. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Hug, Rohlfes und Kuhn erhielten in den sechziger Jahren Professuren an den PHs in Freiburg, Bielefeld und Bonn. Rohlfes und Hug, beide praktizierende Lehrer, hatten zuvor intensiv an der Bildungsreform jener Zeit partizipiert, einesteils als Seminarausbilder für Gemeinschaftskunde, das zunehmend umstrittene schulische Pendant der Politischen Wissenschaften, andernteils als pädagogischer Referent bei der Deutschen UNESCO-Kommission in Köln. Diese stand ihrerseits in enger personeller Verbindung mit der Reformpädagogik jener Zeit und dem während der NS-Zeit exilierten Pädagogen und Vater der Curriculumtheorie, Saul B. Robinsohn. Rohlfes und Hug sahen die Geschichtsdidaktik gleichermaßen in enger Verbindung zu Pädagogik und Geschichtsforschung. Die Umorientierung auf historische Kompetenzen und Lernziele im Sinne der Curriculumtheorie sollte aus ihrer Sicht einer gemäßigt historistischen Geschichtswissenschaft den Primat über die im Vormarsch befindliche Kritische Theorie und die Gemeinschaftskunde sichern und das Unterrichtsfach moderat modernisieren. Insofern war ihre Geschichtsdidaktik auch eine Antwort auf die tiefe Legitimationskrise, in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht seit Ende der sechziger Jahre steckten.18 Demgegenüber wurde Annette Kuhn 1966 als damals jüngste Profes­sorin der Bundesrepublik in einem bereits politisch umstrittenen Verfahren an die PH Bonn berufen, ohne jemals vor einer Schulklasse gestanden zu haben und mit dem Begriff »Geschichtsdidaktik« mehr als vage Vorstellungen zu verbinden. Auf dem Weg über die historische Friedensforschung kam sie Ende der sechziger Jahre zur Kritischen Theorie des Sozialphilosophen Jürgen Habermas (Jahrgang 1929), die Kuhns Geschichtsdidaktik fortan in hohem Maße prägte. Diese Hinwendung zur Kritischen Theorie war mit der ungewöhnlichen und in mancher Hinsicht tragischen Biographie Annette Kuhns aufs engste verbunden. Aus einem konservativen Gelehrtenhaushalt stammend, in dem Historiker wie Friedrich Meinecke ein uns aus gingen, erfuhr Kuhn erst nach ihrer Berufung, dass der Grund der familiären Emigration während der NS-Zeit die jüdische Herkunft ihrer Eltern war, die sie vor der Tochter sorgsam verschwiegen hatten. Kuhn erfuhr von ihrem Judentum durch die antisemitische Attacke einer ehemaligen Lehrerin. Sie verstand sich seither als 68erin und ihre Geschichtsdidaktik als Beitrag zur Modernisierung einer bundesdeutschen Gesellschaft, die autoritäre und antisemitische Dispositionen unter der demokratischen Oberfläche fortgeschleppt hatte. 18 Vgl. Arnold Sywottek, Geschichtswissenschaft in der Legitimationskrise. Ein Überblick über die Diskussion um Theorie und Didaktik der Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1969–1973, Bonn-Bad Godesberg 1974. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Fast alle übrigen von mir interviewten Geschichtsdidaktiker machten, wie bereits gesagt, an Reformuniversitäten und in Modernisierung befindlichen PHs Karriere. Die schnellsten Laufbahnsprünge vollzog Jörn Rüsen. Er hatte sich in Köln im Umkreis Hans-Ulrich Wehlers und anderer Gründerväter der Historischen Sozialwissenschaft aufgehalten, war wegen seiner philosophischen Interessen aber etwas außerhalb geblieben. Das Theoriedefizit der Geschichtswissenschaft eröffnete Rüsen Zugang zum illustren geschichtstheoretischen Arbeitskreis der Homburger Werner Reimers Stiftung. Nach Stationen in Braunschweig und Berlin übernahm der Sechsunddreißigjährige 1974 eine Professur für Neuere Geschichte in Bochum, die erstmals um eine geschichtstheoretische und -didaktische Denomination erweitert worden war. Zwei Jahre später, auf dem Höhepunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um das historische Lernen, hatten die meisten meiner Gesprächspartner bereits eine Lebenszeitstellung als Professor oder Hochschuldozent inne.19 Dies gilt in anderer Weise auch für Susanne Thurn (Jahrgang 1947), Klaus Bergmanns Ehefrau. Sie wurde von Annette Kuhn an der PH Bonn ausgebildet, absolvierte ihr Referendariat Mitte der siebziger Jahre, als Kuhns Didaktik bereits in den Studienseminaren angekommen war, und trug die kritisch-kommunikative Didaktik am exponierten Ort der Bielefelder Laborschule in die Unterrichtspraxis. Ausgesprochene 68er waren in der Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre ebenso selten wie ausgesprochene 45er. Nimmt man die zeitgenössische Stellungnahme zu Leitdiskursen der Neuen Linken zum Maßstab – dazu gleich mehr  –, waren neben Annette Kuhn Klaus Bergmann, Hans-Jürgen Pandel und Susanne Thurn 68er, mit Einschränkungen auch Werner Boldt, der seit Mitte der fünfziger Jahre Marxist war, und der Berliner Didaktiker Peter Schulz-Hageleit (Jahrgang 1939). Dieser erlebte die Berliner Studentenbewegung nach einem Auslandsaufenthalt und nahm ihre scharfe Kritik an der nationalsozialistischen Vergangenheit der Väter zum Anlass, sich in psychoanalytischer Vertiefung mit der SS-Karriere seines Vaters auseinanderzusetzen.20 Auch Bodo von Borries (Jahrgang 1943) bezeichnet sich als typischen 68er. Im Unterschied zu den meisten etwas älteren Didaktikern nahm der Spross einer traditionsreichen Adelsfamilie und Sohn eines Miterfinders des Elek19 Ursula Becher wurde in den achtziger Jahren berufen, Hans-Jürgen Pandel und Ulrich Mayer in den neunziger Jahren. 20 Dieser war während des Krieges zusammen mit seiner Familie im deutsch besetzten »Litzmannstadt« (Łódź) stationiert gewesen. Es ist bezeichnend, dass Schulz-Hageleit »Litzmannstadt« und Łódź lange ebenso wenig zusammendenken konnte wie Annette Kuhn die so deutsche Gelehrtenexistenz ihres Vaters mit dem USA-Aufenthalt bis 1945. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tronenmikroskops die späten fünfziger Jahre als restaurativ wahr. Er beteiligte sich hochschulpolitisch an der Studentenbewegung. Von Hause aus Wirtschafts- und Sozialhistoriker mit deutlichen Sympathien für die Historische Sozialwissenschaft, machte sich von Borries seit den achtziger Jahren als Professor für Pädagogik und Geschichtsdidaktik schnell einen Namen bei der empirischen Erforschung des Geschichtsbewusstseins.

Politische Polarisierung Aus gutem Grund gilt die Auseinandersetzung um die Hessischen Rahmen­ richtlinien für Gesellschaftslehre (1972) als Wegmarke der neuen Geschichtsdidaktik.21 Vieles kam hier zusammen: Der Streit um das Verhältnis zwischen Politischer Bildung und Geschichtsunterricht, die Grundlagenkrise von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht, letztlich ein Paradigmenwechsel im Bereich der gesellschaftspolitischen Diskussion, den die Zeithistorikerin Gabriele Metzler treffend als »Schubumkehr« charakterisiert hat.22 Beginnen wir mit dem letztgenannten Aspekt. Die Bildungsreform der sechziger Jahre war eine wichtige, freilich oft unterschätzte Voraussetzung der Geschichtsdidaktik. Grundsätzlich neu war der Glaube an die Planbarkeit der Gesellschaft und mithin auch ihrer Zukunft. Dieser schlug sich in einem Fortschrittsoptimismus nieder, der als solcher die Existenzberechtigung von historischer Bildung bereits in Frage stellte. Neu und zeittypisch war die Herausbildung einer Expertenkultur. Die Beteiligung von Wissenschaftlern, namentlich Soziologen, an der Zukunftsplanung sollte dafür sorgen, dass die Reformvorhaben politisch neutral blieben und zur Demokratisierung der gesellschaftlichen Institutionen beitrugen. In diesem Geiste setzte das Hessische Kultusministerium eine mehrere hundert Personen umfassende »Große Curriculumkommission« unter der Leitung des Pädagogen Helmut Schelsky ein, die in kurzer Zeit moderne, d. h. Robinsohns Kriterien entsprechende, Lehrpläne für alle Fächer ausarbeiten sollte. Dieses hypertrophe Vorhaben scheiterte 1971. Kleinere Fachgruppen übernahmen nun die Richtlinienarbeit. Es ist kein Zufall, dass die Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre von zwei jüngeren Sozialdemokraten geschrie21 John, Disziplin, S. 197 ff. 22 Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 392 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ben wurden, die jedenfalls in der Außenwahrnehmung ihrer Kritiker das Gedankengut der 68er-Bewegung in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler zu schleusen versuchten.23 Denn die Bildungsreform der sechziger und beginnenden siebziger Jahre war ein technokratisches Projekt der 45er-Generation. Die Dynamik der sozialliberalen Gesellschaftsreform mobilisierte jedoch Gegenkräfte auf Seiten der Neuen Linken, die gegen eine bewusstlose Fortschrittsgläubigkeit das Paradigma des »Spätkapitalismus« kritisch in Stellung brachten. Man berief sich auf Jürgen Habermas und forderte nicht länger die Reform der gesellschaftlichen Institutionen, sondern die Emanzipation der Individuen von den gesellschaftlichen Institutionen. Vor allem im Bereich der Pädagogik wurde dieser Ansatz stark rezipiert und schlug sich auch in den Hessischen Rahmenrichtlinien nieder. Indem diese die Selbst- und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler als oberstes Lernziel definierten, stellten sie die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik jedenfalls dahingehend in Frage, dass diese nicht die beste aller denkbaren Welten war. Das Grund­gesetz wurde als Auftrag zur Demokratisierung gelesen. Dies stimmte einerseits mit Brandts Reformprogramm überein, das die politisch heimatlos gewordene 68er-Bewegung einbinden sollte, ging aber in charakteristischer Weise darüber hinaus. Denn die Lernenden sollten in alltäglichen Situationen diejenigen Hemmnisse identifizieren lernen, die ihrer Emanzipation im Weg standen, und diese als mündige Bürger beseitigen helfen. Die Zukunftshoffnung verlagerte sich von Planbarkeit und technokratischer Gestaltung in die Subjekte der Kinder und Jugendlichen, die als politische Akteure im Verhältnis zur Gesellschaft und in Gegenwehr gegen sie wahrgenommen wurden. Der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann übte um diese Zeit scharfe Kritik an der zeitgenössischen Geschichtsdidaktik. Er knüpfte an Über­ legungen Friedrich Lucas’ an, spitzte diese aber zu. Allein durch den Bezug auf die Geschichte könne der Politischen Bildung das Feuer der konkreten Utopie eingehaucht werden, das ihr gegenwärtig noch fehlte. Der von undemokratischen Regimen von Wilhelm II. bis zu Hitler missbrauchte Gegenwarts- und Zukunftsbezug historischen Lernens wurde von Bergmann herausgestellt, um der als »bürgerlich« identifizierten antiquarischen Geschichtswissenschaft und staatskonformen Geschichtsdidaktik Paroli bie23 Vgl. Karl-Ernst Jeismann/Erich Kosthorst, Geschichte und Gesellschaftslehre. Die Stellung der Geschichte in den Rahmenrichtlinien für die Sekundarstufe I in Hessen und den Rahmenlehrplänen für die Gesamtschulen in Nordrhein Westfalen. Eine Kritik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 24 (1973), S. 261–288. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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ten zu können.24 Die Hessischen Rahmenrichtlinien nahmen solche Überlegungen in der Zielsetzung auf, ein »reflektiertes Geschichtsbewusstsein« herauszubilden. Andererseits entsprachen deren Festlegungen zum Arbeitsschwerpunkt Geschichte in der Gesellschaftslehre zu erheblichen Teilen den geschichtstheoretischen Überlegungen Reinhart Kosellecks, versuchten also moderne Struktur- und Sozialgeschichte in den Schulen zu inkorporieren, bevor sie in der Geschichtswissenschaft überhaupt etabliert war.25 Insofern war die Kritik des seinerzeit von Werner Conze geführten Historikerverbands und des Geschichtslehrerverbands, die Hessischen Rahmenrichtlinien verstießen gegen die Geschichtswissenschaft schlechthin, weit überzogen. Der Lehrplan war Gegenstand des hessischen Landtagswahlkampfs 1974. Als Parteigänger der opponierenden CDU traten mit dem Historiker T ­ homas Nipperdey und dem Philosophen Hermann Lübbe zwei prominente Mitglieder des Bundes Freiheit der Wissenschaft aus der 45er-Generation gegen die Rahmenrichtlinien an. Dieser hatte sich konstituiert, um Übergriffen der linken Studentenbewegung (oder dessen, was man für sie hielt) auf die akademische Forschung und Lehre entgegenzuwirken. Nipperdey und Lübbe konnten sich ihrerseits auf einen Verriss der Rahmenrichtlinien berufen, den Karl-Ernst Jeismann und sein Münsteraner Kollege Erich Kosthorst 1973 in der GWU veröffentlicht hatten. Auch sie sahen in dem Lehrplan einen illegitimen Angriff schwärmerischer 68er auf die Geschichtswissenschaft und die bundesdeutsche Gesellschaftsordnung.26 Verteidiger der Rahmenrichtlinien waren Annette Kuhn, Klaus Bergmann und Hans-Jürgen Pandel. Kuhns Einführung in die Geschichtsdidaktik, die sich stark an Habermas anlehnte, teilte mit dem hessischen Entwurf das oberste Lernziel der Selbst- und Mitbestimmung (Emanzipation).27 Gelesen wurde das Buch von ihren Kritikern als politische Stellungnahme einer Linken. Man blendete dabei aus, dass Kuhns Didaktik auch eine theoretisch stringente Antwort auf die bislang ungelöste Frage gab, warum Schüler aus Geschichte lernen und wie Unterrichtsgegenstände ausgewählt werden sollten. Bergmanns und Pandels dokumentarische Monographie »Geschichte und Zukunft« war eine an Marx und Habermas geschulte, geschichts­theoretisch hoch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit »veröffentlichte[m] Geschichts24 Vgl. Klaus Bergmann u. a., Geschichtsunterricht  – Relikt oder Notwendigkeit, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Nr.  70, Sonderband Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I, Berlin 1972, S. 195–217. 25 Vgl. Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie?, in: Historische Zeitschrift 212 (1971), S. 1–18, S. 17. 26 Vgl. Jeismann/Kosthorst, Geschichte und Gesellschaftslehre. 27 Vgl. Annette Kuhn, Einführung in die Didaktik der Geschichte, München 1974. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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bewusstsein« in der spätkapitalistischen Gesellschaft. Dieses exemplifizierten sie an den teils hysterischen Reaktionen von Verbänden, politischen Parteien und Leserbriefschreibern auf die Hessischen Rahmenrichtlinien. Diesem herrschaftlich stillgestellten Geschichtsbewusstsein setzten die Verfasser das geschichtsbewusste Eintreten von Schülerinnen und Schülern für die Verlierer des historischen Prozesses entgegen. Nur so könne die konkrete Utopie einer gerechteren Gesellschaft aus ihren gegenwartsgesellschaftlichen Zwängen entbunden werden.28 Auch dieses Buch wurde von den Kritikern der emanzipatorischen Geschichtsdidaktik vorrangig als politische Aussage wahrgenommen. Bei näherem Hinsehen enthielt es jedoch wesentliche Bestandteile der ›neuen‹ Geschichtsdidaktik insgesamt. Man findet darin schon Mitte der siebziger Jahre die Eröffnung der Geschichtskultur als Forschungsgegenstand, die Betonung der narrativen Struktur historischen Wissens und der historischen Identität als Fluchtpunkt unterrichtlicher Auseinander­ setzung mit Zeugnissen der Vergangenheit. Es ist kaum vorstellbar, dass die Schriften Kuhns, Bergmanns und Pandels ohne die Kontroverse um die Hessischen Rahmenrichtlinien entstanden wären. Mit anderen Worten: Auch Nipperdey, Lübbe und Jeismann trugen dazu bei, dass sich die Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre zwischen den Polen »Geschichtsbewusstsein« und »Emanzipation« theoretisch und begrifflich entfalten konnte. Diese polarisierende Kontroverse war ihrerseits Folge einer durchgreifenden Politisierung des öffentlichen und privaten Lebens seit den sechziger Jahren und eines wachsenden links- und rechtsradikalen Potentials. Die großen Projekte der Gesellschaftsreform, darunter die Bildungs­politik, wurden in parteipolitischen Begriffen, im Schema von Links und Rechts, diskutiert und waren leidenschaftlich umkämpft.29

Geschichtsdidaktik und Historische Sozialwissenschaft In Vorträgen beim Mannheimer Historikertag 1976 positionierten KarlErnst Jeismann und Jörn Rüsen die Geschichtsdidaktik in enger Verbindung zur Geschichtsforschung.30 Erkenntnistheoretisch trugen sie dem kon-

28 Vgl. Klaus Bergmann/Hans-Jürgen Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a. M. 1975. 29 Vgl. den Beitrag von Thomas Mergel in diesem Band. 30 Vgl. Karl-Ernst Jeismann, Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Ge© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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struktivistischen Charakter historischer Deutungen und Urteile Rechnung. »Geschichte« war nicht mehr länger der Niederschlag eines wissenschaftlich gesicherten Sachverhalts im Bewusstsein von Lernenden, sondern deren Aneignung und narrative Repräsentation unter gegenwärtigen Gesichtspunkten, also in der Form einer Geschichte, die sich ihrerseits der wissenschaftlichen Überprüfung zu stellen hatte.31 Die Geschichtsdidaktik sollte sich nicht auf den Geschichtsunterricht beschränken. Ihre Aufgabe sei es, so­ Jeismann, Morphologie und Genese des gesellschaftlichen Bewusstseins von Vergangenheit in seiner Gesamtheit zu erforschen, daraus aber unterrichtliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Jeismann hat in diesem Zusammenhang die bekannte Unterscheidung von Analyse, Sachurteil und Wertung vorgeschlagen. Hinsichtlich der normativen und politischen Implikationen seines Ansatzes verglich er das Geschichtsbewusstsein mit »feuergefährlichem Stoff, der breit lagert«; der Geschichtsunterricht hatte folglich auf erwünschtes und angemessenes Geschichtsbewusstsein zu zielen. Ohne Zweifel hatte der Historikertag strategische Bedeutung: »Geschichtsbewusstsein« wurde zur weithin akzeptierten Leitkategorie der Geschichtsdidaktik. Dem Mannheimer Historikertag haften in der gegenwärtigen Ausein­ andersetzung über Leistungen und Grenzen des geschichtskulturellen Ansatzes jedoch ursprungsmythische Züge an.32 Nüchtern betrachtet war er, wie bisher schon erläutert wurde, jedoch eher Abschluss denn Neubeginn. Wie die Herausgeber von Friedrich Lucas’ geschichtsdidaktischen Auf­sätzen in den achtziger Jahren bissig anmerkten, kam nicht erst beim Mannheimer Historikertag das erkenntnistheoretische Heil über die Disziplin.33 Von »Geschichtsbewusstsein« war schon vor 1976 bei Lucas, Schörken, Bergmann und Pandel die Rede gewesen. Auch Karl-Ernst Jeismann, der sich seinerseits auf Theodor Schieder berief, hatte bereits im Umkreis der hochschäumenden Debatte über die Hessischen Rahmenlehrpläne eine Theorie der »Rezeption von Geschichte durch die Gesellschaft« gefordert, auf dass es der Gesellschaft »möglich bleibe, vernünftig über sich selbst zu denken und damit auch ver-

genwart; Jörn Rüsen, Historik und Didaktik – Ort und Funktion der Geschichtstheorie im Zusammenhang von Geschichtsforschung und historischer Bildung, beides in: Erich Kosthorst (Hg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik  – Forschung  – Theorie, Göttingen 1977, S. 9–33, 48–64. 31 Rüsen, Didaktik, S. 48. 32 Sabrow, Pyrrhussieg, Abschnitt 1; Bernd Schönemann, Geschichtskultur als Wiederholungsstruktur?, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 34 (2006), S.  182–191, S.  182 (»Am Anfang war…«). 33 Friedrich J. Lucas, Geschichte als engagierte Wissenschaft. Zur Theorie einer Geschichtsdidaktik, hg. v. Ursula A. J. Becher u. a., Stuttgart 1985, S. 147. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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nünftig zu handeln.«34 Die These, die Geschichtsdidaktik müsse ihren Status unter Einbeziehung von Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie legitimieren, konnte man ebenfalls vor 1976 finden, etwa in Überlegungen des Göttinger Didaktikers Horst Kuss.35 Das 1976 beschworene Austauschverhältnis zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsdidaktik blieb weitgehend Programm. Die optimistische Annahme einer zunehmenden Konvergenz von Geschichtsdidaktik und Sozialgeschichte auf der Plattform übereinstimmender Erkenntnisinteressen und -theorien bestätigte sich nicht.36 Dafür nur einige Belege: Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka wies die Überlegungen des »Geschichtsdidaktik«-Mit­ herausgebers Lothar Steinbach für eine Didaktik der Sozialgeschichte in der »Geschichtsdidaktik« von 1977 kühl zurück. Jede Bindung der Geschichtswissenschaft an »außerwissenschaftliche Zwecke und Interessen« habe zu unterbleiben, so Kocka weiter. Geschichte als historische Sozialwissenschaft sei bereits in sich eine »didaktische Veranstaltung im weitesten Sinne.« Gegen den Versuch, eine professionalisierte Fachdidaktik auf Kosten der Fachwissenschaft in der Lehrerausbildung zu institutionalisieren, müsse sich letztere entschieden zur Wehr setzen.37 Demgegenüber hoben Rüsen und Bergmann die Funktion der Geschichtsdidaktik hervor, als »Organon der Fachwissenschaft« deren Ergebnisse auf den Prüfstand lebensweltlicher Relevanzkriterien zu stellen.38 Bergmann spitzte diese Position 1980 dahingehend zu, die Geschichtsdidaktik habe u. a. zur Aufgabe, der Geschichtswissenschaft »die Bearbeitung bestimmter historischer Sachverhalte aus didaktischen Erwägungen abzuverlangen«, denn sie sei diejenige Instanz, »die die Sinnfrage stellt und für die Sinnfrage zuständig ist, die in allen Wissenschaften unumgehbar auftaucht.«39 Soweit ich

34 Diskussionsbemerkung, in: Walter Fürnrohr (Hg.), Beiträge zur Neugestaltung von Unterricht und Studium. Tagung der Fachgruppe Geschichte in der Hochschulkonferenz für Erziehungswissenschaften und Fachdidaktik, 2.–4. Oktober 1973 in Göttingen, München 1974, S. 85. 35 Vgl. Horst Kuss, Über Begriff und Problem einer historischen Fachdidaktik, ebd., S. 19–31. 36 Kuhn, Einführung, 31980, S. 7 f. 37 Jürgen Kocka, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Historische Sozialwissenschaft. Vorüberlegungen zu ihrer Didaktik, in: Geschichtsdidaktik 2 (1974), S. 284–297, Wiederabdruck in Klaus Bergmann/Jörn Rüsen (Hg.): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis, Düsseldorf 1978, S. 14–30, S. 26–29. 38 Klaus Bergmann/Jörn Rüsen: Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik, ebd., S. 7–13, S. 11 f. 39 Klaus Bergmann, Geschichtsdidaktik als Sozialwissenschaft, in: Süssmuth (Hg.), Geschichtsdidaktische Positionen, S. 17–47, Zitat S. 39. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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sehe, hat kein empirisch forschender Historiker die hier eingeforderte Führungsrolle der Geschichtsdidaktik akzeptiert. In den achtziger Jahren traten Animositäten prominenter Vertreter von Sozialgeschichte und Historischer Sozialwissenschaft gegen die institutionalisierte Geschichtsdidaktik  – »Didaktologie« sagte man wohl boshaft  – vermehrt zutage, obwohl man freundschaftliche persönliche Kontakte unterhielt. So erteilte wiederum Kocka in der Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft« der seiner Ansicht nach ubiquitären Verwendung des Erzählbegriffs eine schneidende Absage, ohne sich auf die erkenntnistheoretischen Prämissen der narrativen Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik ernsthaft einzulassen.40 Die robusten wechselseitigen Abgrenzungen traten auch in der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik« zutage. Ursprünglich war sie ein Kind der Kontroverse um die Hessischen Rahmenrichtlinien.41 Als das neue Organ schließlich 1976 antrat, wollte es die Geschichtsdidaktik als »Wissenschaft von Vermittlungs-und Rezeptionsprozessen« dokumentieren, »deren Gegenstand Geschichte ist.« Die Disziplin verstand sich als kritische Wissenschaft vom historischen Lernen und lehnte es im Interesse des Geschichtsunterrichts selbstbewusst ab, sich auf die Rolle einer Anwendungswissenschaft reduzieren zu lassen. Eingefordert wurde vielmehr eine »weitere wissenschaftliche fachdidaktische Grundlegung« in Äquidistanz zur Geschichtswissenschaft einerseits, staatlichen Einflussnahmen andererseits.42 Inhaltlich-thematisch lassen sich bis Anfang der achtziger Jahre deutliche Schwerpunkte erkennen. Da waren erkenntnistheoretische Beiträge und namentlich Aufsätze zur Lernzielproblematik, teils noch in expliziter Auseinandersetzung mit der hessischen Bildungsreform. Seit Anfang der achtziger Jahre fanden vermehrt Themen der Alltags-, Mentalitäts- und Frauengeschichte Eingang in die »Geschichtsdidaktik«. Dies erklärt sich einesteils daraus, dass die Zeitschrift als Oppositionsblatt zur GWU gelesen werden wollte und sich vornehmlich solcher Gegenstände annahm, die im eher konservativen Profil der Konkurrenzzeitschrift nicht abgedeckt wurden. Andererseits trieb die »Geschichtsdidaktik«, kulturgeschichtlich gesprochen, den Wer-

40 Vgl. Jürgen Kocka, Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 395–408. 41 Der Plan zur Zeitschriftengründung geht auf die in Anm. 34 dokumentierte Göttinger Tagung zurück. 42 Braucht die Geschichtsdidaktik ein neues Organ? Überlegungen, die Herausgeber und Verlag zu diesem Experiment veranlasst haben, in: Geschichtsdidaktik 1 (1976), H.  1, S. 1–3. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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tewandel der bundesdeutschen Gesellschaft mit ihren Mitteln voran.43 Sie war Spiegelbild der nachlassenden Fortschrittseuphorie und insoweit Teil jenes skeptischen Mainstreams, der auch die zunehmende Infragestellung der Historischen Sozialwissenschaft trug. Die »Geschichtsdidaktik« war zunehmend ein »grünes« Blatt. Jörn Rüsens Plädoyer für Geschichtskultur als Forschungs- und Reflexions­ gegenstand der Geschichtsdidaktik war teilweise eine konsequente Fortschreibung des Begriffs von Geschichtsbewusstsein, wie ihn Karl-Ernst Jeismann definiert hatte.44 Es war zugleich und vorrangig eine Antwort auf die Postmoderne.45 Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Museum, nicht die Zeitgeschichtsforschung, die weder in der Historischen Sozialwissenschaft noch in der hier geschilderten Spielart von Geschichtsdidaktik einen hohen Stellenwert hatte. Die aktuelle Polemik gegen einen angeblichen »imperial overstretch« der geschichtskulturell ausgerichteten Geschichts­ didaktik verfehlt insoweit ihren Gegenstand.46 Der kritisierte Anspruch der Disziplin, eine Zentralstellung gegenüber Geschichtstheorie und Geschichtsforschung zu gewinnen, war ebenfalls kein Novum der späten achtziger Jahre – ebenso wenig dessen Zurückweisung.

Ausblick So viel geschichtsdidaktischen Aufbruch wie in der ersten Hälfte der siebziger Jahre gab es nie wieder. Auch die neuere Diskussion um Kompetenzen historischen Lernens erinnert in mancher Hinsicht an die Lernzieldebatte jener Jahre. Was also bleibt von der Geschichtsdidaktik der siebziger Jahre? Im Ergebnis der heftigen politischen Auseinandersetzung um das historische Lernen definierte sich die Geschichtsdidaktik als diejenige Disziplin, die ein gesellschaftskritisches Geschichtsbewusstsein ausprägen und analytisch erschließen wollte. Hinter diesen Diskussionsstand sollte die heutige Geschichtsdidaktik nicht zurückfallen. 43 Vgl. Helmut Klages, Werte und Wertewandel, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 22001, S. 726–738. 44 Vgl. Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Ders. u. a. (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994, S. 3–26. 45 Vgl. Jörn Rüsen, Vernunftpotentiale der Geschichtskultur, in: Ders. u. a. (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988, S.105–114. 46 Sabrow, Pyrrhussieg, Abschnitt 2. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Andererseits sind Grenzen der Geschichtsdidaktik in ihrer damaligen Ausprägung nicht zu übersehen. Sie war ein Kind des von Gesellschaftsund Bildungsreformen beflügelten Fortschrittsoptimismus; institutionell ein Kind der Hochschulreform, ideell ein Kind der Kritischen Theorie. Die kulturgeschichtliche Historisierung der Geschichtsdidaktik ist eine notwendige Voraussetzung ihrer Fortschreibung unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen. Im Ergebnis dieser Historisierung wird man zu dem Schluss gelangen, dass das Verhältnis zwischen Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft ebenso prekär blieb wie dasjenige zwischen geschichtsdidaktischer Theoriebildung und schulischer Praxis. Will man diese Schwächen korrigieren, wird es u. a. darauf ankommen, die Theoriegeschichte der Geschichtsdidaktik in kritischer Absicht zu schreiben. Andererseits sollte die heute (wieder) stark berufsvorbereitend wahrgenommene Geschichtsdidaktik Fragen nach der gesellschaftlichen Sozialisation von Schülerinnen und Schülern und nach der Distribution historischen Wissens nicht scheuen, insoweit also an die Ausgangsbedingungen der siebziger Jahre anknüpfen. Soziale Ungleichheit ist eine harte historische Realität der Gegenwartsgesellschaft, die sich kulturell als ungleiche Wissensverfügung beschreiben lässt. Will der schulische Geschichtsunterricht zur Aufklärung über diese Verhältnisse beitragen, muss er sich als Teil gesellschaftlicher Wissensgenerierung begreifen. Von daher wäre die Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik als Kultur- und Wissensgeschichte zu schreiben. Manches ist auf diesem Gebiet bereits geschehen. Aber es bleibt noch viel zu tun.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Birgit Aschmann, Studium der Geschichte, Germanistik und Hispanistik an der Universität Kiel 1989–1995; 1998–2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; seit 2011 Professorin für Europäische Geschichte des 19.  Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffent­lichungen u. a.: »Treue Freunde …?« Westdeutschland und Spanien 1945–1963, Stuttgart 1999; Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19.  Jahrhunderts, München 2013; Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektiven auf das 19. Jahrhundert, Berlin 2013. Jörg Baberowski, Studium der Geschichte und Philosophie an der Universtität Göttingen (1982–1988); wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Frankfurt am Main (1989–1994; Assistent an der Universität Tübingen (1994–2000): Lehrstuhl­ vertretung für Osteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig (2000–2002); seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914, Frankfurt am Main 1996; Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003; Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2014. Michael Borgolte, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Münster/Westf.; 1975–1984 Wiss. Assistent Freiburg/Br.; 1984–1991 Heisenbergstipendiat; seit 1991 Professor für Geschichte des Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie seit 1998 Leiter des Instituts für Vergleichende Geschichte Europas im Mittelalters; seit 2005 Ord. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; 2008/2009 Fellow am Max-Weber-Kolleg für sozial- und kulturwissenschaftliche Studien in Erfurt; 2012(–2017) Advanced Grant des European Research Council (»Foundations in medieval societies. Cross-cultural comparisons«); seit 2013 Ordentliches Mitglied der Academia Europaea. Veröffentlichungen u. a.: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr. München 2006; Mittelalter in der größeren Welt. Berlin 2014; Herausgeber der Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, Berlin/Boston 2014 ff. Peter Burschel, Studium von Geschichte, Latein, Philosophie und Politikwissenschaft in Göttingen; 2007–2010 Inhaber des Lehrstuhls für frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Rostock; seit 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Beiträgerinnen und Beiträger

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frühen Neuzeit, Göttingen 2014; (Hg. mit Christine Vogel) Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit, Köln 2014; Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004. Andreas Eckert, Studium der Geschichte, Romanistik und Journalistik an den Universitäten Hamburg, Yaoundé und Aix-en-Provence; 1995–2002 wiss. Mitarbeiter an der Humboldt Universität zu Berlin; 2002–2007 Professor für Neuere Geschichte, Schwerpunkt Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg; seit 2007 Professor für Geschichte Afrikas an der Humboldt Universität; seit 2009 zudem Direktor des BMBF Käte Hamburger Kollegs »Arbeit und Lebenslauf in globalhistorischer Perspektive« (re:work); Gastprofessuren u. a. in Bloomington, Paris, Harvard, Ann­ Arbor und Genf. Veröffentlichungen u. a.: Zus. mit Shalini Randeria: Vom Imperialismus zum Empire: Nicht-westliche Perspektiven auf die Globalisierung, Berlin 2009; Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, Staat und Politik in Tansania, 1920–1970, München 2007; Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2006. Hannes Grandits, Studium der Geschichte, Sozialkunde und Südosteuropäischen Geschichte in Graz; danach wiss. Mitarbeiter an der Abt. für Südosteurop. Geschichte der Universität Graz; seit 1997 u. a. auch Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, Erwin-SchrödingerHabilitationsstipendiat am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) in Berlin, Vertretung der Professur für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 2010 Professor für Südosteuro­ päische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Family, Kinship and State in Contemporary Europe. The Century of Welfare: Eight Countries, Frankfurt 2010. (Hg.); Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina, Wien 2008 (bosn. Ausgabe 2014); Familie und sozialer Wandel im ländlichen Kroatien (18.–20. Jh.), Wien 2002 (kroat. Ausgabe 2012). Anke te Heesen, Studium der Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim; 1996–997 wiss. Mitarbeiterin am Forschungszentrum Europäische Aufklärung ­ (Potsdam); 1998–1999 Kuratorin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden; 1999– 2006 wiss. Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin; 2006–2008 Gründungsdirektorin des Museums des Universität Tübingen; ­2008–2011 Professur für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen; seit 2011 Professorin für Wissenschaftsgeschichte mit dem Schwerpunkt der Bildung und Organisation des Wissens im 19. und 20. Jahrhundert an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Der Weltkasten. Eine Bildenzyklopädie aus dem 18. Jahrhundert, Göttingen 1997 (engl. Ausgabe 2002); Der Zeitungsausschnitt. Papierobjekt der Moderne, Frankfurt a. M. 2006 (engl. Ausgabe 2014); Theorien des Museums. Zur Einführung, Hamburg 2012 (2. Aufl. 2014). Thomas Mergel, Studium der Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Regensburg und Bielefeld; 1989–1991 Wiss. Mitarbeiter an der Universität Bielefeld; 1992–2000 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Beiträgerinnen und Beiträger

Wiss. Assistent an der Ruhr-Universität Bochum; 2000 Gastprofessor an der University of Chicago; 2001–2005 Wissenschaftlicher Angestellter an der Ruhr-Universität Bochum; 2003/2004 Gastprofessor an der Karls-Universität Prag; 2006 Abteilungsleiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; 2007 Ordinarius für Neuere Geschichte an der Universität Basel; seit 2008 Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002 (3. Aufl. 2012). Großbritannien seit 1945, Göttingen 2005. Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2010. Gabriele Metzler, Studium der Neueren Geschichte, der Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts in Tübingen, München und an der London School of Economics; 1994/95 Postdoc an der University of California, Berkeley; 1994–2000 wiss. Mitarbeiterin am Seminar für Zeitgeschichte Tübingen; 2000–2002 SchloeßmannStipendiatin der Max-Planck-Gesellschaft; 2002–2007 Leiterin der wissenschaftlichen Nachwuchsgruppe der VolkswagenStiftung »Regieren im 20.  Jahrhundert«; seit 2007 Professorin für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft (2005); Einführung in das Studium der Zeitgeschichte (2004); Großbritannien – Weltmacht in Europa. Handelspolitik im Wandel des europäischen Staatssystems 1856–1871 (1997). Alexander Nützenadel, Studium der Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Informatik und Romanistik in Göttingen, Berlin und Venedig; 1995–2003 Wiss. Ass. am Historischen Seminar der Universität Köln; 2004–2006 Leiter der Nachwuchsgruppe »Globalisierung als historischer Prozess«; 2006–2009 Professor für Vergleichende Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder; seit 2009 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Landwirtschaft, Staat und Autarkie. Agrarpolitik im faschistischen Italien 1922–1943, Tübingen 1997; Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Expertenkultur und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–74, Göttingen 2005; (Hg. mit Christian Grabas) Industrial Policy in Europe after 1945. Wealth, Power and Economic Development in the Cold War, Basingstoke 2013. Martin Sabrow, Studium der Geschichte, Germanistik und Politologie in Kiel und Marburg/Lahn; seit 2004 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, 2005/2006 Vorsitzender der Expertenkommission der Bundesregierung zur Erarbeitung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur«; 2009 Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012; © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

Beiträgerinnen und Beiträger

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Die Macht der Bilder (Hg.), Leipzig 2013; Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen 2014. Thomas Sandkühler, Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br.; ­1989–2002 wiss. Mitarbeiter bzw. wiss. Assistent an der Universität Bielefeld; 1997– 1999 Leiter des deutschen Forschungsteams der Unabhängigen Expertenkommission: Schweiz  – Zweiter Weltkrieg; 2002–2009 Realschul- und Gymnasiallehrer: seitdem Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz, Bonn-Bad Godesberg 1996; Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahre 1928–1947. Mit einer Dokumentation zum Historikertag 1976, Göttingen 2014. Claudia Tiersch, Studium der Geschichte und Philosophie an den Universitäten Leipzig und München; 1993–2007 Wissenschaftliche Hilfskraft und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Dresden; 2007–2010 Vertretungsprofessorin und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität München; seit 2010 Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Hellenismus und Christentum  – Transformationsprozesse der Stadt Gaza vom 4.–6. Jahrhundert n. Chr., Millenium 5 (2008), 57–91; Ein Reich – ein Glaube? Konsequenzen des Monotheismus für den römischen Staat der Spätantike, in: P. Eich/S. Schmidt-Hofner/Chr. Wieland (Hgg.), Der wiedererkannte Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und früher Neuzeit, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, 249–282; Die Debatte um die Regelung der Ge­treideversorgung als Diskurs über Staatlichkeit in der späten römischen Republik? in: Chr. Lundgreen (Hg.), Staatsdiskurse (in) der römischen Republik, Stuttgart 2014, 187–210. Michael Wildt, Buchhändlerlehre, Studium der Geschichte, Soziologie und Theologie an der Universität Hamburg; 1992–1997 wiss. Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg; 1997–2009 wiss. Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung; seit 2009 Professor für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, 3. Aufl., Hamburg 2008 (engl. Übers. 2009); Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007 (engl. Übers. 2012); Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a. M. 1996. Aloys Winterling, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Köln; 1986–1993 Akad. Rat a. Z./Oberassistent am Institut für Alte Geschichte der LudwigMaximilians-Universität München; Professuren für Alte Geschichte an den Universitäten Bielefeld (1993–2002), Freiburg i. Br. (2002–2007) und Basel/Schweiz (2007– 2009); 2006/07 Stipendiat des Historischen Kollegs, München; seit 2009 Professor © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689

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Beiträgerinnen und Beiträger

für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Politics and Society in Imperial Rome, Malden u. a. 2009; Caligula. Eine Biographie, München 2003 (zuletzt 2012; engl. Übers. 2011); Aula Caesaris. Studien zur Institutionalisierung des römischen Kaiserhofes in der Zeit von Augustus bis Commodus (31 v. Chr. – 192 n. Chr.), München 1999.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300688 — ISBN E-Book: 9783647300689